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German Pages 254 Year 2010
Barbara Bleisch Pflichten auf Distanz
Ideen & Argumente Herausgegeben von Wilfried Hinsch und Lutz Wingert
De Gruyter
Barbara Bleisch
Pflichten auf Distanz Weltarmut und individuelle Verantwortung
De Gruyter
Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Bleisch, Barbara. Pflichten auf Distanz : Weltarmut und individuelle Verantwortung / Barbara Bleisch. p. cm. -- (Ideen & Argumente) Includes bibliographical references (p. ) and indexes. ISBN 978-3-11-022825-0 (hardcover : alk. paper) 1. Poverty. 2. Rich people. 3. Responsibility. I. Title. HC79.P6.B54 2010 174--dc22 2010021642
ISBN 978-3-11-022825-0 e-ISBN 978-3-11-022826-7 ISSN 1862-1147 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York. Umschlaggestaltung: Martin Zech, Bremen Umschlagkonzept: + malsy, Willich Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
dene wos guet geit giengs besser giengs dene besser wos weniger guet geit was aber nid geit ohni dass’s dene weniger guet geit wos guet geit drum geit weni für dass es dene besser geit wos weniger guet geit und drum geits o dene nid besser wos guet geit Mani Matter
Vorwort Gewöhnlich fällt es uns nicht nur weitaus leichter, uns an Aufgaben zu machen, an deren Gegenstand uns wirklich liegt. In vielen Fällen sind solche Projekte auch eher von Erfolg gekrönt als wenn wir unsere Zeit mit Dingen zubringen, die uns nicht zu fesseln vermögen. Dies gilt jedoch nicht zwingend für die Sache der Philosophie. Ganz im Gegenteil: Je mehr einem an der Lösung einer philosophischen Frage liegt und je intensiver wir uns dieser widmen, desto schwieriger scheint es, eine endgültige Lösung vorzulegen. Dies mag damit zu tun haben, dass für philosophische Fragen gilt, was Wilhelm Buch einst von Wünschen behauptet hat: „Ein jeder Wunsch, wenn er erfüllt, kriegt augenblicklich Junge.“ Insbesondere scheint das Lösen philosophischer Probleme aber umso schwieriger, je mehr die entsprechenden Fragen nicht nur den Verstand, sondern auch das Herz bewegen und damit zu ganz persönlichen Problemen werden, womit die notwendige Distanz zum Gegenstand leicht verloren geht. Liegt einem an einer philosophischen Frage also ganz persönlich, sind kluge Weggefährtinnen und –gefährten gefragt, die einem die Blindheit, in die Begeisterung – oder beim Thema der Weltarmut eher: Verzweiflung – zuweilen umschlagen kann, bewusst machen und die Argumente von persönlichen Gefühlslagen freizulegen helfen. Ohne solche Weggefährten wäre dieses Buch keine philosophische Abhandlung, sondern ein politisches Manifest geworden. Ich bin ihnen deshalb zu grossem Dank verpflichtet. Allen voran gilt dieser Dank meiner Kollegin und Freundin Susanne Boshammer, die mich nicht nur vor manchem philosophischen Fehlschluss bewahrt, sondern auch mit unzähligen klugen Ideen beschenkt und mir zu den geistreichsten, aber auch amüsantesten philosophischen Stunden verholfen hat. Grossen Dank schulde ich auch meinem Doktorvater Peter Schaber, dem ich viele scharfsinnige Hinweise verdanke, insbesondere aber auch eine langjährige Zusammenarbeit, die mich philosophisch wie persönlich um Vieles reicher machte. Norbert Anwander danke ich für die vielen anregenden Stunden, in denen wir übers Profitieren von Unrecht nachgedacht und nicht wenig gelacht haben. (Eine Sammlung der orginellesten
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Vorwort
philosophischen Beispiele stünde noch aus.) Jens Timmermann bin ich in Dank verbunden für viele erhellende Hinweise zu Kants Pflichtidee. Dank Thomas Schmidt habe ich gewisse Anfangsschwierigkeiten, mit denen das Schreiben einer Doktorarbeit verbunden ist, überwunden. Markus Huppenbauer danke ich für viele Gespräche, die dem zuweilen drückenden Gewicht einer Promotionsarbeit ein Gegengewicht zu geben vermochten, und Georg Kohler danke ich für sein Zweitgutachten zu dieser Arbeit. Meinen Kolleginnen und Kollegen Holger Baumann, Andreas Cassee, Anna Goppel, Regina Kreide, Andreas Maier, Corinna Mieth und Hubert Schnüriger danke ich für die Lektüre und gewinnbringende Diskussion einzelner Kapitel der ursprünglichen Fassung dieses Buches, die ich 2007 an der Universität Zürich als Doktorarbeit eingereicht habe. Ich bedanke mich bei Wilfried Hinsch und Lutz Wingert für die Aufnahme meines Buches in die Reihe „Ideen & Argumente“; Wilfried Hinsch verdanke ich überdies einige sehr erhellende Hinweise zum Manuskript. Zwei anonymen Reviewern des De Gruyter-Verlags danke ich für weitere kluge Ratschläge hinsichtlich der Überarbeitung dieses Buches. Dem Universitären Schwerpunkt Ethik (UFSPE) der Universität Zürich sowie der Paul Schmitt Gedächtnisstiftung danke ich für die finanzielle Unterstützung dieses wissenschaftlichen Projekts. Alexandra Koch hat die Drucklegung des vorliegenden Bandes besorgt; ihr danke ich für die sorgfältige und verlässliche Arbeit. Eine Doktorarbeit zu schreiben und hernach zu einem Buch umzuarbeiten, ist nicht nur mit intellektuellen Hürden, sondern auch mit emotionalen Stürmen verbunden. Ich danke meinen Eltern Monique und Arnold Bleisch-Bernoulli; ihrer Unterstützung für meine beruflichen Entscheidungen war ich mir stets gewiss. Insbesondere danke ich meiner Mutter; sie hat mir während unzähliger Stunden den Rücken – oder besser: den Kopf – freigehalten, indem sie meine Kinder liebevoll betreut hat. Dasselbe gilt für Madeleine Strub-Jaccoud, für Esther Dürr und für Anja Binder. Ebenso danke ich meinen Freundinnen Rahel Hubacher und Corinne Elsener; sie haben mich auf andere Gedanken gebracht, wenn ich an der Philosophie zu verzweifeln drohte. Mein innigster und grösster Dank gilt aber meinem Partner Jean-Daniel Strub, der mich nicht nur in all meinen wissenschaftlichen Ansinnen unterstützt und mir in allem,
Vorwort
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was ich bin, liebevoll zur Seite steht, sondern der lebt, was ich mir lediglich am Schreibtisch ausdenke und mir in seinem politischen Engagement immer wieder Vorbild und Gesprächspartner ist. Zürich, April 2010
Barbara Bleisch
Inhalt 1 Einleitung .................................................................................................. 13 2 Pflichten auf Distanz und Grenzen der Moral .................................. 29 2.1 Grenzen der Perspektive der Moral ............................................. 33 2.2 Grenzen der Reichweite der Moral ............................................. 40 2.3 Grenzen des Gegenstandsbereichs der Moral .......................... 47 2.4 Drei Sorgen und ein Ausblick ...................................................... 55 3 Gerechtigkeit auf Distanz ...................................................................... 59 3.1 Etatismus vs. Globalismus ............................................................. 63 3.1.1 Etatismus ........................................................................................... 64 3.1.2 Globalismus...................................................................................... 68 3.1.3 Hintergrundtheorien ..................................................................... 74 3.2 Kosmopolitanismus ........................................................................ 77 3.3 Zwischen Gerechtigkeit und Moral ............................................ 84 3.4 Bürgerpflichten ................................................................................ 88
4 Nichtschädigung auf Distanz ................................................................ 93 4.1 Die Schädigungsthese .................................................................... 96 4.2 Die Verbrechensthese ................................................................... 109 4.3 Von Unrecht profitieren .............................................................. 128 4.4 Bürgerpflichten und Konsumentenpflichten .......................... 135 5 Hilfe auf Distanz.................................................................................... 141 5.1 Begründung von Hilfspflichten ................................................ 143 5.2 Phänomenologie der Hilfspflichten auf Distanz .................... 148 5.2.1 Räumliche Distanz .......................................................................151 5.2.2 Soziale Distanz ..............................................................................154 5.2.3 Vagheit.............................................................................................156 5.3 Kantische Hilfspflichten und Vagheit ...................................... 162 5.3.1 Vagheit und Supererogation .......................................................165 5.3.2 Vagheit und Weite der Pflichten ................................................166 5.3.3 Vagheit und fehlende Einforderbarkeit ...................................172 5.4 Hilfspflichten ................................................................................. 176
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Inhalt
6 Weltarmut und individuelle Verantwortung .......................... 179 6.1 Gemeinsame Pflichten als institutionelle Pflichten ........ 182 6.2 Der Umfang der individuellen Verantwortung ............... 191 6.2.1 Individuelle Pflichten in der idealen Theorie ..................192 6.2.2 Individuelle Pflichten in der nicht-idealen Theorie .........197 6.3 Drei Sorgen und Versuche ihrer Entschärfung ................ 204 6.4 Schluss – oder: die Sorge, die bleibt................................ 209
Anmerkungen .......................................................................... 213 Literatur ................................................................................... 237 Personenregister........................................................................ 251 Sachregister .............................................................................. 253
We are watching television, and an advertisement for UNICEF, OXFAM, or the Christian Children’s Fund interrupts our favorite show. We grab our remotes and quickly flip to another channel. Perhaps we mosey to the kitchen for a snack. Maybe we just sit, trying not to watch. These machinations may banish these haunting images of destitute, starving children from our TVs and our thoughts, but they do not alter the brutal facts: millions of people in the world are undernourished; thousands die each day; most of those who suffer and die are children, and, with collective effort we could end the suffering of millions without too much strain. Hugh LaFollette 1
1 Einleitung Vor einiger Zeit lag ein Brief2 des Hilfswerks Helvetas in meinem Briefkasten. Die Betreffzeile des Schreibens lautete: „Leben braucht Wasser – Schenken Sie Leben!“ In dem Brief wird von Amina erzählt, einer 23-jährigen Frau, Mutter eines knapp zweijährigen Kindes, die mit ihrem Mann in Muamela, einem kleinen Dorf in Cabo Delgado, „der ärmsten Provinz Mosambiks“, lebt. Jahrelang habe Amina täglich anderthalb Stunden Fussmarsch zurückgelegt, um Wasser für ihre kleine Familie aus einem vom Dorf weit entfernten Wassertümpel herbei zu schleppen, und regelmässig seien Familienmitglieder nach dem Konsum des verschmutzten Wassers krank geworden. Das Hilfswerk habe in Muamela deshalb einen Dorfbrunnen gebaut, der mithilfe einer einfachen Handpumpe sauberes Grundwasser zutage fördere. Auf dem Bild sieht man eine strahlende Amina beim Wasserpumpen mit einem quicklebendigen Kleinkind auf dem Rücken, die die Briefempfängerinnen und -empfänger wissen lässt, dass ihre Familie seit der Inbetriebnahme des Brunnens nicht mehr unter Durchfallerkrankungen gelitten habe. Weil sie das Wasser für ihre Familie jetzt am nahe gelegenen Dorfbrunnen holen könne, bleibe ihr überdies Zeit, den Haushalt zu führen und ihrem Mann bei der Bewirtschaftung der Felder zu helfen, so dass die Familie nun mehr Geld zur Verfügung habe. Dem Brief beigelegt war ein Einzahlungsschein und die
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Information, dass eine Spende von 35 Euro einer Person Zugang zu sicherem Trinkwasser gewährt, 50 Euro die Ausbildung von drei Aufseherinnen von Wasserzapfstellen ermöglichen und 70 Euro einen Weiterbildungskurs für einen Brunnenwart finanzieren. Der Brief erwähnte ausserdem, dass weltweit 1,1 Milliarden Menschen keinen Zugang zu frischem Wasser haben, und dass als Folge davon alle 15 Sekunden ein Mensch – darunter viele Kinder – sterben. Das Hilfswerk zieht in dem Brief das Fazit: „Diese Zahlen empören und verpflichten uns zugleich.“3 Dass diese Zahlen oder besser: die Schicksale, die sich dahinter verbergen, die meisten Menschen „empören“ oder zumindest betroffen machen, trifft sicher zu. Während in den Jahren 1970 bis 1997 die Zahl der Hungernden weltweit von 959 Millionen auf 791 Millionen Menschen sank – vor allem dank einer Reduktion extremer Armut in China und in Indien – stieg sie Ende der 90er Jahre erneut stark an. Heute leiden nach neuesten Angaben des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen 923 Millionen Menschen an Hunger oder Mangelernährung. Fast jeder siebte Mensch verfügt also nicht über ausreichend Nahrungsmittel, um ein gesundes und aktives Leben zu führen.4 Das ist in der Tat schockierend, und wer solchen Fakten gegenüber gleichgültig bleibt, scheint entweder unsensibel und gefühllos – oder sich einfach an diese Misere gewöhnt zu haben.5 Doch haben die Absender des Briefes wirklich recht damit, dass diese beklagenswerten und kritikwürdigen Zustände uns zugleich „verpflichten“? Verlangen sie von uns eine eindeutige moralische Reaktion, ja gar, wie das Schreiben suggeriert, das Ergreifen konkreter Massnahmen? Diese Frage führt weitere mit sich: Zu welchen Massnahmen könnten wir verpflichtet sein? Sollen wir spenden? Uns politisch engagieren? Reicht es, wenn wir den Brief weiterverbreiten? Müssen wir einer Nichtregierungsorganisation beitreten, die sich für die Armutsbekämpfung einsetzt? Und dann: In welchem Ausmass verpflichten die bedrückenden Umständen uns gegebenenfalls zu derlei Massnahmen? Haben wir im genannten Beispiel genug getan, wenn wir den Weiterbildungskurs für einen Brunnenwart finanzieren? Wenn wir einen Brunnen spenden – oder doch eher zwei oder drei? Oder müssen wir weitaus
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mehr tun? Vielleicht unseren gesamten Lebensstil ändern und den Beruf wechseln, um uns selber aktiv für Menschen wie Amina einsetzen zu können oder um mehr zu verdienen und letztlich höhere Spenden zu Gunsten der extrem Armen überweisen zu können?6 Überhaupt: Wem gegenüber sind wir diesbezüglich eigentlich verpflichtet? Geht es um Amina persönlich, weil wir nun einmal von ihrem Schicksal erfahren haben? Oder geht es um all jene, von deren schwerem Los wir durch persönliche Begegnungen wissen, also zum Beispiel Menschen, denen wir auf einer Reise durch Afrika begegnet sind? Oder bestehen entsprechende Pflichten ganz generell allen gegenüber, die von extremer Armut betroffen sind? Und spielt es für das Bestehen solcher Pflichten eine Rolle, dass wir den zitierten Brief erhalten haben? Sind wir verpflichtet, weil wir von dem Elend erfahren haben, oder hätten wir dieselben Verpflichtungen, wenn wir uns die entsprechenden Informationen eigenständig beschaffen müssten? Um all diese Fragen geht es im vorliegenden Buch. Im Zentrum steht, mit anderen Worten, das Problem der individuellen moralischen Verantwortung der wohlhabenden7 Einwohnerinnen und Einwohner der Industrieländer angesichts der Weltarmut. Die moralphilosophische Debatte um die Weltarmut, zu der dieses Buch beitragen will, ist vergleichsweise jung.8 Zwar haben sich bereits im 18. Jahrhundert Philosophen wie etwa Jean-Jacques Rousseau zu der Frage geäussert, was uns die „armen Tataren“ in fernen Ländern angingen, und vor einer Ausdehnung der Moral über die ganze Welt gewarnt, die uns ein moralisches „Virtuosentum“ abverlange, zu dem der Mensch eigentlich nicht fähig sei.9 Eine systematische Auseinandersetzung mit der Frage, welche moralischen Pflichten wir Menschen gegenüber haben, die in fernen Ländern in Not sind, erfolgte jedoch erst während der letzten drei Jahrzehnte. Zwar ist das Phänomen der Armut in den genannten Ausmassen keineswegs neu. Gleichwohl war die Schere zwischen Arm und Reich wohl nie zuvor so weit geöffnet wie heute, und die Möglichkeiten der Reicheren, die Not zu lindern, bisher nicht in diesem Ausmass gegeben. Zudem hat die Globalisierung zu einer (zumindest partiellen) institutionellen und medialen Verwebung der menschlichen Schicksale geführt. Dies hat das Gefühl
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der Verantwortung füreinander erstarken lassen, was sich letztlich auch auf die Themenagenda der Moralphilosophie auswirkte. Der eigentliche Beginn der philosophisch-systematischen Auseinandersetzung mit dem Weltarmutsproblem wird heute gern mit Peter Singers Aufsatz „Famine, Affluence, and Morality“ von 1972 identifiziert.10 Singer legt in diesem Text eine Begründung weitreichender Hilfspflichten gegenüber notleidenden Menschen in aller Welt vor, die er am berühmt gewordenen Teichbeispiel exemplifiziert: „Wenn ich an einem seichten Teich vorbeikomme und ein Kind darin ertrinken sehe, so sollte ich hineinwaten und das Kind herausziehen. Das bringt zwar mit sich, dass meine Kleider schmutzig und nass werden, aber das ist bedeutungslos, wohingegen der Tod des Kindes vermutlich etwas sehr Schlechtes wäre.“11
Singer erläutert mit diesem Beispiel ein von ihm postuliertes moralisches Prinzip demzufolge wir, wenn es in unserer Macht steht, etwas Schlechtes zu verhindern, ohne dabei etwas von moralischer Bedeutung opfern zu müssen, entsprechend handeln sollten.12 Dies gilt laut Singer im Fall des Kindes im Teich vor unseren Augen ebenso wie im Fall eines Flüchtlingskindes oder Armutsopfers, die in fernen Ländern leben. Singers Position hinsichtlich Hilfspflichten läuft sicher den Überzeugungen der meisten zuwider (was per se keinen Einwand gegen sein Prinzip darstellt), und tatsächlich wurde sein Prinzip im Laufe der Zeit mit verschiedenen Einwänden konfrontiert: Einer dieser Einwände lautet, Singers Konzeption der Hilfspflichten sei schlicht zu anspruchsvoll, insofern sie offensichtlich von den Bewohnerinnen und Bewohnern der Industrieländer einen einschneidenden Wandel ihres Lebensstils verlange. Eine Moraltheorie, die so umfangreiche Opfer verlange, sei jedoch überfordernd und gefährde das, was menschliches Leben ausmache, nämlich die Fähigkeit, Pläne autonom zu verfolgen und zwischenmenschliche Beziehungen zu pflegen.13 Ein anderer Einwand richtet sich gegen die Begründung, die Singer für sein Prinzip gibt – respektive gegen deren Fehlen: Singer liefere kein positives Argument dafür, warum wir verpflichtet sein sollten, Unbekannten, denen wir nichts angetan haben, zu helfen. Zwar sei es schlecht, wenn andere Menschen leiden – das bedeute aber nicht eo ipso, dass wir ihnen helfen
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müssten. Darüber hinaus wurde das Teichbeispiel selbst als irreführend kritisiert: Beim Kind im Teich handle es sich um ein Unfallopfer, bei der Weltarmut jedoch um ein Problem mangelnder sozialer Gerechtigkeit.14 Notwendig seien in Fällen der letzteren Art keine individuellen Nothilfsaktionen, sondern koordinierte, langfristige Unterstützungsmassnahmen, zu denen die einzelne hilfsbereite Person zwar einen Beitrag leisten könne, nicht jedoch das Problem als ganzes lösen.15 In der Folge wurde deshalb gefordert, Singers individualethischer Ansatz sei durch einen institutionenethischen Ansatz zu ersetzen, der eine Stärkung der lokalen Institutionen und Reformen der globalen institutionellen Rahmenbedingungen anstelle von individuellen Hilfsaktionen verfolge. Sollte sich in der Tat zeigen, dass individuelle Spenden kein probates Mittel zur Armutsbekämpfung darstellen, würden allerdings gerade Konsequentialisten wie Singer mit ihrer Idee der Maximierung des Gesamtnutzens andere Massnahmen zu ergreifen empfehlen.16 Mit dem Plädoyer für einen institutionenethischen Ansatz ist allerdings nicht allein eine Aussage hinsichtlich der richtigen Mittel, sondern ebenso hinsichtlich der Fundierung der Pflichten gemeint: Demnach geht es bei der Weltarmut nicht (allein) um eine Frage der gegebenenfalls geforderten Hilfe, sondern insbesondere um eine Frage der Gerechtigkeit. Das Desiderat eines Übergangs von der Perspektive der Moral zur Perspektive der Gerechtigkeit (oder von einer Individual- zu einer Institutionenethik) wird gestützt durch empirische Erkenntnisse. Die Debatte in den 70er und 80er Jahren war noch geprägt von den grossen Hungersnöten, die ähnlich wie Naturkatastrophen und nicht als systemische Probleme wahrgenommen wurden. In jener Zeit wurde beispielsweise auch diskutiert, ob der Fleischkonsum in den Industrieländern legitim sei angesichts der Tatsache, dass durch die Fleischproduktion (je nach Berechnungsweise) bis zu 95 der Nährwerte des Korns, das den Tieren verfüttert wird, verloren gehen.17 Diese Frage steht heute kaum mehr zur Debatte. Denn wie beispielsweise die Ökonomen Jean Drèze und Amartya Sen aufgezeigt haben, ist der Mangel an Nahrungsmitteln innerhalb eines Landes nur selten die Ursache des Hungers (ausser bei akuten Naturkatastrophen), verantwortlich sind in der Regel vielmehr
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die Verteilung der Nahrungsmittel sowie der Zugang zu diesen.18 Oft fehlen der politische Wille und das Know-how innerhalb eines Staates, um den Zugang zu Nahrung für die ganze Bevölkerung sicherzustellen. Um eine nachhaltige Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen, gelte es nicht, so die Entwicklungsexperten, Nahrungsmittel zu verteilen, sondern vielmehr, eine breite Palette an Methoden einzusetzen, die auch Bildung, Technologietransfer im Bereich neuer landwirtschaftlicher Methoden, Landreformen und institutionelle Reformen etwa im Sinne der „good governance“ umfassten.19 Die Massnahmen, die zur Linderung der Armut erforderlich wären, sind somit nicht auf eine Erhöhung der Spendengelder reduzierbar, sondern umfassen auch politische und institutionelle Veränderungen auf der nationalen wie auf der internationalen Ebene. Innerhalb der moralphilosophischen Debatte um Weltarmut und Ethik wurde das Weltarmutsproblem nicht zuletzt aufgrund dieser entwicklungspolitischen Erkenntnisse denn auch zunehmend als eine Frage der Institutionenethik oder der Gerechtigkeit diskutiert. Zwar fanden einzelne Themen der Gerechtigkeit (so etwa die Fragen nach der Legitimation von Staatsgrenzen oder nach Möglichkeit und Bedingung gerechter Kriege) seit jeher Eingang in die politische Philosophie, doch wurden diese ausschliesslich als Probleme internationaler Gerechtigkeit verstanden.20 Im Fokus der philosophischen Aufmerksamkeit standen Staaten, die in ihrem politischen Handeln die Souveränität anderer Staaten zu achten hatten, denen jedoch keine Verantwortung für das Wohl der Bürgerinnen und Bürger anderer Staaten zukam.21 Erst in den letzten Jahren wurde von einzelnen Autorinnen und Autoren der Versuch unternommen, traditionelle Themen innerstaatlicher oder sozialer Gerechtigkeit wie Chancengleichheit oder Verteilungsgerechtigkeit auch auf globaler Ebene zu verorten. Diese Erweiterung der Perspektive führte jedoch zu Kontroversen sowohl hinsichtlich der Rechtfertigungsbasis für eine solche Ausdehnung als auch hinsichtlich der inhaltlichen Bestimmung der Erfordernisse.22 Die Auffassung, dass Weltarmut als Ausdruck einer Form von globaler Ungerechtigkeit zu verstehen sei, wurde dabei aber nicht nur als These hinsichtlich distributiver Aspekte verstanden, son-
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dern auch als Schädigungsthese: Demnach handelt es sich bei der Weltarmut um ein Unrecht, das die Reicheren den Ärmeren zufügen, und aus dem entsprechende korrektive Pflichten resultieren. In jüngster Zeit ist diese Position als institutionelle These vor allem von Thomas Pogge vertreten worden.23 Ihm zufolge ist es die von den wohlhabenden Ländern unterstützte globale Ordnung, welche die Bewohnerinnen und Bewohner der ärmeren Länder schädigt und ihnen von den Reicheren gleichsam aufgezwungen wird. Diese Position wurde von zahlreichen Autoren kritisiert.24 Im Kreuzfeuer der Kritik stehen dabei nicht nur die empirische Basis, auf der das Argument beruht, sondern auch die normativen Schlüsse, die Pogge aus ihr ableitet. Besonders umstritten ist, ob unsere Verstrickung wirklich als genuine Beitragshandlung zum Unrecht zu verstehen ist.25 Während die Debatte in den letzten Jahren also mehr und mehr auf das Problem der Herstellung gerechter globaler Verhältnisse respektive auf die Frage nach den Institutionen einer solchen Ordnung, ihren normativen Grundlagen und leitenden Prinzipien fokussierte, wurde die Frage nach dem gebotenen individuellen Handeln dagegen grösstenteils vernachlässigt.26 Diese Lücke versucht das vorliegende Buch zu schliessen, indem es die Frage nach der individuellen Verantwortung ins Zentrum rückt, also die Frage danach, wozu jede und jeder Einzelne, der oder die dazu in der Lage ist, angesichts der Weltarmut verpflichtet ist. Gegen diese Fokussierung lässt sich vor dem Hintergrund der dargestellten Debatte kritisch einwenden, sie sei insofern anachronistisch, als mittlerweile klar sei, dass extreme Armut einer institutionellen Lösung bedürfe und keine individuelle Aufgabe darstelle. Dieser Einwand scheint mir jedoch nicht überzeugend. Selbst wenn sich die These als richtig erweisen sollte, ist die individualethische Frage keineswegs hinfällig. Denn auch die Umsetzung institutioneller Lösungsansätze kommt nicht ohne Individuen aus, die sich eben um eine solche Umsetzung bemühen, indem sie entsprechende Institutionen aufbauen und diese in ihrer Funktionsfähigkeit unterstützen und laufend optimieren. Die Frage nach dem individuellen moralischen Zuständigkeits- und Aufgabenbereich stellt sich somit auch jenen, die davon überzeugt sind, dass das Weltar-
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mutsproblem nur institutionell bewältigt werden kann. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob jene, die über die entsprechenden Möglichkeiten verfügen, individuell Hilfe leisten müssen, solange entsprechende Regelungen noch nicht bestehen oder sobald diese versagen. Entsprechende individuelle Pflichten angesichts der Weltarmut zu begründen, ist das Vorhaben dieses Buches. Seinen Ausgangspunkt bildet somit die Frage, die Stefan Gosepath folgendermassen umrissen hat: „Dass wir Mitmenschen in akuten, lebensbedrohlichen Notlagen helfen und dabei unsere eigenen Interessen zurückstellen müssen, empfinden die meisten als moralisch selbstverständlich. […] Die moralphilosophische Unklarheit [darüber, was jeder und jede einzelne zu tun hat, BB.] stellt sich uns als ein Problem, weil jeder gerne selber für sich Klarheit darüber haben möchte, zumindest wenn er intellektuell aufgeklärt und redlich ist, was er eigentlich angesichts von Menschen in Notlagen tun sollte. Zudem besteht, solange die moralphilosophische Frage nicht geklärt ist, die Gefahr, dass zwar alle die Notlage beklagen, aber unter Umständen niemand (effektiv) hilft. Die intellektuelle Unklarheit führt so zu praktischer Apathie, die das Elend der Notleidenden noch vergrössert.“27
Es gilt also, eine überzeugende, gut begründete Antwort auf die Frage zu finden, wozu die Bewohnerinnen und Bewohner der wohlhabenderen Länder verpflichtet sind und was sie Amina und allen anderen Menschen, die wie sie in extremer Armut leben, schulden. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf dem Umstand, dass es sich bei den fraglichen Geboten um Pflichten auf Distanz handelt, denn in aller Regel leben die von extremer Armut und entsprechend lebensbedrohlicher Not Betroffenen in grosser geographischer Entfernung von uns. Intuitiv sind die meisten Menschen der Meinung, dieser Umstand sei von Bedeutung, wenn es um die Frage nach etwaigen Verpflichtungen geht: Während sie der Ansicht sind, einer vor ihren Augen ertrinkenden Person sei unter allen Umständen zu helfen, stellen sie in Abrede, dass sie einem Opfer extremer Armut mit derselben Dringlichkeit helfen sollten.28 In solchen Fällen ist dieser Position zufolge unterlassene Hilfeleistung kein moralisches Vergehen. Ob diese Ansicht tatsächlich gerechtfertigt ist, muss untersucht werden. Dabei ist der vorliegende Beitrag dezidiert als moralphilosophische Untersuchung angelegt. Die Ursachen der Armut zu verstehen und Strategien zu ihrer nachhaltigen Bekämpfung zu entwickeln,
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fällt in den Aufgabenbereich einer Vielzahl von Wissenschaftsdisziplinen – nicht aber in den der Philosophie. Das vorliegende Buch liefert denn auch keine Antworten auf die empirischen Ursachen extremer Armut, sondern konzentriert sich ausschliesslich auf die moralphilosophischen Fragen, die sich angesichts der Weltarmut stellen. Diese Fragen – allen voran, ob es sich bei der Bedürftigkeit, in der so viele Menschen leben müssen, um ein spezifisch moralisches Problem handelt und ob uns dieses in die Pflicht nimmt – lassen sich weitgehend auch ohne Klarheit hinsichtlich der Ursachen und geeigneten Bewältigungsstrategien extremer Armut beantworten. Hier gilt es jedoch, zwei Einschränkungen zu machen: Die erste betrifft moralphilosophische Ansätze, die Pflichten im Rahmen der Weltarmut behaupten, die explizit auf empirischen Annahmen über die Ursachen extremer Armut beruhen. Einen solchen Ansatz legt etwa Thomas Pogge vor: Er argumentiert, wie bereits oben erwähnt, dass die Bewohnerinnen und Bewohner der wohlhabenden Länder für das existierende Elend negativ verantwortlich seien, weil sie eine globale Ordnung unterstützten, die die Weltarmut verursache und perpetuiere. Soll die Plausibilität solcher empirischer Thesen geprüft werden – und dies ist vonnöten, wollen wir uns mit den entsprechenden normativen Argumenten, die in diesem Fall auf den empirischen beruhen, auseinandersetzen – kommen wir nicht umhin, auch die empirische Sachlage zu diskutieren. Die zweite Einschränkung betrifft die gerade gegenwärtig in der Fachliteratur und in den Medien breit diskutierte Auffassung, Entwicklungshilfe sei kontraproduktiv, weil sie insbesondere den betroffenen Ländern selbst mehr schade als sie nütze, und sei aus eben diesem Grund unverzüglich einzustellen. Sollte sich diese Auffassung als richtig erweisen, wäre die dieser Arbeit zugrunde gelegte Frage gleichsam absurd: Zweifellos besteht keine Pflicht, den Opfern der Weltarmut zu helfen, wenn diese Hilfe sie nur schädigen kann. Hinsichtlich der empirischen Behauptung, Entwicklungshilfe habe letztlich stets negative Konsequenzen, gehen allerdings mindestens drei unterschiedliche Behauptungen durcheinander: Erstens kann damit eine Ansicht gemeint sein, die vor allem in den Siebziger und Achtziger Jahren prominent diskutiert wurde und die auf dem so genannten Neomalthusianismus beruht.29 Ihr zufolge beschleunigt Hilfe in erster Linie das Bevölkerungswachstum,
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was langfristig zu einer weitaus grösseren Katastrophe führe, als wenn gar nichts unternommen würde. Diese Auffassung hat beispielsweise Garrett Hardin vertreten, der die Nationen mit Rettungsbooten vergleicht, die nur begrenzte Tragekapazitäten haben, weshalb wir sie auf keinen Fall überladen sollten, wollen wir nicht alle mit den Geretteten untergehen (life boat-ethics). Genau dies werde jedoch geschehen, wenn wir den ohnehin schon bevölkerungsreichen Ländern, deren Bewohnerinnen und Bewohner sich rasch vermehrten, Hilfe spendeten. Solche Aktionen seien deshalb, so die Idee, aus konsequentialistischen Gründen abzulehnen.30 Für die dem Argument zugrunde liegende These eines schier endlosen Bevölkerungswachstums gibt es jedoch keine empirische Evidenz. Vielmehr geht man heute von der sogenannten Demographic Transition Theory aus, der zufolge das Bevölkerungswachstum stets der gleichen Kurve folgt, in der sich tiefe Geburtenzahlen und hohe Todesalter einpendeln. Selbst ein hohes Bevölkerungswachstum dürfte deshalb bei wachsender Entwicklung irgendwann wieder abnehmen und auf dem Niveau der Selbsterhaltung stagnieren.31 Zweitens wird zuweilen argumentiert, Entwicklungshilfe sei schädlich, weil sie die armen Staaten und deren Bevölkerung von der Gunst der Geberländer abhängig mache und eine nachhaltige Entwicklung verhindere.32 Dieser These kann jedoch zweierlei entgegengehalten werden. Einerseits würde, sollte sich diese Annahme als richtig erweisen, eine allfällige Hilfspflicht damit nicht hinfällig. Es ist müsste vielmehr lediglich deren Inhalt neu bestimmt werden, etwa indem nach besseren, effizienteren Entwicklungsstrategien gesucht würde. Andrerseits ist es aus moralischer Sicht alles andere als klar, ob angesichts der vielen Todesfälle, die extreme Armut fordert, Abhängigkeiten nicht das geringere Übel darstellen. Etwas gemässigter wird, drittens, zuweilen moniert, Entwicklungshilfe habe bis anhin nichts oder kaum etwas gebracht und sei komplett ineffektiv. Peter Schaber weist etwa darauf hin, dass bis anhin insgesamt rund 300 Milliarden Dollar als Entwicklungshilfe in die Länder Afrikas gesteckt worden seien, was gleichwohl nichts daran geändert habe, dass die Zahl der in grosser Armut lebenden Afrikanerinnen und Afrikaner im entsprechenden Zeitraum nicht ab-, sondern vielmehr zugenommen hat.33 Hier gilt es nun allerdings zwischen der Behauptung, Hilfe funktioniere
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prinzipiell nicht, und der These, Hilfe funktioniere gegenwärtig nicht oder nicht ausreichend, zu unterscheiden. Sogar der äusserst entwicklungshilfekritische William Easterly macht Erfolge der Entwicklungszusammenarbeit aus, etwa hinsichtlich des Anstiegs der Lebenserwartung in den Entwicklungsländern von 40 auf 65 Jahre seit 1950 und der Reduktion der Kindersterblichkeit um zwei Drittel.34 Ich gehe im Folgenden von der kontrafaktischen Annahme aus, dass es ausreichend Evidenzen dafür gibt, dass nachhaltige und effiziente Formen der Entwicklungshilfe existieren. Der Verweis darauf, dass wir nichts unternehmen müssten, weil wir nichts unternehmen könnten, was den extrem armen Menschen effektiv zu helfen vermöchte, ist, wie ich meine, allenfalls ein Argument dafür, nach geeigneteren Strategien der Hilfe zu suchen – nicht jedoch dafür, sämtliche Bemühungen einzustellen. Jeder, der eine Hilfspflicht im Rahmen der Weltarmut prinzipiell akzeptiert, muss auch eine derivative Pflicht akzeptieren, sich über schädliche und hilfreiche Formen von Hilfe zu informieren und sein Handeln an diesem Wissen auszurichten.35 Selbst wenn die gegenwärtigen Bemühungen sich als fruchtlos erweisen oder gar negative Auswirkungen zeitigen sollten, bleibt also die Frage bestehen, ob es auf Seiten der Wohlhabenden eine Pflicht gibt, nach aussichtsreichen und nachhaltigen Hilfsstrategien zu suchen. Ich werde im Folgenden die These verteidigen, dass die existierende extreme Armut die wohlhabende Bevölkerung dieser Erde in die Pflicht nimmt. Dabei argumentiere ich für einen Pflichtenpluralismus: Die Verantwortung angesichts der extremen Armut lässt sich meines Erachtens nicht auf einen einzigen Typus von Geboten reduzieren, sondern geht mit verschiedenen Pflichten einher, die jeweils anderen Begründungsmustern folgen: Sie beruhen einerseits auf einer Verstrickung in globale Strukturen und Institutionen, die zur Weltarmut beitragen und diese perpetuieren, andrerseits auf der schieren Not und den menschenunwürdigen Bedingungen, unter denen extrem arme Menschen zu leben gezwungen sind. Mit der These des Pflichtenpluralismus einher geht zweitens die These, dass ein Engagement gegen die Weltarmut keine freiwillige Verpflichtung darstellt, der wir uns – je nach Laune – beugen oder entziehen
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können. Kommen jene, die dazu in der Lage wären, ihren Pflichten nicht nach, sind sie nicht einfach hartherzig oder unsensibel, sondern begehen einen gravierenden moralischen Fehler. Diese These steht im Gegensatz zu dem, was Hugh LaFollette die „charity view“36 genannt hat: die Auffassung nämlich, dass sich Personen zu Recht wie moralische Helden fühlten, wenn sie sich für eine Welt, in der niemand mehr extrem arm ist, einsetzten. Ich werde dagegen argumentieren, dass die Verantwortung der Bewohnerinnen und Bewohner der wohlhabenderen Länder gegenüber Amina und allen Personen, die wie sie extrem arm sind, keine Option, sondern Pflicht ist; sie zu erfüllen ist keine freiwillige Leistung, sondern ein moralisches Gebot. Um das Problemfeld auszuloten, innerhalb dessen eine Begründung entsprechender Pflichten Bestand haben muss, steige ich ex negativo in die Diskussion ein, indem ich im folgenden zweiten Kapitel prinzipielle Einwände gegen Pflichten auf Distanz im Zusammenhang mit der Weltarmut darstelle und diskutiere. Dies geschieht vor allem mit dem Ziel, die Bandbreite und die Plausibilität kritischer Anfragen einleitend sichtbar zu machen, mit denen ein Projekt wie das der Begründung individueller Pflichten auf Distanz angesichts der Weltarmut konfrontiert ist. Dabei wird es auch um die Frage gehen, welche Formen von Distanz in diesem Zusammenhang eigentlich problematisch sind. Das Kapitel identifiziert drei Sorgen, die sich aus den prinzipiellen Einwänden ergeben und denen die positive Begründung der Pflichten auf Distanz, wie sie im Laufe des Buches geleistet werden soll, standhalten muss: Die erste Sorge findet in der These Ausdruck, die Perspektive der Moral werde unzulässig überdehnt, wenn die Weltarmut als ein moralisches Problem angegangen wird. Weltarmut sei, wenn schon, ein politisches Problem; sie als moralisches Problem zu bezeichnen, führe in einen unzulässigen Moralismus. Die zweite Sorge gilt dem Verlust der Gemeinschaft, der jenen als inakzeptable Folge der Akzeptanz von Pflichten auf Distanz erscheint, die Moral als ein soziales Phänomen ansehen, dessen spezifische Ausdifferenzierung stets auf einen bestimmten soziokulturellen Kontext eingeschränkt ist. Die globale Ausdehnung der Moral erodiere letztlich Gemeinschaften, die sowohl für die Moral an sich, als auch für
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ein geglücktes menschliches Leben von zentraler Bedeutung seien. Die dritte Sorge schliesslich richtet sich auf den Verlust der Freiheit: Moral erschöpft sich gewissen libertären Positionen zufolge in der Wahrung der negativen Freiheitsrechte aller. Da wir jedoch auf Distanz nicht (oder nur in unbedeutender Art und Weise) in den Freiheitsbereich anderer einzugreifen vermöchten, haben wir keine oder nur sehr wenig umfangreiche Pflichten auf Distanz. Das Elend der Menschen, die in extremer Armut leben, ist demzufolge zwar bedauernswert, es verpflichtet uns jedoch zu nichts. Nach diesem skeptischen Auftakt widmen sich die folgenden drei Kapitel der positiven Begründung von Pflichten im Rahmen der Weltarmut. Ich beginne im dritten Kapitel mit einer kritischen Diskussion der zunächst nahe liegenden These, bei der Weltarmut handle es sich um ein Gerechtigkeitsproblem. Wie sich zeigen wird, hängt die Richtigkeit dieser These nicht nur von der vertretenen Gerechtigkeitstheorie, sondern auch vom zugrunde gelegten Gerechtigkeitsbegriff ab, also auch davon, was unter den Begriff der Gerechtigkeit überhaupt subsumiert wird. Erstens wird die These, es handle sich beim Weltarmutsproblem um ein Phänomen der Ungerechtigkeit, als eine These hinsichtlich relationaler Aspekte verstanden. Damit werden die Frage nach der Gebotenheit einer globalen Umverteilung respektive die Frage, ob die Anwendungsbedingungen distributiver Gerechtigkeitsprinzipien, wie sie innerstaatlich gegeben sind, auch global bestehen, virulent. Diese Probleme werden im vorliegenden Buch nicht abschliessend erörtert, denn im Zentrum steht nicht die Frage, wie eine gerechte Welt zu gestalten wäre, sondern wer angesichts der extremen Armut wozu verpflichtet ist.37 Die Ungerechtigkeitsthese wird zweitens auch als Aussage hinsichtlich absoluter Standards interpretiert: Ungerecht ist demnach allein das Faktum, dass in der gegenwärtigen Welt Menschen verhungern, obschon dies mit vergleichsweise geringem Aufwand verhindert werden könnte. Bei den Pflichten, die unter diesem Blickwinkel behauptet werden, handelt es sich, wie ich vorschlagen werde, um Hilfspflichten, auf die ich im fünften Kapitel ausführlich eingehe. Drittens beruht die Aussage, extreme Armut sei ungerecht, auf einer Schädigungsthese: Weltarmut sei insofern „ungerecht“, als sie auf einem Unrecht beruhe, das die Reicheren den Ärmeren durch
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das Aufrechterhalten einer schädigenden Weltordnung antun. Die Gerechtigkeitspflichten, die in diesem Zusammenhang behauptet werden, sind somit als Nichtschädigungspflichten konzipiert. Das vierte Kapitel widmet sich diesen Nichtschädigungspflichten auf Distanz respektive der These, extreme Armut sei (zumindest zum Teil) den Bewohnerinnen und Bewohnern der Industrieländer anzulasten. Die Weltarmut ist demnach die Folge einer institutionellen globalen Ordnung, zu der die reichere Welt beiträgt und die sie durch ihr Verhalten aufrechterhält. Weltarmut müsse deshalb, so die These, im besseren Fall als menschliches Versagen, im schlechteren Fall als ein Verbrechen angesehen werden. Das Kapitel setzt sich insbesondere mit dieser Behauptung einer schädigenden Weltordnung auseinander. Dabei stellt sich die Frage, was „schädigend“ in diesem Zusammenhang heisst und wem extreme Armut in einem moralisch relevanten Sinn angelastet werden kann. Diese Fragen zu beantworten bedarf, wie ich argumentieren werde, nicht allein der Analyse empirischer Zusammenhänge, sondern ebenso normativer Überlegungen darüber, was als moralisch verwerfliches Schädigen zu werten und wer in welchem Rahmen wofür moralisch verantwortlich zu machen ist. Um die moralische Verantwortung auszuloten, nehme ich das rechtliche Konzept der Sorgfaltspflichten zu Hilfe und argumentiere, dass jene, die aufgrund ihres Informationsstandes um potentielle Schädigungen wissen oder wissen können, entsprechend sorgfältig zu agieren haben. Dies betrifft letztlich auch das Individuum in seiner Rolle als Konsumentin oder Konsument. Wo das Individuum seine Sorgfaltspflicht verletzt und zum Unrecht beiträgt oder von diesem profitiert, kommen ihm sowohl korrektive wie restitutive Pflichten zu: Erstere sind als eine Wiedergutmachung für ein Beitragen zur Schädigung zu werten; letztere kommen zustande, wenn von Gewinnen profitiert wird, die einem nicht zustehen. Das fünfte Kapitel widmet sich den Hilfspflichten auf Distanz. Das Kapitel diskutiert unter anderem Singers Teichbeispiel und die Frage, worauf die weit verbreitete Intuition beruht, dass eine Pflicht besteht, ein Kind aus einem Teich zu retten, jedoch keine, ein anderes Kind in der Ferne vor dem Verhungern zu bewahren. Nothilfefälle, denen das Teichbeispiel zuzurechnen ist, werden offenbar anders beurteilt als Fälle chronischer Armut. Eine Analyse dieser
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common sense-Einschätzung zeigt, dass letztere Fälle mit Pflichten einhergehen, die sich durch Vagheit auszeichnen, die auf Distanz zunimmt und der Unvollkommenheit der kantischen Pflichten ähnlich ist. In der Folge untersuche ich deshalb die kantischen Hilfspflichten und argumentiere, dass deren Unvollkommenheit die Unterstützungsgebote weder schwächt, noch dass aus ihr abgeleitet werden kann, die Pflichtinhaber seien gänzlich frei, darüber zu entscheiden, in welcher Weise sie ihren Hilfspflichten nachkommen. Mit Kant lässt sich nämlich durchaus zeigen, dass wir extrem armen Menschen helfen müssen, und diese Hilfspflicht nimmt sich bei genauer Betrachtung sogar äusserst anspruchsvoll aus. Die Weltarmut zu beseitigen ist allerdings, wie unschwer zu erkennen ist, keine Aufgabe, die Personen im Alleingang lösen können. Vielmehr handelt es sich dabei um eine Pflicht, die jene, die es vermögen, gemeinsam tragen. Im abschliessenden sechsten Kapitel gehe ich dieser gemeinsamen Verantwortung auf den Grund und argumentiere, dass die Perspektive einer gemeinsamen Verpflichtung insbesondere eine Institutionalisierung der Pflichten mit sich bringt. Eine solche Institutionalisierung ist nicht nur als das probateste Mittel zum Zweck der Armutsbeseitigung zu werten, sondern auch als Entlastung des Individuums anzusehen, das in einer individualethischen Perspektive angesichts der Ausmasse gravierender Not in der heutigen Welt andernfalls von seiner Aufgabe überfordert wird. Allerdings ist diese Institutionalisierung gegenwärtig nicht oder erst unzureichend Realität. Damit stellt sich die Frage, was das Individuum angesichts der Not, in der andere Menschen leben, und des Umstands, dass dieser Not gegenwärtig nicht ausreichend abgeholfen wird, zu tun hat. Führt man sich diese Frage vor Augen, werden die Erfordernisse offenbar zwangsläufig anspruchsvoll. Allerdings ist fraglich, ob eine Pflicht besteht, diesen individualethischen oder persönlichen Blick auf die Weltarmut, der einen unweigerlich in äusserst kostspielige Szenarien verstrickt, einzunehmen – oder ob sich das Individuum damit begnügen darf, seinen fairen Anteil zur Problemlösung beizutragen. Auf diese Frage scheint letztlich nur eine tugendethische Antwort möglich zu sein.
We think that, although it would be nice of us to assist the starving, none of us is morally required to assist them – that we have done nothing (very) wrong if we ignore those strangers in need. Indeed, most people assume that if we help, then we are moral heroes. Hugh LaFollette 1
2 Pflichten auf Distanz und Grenzen der Moral Die meisten halten es für eine menschliche Tragödie, dass täglich Tausende von Kindern an Mangelernährung sterben und Millionen von Menschen unter erbärmlichen Umständen leben müssen. Weitaus weniger sind jedoch der Meinung, dass sie diesen Menschen etwas schuldig sind, dass es also Pflicht sei, etwas gegen dieses Elend zu unternehmen. Wenn Personen sich freimütig dazu bekennen, dass sie Spendenaufrufe von Hilfswerken jeweils in den Müll werfen, ohne die Broschüren zu studieren oder einen Betrag zu überweisen, und andere es darüber hinaus vielleicht sogar als eine Frechheit bezeichnen, dass sie mit solchen Schreiben überhaupt konfrontiert werden, werden sie dafür gewöhnlich denn auch nicht getadelt. Ihre Aussagen rufen keine moralische Empörung hervor – ganz anders als in Situationen, in denen Personen die Verletzung weithin anerkannter Normen eingestehen, also z.B. zugeben, dass sie jemanden verleumdet oder ein Versprechen gebrochen haben. Diese Divergenz in unseren moralischen Reaktionen ist insofern informativ, als moralische Empörung als Indiz dafür gewertet werden kann, dass wir eine moralische Norm verletzt sehen bzw. die moralischen Fragen gebührende Aufmerksamkeit bei jemandem vermissen.2 Bleibt die Empörung aus, wie im Fall von Desinteresse an der Weltarmut und Passivität bezüglich entsprechender Hilfsaktionen, liegt der Schluss nahe, dass umstehende Personen es offenbar nicht für moralisch geboten oder nicht für eine moralische Frage halten, sich gegen die Weltarmut zu engagieren. In dieselbe Richtung wie dieser „Empörungstest“ weist der „Lobestest“: Wir empfinden es durchaus als angebracht, Personen
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zu loben, die einen Grossteil ihres Vermögens für gemeinnützige Organisationen spenden oder sich tatkräftig in Hilfsprojekten engagieren, und honorieren solches Verhalten sogar öffentlich, indem entsprechende Preise und Ehrentitel für besonders karitatives Engagement verliehen werden. Auch das deutet darauf hin, dass hier keine moralische Frage tangiert bzw. keine moralische Pflicht erfüllt wird. Denn wir fühlen uns nicht veranlasst, jemanden zu loben, der sich an Abmachungen hält oder andere nicht grundlos beleidigt; vielmehr erwarten wir schlicht und einfach von erwachsenen Personen, dass sie ihre diesbezüglichen Pflichten erfüllen.3 Das Loben und Bewundern von Personen, die sich für das Los der Ärmsten dieser Welt einsetzen, deutet somit in dieselbe Richtung, wie das Ausbleiben von Empörung: Offenbar sind viele Menschen nicht der Meinung, dass es ein moralisches Gebot gibt, sich für die Opfer der Weltarmut einzusetzen. Diese Sichtweise entspricht dem, was Hugh LaFollette die „charity view“4, die „Wohltätigkeitsperspektive“ genannt hat: Die Linderung oder Beseitigung der Armut ist demnach nicht Pflicht, sondern freiwillig und lobenswert, entspricht also einem supererogatorischen Engagement. Jene, die sich für das Wohlergehen der Ärmsten dieser Welt einsetzen, haben somit durchaus guten Grund, sich, um mit LaFollette zu sprechen, als „moralische Helden“5 zu fühlen. Wer sein Geld jedoch lieber für Ferien oder Luxusgüter ausgibt, muss keine Schuldgefühle hegen, die, wie Ernst Tugendhat schreibt, als „internalisierte Empörung“6 zu werten sind. Auch wenn diese weit geteilten Einstellungen phänomenologisch korrekt beschrieben sind: Daraus zu schliessen, dass es tatsächlich nicht Pflicht ist, etwas gegen die Weltarmut zu tun, dass die Wohltätigkeitsperspektive also auch in der Sache korrekt ist, wäre aus mindestens zwei Gründen voreilig: Erstens ist zu bezweifeln, ob die Ergebnisse der erwähnten „Tests“ wirklich so aussagekräftig sind, wie vorhin suggeriert. Jemanden für seine Handlungen zu loben, ist nämlich durchaus mit der Annahme vereinbar, dass er oder sie eigentlich nur seine Pflicht erfüllt hat – aber vielleicht eben in besonders vorbildlicher Weise oder unter erschwerten Bedingungen: Moral ist zuweilen kostspielig, und so scheint es gelegentlich durchaus Anlass zu geben,
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Personen zu loben, die „nur“ ihre Pflicht tun. Freilich ist dies nicht angemessen, wenn jemand pünktlich zu einem Termin erscheint, denn es ist nicht besonders schwierig, solche Abmachungen einzuhalten. Doch einen Freund zu loben, der den Skiurlaub, auf den er sich seit Wochen gefreut hat, absagt, weil seine Freundin in eine tiefe Depression gefallen ist, ist durchaus mit der Auffassung vereinbar, er sei moralisch verpflichtet gewesen, bei seiner Freundin zu bleiben. Das Ergebnis des Lobestests weist also nicht immer darauf hin, dass jemand meint, dass eine supererogatorische Handlung vollzogen wird, sondern zuweilen auch darauf, dass er anerkennt, dass eine pflichtgemässe Handlung dem Akteur besonders viel abverlangte. Umgekehrt empören sich Personen bei weitem nicht über jede vermeintliche Pflichtverletzung. Das kann ganz unterschiedliche Gründe haben – vielleicht meinen sie, Moral sei Privatsache und das Verhalten anderer gehe sie nichts an, vielleicht empfinden sie es auch einfach nur als unangenehm, sich zu exponieren, indem sie andere kritisieren. Je nach Schweregrad der Pflichtverletzung ist eine solche Konfliktvermeidungshaltung indes problematisch, muss aber als Erklärung für ausbleibende Empörung stets in Erwägung gezogen werden. Zweitens wäre es voreilig, aus der Beschreibung der Einschätzungen von Personen auch auf die Geltung von Pflichten zu schliessen, weil die Beschreibung solcher Einstellungen zwar einiges zur Erklärung weit verbreiteter Verhaltensweisen beiträgt, sie jedoch für sich genommen noch keine Rechtfertigung dieser Handlungen liefert. Peter Singer etwa meint, dass aus dem, was die Leute gemeinhin meinen, nicht mehr und nicht weniger folge, als dass deren Ansichten allenfalls revisionsbedürftig seien, sofern sie nicht mit einer gerechtfertigten Theorie übereinstimmen.7 Damit scheint mir Singer zwar übers Ziel hinauszuschiessen, denn tief greifende Überzeugungen können und sollen zuweilen durchaus als Korrektiv von moralischen Prinzipien und Theorien wirken. Allerdings ist Singer darin recht zu geben, dass Moral nicht auf soziale Anpassung reduziert werden darf, sondern zumindest in bestimmten Fällen auch als soziales Korrektiv wirken können muss.8 Auch wenn die Unterdrückung der Frau und das Versklaven von Menschen noch vor zwei Jahrhunderten der gesellschaftlichen Norm entsprachen und entsprechende Gesetze damals kaum für
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Empörung sorgten, werden diese Normen aus heutiger Perspektive als immer schon illegitim kritisiert. Personen, die sich damals für die Abschaffung der Sklaverei einsetzten, feiert man denn auch heute als „moralische Helden“: Sie hatten den Mut, für das Richtige einzustehen und die Menschheit in ihrer moralischen Entwicklung voranzubringen. Es gilt daher, nicht bei der Frage stehen zu bleiben, worüber sich Menschen de facto empören und was sie für lobenswert halten. Darüber hinaus muss geklärt werden, auf der Basis welcher impliziten normativen Hintergrundannahmen sie dies tun und ob diese Annahmen zutreffend sind und die aus ihnen gezogenen praktischen Schlüsse gerechtfertigt werden können. Was wir also klären müssen, ist die Frage, ob die Einstellung der meisten, dass sie das Weltarmutsproblem moralisch gesehen nichts angeht, gerechtfertigt werden kann. Ausgehend von der Beobachtung, dass offensichtlich die wenigsten ein individuelles Pflichtbewusstsein den Opfern der Weltarmut gegenüber haben, werde ich im Folgenden drei theoretische Positionen diskutieren, die der Behauptung entsprechender individueller Pflichten – ganz unabhängig von deren inhaltlicher Bestimmung – skeptisch gegenüber stehen. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Frage, welche Bedeutung dem Aspekt der Distanz zwischen möglichen Pflichtinhabern und den Personen, denen etwas geschuldet ist, bei der Zurückweisung entsprechender Pflichten zukommt. Ich stelle die drei skeptischen Positionen meiner eigenen Argumentation zugunsten individueller Pflichten gegenüber extrem Armen voran, um das Spektrum an theoretischen Herausforderungen auszuloten, denen sich eine Position, wie ich sie vertreten möchte, zu stellen hat. Die kritischen Stimmen, die im nun folgenden Kapitel zu Wort kommen, werde ich am Ende dieses Buches wieder aufnehmen, um zu überprüfen, ob meine eigene Begründung entsprechender Pflichten den hier skizzierten Herausforderungen gerecht werden und den damit einhergehenden Einwänden standhalten kann. Die drei skeptischen Positionen, die ich diskutieren werde, argumentieren alle in der einen oder anderen Weise für eine Begrenzung der Moral, die das Weltarmutsproblem aus dem Bereich unserer moralischen Aufmerksamkeit ausschliesst. Die erste
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Begrenzung betrifft die Reichweite der moralischen Perspektive („Was ist Thema der Moral?“) und befasst sich insbesondere mit dem Moralismus-Vorwurf (2.1). Die zweite, wenn man so will: personelle Begrenzung hat mit den Objekten der Moral zu tun („Wem gegenüber bestehen moralische Pflichten?“) und kennzeichnet z.B. kommunitaristische Positionen (2.2). Die dritte Grenzziehung bezieht sich auf die Inhalte oder den Gegenstandsbereich der Moral („Welche Pflichten bestehen?“) und wird insbesondere von Libertären stark gemacht (2.3). Alle drei diskutierten Positionen lehnen die These ab, wir seien zur Linderung extremer Armut verpflichtet. Es handelt sich somit bei allen dreien um Versionen der Wohltätigkeitsperspektive, denen je unterschiedliche Ansichten über das Wesen der Moral zugrunde liegen. Im Folgenden beschränke ich mich darauf, die zentralen Bedenken zu verdeutlichen, denen die Behauptung individueller Pflichten, gegen die Weltarmut tätig zu werden, hier jeweils begegnet, und denen sie im weiteren Verlauf dieser Arbeit Rechnung tragen muss (2.4).
2.1 Grenzen der Perspektive der Moral Die These, extreme Armut zu beseitigen sei keine moralische Aufgabe, beruft sich auf entsprechende moralische Alltagsintuitionen: Wir verstehen Moral und uns selber offenbar so, dass moralisch zu sein primär heisst, im täglichen Umgang respektvoll miteinander umzugehen, nicht aber, sich um Menschen zu bemühen, die in unserem Alltag keine Rolle spielen.9 Moralische Integrität und Grösse zeigt sich denn offenbar auch vor allem in Verhaltensweisen derart, dass Personen aufrichtig bleiben, auch wenn dies für sie unangenehme Folgen hat, oder dass auch in heiklen Situation Verlass auf sie ist. Die Beseitigung der Weltarmut scheint in diesem Sinne kein Problem der Moral, sondern – wie immer wieder betont wird – eher eines der Politik.10 Was auch immer politische Probleme im Kern auszeichnen mag – es scheint in der Tat viel dafür zu sprechen, das Ausmass extremer Armut und die Hartnäckigkeit, mit der sie sich hält, als ein politisches Problem zu bezeichnen. Zu den zentralen Armutsursachen
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gehören heute Bürgerkriege, Korruption und Misswirtschaft in den betroffenen Ländern, steigende Nahrungsmittelpreise und der einseitige Welthandel.11 Um das Problem langfristig in den Griff zu bekommen, sind offenbar politische Massnahmen vonnöten wie beispielsweise eine Stärkung von Institutionen wie die Vereinten Nationen, welche die Sicherung des Weltfriedens und die Beförderung des Wohlergehens für alle Menschen zum Ziel haben. Die Politik ist anders gesagt dieser Position zufolge das einzig probate Mittel im Kampf gegen extreme Armut, während die klassischen „moralischen Reaktionen“ auf die Armut wie Spenden oder Freiwilligeneinsätze die Misere in den Augen einiger nicht zu beseitigen vermögen, sondern als naive Versuche zu werten sind, mit „Gutmenschentum“ massives Unrecht und strukturelle Probleme zu beseitigen.12 Nun mag diese Einschätzung durchaus einiges für sich haben. Doch abgesehen davon, dass die empirische These der Wirkungslosigkeit solcher Bemühungen noch belegt werden müsste, setzt sie bereits voraus, was erst noch zu zeigen wäre: nämlich dass die Weltarmut zu beseitigen Pflicht ist. Denn nur unter Annahme dieser Prämisse kann verlangt werden, dass entsprechende zielführende politische Massnahmen ergriffen werden. Die Frage nach den geeigneten Mitteln der Problemlösung ist weitgehend unabhängig von der Frage nach möglichen Pflichten zur Problemlösung (jedenfalls solange als man davon ausgeht, dass das Problem lösbar ist), und sie ist ihr meines Erachtens nachgeordnet. Allerdings nimmt sich diese Antwort wenig befriedigend aus, wenn man die These, dass extreme Armut wenn schon ein politisches und kein moralisches Problem darstellt, in einer zweiten Weise versteht: Demnach kann das Individuum im Alleingang nichts ausrichten, was den Menschen, die in extremer Armut leben, helfen würde. Denn individuelle Hilfsaktionen werden, so die These, langfristig nicht erfolgreich sein, solange nicht alle, die dazu in der Lage sind, tatkräftig mithelfen, den extremen Notstand, in dem heute immerhin fast jeder siebte Mensch lebt, zu beseitigen. Gefordert sei deshalb ein gemeinschaftliches Vorgehen, das institutionell abgesichert werden muss durch die Schaffung entsprechender Verteil- und Kontrollmechanismen. Anders gesagt lautet die These dann, Armutsbekämpfung sei keine Frage der Moral oder der
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Individualethik, sondern eine Frage des Designs sozialer Regeln oder eben der Institutionenethik. Auch dieser Punkt mag durchaus richtig sein, und ich werde im Laufe dieses Buches verschiedentlich auf ihn zurückkommen und diskutieren, wie genau der Unterschied zwischen Individualund Institutionenethik zu verstehen ist und welche Fragen sich innerhalb welchen Zugangs stellen.13 Doch selbst wenn wir fragen, wie gerechte globale Regeln auszusehen haben, lautet die zugrunde liegende Prämisse, dass wir einander überhaupt Gerechtigkeit (was auch immer dies innerhalb eines globalen Rahmens heissen mag) schulden. Denn die entsprechenden Institutionen müssen zuerst aufgebaut werden, was ohne individuelles Engagement und ohne langfristiges Bekenntnis zu solch einem Unterfangen nicht möglich sein wird. Mit der These, Weltarmut sei ein moralisches und nicht allein ein politisches Problem, meine ich vorerst denn auch nicht mehr und nicht weniger, als dass uns dieses Problem moralisch etwas angeht, dass wir also aus Gründen der Moral (und nicht etwa oder nicht allein aus Gründen der Klugheit oder aus Gründen der Ästhetik) um eine Lösung bemüht sein sollten. Genau in diesem Sinne ist auch die Aussage des ehemaligen Uno-Generalsekretärs Kofi Annan zu verstehen, bei der Beseitigung extremer Armut handle es sich um eine der zentralen moralischen Herausforderungen unserer Zeit.14 Ist es allerdings wirklich unsere moralische Pflicht, extreme Armut auszurotten, so stellt sich die Frage, warum wir dennoch so urteilen und handeln, als wäre die Weltarmut zwar ein tragisches Phänomen, aber keines, das uns mit jener Dringlichkeit in die Pflicht nimmt, wie dies moralische Aufgaben gewöhnlich an sich haben. Zwar spenden viele Bewohnerinnen und Bewohner der Industrieländer Geld für die Entwicklungshilfe. Doch die wenigsten dürften der Meinung sein, dass dies zu tun auch moralisch verlangt sei. Das Engagement zugunsten der extrem Armen reicht denn auch bei Weitem nicht aus, deren Not zu beseitigen. Zwar lässt sich diese mit Spenden allein auch kaum tilgen, aber auch politische Massnahmen wie faire Handelsabkommen oder das Bezahlen gerechter Preise für natürliche Ressourcen bedürften, wie gesagt, des individuellen Engagements. Rüdiger Bittner fragt sich deshalb, warum
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es der Moral nicht gelungen sei, die Menschen dazu zu bewegen, die Zustände zu ändern.15 Hätten Thomas Pogge, Peter Singer und andere Autoren recht, die behaupten, wir seien an einem der grössten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit beteiligt, weil wir keine ernsthaften Versuche unternähmen, die Millionen von Todesfällen als Folge von Mangel- und Unterernährung zu verhindern,16 müsste die Beseitigung absoluter Armut für uns alle ganz oben auf der Agenda stehen. Tatsache ist jedoch, dass sie dies nicht tut. Wer dennoch die Ansicht vertritt, dass eine entsprechende Pflicht besteht, ist angesichts der gegebenen Verhältnisse offenbar darauf festgelegt, die meisten Menschen für böswillig oder träge zu halten, was klarerweise absurd ist.17 Oder aber er muss zugeben, dass die Moral gar nicht verlangt, dass sich Individuen des Problems der Weltarmut annehmen. Der „Fehler“ läge dann nicht bei jenen, die untätig bleiben, sondern vielmehr bei den Moralphilosophen, die überzogene Vorstellungen davon haben, was dem Bereich des Pflichtgemässen zuzurechnen ist. Eine Moraltheorie, die uns zu Verbrechern macht, wenn wir gegen die Weltarmut nichts unternehmen, ist nämlich möglicherweise, so das Argument, schlicht zu aufgebläht und – um den Alltagsbegriff zu zitieren – zu „moralisierend“. Wie ist dieses Argument zu verstehen? Unter „Moralismus“ wird gemeinhin eine – negativ bewertete – Moralisierung unzulässig vieler Lebensbereiche und -fragen verstanden, die durch eine Ausdehnung des Bereichs des Moralischen zustande kommt und uns zwingt, alles und jeden aus der Perspektive der Moral zu betrachten. Cora Diamond charakterisiert eine moralistische Grundeinstellung als eine argwöhnische Haltung, die alles unter einen Generalverdacht stellt, was nicht unter die Autorität der Moral gebracht wird.18 Eine solche Einstellung führt zu einer Einschränkung der Perspektive auf die Welt und auf die Projekte, die wir darin verfolgen.19 Diamond nennt als Beispiel für eine solche moralistische Haltung die empörte Reaktion auf einen rassistischen oder sexistischen Witz mit den Worten: „Das ist nicht lustig!“ Was wir mit diesem Ausspruch meinen, ist gewöhnlich, dass die Moral gebietet, über bestimmte Dinge keine Witze zu machen.20 Personen und Einstellungen, die wir als moralistisch empfinden, bewerten jedoch offenbar zu viele Bereiche und
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Handlungen unter moralischen Gesichtspunkten – etwa welches Auto man fährt, ob man Fleisch isst, und ob man über Kollegen tratschen darf und dergleichen mehr. Das hat damit zu tun, dass solche Moralisten meinen, dass für jede mögliche Handlung gilt, dass sie entweder moralisch verboten, erlaubt oder geboten ist. Es gibt somit keinerlei moralfreie Zonen – auch nicht innerhalb jener Bereiche, die wir gemeinhin als Privatsache oder als Fragen des persönlichen Geschmacks deklarieren. Allerdings stellt sich aus moralphilosophischer Sicht sogleich die Frage, ob der Blick und die Kritik der Moralisten nicht vielleicht doch angebracht sind und wir somit nur hoffen können, dass es den Moralisten gelinge, die Menschen dereinst von ihren Meinungen zu überzeugen. Oder sind selbst aus Sicht der Moralphilosophie solche Einschränkungen übertrieben, weil eine so anspruchsvolle Moral von uns verlangen würde, uns wie moralische Heilige21 zu benehmen oder, falls wir uns weigern, den hohen Ansprüche Folge zu leisten, als stets Schuldige durch die Welt zu gehen? Unliebsame Zeitgenossen sind die Moralisten nämlich auch deswegen, weil wir uns einer Antwort auf diese Frage nicht ganz sicher sind. Es ist also eine offene Frage, was in diesem Zusammenhang wofür als Korrektiv zu gelten hat: Sollen die Meinungen, die offenbar viele gemeinhin teilen, Moralprinzipien hinterfragen – oder Moralprinzipien die Alltagsmeinung? Ist Moral, anders gefragt, ein rekonstruktives oder ein revisionistisches22 Geschäft, will meinen: rekonstruiert sie, was Leute gemeinhin denken und wie sie de facto werten, zu einem „Gebäude der Moral“, oder revidiert sie diese Meinungen, indem sie das Alltagsverständnis der Moral gewichtiger Denkfehler überführt? Während revisionistische Theorien die Welt respektive das menschliche Handeln in ihr als grundsätzlich revisionsbedürftig einschätzen und entsprechend Theorien formulieren, die von den moralischen Überzeugungen der Mehrheit zum Teil stark abweichen, orientieren sich rekonstruktive Theorien an den geteilten vorherrschenden Einstellungen. Revisionistische Projekte können dabei in zwei Richtungen verfahren: Entweder indem sie die These vertreten, Moral verlange sehr viel weniger als zumeist angenommen und unser Rechtssystem, das auf unseren Werten und Normen beruhe, sei entsprechend viel zu restriktiv;23 oder indem sie argumentieren, Moral verlange sehr viel mehr als
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landläufig unterstellt, weshalb moralisch Handelnde die gesellschaftlich geltenden Normen bei Weitem überschreiten respektive überbieten müssten.24 In letzterem Sinne betont etwa Peter Singer, dass die Art und Weise, wie Menschen faktisch urteilten, über die Gültigkeit gegenläufiger theoretischer Schlussfolgerungen nichts aussage. Denn letztere folgten aus entsprechend begründeten Moralprinzipien, und solange diese nicht verworfen würden, müsste auch die jeweilige Schlussfolgerung bestehen bleiben, so seltsam diese auch erscheinen möge.25 Eine rekonstruktive Position betont dem gegenüber die zentrale Bedeutung moralischer Intuitionen und geteilter Überzeugungen.26 Die meisten rekonstruktiven Autoren vertreten allerdings eine Art kohärentistische „mittlere Position“: Alltagsmoralische Überzeugungen werden keineswegs unhinterfragt adoptiert, sondern ständig mit den Prinzipien verglichen und möglichst gut in Einklang gebracht.27 John Rawls’ Idee des Überlegungsgleichgewichts28 steht etwa für eine solche theoretische Ausformulierung einer Vermittlung zwischen in der Praxis vorherrschenden Überzeugungen und theoretischen Prinzipien. Was haben diese Ausführungen nun mit der Frage der Weltarmut zu tun? Wenn behauptet wird, die Existenz extremer Armut sei ein moralisches Problem, so sind wir offenbar gezwungen, ein Problem von gigantischem Ausmass aus der Perspektive der Moral zu betrachten. Weil es sich bei diesem Problem nicht um ein kleineres Anliegen, sondern eben um ein gravierendes Problem handelt, scheint es schwierig, sich seiner Omnipräsenz zu entziehen. Die Frage, ob es moralisch relevant ist, ob wir uns teure Operntickets oder ein kostbares Schmuckstück leisten, hängt mitunter davon ab, wie die Umwelt beschaffen ist: Geht es den Menschen, für die wir moralisch verantwortlich sind, so schlecht, dass sie an den Folgen der Armut sterben, scheinen gewisse Handlungen plötzlich rechtfertigungsbedürftig, die es vorher nicht waren. Die Perspektive der Moral einzunehmen wird, anders gesagt, umso kostspieliger, je mehr diese Menschen unserer Aufmerksamkeit auch tatsächlich bedürfen, je schlechter es also den Menschen innerhalb unseres moralischen Horizonts geht.
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Dabei dürfte es in einer idealen Welt (die je nach Theorie unterschiedlich beschaffen sein wird, in der aber bestimmt niemand an den Folgen von Armut stirbt) einfacher sein, auf „moralfreie Zonen“ zu pochen, denn in einer nicht-idealen Welt.29 Denn die moralische Arbeitsteilung30 führt in einer idealen Welt dazu, dass sich alle sehr viel besser auf ihr eigenes Leben konzentrieren können, weil sie nur bestimmte moralische Aufgaben haben, die ihnen institutionell zugewiesen sind.31 Solange sie diese Aufgaben im Auge behalten, können sie sich hinsichtlich anderer moralischer Probleme zurücklehnen im Wissen darum, dass für diese jemand anderes zuständig ist. Das Individuum wird also in einer idealen Welt moralisch entlastet. In einer nicht-idealen Welt wird dagegen offenbar jede noch so alltägliche Handlung wie ins Kino zu gehen oder sich eine Jeans zu kaufen, zu einem möglichen Konfliktfeld – was für die einen ein Anlass ist, gegen eine alles durchdringende Perspektive der Moral und gegen Pflichten gegenüber den Weltärmsten zu votieren, für die anderen jedoch bedeutet, dass wir unseren Lebensstil in der Tat drastisch überdenken und verändern sollten. Ob die Gefahr eines Moralismus droht, hängt also nicht nur davon ab, ob ein Problem als eine Frage der Moral bestimmt wird. Ausschlaggebend dürfte ebenso sehr sein, ob das Individuum das Problem als „sein“ Problem anerkennt, das es persönlich in die Pflicht nimmt. Die Eingangsthese, es handle sich bei der Weltarmut um ein politisches Problem, kann denn auch – wie oben erwähnt – so verstanden werden, dass dem Problem nicht mit individuellen Akten, sondern nur gemeinsam, quasi als Weltpolis, beizukommen ist. Aus diesem Grund seien koordinierte Aktionen anzustreben, die letztlich einer politischen Regelung bedürften. Doch einerseits wird auch hier eine entsprechende Pflicht – wenn auch eine gemeinschaftliche – vorausgesetzt.32 Andrerseits stellt sich selbst dann, wenn von einer solchen gemeinschaftlichen und letztlich „politischen“ Lösung ausgegangen wird, die Frage nach der Verantwortung des Individuums, solange erstens die politische Lösung nicht vorhanden und institutionalisiert worden ist und wenn zweitens die politische Lösung versagt. Die Frage nach der individuellen Verantwortung unter nicht-idealen institutionellen Bedingungen ist gerade diejenige, die uns deshalb interessieren muss.
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2.2 Grenzen der Reichweite der Moral Moral wird häufig als ein mehr oder wenig systematisch konzipiertes Set von Werten und Normen aufgefasst, die das zwischenmenschliche Zusammenleben regeln: Sie gibt uns Anweisungen, wie wir miteinander umzugehen haben und was wir legitimerweise voneinander verlangen können. Nimmt man diese funktionale Bestimmung moralischer Normen beim Wort, ist nicht ohne Weiteres ersichtlich, warum moralische Orientierung auch mit Blick auf Personen, mit denen wir nicht direkt interagieren, am Platze sein sollte. Wenn Moral als Regulativ des zwischenmenschlichen Umgangs zu verstehen ist, beschränkt sie sich dann nicht automatisch auf die, mit denen man jeweils Umgang hat? Menschen, die unter chronischer Armut leiden, gehören häufig nicht dazu. Die Vorstellung, ein Bewohner der Stadt Zürich schulde einem Kind, das in einem Slum von Nairobi lebt und sterben wird, wenn es nicht sofort Medikamente erhält, ebenso Hilfe, wie einem Kind, das vor seinen Augen im Zürichsee zu ertrinken droht, scheint den Zuständigkeitsbereich der Moral gleichsam über Gebühr auszudehnen. Die zweite Art der Skepsis hinsichtlich Pflichten den Opfern der Weltarmut gegenüber beruht dementsprechend auf der These, Moral sei essentiell eine Sache des Handelns im Nahbereich, weshalb Pflichten ausschliesslich gegenüber Personen im Nahbereich bestünden, die Moral also in ihrer Reichweite beschränkt sei. Debatten um die Reichweite der Moral beschränken sich nicht auf Untergruppen innerhalb der menschlichen Gemeinschaft. Strittig ist etwa auch, ob Tiere, Pflanzen und sogar Teile der unbelebten Natur über einen moralischen Status verfügen und deshalb unsere moralische Aufmerksamkeit verdienen. Eine andere solche Grenze, die in letzter Zeit prominent diskutiert wurde, ist die temporale Einschränkung der Reichweite der Moral, die unsere Pflichten auf die Mitglieder der jetzt lebenden Generationen beschränkt und Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen etwa im Sinne der Idee einer intergenerationellen Gerechtigkeit ablehnt.33 Im Folgenden beschränke ich mich aber auf die Frage nach der Reichweite der Moral hinsichtlich anderer heute lebender Menschen34, d.h. auf die Frage, ob wir allen oder eben nur bestimmten Menschen gegenüber moralische Pflichten haben.
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Wenn behauptet wird, die Reichweite der Moral sei auf den Nahbereich begrenzt, so wird sofort ersichtlich, dass das Kriterium für die Begrenzung dieser Reichweite nicht räumliche Distanz per se sein kann. Denn natürlich bestehen unsere Pflichten etwa gegenüber nahen Familienmitgliedern auch dann noch, wenn diese in die Ferien reisen oder einen Auslandaufenthalt antreten. Die These, dass nicht räumliche, sondern soziale Distanz eine Begrenzung des moralisch Geforderten leisten kann, und soziale Nähe oder Verbundenheit (in einem weiter zu bestimmenden Sinn) für die Begründung von Pflichten relevant sind, ist plausibler. Wenn Singer die Flüchtlingsproblematik als „eine ethische Frage bezüglich der Grenzen unserer moralischen Gemeinschaft“35 bezeichnet, so hat er dabei genau diese These im Blick: Der Ansicht vieler zufolge schulden wir Fremden nichts oder weitaus weniger und müssen ihnen infolgedessen auch nicht als so genannten Wirtschaftsflüchtlingen eine Chance zugestehen, für ihre Familien bei uns ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die staatlichen Grenzen werden somit moralrelevant, und bilden die Peripherie des Kreises jener, die sich innerhalb des moralischen Horizonts befinden, denen wir moralisch verpflichtet sind. Theorien, welche den natürlichen Ort der Moral in soziokulturellen Zusammenhängen sehen, werden häufig als „kommunitaristisch» bezeichnet. Der gemeinsame Nenner solcher Ansätze lässt sich am besten als Kritik an der liberalen Fokussierung auf das Individuum bestimmen.36 Letztere, so heisst es, führe dazu, dass die sozietären und damit partikularen Quellen moralischen Denkens und Handelns unterschätzt würden. Im Zentrum dieses Abschnittes soll die Frage stehen, ob sich die kommunitaristische Zurückweisung von Pflichten auf Distanz begründen und rechtfertigen lässt. Moral ist den Kommunitaristen zufolge – wie eingangs beschrieben – ein soziokulturelles Phänomen. Sprache, Kultur und Moral werden als eng miteinander verwoben vorgestellt, weshalb sich Moral ohne Rückbindung an einen spezifischen soziokulturellen Kontext offenbar nicht denken lässt. Mit Pflichten auf Distanz steht die kommunitaristische These also insofern in Konflikt, als bestritten wird, dass die Welt oder die Menschheit als ganze einen
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solchen „soziokulturellen Ort“ bildeten und einen eigenen „narrativen Kontext“ abgäben, innerhalb dessen sich eine globale Moral herausbilden könnte. Unter einem narrativen Kontext verstehen Kommunitaristen eine Art „Landkarte“ von Werten und Normen, die sich in Bräuchen, Anstandsregeln, sozialen Kodizes, aber auch Riten und Sagen manifestieren, und vor deren Hintergrund erst eine umfassende Selbst- und Weltdeutung möglich werde. Erst wenn klar sei, worauf es im Leben sozusagen ankomme, liessen sich auch Regeln des moralisch Richtigen und Gebotenen angeben. Michael Walzer formuliert dies folgendermassen: „[D]ie Mitglieder einer konkreten politischen Gemeinschaft [werden, BB.] aller Wahrscheinlichkeit nach sehr viel weniger von der Frage bewegt: Wofür werden vernunftbegabte Individuen unter abstrakten allgemeingültigen Bedingungen dieser oder jener Art votieren? als von der Frage: Was würden Individuen wie wir wollen, Individuen, die in etwa der gleichen Situation sind wie wir, die einer gemeinsamen Kultur angehören und gewillt sind, dieser Kultur auch weiterhin gemeinsam anzugehören? Diese Frage verwandelt sich sehr schnell in die Überlegung: Welche Entscheidungen haben wir im Lauf unseres gemeinsamen Lebens bereits getroffen? Welches gemeinsame Verständnis teilen wir (realiter) miteinander?“37
Der Gemeinschaft kommt hier sowohl bezüglich der moralischen Orientierung als auch hinsichtlich der personalen Identität der Individuen eine immense Bedeutung zu.38 Wenn Menschen beispielsweise gefragt werden, wer sie sind, nennen sie meist ihre Nation oder den Ort, an dem sie wohnen; sie identifizieren sich also über ihre Herkunft.39 Menschen sind deshalb, um mit Michael Sandel zu sprechen, als „embedded selves“40 vorzustellen, als Eingebettete in identitätsstiftende Gemeinschaften, von deren Praktiken sie nicht zu abstrahieren vermögen. Gerade weil die Frage nach dem, was wir uns in einem moralischen Sinn schulden, von umfassenden Ideen des guten Lebens abhänge, die sich nur innerhalb identitätsstiftender Gruppen herausbildeten, halten Kommunitaristen die Idee, wir seien einander auch ausserhalb dieser Gruppen verpflichtet, für erläuterungsbedürftig und wenig überzeugend. Nun mag es durchaus zutreffen, dass Moral in der Art und Weise entsteht, wie eben beschrieben. Doch folgt aus der Genese, respektive Epistemologie moralischer Normen noch nichts hinsichtlich
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deren Geltung. Es ist zumindest durchaus möglich, Moralprinzipien innerhalb eines bestimmten Kontextes zu erlernen, diese jedoch auch als verbindlich ausserhalb dieses Kontextes anzuerkennen. Denn die Frage nach der Quelle der Moral und der Vermittlung derselben ist nicht dieselbe wie jene nach der Reichweite der Moral. Der Umstand, dass sich jemand ausserhalb der Gemeinschaft befindet, innerhalb derer sich die relevanten Handlungsnormen herausgebildet haben, bedeutet zumindest nicht automatisch, dass sich diese Person auch notwendig ausserhalb der Gemeinschaft befindet, innerhalb derer diese Normen gelten. So wenden wir beispielsweise das Gebot der Nichtschädigung auch auf zahlreiche höhere Säugetiere an, ohne dass diese zur Gruppe gehörten, die an der Entwicklung dieses Gebots beteiligt gewesen wären. Anders gesagt ist Nicht-Mitgliedschaft für sich genommen nicht gleichzusetzen mit moralischer Irrelevanz. Dem können Kommunitaristen allerdings problemlos zustimmen: Die Narrationen, aus denen sich Moral herausbildet, beinhalten umfangreiche Vorstellungen darüber, wie mit der Welt und ebenso mit Tieren und Pflanzen umzugehen ist. Ein sorgfältiger Umgang mit Tieren lässt sich also aus kommunitaristischer Perspektive durchaus verteidigen, ohne dass zugleich behauptet werden müsste, Tiere seien an sich vollwertige Mitglieder der Gemeinschaft der Moral. Genau dies – die Frage, wer als vollwertiges Mitglied zur moralischen Gemeinschaft dazugehört und wer nicht – steht jedoch auf dem Spiel, wenn wir wissen wollen, ob wir den Opfern der Weltarmut etwas schulden.41 Denn jene, die für Pflichten gegenüber Menschen in Not votieren, meinen damit nicht, dass wir diese nicht leiden lassen sollten, so wie wir auch Tiere nicht leiden lassen sollten. Ihre Idee ist vielmehr, dass alle Menschen als Mitglieder der moralischen Gemeinschaft Anspruch darauf haben, in einer bestimmten Art und Weise behandelt zu werden und Teil der wechselseitigen Beziehung der Moral zu sein. Für Kommunitaristen ist jedoch eine Trennung zwischen dem Ursprung der Moral und deren Geltungsbereich widersinnig. Die These der Moral als soziokulturellem Phänomen erschöpft sich ihnen zufolge nicht in der Idee, dass wir Moral immer in einer Gemeinschaft erlernen, sondern meint darüber hinaus, dass auch
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die normative Kraft der Moral geteiltem, gesellschaftlichem Leben entstammt und auf diesen Ort beschränkt ist. Dies hat mit der vorgängig beschriebenen engen Verknüpfung zwischen dem Guten und dem Richtigen zu tun: Erst aus der geteilten Vorstellung dessen, was gut ist, erwachsen Rechte und Pflichten. Teilen wir die Vorstellung hinsichtlich des Guten nicht, verliert die Moral ihren Anwendungsbereich. Und genau dies, so die kommunitaristische These, ist auf globaler Ebene der Fall: Es gibt keine globalen Narrationen, die umfassend genug wären, geteilte Vorstellungen des Guten auszubilden, weshalb es auch keine Prinzipien der Moral gebe, die global gelten. Damit sind wir jedoch bei einer neuen These angelangt: der These nämlich, dass es keine universellen Werte gibt, die kultur- und gesellschaftsübergreifend geteilt werden. Kommunitaristische Überlegungen gehen in der Tat oft einher mit kulturrelativistischen Überzeugungen, welche die Existenz von transkulturell anerkannten Werten und Normen bestreiten.42 Doch diejenigen Werte und Normen, die zur Begründung von Pflichten gegenüber Menschen in so gravierender Not, wie sie die Weltarmut darstellt, auf dem Spiel stehen, sind sehr wohl interkulturell akzeptiert. Anders gesagt, existieren durchaus globale Narrationen, die als grundlegende geteilte Vorstellungen davon, was menschliches Leben ausmacht und ermöglicht, angesehen werden können. Diese global geteilten Narrationen finden etwa ihren Niederschlag im Begriff menschlicher Grundbedürfnisse oder im Menschenrechtsdenken, dessen inhärente Moral sich ihrem Geltungsanspruch nach auf alle Menschen bezieht. Wenn Menschenrechte als unfruchtbare Postulate zurückgewiesen werden, weil universale Rechte unter dem Verdacht stehen, in der liberalen, westlichen Epistemologie zu wurzeln, dann mag diese Kritik möglicherweise für bestimmte kulturelle Rechte zutreffen. Der Vorwurf trifft jedoch mit Sicherheit nicht Menschenrechte, die basale Bedürfnisse schützen, die alle Menschen qua ihres Menschseins haben: Ein gewisses Minimum an Nahrung, an sauberem Wasser, an medizinischer Grundversorgung und an Bildung ist für alle Menschen weltweit notwendig, um ein Leben zu führen, das wir mit Fug und Recht als ein menschliches Dasein bezeichnen können. Zwar können Personen
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ganz unterschiedliche Vorstellungen davon haben, wie Leben im Detail glückt und welche Lebensentwürfe sinnvoll und ertragreich sind. Hinsichtlich der Frage jedoch, was wir als Bedingungen zur erfolgreichen Umsetzung dieser umfassenderen Entwürfe benötigen, können wir uns durchaus erfolgreich auf Minimalstandards verständigen. Wir teilen also zumindest eine Art basale Narration – nämlich jene des geteilten Menschseins, das Wissen um unsere Abhängigkeit von vitalen Gütern wie Nahrung, Wasser, Wärme, Schutz vor Naturgewalten und letztlich von einander. Der Relativismus ist also hinsichtlich minimaler Standards keine Gefahr, weil wir uns auf solche problemlos einigen können. Damit ist allerdings noch nicht gezeigt, dass wir Menschen ausserhalb unserer Gemeinschaft etwas schulden. Denn zur Begründung von entsprechenden Pflichten reicht es nicht aus, die Ansichten hinsichtlich dessen, was wir zum Überleben brauchen, zu teilen. Dass Gemeinschaften ihr Zusammenleben nach Prinzipien sozialer Gerechtigkeit ordnen, hat Kommunitaristen zufolge nicht allein und nicht vordergründig damit zu tun, dass wir uns darauf einigen können, was wir zum Überleben brauchen, sondern vielmehr damit, dass wir uns alle als zu dieser Gemeinschaft zugehörig erachten, einer Gemeinschaft, die wir wertschätzen, was sich beispielsweise in der Pflege einer gemeinsamen Geschichte, Sprache, Kultur und dergleichen äussert. Die Basis von Moral ist kommunitaristischem Denken gemäss letztlich geteiltes Leben, und genau dies fehle auf globaler Ebene. Allerdings besteht die heutige Welt längst nicht mehr aus hermetisch abgeschlossenen, autarken Gemeinschaften. Die Globalisierung hat zu einer weltweiten ökonomischen, kulturellen, sozialen und medialen Vernetzung geführt, die immer weiter an Bedeutung gewinnt und etwa ihren Niederschlag in der Rede vom „globalen Dorf“ findet. Die meisten Kommunitaristen gestehen dies mittlerweile auch zu und wehren sich nicht gegen die These, dass wir gewissen Minimalforderungen auch auf Distanz zu genügen haben. Moral wirkt demnach, wie sich etwa Michael Walzer ausdrückt, in Sphären 43, denen je unterschiedliche Moralprinzipien entsprechen. Es ist also zu unterscheiden zwischen zwei Bereichen der Moral: Einem Bereich, innerhalb dessen Werte und Normen
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innerkulturell gerechtfertigt werden und der vorrangig Fragen nach dem guten Leben und nach dem sinnvollen Zusammenleben stellt, die es, wie Rainer Forst schreibt, „einem Selbst ermöglichen, sein eigenes Leben in einer Weise zu leben, die es bejahen kann […]“44 – und einem zweiten Bereich, der Normen beinhaltet, die zwischen Personen, und das heisst, für alle gleich gelten und allgemein gerechtfertigt werden müssen. Während innerkulturelle Werte „sich letztlich dem Kriterium stellen müssen, ob sich eine Person mit ihnen identifizieren kann, ist das Kriterium moralischer Geltung die allgemeine Zustimmungsfähigkeit,“45 so Forst. Wir können also festhalten, dass Kommunitaristen minimalen Pflichten auf Distanz durchaus zustimmen können. Ihre Befürchtung geht jedoch dahin, dass es bei diesen minimalen Pflichten nicht bleibt, sondern eine globale Verteilungsgerechtigkeit angestrebt wird, die letztlich jede Verteilung unter dem Blickwinkel der allgemeinen Zustimmung und der Unparteilichkeit betrachtet und somit eine parteiliche Verteilung untergrabe. Letztere ist ihnen zufolge jedoch nicht nur „natürlich“, sondern auch gefordert, will man das Wohl der Gemeinschaften und Kulturen, wie sie die Kommunitaristen beschreiben, nicht untergraben. Kommunitaristen – und mit ihnen politische Philosophen, die als Nationalisten bezeichnet worden sind46 – befürchten aber gerade, dass die genannten Gemeinschaften durch die Behauptung einer globalen Reichweite der Moral zerstört werden. Denn diese Gemeinschaften zeichneten sich wesentlich dadurch aus, dass sie Werte und Normen postulieren, die sich in parteilichem, patriotischem Handeln der Gruppenmitglieder manifestieren. Gemeinschaften sind somit unter anderem deshalb für ihre Mitglieder bedeutsam, weil sie in ihnen einen Sonderstatus geniessen; weil die Mitglieder füreinander Dinge tun, die sie für andere nicht tun.47 Doch stehen parteiliche Erfordernisse überhaupt in Konflikt mit der Behauptung unparteilicher Erfordernisse auf Distanz? Da die Ressourcen – letztlich finanzielle Mittel, die für das eine oder andere Projekt eingesetzt werden können – knapp sind, scheint ein Konflikt zwischen parteilichen und unparteilichen Erfordernissen geradezu heraufbeschworen zu werden. Doch ich meine, dass dem
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nicht so sein muss. Wird von uns verlangt, dass wir dafür sorgen, dass niemand mehr in Zuständen extremer Armut leben muss, so sind wir darüber hinaus frei, was wir für andere Menschen tun und innerhalb von entsprechenden Gemeinschaften voneinander verlangen wollen. Pflichten gegenüber den Opfern der Weltarmut zu behaupten, impliziert nicht die Forderung nach globaler Gleichverteilung. Auch dafür liesse sich vermutlich argumentieren, aber an dieser Stelle geht es nur um die Frage, wem gegenüber wir überhaupt positive Pflichten haben. Wie viel wir anderen Menschen letztlich schulden, und ob infolgedessen für Parteilichkeit noch Raum sein wird, hängt letztlich davon ab, was eine universale Moral von uns inhaltlich fordert: die Befriedigung der Grundbedürfnisse oder die Sicherung der Menschenrechte aller; die Einhaltung umfassender Gerechtigkeitsstandards wie etwa weltweite Chancengleichheit; eine weit reichende Umverteilung von Ressourcen zugunsten der Ärmeren. Je umfangreicher die Pflichten ausfallen, desto grösser wird die Chance eines Konflikts zwischen den Pflichten im Nahbereich und jenen auf Distanz – ein solcher Konflikt ist jedoch weder zwingend, noch ist von Vornherein entschieden, wie ein entsprechender Konflikt zu lösen wäre. Ob die Angst der Kommunitaristen begründet ist, wertvolle Gemeinschaften erodierten unter dem Druck globaler Erfordernisse, wird sich – wie bereits bei der Sorge hinsichtlich eines drohenden Moralismus – erst dann zeigen, wenn wir wissen, welche Pflichten auf Distanz im Rahmen der Weltarmut bestehen. Ich komme also auch auf diese Frage am Ende dieses Buches zurück.
2.3 Grenzen des Gegenstandsbereichs der Moral Der dritte Einwand gegen Pflichten den Opfern der Weltarmut gegenüber betrifft die Inhalte oder den Gegenstandsbereich der Moral: Dieser umfasse grundsätzlich weitaus weniger als gemeinhin suggeriert werde und erschöpfe sich – kurz gesagt – in der Wahrung der negativen Freiheitsrechte aller. Dieser Einwand wird häufig von Autoren formuliert, die dem libertären Lager der Moralund Politikphilosophie zugeordnet werden, d.h. der Idee anhängen, dass Moral es wesentlich mit der wechselseitigen Begrenzung von
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Freiheitsräumen zum Zweck der Freiheitssicherung zu tun hat. Im Folgenden wird es mir jedoch wiederum nicht darum gehen, die Ansichten des – durchaus heterogenen – Libertarianismus darzustellen, sondern den Einwand zu explizieren, dass es Hilfspflichten gegenüber den Armen auf Distanz nicht geben kann, weil es sich dabei um positive Pflichten handle, die in besonderer und nicht legitimer Weise in die Freiheit von Personen eingreifen würden. Welche Überlegung verbirgt sich hinter diesem Einwand? Während das zentrale Anliegen der Kommunitaristen der Erhaltung und Stärkung von Gemeinschaften gilt, die für uns Menschen einen sinnvollen und dem guten Leben zuträglichen Kontext abgeben, halten Libertäre die Erhaltung und Sicherung menschlicher Freiheit für das zentrale moralische Gut. Moral wie Politik haben der libertären Ansicht zufolge hinsichtlich verschiedener Lebensentwürfe und Zielsetzungen neutral zu bleiben: Die Leben des Profifussballers, des Müssiggängers und jenes von Mutter Teresa sind für den Libertären alle gleichermassen akzeptabel, solange die Befriedigung der je eigenen Präferenzen nicht die negative Freiheit anderer Personen verletzt.48 Pflichten zur gegenseitigen Hilfe schränken jedoch individuelle Freiheiten offenkundig ein, weshalb Hilfe den Libertären zufolge nicht Gegenstand einer Pflicht sein kann. Zugegebenermassen schränken auch Unterlassungspflichten ein, doch in der Regel tun sie dies in weitaus geringerem Mass als Hilfsgebote. Dabei kann, wer die Existenz von Hilfspflichten bestreitet, durchaus der Meinung sein, es sei gut und nett, wenn sich Personen angesichts der grossen Not im Sinne eines freiwilligen Engagements kulant und spendabel zeigten. Bestritten wird lediglich, dass es Pflicht ist, anderen Menschen zu helfen, denn das oberste Gebot lautet, dass die individuellen Freiheits- und Eigentumsrechte nicht zu verletzen sind. Allerdings folgt aus dieser Position nicht, dass wir nie und unter keinen Umständen Unterstützungspflichten haben. Dieselben Personen, die eine libertäre Position vertreten, zeigten sich beispielsweise vermutlich empört, wenn Freunde sich gegenseitig nicht aushelfen. Auch sie scheinen also der Meinung zu sein, dass sich das, was moralisch gefordert ist, nicht immer und nicht in
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jedem Fall auf Unterlassungspflichten beschränken lässt, sondern auch Unterstützungspflichten umfasst. Solche positiven Pflichten bestehen jedoch nur einer sehr beschränkten Anzahl von Leuten gegenüber, während uns das Wohl der breiten Mehrheit moralisch schlicht nichts anzugehen scheint (obschon natürlich, wie gesagt, prima facie niemand geschädigt werden darf).49 Bei den genannten Erfordernissen handelt es sich nämlich nicht um generelle, sondern um spezielle positive Pflichten, die nicht allen Menschen, sondern nur einer bestimmten Gruppe von Personen aufgrund einer sozialen Rolle oder aufgrund einer Beziehung geschuldet sind. Allerdings betonen Libertäre in Abgrenzung von den Kommunitaristen, dass diese Beziehungen freiwillig zustande gekommen sein müssen: Wer auf mögliche Vorteile einer Beziehung oder einer Freundschaft verzichten will zugunsten grösserer individueller Freiheit, hat das Recht, genau dies zu tun, denn niemand darf uns Beziehungen und damit einhergehende Verpflichtungen aufzwingen. Haben wir uns jedoch auf Beziehungen und Abmachungen erst einmal eingelassen, gehen damit Erfordernisse einher, die zweierlei Art sein können: Erstens kann es sich dabei um beziehungsimmanente Regeln handeln, die auf Überlegungen des guten Lebens bzw. auf prudentiellen Werten beruhen. So ist es beispielsweise für eine Beziehung schlicht nicht förderlich, wenn wir uns nicht auch hilfsbereit zeigen. Allerdings handelt es sich dabei um Klugheitsregeln und nicht um moralische Gebote.50 Zweitens gehen spezielle Pflichten zuweilen mit Nichtschädigungsgeboten einher: Wer sich auf Übereinkünfte einlässt, hat sich in vielen Fällen deshalb an diese zu halten, weil sein Gegenüber andernfalls geschädigt würde: Kündige ich etwa meine Stelle, weil mir ein anderer Job angeboten und zugesagt worden ist, und weigert sich der vermeintlich neue Arbeitgeber kurz darauf, sich an die Abmachung zu halten, werde ich geschädigt, weil ich meine alte Stelle bereits verloren habe. Für diesen Schaden muss ich entsprechend kompensiert werden.51 Auch jene, die der Meinung sind, Personen schuldeten einander in generellen Fällen keine Hilfe, anerkennen also in einem sehr beschränkten Ausmass Unterstützungsgebote. Diese helfen uns jedoch für die hier verhandelte Frage, ob Opfern der Weltarmut zu helfen sei, nicht weiter. Denn die in Frage stehenden Pflichten zeichnen sich ja gerade dadurch aus, dass sie auf Distanz bestehen
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und die potentiell Verpflichteten zu den Notleidenden keinerlei Beziehung haben. Wie bereits gesagt, ist mit dieser Position durchaus vereinbar, dass es gut und lobenswert ist, sich im Hinblick auf das Schicksal von Menschen besorgt und fürsorglich zu zeigen. Libertäre betonen sogar häufig, wir seien aufgrund unserer Fähigkeit zu Mitgefühl natürlicherweise altruistisch veranlagt. Dennoch könne keineswegs von einer Pflicht zu Altruismus die Rede sein. Allerdings mag es auch für Libertäre durchaus gute Gründe geben, Hilfe anzubieten. Narveson empfiehlt denn auch, im Einklang mit der „Silbernen Regel“ zu handeln. Im Gegensatz zur Goldenen Regel, die verlangt, anderen zu tun, was man selbst möchte, dass einem getan wird, verlangt die Silberne Regel weitaus weniger: nämlich die Wahrscheinlichkeit abzuschätzen, mit der man einerseits selber in Situationen geraten wird, in denen man auf die Hilfe anderer angewiesen sein wird, und die Wahrscheinlichkeit mit der man andererseits in der Lage sein wird, selber Hilfe zu leisten.52 Zusätzlich zur Überlegung, worauf wir allenfalls einmal angewiesen sein könnten, empfiehlt uns Narveson also so etwas wie eine Kostennutzenanalyse: Wie gross ist die Chance, dass sich die getätigte Investition irgendwann auszahlt? Da unser Hilfsbudget nun einmal beschränkt ist, ist es ihm zufolge nichts als zweckrational, vorrangig jenen Personen zu helfen, von denen zu einem späteren Zeitpunkt zu erwarten ist, dass sie einem ebenso helfen werden. Es liegt deshalb auf der Hand, sich nicht zuerst und in erster Linie jenen zuzuwenden, die stärker hilfsbedürftig sind als man selber, sondern Personen, die ungefähr denselben Grad sozialer Sicherheit geniessen und die überdies zur eigenen Gesellschaft gehören. Denn Personen in grosser geographischer Distanz werden kaum je in einer „strikt reziproken Beziehung“53 zu einem stehen. Somit gibt es zwar keine Pflicht, jedoch guten Grund, den eigenen Freunden und – via Sozialversicherungen – Landesgenossen zu helfen, während es keinen Grund zu geben scheint, Opfer der Weltarmut zu unterstützen. Wenn Henry Shue behauptet, gegenseitige Sorge und Hilfe seien eine Art „moralische Versicherung“54, würde Narveson dem vermutlich entgegen halten, dies sei nur dann der Fall, wenn die Versicherungspartner überlegt und risikobewusst ausgewählt werden. Anders als bei den Kommunitaristen, wo die Präferenz der
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Nahestehenden durch die Idee der geteilten Praxis und der geteilten Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft zustande kommt, basiert die libertäre Präferenz für Hilfe im Nahbereich somit ganz allein auf einer rationalen Kostennutzenabwägung: Wie erlangt man ein Maximum an Freiheit bei minimalen Kosten? Diese Erwägung wird sicher nicht empfehlen, den Opfern der Weltarmut als erstes zu helfen. Der libertäre Freiheitsbegriff, der einer Verpflichtung zur Hilfe entgegengestellt wird, ist jedoch vielfach kritisiert worden. Im Folgenden diskutiere ich zwei Einwände, von denen sich der erste gegen den zugrunde gelegten Freiheitsbegriff selbst, der zweite gegen die absolute Geltung des Werts der Freiheit richtet. Der Freiheitsbegriff, wie er im pauschalen Einwand gegen Hilfspflichten zugrunde gelegt wird, wurde als defizitär kritisiert: Ein Freiheitsbegriff, der sich darin erschöpfe, dass wir einander in Ruhe lassen sollen, lasse ausser Acht, dass wir als Menschen immer auch aufeinander angewiesen seien.55 Anders gesagt könnten wir so frei, wie der Libertarianismus dies suggeriere, gar nie sein, es sei denn, wir sind so vermögend, dass wir uns Unterstützung erkaufen können, wie dies in den Industrieländern oft auch der Fall ist: Spitalpflege, Stützunterricht, Arbeitslosengeld, sozialer Wohnungsbau – gegen Notlagen sind die Bessergestellten in aller Regel abgesichert. Ein Recht auf Leben haben jedoch alle, ganz unabhängig davon, wie vermögend sie sind. Dieses Recht zu anerkennen, jedoch zu behaupten, dass es ausschliesslich verlange, andere nicht an Leib und Leben zu bedrohen, wurde gerade mit Blick auf die Opfer der Weltarmut als unplausibel kritisiert: Das Recht auf Leben büsst offensichtlich seine normative Kraft ein, wenn nicht zugleich ein Recht auf die Erfüllung minimaler Bedingungen, unter denen Leben und die Inanspruchnahme der Freiheitsrechte überhaupt erst möglich sind, anerkannt wird. Denn wir benötigen, um überhaupt leben zu können, gewisse materielle Güter.56 Anders gesagt, werden Personen nicht nur dann gehindert, ihre je eigene Konzeption eines guten Lebens wählen und umsetzen zu können, wenn andere sie davon abhalten, sondern auch dann, wenn sie in einem Zustand materieller Entbehrung leben, der sie ihrer Handlungsfähigkeit beraubt. Der Schutz der Handlungsfähigkeit verlange deshalb nicht
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nur Schutz der Autonomie und Freiheit einer Person, sondern ebenso eine minimale materielle Grundausstattung.57 Obwohl diese Kritik an der libertären Position intuitiv einleuchten mag und es in der Tat seltsam scheint, menschliche Freiheit zu predigen, ohne dafür zu sorgen, dass Menschen ihre Freiheitsrechte auch tatsächlich wahrnehmen können, scheinen mir aus der Behauptung negativer Freiheitsrechte keine positiven Anspruchsrechte zu folgen. Meines Erachtens bedürfen Anspruchsrechte immer einer eigenen Begründung, die nicht bereits geleistet ist, indem die Erfüllung von Anspruchsrechten als notwendige Bedingung für die Wahrnehmung von Freiheitsrechten ausgewiesen wird. Statt eine solche Begründung hier zu versuchen, wende ich mich deshalb dem zweiten Kritikpunkt zu. Der zweite Einwand richtet sich gegen die absolute Geltung der Freiheitsrechte.58 Da der libertäre Staat beispielsweise Nozick zufolge die Freiheit seiner Bürgerinnen und Bürger legitimerweise nicht mehr einschränken darf als nötig, um den Schutz derer Freiheitsrechte garantieren zu können,59 scheint jede erzwungene Form der Besteuerung, die eine Umverteilung zugunsten der ärmeren Bevölkerung zum Ziel hat, illegitim, denn sie verletzt die Rechte der Bürgerinnen und Bürger. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Umverteilung innerhalb eines Staates oder transnational vorgenommen wird, noch zählt, wie gross die Armut, die mit diesen Geldern behoben wird, ausfällt.60 Gegen diese These ist argumentiert worden, dass selbst wenn eine Umverteilung zugunsten der Armen einer Einschränkung der Freiheit der Reichen und einer Beschneidung von deren Eigentumsrechten gleichkommt, entsprechender Zwang nicht immer illegitim sei, sondern unter bestimmten Umständen gerechtfertigt. Das bedeutet, dass die Freiheitsrechte, die Libertäre gegen die Behauptung von generellen Hilfspflichten geltend machen, keineswegs absolut gelten. Dieses Argument erläutert Judith Jarvis Thomson an folgendem Beispiel: Ein Kind wird sterben, wenn es nicht umgehend ein bestimmtes Medikament erhält. Die einzige Dosis dieses Medikaments, die innerhalb ausreichend kurzer Frist erhältlich ist, liegt in einer verschlossenen Schachtel im Haus einer Privatperson (nennen wir ihn Meier). Meier hält sich ausserhalb der Stadt auf und kann
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deshalb nicht um Erlaubnis gefragt werden, ob wir in sein Haus eindringen und das Medikament entwenden dürfen.61 Entwenden wir in diesem Fall das Medikament, um das Leben des Kindes zu retten, verletzen wir, wie Thomson schreibt, gleich mehrere von Meiers Freiheitsrechten: Sein Recht, dass sein Eigentum nicht beschädigt wird (sein Haus und die Schachtel), sowie sein Recht, dass sein Besitz (das Medikament) nicht gestohlen und an eine andere Person weitergegeben wird. Dennoch glaubt Thomson, dass wir berechtigt sind, das Leben des Kindes zu retten und in Meiers Haus einzubrechen: „I take it that a child’s life being at stake, we do not act wrongly if we go ahead; that is, though we infringe a number of your rights, we violate none of them.“62 Thomson meint also, dass es durchaus Rechte gebe, gegen die verstossen werden darf (im Sinne eines „infringements“, eines legitimen Verstosses gegen ein Recht), ohne dass die Rechte unzulässig verletzt würden (im Sinne einer „violation“, einer illegitimen Verletzung eines Rechts).63 Mit dieser Unterscheidung geht Thomsons These einher, dass nicht alle Rechte absolut gelten: Im obigen Fall etwa verstossen wir gegen Meiers Eigentumsrechte, ohne dass wir seine Rechte verletzen, und zwar deshalb nicht, weil Meiers Rechte übertrumpft werden durch die Tatsache, dass ein Kind sterben wird, wenn wir nicht bei Meier einbrechen. Das bedeutet wiederum nicht, dass wir auch berechtigt wären, Meier umzubringen, um an das Medikament zu gelangen, denn das Recht, nicht umgebracht zu werden, ist nach Thomson sehr viel stärker als Eigentumsrechte.64 Zwar räumt auch Nozick ein, es sei eine offene Frage, ob Rechte, die er als „side constraints“ für Handlungen versteht,65 absolut gelten oder ob sie verletzt werden dürfen, um „katastrophale moralische Horrorfälle“ zu vermeiden.66 Nozick gibt aber auf diese Frage keine abschliessende Antwort, und es bleibt auch unklar, was als „moralischer Horrorfall“ zu gelten hätte. Ob man gegen ein Recht verstossen darf oder nicht – wie „stark“ es also ist –, hängt meines Erachtens von mindestens zwei Faktoren ab: Zum einen vom Wert und der Bedeutung des Gegenstands des Rechts für den Rechtsinhaber, zum anderen vom Gut, das auf dem Spiel steht und um dessentwillen der Verstoss erfolgt. Stünde etwa im fraglichen Beispiel nicht das Leben eines Kindes, sondern lediglich das Aushalten von mässigem Kopfweh während
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einer Stunde auf dem Spiel, wäre niemand berechtigt, Meiers Eigentum zu behändigen. Ebenso wenig wären wir berechtigt, das Medikament ohne die Einwilligung von Meier dem Kind zu verabreichen, wenn wir wüssten, dass es sich bei dieser Pille um ein Produkt handelt, an dem Meier jahrelang getüftelt hat und von dem seine wissenschaftliche Karriere abhängt, von dem es jedoch nur dieses eine Exemplar gibt. Im Hinblick auf die Weltarmut greifen diese beiden Einschränkungen jedoch nicht: Auf der einen Seite ist die Not, um die es geht, extrem; auf der anderen Seite scheinen die meisten Bewohnerinnen und Bewohner der Industrieländer auf einen Teil ihres Vermögens oder Einkommens verzichten zu können, ohne dass für sie etwas sehr Gewichtiges auf dem Spiel stünde. Es lässt sich also mit Thomson folgern, dass wir durchaus darin legitimiert sind, durch die Einführung einer entsprechenden Steuer auch jene zur Entrichtung ihres Beitrags zur Linderung der Weltarmut zu zwingen, die freiwillig dazu nicht bereit sind. Allerdings könnten sich jene, die nichts in die Bekämpfung extremer Armut investieren wollen, gegen die Zwangsabgabe wehren, indem sie argumentierten, dass jene, die sich für die Notleidenden engagieren wollen, durchaus frei sind, dies zu tun – dass sie aber ihr Ziel auch im Alleingang erreichen könnten und deshalb nicht legitimiert seien, andere zum Mitmachen zu zwingen. Denn niemand darf Unbeteiligte für die Erfüllung seiner persönlichen Überzeugungen missbrauchen – wie hehr auch immer diese sein mögen. Um zu veranschaulichen, was ich meine, betrachten wir noch einmal das vorherige Beispiel: Wollen wir das Leben des Kindes retten, und können wir das Medikament auch von einer dritten Person beziehen, die uns dieses freiwillig überlässt, so ist es uns nicht erlaubt, bei Meier einzubrechen. Denn solange wir anderen ohne Verstoss gegen Rechte Dritter helfen können, müssen wir genau diesen Weg wählen. Allerdings führt eine Befolgung dieses Prinzips zu einer unfairen Kostenverteilung, weil sich die Freiwilligen die Last des Aufwands, die Weltarmut zu bekämpfen, teilen müssten, derweil jene, die sich weigern mitzumachen, nichts aufgebürdet erhalten. Doch eine Diskussion über eine faire Kostenaufteilung setzt bereits voraus, was an dieser Stelle erst zu zeigen
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wäre: nämlich dass wir eine Pflicht haben, uns der Menschen, die im Elend leben, anzunehmen.67 Zwar ist fraglich, ob sich die Weltarmut, wie von den Libertären vorgeschlagen, allein durch freiwilliges Engagement beseitigen lässt. Denn wenn Hilfe, wie die Libertären meinen, freiwillig ist, so sind wir auch frei, zu bestimmen, wem wir helfen wollen. Angesichts der Tatsache, dass unser aller Hilfsbudget beschränkt ist, scheint es psychologisch nur verständlich, wenn die meisten, die Gutes tun wollen, Hilfsprojekte wählen, deren Erfolg auch ihnen zugute kommt, also beispielsweise das lokale Konzerthaus unterstützen, statt für die Opfer einer Hungersnot spenden. Narveson meint, zumindest für die „connoisseurs“ unter uns sei diese Entscheidung einfach zu fällen: „If we were all connoisseurs, it would be easy: if you know and love great music, you will find it easy to believe that a symphony by Beethoven or Mahler is worth more than prolonging the lives of a few hundred starvelings for another few miserable years.“68
Die Realität scheint Narveson recht zu geben: Wir sind gerade im Hinblick auf die Opfer chronischer, schwerer Armut wenig spendabel, und es bleibt diesen Menschen keine andere Hoffnung, als dass wir uns irgendwann mehr für sie und ihre Situation erwärmen können und neben lokalen Tierschutzvereinen, Konzerthäusern oder Hilfsprojekten an unserem Feriendomizil auch einmal ihrer gedenken – oder dass wir eben entsprechende Institutionen schaffen und alle Wohlhabenden dazu zwingen, ihren Anteil beizusteuern. Wenn alle kooperieren, wird dieser Anteil pro Person vermutlich sehr klein ausfallen.69
2.4 Drei Sorgen und ein Ausblick Die drei in diesem Kapitel diskutierten Positionen lehnen die These, es gebe eine moralische Pflicht, zur Linderung extremer Armut etwas beizutragen, allesamt ab. Ich habe die Positionen nicht abschliessend diskutiert, sondern versucht, die Anliegen, um die es ihnen im Kern geht, freizulegen. Diese Anliegen werde ich in Form dreier Sorgen am Ende dieses Buches wieder aufnehmen.
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Die erste Sorge betrifft eine Überstrapazierung der Perspektive der Moral, die in einen Moralismus zu kippen droht. Der Umstand, dass wir uns nicht schuldig fühlen, wenn wir den Einzahlungsschein eines Hilfswerkes achtlos in den Mülleimer werfen, beruhe auf der Tatsache, dass die Moral ihre Grenzen habe, die sich mit unserem Erlebnishorizont decke: mit der Welt, in der wir uns als Handelnde wahrnehmen und auf die wir Einfluss nehmen können. Pflichten gegenüber Menschen beispielsweise in Afrika zu postulieren, komme angesichts des immensen Leidens, für dessen Beseitigung wir dann zuständig wären, einer unzulässigen Moralisierung des menschlichen Lebens gleich, die von uns verlange, als moralische Heilige, sicher jedoch nicht als interessante und glückliche Personen durchs Leben zu gehen.70 Das zweite Bedenken bezieht sich auf eine Überdehnung der Reichweite der Moral, die den Verlust der Gemeinschaft zur Folge hätte: Moral ist den Kommunitaristen zufolge ein soziokulturelles Phänomen, weshalb deren Prinzipien stets auf einen bestimmten soziokulturellen Kontext beschränkt seien. Dem Projekt einer globalen Ausdehnung der Moral stehen Kommunitaristen skeptisch gegenüber, denn sie halten es für fraglich, ob ein solches Unterfangen nicht die Gemeinschaft gefährde, die sie sowohl für die Moral an sich, als auch für das menschliche Leben als zentral erachten. Die dritte Sorge fusst in der These, der Gegenstandsbereich der Moral werde unzulässig aufgebläht, und es drohe der Verlust der Freiheit: Moral erschöpft sich beispielsweise den Libertären zufolge in der Wahrung der negativen Freiheitsrechte aller. Da wir jedoch auf Distanz nicht (oder nur in unbedeutender Art und Weise) in den Freiheitsbereich anderer einzugreifen vermögen, bestehen aus libertärer Sicht keine oder nur sehr wenig umfangreiche Pflichten auf Distanz. Das Elend der Menschen, die in extremer Armut leben, ist libertär gedacht zwar bedauernswert, es verpflichtet jedoch die Bewohnerinnen und Bewohner der Industrieländer zu nichts. Würde die Moral mehr verlangen als die Einhaltung der negativen Freiheitsrechte anderer, würde sie uns in den Augen der Libertären, auf die Spitze getrieben, zu gegenseitigen Sklaven degradieren.71 Dies könne jedoch unmöglich die Idee von Moral sein. Ob sich die genannten Sorgen zerstreuen lassen, wird sich am Ende dieses Buches vor dem Hintergrund der vorgelegten
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Begründung der Pflichten gegenüber den extrem armen Menschen zeigen. Die Skepsis hinsichtlich der Existenz von Pflichten auf Distanz bezieht sich allerdings bei allen drei genannten Positionen – zumindest auf den ersten Blick – nur auf Hilfsgebote. Denn hinsichtlich Nichtschädigungspflichten scheint Distanz unter allen Umständen und allen Theorien zufolge irrelevant zu sein. Dass wir anderen Menschen kein Leid antun dürfen, ganz egal, wo diese Menschen sich befinden, und dass diese Pflicht sowohl hinsichtlich ihrer Stärke als auch hinsichtlich ihres Inhalts nicht von Nähe und Distanz abhängt, ist eine These, die alle Moraltheorien prinzipiell akzeptieren.72 Selbst Narveson, der eine minimalistische Moralkonzeption vertritt, gesteht zu, dass wir selbstverständlich für Übel, die wir anderen zugefügt haben, verantwortlich seien, ganz unabhängig davon, wo diese Menschen lebten, und dass wir ihnen Kompensation schuldeten.73 Allerdings scheint die Erfüllung negativer Pflichten auf Distanz zumindest auf den ersten Blick äusserst kostengünstig zu sein. Denn Nichtschädigungsgebote spielen auf Distanz offensichtlich keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Die Gefahr, dass wir Menschen auf Distanz schädigen, scheint nicht gerade gross zu sein, weil gewöhnlich gar keine Interaktion mit diesen Menschen stattfindet. Ganz im Gegensatz dazu sind Interaktionen im Nahbereich nicht zu vermeiden, weshalb negative Pflichten hier nicht nur eine grössere Rolle spielen, sondern auch kostenintensiver ausfallen.74 Aus der Sicht des Individuums, das mit der Bevölkerung von Entwicklungsländern gewöhnlich nicht in Austausch steht, sind es deshalb gerade die positiven Gebote, die auf dem Spiel stehen, wenn es darum geht, ihm eine Pflicht zur Bekämpfung extremer Armut zuzuschreiben. Doch eine vorschnelle Beschränkung der Debatte auf Hilfsgebote ist nicht angebracht, denn die Bedeutung von negativen Pflichten für die Frage, was wir den Notleidenden im Süden schulden, ist möglicherweise grösser als wir meinen. So behauptet etwa Thomas Pogge, dass die vermögenden Einwohnerinnen und Einwohner die Ärmsten dieser Welt durchaus und zwar konstant und massiv schädigen, indem sie alle zu einer schädigenden Weltordnung beitragen
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und von dieser Ordnung profitieren, die wiederum die Weltarmut mit verursacht. Ich diskutiere diese These ausführlich in Kapitel 4.
Ein Urteil über Ungerechtigkeit unterscheidet sich von einem moralischen Urteil über menschliche Bedürfnisse und Leid oder Ungleichheiten insofern, als es nicht nur bestimmte Zustände als schlecht und daher zu verändern identifiziert, sondern zugleich konkrete Verantwortlichkeiten für bestehende Asymmetrien und entsprechende Gerechtigkeitspflichten benennt. Rainer Forst 1
3 Gerechtigkeit auf Distanz Viele halten die extreme Armut, in der Millionen von Menschen leben, während andere ein Leben in Luxus führen können, für ungerecht. Angesichts eines Vergleichs zwischen der Lebensqualität und -erwartung in den Industrienationen und in den Entwicklungsländern scheint dies denn auch die einzig angemessene Sichtweise zu sein: Allein der Geburtsort eines Kindes vermag beispielsweise dessen statistische Lebenserwartung um nahezu vierzig Jahre gegenüber anderen Orten zu senken.2 Und die Tatsache, dass die einen Millionensaläre erhalten, während andere nicht einmal über die finanziellen Ressourcen verfügen, ihre Familie zu ernähren, geschweige denn für die Grundausbildung ihrer Kinder oder für die einfachsten Antibiotika aufzukommen, scheint jeglicher Gerechtigkeit zu spotten. Von einem philosophischen Standpunkt aus betrachtet ist jedoch unklar, ob es sich bei der Weltarmut in der Tat um ein Problem der Gerechtigkeit, respektive der Ungerechtigkeit handelt. Dass nach wie vor täglich Tausende von Kindern an Mangelernährung sterben, stellt zwar ein gravierendes moralisches Problem dar.3 Nicht alle moralischen Probleme sind jedoch zugleich Probleme der Gerechtigkeit. Was jedoch zeichnet Probleme oder Fragen der Gerechtigkeit aus? Und ist das Problem der Weltarmut ein solches Gerechtigkeitsproblem? Wenn ja, wie stellt es sich dar, folgen aus ihm Gerechtigkeitspflichten, und was beinhalten diese? Als besonders strittig erweisen sich diese Fragen hinsichtlich des globalen Fokus der Gerechtigkeit, also hinsichtlich Gerechtigkeit auf Distanz. Der natürliche Ort der Gerechtigkeit wird üblicher-
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weise mit dem Staat identifiziert, innerhalb dessen Grenzen den Bürgerinnen und Bürgern Gerechtigkeit widerfahren soll. Gerechtigkeit scheint somit an einen lokal begrenzten Rahmen gebunden zu sein. Demnach kann es sich bei der Armut in anderen Ländern zwar durchaus um ein Gerechtigkeitsproblem handeln, aber eben um eines, das die jeweiligen Staaten respektive deren Bürgerinnen und Bürger in die Pflicht nimmt, die innerhalb ihres Landes für gerechte Zustände zu sorgen haben. Ein alltagsprachliches Verständnis von Gerechtigkeit legt indes nahe, die gegenwärtigen weltweiten Verhältnisse ganz unabhängig von innerstaatlichen Bemühungen nach sozialer Gerechtigkeit als massiv ungerecht zu bezeichnen. Eine Begründung für die Ungerechtigkeitsthese könnte die Ungleichverteilung respektive das massive Wohlstandsgefälle zwischen entwickelten Ländern und Entwicklungsländern sein. Aber nicht jede Ungleichverteilung ist an sich bereits rechtfertigungsbedürftig. Ausserdem ist fraglich, was ein alltagssprachliches Verständnis von Gerechtigkeit philosophisch austrägt: Als „ungerecht“ wird etwa ebenso bezeichnet, wenn ausgerechnet ein behindertes Kind einen schweren Unfall erleidet, wenn ein Lottogewinner ein zweites Mal den Jackpot knackt oder wenn jemand genau dann eine Grippe einfängt, wenn er zum Vorstellungsgespräch für seinen Traumjob erscheinen sollte. Was von einem philosophischen Standpunkt aus als Pech oder Zufall (der durchaus moralisch relevant sein und zu entsprechenden Reaktionen verpflichten kann), als Übel oder Not und was als genuine Ungerechtigkeit zu bezeichnen ist, ist abhängig vom zugrunde gelegten Gerechtigkeitsbegriff und der Gerechtigkeitstheorie – also davon, was Fragen der Gerechtigkeit auszeichnet. Den meisten Theorien zufolge deckt Gerechtigkeit weit weniger ab, als was wir alltagsprachlich darunter subsumieren (dies gilt insbesondere für die „Gerechtigkeit des Schicksals“ oder eben den Zufall). Wenn im Folgenden diskutiert werden soll, ob Weltarmut ein Problem der Gerechtigkeit darstellt, werden somit auch unterschiedliche Gerechtigkeitsverständnisse zu prüfen sein. Dieses Kapitel geht deshalb vor allem in seinen ersten Abschnitten auf weiten Strecken darstellend vor. Für die vorliegende Untersuchung ist die These, die globale Armut sei ungerecht, insbesondere aus zwei Gründen relevant:
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Erstens ist zu erwarten, dass uns ein Problem der Gerechtigkeit in die Pflicht – und zwar in eine Pflicht der Gerechtigkeit – nimmt. Pflichten der Gerechtigkeit werden oft als moralisch bindender oder stärker als andere moralische Pflichten wie etwa Hilfsgebote erachtet. Mit Verweis auf Kant werden Pflichten der Gerechtigkeit häufig mit Rechtspflichten, auf deren Erfüllung der Rechtsinhaber Anspruch hat, identifiziert, während den Tugendpflichten, unter die etwa Hilfsgebote fallen, keine Rechte korrelieren. Ich werde auf diesen Punkt später zurückkommen. Zweitens erfahren wir je nachdem, wie das Gerechtigkeitsproblem identifiziert wird, etwas darüber, wen es in die Pflicht nimmt, wie das Eingangszitat von Rainer Forst zum Ausdruck bringt. Mit Blick auf den zweiten Punkt ist besonders strittig, ob die Art der Ungerechtigkeit, die extreme Armut allenfalls darstellt, Erfordernisse an Individuen oder lediglich an Institutionen stellt, oder anders gesagt: ob sie ausschliesslich institutionenethische, oder auch individualethische, moralische Prinzipien beinhaltet. Auf die Frage, ob es sich bei der extremen Armut um eine Frage der Ungerechtigkeit handelt, sind grob gesagt drei unterschiedliche Antworten möglich: Die erste Antwort ist negativ: Hunger und Armut in anderen Ländern stellen kein globales Gerechtigkeitsproblem dar. Zwar mag es sich bei der Armut durchaus um ein lokales Gerechtigkeitsproblem handeln, insofern als der Reichtum innerhalb von Staaten ungerecht verteilt ist.4 Für Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit gibt es jedoch, so die These, keinen globalen Anwendungsbereich, denn diese beziehen sich auf Institutionen, wie sie ausschliesslich innerhalb von Staaten vorhanden sind. Die Reichweite der Gerechtigkeit ist somit notwendig durch Staatsgrenzen begrenzt. Ich nenne die Vertreter dieser Position im Folgenden Etatisten. Sie sind der Meinung, die Weltarmut stelle kein globales Gerechtigkeitsproblem dar und bedinge keine globalen Gerechtigkeitserfordernisse. Das liegt nach Ansicht der Etatisten daran, dass sie Gerechtigkeit erstens als eine Eigenschaft gemeinsam geteilter, sozialer Institutionen verstehen (institutionelle These) und sie zweitens der Ansicht sind, solche „gerechtigkeitsrelevanten“ Institutionen seien notwendig an Staaten gebunden (etatistische These).5
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Die zweite Antwort ist positiv und besagt, bei der Weltarmut handle es sich durchaus um ein globales Gerechtigkeitsproblem, weil die fortschreitende Globalisierung dazu geführt habe, dass die Welt mit gerechtigkeitsrelevanten globalen Institutionen durchsetzt sei. Die Vertreter dieser Position nenne ich im Folgenden Globalisten6. Auch sie sind der Meinung, dass sich Kontexte der Gerechtigkeit durch entsprechende Interaktionen und Institutionen auszeichnen. Diese erste (institutionelle) These teilen sie also mit den Etatisten, unterscheiden sich jedoch von diesen hinsichtlich der zweiten (globalistischen) These: Der globale Kontext ist insofern als ein Kontext der Gerechtigkeit zu verstehen, als wir in einer globalisierten Welt längst über entsprechende gemeinsame „gerechtigkeitsrelevante“ Institutionen und Kooperationsverhältnisse verfügen, welche die nationalen Grenzen überschreiten. Die Differenz zwischen Etatisten und Globalisten besteht allerdings nicht nur hinsichtlich der empirischen These über das (Nicht-)Bestehen entsprechender Institutionen, sondern auch hinsichtlich der normativen These, welche Formen der institutionellen Zusammenarbeit die Anwendung von Gerechtigkeitsprinzipien fordert. Auch die dritte Antwort, die ich im Folgenden den Kosmopolitanisten zuschreibe, ist positiv und sieht die Weltarmut als ein Gerechtigkeitsproblem. Doch sie stützt sich auf ein anderes Gerechtigkeitsverständnis: Im Unterschied zu den ersten beiden Positionen wird hier die Tatsache, dass so viele Menschen in einem Zustand schwerer Entbehrung leben, in erster Linie als moralisches Problem verstanden, das ganz unabhängig davon besteht, ob und welche globalen Institutionen existieren. Gerechtigkeit ist der kosmopolitanistischen Position zufolge in ihrer Reichweite nie beschränkt, sondern umfasst immer schon alle Menschen. Auch wenn die Lösung von Gerechtigkeitsproblemen entsprechende Institutionen aus Effizienzgründen oft wünschenswert erscheinen lässt, beruhen diese Lösungen letztlich immer auf der moralischen Pflicht, einander (in einem genauer zu bestimmenden Sinn) gerecht zu behandeln. Kosmopolitanisten teilen also mit den Globalisten die Annahme, dass extreme Armut eine Frage der Gerechtigkeit ist, sie differieren jedoch hinsichtlich der institutionellen These: Die Beseitigung von Armut ist nicht primär eine Forderung an Institutionen, sondern grundlegender an menschliches Handeln an sich.
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Während die institutionelle These besagt, dass der Kreis jener, die Anspruch auf Gerechtigkeit haben, von der Existenz geteilter sozialer Institutionen abhängig ist, setzen die Kosmopolitanisten den Kreis der Adressaten grundsätzlich mit der gesamten Menschheit gleich. Im Folgenden will ich diese drei Positionen diskutieren um zu klären, ob es sich bei der Weltarmut um ein Gerechtigkeitsproblem handelt und, falls ja, wen es im Hinblick worauf in die Pflicht nimmt. Ich beginne mit einer Darstellung des Etatismus, dem zufolge die Geltung von Gerechtigkeitsprinzipien per definitionem an einen staatlichen Kontext gebunden ist, und prüfe danach die globalistischen Einwände (3.1). Weiter wende ich mich dem Kosmopolitanismus zu, dem ein weites Gerechtigkeitsverständnis zugrunde liegt, das letztlich all das abdeckt, was wir einander aus moralischer Sicht schulden (3.2). Die unterschiedlichen Gerechtigkeitskonzeptionen führen auch zu einer unterschiedlichen Einschätzung hinsichtlich der Frage, ob es sich bei den Pflichten den extrem Armen gegenüber um Erfordernisse der Gerechtigkeit oder der Menschlichkeit handelt. Letztere nenne ich Hilfspflichten (3.3).
3.1 Etatismus vs. Globalismus Etatistische wie globalistische Konzepte der Gerechtigkeit beruhen auf einem institutionellen Gerechtigkeitsverständnis, das Gerechtigkeit ausschliesslich als eine Eigenschaft von Institutionen ansieht. Dieses Verständnis, das heute fast schon als „mainstream view“7 der politischen Philosophie bezeichnet werden kann, wurde prominent von John Rawls vertreten, der in seinem Hauptwerk Eine Theorie der Gerechtigkeit (1971) Gerechtigkeit als „erste Tugend sozialer Institutionen, so wie die Wahrheit bei Gedankensystemen […]“ bezeichnet.8 Gerechtigkeitsprinzipien beziehen sich somit nicht direkt auf individuelle Handlungen, sondern auf die Ausgestaltung des sozialen Systems (in John Rawls’ Terminologie auf die „Grundstruktur der Gesellschaft“). Dieses soziale System umfasst Institutionen wie Gesetze, politische Gremien und soziale Regeln, innerhalb derer individuelle Entscheidungen getroffen werden.
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Thomas Pogge fordert deshalb, wir müssten die Frage, wie die Grundstruktur eines sozialen Systems beschaffen sein sollte, klar von der sekundären Frage trennen, wie die verschiedenen Akteure wie beispielsweise Individuen, Gemeinschaften und Regierungen innerhalb dieser Strukur handeln sollten. Während sich „Gerechtigkeit“ auf die moralische Beurteilung und Rechtfertigung sozialer Institutionen beziehe, befasse sich „Moral“ mit der Bewertung individueller Handlungen und Charakterzüge.9 Dieser institutionellen Auffassung von Gerechtigkeit zufolge bezieht sich die Frage, ob Weltarmut ein Problem der Gerechtigkeit darstellt, also auf die Bewertung von globalen Institutionen wie internationalen Gesetzen, Gremien und Regeln. 3.1.1 Etatismus In den Augen der Etatisten ist der „natürliche Ort“ der Verteilungsgerechtigkeit der einzelne Staat. Für „soziale Gerechtigkeit“ – Gerechtigkeit innerhalb einer societas, einer Gemeinschaft – haben die einzelnen Staaten besorgt zu sein, die mithilfe entsprechender Institutionen innerhalb ihrer Grenzen sicherzustellen haben, dass Rechte, Chancen und Ressourcen den jeweils relevanten Gerechtigkeitsprinzipien gemäss unter ihren Bürgerinnen und Bürgern verteilt werden. Die Idee einer globalen sozialen Gerechtigkeit weisen Etatisten zurück. Die reicheren Staaten können den ärmeren allenfalls bei der internen Sicherung sozialer Gerechtigkeit helfen, doch handelt es sich bei dieser Unterstützung nicht um ein Erfordernis der Gerechtigkeit, sondern – je nach Theorie – um die Erfüllung eines Hilfsgebots, um freiwillige Barmherzigkeit oder schlicht um Klugheit (man denke etwa an die für die Industrieländer gesellschaftspolitisch herausfordernde Zunahme der Migration aufgrund des Ausmasses der Armut in den Herkunftsländern der Migrantinnen und Migranten). Auf globaler Ebene kommen allenfalls Prinzipien internationaler Gerechtigkeit zum Zuge, die vornehmlich Fragen der Legitimation von Staatsgrenzen und der staatlichen Einmischung in die internen Geschäfte anderer souveräner Staaten betreffen. Die These, der „natürliche Ort“ der Verteilungsgerechtigkeit sei der Staat, begründen Etatisten zumeist mit
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den ökonomischen Beziehungen zwischen den jeweiligen Bürgerinnen und Bürgern und dem Gewaltmonopol des Staates, dem sie unterworfen sind. Beginnen wir dem ersten Kriterien, den ökonomischen Beziehungen: Die Bewohnerinnen und Bewohner eines Staates stellen Etatisten als in einem kooperativen Unternehmen Engagierte vor, das im Sinne eines ideellen Vertrags der Sicherung des Wohls aller Beteiligten dient. Wer an diesem Unternehmen beteiligt ist, hat, so die Idee, auch ein Anrecht auf die gerechte Verteilung der Früchte dieser Kooperation.10 Solange Personen nicht in solche gegenseitig förderliche soziale Kooperationen eintreten, bestünden dagegen keine berechtigten Ansprüche des einen auf die erwirtschafteten Gewinne des anderen, da diese nicht gemeinsam erwirtschaftet wurden. Umfang und Inhaber der Ansprüche der Gerechtigkeit werden diesem Verständnis zufolge also durch einen ideellen Kontraktualismus bestimmt, der auf kollektivem Eigeninteresse beruht und an Reziprozität und allseitigen Nutzen appelliert. Die Bedingung für eine Umverteilung von Gütern gemäss distributiver Gerechtigkeitsprinzipien lautet demnach, dass diese Güter die Frucht gemeinsamer Anstrengungen sind. Anspruch auf diese Güter hat entsprechend nur, wer an deren Erwirtschaftung beteiligt war. Auf globaler Ebene sei diese Bedingung jedoch, so die Etatisten, weder in politischer, sozialer, kultureller noch in rechtlicher Hinsicht erfüllt.11 Zwar gebe es unbestritten verschiedene Formen der internationalen Zusammenarbeit, doch seien diese zu lose und zu punktuell, als dass sie einen eigentlichen Kontext der Gerechtigkeit abgeben würden und entsprechende Ansprüche auf Teilhabe rechtfertigen könnten. Diese These kann auf zweierlei Arten interpretiert werden: Einer empirischen Interpretation zufolge lautet sie, dass die für die Geltung von Gerechtigkeitsprinzipien relevanten Kooperationsformen faktisch nur innerhalb der Grenzen von Nationalstaaten auftreten. So verstanden wäre es also durchaus denkbar, dass die Welt dereinst eine andere Struktur aufwiese und von globalen Netzwerken geprägt wäre, die der lokalen gegenseitigen Abhängigkeit annähernd entsprächen. Gegenwärtig sei dies jedoch, so diese Interpretation, nicht der Fall. Diese empirische These spie-
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gelt jedoch – so absolut genommen – ein veraltetes Weltbild: Die Welt ist de facto längst nicht mehr allein von Staaten besiedelt und beherrscht, sondern auf globaler Ebene sind eine Vielzahl an internationalen und transnationalen Akteuren wie Privatunternehmen, überstaatliche Organisationen und Nichtregierungsorganisationen tätig. Nationalstaaten verlieren ihre ursprüngliche Macht sogar zunehmend an supranationale Akteure, weil, wie etwa Stefan Gosepath schreibt, „zum einen supranationale politische Allianzen wie EU, NATO, UN und zum anderen international operierende, privat finanzierte Firmen durch ihr eigenes Kapital als global players finanziell viel potenter, politisch viel mächtiger und oft auch flexibler sind, als es viele Staaten sein können.“12 Ob wir uns aufgrund dieser Entwicklung tatsächlich auf eine „postnationale Konstellation“13 zu bewegen, wird sich weisen. Mit Sicherheit aber ist der globale Raum mittlerweile durch Institutionen normiert, die Kooperationsverhältnisse spiegeln oder aufgrund solcher Verhältnisse geschaffen wurden. Nun werden Etatisten durchaus zugestehen, dass die fortschreitende Globalisierung zu einer Zunahme an internationalen Abkommen, Gesetzen und Kooperationen geführt hat. Strittig bleibt jedoch, ob es sich bei diesen Kooperationen (engl. cooperative structures) um solche handelt, welche die Aufteilung der Früchte, sprich eine Umverteilung den Gerechtigkeitsprinzipien gemäss, notwendig machen. Dies zu bestreiten, bedarf einer zweiten, normativen Lesart der These, wonach allein der staatliche Rahmen die Anwendung von Gerechtigkeitsprinzipien rechtfertige. Oft wurde argumentiert, dass Gerechtigkeit in direkter Verbindung zur demokratischen Legitimität von Staatsgewalt stehe.14 Damit sind wir bei der zweiten Begründung für die obige These angelangt, Verteilungsgerechtigkeit sei notwendig an einen nationalstaatlichen Rahmen gebunden. Etatisten sind nämlich der Meinung, dass Verteilungsgerechtigkeit nur praktiziert werden könne, wenn eine dazu bestimmte Institution (in den meisten Fällen der Staat) die Grundstruktur der Gesellschaft so modellieren könne, dass sie eine gerechte Verteilung von Ressourcen, Rechten und Chancen hervorbringe. Rechtliche Gewalt (engl. coercive structures), welche die Bürgerinnen und Bürger in ihrer Freiheit einschränkt, bedarf
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der Rechtfertigung. Diese beruhe auf dem Nachweis, dass die Freiheitseinschränkung im Gegenzug soziale Gerechtigkeit zu garantieren vermöge. So wird die Durchsetzung und Aufrechterhaltung sozialer Gerechtigkeit einer langen Tradition zufolge als zentral für die Rechtfertigung politischer Autorität verstanden. Ronald Dworkin spricht in diesem Zusammenhang vom „Argument der demokratischen Legitimität“, aus dem hervorgehe, dass distributive Gerechtigkeit eine natürliche Komponente von Eigentumsgesetzen sei.15 Staatsgewalt wird deshalb oft anhand eines hypothetischen Vertrags legitimiert: Wenn das System als Ganzes gerecht ist, dann haben alle, die ihm faktisch unterworfen sind, guten Grund, dieser Unterwerfung auch zuzustimmen. Gerechtigkeit ist in diesem Sinne ein politischer Wert, der von der Existenz einer entsprechenden Rechtsstruktur und einem Gewaltmonopol abhängt.16 Da auf globaler Ebene entsprechende kooperative und rechtliche Strukturen fehlten, schliessen Etatisten, dass die internationale Anwendung distributiver Gerechtigkeitsprinzipien nicht gerechtfertigt sei. Dies bedeutet allerdings, wie bereits gesagt, nicht, dass Etatisten das Elend in fremden Ländern nicht kümmern muss. Sie können durchaus moralische Pflichten der Hilfe für andere Staaten verteidigen. So fordert etwa John Rawls in seinem Spätwerk Recht der Völker (1999) die Erfüllung von Hilfspflichten gegenüber besonders belasteten Gesellschaften (burdened societies).17 Diese Gesellschaften anerkennen zwar das internationale Recht, verfügen jedoch nicht über adäquates Know-how und ausreichend Ressourcen, um die interne Armut langfristig und erfolgreich bekämpfen zu können, weshalb reichere Staaten ihnen Unterstützung anzubieten haben.18 Die einzelnen Staaten, die als Akteure der globalen normativen Ordnung agieren, sind jedoch gemäss Rawls nicht verpflichtet, eine globale Umverteilung des Reichtums anzustreben. Nicht nur ist es nicht erforderlich, dass das Differenzprinzip angewendet wird; überhaupt kein relationales Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit ist gefordert.19 Hilfspflichten zur Sicherung von Grundbedürfnissen oder zur Erfüllung basaler Menschenrechte sind demnach mit der etatistischen Theorie durchaus vereinbar. Die Reichweite sozialer Gerechtigkeit ist jedoch auf nationalstaatliches Terrain beschränkt.
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3.1.2 Globalismus Die Globalisten gehen mit den Etatisten zwar einig, dass die Anwendung distributiver Gerechtigkeitsprinzipien an das Vorhandensein entsprechender institutioneller Strukturen geknüpft ist, die einen Kontext umreissen, innerhalb dessen Menschen in einer normativ signifikanten Art und Weise kooperieren. Dennoch erachten Globalisten extreme Armut als ungerecht. Dies hat damit zu tun, dass sie die gegenwärtige ökonomische transnationale Interdependenz (etwa in den Bereichen globaler Arbeitsmärkte, Ressourcentransfers und Handels- und Zollabkommen) anders bewerten als die Etatisten dies tun und durchaus von einem globalen Gerechtigkeitskontext ausgehen. Die vorhandenen Strukturen globaler Kooperationen mit denjenigen in Einzelstaaten gleichzusetzen, wäre allerdings nicht angemessen. Auf der einen Seite herrschen auf globaler Ebene weitaus losere Verstrickungen vor als lokal: Die Lebenswelten der einzelnen Bürgerinnen und Bürger eines Staates sind durch die stark ausgebauten institutionalisierten Kooperations- und Rechtsstrukturen sehr viel stärker miteinander verwoben, als dies hinsichtlich der Lebenswelten der einzelnen „Erdenbürger“ der Fall sein dürfte. Andrerseits fehlen auf globaler Ebene die rechtlichen Strukturen, die dem etatistischen Verständnis nach als zweite Bedingungen für Umverteilung vorhanden sein müssten. Ökonomische Interdependenz für sich genommen vermag die Anwendung so anspruchsvoller distributiver Gerechtigkeitsgrundsätze, wie wir sie innerhalb von Nationalstaaten kennen, nicht zu rechtfertigen.20 Wenn beispielsweise die Detailhändlerin Anna die Produkte, die sie in ihrem Geschäft verkauft, beim Grossisten Martin bezieht, so schuldet sie Martin den festgesetzten Preis der gekauften Produkte, nicht jedoch eine weitergehende Umverteilung, die sich an Gerechtigkeitsprinzipien wie der Chancengleichheit oder dem Differenzprinzip orientierten. Ich bezweifle deshalb, ob lokale Gerechtigkeitsprinzipien auf die globale Ebene übertragen werden sollen und können.21 Aus der These, es gebe einen globalen Kontext der Gerechtigkeit, folgt aber auch gar nicht (wie ich eben suggeriert habe), dass die lokalen Gerechtigkeitsgrundsätze auf die globale Ebene ausgedehnt werden müssten. Viele Globalisten behaupten das nämlich
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gar nicht. Allerdings ist nicht einsichtig – und genau dies ist der Punkt der Globalisten – weshalb aufgrund der fehlenden globalen Staatsgewalt überhaupt keine Verteilung des in globalen oder transnationalen Kooperationen erwirtschafteten Gewinns erfolgen soll. Wenn zum Beispiel Anna, Luca und Maria eine Band gründen und eine Schallplatte aufnehmen, dann ist der Gewinn, den sie mit der Platte einspielen, gerecht unter ihnen aufzuteilen (etwa unter Berücksichtigung der Frage, wer die Idee für die Platte hatte, wer in welcher Höhe einen Anfangskredit beigesteuert hat, wer wie viele Sponsoren für das Projekt gewinnen konnte, wessen Verdienst die Berichte in der Zeitung waren, wer die Musik und die Liedtexte schrieb, etc.). Ich meine, dass die globalen Kooperationsformen in diesem Sinne durchaus einen Gerechtigkeitskontext abgeben: Die meisten Produkte, die wir in den Industrieländern kaufen und verkaufen, haben einen langen, komplexen Produktionsweg hinter sich vom Abbau und Export von Rohstoffen, zu deren Veredelung und Verarbeitung in Niedriglohnländern, über den Transport durch verschiedene Länder, die Einfuhr- und Exportzölle erheben, bis auf den Verkaufstisch in den reichen Ländern. Vom Gewinn, den das Produkt als Ganzes abwirft, fliesst jedoch der Löwenanteil in die Kassen der Firmenbesitzer in den Industrieländern. Würden etwa für Rohstoffe und Arbeit faire Preise bezahlt, könnte dies die Armut in den entsprechenden Ländern zumindest lindern. Ich bin deshalb durchaus der Meinung, dass aufgrund der rapide voranschreitenden Globalisierung ein immer dichterer globaler Kontext der Gerechtigkeit entsteht. Die wirtschaftlichen Aussichten einzelner Staaten sind zunehmend durch die Aktivitäten multinationaler Konzerne oder durch internationale Handelsabkommen bestimmt. Die Theoriebildung zur globalen Gerechtigkeit, die lange Zeit am Nationalstaat modelliert war, steht deshalb in einer gewissen Diskontinuität zur traditionellen Gerechtigkeitstheorie. Selbst wer davon ausgeht, dass Gerechtigkeitsgrundsätze kontextuell bestimmt sind, muss meines Erachtens einräumen, dass der Nationalstaat nicht mehr der einzige Kontext der Verteilungsgerechtigkeit darstellt.22 Daraus folgt aber nicht, dass innerhalb eines jeden Kontextes dieselben Gerechtigkeitsprinzipien zum Zuge kommen müssen.
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Allerdings dürfte die genannten ökonomische Interdependenz vor allem zwischen Industrie- und Schwellenländern bestehen, und – bis auf den Abbau von Rohstoffen – weniger zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. Das bedeutet keineswegs, dass deshalb die Gerechtigkeitsfrage vom Tisch wäre; doch es beantwortet unsere Frage nicht, ob es sich bei extremer Armut (von der Schwellenländer weniger als Entwicklungsländer betroffen sind) um ein Gerechtigkeitsproblem handelt. Es müsste also gezeigt werden können, dass zwischen „unfairen Preisen“ und extremer Armut ein empirisch ausreichend grosser Zusammenhang besteht, sodass mit Recht gesagt werden kann, dass „faire Preise“ eine spürbare Auswirkung auf das Bestehen extremer Armut hätten. Ausserdem haben wir mit dieser Argumentationsweise die Argumentationsgrundlage geändert: Zugrunde gelegt ist nicht länger ein Kontext distributiver, sondern vielmehr ein Kontext kommutativer Gerechtigkeit. Tauschpartner haben der kommutativen Gerechtigkeit zufolge berechtigte moralische Forderungen gegen einander, die aufgrund einer freiwilligen Übereinkunft im Kontext sozialer Kooperation entstehen.23 Zur Debatte steht dann nicht mehr, welche Güter wem sozusagen aus der Vogelperspektive legitimerweise zustehen (zum Beispiel aufgrund von Verdienst oder Bedarf), sondern ob die Güter, die auf dem Spiel stehen, fair getauscht wurden (Gerechtigkeit aus der Froschperspektive sozusagen). Damit sind jedoch andere – und keineswegs einfachere – Fragen zu beantworten, etwa jene nach dem „fairen Preis“ von Rohstoffen. Betrachten wir noch einmal obiges Beispiel: Wenn Anna und Luca sehr reich sind, Maria jedoch so arm ist, dass sie aus ihrer guten Stimme ohne die Unterstützung der beiden anderen nie und nimmer hätte Profit schlagen können, weil sie zu den entsprechenden Infrastrukturen keinen Zugang gehabt hätte, was bedeutet dann eine faire Aufteilung des Gewinns? Nehmen wir einmal an, die Platte spiele sehr viel Geld ein. Anna und Luca können sich auf den Standpunkt stellen, Maria könne froh sein, wenn sie überhaupt etwas erhalte, schliesslich habe sie kein Kapital beigesteuert und nichts vom Musikbusiness verstanden, bis sie auf Anna und Luca stiess, die sie grosszügigerweise mitmachen liessen. Der Verweis darauf, dass Maria schliesslich damit einverstanden war, dass sie für ihr Engagement eine Pauschale von tausend Euro erhalten
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würde, mindert die Ungerechtigkeit nicht, wenn Luca und Anna jetzt je hunderttausend Euro einstreichen. Doch warum eigentlich nicht? Schliesslich haben sich Anna und Luca an die Abmachung gehalten, in die Maria vorgängig eingewilligt hat. Erhält sie den ausgehandelten Lohn, scheint sie nicht darin gerechtfertigt, sich zu beklagen. Nun meinte kommutative Gerechtigkeit ursprünglich tatsächlich mehr, als dass der Lohn dem Verhandelten entspricht, sondern darüber hinaus objektiv gerecht ist. Der klassischen aristotelischthomistischen Idee kommutativer Gerechtigkeit zufolge basierte ein gerechter Handel auf dem sogenannten „Äquivalenztausch“, dem zufolge Leistung und Gegenleistung im (Waren-)Tausch in einem bestimmten Gleichgewicht zu stehen haben.24 Dies setzt allerdings die Möglichkeit einer objektiven und vom Vollzug der Tauschgeschäfte unabhängigen Bewertung von Leistung und Gegenleistung voraus.25 Die Forderung nach einer Theorie des „gerechten Preises“ brachte deshalb bereits die klassische Theorie kommutativer Gerechtigkeit in Schwierigkeiten. Angesichts der unüberschaubaren Pluralität an Bewertungsmassstäben dürfte es heute auf globaler Ebene erst recht fast unmöglich anzugeben sein, was einen gerechten Preis auszeichnet.26 Um die genannten Schwierigkeiten zu umgehen, scheint es angemessener und aussichtsreicher, hinsichtlich kommutativer Gerechtigkeit anstatt von substantiellen von prozeduralen Kriterien auszugehen. Verlangt wäre demnach, dass sich die Parteien in Verhandlungen gegenseitig nicht unter Druck setzen dürfen, dass sie keine Güter tauschen, die ihnen nicht gehören, und dass sie nicht vertragsbrüchig werden. Tauschbeziehungen zwischen Personen sind in diesem Sinne prozedural gerecht, wenn sie unter für alle akzeptablen Bedingungen zu Stande kommen.27 Allerdings ist fraglich, ob diese Bedingungen als rein prozedurale bestimmt werden können, denn ein Tausch kann überhaupt erst fair sein, wenn die Ausgangsposition bestimmten substantiellen Kriterien genügt. Autonom zu entscheiden ist beispielsweise nur möglich, wenn beide Tauschpartner Alternativen kennen und es sich rein materiell überhaupt leisten können, ein unfaires Angebot auch auszuschlagen. Prinzipien kommutativer Gerechtigkeit setzen deshalb
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offenbar die Erfüllung minimaler Kriterien distributiver Gerechtigkeit voraus.28 Insofern als diese Kriterien global aber nicht erfüllt sind, können sich Entwicklungsländer – respektive deren arme Bevölkerung, die oft von korrupten Machthabern unterdrückt wird – in vielen Verhandlungen nicht genügend einbringen und ihre Interessen nur unzureichend vertreten. Thomas Pogge behauptet deshalb, die reichen Staaten gestalteten die globalen Regeln ihren Vorlieben gemäss mit dem Resultat, dass sich diese massiv schädigend auf die Entwicklungsländer auswirkten. Pogge ist deshalb der Meinung, Weltarmut sei nicht deswegen ungerecht, weil global nicht dieselben Prinzipien distributiver Gerechtigkeit zum Zuge kommen wie lokal, sondern weil sich die globale Ordnung schädigend auf die ohnehin schon schwache Wirtschaft in den Entwicklungsländern auswirke. Bei der Forderung nach globaler Gerechtigkeit handelte es sich demnach nicht um Forderungen nach Verteilungsgerechtigkeit, sondern nach Nichtschädigung. Mit dieser These einher geht die empirische These, dass die globale Armut (unter anderem) das Resultat unfairer, ausbeuterischer Abkommen und Regeln sei, die den armen Ländern von den reichen Industrienationen aufoktroyiert sei und welche die Menschen in den ärmeren Ländern schädigen und immer tiefer ins Elend treiben würden.29 Die vorhandenen globalen Interaktionen seien somit nicht als Formen der Kooperation, sondern vielmehr als Zustände des Zwangs und der Schädigung zu verstehen.30 Die Rechtfertigung und inhaltliche Bestimmung globaler Nichtschädigungsprinzipien geht jedoch mit anderen theoretischen Fragen einher als die Verteidigung globaler Prinzipien distributiver Gerechtigkeit. So muss etwa geklärt werden, unter welchen Umständen schädigende Handlungen moralisch verwerflich sind und inwiefern zwischen der Schädigungsthese und der Existenz extremer Armut tatsächlich ein Zusammenhang besteht. Auf diese Fragen gehe ich in Kapitel 4 ausführlich ein. Nicht alle Globalisten sind jedoch der Meinung, globale Gerechtigkeit erschöpfe sich in der Erfüllung der erwähnten minimalen Fairnessstandards oder auf dem Gebot der Nichtschädigung. Vielmehr argumentieren einige Globalisten in einer stärkeren Version, dass darüber hinaus die Herstellung einer globalen Verteilungsgerechtigkeit gefordert sei, weil wir allen Menschen distributi-
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ve Gerechtigkeit schuldeten – und zwar ganz unabhängig davon, ob und wie umfangreiche Kooperationsverhältnisse zwischen den verschiedenen Nationen und Gemeinschaften bestehen. Zwar geben Globalisten zu, dass eine globale Rechtsstruktur für die Anwendung und Durchsetzung einer entsprechenden Umverteilung noch fehlt (und wie wir gesehen haben, ist dies für die Etatisten Anlass, an der Möglichkeit globaler Verteilungsgerechtigkeit zu zweifeln). Nicht für alle Globalisten ist die fehlende globale Rechtssprechung jedoch bereits ein Argument gegen globale Verteilungsgerechtigkeit. Für einige ist dies vielmehr eine Aufforderung, entsprechende Rechtsstrukturen zu schaffen, die eine Umverteilung möglich machen. Globalisten, die für die Schaffung eines globalen Anwendungsbereichs von Prinzipien distributiver Gerechtigkeit argumentieren, beziehen sich in ihren Ausführungen meistens auf Rawls,31 obwohl er selber einer ihrer theoretischen Gegner ist. Sie meinen jedoch, dass Rawls sich hinsichtlich der globalen Implikationen seiner Theorie der Gerechtigkeit schlicht geirrt habe und dass diese anders weiterzuentwickeln sei als der Autor dies selber tat.32 Dies bringt zwar eine Vielzahl von Problemen mit sich, etwa dass Rawls institutionelle Vorbedingungen an die Anwendbarkeit seiner Prinzipien stellt, die global nicht so einfach zu erfüllen sind, oder dass die Etatisten hinter dieser Forderung den Ruf nach Schaffung eines (wie auch immer gearteten) Weltstaats wittern, der die Welt absolutistisch oder gar tyrannisch regierte und von keiner anderen gleich mächtigen Entität in seine Schranken verwiesen werden könne.33 Globalisten müssen jedoch keinen Weltstaat im Blick haben. Einigen schwebt beispielsweise ein föderaler Weltbund vor, der demokratisch und subsidiär aufgebaut ist und dem eine faire globale Ressourcenverteilung vorausgeht, die allen Staaten gleiches Mitspracherecht zugesteht. Andere votieren auch einfach für eine Stärkung und einen Ausbau der Uno.34 Die Frage ist allerdings, wie zu rechtfertigen ist, dass wir entsprechende Institutionen zu schaffen haben. Die Argumentation wurde damit nämlich umgedreht: Anstatt darauf zu insistieren, dass auf globaler Ebene entsprechende soziale Institutionen bereits vorhanden sind und wir deshalb lokale Gerechtigkeitsprinzipien auch global anzuwenden hätten, wird nun
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behauptet, wir schuldeten allen Menschen Gerechtigkeit, weshalb entsprechende Institutionen etabliert werden müssten, welche eine Umverteilung legitimierten. Für letztere These benötigen wir allerdings ein Argument, das der Globalismus allein offenbar nicht liefern kann. Denn weshalb sollten wir aufgerufen sein, Institutionen zu schaffen, wo keine vorhanden sind? 3.1.3 Hintergrundtheorien Das institutionelle Gerechtigkeitsverständnis verlangt, Prinzipien der Gerechtigkeit anzuwenden, wo es entsprechende Institutionen gibt. Wenn die Ausdehnung der institutionellen Struktur, die eine Anwendung der distributiven Gerechtigkeitsprinzipien ermöglicht, gefordert wird, so bedarf dies einer zusätzlichen Begründung, die über eine Verteidigung dieses Gerechtigkeitsverständnisses hinausgeht. Die Begründung hierfür liefert eine normative Theorie, die den argumentativen Hintergrund jener globalistischen Ansätze bildet, die weltweite distributive Gerechtigkeit fordern: nämlich der Kosmopolitanismus. Dieser besagt, grob gesagt, dass die moralische Gleichheit aller Menschen es verlange, sie in einem alle umfassenden Kontext der Gerechtigkeit zusammenzufassen. Kontexte der Verteilungsgerechtigkeit auf nationalstaatliche Sphären zu beschränken, werten Kosmopolitanisten als eine Verletzung der Gleichheit aller Menschen. Denn hänge die Frage, ob einem Gerechtigkeit widerfahre oder nicht, von einer so willkürlichen Eigenschaft wie dem Wohnort oder der Staatsbürgerschaft von Personen ab, so untergrabe dies eines der wichtigsten moralischen Postulate überhaupt, nämlich die moralische Gleichheit aller Menschen. Die Nationalität einer Person sei nämlich genauso zufällig wie ihre genetische Veranlagung, ihre Hautfarbe oder die soziale Klasse, in die sie hineingeboren wurde.35 Der Etatismus sei deshalb, wie Joseph Carens schreibt, mit dem mittelalterlichen Feudalwesen vergleichbar, als Menschen in soziale Schichten hineingeboren wurden, die ihr Schicksal ganz massgeblich und zum Teil äusserst negativ beeinflussten und aus denen sie in aller Regel bis ans Lebensende nicht ausbrechen konnten.36 Da niemand für seinen Geburtsort verantwortlich gemacht werden könne,
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halten es Kosmopolitanisten für massiv ungerecht, dass etwa ein Äthiopier keine Möglichkeit erhält, Lesen und Schreiben zu lernen, während eine Deutsche ein Recht auf Schulunterricht einklagen kann – ebenso ungerecht, wie wenn eine Person aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer Hautfarbe benachteiligt würde. Die globalen Rechtsstrukturen sind deshalb, so die These, zu verstärken, sodass eine globale Verteilungsgerechtigkeit möglich wird. Denn die zu schaffenden Institutionen beruhen auf der moralischen Pflicht, einander (in einem genauer zu bestimmenden Sinn) gerecht zu behandeln.37 Sobald die entsprechenden Institutionen versagen oder nicht vorhanden sind, fällt die Pflicht der Gerechtigkeit deshalb wieder ans Individuum zurück, das gemeinsam mit den anderen Individuen dafür zu sorgen hat, dass das institutionelle Versagen ausgeglichen und diesem in Zukunft vorgebeugt wird. Die These, Landesgrenzen seien willkürlich gezogen, ist allerdings strittig. Viele Etatisten sind beispielsweise der Meinung, Landesgrenzen trennten sehr wohl bedeutungsvolle Gruppen, die über eine gemeinsame Sprache, Kultur und Geschichte verfügen und deren Mitglieder Güter tauschen und teilen wollen. Und nur innerhalb solcher Gruppen sei Verteilungsgerechtigkeit auch gefordert, die immer einen klar umrissenen Kontext voraussetze. Die Menschen innerhalb eines Staates stellt beispielsweise Michael Walzer als „committed to dividing“38 vor; sie sind somit nicht einfach eigeninteressierte Wesen, denen es darum geht, ihren Eigennutz zu maximieren; ihnen liegt vielmehr auch am Wohl der Gruppe und infolgedessen auch am Wohl der Gruppenmitglieder. Hinter dieser Argumentation steckt eine zweite Hintergrundtheorie: der Kommunitarismus oder Nationalismus. Ihm zufolge kann es uns nur wohl ergehen, wenn wir in einer Gemeinschaft leben. Prosperierende Gemeinschaften zeichneten sich aber wesentlich dadurch aus, dass sich ihre Mitglieder in spezieller Art und Weise umeinander kümmerten – und zwar nicht bloss deshalb, weil entsprechenden Normen und Regeln es ihnen so gebieten, sondern weil sie einander natürlicherweise verbunden und deshalb bereit sind, zum Wohle aller etwas Eigenes zu opfern.39 Dass Kooperationsstrukturen allein distributive Gerechtigkeit nicht zu rechtfertigen vermögen, zeige sich auch daran, dass wir nicht allein
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„Netto-Beitragende“ berücksichtigen, sondern ebenso Behinderte und Kranke oder Arbeitslose, die wir in einem Sozialsystem mittragen. Die ökonomischen und rechtlichen Beziehungen allein reichten also nicht aus zu erklären, warum wir für unsere Mitbürger auch dann sorgen, wenn sie aus dem Netz der produktiv Beitragenden herausfallen.40 Der Grund, warum wir unsere Güter fair aufteilten, sei nicht zuletzt jener, dass wir uns miteinander identifizierten und deshalb ein Gefühl der Solidarität füreinander entwickelten. Selbst Rawls hätte Yael Tamir zufolge seine These, wonach die Anwendung der Gerechtigkeitsgrundsätze an einen Nationalstaat gebunden sei, nicht rechtfertigen können, ohne sich einer nationalistischen oder kommunitaristischen Argumentationsweise zu bedienen.41 Allerdings identifizieren sich heute immer mehr Menschen nicht mehr oder nicht ausschliesslich mit den Angehörigen ihrer ethnischen Gruppe, sondern haben darüber hinaus alternative Identitäten, die sich nicht innerhalb von Staatsgrenzen abspielen – etwa religiöse Identitäten oder Identitäten, die sich auf kulturelle Vorlieben beziehen und in Fangemeinschaften oder so genannten „Internet-Communities“ ihren Ausdruck finden. Es ist deshalb zu bezweifeln, ob es angesichts von Globalisierung, Multikulturalismus und anderer solcher Prozesse noch möglich ist, die Menschen so in Gruppen aufzuteilen, dass die Anwendung der Grundsätze der Gerechtigkeit an den Grenzen dieser Gruppen endet.42 Den Kommunitarismus habe ich bereits in Abschnitt 2.2 diskutiert. Ich bin zum Schluss gekommen, dass – ganz unabhängig von einer Bewertung der kommunitaristischen These, dass die Angehörigen einer Gemeinschaft einander in besonderer Weise verbunden sind und einander deshalb auch Besonderes schulden – kommunitaristische Ansätze durchaus mit Hilfspflichten gegenüber Menschen in Not, die einer anderen Gemeinschaft angehören, zu vereinen sind. Dies ist jedoch den Kosmopolitanisten ein zu mageres Zugeständnis; worum es vielmehr gehe, sei die Herstellung von Gerechtigkeit. Im Folgenden widme ich mich deshalb der kosmopolitanistischen Verteidigung einer globalen Gerechtigkeitsidee.
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3.2 Kosmopolitanismus Prinzipien der Gerechtigkeit gelten den Kosmopolitanisten zufolge ganz unabhängig davon, welche Kooperationsformen faktisch existieren. Gerechtigkeit hat deshalb immer schon eine globale Ausdehnung.43 Da Prinzipien der Gerechtigkeit die Verhältnisse zwischen allen Menschen auf dieser Welt regeln und deren individuelles Wohlergehen sichern sollen – ganz ungeachtet von deren staatlicher Zugehörigkeit oder deren Eingebundensein in Kooperationsverhältnisse – halten es Kosmopolitanisten für ein massives Gerechtigkeitsproblem, dass nach wie vor jährlich Millionen von Menschen frühzeitig an den Folgen der Armut sterben, während es sehr vielen anderen hervorragend geht. Über dieses sehr allgemeine Verständnis von Gerechtigkeit hinaus ist allerdings unklar, was der Kosmopolitanismus inhaltlich fordert. Manch einer benutzt das Label, ohne damit sehr viel mehr zu meinen, als dass wir die Welt als Ganze in den Blick nehmen sollten und einander als Menschen verpflichtet sind, egal welcher Nationalität wir angehören.44 Wenn Samuel Scheffler schreibt, moderate Kosmopolitanisten würden die These vertreten, ein Weltbürger zu sein bedeute, dass wir alle in moralisch signifikanten Beziehungen zueinander stünden,45 so gehen nahezu alle Moraltheorien als kosmopolitanistisch durch. Ein plausibles Verständnis von Kosmopolitanismus muss deshalb enger gefasst werden und eine spezifischere These vertreten. Als gemeinsamer Kern kosmopolitanistischer Positionen kann neben dem bereits genannten Universalismus – die These, dass jeder Mensch über einen moralischen Status verfügt, der ungeachtet seiner politischen Mitgliedschaft von allen Menschen geachtet werden muss – der ethische Individualismus genannt werden: Geachtet werden müssen letztlich Personen als moralische Subjekte – nicht Gruppen, Staaten oder Gesellschaften. Die Legitimation solcher Gemeinschaften erfolgt vielmehr im Rückgriff auf das Wohl der einzelnen, moralisch gleichwertigen Personen. Welche Schlüsse lässt dies hinsichtlich der Frage nach globaler Gerechtigkeit zu? Aus der moralischen Gleichheit aller Personen
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folgt keineswegs Gleichbehandlung, oder anders gesagt: Aus einem Universalismus folgt kein Uniformismus.46 Alle gleichermassen zu achten, bedeutet beispielsweise – als Minimalbedingung – erst einmal nur, dass alle als moralische Wesen gleichermassen zählen. Doch bleibt, so allgemein formuliert, unklar, was die Idee der gegenseitigen Achtung inhaltlich verlangt. Gewisse Verhaltensweisen wie etwa Folter oder Erniedrigung sind mit der Achtung vor dem Gegenüber sicher nicht kompatibel.47 Doch was bedeutet die Achtung vor Personen hinsichtlich der Verteilung von Gütern? Der moralische Kosmopolitanismus ist agnostisch hinsichtlich des Inhalts globaler Gerechtigkeit. Von der Behauptung, dass wir alle Menschen gleichermassen als moralisch gleichwertige Wesen zu respektieren haben, hin zur These, dass wir bei der Etablierung von Verfahren zur Verteilungsgerechtigkeit die Pflicht haben, allen Menschen auf der Welt die gleichen Ansprüche zuzubilligen, ist es ein grosser argumentatorischer Schritt. Es ist deshalb weitaus einfacher zu bestimmen, was der Kosmopolitanismus ausschliesst, als was er in einem positiven Sinne einschliesst.48 Am besten lässt sich der Kosmopolitanismus deshalb als eine „Protesttheorie“ verstehen, die kritische Nachfragen in sich vereint, positiv jedoch wenig Substantielles aussagt. Der kosmopolitanistische „Protest“ richtet sich vornehmlich gegen zwei Thesen: Erstens gegen die Idee, dass Kollektive wie Staaten und Nationen und somit auch Landesgrenzen intrinsischen statt derivativen Wert hätten (was nicht vereinbar ist mit dem ethischen Individualismus); zweitens gegen Prinzipien, nach denen bestimmte Menschen aufgrund ihrer Nationalität, ihrer Rasse oder ihrer Kultur als moralisch nicht gleichwertig angesehen werden und aus dem Aufmerksamkeitsbereich der Moral ausgeschlossen werden (was nicht vereinbar ist mit dem Universalismus).49 In Abgrenzung von diesen beiden Thesen ergibt sich, dass Prinzipien der Gerechtigkeit Kosmopolitanisten zufolge die Verhältnisse zwischen allen Bürgerinnen und Bürgern dieser Welt regeln und nicht nur zwischen den Angehörigen bestimmter, in sich geschlossener Gruppen oder in Abhängigkeit von geteilten Institutionen.50 Wir sind insofern „Weltbürgerinnen“ und „Weltbürger“, als die moralisch ausschlaggebende Zugehörigkeit jene zur Menschheit ist – und nicht jene zu einem Staat, zur Familie oder zu Handelsbündnissen.
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Daraus ergibt sich, dass Gerechtigkeit einer kosmopolitanistischen Position zufolge primär als eine Eigenschaft von individuellen Handlungen (und nicht von Institutionen) verstanden wird. Das institutionelle Gerechtigkeitsverständnis, dem zufolge Gerechtigkeit ausschliesslich eine Eigenschaft von Institutionen ist, weisen Kosmopolitanisten also zurück. Gerechtigkeit beziehe sich, wie Gosepath schreibt, vielmehr auf individuelle Handlungen: „Verantwortung tragen primär Individuen, und zwar in erster Linie für ihre eigenen Handlungen und Unterlassungen.“51 Gosepath nennt dies die „Position des ethischen oder normativen Individualismus“52, der zufolge wir Gerechtigkeit allen Menschen gleichermassen schulden. Das Anwendungsgebiet der Gerechtigkeit ist deswegen immer schon global: Wir haben Personen gegenüber Gerechtigkeitspflichten und schulden ihnen zumindest ein bestimmtes Mass an Gerechtigkeit ganz unabhängig davon, ob wir mit diesen in direktem oder indirektem Kontakt stehen oder gestanden haben. Nun stellt sich allerdings die Frage, was es heisst, allen Menschen Gerechtigkeit zu schulden. Ist damit gemeint, dass dieselben Prinzipien distributiver Gerechtigkeit, die für Institutionen gelten, auf den Bereich der Individualmoral zu übertragen sind? Dass wir uns also zum Beispiel hinsichtlich der Frage, was Europäer den Menschen in Malawi schulden, am Differenzprinzip orientieren sollten? Einige Autoren argumentieren, dass dies in der Tat nicht nur plausibel, sondern die einzig vernünftige These sei. Liam Murphy hat diese These als Monismus bezeichnet und sie vom Dualismus abgegrenzt: Während der Dualismus für die Institutionen- und die Individualethik getrennte Prinzipien vorsieht, geht der Monismus davon aus, dass ein Prinzip gleichermassen für beide Ebenen leitend ist.53 Ein Beispiel für eine dualistische Position ist demnach Rawls’ Konzept der Gerechtigkeit als „erste[r] Tugend sozialer Institutionen“54, das Gerechtigkeitsgrundsätze für Institutionen von jenen für individuelle Handlungen trennt. Die beiden Arten von Grundsätzen beziehen sich Rawls zufolge „auf verschiedene Gegenstände und sind getrennt zu behandeln“55. Im Bereich der Individualmoral gelten ihm zufolge also andere Prinzipien wie beispielsweise das Universalisierungsprinzip, das Instrumentali-
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sierungsverbot oder das Prinzip gleicher Achtung, während in der Sphäre der Institutionenethik der Grundsatz gleicher Freiheit, das Prinzip der Chancengleichheit und das Differenzprinzip als Prinzipien der Gerechtigkeit zur Anwendung kommen.56 Die monistische Position besagt dagegen, dass sämtliche Gerechtigkeitsprinzipien, die unser soziales Zusammenleben regeln, genauso für den Bereich individuellen Handelns gelten. Demnach sollen Prinzipien der Institutionenethik wie zum Beispiel das Differenzprinzip auch Handlungen und Entscheidungen von Individuen leiten. Einer globalen Anwendung des Differenzprinzips stünde dem Monismus zufolge also nichts im Weg, denn die Anwendung von Gerechtigkeitsgrundsätzen ist dieser Position zufolge nicht an das Vorhandensein bestimmter Institutionen gebunden. Vertretern einer monistischen Position gemäss weist der Dualismus hingegen folgende drei Probleme auf:57 Erstens sei es inkohärent, von Individuen zu verlangen, sie müssten gerechte Institutionen befördern und aufrechterhalten (wie Etatisten und Globalisten in aller Regel fordern), ohne gleichzeitig von ihnen zu verlangen, in ihrem individuellen Handeln dieselben Ziele zu verfolgen, welche auch gerechte Institutionen befördern.58 Dieser Einwand überzeugt jedoch nicht: Es gibt zahlreiche Beispiele von Institutionen, die wir nach wohlbegründeten Prinzipien ordnen, dabei jedoch nicht meinen, diese Prinzipien sollten auch individuelles Handeln leiten. So muss beispielsweise ein Rechtssystem eine angemessene Bestrafung des Schuldigen garantieren, während ein Anwalt nicht eine Bestrafung seines schuldigen Mandanten, sondern dessen Verteidigung und womöglich Freispruch anstreben sollte.59 Ebenso sollten wir zur Gewährung eines funktionierenden Sicherheitssystems die Polizei in ihrer Arbeit unterstützen oder zumindest nicht behindern, während wir selber als Individuen nicht „Polizei spielen“ dürfen. Ausserdem lässt sich gegen eine Anwendung der Gerechtigkeitsprinzipien im Bereich der Individualmoral einwenden, dass unklar sein dürfte, was eine solche Anwendung überhaupt beinhalten würde. Prinzipien, die für die gerechte Ausgestaltung von Institutionen konzipiert sind, müssen sich nicht zwingend als Direktive individuellen Handelns eignen. Was würde beispielsweise das Differenzprinzip im Bereich der Individualmo-
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ral fordern? Würde es verlangen, dass die Individuen ihr gesamtes Tun inklusive Freizeitgestaltung und Familienplanung so einrichteten, dass die schlechtestgestellten Gesellschaftsmitglieder nicht schlechter gestellt würden als bei jeder Alternative? Oder beträfe das Differenzprinzip nur Entscheidungen hinsichtlich Berufswahl, Planung von Karriereschritten oder Spendenbereitschaft? Diese Fragen wären bereits in einem lokalen, geschweige denn in einem globalen Kontext völlig offen. Zweitens sei die Anwendung der Gerechtigkeitsprinzipien in einer dualistischen Position dem Sorites-Problem ausgesetzt. Die Anwendung von Gerechtigkeitsprinzipien von institutionellen Beziehungen abhängig zu machen, heisse, Gerechtigkeit als eine graduelle Angelegenheit zu verstehen, denn Beziehungen seien immer eine Angelegenheit von Graden.60 Dass je nach institutioneller Verstrickung mehr oder weniger Gerechtigkeit gefordert sei, findet beispielsweise Liam Murphy jedoch unplausibel: „We are to imagine that a remote community not yet involved in any external trade or otherwise affected by global institutions would make no claims of justice on us, but that as soon as we begin to trade with them, thus including them in the world economy, something like the difference principle would suddenly govern our relations – requiring the immediate establishment (or extension) of institutions of taxation and transfer.“61
Gerade Globalisten müssen jedoch keineswegs ein solches „Alles oder nichts-Prinzip“ vertreten und behaupten, dass es zwischen fehlenden Gerechtigkeitsprinzipien und dem voll ausgebildeten Differenzprinzip keine Zwischenstufen gebe. Es ist just die Rede vom „Dualismus“, die suggeriert, es gebe maximal zwei unterschiedliche Kontexte der Gerechtigkeit – individuelle Handlungen und die Ausgestaltung von Institutionen.62 Dabei können so genannte Dualisten durchaus die These vertreten – und, wie ich meine, sollten sie dies auch tun – dass je nach Formen der Kooperationen respektive je nach Grad und Form der Institutionalisierung dieser Verhältnisse unterschiedliche Kontexte der Gerechtigkeit vorliegen, in denen je andere Gerechtigkeitsprinzipien zur Anwendung kommen. Denn der globale Raum unterscheidet sich in normativ relevanter Weise von lokalen Räumen (etwa hinsichtlich des Bestehens von rechtlichen Institutionen, die soziale Gerechtigkeit legitimieren und organisieren), weshalb innerhalb dieser Räume
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nicht dieselben Gerechtigkeitsprinzipien greifen. Doch existiert aufgrund der mannigfachen, komplexen globalen Netzwerke und Abhängigkeitsverhältnisse durchaus ein globaler Gerechtigkeitskontext, der die Anwendung bestimmter Gerechtigkeitsprinzipien (etwa der Fairness) erforderlich macht. Drittens werfen Monisten den Dualisten vor, Dualisten könnten nicht alle Zustände der Ungerechtigkeit als solche identifizieren und entsprechend kritisieren, weil ihr Gerechtigkeitsverständnis defizitär sei. So könnten beispielsweise Personen, die abgeschieden und als Selbstversorger auf einer Insel lebten und deren Insel von einem Erdrutsch verwüstet werde, keine Gerechtigkeitsansprüche an andere Menschen stellen, wenn diese sich weigerten, ihnen Aufbauhilfe zuzugestehen. Dieser Einwand greift die dem Dualismus inhärente These an, „gerecht“ und „ungerecht“ seien Attribute von sozialen Institutionen, weshalb Zustände des Elends, die nicht Folge von ungerechten Institutionen sind, auch nicht als ungerecht bezeichnet werden könnten. Denn einem globalistischen Verständnis zufolge kann extreme Armut nur dann als ungerecht bezeichnet werden, wenn sie durch ungerechte Institutionen verursacht wird. Die reicheren Staaten für die allfällige Ungerechtigkeit verantwortlich zu machen, ist überdies nur gerechtfertigt, wenn das Design der entsprechenden Institutionen ebenfalls ihnen anzulasten ist. In letzterem Fall geht es jedoch nicht länger um distributive, denn um kommutative Gerechtigkeit und letztlich um Nichtschädigung. Die These, die globale Ordnung habe darüber hinaus schädigende Auswirkungen auf die Armutsbetroffenen, untersuche ich erst im nächsten Kapitel. Über die Schaffung und Einhaltung von kommutativen Gerechtigkeitsprinzipien und der Nichtschädigung der extrem Armen hinaus, scheint mir gegenwärtig jedoch kein Anlass für Umverteilung gegeben zu sein, weshalb extreme Armut nicht pauschal als ungerecht bezeichnet werden kann. Damit ist jedoch keinesfalls gesagt, dass das Vorhandensein extremer Armut nicht eine eindeutige moralische Reaktion erfordert, die mit entsprechenden Pflichten einhergeht.63 Eine solche eindeutige moralische Reaktion wäre beispielsweise die möglichst rasche Sicherung eines sozialen Minimums (Befriedigung der Grundbedürfnisse, Erfüllung der Menschenrechte, etc.)
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für alle Menschen. Allerdings handelt es sich dabei nicht um distributive Gerechtigkeit im engeren Sinne: Distributive Gerechtigkeit im engeren Sinne zeichnet sich nämlich im Wesentlichen durch ein relationales Moment aus, das auf Kooperationsverhältnissen beruht. Verteilungsgerechtigkeit strebt, wie Hinsch schreibt, einen Zustand an, indem „alle an einem wechselseitig vorteilhaften Kooperationssystem beteiligten Akteure am Ende genau denjenigen Anteil an den Erträgen der gemeinsamen Arbeit erhalten, der ihnen im Verhältnis zu den Anteilen aller anderen Beteiligten gerechterweise […] zusteht.“64 Zwar speist sich unsere moralische Empörung über die Armut in den Entwicklungsländern sicher zu guten Teilen auch daraus, dass es sehr vielen Menschen dort im Verhältnis zu uns so schlecht geht: Es scheint verwerflich zu sein, dass Menschen sich kein sauberes Trinkwasser leisten können und ihre Kinder deshalb an Durchfall sterben, während andere sich drei Mal täglich duschen und ihre Toiletten mit Trinkwasser spülen. Dieses Verhältnis bringt jedoch etwas Weiteres zum Ausdruck – und dies ist meines Erachtens das eigentlich moralisch Empörende – nämlich dass es Todesfälle wegen fehlenden oder verseuchten Trinkwassers nicht geben müsste, weil diese Notlage mit relativ geringen Mitteln zu beseitigen wäre. Dann jedoch ist das moralisch relevante Moment letztlich nicht das relationale, sondern das absolute: Die Tatsache, dass es Menschen dermassen schlecht geht, dass diese Not und dieses Elend jedoch beseitigt werden könnten.65 In diesem Fall ist also nicht distributive Gerechtigkeit im engeren Sinne gefordert, die jedem einen fairen Anteil der gemeinsam erwirtschafteten Früchte zuteilt, sondern die Befriedigung von Grundbedürfnissen, die Vermeidung schweren Leidens oder ähnliches. Dabei handelt es sich um distributive Gerechtigkeit im weiteren Sinne. Anstelle von relationalen Ansprüchen sind hier bedarfsbezogene, absolute Ansprüche im Blick. Bedarfsbezogene Ansprüche müssen nicht durch Kooperationsverhältnisse begründet werden. Vielmehr handelt es sich dabei um Ansprüche, die wir als Menschen haben; Ansprüche auf ein Minimum, das unser Überleben und minimales Wohlergehen sichert. Dieses Minimum wurde in unterschiedlichen Begriffen gefasst, beispielsweise als die Sicherung der menschlichen Grund-
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bedürfnisse66, als die Erfüllung von Grundrechten67, als die Ermöglichung menschlicher Fähigkeiten68 oder als ein Leben in Würde69. Gemeinsam ist diesen Konzeptionen von Wohlfahrtsminima, die wir allen Menschen schulden, dass ihnen natürliche Pflichten korrespondieren, die nicht auf sozialen Beziehungen oder institutionellen Kooperationen beruhen. Aus diesem Grunde sind sie über Landesgrenzen hinweg und unabhängig von der Frage, ob die entsprechenden Staaten respektive deren Bewohner als Kooperationspartner dereinst für uns attraktiv sein könnten, geschuldet.70 Genau dadurch unterscheiden sie sich von den Gerechtigkeitspflichten, wie wir sie bisher gefasst hatten: als Pflichten, die durch soziale Kooperation zustande kommen und nur innerhalb dieser eingefordert werden können. Es scheint mir also sinnvoll, zwischen distributiver Gerechtigkeit im engeren Sinne, der ich ein relationales Kriterium zugrunde lege, und distributiver Gerechtigkeit im weiteren Sinne, die auf einem bedarfsbezogenen absoluten Kriterium beruht, zu unterscheiden. Da sich die distributive Gerechtigkeit im weiteren Sinne an einem sozialen Minimum orientiert, unter das niemand fallen soll, schulden wir jenen, die über dieses Minimum verfügen, nichts Weiteres. (Selbstverständlich schulden wir ihnen, dass wir sie nicht ungerechtfertigt schädigen, aber sie haben keinen Anspruch auf eine weitere Umverteilung.) Anders bei der distributiven Gerechtigkeit im engeren Sinne: Selbst wenn jemand über sehr viel mehr verfügt als über das soziale Minimum, steht ihm aus Gerechtigkeitsgründen je nach Kooperationsverhältnissen, in denen er mit anderen steht, weitaus mehr zu. Mit Blick auf die Weltarmutsdebatte ist meines Erachtens distributive Gerechtigkeit im weiteren Sinne gefordert, also die Einhaltung von Mindeststandards.
3.3 Zwischen Gerechtigkeit und Moral Sollten wir die Erfüllung sozialer Minima überhaupt als eine Forderung distributiver Gerechtigkeit bezeichnen? Dafür spräche, dass es auch dabei um eine Verteilung von Ressourcen geht. Allerdings sind die Kriterien dafür, was als gerecht gilt, bei Massstäben, die
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auf Grundbedürfnissen oder Grundrechten beruhen, nicht dieselben wie bei Massstäben, die in der Idee eines gerechten Anteils der gemeinsam produzierten Güter fussen. Viele Globalisten und Etatisten bezeichnen die entsprechenden Gebote deshalb nicht als Gerechtigkeitspflichten, sondern als humanitäre Pflichten71, Hilfspflichten72 oder Beistandspflichten. Kosmopolitanisten betonen dagegen, die Vermögenderen hätten den extrem Armen gegenüber nicht nur Hilfsgebote, sondern auch Gerechtigkeitspflichten. Handelt es sich dabei um einen rein terminologischen Streit? Gemäss Kosmopolitanisten ist die Tatsache, dass Milliarden Menschen so kümmerliche Lebensaussichten haben, als ein Problem der Gerechtigkeit zu verstehen, auf das nicht mit karitativen Handlungen, sondern mit dem Einfordern von Gerechtigkeit reagiert werden muss. Indem wir bestimmte Pflichten in der Sprache von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit ausdrücken, erheben wir einen starken normativen Anspruch. Wir bedeuten damit, dass es keine Privatangelegenheit ist, dieser Pflicht nachzukommen, sondern eine öffentlich einforderbare Norm. Bemerkenswert ist vor allem, dass nicht nur alle Betroffenen, sondern auch dritte Parteien berechtigt oder sogar ihrerseits verpflichtet sind, sie mittels angemessener Sanktionen durchzusetzen. Denn wenn jemand ungerecht handelt, schädigt er nicht nur das Opfer, sondern zugleich die zugrunde liegende Norm und damit das gesamtgesellschaftliche Interesse, dass diese Norm unbedingt gelten soll. Ungerechtigkeit zu bestrafen und Gerechtigkeit wiederherzustellen ist deshalb nicht allein Aufgabe unmittelbar Beteiligter, sondern eine Pflicht der Gesellschaft. Dieses Verständnis von Gerechtigkeitspflichten vertritt etwa Jan Narveson: „By justice I here intend those things which we may, if necessary, be forced to do – where our actions can be constrained by others in order to ensure our performance.“73 Gerechtigkeitspflichten sind diesem Verständnis zufolge deckungsgleich mit den kantischen Rechtspflichten.74 Rechtspflichten umfassen all das, was wir einander schulden, weil das Gegenüber ein moralisches Recht auf das entsprechende Gut hat. Die Verletzung von Gerechtigkeitspflichten kann und soll deshalb mit moralischen Sanktionen belegt werden.75 Dieses Verständnis der Gerechtigkeitspflichten als Rechtspflichten findet sich auch bei John Stuart
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Mill: Gerechtigkeit bedeute nicht nur, „was recht wäre, zu tun, und unrecht wäre, nicht zu tun, sondern was jemand uns gegenüber als sein moralisches Recht geltend machen kann.“76 Ungerecht ist demnach, andere Personen zu schädigen, etwa sie ihres Eigentums zu berauben, Wort zu brechen oder Erwartungen zu enttäuschen, die wir geweckt haben.77 Pflichten der Gerechtigkeit umfassen demnach bei Mill – ähnlich wie bei Narveson – all das, was wir voneinander verlangen und erzwingen dürfen. Wer nicht im Einklang mit diesen Erfordernissen handelt, tut Unrecht und soll, so Mill, dafür in irgendeiner Weise auch bestraft werden, „wenn nicht durch das Gesetz, so doch durch das Urteil seiner Mitmenschen, und wenn nicht durch dies, so doch durch die Vorhaltungen seines eigenen Gewissens.“78 Die ausschlaggebende Frage scheint an dieser Stelle also, ob es sich bei der erwähnten Pflicht, dafür zu sorgen, dass alle Menschen zumindest über der Schwelle eines bestimmten sozialen Minimums leben können, um eine Rechtspflicht handelt oder nicht. Sollen wir diese Pflicht als rechtebasiert und infolgedessen als einklagbar verstehen – oder als eine Tugendpflicht, auf deren Erfüllung niemand einen Anspruch hat? Dies scheint mir die eigentliche Streitfrage zu sein, wenn es darum geht auszuloten, ob die Erfüllung sozialer Minima als „Hilfspflicht“ respektive als „humanitäre Pflicht“ oder als „Gerechtigkeitspflicht“ verstanden werden sollte. Die eigentliche Unstimmigkeit zwischen jenen, die meinen, es gehe um Gerechtigkeit, und jenen, die sagen, es gehe um Hilfe oder Menschlichkeit, ist, wie wir die entsprechenden Gebote begründen: Liegt ihnen ein Recht auf Seiten des Opfers zugrunde, und handelt es sich infolgedessen bei den Hilfspflichten um Rechtspflichten? Oder basieren sie auf der Not der Menschen, die uns, die wir diese Not beseitigen könnten, zur Hilfe auffordert, handelt es sich also um Hilfspflichten als Tugendpflichten? Tugendpflichten unterscheiden sich von den Rechtspflichten vor allem hinsichtlich ihrer Einforderbarkeit. Mill zufolge hat niemand einen Rechtsanspruch auf unsere „Grossmut und unsere Wohltätigkeit“, denn wir seien nicht moralisch verpflichtet, „diese Tugenden jedem Individuum gegenüber zu üben.“79 So auch bei Kant, der die Tugendpflichten als „unvollkommen“ in der Hin-
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sicht bezeichnet, dass ihnen keine Rechte korrelieren, dass sie also niemand Konkretem geschuldet sind. Die Erfüllung der Tugendpflichten ist bei Kant jedoch keineswegs, wie Narveson suggeriert, freiwillig oder heldenhaft. Narvesons Dichotomie zwischen den Gerechtigkeitspflichten, deren Erfüllung erzwingbar ist, und den barmherzigen Handlungen, die freiwillig sind, entspricht nicht der Kant’schen und Mill’schen Unterscheidung. Der Umstand, dass Tugendpflichten nicht erzwingbar sind, hat bei Kant lediglich mit unserer beschränkten Möglichkeit zu tun, allen zu helfen, die Hilfe benötigen. Die Pflichten sind deshalb nicht erzwingbar; sehr wohl wird aber hinsichtlich deren Erfüllung an das individuelle moralische Verantwortungsgefühl appelliert. Ich komme auf diesen Punkt in Kapitel 5 ausführlich zu sprechen. An dieser Stelle reicht es festzuhalten, dass die Erfüllung der Hilfsgebote nicht freiwillig ist. So schreibt auch Brian Barry: „The fact that the obligation is not derived from justice does not make it a matter of generosity, nor does it entail that it should be left to voluntary action to adhere to it.“80 Wie auch immer wir die Pflichten fundieren – mit oder ohne Rechte – sollten wir Hilfspflichten meines Erachtens nicht als Gerechtigkeitspflichten bezeichnen. Der Bereich ungerechter Institutionen, den zu verändern wir verpflichtet sind, sollte vom Bereich dessen, was wir einander als Menschen schulden, getrennt werden. Denn die Gleichsetzung der Gerechtigkeitspflichten mit den Rechtspflichten führt meines Erachtens nicht nur zu einer Vermischung zweier unterschiedlicher Pflichttypen (natürliche Pflichten, die wir als Menschen haben, und spezielle Pflichten, die wir aufgrund unserer sozialen Rolle, etwa durch unsere Beteiligung an kooperativen Unternehmen haben), sondern bringt ein weiteres Problem mit sich: Wenn Gerechtigkeitspflichten und Rechtspflichten identisch sind, ist die Pflicht, niemanden umzubringen, nicht nur eine Rechtspflicht, sondern auch eine Gerechtigkeitspflicht. Anders gesagt, vertritt man ein sehr weites (und wie ich meine: ein allzu weites) Konzept von Gerechtigkeit, wenn man sämtliche Nichtschädigungsgebote darunter subsumiert. Armut selbst dann als Gerechtigkeitsproblem zu bezeichnen, wenn die Personen, die unter Armut leiden, in keiner Art und Weise von Folgen unseres Handelns (auch in Form der Schaffung und Unterstützung ungerechter Institutionen) be-
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troffen sind, würde meines Erachtens bedeuten, einen allzu weiten Begriff von Gerechtigkeit zu verwenden, der all das abdeckt, was Menschen einander schulden. Die Pflichten, die uns zukommen, weil wir an einem ungerechten System partizipieren, das bestimmte Bevölkerungsgruppen nachweislich diskriminiert, sind nicht nur ihrem Inhalt sondern auch ihrer Rechtfertigung nach andere als die Pflichten, die wir Menschen gegenüber haben, die wir per Zufall auf einer einsamen Insel entdecken und die unfreiwillig in grosser Not leben.81 Ungleichheit und Not implizieren nämlich für sich genommen keine Gerechtigkeitspflichten. Denn als ungerecht habe ich ausschliesslich Zustände bestimmt, die als Folge ungerechter Institutionen, die beispielsweise bestimmte Bevölkerungsgruppen diskriminieren, auftreten. Zustände der Not, die nicht institutionell bedingt sind, gelten demnach nicht als ungerecht. Wenn wir die Not leidenden Menschen auf der Insel untätig ihrem Schicksal überlassen und die Insel schnellstmöglich verlassen, würden wir eine Hilfspflicht verletzen, nicht jedoch eine Gerechtigkeitspflicht. Der Grund dafür liegt darin, dass wir mit den Insulanern keine Institutionen teilen, die entweder distributive Gerechtigkeit fordern oder die ihr Elend verursachen oder aufrechterhalten. Für eine Rechtfertigung von Gerechtigkeitspflichten reicht es nicht aus, auf massive, jedoch vermeidbare Ungleichheit zwischen Arm und Reich hinzuweisen, sondern es muss gezeigt werden, dass diese Ungleichheit innerhalb von weit reichenden Institutionen zustande kommt, weshalb ein Anspruch der Insulaner auf die Früchte dieser Kooperation besteht. Extreme Not verpflichtet meines Erachtens jedoch alle, die dazu in der Lage sind, Hilfe zu leisten. Auf die Begründung dieser Hilfspflichten gehe ich in Kapitel 5 ausführlich ein.
3.4 Bürgerpflichten Wer behauptet, Existenz und Ausmass der extremen Armut seien ungerecht, kann, wie deutlich geworden sein dürfte, drei verschiedene Dinge im Blick haben: Erstens kann damit gemeint sein, dass die extreme Armut auf ungerechten Tauschbeziehungen und Welthandelsregeln beruht,
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also die Folge kommutativer Ungerechtigkeit ist. Diese These habe ich an dieser Stelle nicht hinreichend ausarbeiten können. Eine Aussage darüber, was globale kommutative Gerechtigkeit beinhaltet und fordert, bedürfte einer detaillierten Auseinandersetzung mit Theorien des fairen Handels und des gerechten Preises, die ich hier nicht in der der Frage angemessenen Breite leisten kann. Dies ist aber mit Blick auf die Frage nach der individuellen Verantwortung angesichts extremer Armut auch nicht nötig. Festhalten müssen wir an dieser Stelle lediglich, dass der faire Handel prozeduralen Kriterien genügen muss: Globale Handels- und Kaufbeziehungen müssen etwa ohne Druck zustande kommen, und alle am Tauschhandel beteiligten Parteien sollten über das Gut, das getauscht wird, wie über das Tauschverhältnis selbst hinreichend informiert sein. Um diesen prozeduralen Kriterien nachzukommen, müssen vorgelagert offenbar gewisse substantielle Kriterien erfüllt sein, wie dass alle Vertragspartner über ausreichend materielle Ressourcen verfügen, um nicht vom Wohlwollen des Gegenübers abhängig zu sein und um sich die entsprechende Expertise beschaffen zu können, die notwendig ist, um einen wohlüberlegten Entscheid überhaupt erst treffen zu können. Die Realisation der substantiellen Kriterien ist dabei den prozeduralen Kriterien vorgelagert: Ein Abkommen kann nicht prozedural gerecht sein, wenn die Vertragspartner ihre Verhandlungsmacht aufgrund materieller Defizite nicht zu gleichen Teilen und gleichermassen wohl informiert einbringen können. Wenn also Industrieländer mit Entwicklungsländern Handelsabkommen und Kaufverträge (beispielsweise hinsichtlich Wasserquellen oder Bodenschätze) abschliessen, haben sie gemeinsam mit den Entwicklungsländern dafür zu sorgen, dass diese Verträge den Kriterien kommutativer Gerechtigkeit Genüge tun (wobei diese Kriterien eben einer umfassenden Bestimmung bedürften, die an dieser Stelle nicht geleistet werden kann). Die Bürgerinnen und Bürger eines demokratisch regierten Industriestaates haben dabei die Entscheide ihrer Regierungsvertreter zumindest bis zu einem gewissen Grad mitzuverantworten. Mit Blick auf die Frage, welche Pflichten den Bewohnerinnen und Bewohnern der vermögenderen Länder angesichts der Weltarmut zukommen, ergibt sich deshalb im Rahmen des erwähnten Pflichtenpluralismus ein erster Typus von Geboten, die ich Bürgerpflichten nenne. Diese Pflichten kommen
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ihnen qua Bürgerinnen und Bürger eines demokratisch regierten Landes zu, weil sie dank ihrer politischen Mitspracherechte dessen Politik und eben auch dessen Positionen und Vorgehen bezüglich Welthandel und internationalen Abkommen mitzugestalten in der Lage sind. Die Bürgerpflicht verlangt deshalb von den Bewohnerinnen und Bewohnern der Industriestaaten, ihre diesbezügliche Verantwortung wahrzunehmen und Regierungsvertreterinnen und -vertreter zu wählen, die mit Blick auf die Situation der extrem Armen und dem Handel mit ihnen entsprechende Sorgfalt walten lassen. Längst nicht alle Industriestaaten kommen ihrer Verantwortung, sich an die Prinzipien kommutativer Gerechtigkeit zu halten, jedoch nach. Die These eines ungerechten Welthandels wurde jüngst denn auch weniger als eine Aussage über kommutativ ungerechte Tauschbeziehungen, denn als Schädigungsthese konzipiert: Demnach ist extreme Armut ungerecht, weil sie auf einer massiven Schädigung der Ärmeren durch das Verhalten der Reicheren beruht. Bei dieser These handelt es sich um die zweite Interpretation der Aussage, Weltarmut sei ungerecht. Genuine Schädigungen als „ungerecht“ zu bezeichnen, scheint mir aber weniger der Klärung zu dienen, was es heissen könnte, Weltarmut als Ungerechtigkeit zu verstehen, denn hinsichtlich dieser Frage Verwirrung zu stiften. Ich habe deshalb vorgeschlagen, die Ungerechtigkeitsthese von der Unrechtsthese zu trennen und die beiden Ideen getrennt abzuhandeln. Auf die Unrechts- oder Schädigungsthese gehe ich in Kapitel 4 ausführlich ein. Drittens wurde behauptet, extreme Armut sei ungerecht, weil es sich dabei um eine Folge globaler distributiver Ungerechtigkeit handle. Dabei habe ich als erstes zu klären versucht, ob es überhaupt so etwas wie einen globalen Kontext der Verteilungsgerechtigkeit gibt. Dazu habe ich zwischen Gerechtigkeit im engeren und im weiteren Sinne unterschieden. Während Gerechtigkeit im engeren Sinne relationale Standards im Blick hat, also danach fragt, was für jedes Mitglied einer Gesellschaft der gerechte Anteil der Früchte gemeinsamer Anstrengungen wäre, geht Gerechtigkeit im weiteren Sinne von absoluten Standards wie der Sicherung der Grundbedürfnisse oder der Erfüllung basaler Menschenrechte aus. Globale
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distributive Gerechtigkeit im engeren Sinne scheint mir unter den gegenwärtigen realpolitischen Bedingungen weder gefordert, noch umsetzbar. Für die anspruchsvollen und umfangreichen Gerechtigkeitsprinzipien, die innerstaatlich zur Anwendung kommen, gibt es momentan keinen globalen Anwendungsbereich. Hingegen meine ich, dass die wohlhabenderen Länder die Pflicht haben, auch den extrem Armen ein Leben zu ermöglichen, in dem zumindest ihre Grundbedürfnisse gedeckt sind. Anders gesagt ist es somit Pflicht, globale distributive Gerechtigkeit im weiteren Sinne herzustellen. Diese Aufforderung habe ich als eine Hilfspflicht bezeichnet, um sie von den Gerechtigkeitspflichten abzugrenzen, welche die Erfüllung relationaler Standards zum Gegenstand haben. Der Begründung dieser Hilfspflichten widmet sich Kapitel 5. Man mag an der These, Weltarmut sei nur zum Teil ein Problem der Gerechtigkeit – nämlich dort, wo sie das Resultat unfairer Tauschbeziehungen ist – zweierlei problematisch finden: Erstens leiten einige aus der These, Weltarmut sei nicht ungerecht, ab, Weltarmut sei gerecht. Dieser Umkehrschluss ist jedoch keinesfalls zulässig. Die These, Weltarmut sei nicht (oder nur zum Teil) ungerecht, meint an dieser Stelle lediglich, dass sie kein (oder nur zum Teil ein) Gegenstand der Gerechtigkeit im engeren Sinne ist. Zweitens wurde immer wieder betont, die Rede von Hilfsstatt Gerechtigkeitspflichten impliziere, dass extreme Armut zu beseitigen freiwillig und deshalb besonders gütig und heldenhaft sei. In diesem Sinne ist von zahlreichen Hilfswerken wiederholt „justice, not charity“82 gefordert worden – also Massnahmen, die nicht als Barmherzigkeit, sondern als Akte der Gerechtigkeit zu verstehen sind. Ich meine jedoch, dass die Erfüllung natürlicher Hilfspflichten keineswegs freiwillig ist und werde auf diese These in Kapitel 5 zurückkommen. Dennoch sollten wir meines Erachtens diese Hilfspflichten aus den oben genannten Gründen nicht als Gerechtigkeitspflichten bezeichnen. Wie die Rede von Rechten über rhetorische Kraft verfügt, tut dies auch die Rede von Gerechtigkeit. Doch rhetorische Kraft macht noch kein philosophisches Argument.
We are familiar, through charity appeals, with the assertion that it lies in our hands to save the lives of many or, by doing nothing, to let these people die. We are less familiar with the assertion examined here of a weightier responsibility: that most of us do not merely let people starve but also participate in starving them. Thomas Pogge 1
4 Nichtschädigung auf Distanz Die These, Weltarmut sei eine Frage der Ungerechtigkeit, wird nicht nur als These hinsichtlich distributiver Aspekte verstanden, wie sie im letzten Kapitel diskutiert worden ist, sondern auch als Schädigungsthese. Ihr zufolge handelt es sich bei der Weltarmut um ein Unrecht, das die Reicheren den Ärmeren zugefügt haben und laufend zufügen, weshalb ihnen entsprechende Unterlassungspflichten und korrektive Pflichten zukommen. Ich habe oben dafür plädiert, in diesem Zusammenhang nicht von einer These der „Ungerechtigkeit“ zu sprechen, sondern von einer „Schädigungsthese“, um die beiden Ideen „Verteilungsgerechtigkeit“ und „Schädigung“ klar voneinander zu trennen. In jüngster Zeit ist diese Schädigungsthese vor allem als institutionelle These vertreten worden: Die Reichen schädigen die Notleidenden nicht in erster Linie durch individuelle Handlungen (interaktionale Schädigung), sondern vor allem durch eine globale Ordnung, deren Regeln die Wohlhabenden bestimmen und den ärmeren Ländern aufzwingen (institutionelle Schädigung). Da diese Schädigungsthese gegenwärtig vor allem von Thomas Pogge vertreten wird, konzentriere ich mich im Folgenden vornehmlich auf eine Diskussion seiner Vorschläge.2 Als Beispiele für Elemente der genannten Ordnung werden die Welthandelsorganisation (WTO) und der Internationale Währungsfonds (IMF) (respektive deren Verträge und Konventionen über Handel, Investitionen, Kredite, Patente, Copyrights, Markenrechte etc.) oder die so genannten Kredit- und Ressourcenprivilegien genannt, die gemäss Pogge dazu führen, dass die Entwicklungs-
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länder aus der Armut nicht herausfinden: Besser- wie Schlechtergestellte koexistierten unter einem System sozialer Institutionen, und zwar so, dass „das alltägliche Verhalten der ersteren sich stark und nachhaltig auf die Lebensumstände der letzteren auswirkt […].“3 Bei dieser institutionellen Schädigung handle es sich deshalb um ein monumentales Verbrechen, so Pogge. Um diese „Verbrechensthese“ zu belegen, zieht Pogge drastische Vergleiche: Jeden siebten Monat stürben gleich viele Menschen an den Folgen der Armut, wie in den Nazilagern umgekommen seien;4 die gegenwärtige Weltordnung ähnle Mao Tse Tungs Politik des „Großen Sprunges nach vorn“, als in den Jahren 1959-1962 bis zu 30 Millionen Menschen an den Folgen der Armut starben;5 und die Auswirkungen unserer globalen Institutionen seien nicht besser als die Verhältnisse unter Hitler oder Stalin: „Adolf Hitler and Joseph Stalin were vastly more evil than our political leaders, but in terms of killing and harming people they never came anywhere near causing 18 million deaths per year.“6
Aufgrund der behaupteten Beteiligung an diesem Verbrechen kommt uns gemäss Pogge die negative Verantwortung zu, diese Ordnung zu beseitigen und die Opfer zu kompensieren. Eine Beteiligung könne uns aufgrund dreier Umstände zugeschrieben werden, nämlich insofern extreme Armut „(1) eine Auswirkung gemeinsamer Institutionen ist, (2) die nicht kompensierte Ausschliessung vom Niessbrauch natürlicher Rohstoffe involviert, bzw. (3) die Folge einer gemeinsamen und blutigen Geschichte ist.“7 Im Folgenden konzentriere ich mich auf eine Diskussion von These 1, die in jüngster Zeit am meisten Beachtung fand. Die Thesen 2 und 3 beruhen auf strittigen normativen Hintergrundannahmen, die einer eigenen Erörterung bedürften. Bei These 2 ist dies die Frage nach den Eigentumsrechten an den natürlichen Ressourcen,8 bei These 3 jene nach der Definition von historischem Unrecht, respektive nach den aus diesem Unrecht resultierenden Pflichten.9 Die Behauptung, dass die Weltarmut Folge einer schädigenden globalen Ordnung ist, für welche die reicheren Länder verantwortlich zeichnen, hat – gesetzt den Fall, sie ist empirisch zutreffend – massive Konsequenzen für die Frage nach unseren Pflichten: Kaum ein moralisches Prinzip ist in seiner prima facie-Geltung so
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unumstritten wie das Nichtschädigungsprinzip: Andere ungerechtfertigterweise schädigen dürfen wir keiner Moraltheorie zufolge. Selbst Libertäre müssten dann zugestehen, dass wir in der Pflicht stehen, die Armut zu lindern. Pogge hat seine Schädigungsthese deshalb „ökumenisch“ genannt.10 Um seine These zu verteidigen, muss Pogge allerdings kontroverse empirische Thesen (im Folgenden „Schädigungsthese“) hinsichtlich der Natur und der Effekte der gegenwärtigen globalen Ordnung vertreten (4.1). Weiter muss Pogge auf der normativen Ebene nachweisen, dass uns die schädigenden Auswirkungen dieser Ordnung angelastet werden können (im Folgenden „Verbrechensthese“). Abgesehen von der Frage, ob Armut auf einer Schädigung beruht, stellt sich nämlich weiter die Frage nach der moralischen Bewertung der behaupteten Schädigung und nach der Verantwortung für diese. Die Schwierigkeit besteht unter anderem darin, dass die behauptete Schädigung durch komplexe Kausalketten zustande kommt, was eine Verantwortungszuschreibung äusserst schwierig macht – insbesondere dann, wenn wir nach den konkreten Pflichten des Individuums fragen. Ich werde argumentieren, dass unsere Pflichten aufgrund der behaupteten Verstrickung ins Unrecht am besten als Sorgfaltspflichten konzeptionalisiert werden sollten, deren Reichweite von unserem Informationsstand abhängt. Dem Individuum kommen in diesem Konzept (anders als Pogge meint) nur teilweise Pflichten zu, die auf seiner Verstrickung ins Unrecht beruhen (4.2). Meines Erachtens stehen wir jedoch nicht nur aufgrund unserer kausalen Verstrickung ins Unrecht, sondern auch aufgrund des Profits, den wir nolens volens aus ihm ziehen, in einer besonderen Pflicht, Massnahmen gegen die existierende Not zu ergreifen (4.3). Obwohl ich also Pogges These teile, dass uns aufgrund unserer Verstrickung in schädigende Institutionen teilweise korrektive Pflichten zukommen und zweitens über Pogge hinausgehend zeigen möchte, dass wir aufgrund unseres Profitierens von Unrecht überdies restitutive Pflichten haben, halte ich weder die Schädigungs-, noch die Verbrechensthese in ihrer Bedeutung, wie sie Pogge präsentiert, für korrekt. Ich bin der Überzeugung, dass eine Reform der Weltordnung weder absolute Armut beseitigt, noch dass uns aufgrund unserer Trägheit angesichts der Weltarmut ein „gigantisches Verbrechen gegen die Menschlichkeit“11 angelastet werden kann. Daraus zu
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schliessen, dass auf den Nachweis unserer Verstrickung ins Unrecht im Zusammenhang mit der Weltarmutsdebatte verzichtet werden könne, wäre aber ebenso wenig adäquat: Es macht moralisch gesehen durchaus einen Unterschied, ob wir unsere Verantwortung als Erfüllung eines Hilfsgebots betrachten oder zumindest einen Teil davon als geschuldet ansehen aufgrund eines Unrechts, in das wir involviert sind (4.4).
4.1 Die Schädigungsthese Pogge wendet sich mit seiner Schädigungsthese gegen eine Position, die er selber als „Erklärungsnationalismus“ (explanatory nationalism; im Folgenden EN) bezeichnet. Darunter versteht er die Ansicht, absolute Armut sei (nahezu) vollständig durch lokale (nationale wie regionale) Faktoren zu erklären.12 Laut Pogge resultiert aus EN die kritikwürdige, weil falsche Auffassung, die Bewohnerinnen und Bewohner der wohlhabenden Nationen seien für die Behebung extremer Armut nicht verantwortlich, weil sie diese Armut nicht verursacht haben. Es steht somit mit EN zweierlei auf dem Spiel: Erstens eine These hinsichtlich der faktischen Verursachung extremer Armut (die „Schädigungsthese“); zweitens eine These hinsichtlich der Beseitigungspflicht extremer Armut, die in Zusammenhang mit der „Verbrechensthese“ steht. Die zweite These kann direkt zurückgewiesen werden: Aus EN folgt nicht, dass die Bewohnerinnen und Bewohner wohlhabender Länder sich nicht um die Beseitigung extremer Armut zu kümmern haben. Pogge scheint zu unterstellen, dass die Vertreterinnen und Vertreter von EN notwendig Anhänger einer bestimmten Variante des moralischen Verursacherprinzips sind, also meinen, dass Armut, solange sie auf lokalen Faktoren beruht, durch die Bevölkerung vor Ort zu bewältigen ist, wohingegen die fern Stehenden in diesem Fall den Opfern der Weltarmut gegenüber keinerlei Pflichten hätten. Doch auf diese Ansicht sind Vertreter von EN keineswegs festgelegt (auch wenn einige sie zugegebenermassen teilen13), im Gegenteil: John Rawls, der von vielen als Advokat von EN zitiert wird, ist etwa der Ansicht, wir seien gleichwohl, also trotz der
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lokalen Verursachung, auch als Externe für die Beseitigung zumindest eines Teils extremer Armut und für die Sicherung basaler Menschenrechte verantwortlich, auch wenn er damit eine positive Verantwortung im Blick hat.14 Pogge moniert, dass es sich hierbei um eine (zu) schwache Form von Verpflichtung handle, die uns als potentielle Helfer anspreche, was einem gravierenden moralischen Fehler gleichkäme.15 Doch dieser Fehler ist nur dann gravierend, wenn man Hilfspflichten so schwach versteht, wie Pogge dies tut, und sie in die Nähe des tugendhaften, jedoch freiwilligen Engagements rückt. Das muss man aber nicht tun. Vielmehr scheint mir die Geltung der „Verbrechensthese“ keine notwendige Bedingung dafür darzustellen, dass es starke Pflichten seitens Externer gibt. Auf diesen Punkt komme ich in Kapitel 5 zurück. Wenden wir uns also der Schädigungsthese zu, die besagt, dass extreme Armut auf innerstaatliche Faktoren zurückzuführen sei wie beispielsweise auf schlechte politische Führung und korrupte Institutionen, die das Wirtschaftswachstum bremsen oder zumindest nicht ankurbelten.16 Änderungen in der Gestaltung der globalen institutionellen Ordnung hätten deshalb keine signifikante Auswirkung auf die Entwicklung eines Landes, weil die Entwicklung zumindest zu einem Grossteil von den politischen Institutionen des betroffenen Staates abhängt. Extreme Armut ist beispielsweise Rawls zufolge in den meisten Fällen auf den „Charakter der religiösen und geistigen Traditionen, die den Institutionen zugrunde liegen“17 zurückzuführen, die sich in Unterdrückungsregimes und korrupten Eliten manifestierten. Dagegen sei der Wohlstand eines Landes in dessen „religiösen, philosophischen und moralischen Traditionen, welche die Grundstruktur seiner politischen und sozialen Institutionen stützen, als auch im Fleiss und in der Kooperationsfähigkeit seiner Mitglieder“ sowie in seiner „Bevölkerungspolitik“ begründet.18 Rawls schliesst deshalb, dass es keine Gesellschaft auf dieser Welt gebe – mit Ausnahme der Eskimos vielleicht19 – die über so magere Ressourcen verfüge, dass sie nicht, „wenn sie in vernünftiger oder rationaler Weise organisiert und regiert würde“, wohlgeordnet und schlussendlich frei von extremer Armut werden könnte.20
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Mit diesen Aussagen geht Rawls sicher zu weit. Abgesehen davon, dass eine Eindämmung des Bevölkerungswachstums in aller Regel eine Folge von Entwicklung ist und nicht ein Mittel zu dieser, ist es sicherlich auch unangemessen zu behaupten, jedes noch so arme Land könne sich industrialisieren, wenn es nur wolle. Doch der Kern von Rawls’ Aussage spiegelt einen EN, wie er von vielen vertreten wird und wie er durchaus ernst zu nehmen ist: Armut ist in erster Linie „hausgemacht“ und beruht zu einem grossen Teil auf schwachen oder korrupten Institutionen in den betroffenen Ländern. „Hausgemacht“ klingt allerdings, auch wenn Rawls selbst das keineswegs impliziert, schnell nach „selbstverschuldet“ und ist deshalb eine ethisch brisante Bezeichnung. Brisant ist insbesondere die Annahme, dass jenen, die ihr Elend selbst verschuldet haben, nicht geholfen werden müsse. Doch erstens versteht sich diese Annahme keinesfalls von selbst, sondern bedarf der Begründung, da wir uns zumindest im Nahbereich unter Umständen sehr wohl zur Hilfe verpflichtet sehen, wenn jemand selbstverschuldet in Not gerät – denken wir etwa an die Bergung fahrlässiger Alpinisten, die in eine Lawine geraten.21 Zweitens sind gewöhnlich jene, die in extremer Armut leben, nicht identisch mit den Machthabern in den Entwicklungsländern, die es in der Hand hätten, die Zustände zu ändern. Selbstverschuldung einer Nation als Ganzer zuzuschreiben, ist den Notleidenden gegenüber unfair. Und drittens kann „hausgemacht“ nicht meinen, dass die Verantwortung für das Elend allein bei der lokalen Bevölkerung liegt, denn geographische Faktoren sind für das Aufkommen und Fortbestehen extremer Armut erwiesenermassen von eminenter Bedeutung. Insbesondere die Tropenlage und damit verbundene Tropenkrankheiten sowie die Binnenlage vieler armer Länder stellen entscheidende Entwicklungshemmnisse dar.22 Dieser letzte Aspekt ist allerdings weniger eine Herausforderung für die Anhänger von EN, die geographische Umstände durchaus unter die lokalen Kausalfaktoren subsumieren können, als für Pogge, der die These vertritt, extreme Armut würde nicht auftreten, wenn die institutionelle Ordnung gerecht gestaltet wäre. Gleichwohl gesteht er zu, dass lokale Faktoren die Situation der Entwicklungsländer auch negativ beeinflussen können. Eine
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gerechte Weltordnung, so Pogge, würde diese geographischen Nachteile zwar nicht beseitigen, aber sie würde die entsprechenden Staaten in eine Situation bringen, in der sie die erwähnten Probleme aus eigener Kraft bewältigen könnten und nicht länger auf externe Hilfe angewiesen wären. Vertreter von EN sind hinsichtlich einer solchen Annahme skeptisch: Eine entsprechende Reform würde als alleinige Massnahme ihrer Meinung nach wenig ausrichten, denn selbst wenn zusätzliche Mittel in die Kassen der armen Länder flössen, verschwänden diese letztlich nur in den Taschen der lokalen Machthaber.23 Als Beleg für ihre Skepsis führen sie den Umstand an, dass grosse Summen an Spendengeldern, die zum Aufbau der ärmsten Länder bestimmt waren, ohne Resultat versickert sind. So wurden z.B. in den letzten Dekaden 300 Milliarden Dollar in Afrika investiert, was gleichwohl nichts daran geändert hat, dass die Zahl der in grosser Armut lebenden Afrikanerinnen und Afrikaner im entsprechenden Zeitraum nicht ab-, sondern vielmehr zugenommen hat.24 Die Gründe für diese mageren Resultate der Entwicklungshilfe liegen dem EN zufolge in der Korruption und Misswirtschaft vieler Entwicklungsländer. Dass ein Grossteil der Entwicklungshilfe aufgrund lokaler Faktoren wie eben Korruption, mangelnde Rechtsdurchsetzung, ungesicherte Eigentumsrechte, fehlende Steuererhebung und Kapitalflucht ineffektiv geblieben ist, bestätigen auch Entwicklungsökonomen und Vertreter von NGOs.25 Dass lokal-kulturelle Faktoren hinsichtlich der Entwicklung eines Landes eine grosse Rolle spielen, versuchen Anhänger von EN auch damit zu belegen, dass es einigen extrem armen Ländern unter der gegenwärtigen Ordnung durchaus gelungen sei, beträchtliche Wachstumsraten vorzuweisen. Chinas Entwicklung der letzten Jahre ist beispielsweise nicht auf Entwicklungshilfe zurückzuführen, ebenso wenig der Aufschwung der asiatischen Tigerstaaten Südkorea, Singapur, Taiwan und Hongkong.26 Auch Botswana, das es fertig brachte, die Gewinne aus dem Diamantenhandel erfolgreich in die Infrastruktur des Landes und in Bildung und Gesundheitsversorgung der Bevölkerung zu investieren, kann eine beachtliche Wohlfahrtssteigerung vorweisen: Sein Bruttosozialprodukt war 2004 36-mal höher als dasjenige der Demokratischen Republik
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Kongo. Viele andere Länder, die ebenfalls reich an Bodenschätzen sind – etwa die Demokratische Republik Kongo, Nigeria, Angola oder die Republik Kongo-Brazzaville – haben nichts Vergleichbares erreicht, obwohl sie alle unter derselben globalen Ordnung wirtschaften müssen. Die Unterschiede hinsichtlich der Eindämmung extremer Armut in den verschiedenen Entwicklungsländern müssten deshalb durch lokale Faktoren erklärt werden. Pogge unterstellt Argumentationen dieser Art jedoch einen Fehlschluss: Wenn die Schülerinnen und Schüler einer Klasse während eines Jahres unterschiedlich gute Fortschritte machen, sei es voreilig zu behaupten, diese Differenzen liessen sich vollständig durch das unterschiedliche Talent der Kinder erklären.27 Vielmehr hätten der Unterrichtsstil, das didaktische Geschick des Lehrers, die Zusammensetzung der Klasse etc. auch einen Einfluss auf die Lernfortschritte der einzelnen Schülerinnen und Schüler. Pogges Beispiel lässt sich weiterspinnen: Diskriminiert der Lehrer etwa die Mädchen, werden die Mädchen schlechter abschneiden als die Jungen, obwohl die Jungen unter demselben (Mädchen diskriminierenden) Unterrichtsstil ausgebildet wurden. In vergleichbarer Weise können sich, so Pogge, globale Faktoren unterschiedlich auf die nationalen Gegebenheiten auswirken und diese prägen. Dass nicht alle Länder sich unter derselben Ordnung gleich entwickelt haben, schliesst demnach weder aus, dass lokale Faktoren durch globale geprägt werden, noch dass globale Faktoren direkt die Armut eines Landes bedingen können. (Die Mädchen, die massiv diskriminiert werden, können noch so intelligent sein – ihre Intelligenz nützt ihnen bei diesem Lehrer sozusagen nichts.28) Pogge gesteht also durchaus zu, dass lokale Faktoren in der Erklärung von Armut auch eine Rolle spielen, doch hinreichend erklären lasse sie sich nur unter Verweis auf die schädliche Weltordnung. Diese Idee veranschaulicht er an seinem „Flussbeispiel“: Die lokalen und globalen Faktoren, die zusammen genommen die extreme Armut bewirken und aufrechterhalten, seien mit umweltschädlichen Stoffen zu vergleichen, die zwei Stämme, die flussaufwärts angesiedelt sind, in einen Fluss abgeben, von dem das Überleben des Stammes flussabwärts abhängt. Jeder dieser Stoffe habe für sich genommen eine nur leicht schädliche Auswirkung;
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die Mischung der Abwässer hingegen ergäbe ein tödliches Gift, das viele Menschen flussabwärts das Leben koste.29 Es reicht deshalb gemäss Pogge nicht, das Abwasser des einen Stammes (die lokalen Faktoren) zu stoppen, denn die Vergiftung (oder die extreme Armut) käme erst dann zustande, wenn das Abwasser des anderen Stammes (die globale Ordnung) auch in den Fluss gelange. Pogges Punkt ist somit nicht, dass EN falsch, sondern vielmehr, dass die These einseitig ist.30 Korruption und Misswirtschaft sind Pogge zufolge nicht als „exogenes Faktum“ zu interpretieren, das selber keiner weiteren Erklärung bedarf.31 Vielmehr gelte es zu fragen, weshalb sich entsprechende lokale Faktoren herausgebildet hätten und weiter bestehen und überdies die genannten negativen Effekte zeitigten.32 Die Antwort liegt für Pogge klar in den gegenwärtigen globalen Regeln und Institutionen begründet.33 Besondere Bedeutung kommt ihm zufolge dabei den von ihm so genannten Rohstoff- und Kreditprivilegien (i) sowie der einseitigen Öffnung der Weltmärkte (ii) zu. Ad i) Pogge hält es für eine zentrale Eigenschaft der gegenwärtigen Ordnung, dass jede Gruppe, die in einem Land an der Macht ist, von anderen Nationen als die legitime Regierung des jeweiligen Staates anerkannt wird – und zwar unabhängig davon, wie sie an die Macht gekommen ist und ihre Macht ausübt und ob sie die Unterstützung der von ihr beherrschten Bevölkerung geniesst. Mit dieser internationalen Anerkennung geht einerseits einher, dass die jeweilige Regierung ermächtigt ist, die Rohstoffe des Landes zu verkaufen und über die erzielten Erlöse frei zu verfügen („Rohstoffprivileg“)34. Andrerseits können Machthaber im Namen ihres Landes Kredite aufnehmen, ihm Schuldverpflichtungen aufbürden und Staatseinkünfte zum Kauf militärischer Repressionsmittel einsetzen („Kreditprivileg“).35 Das „Rohstoffprivileg“ hat Pogge zufolge in ressourcenreichen, aber dennoch armen Ländern verhängnisvolle Auswirkungen: Wer immer an die Macht kommt und mit welchen Mitteln auch immer er dies tut, kann sich weiter an der Macht halten, indem er die dafür benötigten Armeen und Sicherheitskräfte aus den Erlösen der verkauften Rohstoffe finanziert. Diese Regelung stelle deshalb „einen starken Anreiz zur gewaltsamen Aneignung und Ausübung politischer Macht dar, wodurch sie Putschversuche
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und Bürgerkriege verursacht“36. Sie erkläre überdies den so genannten „Rohstofffluch“ (Resource Curse), der eine signifikante negative Korrelation zwischen Rohstoffreichtum und Wirtschaftsleistung nachweist.37 Als Beispiel mag Kongo-Kinshasa dienen, wo der Staatschef Kabila in der Südprovinz Katanga Rohstoffbergwerke zu tiefen Preisen veräussert, um im Gegenzug von den ausländischen Investoren Abfindungen und Privilegien zu erhalten, die er in die Sicherung der internen Vorrangstellung investiert.38 Die Rede ist von monatlich 250’000 US$, die Kabila von den Minengesellschaften beziehen soll.39 Da in Kongos Kobaltstätten fast 49 Prozent der weltweiten Ressourcen lagern und der Rohstoff für Legierungen in Flugzeugtriebwerken und aufladbare Batterien in Computern und Handys dringend benötigt wird, könnten die Bergwerke weitaus teurer verkauft werden, und die Armut im Kongo könnte mit den Erlösen massgeblich eingedämmt werden.40 Das „Kreditprivileg“ führt Pogge zufolge dazu, dass eine Nachfolgeregierung, die sich weigert, die Verantwortung für die Schulden eines noch so „korrupten, brutalen, undemokratischen, verfassungswidrigen, unterdrückerischen, unpopulären Vorgängers“41 zu übernehmen, von den Banken und Regierungen anderer Länder bestraft werde, indem sie von den internationalen Finanzmärkten fortan ausgeschlossen sei. Um einem solchen Ausschluss zu entgehen, kommen die meisten Länder ihrer Zahlungsschuld nach, müssen aber eine neue Regierungsära mit enormen Schuldenbergen und somit grossen Hypotheken in ohnehin instabilen Zeiten beginnen.42 Beide Privilegien stellen laut Pogge Anreize für korrupte Machenschaften sowohl auf Seiten der Entwicklungsländer, als auch seitens der transnationalen Unternehmen dar. Die gegenwärtige Weltordnung ist Pogge zufolge deshalb selber ein entscheidender Faktor für schwache Institutionen und Korruption in armen Ländern.43 Ad ii) Neben den genannten Privilegien sind gemäss Pogge die gegenwärtigen Regeln der Welthandelsorganisation ein weiterer Verursacher von Armut. Zwar ist er grundsätzlich der Meinung, dass die Globalisierung für die Entwicklungsländer eine Chance darstelle; der Prozess der Globalisierung laufe jedoch einseitig und
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unfair ab.44 Als Beispiel für die Unfairness von Verträgen nennt Pogge die Agrarabkommen der WTO, die einen weitgehenden Zollabbau verlangen und beispielsweise dazu führten, dass Entwicklungsländer mit billigen Importen aus den Industrie- und Schwellenländern, die aufgrund des industriellen Anbaus sehr viel Kosten sparender produzieren können, überschwemmt werden. Entwicklungsökonomen kritisieren insbesondere die Exportsubventionen vieler Industrieländer, die Nahrungsmittelüberschüsse produzieren und diese mit Hilfe staatlicher Gelder künstlich verbilligt auf dem Weltmarkt absetzen, was den Weltmarktpreis in die Tiefe treibt. Mit derart verbilligten Erzeugnissen können die Entwicklungsländer am Markt nicht mithalten. Die aktuellen Spielregeln ermöglichen den reichen Ländern überdies, ihre Märkte durch Quoten, Zölle und Antidumpingnormen zu schützen. Zu kritisieren sind dabei insbesondere die sogenannten Eskalationszölle, also Abgaben, die bei unverarbeiteten Rohstoffen am niedrigsten ausfallen und mit jedem Schritt der Verarbeitung und Wertsteigerung massiv ansteigen. Sie verunmöglichen de facto eine Produktion in den Entwicklungsländern und tragen dazu bei, Länder wie Ghana und die Elfenbeinküste auf den Export unverarbeiteter Kakaobohnen einzuschränken, Uganda auf den Export roher Kaffeebohnen und Mali und Burkina Faso auf den Export roher Baumwolle. Dass die genannten Regeln die Entwicklungsländer in verschiedenen Punkten massiv benachteiligen, ist weitgehend unumstritten. Zu behaupten, Armut sei gänzlich durch lokale Faktoren zu erklären, ist deshalb sicher unplausibel. Die Frage ist allerdings, ob eine solch starke These überhaupt jemand vertritt.45 Plausibler ist die These eines moderaten EN, dem zufolge die lokalen Faktoren für das Fortbestehen extremer Armut die ausschlaggebenden sind. Ein solcher moderater EN negiert globale institutionelle Faktoren also nicht, meint jedoch, dass diesen, anders als Pogge es darstellt, beim Zustandekommen der Armut wenig Bedeutung zukommt. Anders gesagt ist nicht strittig, ob die globale Ordnung nachteilige Effekte hat; es ist nur strittig, wie gravierend deren Auswirkungen sind. In welcher Höhe schlagen etwa die Exportsubventionen zu Buche? Oxfam schätzt den volkswirtschaftlichen Verlust, den z.B. die Baumwolle produzierenden Länder Burkina Faso, Mali und
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Benin allein durch die Baumwollsubventionen der Vereinigten Staaten erleiden, auf 1 Prozent des Bruttosozialprodukts für Burkina Faso, 1,7 Prozent für Mali und 1,4 Prozent für den Benin.46 Nach Einschätzungen von Nicholas Stern, dem ehemaligen Vizepräsidenten der Weltbank, würde die vollkommene Abschaffung des Landwirtschaftsprotektionismus sowie der Produktionssubventionen in den reichen Ländern die Landwirtschafts- und Nahrungsmittelexporte aus Ländern geringen und mittleren Einkommens dagegen um 24 Prozent und das gesamte rurale Jahreseinkommen in diesen Ländern um ungefähr 60 Milliarden Dollar erhöhen.47 Gemäss einem Bericht der UNCTAD beträgt der jährliche Verlust an Exportgelegenheiten aufgrund des Protektionismus der reichen Länder 700 Milliarden US-Dollar, das sind über 10 Prozent des gesamten Bruttonationaleinkommens aller Entwicklungsländer.48 Pogge schliesslich ist der Meinung, dass die entsprechenden Protektionen für einen namhaften Teil der 270 Millionen Todesfälle infolge Armut seit 1989 ursächlich seien.49 Diese unterschiedlichen Einschätzungen lassen vermuten, dass es schwierig sein dürfte, den volkswirtschaftlichen Schaden der entsprechenden Abkommen für die Entwicklungsländer exakt zu beziffern. Ich bezweifle deshalb, dass die „Schädigungsthese“ in Pogges umfassendem Sinn korrekt ist. Er will ja nicht nur behaupten, dass die globale Ordnung schädigende Elemente aufweist, welche die extreme Armut zusätzlich negativ beeinflussen, sondern dass sich die Weltarmut allein durch eine Reform der entsprechenden Ordnung beseitigen liesse. Gegen diese stärkere These möchte ich drei Bedenken vorbringen: Erstens bezweifle ich, dass eine Änderung des Systems allein die genannten Probleme zu beseitigen vermöchte.50 Betrachten wir noch einmal das vorher genannte Beispiel der Schulklasse, die von einem sexistischen Lehrer unterrichtet wird: Warum sollte ein Mädchen, das unter der diskriminierenden Ordnung keine Chance hatte, in der Schule mitzukommen, nach einer Schulreform gute Leistungen vorweisen, wenn sich herausstellt, dass es überdies zuhause soviel Verantwortung übernehmen muss, dass es nicht zum Lernen kommt? Anders gesagt: Wenn globale und lokale Faktoren gemeinsam eine Schädigung bewirken, warum sollten dann bei einem
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Wegfall der globalen Faktoren die lokalen Faktoren nicht weiter ihr negatives Potential entfalten? Die in vielen armen Ländern grassierende Korruption und der weit verbreitete Klientelismus sind nicht allein als schlechte Charakterzüge einiger machthungriger Demagogen zu sehen, sondern beruhen in vielen Ländern auf breit geteilten sozialen Erwartungen.51 Pogge könnte dem entgegenhalten, dass sich bei entsprechenden Reformen Korruption nicht mehr auszahle: Würden die wohlhabenden Länder auf korrupte Geschäfte nicht mehr einsteigen, ginge den entsprechenden Machthabern früher oder später das Geld aus. Ob dieses Vorgehen jedoch ohne weit reichende positive entwicklungspolitische Massnahmen dazu führen würde, dass aus despotisch regierten Ländern Demokratien werden, muss bezweifelt werden. Kulturelle Praktiken ändern sich gewöhnlich nicht so schnell. Es scheint plausibler, dass das Geld zumindest für einige Zeit weiterhin verschwindet, werden nicht zugleich positive Anstrengungen der Entwicklungshilfe unternommen, die dem Aufbau entsprechender Institutionen und der Verinnerlichung von good governance-Prinzipien auf der Ebene des Staatsapparates dienen. Dies führt zu einem zweiten Einwand: Ohne entsprechende positive Bemühungen würde sich auch bei einer Reform der globalen Institutionen an der Lage der ärmsten Länder nicht viel ändern. Um den Entwicklungsländern zu einer erfolgreichen Beteiligung am Weltmarkt zu verhelfen, reicht es nicht aus, die schädlichen Handelsschranken aufzuheben und die handelsverzerrenden Exportsubventionen abzuschaffen, zumal die fünfzig am wenigsten entwickelten Länder innerhalb der WTO einen Sonderstatus geniessen und sich an gewisse für sie nachteilige Abkommen nicht halten müssen.52 Darüber hinaus sind positive Anstrengungen nötig, um die Entwicklung eines Landes langfristig zu sichern. Für manche afrikanische Staaten, die auf Nahrungsmittelimporte angewiesen sind, ist bei einer vollkommenen Abschaffung der Subventionen kurzfristig sogar mit Verschlechterungen zu rechnen, da die Weltmarktpreise für Lebensmittel bei einem Wegfall der Exportsubventionen voraussichtlich steigen werden.53 Stephan Klasen schlägt deshalb eine Importsubvention für Güter aus afrikanischen Ländern vor, die diesen Ländern Vorteile im Zugang zu
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den Märkten in reichen Ländern verschaffen soll. Die Subventionen müssten sich nicht nur auf Agrargüter, sondern auch auf Güter aus arbeitsintensiven Industriesektoren (z.B. Textil- oder Elektronikindustrie) beziehen. Ausserdem fordert Klasen, dass armen Ländern im Rahmen des WTO-Prozesses die Möglichkeit eines begrenzten Schutzes einer im Aufbau befindlichen einheimischen Industrie eingeräumt werden sollte, um eine Industrialisierung dieser Staaten zu ermöglichen.54 Zu bedenken ist nämlich auch, dass gerade die ärmsten Länder wie z.B. Malawi, Angola oder Lesotho von den Handelsbeschränkungen nicht nur aufgrund der genannten Ausnahmeregelung gar nicht betroffen sind, sondern gegenwärtig gar nichts zu exportieren haben. Ihnen wird somit eine Aufhebung der Handelsbarrieren auch nichts bringen. Sie benötigen vielmehr Unterstützung im Aufbau einer eigenen Landwirtschaft und Industrie.55 Die vorgeschlagenen Massnahmen sind somit Teil einer ökonomischen Entwicklungshilfe, die über Pogges Idee der negativen Verantwortung hinausgeht. Damit ist nicht gemeint, wir sollten entsprechende Hilfe nicht leisten; gemeint ist lediglich, dass für solche Vorschläge anders argumentiert werden müsste als via eine Unterlassungspflicht. Pogge suggeriert allerdings in verschiedenen Passagen, dass seine Kriterien für eine gerechte Weltordnung über das hinausgehen, was wir unter einer nicht schädigenden Ordnung verstehen. Und in der Tat scheint mir, wie bereits oben gesagt, eine gerechte Weltordnung etwas anderes und weitaus anspruchsvoller zu sein als eine blosse nicht schädigende Ordnung. Gerechtigkeit im engeren Sinne hat mit distributiven Aspekten zu tun, für die jedoch anders argumentiert werden müsste als mit dem Verweis darauf, dass wir die in grosser Armut Lebenden schädigen und ihnen deshalb Wiedergutmachung schulden. Wenn Pogge schreibt, eine jede Weltordnung sei ungerecht, unter der die sozioökonomischen Menschenrechte unbefriedigt blieben,56 ist dieses Kriterium nur dann deckungsgleich mit seiner These, die Ungerechtigkeit käme durch eine schädigende Ordnung zustande, wenn gezeigt werden kann, dass die Nicht-Erfüllung der sozioökonomischen Menschenrechte das Resultat der schädigenden Ordnung ist. Die Plausibilität dieser These hängt davon ab, was unter dem Begriff „Resultat“ zu verstehen ist: Ist Pogge der Meinung, die reichen Länder schädig-
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ten die Armen insofern, als sie eine Ordnung mittrügen, unter der die grundlegenden Menschenrechte der Armen unerfüllt bleiben, obwohl es eine realisierbare alternative Weltordnung gäbe, unter der dem nicht so wäre, so ist das nicht dasselbe wie zu sagen, sie verursachten durch das Aufrechterhalten einer schädigenden Ordnung die Menschenrechtsdefizite. Es gibt mit Sicherheit eine realisierbare Alternative, unter der Armutsbetroffene besser gestellt sind. Die Frage ist allerdings, weshalb wir verpflichtet sein sollten, eine entsprechende Reform einzuleiten. Ich bezweifle, ob für letzteres wirklich noch im Sinne einer minimalen Idee von Gerechtigkeit – nämlich der Wahrnehmung unserer negativen Verantwortung – überzeugend argumentiert werden kann.57 Auf jeden Fall ist es unplausibel zu behaupten, dass jede Institution, die im Bezug auf die Realisierung vitaler Interessen von Dritten suboptimal ist, diese Personen schädigen würde. Zwar würde es, wie Andreas Cassee schreibt, den Aids-Waisen in Esmeraldas wohl besser gehen, wenn die Statuten des FC Meilen vorsehen würden, dass ihnen die Hälfte der Vereinseinnahmen zusteht, doch wäre es absurd zu behaupten, der Fussballclub schädige die Waisen, wenn seine Statuten dies nicht vorsehen.58 Der dritte Einwand gegen Pogges Schädigungsthese bezieht sich auf dessen Behauptung, die genannten Änderungen seien durch kleinere internationale Reformen zu erreichen.59 Auch das ist zu bezweifeln. Mit der Forderung einer Beseitigung des Rohstoff- und des Kreditprivilegs ginge die Aufhebung des Verfügungsrechts einer Regierung über nationale Rohstoffvorkommen und die Annullierung ihrer Geschäftsfähigkeit bei internationalen Kreditgeschäften einher. Praktisch läuft das auf eine teilweise Aufhebung der Souveränitätsrechte eines Staates hinaus. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich das Völkerrecht in diese Richtung entwickelt und die Balance zwischen staatlicher Souveränität und dem Schutz der Menschenrechte zugunsten des Letzteren verschoben wird. Pogge und viele andere Autoren würden eine solche Verschiebung sicherlich gutheissen. Allerdings versteht sich von selbst, dass dies nur akzeptabel wäre, wenn unter anderem die Beschränkung der Handlungsrechte eines Staates von einer dazu legitimierten internationalen Instanz ausgesprochen würde (beispielsweise von einem in
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seiner Befugnis erweiterten Sicherheitsrat der Uno). Es müsste also ein lückenloser Handels- und Kreditboykott zustande kommen, an den sich auch China als wichtigster Rohstoffimporteur der Welt zu halten hätte. Dies anzustreben, bedarf jedoch nicht nur kleinerer Reformen („small differences“60) – es wäre vielmehr die Schaffung einer anderen Welt, die viel Zeit in Anspruch nähme. Aus alledem ergibt sich, dass sich extreme Armut durch eine Reform globaler Institutionen und Praktiken kaum gänzlich beseitigen lassen wird, es sei denn, diese Reform sei als die Erfüllung einer positiven Hilfspflicht zu verstehen. Es ist eine irreführende Vorstellung, dass die wohlhabenden Staaten es allein in der Hand hätten, der extremen Armut ein Ende zu setzen, indem sie sich für eine entsprechende Neugestaltung der Spielregeln einsetzen. Die lokalen Faktoren, die Armut verursachen oder fördern, dürften bei einem Wegfall der globalen Faktoren weiter wirken und für sich genommen weitaus problematischer sein als Pogge zugesteht. Pogge macht sich damit, um mit Allan Patten zu sprechen, eines „Erklärungskosmopolitanismus“ schuldig, der ebenso einseitig ist wie der von ihm kritisierte „Erklärungsnationalismus“.61 Allerdings ist Pogge durchaus darin Recht zu geben, dass die gegenwärtige Weltordnung über schädigende Elemente verfügt. Ich halte deshalb eine „partielle Schädigungsthese“ für richtig: Denn erstens hat die globale Ordnung nicht überall und nicht auf alle Formen extremer Armut einen Einfluss; zweitens lässt sich extreme Armut nicht allein beseitigen durch eine Reform der entsprechenden Ordnung. Halten wir an dieser „partiellen Schädigungsthese“ fest, stellt sich eine Folgefrage, nämlich jene nach der Richtigkeit der „Verbrechensthese“, die Pogge mit der „Schädigungsthese“ verknüpft. Denn für die Schädigung sind ihm zufolge die Industrieländer respektive deren Bewohnerinnen und Bewohner verantwortlich zu machen. Doch handelt es sich bei der genannten partiellen Schädigung wirklich um eine Verletzung einer negativen Pflicht, die den wohlhabenden Ländern anzulasten ist? Um diese Frage soll es im Folgenden gehen.
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4.2 Die Verbrechensthese Wenn die bestehende Weltordnung einen – wenn auch schwer bezifferbaren – negativen Einfluss auf die Situation der extrem Armen hat („partielle Schädigungsthese“), wem ist dieser negative Einfluss dann anzulasten? Nur wenn wir sagen können, die Bewohnerinnen und Bewohner der wohlhabenden Länder seien für diese Weltordnung respektive für deren negative Effekte moralisch verantwortlich zu machen, können wir auch behaupten, diese Menschen trügen dazu bei, die Menschen in den Entwicklungsländern umzubringen oder deren Schicksal massgeblich zu verschlechtern, wie es das Eingangszitat behauptet („Verbrechensthese“). Es stellen sich also zwei Fragen, um die es im Folgenden gehen soll: 1. Ist das Entwerfen und Aufrechterhalten der entsprechenden globalen Ordnung moralisch verwerflich? 2. Falls ja, wem ist dieses moralische Vergehen anzulasten, und wem obliegen entsprechende korrektive Pflichten? Im bereits genannten „Flussbeispiel“ vergleicht Pogge die lokalen und globalen Faktoren, die zusammen genommen die extreme Armut bewirken und aufrechterhalten, mit umweltschädlichen Stoffen, die zwei Stämme in einen Fluss abgeben, von dem das Überleben eines dritten Stammes abhängt. Keiner der flussaufwärts lebenden Stämme könne in diesem Beispiel seine Verantwortung zurückweisen, indem er darauf beharrte, dass der gravierende Schaden nicht aufträte, wenn der jeweils andere Stamm seine umweltverschmutzende Tätigkeit einstellte.62 Das Fortbestehen extremer Armut ist Pogge zufolge analog zum Schaden, den die flussabwärts lebenden Menschen erleiden und der ihnen – wenn auch nicht intentional – von den flussaufwärts lebenden Stämmen zugefügt wird. Wenn beide am Unrecht beteiligten Seiten sich gegenseitig die Verantwortung in die Schuhe schieben und darauf beharren, ihren schädigenden Anteil erst dann zu stoppen, wenn die andere Partie ebenfalls gewillt ist, ihr Verhalten zu ändern, so begehen beide einen gravierenden moralischen Fehler. In diesem Punkt ist Pogge sicherlich recht zu geben: Jede Seite kann zwar mit gutem Recht die andere Seite anklagen, keine Seite kann sich jedoch selbst aus der Verantwortung für die ge-
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meinsam verursachten Effekte stehlen. Doch spiegelt das Beispiel wirklich die Problematik, wie sie sich hinsichtlich der Weltarmut präsentiert? Die Menschen, die im Beispiel flussabwärts wohnen, können sich gegen die Verschmutzung nicht wehren, und es steht ihnen offenbar auch kein alternatives Gewässer zu ihrer eigenen Versorgung zur Verfügung. Auf die Weltarmutssituation übertragen ist das flussabwärts lebende Volk die Gemeinschaft der Menschen, die in extremer Armut leben. Sie werden einerseits geschädigt durch die Bewohnerinnen und Bewohner wohlhabender Länder, die ihnen eine Ordnung aufzwingen, welche die extreme Armut verstärkt statt lindert. Andrerseits werden die Armutsbetroffenen durch die korrupten Machthaber in ihren eigenen Ländern geschädigt, die sie der Gewinne und Hilfsgelder, die zum Wohle der gesamten Bevölkerung gedacht wären, berauben.63 Sind die Bewohnerinnen und Bewohner wohlhabender Länder mit einem der flussaufwärts lebenden Stämme zu vergleichen, die schädigende Substanzen in den Fluss kippen und sowohl um die Schädigung wissen als auch um den Umstand, dass sich die flussabwärts lebenden Menschen gegen diese Schädigung nicht zur Wehr setzen können? In Bezug auf die Welthandelsordnung scheint mir das blosse Bestehen der WTO als eine Art „Verein“, in der die einzelnen Länder als Mitglieder sich auf Regeln der Zusammenarbeit im Bereich des Handels einigen, fürs erste moralisch unproblematisch. Führen wir zur Erläuterung des Gedankens eine fiktive WTO* ein, in der zehn Länder engagiert sind, die sich auf eine Freihandelszone ohne Zölle und Subventionen geeinigt haben. Ein elftes Land beantragt erfolgreich die Mitgliedschaft bei WTO*. Da dieses Land ärmer ist, kann es keine industrielle Landwirtschaft betreiben und ist weniger produktiv, weshalb es seine Produkte zu einem höheren Preis auf den Markt bringen muss und sie aufgrund der Wettbewerbssituation mit den industrialisierten Ländern nicht absetzen kann. Die Mitgliedschaft bei WTO* ruiniert das elfte Land. Wurde es von den zehn anderen Ländern „geschädigt“? In einem gewissen Sinne ja – nämlich insofern als seine Interessen verletzt wurden. Joel Feinberg spricht von dieser Form der Schädigung als von einem „harm conceived as the thwarting, setting back, or
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defeating of an interest.“64 Eine solche Schädigung liegt jedoch jeder Wettbewerbssituation zugrunde. Sie als moralisch problematisch zu bezeichnen, hätte insofern massiv kontraintuitive Urteile zur Folge. Eine unrechtmässige Schädigung im Sinne eines „wronging“65 liegt Feinberg zufolge nur dann vor, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind: „To say that A has harmed B in this sense is to say much the same thing as that A has wronged B, or treated him unjustly. One person wrongs another when his indefensible (unjustifiable and inexcusable) conduct violates the other’s right […].“66
Das elfte Land müsste also, damit von einer unrechtmässigen Schädigung die Rede sein könnte, nicht nur ein Interesse daran haben, innerhalb von WTO* seine Produkte möglichst erfolgreich verkaufen zu können, sondern es müsste ein moralisches Recht darauf haben, dies zu tun. Ein solches Recht könnte allenfalls mit einer umfassenden globalen Gerechtigkeitstheorie begründet werden, die beispielsweise Chancengleichheit im Hinblick auf eine Teilnahme am Weltmarkt forderte. Eine entsprechende Forderung bedürfte jedoch einer anderen Begründung als des hier diskutierten Nachweises einer Mitschuld am Unrecht. Ich diskutiere diese Option an dieser Stelle deshalb nicht weiter. Die Mitglieder von WTO* fügen dem elften Land allerdings auch dann ein Unrecht zu, wenn dieses von ihnen gezwungen wird, ihrem Freihandelsprojekt beizutreten, obwohl sie wissen, dass es im Wettbewerb nicht wird mithalten können, oder wenn sie – nachdem das elfte Land beigetreten ist – das neue Mitglied nicht bei der Ausgestaltung der Regeln mitbestimmen lassen. Ob sich die gegenwärtige realpolitische Situation so präsentiert, kann an dieser Stelle nicht abschliessend beurteilt werden. Entwicklungsländer werden zum Teil sicherlich zu einem WTO-Beitritt gedrängt und haben aufgrund bestehender Abhängigkeiten von reicheren Nationen oder von mächtigen Investoren wenige Möglichkeiten, ihre eigenen Interessen respektive jene ihrer Bevölkerung einzubringen.67 Viele Staaten wollen der WTO jedoch aus eigenen Stücken beitreten, beispielsweise weil sie sich erhoffen, als Standort für Investoren attraktiver zu werden. Dabei tragen sie der Situation der eigenen Kleinbauern oft keine Rechnung, die ihre Ware aufgrund der tiefen Weltmarktpreise nicht mehr absetzen können. In vielen Ent-
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wicklungs- und Schwellenländern hat sich mittlerweile eine starke Mittelschicht gebildet, die vom Welthandel zum Teil durchaus profitiert und ohne Rücksicht auf die eigen arme Bevölkerung agiert. Wem in diesem Zusammenhang welche Anteile am Elend dieser Kleinbauern, die unter der WTO zu leiden haben, zukommt, ist eine schwierige Frage. Ähnlich komplex gestaltet sich die moralische Bewertung der Rohstoff- und Kreditprivilegien. Stellen diese Privilegien als Teil der globalen Ordnung eine ungerechtfertigte Schädigung der Ärmsten dar? Gegen eine solche Einschätzung spricht, dass die genannten Privilegien nicht per se schädigend sind; für die arme Bevölkerung schädigend und im eigentlichen Sinne tadelnswert ist vielmehr, dass korrupte Machthaber Gewinne allein in ihre persönliche Bereicherung und privaten Sicherheitsapparate investieren. Würden diese Regierungen die Gewinne hingegen dazu verwenden, den Staatshaushalt in Ordnung zu bringen, trüge niemand einen Schaden davon – im Gegenteil: Der Verkauf der Rohstoffe könnte für die Entwicklungsländer eine wichtige Einnahmequelle darstellen. Präsentiert sich die Lage im Flussbeispiel jedoch nicht genau gleich? Das Abwasser des zweiten Stammes wird erst dann zur giftigen Mischung, wenn bereits der erste Stamm seinen Beitrag geleistet hat. Wie in der Diskussion des Beispiels betont, ist es nicht zulässig, die Verantwortung für das Unrecht auf die jeweils andere Partie abzuschieben. Doch anders als im Flussbeispiel, wo zwei gleiche Handlungen das Übel bewirken, liegen in unserem Fall verschiedene Handlungen vor. Peter Schaber hat in diesem Sinn argumentiert, dass es sich beim Ankauf von Ressourcen durch transnationale Unternehmen nicht um einen Beitrag zum Übel, sondern lediglich um dessen Ermöglichung handle: „Die Mittel, die das Ressourcenprivileg korrupten Regierungen sichert, sind zweifellos eine Ermöglichungsbedingung extremer Armut – ihre Ursache sind sie deswegen noch lange nicht. Das Ressourcenprivileg ermöglicht es ressourcenreichen Ländern, sich einen grossen Teil des nationalen Reichtums am Volk vorbei anzueignen. Diese Mittel gehören aber nicht zu den erklärenden Ursachen der Korruption, die sich für viele Länder katastrophal auswirkt. Sie ermöglicht, ja erleichtert sie, jedoch ohne sie zu verursachen.“68
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Schabers Argumentation liegt die These zugrunde, dass unterschiedlichen Arten der kausalen Verstrickung in eine Schädigung auch unterschiedliche moralische Bewertungen korrelieren. Eine Ermöglichung ist sehr viel loser mit dem Ergebnis verknüpft als ein genuiner Beitrag. Im Falle der globalen Ordnung könne deshalb nicht einmal mehr von einem eigentlichen Beitrag zum Unrecht gesprochen werden, weshalb jenen, die ins Aufrechterhalten der Ordnung involviert sind, auch nichts angelastet werden könne. Betrachten wir diese Überlegung im Folgenden genauer: Unter einer Ermöglichungsbedingung versteht Jonathan Dancy „a consideration that is required for the explanation to go through, but which is not itself a part of that explanation.“69 Es gilt also, einen Unterschied zu machen zwischen a) Faktoren, die für eine Erklärung eines Zustandes zwar unentbehrlich sind, die als eigentliche Erklärung zu nennen jedoch eigenartig erschiene, und b) Faktoren, die für eine Erklärung massgeblich sind.70 Ist unser Beitrag in Form der genannten Privilegien in diesem Sinne massgeblich, oder ist er besser als eine Ermöglichung zu verstehen? Ich meine, dass Schaber Recht zu geben ist und die Weltordnung (respektive unsere Unterstützung dieser) in diesem Fall das Unrecht bloss ermöglicht. Doch darf an dieser Stelle nicht allein interessieren, wie die Weltarmut zu erklären ist – sondern wir wollen wissen, wer für deren Zustandekommen moralisch verantwortlich ist.71 Während sich Dancy lediglich für die explanatorische Kraft, die einem Element hinsichtlich eines Zustandes zukommt, und nicht für dessen moralische Relevanz interessiert, ist hier letzteres von Interesse. Nun scheint es sich anzubieten, die Unterscheidung zwischen genuinen Beiträgen und blossen Ermöglichungsbedingungen auf der Ebene der Erklärung eines Zustandes auch als Massstab für die moralische Bewertung einer kausalen Verstrickung und für die zu leistende Kompensation heranzuziehen. Wenn jemand bewusst zur Schädigung anderer beiträgt und Drittpersonen Leid mit antut, das sie nicht verdient und durch Selbstverschulden provoziert haben, ist sein Verhalten offenkundig verwerflich, und es dürfte unstrittig sein, dass er grundsätzlich zur Wiedergutmachung des entstandenen Nachteils verpflichtet ist. Einige Philosophen haben vorgeschlagen, das blosse Ermöglichen von Unrecht im Gegensatz
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dazu als moralisch neutral anzusehen: Wer durch sein Verhalten lediglich die Möglichkeit schafft, dass andere Unrecht begehen, dem sei nichts vorzuwerfen. Ich meine aber, dass der Hinweis darauf, dass es sich „nur“ um eine Ermöglichung handelt, noch nicht mit einem moralischen Freispruch einhergeht. Zwar gibt es gewiss Situationen, in denen das Ermöglichen von Unrecht moralisch bedeutungslos ist – denken wir etwa an eine Situation, in der eine Person in ihrer Wohnung ein wertvolles Bild aufhängt und so erst die Voraussetzung dafür schafft, dass ein Dieb es entwenden kann. Natürlich ist die Bildbesitzerin nicht in einem moralisch relevanten Sinn in das ihr angetane Unrecht verstrickt. Die Sache ist allerdings nicht immer derart einfach. Zunächst besteht eine theoretische Schwierigkeit, Beitrags- und Ermöglichungshandlungen überhaupt trennscharf auseinanderzuhalten.72 Vor allem aber entscheidet sich die Frage, ob und in welchem Ausmass ein Beitrag moralisch problematisch ist, nicht unmittelbar daran, wie relevant der Faktor kausal für das Zustandekommen des Unrechts war.73 Das wird an folgendem Beispiel deutlich: In Südafrika wird alle achtzehn Stunden eine Frau von ihrem Mann oder Ex-Mann erschossen.74 Der Beitrag der lokalen Waffenhändler ist – kausal betrachtet – gross: Gäbe es keine Waffenhändler und –produzenten, wäre es für diese Männer weitaus schwieriger, an entsprechende Mordinstrumente zu kommen. Dennoch wäre es übertrieben, zu sagen, die Waffenhändler trügen zum Morden bei; vielmehr scheinen sie diese Gräueltaten zu ermöglichen. Auch der südafrikanische Staat schafft – wenn auch in einer noch weniger direkten Form – Ermöglichungsbedingungen: Aufgrund der Tatsache, dass er die Waffengesetze nicht verschärft, ist es für Privatpersonen überhaupt erst möglich, so einfach an Waffen zu gelangen. Obwohl also sowohl die Waffenhändler als auch der Staat die Mordfälle beide nur ermöglichen und die Waffenhändler einen direkteren Beitrag leisten als der Staat, insofern ihr Verhalten innerhalb der Kausalkette näher am Unrecht liegt, kommt der Regierung sicherlich die grössere moralische Verantwortung zu. Der Grund dafür ist, dass der Staat unter anderem die Aufgabe hat, die Sicherheit seiner Einwohnerinnen und Einwohner zu gewährleisten.75 Ermöglichen von Unrecht ist also keinesfalls immer moralisch harmlos.
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Dies lässt sich damit begründen, dass die moralische Bewertung von Kausalfaktoren sich nicht allein aus deren kausalen Unmittelbarkeit ergibt, sondern durch einen normativen Hintergrund strukturiert ist.76 Generell gilt, dass die Zuschreibung retrospektiver Verantwortung an das Vorliegen einer prospektiven Verantwortung gebunden ist. Bevor wir geklärt haben, wer im Sinne einer prospektiven Verantwortung für die Verhinderung unerwünschter Zustände verantwortlich ist, lässt sich die Frage retrospektiver moralischer Verantwortung gar nicht beantworten. Für eine Bewertung der individuellen Verstrickung ins Unrecht müssen wir zuerst wissen, was zu unseren Pflichten und sozusagen zu unserem moralischen „Aufmerksamkeitsbereich“ gehört und was nicht. Wo eine entsprechende normative Hintergrundtheorie fehlt, sind Unterscheidungen wie jene zwischen mehr oder minder grossen Beiträgen, zwischen genuinen Ursachen und blossen Ermöglichungsbedingungen „moralisch blind“. Für die Zuschreibung retrospektiver Verantwortung müssen also aus den mannigfachen Antezedenzien diejenigen ausgewählt werden, die als moralisch relevante Erklärung eines Sachverhalts dienen.77 Diese Auswahl erfolgt jedoch nicht nach natürlichen Kriterien kausaler Unmittelbarkeit und Gewichtigkeit, sondern erst durch die Zuschreibung moralischer Verantwortung. Diese Konzeption moralischer Verantwortung, die eine retrospektive Schuldzuweisung an das Vorliegen einer prospektiven Verantwortung knüpft, entspricht dem Haftungsmodell der Verantwortung, das unserem alltäglichen Urteilen über Zuständigkeiten ebenso wie unserer Rechtssprechung zugrunde liegt. Freilich ist uns die genannte Rückkoppelung retrospektiver an prospektive Verantwortung oft nicht bewusst, denn das Vorliegen einer prospektiven Verantwortung wird in trivialen Fällen gar nicht explizit gemacht. Wenn eine Person beispielsweise eine andere schlägt, so haftet sie für die Folgen dieser Tat. Dass bereits vorgängig eine prospektive Verantwortung – oder in diesem Falle: eine natürliche Pflicht – bestand, andere nicht grundlos zu schlagen, braucht dabei nicht explizit erwähnt zu werden. Anders verhält sich die Sache, wenn auf dem Jahrmarkt eine Person von der Achterbahn geschleudert und nach dem Verantwortlichen für den Unfall gesucht wird. In diesem Fall wird man klären, wer wofür prospektiv verantwort-
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lich war (für die Wartung der Achterbahn, für die Überwachung der Fahrgäste respektive für deren korrektes Anschnallen, etc.) und retrospektiv für den Unfall ganz oder in Teilen haftbar gemacht werden kann. Da diese Zuschreibung prospektiver Verantwortung auf globaler Ebene meist fehlt und sich entsprechend aus den unterschiedlichen kausalen Beiträgen zum Unrecht keine klare Haftungsregel ergibt, wurde von einigen Philosophen vorgeschlagen, das Haftungsmodell in diesem Zusammenhang aufzugeben (oder zumindest nur für klar zurechenbare Verschuldungen zu verwenden).78 Das Grundproblem globaler Gerechtigkeit liegt etwa für Iris Marion Young gerade darin, dass die Idee der Haftbarkeit aufgrund der komplexen Kausalketten der globalen Situation nur in den seltensten Fällen angemessen ist. Statt mit klar zurechenbaren Schädigungen haben wir es gemäss Young mit struktureller Ungerechtigkeit zu tun, die dadurch gekennzeichnet ist, dass soziale Prozesse grosse Personengruppen systematisch der Gefahr aussetzen, ihre Möglichkeiten nicht entwickeln und ausschöpfen zu können.79 Young schlägt deshalb für die Verantwortungszuschreibung im globalen Raum statt des Haftungsmodells das Gemeinschaftsmodell („social connection model“) vor: Dieses macht nicht Einzelpersonen für singuläre Akte verantwortlich, sondern Mitglieder einer Gemeinschaft für die politischen Hintergrundregeln, die diese Gemeinschaft erlässt.80 Da sich die globalen Regeln auf die Armutsbetroffenen schädlich auswirkten, haben Young zufolge alle Mitglieder der „globalen Gemeinschaft“ die politische Pflicht, diese Regeln zu ändern und die Opfer strukturellen Unrechts zu kompensieren. Diese Pflichten ergeben sich nicht aus identifizierbaren schädigenden Einzelhandlungen, sondern aufgrund der Position innerhalb struktureller Prozesse, die andere schädigen. Den genannten Schwierigkeiten, denen das Haftungsmodell begegnet, wenn man Verantwortung in komplexen Kausalgefügen zuschreiben will, ist sich Pogge m.E. durchaus bewusst. Seine Rede von der institutionellen Schädigung, die an die Stelle einer interaktionalen Schädigung tritt, scheint nämlich denselben Zweck zu verfolgen wie Youngs Strategie, vom Haftungs- zum Gemeinschaftsmodell zu wechseln und den Fokus auf ein schädigendes Regelsys-
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tem und nicht auf Einzelhandlungen zu richten. Allerdings hängt Pogge offenbar dennoch zumindest ein Stück weit dem Haftungsmodell an, wenn er zugleich die „Verbrechensthese“ vertritt und uns als Personen bezeichnet, die sich durch ihr Mitwirken an der entsprechenden Ordnung massiv schuldig machen. Young schlägt dagegen vor, innerhalb ihres Gemeinschaftsmodells den Blick weg von der retrospektiven hin zur prospektiven Verantwortung zu wenden.81 Dies jedoch nicht, um die erwähnte normative Hintergrundtheorie liefern zu können, welche, wie ich behauptet habe, vonnöten wäre, um retrospektiv Schuldigkeit anlasten zu können. Vielmehr fokussiert sie auf die prospektive Verantwortung, weil sie der Meinung ist, dass es in erster Linie darum gehe, das Unrecht zu beseitigen und die Arbeit hierzu effizient zu organisieren und fair aufzuteilen. Nun ist es mit Sicherheit vonnöten, über eine faire Arbeitsteilung hinsichtlich der Beseitigung der Weltarmut zu sprechen. Ich werde auf diese Frage später verschiedentlich zurückkommen, insbesondere in Kapitel 6. Die Begründung der entsprechenden Beseitigungspflichten ist damit jedoch nicht geleistet. Young übersieht m.E., dass sie durch den Wechsel zum Gemeinschaftsmodell das Haftungsmodell nicht überwinden kann. Denn die Antwort auf die Frage, warum wir verpflichtet sein sollten, etwas gegen die Not zu tun, lautet letztlich auch bei ihr: Weil wir in einem relevanten Sinn Teil dieser Strukturen sind, indem wir an ihnen teilhaben und diese mittragen: „Our responsibility derives from belonging together with others in a system of interdependent process of cooperation and competition through which we seek benefits and aim to realize projects. Even though we cannot trace the outcome we may regret to our own particular actions in a direct causal chain, we bear responsibility because we are part of the process. […] Responsibility in relation to injustice thus derives not from living under a common constitution, but rather from participation in the diverse institutional processes, that produce structural injustice.“82
Damit begeht Young jedoch einen Zirkelschluss: Sie setzt voraus, was eigentlich zu zeigen wäre, nämlich weshalb unser Beitrag zum Unrecht überhaupt moralisch relevant ist und uns in die Pflicht zu nehmen vermag.
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Ich meine deshalb, dass auf das Haftungsmodell nicht verzichten kann, wer eine Pflicht zur Linderung extremer Armut von einem Beitrag zur Not (oder zu den Regeln, die Armut verursachen) abhängig macht.83 Das Haftungsmodell scheint mir überdies – obschon es für eine Normierung der globalen Verantwortungszuschreibung erhebliche Schwächen aufweist – mehr zu leisten imstande zu sein, als es bis anhin den Anschein gemacht hat. Im Folgenden möchte ich das Haftungsmodell stark machen, indem ich es um die Idee der Fahrlässigkeit und der Sorgfaltspflichten, wie wir sie aus dem Zivil- und Strafrecht kennen, zu erweitern versuche. Das deutsche Zivilrecht verwendet den Begriff der Fahrlässigkeit als Haftungsmassstab für das Einstehenmüssen für eigenes oder fremdes Verhalten. Nach §276 Abs.2 BGB ist Fahrlässigkeit das Ausser-Acht-Lassen „der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt“. Die Fahrlässigkeit grenzt sich vom Vorsatz dadurch ab, dass die Folge der Handlung nicht willensmässig herbeigeführt worden ist. Damit Fahrlässigkeit überhaupt vorliegen kann, bedarf es der Vermeidbarkeit sowie der Voraussehbarkeit des rechts- beziehungsweise pflichtwidrigen Handelns und der sich daraus ergebenden Folge. Darüber hinaus muss ein alternatives Verhalten in der jeweiligen Situation zumutbar sein. Eine fahrlässige Handlungsfolge wird weder beabsichtigt, noch in Kauf genommen, sondern trägt sich zu, weil nicht mit der nötigen Sorgfalt gehandelt wurde. Beispiele für die Verletzung von Sorgfaltspflichten sind das Bohnern von Böden in öffentlichen Räumen, ohne hernach entsprechende Warnschilder aufzustellen; das unzureichende Sichern von Gepäckstücken auf dem Autodach, die während der Fahrt auf die Strasse fallen; oder die Unachtsamkeit einer Lehrerin, die auf einem Schulausflug ihre Schülerschar zu wenig im Auge hat, wobei eine ihr anvertraute Schülerin ertrinkt. Nun ist freilich nicht jede kausale Verstrickung ohne Vorsatz mit Fahrlässigkeit gleichzusetzen – ansonsten wären wir für sehr viel mehr zu belangen, als wir tatsächlich werden. Sichert etwa Meyer die Grube für einen Teich in seinem privaten Garten nicht und spielende Kinder dringen in sein Grundstück ein, fallen in die Grube und verletzen sich schwer, so kann ihm keine Fahrlässigkeit vorgeworfen werden. Denn auf seinem Grundstück darf Meyer so
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viele Gruben ausheben, wie er will, solange er damit nicht das umliegende Gelände destabilisiert. Ebenso wie die Moral ist also auch die Rechtssprechung auf Prinzipien angewiesen, die den geforderten Aufmerksamkeitsbereich von Personen festlegen, Prinzipien, die regeln, wer in welchem Bereich wie weit reichende Sorgfalt walten lassen muss. Gemäss Schweizer Strafrecht liegt ein fahrlässiges Verbrechen beispielsweise dann vor, wenn der Handelnde „die Folge seines Verhaltens aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit nicht bedenkt oder darauf nicht Rücksicht nimmt.“84 Als „pflichtwidrig“ wird die Unvorsichtigkeit bezeichnet, wenn der Täter nicht mit der Sorgfalt handelt, zu der er „nach den Umständen und nach seinen persönlichen Verhältnissen verpflichtet ist.“85 Was dies genau bedeutet, ist in diversen spezifizierten Normen (Strassenverkehrsgesetz, Spielregeln in Kampfsportarten, Unfallverhütungsgesetz, etc.) und Verhaltensregeln (z.B. ärztliche Kunstregeln) festgelegt. Was können wir nun für unsere Frage der Verantwortungszuschreibung im Fall der Verursachung globaler Armut vom Recht lernen? Erstens können wir von der Idee der Fahrlässigkeit und den damit verbundenen Sorgfaltspflichten lernen, dass rechtlich nicht nur dann retrospektive Verantwortung für ein Vergehen zugeschrieben wird, wenn der fragliche Delinquent wusste, dass er mit seiner Handlung oder seiner Unterlassung jemanden schädigen würde. Für eine Schuldzuweisung reicht die so genannte „Vorhersehbarkeit des Erfolgseintritts“ aus: Der Delinquent weiss um die Gefährdung, die sein Handeln oder Unterlassen für andere darstellt, oder müsste um sie wissen. Das bedeutet auch, dass wir uns über mögliche Gefahren, die wir schaffen, den Umständen und unseren persönlichen Verhältnissen gemäss zu informieren haben. Ausschlaggebend für die Frage, was von uns zu wissen verlangt werden kann, sind z.B. unsere berufliche Stellung, unsere Lebenserfahrung, unsere Beziehungen – all das also, was uns im Hinblick auf die fragliche Situation zu Personen macht, die unter normalen Umständen über die entsprechende Information verfügen müssten.86 Auf die Moral übertragen, würde das bedeuten, dass mit dem Verweis darauf, dass wir nicht sicher wissen, ob wir mit unserem Verhalten zur Weltarmut beitragen, kein moralischer Freispruch
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einhergeht. Zeigt sich, dass wir um die durch unser Verhalten bedingte Gefährdung der Armutsbetroffenen wussten oder hätten wissen müssen, sind wir für deren Leid auch mitverantwortlich. Evidenz ist keine Bedingung für Schuldigkeit – weder im Recht, noch in der Moral.87 Gerade weil wir aber einer Regelung bedürfen, was an Gefahrenkenntnis von uns verlangt werden kann, bedarf auch das Recht zweitens einer normativen Hintergrundtheorie, wie sie oben für den Bereich der Moral gefordert worden ist, mit deren Hilfe bestimmt werden kann, unter welchen Umständen eine kausale Verstrickung rechtlich relevant ist. Für Unterlassungsdelikte ist etwa relevant, ob sich der Delinquent zum Tatzeitpunkt in einer so genannten Garantenstellung befunden hat: Wer für ein fahrlässiges Unterlassungsdelikt retrospektiv zur Verantwortung gezogen wird, muss sich zum Tatzeitpunkt der geschädigten Person gegenüber in einer Garantenstellung befunden haben, die mit Sorgfaltspflichten einhergeht, die der Delinquent nicht erfüllt hat. Sorgfaltspflichten kommen Personen aufgrund von Normen zu, die mit ihrer sozialen Rolle oder mit vertraglichen Abmachungen in Verbindung stehen: Eltern sind ihren Kindern gegenüber zu besonderer Sorgfalt verpflichtet, Ärzte ihren Patienten gegenüber, Verkäufer ihren Kunden gegenüber, etc. Solche Rollenpflichten sind auch in der Moral von zentraler Bedeutung.88 Da Rollenpflichten prospektive Verantwortungszuschreibungen per definitionem beinhalten, ist die Schwierigkeit, dass retrospektive Verantwortungszuschreibung eine prospektive Zuschreibung voraussetzt, im Hinblick auf Rollenpflichten irrelevant. Diese zeichnen sich unter anderem gerade dadurch aus, dass in ihnen die beiden Verantwortungstypen in eins fallen. Der Bademeister ist beispielsweise prospektiv damit betraut, auf die Badegäste acht zu geben, weshalb er retrospektiv dafür belangt wird, wenn ein Schwimmender in seinem Areal ertrinkt. Leider hilft uns der Verweis auf die Rollenpflichten für die Frage der Verantwortung im Rahmen der Weltarmutsdebatte jedoch nur bedingt weiter. Denn im Hinblick auf die mannigfachen Kausalfaktoren, die zur Weltarmut führen, ist die Schwierigkeit ja gerade, dass unklar ist, wessen Beitrag moralisch relevant ist, weil eine Zuschreibung auf der Ebene der prospektiven Verantwortung
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fehlt. Ob eine Ermöglichung von Unrecht moralisch problematisch ist oder nicht, hängt, wie bereits gesagt, von der moralischen Hintergrundtheorie ab: Sind beispielsweise Konsumentinnen und Konsumenten verpflichtet, sich über die Wertschöpfungsketten und die Produktion der gekauften Güter zu informieren und ihr Kaufverhalten entsprechend anzupassen? Müssen global tätige Unternehmen abklären, welche Auswirkungen Aktivitäten in einem anderen Land haben können? Bin ich verantwortlich für die Kinderarbeit, die im Spielzeug steckt, das ich meiner Nichte schenke? Auch wenn wir also durchaus zugestehen, dass wir alle kausal ins Unrecht, das den Armen geschieht, verstrickt sind, ist die pauschale Rede von Beitragen nicht nur wenig hilfreich, sondern irreführend. Sie kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir selbst dann, wenn wir von negativen Pflichten im Zusammenhang mit der Weltarmut ausgehen, über eine faire Aufteilung der Kompensationslasten sprechen müssen. Dies kann sie deshalb nicht, weil eine kausale Verstrickung in Unrecht nicht notwendig eine moralische Schuld impliziert. Die Regeln der einer fairen Arbeitsteilung sind dabei andere als jene, die zum Zuge kommen, wenn es darum geht, die Last der Hilfspflichten gerecht aufzuteilen; um eine entsprechende moralische Arbeitsteilung kommen wir aber in beiden Szenarien nicht herum. Jene, die behaupten, eine Begründung unserer Pflicht, die Weltarmut zu beseitigen oder zumindest zu lindern, sei besonders überzeugend, wenn uns eine negative Verantwortung nachgewiesen werden könne, haben somit einen grossen Vorteil, den negative Pflichten gewöhnlich mit sich bringen, nicht: Es muss im Rahmen der Weltarmutsdebatte ebenso über eine faire Arbeitsteilung gesprochen werden, wie im Fall von Hilfspflichten. Die Verantwortungsdiffusion ist deshalb ebenso lange ein Problem, wie eine solche faire Pflichtenallokation nicht vorgelegt werden kann. Gleichermassen unfair wie eine pauschale Verurteilung ist aus meiner Sicht nämlich das pauschale Mass der geforderten Wiedergutmachung, für das Pogge plädiert: Weil wir alle beitragen, haben wir ihm gemäss auch alle unser Vergehen zu kompensieren. Einerseits bedeutet dies, dass wir alle an einer gerechteren Ordnung arbeiten sollten, andrerseits haben wir eine monetäre Wiedergutmachung zu leisten. Doch offensichtlich wird die geforderte Sorgfalt nicht von allen Bewohnerinnen und Bewohnern
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der Industrieländer gleichermassen verletzt. Entsprechend sollten jene, denen die Sorgfaltspflichten in erster Linie zukommen, auch stärker zur Rechenschaft gezogen werden. Die fehlende Theorie der Verantwortungszuschreibung darf nicht kompensiert werden durch Gleichbehandlung oder besser: Gleichbestrafung. Wie könnte eine faire Arbeitsteilung in Sachen Sorgfaltspflichten denn aussehen? Wiederum lehnt sich mein Vorschlag an rechtliche Überlegungen an. Von der Rechtssprechung können wir nämlich drittens lernen, dass uns das Wissen um Gefahren in die Pflicht nimmt. Anders gesagt: Wissen um eine Gefährdung Dritter durch eigenes Handeln oder Unterlassen verpflichtet zu Sorgfalt.89 Aus dieser Sorgfaltspflicht kann – wie auch im Recht – folgen, dass eine Handlung gänzlich zu unterlassen ist oder dass sie nur ausgeführt werden darf, wenn das Risiko einen bestimmten Schwellenwert nicht übersteigt. Entsprechend können wir von jenen, deren Wissen gesichert und am umfassendsten ist, auch fordern, dass in erster Linie sie Sorgfalt walten lassen und die Gefahren, die sie schaffen, verhindern respektive Drittpersonen, die durch eine Gefährdung zu Schaden kommen, kompensieren müssen. Gesichertes Wissen um Gefahren haben in aller Regel jene, die in der Wertschöpfungskette an erster Stelle stehen, die also die entsprechenden Rohstoffe fördern, einkaufen und weiterverkaufen. Auch jene, die Rohstoffe weiterverarbeiten, wissen in der Regel um die Probleme in den Herkunftsländern ihres Ausgangsmaterials. Dass dem so ist, indiziert die Tatsache, dass transnationale Unternehmen eine entsprechende Sorgfaltspflicht – zumindest auf dem Papier – längst anerkennen.90 So verlangt das zweite Prinzip des United Nations Global Compact von den Mitgliedern etwa, in ihrer Geschäftstätigkeit ein Sorgfaltsprinzip zu verankern, um sich nicht der Komplizenschaft bei Menschenrechtsverletzungen schuldig zu machen.91 Wie ist es nun aber um die Rolle des Individuums im Wohlstandsland respektive um seinen Einfluss- und Aufgabenbereich bestellt? Diesbezüglich ist die Meinung vertreten worden, auch die einzelne Person habe hinsichtlich der Beseitigung der Weltarmut Pflichten, die aus seiner Verstrickung in diese schädigende Ordnung resul-
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tierten.92 Deshalb haben wir gemäss Pogge eine negative Pflicht, die schädigenden Institutionen nicht aufrechtzuerhalten, nicht zu ihnen beizutragen und nicht von diesen zu profitieren – respektive eine Pflicht, Kompensation zu leisten, wenn wir dies dennoch tun oder getan haben.93 Der Zusammenhang zwischen unserem Involviertsein und möglichen Pflichten erweist sich indes bei einer genaueren Analyse als unklar. Die Schwierigkeit, die sich bereits im Hinblick auf die Frage stellte, ob den Bewohnern der reichen Staaten gemeinsam eine entsprechende Verantwortung zugeschrieben werden kann, stellt sich mit Blick auf das Individuum noch stärker. Viele argumentieren denn auch, der je individuelle Beitrag zu dieser schädigenden Ordnung falle so indirekt und gering aus, dass von einer Mitverschuldung und entsprechenden korrektiven Pflichten nicht die Rede sein könne. Die schädigenden Strukturen seien primär den Regierungen in den Entwicklungsländern und einflussreichen global tätigen Unternehmen anzulasten. Doch wie wir gesehen haben, lässt sich die Frage nach der moralischen Verantwortung in so komplexen Kausalketten, wie wir sie im Fall der Weltarmut vorfinden, ohnehin nicht allein über eine Analyse des Zustandekommens des Schadens klären. Vielmehr sind wir auf ein Modell der prospektiven Verantwortungszuschreibung angewiesen, für das ich das Konzept der Fahrlässigkeit respektive der Sorgfaltspflicht fruchtbar gemacht habe. Im Folgenden will ich mich deshalb der Frage zuwenden, ob und welche Sorgfaltspflichten dem Individuum zukommen. Mit Blick auf die Ausgestaltung und Aufrechterhaltung der globalen Regeln scheint es schwierig, dem Individuum eine genuine Verstrickung nachzuweisen. Nur ganz wenige von uns haben die Abkommen und Verträge, die als Elemente dieser globalen Ordnung angeführt werden, ausgearbeitet und unterzeichnet, und die meisten kennen die Abkommen der WTO und anderer Institutionen nicht ausreichend, um deren Schädigungspotential, geschweige denn die komplexen Zusammenhänge zwischen den genannten Rohstoff- und Kreditprivilegien und extremer Armut abschätzen zu können. Daraus ergibt sich eine Entlastung des Individuums, der sich jedoch entgegenhalten lässt, dass gerade in
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Demokratien – der Staatsform der meisten reichen Länder – die Bürgerinnen und Bürger ihre Vertreter wählen und so zumindest indirekt mitbestimmen können, welche Politik ein Land im Namen seiner Bürger verfolgt. Trägt diese Politik zu menschenverachtenden Praktiken bei, haben wir zumindest die politische Pflicht, die entsprechende Regierung nicht wieder zu wählen und mit politischem Engagement eine Veränderung herbeizuwirken. Diese Bürgerpflicht habe ich bereits in Kapitel 3 ausgeführt. Darüber hinaus besitzen wir alle Konsumgüter, die aus Rohstoffen gefertigt sind, die möglicherweise via Rohstoffprivileg gewonnen wurden – beispielsweise Mobilfunkgeräte, deren Batterien auf Kobalt aus dem Kongo beruhen – oder die unter miserablen Arbeitsbedingungen hergestellt worden sind. Tragen wir als Konsumenten solcher Produkte zur Armut bei? Wenn wir erst einmal damit beginnen, die Verantwortung des Individuums auszuloten, wird noch offenkundiger, was bereits oben deutlich wurde: Die Verantwortungsdiffusion im Rahmen des globalen Wertschöpfungsprozesses und Handels ist so extrem, dass das Beitragsprinzip nichts mehr auszutragen vermag. Zwischen den einzelnen Handlungen, wie sie „gewöhnliche“ Menschen vollführen, und den Menschen, die in extremer Armut leben, gibt es kaum eine nachvollziehbare kausale Verbindung. Selbst Pogge spricht uns deshalb hinsichtlich einzelner Kaufentscheide eine entsprechende Verantwortung ab: „Es wäre völlig unmöglich, die Auswirkungen auch nur einer einzigen unserer Kaufentscheidungen bewerten zu wollen, weil deren Wirkungen sich endlos fortsetzen, sich immer weiter verzweigen und sich auch mit an Auswirkungen unzähliger anderer Handlungen vermischen. Es geht also keinesfalls darum, uns für die Auswirkungen unserer Einzelhandlungen verantwortlich zu machen und zu fordern, dass wir bei jeder Wahl- und Kaufentscheidung all deren entfernteste Wirkungen mitbedenken sollten.“94
Ausschlaggebend für diesen moralischen Freispruch bezüglich den Folgen des einzelnen Kaufentscheids ist das, was Pogge als „entfernteste Wirkung“ bezeichnet: Es wäre absurd zu behaupten, unser Mobiltelefon schädige den Minenarbeiter im Kongo; zu entfernt ist die Wirkung des Kaufs eines Gerätes in einem Geschäft in Europa. Dennoch scheint mir Pogges „Generalabsolution“ zu undifferenziert – ähnlich undifferenziert wie die pauschale Verur-
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teilung der Bewohnerinnen und Bewohner der Industrieländer, denen durchaus unterschiedliche Sorgfaltspflichten zugeschrieben werden können. Kauft Heinrich beispielsweise einen Mixer, der in den Händen seines Freundes explodiert und diesen schwer verletzt, so würden wir Heinrich keiner mangelnden Sorgfalt beschuldigen. Als Käufer eines Elektrogerätes durfte er davon ausgehen, dass der Mixer einwandfrei funktionieren würde. Ruft ein Hersteller allerdings die Mixer eines entsprechenden Typs in einer breit angelegten Medienkampagne zurück, nachdem es schwere Unfälle beim Benutzen solcher Geräte gegeben hat, und erfährt Heinrich von diesem Problem, so muss er prüfen, ob er das entsprechende Modell gekauft hat, und darf dieses, falls dem so wäre, nicht anderen zur Benutzung weitergeben. Wie bereits gesagt, kann der moralischen Fahrlässigkeit angeklagt werden, wer trotz seines Wissens um eine drohende Gefahr nicht mit Sorgfalt agiert. Nun liegt es auf der Hand, dass nur für wenige global produzierte und gehandelte Produkte so verlässliche Informationen vorliegen wie im Falle des Mixers. Doch erstens gibt es durchaus einige Produkte, bei denen dies der Fall ist. (Dass an Diamanten Blut kleben kann, dürfte beispielsweise hinlänglich bekannt sein.) Entsprechend haben wir den Kauf dieser Produkte im Zweifelsfall zu unterlassen. Ausserdem sind viele Produkte (vor allem Nahrungsmittel, Blumen und Kleider) mittlerweile sowohl in einer herkömmlichen Version als auch als Fair Trade-Variante erhältlich. Wenn immer möglich sind wir angehalten, jene Version zu erwerben, von der wir ausgehen können, dass sie die Armutsbetroffenen nicht zusätzlich schädigen, sondern sie möglicherweise sogar in einem positiven Sinne voranbringen. In diesem Sinne haben wir eine Konsumentenpflicht. Zweitens wird die entsprechende Information umso früher und umfassender vorliegen, je mehr die Konsumentinnen und Konsumenten danach verlangen. Politischen Druck ausüben und unsere Macht als Konsumenten nutzen, um die Unternehmen zu sozialverträglicher Produktion zu zwingen, sollten wir nicht zuletzt auch aus Klugheitsgründen: Es ist moralisch gesehen weitaus effizienter, durch entsprechende Regeln dafür zu sorgen, dass Konsumgüter bedenkenlos gekauft werden können, als dass wir uns hinsichtlich jedes einzelnen Produktes neu informieren und Sorgfalt walten lassen müssen, wo unbedenkliche Alternativen existierten.
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Gerade indem wir von Unrecht profitieren – einer der genannten Formen der Verstrickung ins Unrecht – tun wir jedoch das Umgekehrte: Wir unterstützen Firmenstrategien, die auf massiven Menschenrechtsverletzungen beruhen, und ermöglichen somit weiteres Unrecht.95 Weil wir von bestimmten günstigen Angeboten Gebrauch machen, ist Unrecht zu begehen für die Verursacher weiterhin möglich und attraktiv. Ein Beispiel mag verdeutlichen, was gemeint ist: Solange es Menschen gibt, die vom illegalen Handel mit Organen aus Schwellenländern profitieren, indem sie Organe kaufen, die Menschen auf menschenverachtende Art und Weise „entnommen“ wurden, wird der Organhandel weiter florieren. Ebenso machen wir es als Käuferinnen und Käufer von Handys attraktiv für deren Produzenten, ihre erfolgreiche Firmenstrategie weiterzuverfolgen und sich um die Herkunft ihrer Rohstoffe und um die Produktionsbedingungen in ihren Zulieferfirmen nicht zu kümmern. Profitieren ist in diesem Sinne oft eine Form des Beitragens zu Unrecht.96 Abschliessend stellt sich die Frage, ob die eingangs genannte „Verbrechensthese“ korrekt ist. Ich meine nein, und zwar aus zwei Gründen: Erstens suggeriert die These des „gigantischen Verbrechen(s) gegen die Menschlichkeit“97, dass wir das Unrecht, in das wir verstrickt sind, freiwillig begehen und dessen Zustandekommen in unserer Kontrolle liegt. Diese Kriterien müssen selbst bei fahrlässigen Delikten erfüllt sein. Mit Blick auf unseren Beitrag zur Weltarmut scheint dies jedoch in vielen Fällen nicht gegeben, weil uns schlicht die Informationen für eine freiwillige oder eben informierte Wahl respektive die Alternativen fehlen.98 Wo wir über diese verfügen, haben wir jedoch durchaus die Sorgfaltspflicht, eine mögliche Gefährdung Dritter zu umgehen. Den Bewohnerinnen und Bewohnern der Industriestaaten ein Verbrechen anzulasten, scheint mir jedoch unangemessen. Damit soll das Elend, in dem Millionen von Menschen ausharren müssen, keineswegs schöngeredet werden. Aber die Sprache der Moral hat – soll sie nicht Ausdruck eines kruden Konsequentialismus sein – den unterschiedlichen Absichten und Einstellungen der Akteure Rechnung zu tragen.
Die Verbrechensthese
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Zweitens ist es problematisch, alle Bewohner der reicheren Staaten zu gleichen Teilen für die Weltarmut verantwortlich zu machen. Auch wenn Pogge mit seiner Behauptung Recht hat, dass die globalen Spielregeln extreme Armut zum Teil verursachen, aufrechterhalten und weiter verstärken, kann eine entsprechende Verantwortung für diese Regeln und deren Auswirkungen nur aufgrund einer prospektiven Verantwortung zugeschrieben werden, hinsichtlich eigener Entscheide Sorgfalt walten zu lassen. Wem welche Sorgfalt zukommt, beruht, wie ich argumentiert habe, nicht zuletzt auf dem Wissen, über das die jeweiligen Akteure verfügen oder das sie leicht erwerben können, wenn sie wollen. Es liegt auf der Hand, dass Politikerinnen und Politiker, die in die Ausarbeitung entsprechender transnationaler Abkommen involviert sind, sowie Unternehmen, die in entsprechenden Ländern aktiv sind, über mehr Wissen als gewöhnliche Bürgerinnen und Bürger verfügen und ersteren somit eine grössere Verantwortung zukommt. Anzugeben, wem hinsichtlich welcher Beiträge zum Unrecht wie viel Verantwortung zukommt und wie hoch entsprechend die zu leistender Kompensation ausfällt, ist extrem schwierig, wenn nicht unmöglich. Zwar haben wir, wie Hugh LaFollette schreibt, das grosse Bedürfnis, die Verantwortung fein säuberlich auf wenige Schultern zu verteilen und die Welt in „good guys“ und „bad guys“ aufzuteilen. Doch leider entspricht diesem Bedürfnis kein Verfahren, das für die Welt, wie sie wirklich ist, taugen würde.99 Aber auch wenn die Zuschreibung individueller Verantwortung schwierig ist, scheint es mir unangemessen, aus diesem Grund alle gleichermassen verantwortlich zu machen. Dies käme einer Sippenhaft gleich, die ihrerseits wenig überzeugend ist. Dennoch – und in diesem Punkt gehe ich einig mit Pogge – ist die Basis unserer Pflicht, gegen absolute Armut aktiv zu werden, nicht allein die Bedürftigkeit anderer Menschen, sondern beruht zum Teil eben auch auf unserer Verstrickung in ein Unrecht. Dieser Verstrickung sollten wir uns bewusst sein und mit einer dieser Verstrickung angemessenen Sorgfalt durchs Leben gehen.
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4.3 Von Unrecht profitieren Eine Zuschreibung von Verantwortung aufgrund eines kausalen Beitrags zum Unrecht, ist, wie oben gezeigt, nicht so einfach möglich, wie anfänglich gedacht. Im Folgenden soll es ums Profitieren von Unrecht gehen und nach möglichen Pflichten in diesem Zusammenhang gefragt werden. Abgesehen vom Umstand, dass von Unrecht zu profitieren mit einem Beitrag zu ebendiesem Unrecht einhergehen kann (s.o.), kann das Profitieren auch per se problematisch und mit entsprechenden Pflichten verbunden sein. Die Antwort auf die Frage, wer die schädigende Ordnung schafft und zu ihr beiträgt, stellt dann nicht mehr die einzige Rechtfertigungsbasis für die Zuschreibung von Pflichten, die über Hilfsgebote hinausgehen, dar. Ich unterscheide im Folgenden zwei Aspekte, hinsichtlich derer von Unrecht zu profitieren an sich problematisch sein könnte: i) tugendethische Aspekte und ii) die ungerechtfertigte Bereicherung. ad i) Die Intuition, es sei moralisch etwas nicht in Ordnung, wenn von Unrecht profitiert wird, teilen viele. Immerhin scheint es doch etwas anderes zu sein, ob wir von den exzellenten Französischkenntnissen eines Freundes bei einer gemeinsamen Reise nach Paris profitieren oder davon, dass anderen Unrecht widerfährt. Zumindest beschleicht die meisten, die um die Arbeitsbedingungen in den mexikanischen Maquiladoras oder in den chinesischen Fabriken wissen, ein Unbehagen, wenn sie T-Shirts in Kleiderläden einkaufen, die für solche Produktionsbedingungen angeprangert werden. Personen, bei denen dieses Unbehagen gänzlich ausbleibt, schreiben wir mangelnde Sensibilität oder gar Integrität zu. Unser Unbehagen dürfte dadurch gemildert werden, dass wir gleichwohl wissen, dass – gesundheitsschädigende und ausbeuterische Produktionsbedingungen hin oder her – die meisten Fabrikarbeiterinnen um das Wenige, was sie verdienen können, froh sind. Aber zum einen ist der Hinweis darauf, dass es den Arbeiterinnen noch schlechter ginge, wenn die Fabriken geschlossen würden und sie die Arbeit verlören, keine Rechtfertigung für die Unterstützung dieser Fabriken.100 Zum anderen zweifeln wir etwa hinsichtlich des Organ- oder Waffenhandels mit Sicherheit an der Integrität von
Von Unrecht profitieren
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Personen, die skrupellos von diesem Unrecht profitieren. Dem psychologischen Unbehagen liegt moralphilosophisch so etwas wie eine Art „Ansteckung mit dem Übel“, das im Gange ist, zugrunde.101 Die These könnte dann lauten, dass sich im Akt des Profitierens so etwas wie Charakterschwäche zeige. Bestimmte Profite darf es demnach nicht geben: In einer tugendethischen Perspektive verstösst jemand, der von Unrecht profitiert, gegen die eigene Integrität, und in einer Welt, in der es moralisch halbwegs geordnet zugehen soll, wirkt es unangebracht, wenn Übeltäter die Früchte ihrer Vergehen auch noch geniessen können. Es gibt also durchaus Kontexte, in denen das blosse Faktum, dass jemand von Übel und Unrecht profitiert, moralisch negativ zu bewerten ist.102 Im Zusammenhang der Weltarmut kommt diesem Moment des moralisch verwerflichen Profitierens jedoch eine eher untergeordnete Rolle zu. Hinsichtlich der Frage, welche Pflichten das Individuum gegenüber den Opfern der Weltarmut hat, dürfte es nicht in erster Linie darum gehen, als makelhaft empfundene Gewinne zu tilgen. Die entscheidende Frage ist vielmehr, aufgrund welcher Rechtfertigung die Profiteure von Unrecht verpflichtet sein könnten, solche Gewinne für dessen Beseitigung zur Verfügung zu stellen. ad ii) Für eine mögliche Explikation der speziellen Verantwortung dessen, der von Unrecht profitiert hat, möchte ich im Folgenden das Konzept der ungerechtfertigten Bereicherung103 fruchtbar machen.104 Die rechtliche Grundidee lässt sich an folgendem Beispiel verdeutlichen: Carl sitzt in einem Restaurant, speist ausgiebig und verlangt nach der Rechnung. Der Kellner gibt Carl fälschlicherweise fünfzig Euro zuviel Wechselgeld zurück. Behält Carl das Wechselgeld, so handelt es sich dabei insofern um eine ungerechtfertigte Bereicherung als Carl das Wechselgeld nicht zusteht. Er scheint deshalb verpflichtet zu sein, die fünfzig Euro ihrem rechtmässigen Besitzer zurückzugeben. Dass Carl unschuldig ist, weil er das Geld weder gestohlen, noch den Kellner hinsichtlich der Summe, die er ihm gegeben hat, belogen hat, ändert daran nichts. Anders gesagt kommt Carl zu einem Gewinn, der ihm nicht zusteht, ohne dass er zu diesem unrechtmässigen Transfer beigetragen hätte. Das Prinzip der ungerechtfertigten Bereicherung verlangt, dass das Gut an jene restituiert werden muss, denen es rechtmässig zusteht.
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Gegen die Geltung dieses Prinzips könnte eingewendet werden, dass wir den Profit in vielen Fällen nicht gesucht haben, sondern ohne unser Zutun in eine Lage versetzt worden sind, von der wir – zugegebenermassen – profitieren. Weshalb aber sollten wir etwas zurückgeben müssen, wenn wir durch Glück zu einem Gut gekommen sind? Diesen Einwand veranschaulicht Robert Fullinwider an folgendem Beispiel: „While I am away on vacation, my neighbour contracts with the construction company to repair his driveway. He instructs the workers to come to his address, where they will find a note describing the driveway to be repaired. An enemy of my neighbour, aware, somehow, of this arrangement, substitutes for my neighbour’s instructions a note describing my driveway. The construction crew, having been paid in advance, shows up on the appointed day while my neighbour is at work, finds the letter, and faithfully following the instructions, paves my driveway.“105
Dem Auftraggeber ist in diesem Beispiel zweifelsohne Unrecht geschehen, und sein Feind muss dieses Unrecht, das er verursacht hat, wiedergutmachen. Doch was, wenn dieser Feind anonym geblieben ist, wir also nicht wissen, wer die falsche Notiz im Haus platziert hat, und somit der Übeltäter nicht in die Pflicht genommen werden kann? Fullinwinder weist die These zurück, der zufolge ich, die ich ohne mein Zutun in den Besitz einer neuen Hausauffahrt gekommen bin, meinem Nachbarn gegenüber ersatzpflichtig bin. Wenn wir davon ausgehen, dass ich nicht die Absicht gehabt habe, für diesen Betrag meine Auffahrt neu zu gestalten, wäre ich die Bestrafte, wenn ich nun für den „Gewinn“ aufkommen müsste. So ähnlich scheint sich die Situation der Weltarmut für uns zu präsentieren: Wir profitieren von einem Unrecht, das niemand zu beseitigen und zu kompensieren bereit ist. Fullinwiders Einwand ist für den Kontext der Weltarmut einschlägig, weil kaum zu bestreiten ist, dass die Gewinne von Individuen in den Industrieländern oft passiv und ungewollt erfolgen. Aber ist es plausibel, dass Carl, der das Wechselgeld womöglich auch nichts ahnend entgegengenommen hat und den Fehler des Kellners vielleicht erst abends bemerkt, das Wechselgeld nicht zurückgeben muss? Fullinwider übersieht, dass die Pflicht zur Restitution gar nicht davon abhängt, ob sich Carl mit der Entgegennahme des Geldes in irgendeiner Weise schuldig gemacht hat.106 Die Frage der Schuld und damit die von Kontrolle und Freiwilligkeit stellt
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sich, wenn zu entscheiden ist, ob Geld gestohlen worden ist – nicht jedoch, wenn eine Transaktion zustande gekommen ist, die nicht rechtmässig ist. Von Carl zu verlangen, dass er das Geld zurückgibt, hat nichts mit Schuld und Tadel zu tun und führt auch nicht zu einer Bestrafung. Er muss lediglich in der Höhe seines – ungerechtfertigten – Gewinns seinen Beitrag dazu leisten, dass der Kellner nicht schlechter gestellt ist, als wenn ihm das Missgeschick nicht geschehen wäre. Es spricht deshalb nicht gegen die Anwendung des Prinzips der ungerechtfertigten Bereicherung auf die Weltarmut, dass wir es meist gar nicht in unserer Hand haben, ob wir von einer ungerechten Ordnung profitieren oder nicht.107 Gezeigt werden muss lediglich, dass für den Bereicherten auch wirklich ein subjektiver Gewinn vorliegt. Dies wäre dann nicht mehr der Fall, wenn ich im vorherigen Beispiel die vollen Kosten für die neue Auffahrt übernehmen müsste, obwohl ich gar keine neue Auffahrt wollte oder ich mich womöglich sogar an ihr störe. Da ich die Auffahrt nicht – wie im Fall der fünfzig Euro – zurückgeben kann, wäre ich bestraft, wenn mir (auch immaterielle) Kosten entstünden, für die ich keinen Gegenwert erhalte. Restitution ist also stets nur in einer Höhe gefordert, die den Profit tilgt, nie jedoch darüber hinaus.108 Wenn ich unfreiwillig in den Besitz eines Gutes gelange, von dem ich nicht profitiere und das ich auch nicht zurückgeben kann, ist keine Restitution gefordert. Auf die Situation der globalen Armut übertragen bedeutet dies: Selbst wenn wir als „anständige“ Bürgerinnen und Bürger zur schädigenden Weltordnung, welche die Not der Armen verursacht oder verstärkt, nichts beitragen (selbst dann also, wenn es für einen solchen Beitrag keine hinreichenden Evidenzen gibt, wie zuweilen argumentiert wird), profitieren wir ungerechtfertigt vom Unrecht. Es ist nun aber unsere Pflicht, Gewinne, die unmittelbar auf Kosten der Opfer von Unrecht gehen, zur Behebung dieses Unrechts herauszugeben. Staaten mit einem starken Finanzsektor, wie ihn die Schweiz aufweist, profitieren zum Beispiel von ihrer Existenz als Steueroasen (oder taten dies zumindest bis vor kurzem). Die reiche und zum Teil korrupte Elite der Entwicklungsländer legt ihr Geld in solchen Steueroasen an, ohne es in den Herkunftsländern rechtmässig zu versteuern.109 Die Steueroasen profitieren so vom Unrecht
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der reichen Eliten, die ihr Geld der armen Bevölkerung stehlen und in entsprechenden Finanzparadiesen anlegen. Rund 225 Milliarden US-Dollar entgehen dem Fiskus dadurch, und den Entwicklungsländern kommen so immense Steuereinnahmen abhanden.110 Gegen diese Anwendung des Konzepts ungerechtfertigter Bereicherung auf die Situation der Weltarmut könnte eingewendet werden, dass fraglich sei, ob die Profite wirklich „auf Kosten der Entwicklungsländer“ erfolgen. Denn nicht jeder Vorteil, den jemand aufgrund eines Unrechts erfährt, geht direkt auf Kosten des Opfers: Wenn Carl das Geld, das ihm unrechtmässig zufiel, in Lose investiert und den Jackpot knackt, so macht er zwar einen enormen Gewinn, doch dieser geht nicht auf Kosten des Kellners. (Die Vorstellung, der Kellner habe sich auch Lose kaufen wollen, dies aber aufgrund des Fehlbetrags in seiner Kasse nicht vermocht, scheint doch sehr an den Haaren herbeigezogen.) Im Fall der Weltarmut verhalte es sich aber so, dass die wahren Gewinne auf der Arbeit der Bewohner der reichen Länder beruhe, welche die kleinen ungerechtfertigten Gewinne zu vergolden wüssten. Dagegen lässt sich einerseits geltend machen, dass die ungerechtfertigt erhaltenen Profite ganz unabhängig von deren Höhe (oder Marginalität) restituiert werden müssen. Ich behaupte weder, dass es sich dabei um gigantische Summen handle, noch dass dank deren Rückführung die Weltarmut beseitigt werden könne. Will man den obigen Untersuchungen glauben, dürfte es sich aber doch um beträchtliche Summen handeln. Andrerseits scheint es mir eine offene Frage zu sein, ob vom zusätzlichen Gewinn, der erst aufgrund von ungerechtfertigten Profiten möglich wird, nicht doch etwas abgegeben werden müsste. Im Recht ist diese Frage zumindest umstritten. Was heisst das nun für die Individuen, die ohne viel Einfluss darauf zu haben, von schädigenden Institutionen profitieren? Natürlich kann niemandem ein Vorwurf dafür gemacht werden, dass die gute ökonomische Situation des Landes, in dem er lebt, sich unter anderem einer problematischen Ordnung verdankt, und er davon in unterschiedlichen Formen profitiert. Das ändert aber nichts daran, dass diese Gewinne ungerechtfertigt sind und eigentlich den Opfern der ungerechten Ordnung zustehen – jedenfalls solan-
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ge als das Unrecht nicht von jenen, die zu ihm beigetragen haben, beseitigt worden ist. Es wäre deshalb m.E. keinesfalls eine unzulässige Bestrafung, den individuellen Profiteuren diese Gewinne wegzunehmen und zum Zweck der Wiedergutmachung jenen, denen Unrecht getan worden ist, zurückzugeben. Daraus ergibt sich zumindest eine Antwort auf die, die durch Steuern finanzierte staatliche Entwicklungshilfe grundsätzlich für unzulässig halten. Für profitierende Individuen – und zu ihnen gehören in den reichen Ländern in unterschiedlichem Ausmass wohl alle – bedeutet es, dass sie unabhängig von ihrem möglicherweise marginalen Beitrag zu einer ungerechten Weltordnung, Grund haben, einen entsprechenden Teil ihres Einkommens und ihres Vermögens als jenen geschuldet zu betrachten, die weiterhin Opfer dieser Ordnung sind. Allerdings ist es zugegebenermassen überaus schwierig, diese ungerechtfertigte Bereicherung zu beziffern.111 Sicherlich macht man es sich zu einfach, wenn man wie Daniel Brooks behauptet: „That a person flourishes in an unjust society is, at the least, an indication that he benefits from injustice.“112 Abschliessend möchte ich noch auf einen weiteren Aspekt zu sprechen kommen, der die Frage betrifft, inwiefern das Profitieren von Unrecht im Kontext der Weltarmut relevant sein kann. Bei der Frage nach einer speziellen Verantwortung jener, die von Unrecht profitiert haben, kann man den Fokus nämlich auf zwei Konstellationen richten: Erstens auf das Verhältnis zwischen den Opfern des Unrechts und den Profiteuren (bei i) und ii) im Blick), und zweitens auf das Verhältnis zwischen jenen, die das Unrecht begangen haben, den Profiteuren und den gänzlich Unbeteiligten.113 Der letztere Fokus nimmt das Profitieren von Unrecht im Hinblick auf die Frage einer fairen Arbeitsteilung in den Blick: Nach den Tätern, die zur Wiedergutmachung in voller Höhe des zugefügten Schadens verpflichtet sind, liegt die Zuständigkeit in zweiter Linie bei den Profiteuren, die verpflichtet sind, ihre ungerechtfertigten Gewinne zur Behebung des noch bestehenden Unrechts einzusetzen. Den Profiteuren werden dadurch keine besonderen Opfer abverlangt, sondern lediglich der Verzicht auf Gewinne, auf die sie ohnehin keinen Anspruch haben.
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Die Forderung, dass speziell jene, die von ungerechten Verhältnissen profitieren, sich an Massnahmen zur Überwindung von Unrecht und Elend beteiligen sollen, ist weit verbreitet.114 So schreibt etwa Stefan Gosepath: „Verantwortlich für die Beseitigung des Übels […] sind […] in erster Linie diejenigen, die solche Verhältnisse herbeiführen, stützen oder von ihnen profitieren.“115 Wie lässt sich diese spezielle Verantwortung jedoch rechtfertigen, und wie verhält sie sich zu den Wiedergutmachungspflichten jener, die zu diesen Missständen beigetragen haben? Dass dies keine einfachen Fragen sind, zeigt sich an Gosepaths eigener Analyse einer speziellen Verantwortung jener, die von ungerechten sozialen Verhältnissen profitieren. Wenn Notlagen durch gesellschaftliche und soziale Verhältnisse bedingt sind, von denen die Bessergestellten profitieren, handelt es sich, so Gosepath, um Kontexte der Herrschaft oder Verteilung, die selbst rechtfertigungsbedürftig und gegebenenfalls zu verändern sind. Die Profiteure dieser Verhältnisse „verletzen die negative Pflicht, niemanden zu schädigen, wenn sie die Verhältnisse nicht im Rahmen ihrer Möglichkeiten verbessern.“116 In dieser Analyse wird jedoch bereits unterstellt, was erst zu zeigen wäre, nämlich dass und warum Profitieren, unabhängig von Beitragshandlungen, den einzelnen in einen Gerechtigkeitskontext stellt. Ein Fragezeichen ist zudem hinter Gosepaths Bestimmung der den Profiteuren obliegenden Pflichten zu setzen. Was spricht dafür, die spezielle Verantwortung, die sozialen Verhältnisse zu verbessern, als eine „negative Pflicht der Nichtschädigung“ zu charakterisieren? Meiner Meinung nach handelt es sich hier vielmehr um eine spezielle positive Pflicht.117 Dennoch scheint mir die Idee korrekt zu sein, dass die Profite, die ich oben als unrecht charakterisiert habe, herauszugeben sind – und dass dies sowohl von den Opfern des Unrechts, als auch von allen, die das Unrecht beseitigen müssen, verlangt werden kann. Hinter der speziellen Verantwortung jener, die von Unrecht profitiert haben, steckt also auch die Idee, dass jene, die nicht profitiert haben, zuerst die Profiteure zur Kasse bitten können.
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4.4 Bürgerpflichten und Konsumentenpflichten Seit einigen Jahren wird von verschiedenen Autorinnen und Autoren – insbesondere von Thomas Pogge – die These vertreten, dass die Industrieländer für das Ausmass und das Fortbestehen extremer Armut verantwortlich seien, weil sie eine Weltordnung durchsetzen und aufrechterhalten, welche die ärmeren Länder massiv schädige („Schädigungsthese“). Die Rede von Hilfspflichten angesichts extremer Armut erachten sie deshalb als irreführend: Sie erwecke den Anschein, wir seien unbeteiligte Zuschauer, die sich durch die eklatante Not allenfalls einzugreifen aufgefordert fühlen, die jedoch ihre eigene Verstrickung ins Unrecht ausblenden. In Tat und Wahrheit sind wir jedoch, so Pogge, an einem „gigantischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit“118 beteiligt („Verbrechensthese“). Entwicklungsökonomen scheinen sich einig zu sein, dass sich einzelne Elemente der globalen Ordnung wie zum Beispiel die Beschaffenheit der Regeln der WTO oder Auflagen des IMF auf die Entwicklung der ärmeren Länder nachteilig auswirken. Gleichzeitig betonen sie jedoch die Bedeutung lokaler Faktoren wie die Heterogenität einer Gesellschaft, die Stärke politischer Institutionen, den Korruptionsindex, die Verbreitung von Seuchen und Krankheiten, das Bildungsniveau der Bevölkerung, klimatische Faktoren, Zugang zu den Weltmeeren etc. für die erfolgreiche Entwicklung eines Landes. Ich habe deshalb für eine „partielle Schädigungsthese“ argumentiert: Weltarmut wird zum Teil ausgelöst, verstärkt und aufrechterhalten durch einzelne Elemente der kritisierten Weltordnung. Zwar gesteht auch Pogge zu, dass die erwähnten lokalen Faktoren für die Erklärung der Weltarmut eine wichtige Rolle spielen; er meint jedoch, dass allein durch eine Modifikation der Weltordnung Weltarmut drastisch reduziert oder sogar gänzlich beseitigt werden könnte. Diesen Schluss habe ich bezweifelt: Es scheint mir keine ausreichende Evidenz dafür zu geben, dass die lokalen Faktoren in ihrer schädigenden Wirkung dermassen an Kraft verlören, wenn die globalen erst einmal wegfielen. Ausgehend von der „partiellen Schädigungsthese“ stellt sich die Frage nach der moralischen Verantwortung für diese Schädigung. Sind die schädlichen Auswirkungen der Weltordnung den Bewohnerinnen und Bewohnern der Industrieländer anzulasten, wie es die
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„Verbrechensthese“ vorschlägt? Die komplexen Kausalbeziehungen führen dazu, dass für eine Beantwortung der Frage zuerst bestimmt werden muss, welche Kausalfaktoren moralisch relevant sind und entsprechend nach einer Wiedergutmachung verlangen. Ich habe argumentiert, dass eine kausal schwächere Beziehung zum Unrecht nicht, wie zum Teil fälschlicherweise angenommen, automatisch mit einer schwächeren normativen Beziehung einhergeht. Die massivste Schuld liegt nicht zwingend bei jenen, die den grössten kausalen Beitrag zu einem Unrecht geleistet haben, und umgekehrt taugt der Hinweis, man habe das Unrecht bestenfalls ermöglicht, nicht ohne weiteres als moralischer Freispruch. Welche moralische Bedeutung den unterschiedlichen Kausalfaktoren zukommt, kann nicht unmittelbar an einer gleichsam wertfreien Erklärung des Unrechts abgelesen werden, sondern ist davon abhängig, wie die moralischen Zuständigkeiten verteilt sind. Die Beurteilung der unterschiedlichen Kausalbeiträge zu dieser Ordnung bedarf deshalb einer moralischen Hintergrundtheorie, in deren Rahmen bestimmt wird, wer welche Dinge zu verhindern hat. Ausgehend vom Recht habe ich die Figur der Sorgfaltspflichten fruchtbar gemacht und argumentiert, dass jenen moralische Fahrlässigkeit und somit eine Mitschuld am Schaden vorgeworfen werden kann, die aufgrund ihres Wissens dem Geschehen hätten Einhalt gebieten müssen und in deren Kontrolle es gelegen hätte, entsprechende Sorgfaltsvorkehrungen zu treffen. Der Nachweis, dass wir durch die Missachtung entsprechender Sorgfalt individuell zur ungerechten Weltordnung beitragen, ist schwer zu erbringen. Da wir als Bürgerinnen und Bürger einer Demokratie die politischen Entscheide unserer Regierung beeinflussen können, und somit indirekt zur ungerechten Ordnung beitragen, wenn wir uns nicht gegen unfaire Abkommen stark machen, kann jedoch eine Verantwortung geltend gemacht werden, uns politisch zu engagieren und unsere Regierungen dazu zu bewegen, an faireren Übereinkünften zu arbeiten. Diese Pflicht habe ich als Bürgerpflicht bezeichnet; sie war bereits in Kapitel 3 thematisch. Darüber hinaus ermöglichen wir zum Teil Unrecht, indem wir als Konsumierende vom Unrecht profitieren (etwa durch den Kauf von Produkten, die auf unfaire Art und Weise produziert worden
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sind). Ob diese Ermöglichung moralisch problematisch ist oder nicht, hängt davon ab, ob wir der Meinung sind, es obliege uns, uns über Herstellungsbedingungen von Produkten119 genau zu informieren – und davon, ob wir an diese Informationen überhaupt herankommen können und ob alternative Produkte zur Verfügung stehen. Bezüglich einiger Produkte ist dies heute sicher so. Kaufen wir sie dennoch, haben wir korrektive Pflichten den Opfern des Unrechts gegenüber. Hinsichtlich anderer Produkte fehlen uns hingegen entsprechende Informationen, und es stehen uns keine alternativen Optionen zur Verfügung. Profitieren wir dann nolens volens von Unrecht, so haben wir zumindest restitutive Pflichten, die auf unserer ungerechtfertigten Bereicherung beruhen. Ungerechte Profite, die uns nicht zustehen, schulden wir einerseits den Opfern des Unrechts; andrerseits können jene, die nicht oder weniger vom Unrecht profitiert haben, von den Profiteuren verlangen, dass sie ihre Gewinne zur Beseitigung der Armut hergeben, bevor Unbeteiligte zur Kasse gebeten werden. Die Pflichten, die uns im Zusammenhang mit unserer Rolle als Konsumenten, Anlegerinnen, Käufer etc. zukommen, nenne ich Konsumentenpflichten. Es handelt sich bei ihnen um den zweiten Typus von Geboten, die uns im Rahmen des Pflichtenpluralismus zukommen. Was ich also an dieser Stelle abschliessend sagen kann, ist relativ bescheiden: Wir können ausweisen, dass die Basis unserer Pflichten gegenüber den Opfern der Weltarmut nicht allein deren Not und extreme Bedürftigkeit ist – eine Basis von Pflichten, die etwa Libertäre nicht akzeptieren –, sondern darüber hinaus auch unsere Verstrickung ins Unrecht. Allerdings hat sich diese These als sehr viel komplexer erwiesen, als es anfänglich schien. So unumstritten das Prinzip in seiner Geltung ist, so umstritten ist es in seiner Auslegung. Das Auslegungsproblem, mit dem wir es hier zu tun hatten, betrifft die Art der Verbindung, die zwischen Handlung und Schaden herrschen muss, damit von der Verletzung einer negativen Pflicht die Rede sein kann. Zu zeigen, dass eine solche Verletzung vorliegt, war Pogges erklärtes Ziel, und diese These ist ein wichtiger Bestandteil einer Folgethese, nämlich dass sein Ansatz „ökumenisch“ („broadly ecumenical“120) sei. Damit meint Pogge, dass die Überzeugungskraft seiner Argumentation nicht
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von Annahmen abhänge, die zwischen diversen philosophischen Richtungen strittig sind: „I am trying to convince the adherents of all the main views now alive in Western political thought.“121 Im Sprachgebrauch des späten Rawls’ könnte man sagen, Pogge argumentiere politisch, insofern seine Überlegungen beanspruchen – soweit eben möglich – „philosophisch neutral“ zu sein. Pogge zufolge sind Ansätze, die auf positiven Pflichten beruhen, nicht im Rawls’schen Sinne politisch.122 Wären sie dies, so hätten sie weitaus mehr Personen zu überzeugen vermocht, die intensivere Bemühungen im Kampf gegen extreme Armut auf sich genommen hätten. Pogges Arbeit wäre dann nach seiner eigenen Einschätzung weniger wichtig, ja er meint sogar, er hätte sie nicht so ausführlich darlegen müssen.123 Doch da die wenigsten den Aufrufen von Singer, Unger und anderen Folge leisten, erachtet Pogge die Verteidigung seines Ansatzes als die beste Möglichkeit, etwas zur Beseitigung extremer Armut beizutragen. Ist Pogges Ansatz in diesem Sinne ökumenisch? Mir scheinen aus drei Gründen Zweifel angebracht: Erstens muss bezweifelt werden, ob die empirische Basis, die Pogge seinem Ansatz zugrunde legt, auf breite Akzeptanz stossen wird.124 Entgegen dem Anschein ist bei dieser Argumentation mittels korrektiver Gerechtigkeit die Begründungslast hoch. Denn die empirischen Verursachungen der Notlagen sind oft strittig. Das kontrafaktische Konditional „ohne Kolonialzeit, ungerechte Weltordnung etc. würden diese Notlagen nicht existieren“ ist in dieser Allgemeinheit oft nicht plausibel, und der Nachweis konkreter Kausalzusammenhänge lässt sich noch schwerer erbringen. So lässt sich die erste (empirische) Vorraussetzung seiner Argumentation im konkreten Fall kaum zweifelsfrei belegen. Zweitens ist fraglich, ob Pogges Konzeptualisierung der negativen Pflichten konsensfähig ist.125 Pogge geht davon aus, dass negative Pflichten in allen philosophischen Theorien einen besonders hohen und fraglosen Stellenwert einnehmen und gegenüber anderen Pflichten Vorrang geniessen.126 Negative Pflichten und die im Fall ihrer Verletzung resultierenden korrektiven Pflichten lassen dem Pflichtinhaber – anders als offenbar die positiven Pflichten127 – keine Wahl, wem gegenüber und wie die Pflicht erfüllt wird.
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Die Forderung, man dürfe nicht weiter an der Produktion von Armut mitwirken, lässt sich deshalb nicht mit dem Hinweis darauf zurückweisen, dass man sich, statt diese Forderung zu erfüllen, lieber der eigenen Familie oder der Krebsforschung widmen möchte.128 Für Pogge hat ein Ansatz, der auf negativen Pflichten beruht, deshalb massive Vorteile gegenüber einem, der auf Hilfspflichten beruht.129 Dabei behauptet er nicht, wie ihm zuweilen vorgeworfen wurde, dass es keine positiven Pflichten gebe oder dass solche nicht zu verteidigen seien.130 Ebenso wenig beruft er sich auf die unhaltbare These, negative Pflichten übertrumpften im Konfliktfall stets die positiven. Zwar erachtet Pogge negative Pflichten gegenüber positiven prima facie als stärker oder gewichtiger, dies jedoch nur dann, wenn das, was jeweils auf dem Spiel steht, konstant gehalten wird.131 Die negative Pflicht, die wir im Zusammenhang mit der Weltarmut haben, kann zwei unterschiedliche Formen annehmen: „duties not to harm as well as […] duties to avert harms that one’s past conduct may cause in the future.“132 Die erste Pflicht ist klarerweise eine negative, und sie ist dies auch dann, wenn wir zu einer Schädigung lediglich beitragen. Wie wir gesehen haben, sind jedoch viele Beitragshandlungen besser als Ermöglichungen zu verstehen, und den normalen Bürgerinnen und Bürger kann es in vielen Fällen nicht als Verletzung einer negativen Pflicht angelastet werden, wenn sie Firmen ermöglichen, die Bewohnerinnen und Bewohner anderer Länder zu schädigen. Ähnlich verhält es sich mit der zweiten Pflicht, Schädigungen zu verhindern, die das eigene Verhalten in der Zukunft bewirken könnte. Je verästelter die Kausalbeziehungen ausfallen, desto weniger sind wir geneigt, unseren eigenen Beitrag noch als Beitrag zu anerkennen,133 weshalb Pogges Ansatz NichtPhilosophen kaum überzeugen dürfte. Genau dies strebt Pogge jedoch an, wenn er sagt, er wolle mit seiner Theorie einen Beitrag dazu leisten, dass Menschen ihr Verhalten überdenken und einsehen, dass sie in ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit involviert sind. Es ist überdies zweifelhaft, ob alle Theorien diesen sehr weiten Begriff negativer Verantwortung akzeptieren werden.134 Pogge liegt durchaus richtig, wenn er sagt: „Whether or not we accept such a negative duty in regard to the justice of our global order makes a momentous moral difference.“135 Seine ganze
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Argumentation hängt von der Akzeptanz einer entsprechenden negativen Pflicht ab, letztere jedoch beruht einerseits auf gewagten empirischen Thesen und andrerseits auf einem sehr breiten Begriff negativer Verantwortung, was seine Argumentation verwundbar und weniger „ökumenisch“, denn „unorthodox“ macht.136 Deshalb ist sie jedoch keineswegs zurückzuweisen: Unorthodoxe Ideen müssen nicht falsch sein, sie bedürfen jedoch starker Argumente. Unorthodoxe Ansätze sind im Gegenteil mitunter die inspirierendsten – was auch auf Pogges Beiträge zutreffen dürfte.
Why is it that most people believe that aiding a drowning person should take priority over almost any other end or obligation we have, while many of the same people do not believe that aiding starving famine victims should have the same priority? Violetta Igneski 1
5 Hilfe auf Distanz Bis anhin habe ich dem Individuum zwei Arten von Pflichten zugewiesen: Einerseits die Pflicht, die eigene Regierung dazu zu bewegen, sich für eine gerechtere Weltordnung einzusetzen; diese Pflicht habe ich Bürgerpflicht genannt. Andrerseits habe ich Konsumentenpflichten geltend gemacht, die vom Individuum verlangen, bei seinen Konsumentscheidungen Sorgfalt walten zu lassen, um sich nicht an Ausbeutung und Schädigung zu beteiligen, sowie ungerechtfertigte Gewinne zu restituieren. Müssen wir Personen, die in Zuständen extremer Armut leben, über die Erfüllung dieser Pflichten hinaus helfen? Diese Frage kann auf zweierlei Arten verstanden werden: Einer ersten Interpretation zufolge lautet die Frage, ob Hilfe überhaupt noch vonnöten ist, wenn die beiden erstgenannten Erfordernisse erfüllt worden sind. Diese Frage ist m.E. zu bejahen: Selbst wenn alle ihren Bürger- und Konsumentenpflichten nachkämen, würde dieses Engagement nicht ausreichen, extreme Armut gänzlich zu beseitigen. Denn wie gerecht unsere globalen Institutionen auch immer sein mögen und wie sehr wir uns bemühen, uns nicht am Unrecht zu beteiligen, wird es immer Situationen geben, in denen die Erfüllung der ersten beiden Pflichttypen hinsichtlich der Not, die es zu beseitigen gilt, nichts ausrichten wird – etwa wenn Naturkatastrophen über Länder hereinbrechen oder wenn machthungrige Diktatoren Bürgerkriege anzetteln, die ihr Volk weiter und langfristig in die Armut drängen.2 Ausserdem kommen gegenwärtig die wenigsten ihren Pflichten nach, weshalb die Opfer von Unrecht darauf angewiesen sind, dass sich Dritte für sie einsetzen und sie darin unterstützen, die erlittenen Nachteile zu überwinden und sich vor künftigem Unrecht zu schützen.
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Hilfe auf Distanz
Allerdings ist fraglich, ob eine solche Hilfspflicht tatsächlich besteht, was der zweiten Interpretation der obigen Frage entspricht: Ist es von den Bewohnerinnen und Bewohnern der reicheren Länder wirklich verlangt, den extrem Armen zu helfen? Im Folgenden soll es um diese Frage und damit um die Begründung von Hilfspflichten den Opfern der Weltarmut gegenüber gehen. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei wiederum dem Umstand zukommen, dass es sich bei den fraglichen Geboten um Pflichten auf Distanz handelt. In einem ersten Abschnitt widme ich mich der Pflichtbegründung. Bei den fraglichen Erfordernissen handelt es sich offenbar um natürliche Hilfspflichten, die Menschen qua Menschen und nicht aufgrund einer Vorgeschichte oder einer Beziehung geschuldet sind. Jede plausible Moraltheorie muss m. E. von der Existenz solcher Unterstützungsgebote ausgehen (5.1). Allerdings scheint Hilfe für Notleidende, die in weiter Entfernung von uns leben, weitaus weniger verbindlich gefordert als die Hilfe, die einem ertrinkenden Kind in unmittelbarer Nähe geschuldet ist. Woran liegt diese unterschiedliche Einschätzung der beiden Situationen, und ist sie gerechtfertigt? Um diese Fragen zu beantworten, unternehme ich im zweiten Abschnitt eine Phänomenologie der Hilfspflichten auf Distanz und untersuche, wie sich Distanz auf die Begründung und Struktur allfälliger Hilfspflichten auswirkt. Distanz an sich ist, wie ich zeigen möchte, nicht moralisch relevant. Distanz geht aber in vielen Fällen mit einer erhöhten Vagheit der Hilfspflicht einher. Aus dieser Vagheit zu folgern, es handle sich bei den Hilfsgeboten nicht um genuine Pflichten, sondern lediglich um freiwillige Akte der Nächstenliebe, ist jedoch verfrüht (5.2). Das Konzept der Vagheit ist der kantischen Idee der Unvollkommenheit von Pflichten ähnlich. Gerade mit Blick auf Kant zeigt sich jedoch, dass Hilfspflichten keineswegs so vage und infolgedessen schwach konzipiert werden müssen, wie zuweilen suggeriert wird. Im Gegenteil: Nimmt man die kantische Hilfspflicht ernst, wird sie stark und anspruchsvoll (5.3). Neben den Bürger- und den Konsumentenpflichten haben wir deshalb auch starke Hilfspflichten, die wir einander als Menschen schulden, wenn wir in grosse Not geraten (5.4).
Begründung von Hilfspflichten
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5.1 Begründung von Hilfspflichten Hilfe zu spenden scheint unter bestimmten Umständen nicht Pflicht im eigentlichen Sinne, sondern freiwillig und ein Ausdruck von Grossherzigkeit. Dieser Eindruck deckt sich nicht nur mit einer weit verbreiteten Intuition (es ist sicherlich nicht Pflicht, einer Kollegin beim Formatieren ihrer Folien zu helfen, wenn sie das Computerprogramm nicht versteht, obwohl dies bestimmt sehr freundlich wäre), sondern findet auch seine Entsprechung in moralischen Theorien. Dabei kann die These, Hilfe sei freiwillig, unterschiedlich interpretiert werden: Einerseits wird Hilfe zuweilen als supererogatorisch vorgestellt: Behauptet wird dann, Hilfe zu leisten sei gut, aber nicht gefordert. Es ist somit uns überlassen, ob und in welchem Ausmass wir über unsere Pflicht, anderen nicht mutwillig Leid zuzufügen oder sie für eigene Zwecke zu instrumentalisieren, hinaus tugendhaft sein wollen. Die Freiwilligkeit kann andrerseits aber auch so verstanden werden, dass Hilfe an sich durchaus Pflicht ist, dass wir jedoch frei sind hinsichtlich der Art und Weise, wie wir unserer Pflicht nachkommen wollen. Dies kann zum einen bedeuten, dass wir frei sind in der Wahl der Mittel, die wir zur Pflichterfüllung wählen; oder dass wir die Pflicht niemand Bestimmtem schulden, dass es sich dabei also in der kantischen Terminologie um eine Tugendpflicht und nicht um eine Rechtspflicht handelt. Es scheint dann – zumindest auf den ersten Blick – uns überlassen, ob wir den lokalen Sportverein, unsere Grossmutter, die sich einen neuen Lehnstuhl wünscht, oder „Médecins sans Frontières“ unterstützen. Im Folgenden soll es um die Frage nach der Begründung einer allgemeinen Hilfspflicht gehen. Kann eine solche geleistet werden, ist Hilfe zumindest nicht in allen Fällen supererogatorisch. Auf die zweite Frage, ob Hilfspflichten erfüllt werden können, wie es uns beliebt, oder ob im Speziellen eine Pflicht den extrem Armen gegenüber besteht, komme ich in Abschnitt 5.3 zurück. Lassen sich Hilfspflichten begründen? Die wohl prominenteste – positive – Antwort auf diese Frage geben der Utilitarismus, respektive die Position von Peter Singer.3 Singer vertritt die Ansicht, dass wir, wenn es in unserer Macht steht, etwas
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Hilfe auf Distanz
Schlechtes zu verhindern, ohne dabei etwas von moralischer Bedeutung opfern zu müssen, entsprechend handeln sollten. Wir müssen also anderen, denen es schlechter geht als uns, solange helfen, bis für uns nichts mehr auf dem Spiel steht, das moralisch bedeutsam wäre. Entgegen seiner Ansicht, dass sich dieses Prinzip auch nichtkonsequentialistisch begründen und sich bereits aus der strikten Unparteilichkeit, die die Moral erfordere, ableiten lasse, bedarf seine These einer weiteren Begründung, die in seiner Theorie im Erfordernis der Nutzenmaximierung aller Betroffenen zu finden ist. Letztlich ist Singers Begründung der Hilfspflichten also gleichwohl konsequentialistisch. Im Folgenden werden jedoch andere Begründungsmodelle der Hilfspflichten im Vordergrund stehen, und zwar solche, die sich nicht auf konsequentialistische Überlegungen, sondern auf so genannte „Prinzipien mittlerer Reichweite“ berufen.4 Ein solches Vorgehen hat zwei Vorteile: Erstens ist der Konsequentialismus als Moraltheorie aus verschiedenen Gründen stark umstritten, die unabhängig von seiner Position zu Pflichten im Kontext der Weltarmut die Frage aufwerfen, ob das den Pflichten zugrunde gelegte Begründungmodell überzeugen kann. Das hat zur Folge, dass sich die Frage der Hilfspflichten auf Distanz nur schwer von allgemeineren Debatten über die Plausibilität der konsequentialistischen Moralbegründungsidee trennen lässt. Um ausschliesslich erstere in den Blick nehmen zu können, empfehlen sich die genannten Prinzipien mittlerer Reichweite zweitens, weil sie aus ganz unterschiedlichen moraltheoretischen Perspektiven zustimmungsfähig sind. Die Bezugnahme auf solche Prinzipien, bezüglich deren Geltung allgemeiner Konsens vorausgesetzt werden kann, befreit die eigentliche Kernfrage nach den Hilfspflichten von moraltheoretischen Divergenzen und ermöglicht im Erfolgsfall – also für den Fall, dass sich, wie ich meine, entsprechende Pflichten rechtfertigen lassen – eine breite Zustimmung zu ihnen.5 Tatsächlich anerkennen die allermeisten Moraltheorien die grundsätzliche Existenz von Hilfsgeboten. Und dies zu Recht: In der Moral kann es schlicht nicht allein darum gehen, einander nicht in die Quere zu kommen.6 Viele Phänomene, die klarerweise der Sphä-
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re der Moral zuzuordnen sind, wären nicht verständlich, würden wir nicht die grundsätzliche Existenz von Hilfspflichten voraussetzen – etwa was es bedeutet, einer anderen Person im entscheidenden Moment Hilfe zu versagen und sie im Stich zu lassen, oder am gravierenden Leid einer anderen Person nicht Anteil zu nehmen und sich schulterzuckend abzuwenden, anstatt fürsorglich zu reagieren und Hilfe anzubieten. Verhalten sich Personen entsprechend, regt sich in uns ebenso Widerstand, wie wenn wir Zeuge davon werden, wie jemand Tiere quält oder eine unschuldige Person aufs Übelste demütigt. Dieser innere Widerstand ist nicht etwa ästhetischer oder psychologischer, sondern ganz eindeutig moralischer Natur. Wir werfen Menschen, die gleichgültig auf Notsituationen reagieren oder andere mutwillig im Stich lassen, Kaltherzigkeit, Egoismus oder Gemeinheit vor – nicht etwa schlechten Geschmack oder Feigheit. In der Moral geht es – da sprechen unsere Intuitionen eine eindeutige Sprache – deshalb auch darum, einander zumindest in bestimmten Situationen zu unterstützen und so davor zu bewahren, in einer gravierenden Art und Weise Schaden zu erleiden. Nun ist natürlich nicht jede Art von Bedürfnis bereits Anlass, anderen eine entsprechende Hilfspflicht aufzubürden – zumindest dann nicht, wenn nicht ein vorgängig gemachtes Versprechen oder eine Freundschaft, mit der normalerweise bestimmte Formen der gegenseitigen Unterstützung einhergehen, dazu verpflichten. In solchen Fällen handelt es sich um spezielle Gebote, die wir nur einer bestimmten Subgruppe von Personen schulden. An dieser Stelle stehen jedoch generelle Pflichten auf dem Spiel, also solche, die wir allen Personen schulden. Insofern als sie unabgängig von vorgängigen Abmachungen und Beziehungen bestehen, muss es sich dabei um natürliche Pflichten handeln. Bei den Bedürfnissen, die solche natürliche Hilfspflichten zu generieren vermögen, handelt es sich m.E. um die Entbehrung von Gütern, die für ein menschliches Dasein, das dem Menschen angemessen oder menschenwürdig ist, unabdingbar sind. Ein Leben in Würde zu führen, setzt zuallererst die Versorgung mit den überlebensnotwendigen Gütern voraus. Materielle Güter wie ausreichend Nahrung und Wasser, Schutz vor Kälte und die Versorgung mit einfachsten Medikamenten, sind für uns
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Hilfe auf Distanz
alle vonnöten, weil wir ohne sie nicht nur nicht eines Menschen würdig leben, sondern überhaupt nicht leben können. Dies gibt die menschliche Natur so vor. Unsere Hilfspflicht erschöpft sich jedoch nicht darin, andere vor dem Sterben zu bewahren, sondern sie verlangt von uns darüber hinaus, einander ein Leben in Würde zu ermöglichen, ein Leben, in dem sich Menschen selber achten können.7 Wie ist dies zu verstehen? Extreme Armut geht sehr oft mit Zuständen einher, welche die Betroffenen der Möglichkeit der Selbstachtung berauben. Viele Frauen in Entwicklungsländern haben beispielsweise mit starken Verdauungsproblemen zu kämpfen, weil es für sie keine separaten sanitären Anlagen gibt und ihnen das Benützen von Toiletten, die auch die Männer nutzen, untersagt ist. Sie müssen deshalb warten, bis es dunkelt, um sich dann in einem Gebüsch entleeren zu können (wo sie überdies eine Vergewaltigung befürchten müssen).8 Solche Zustände sind eines Menschen schlicht nicht würdig. Ebenso wenig mit der Möglichkeit der Selbstachtung zu verbinden sind Situationen, in denen Menschen in Abfallbergen nach Nahrung wühlen müssen, oder sich um Jobs bemühen, in denen sie ausgebeutet werden, weil ihnen keine andere Möglichkeit bleibt, sich und ihre Familie durchzubringen. Extreme Armut geht darüber hinaus mit einer Abhängigkeit von der Gunst Dritter einher, die Menschen ihrer Autonomie beraubt. Sie können keine Pläne schmieden und keine selbstbestimmten Entscheidungen treffen, sondern sind in ihrer schieren Existenz abhängig vom Wohlwollen oder im schlechtesten Fall auch einfach vom Müll anderer. Unter solchen Lebensumständen, die Hinsch als „öffentlich zu anerkennende Notlagen“9 bezeichnet, sind Betroffene nicht in der Lage, „sich aus eigener Kraft mit den für ein menschenwürdiges Leben jeweils notwendigen Gütern zu versorgen.“10 Avishai Margalit hat solche Umstände als „demütigend“ bezeichnet. Einander nicht mit jener basalen Grundversorgung auszustatten, die vonnöten ist, einerseits zu überleben und andrerseits in Würde zu leben, heisst ihm zufolge, einander nicht mehr als Menschen zu sehen. Darin besteht für Margalit das Paradigma einer Demütigung, die er als „Ausschluss eines Menschen aus der ‘Familie des Menschen’“ interpretiert:
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„Sie bedeutet, dass Menschen so behandelt werden, als ob sie keine Menschen oder nicht menschlich wären, womit gesagt ist, dass sie behandelt werden, also ob sie Gegenstände oder Tiere wären.“11
Das Phänomen der Demütigung erschöpft sich somit Margalit zufolge keineswegs in vorsätzlichen Handlungen. Vielmehr könne „das Resultat bestimmter, nicht willentlich herbeigeführter Lebensbedingungen […]“ ebenso demütigend sein.12 Folgen wir Margalit, so heisst andere Menschen nicht zu demütigen unter anderem, sie darin zu unterstützen, aus Zuständen extremer Armut herauszufinden und eine Existenz aufzubauen, in denen Selbstachtung möglich ist. Daraus leitet sich nicht nur ab, dass unsere Pflichten sich nicht darin erschöpfen, Menschen vor dem Verhungern oder Verdursten zu bewahren, sondern dass darüber hinaus strukturelle Hilfe vonnöten ist, welche die Betroffenen dazu befähigen, sich aus der Abhängigkeit zu befreien und ihr eigenes Leben leben zu können. Es leitet sich daraus auch ab, dass extreme Armut um eine wichtige Dimension gravierender ist als etwa die Not von Opfern einer Umweltkatastrophe, die zwar ebenfalls ihr Hab und Gut verloren haben, die aber in aller Regel in dieser Not geachtet und nicht zusätzlich ausgenutzt werden.13 Ich meine deshalb, dass extreme Armut jenen, die fähig zu helfen sind, natürliche Pflichten zur Hilfeleistung auferlegt. Gemeint sind damit Pflichten, die wir anderen schlicht darum schulden, weil wir Menschen sind – in Abgrenzung von speziellen Pflichten, die wir nur einer Subgruppe von Personen schulden, etwa aufgrund von sozialen oder institutionellen Beziehungen.14 Dabei sollten wir diese Hilfeleistungen als Ausdruck dessen verstehen, was es heisst, einander gegenseitig zu achten.15 Diese Konzeption hat zwei Vorteile: Einerseits wird die Pflicht, einander als Personen zu sehen und zu achten, als Minimalbedingung für moralisches Handeln von jeder Moraltheorie akzeptiert.16 Die Letztbegründungsfrage, weshalb wir andere Menschen zu achten haben, bleibt dabei erklärtermassen offen.17 Vielmehr wird auf die weitgehende Übereinstimmung in allen Theorien im Sinne eines mittleren Prinzips rekurriert. Andrerseits sagt diese Konzeption auch etwas darüber aus, wie Hilfe geleistet werden sollte: Es geht bei den natürlichen Hilfspflichten darum, unser Gegenüber zu befähigen, sich selber
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achten und autonom entscheiden zu können. Es wäre beispielsweise mit einer auf Achtung basierenden Hilfskonzeption nicht kompatibel, die Bevölkerung der Entwicklungsländer ungefragt mit Hilfsmitteln zu beliefern und so in eine Abhängigkeit zu stürzen.18 Vielmehr geht es um strukturelle Hilfe, die es der armen Bevölkerung erlaubt, ihre Ansprüche auf Unterstützung bei den eigentlichen Pflichtinhabern – ihren Regierungen – wirksam geltend zu machen. Ich habe also behauptet, dass wir verpflichtet sind sicherzustellen, dass alle Menschen in lebenswürdigen Umständen leben können. Nun habe ich eingangs dieses Kapitels aber auch festgehalten, dass diese Pflicht sehr viel weniger dringlich zu sein scheint, als die Pflicht, ein Kind aus einem Teich zu retten. Weshalb ist dem so? Und ist die Pflicht im zweiten Fall in der Tat stärker (was immer dies heissen mag)? Im Folgenden wende ich mich diesen Fragen zu.
5.2 Phänomenologie der Hilfspflichten auf Distanz In seinem Aufsatz Famine, Affluence and Morality19 von 1972 hat Peter Singer ein erstes Mal sein Teich-Beispiel formuliert:20 „Wenn ich an einem seichten Teich vorbeikomme und ein Kind darin ertrinken sehe, so sollte ich hineinwaten und das Kind herausziehen. Das bringt zwar mit sich, dass meine Kleider schmutzig und nass werden, aber das ist bedeutungslos, wohingegen der Tod des Kindes vermutlich etwas sehr Schlechtes wäre.“21
Dieses Beispiel dient der Erläuterung seines Prinzips, dass wir, wenn es in unserer Macht steht, etwas Schlechtes zu verhindern, ohne dabei etwas von moralischer Bedeutung 22 opfern zu müssen, entsprechend handeln sollten. Singer führt zu Beginn des Textes ein stärkeres Prinzip ein, das lautet: „Wenn es in unserer Macht steht, etwas Schlechtes zu verhindern, ohne dabei etwas von vergleichbarer moralischer Bedeutung zu opfern, so sollten wir dies, moralisch gesehen, tun.“23 Obwohl Singer der Meinung ist, dass sich das stärkere Prinzip („etwas von vergleichbarer moralischer Bedeutung zu opfern“) rechtfertigen lasse, operiert er im Weiteren
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mit dem schwächeren Prinzip („etwas von moralischer Bedeutung zu opfern“). Letzteres reiche aus, Hilfspflichten gegenüber Notleidenden zu begründen, die von allen Moraltheorien akzeptiert werden könnten. Gemäss Singer besteht im Fall des Kinds im Teich also genauso eine Hilfspflicht wie im Fall eines bengalischen Flüchtlingskindes, das vor dem Hungertod zu retten ist. Denn es sei „moralisch irrelevant, ob die Person, der ich helfen kann, ein zehn Meter von mir entferntes Nachbarskind ist oder ein Bengale, dessen Namen ich niemals erfahren werde, in 15’000 Kilometern Entfernung.“24 Räumliche Distanz sei hinsichtlich der Geltung von Hilfspflichten moralisch irrelevant: Wer „irgendein Prinzip der Unparteilichkeit, Universalisierung, Gleichheit oder dergleichen“25 akzeptiere, könne eine Benachteiligung anderer Menschen aufgrund ihrer physischen Entfernung nicht rechtfertigen. Eine solche Benachteiligung wäre aus konsequentialistischer Sicht nur dann gerechtfertigt, wenn Kosten-Nutzenüberlegungen für sie sprächen, wenn wir also mit weitaus geringeren Mitteln den Nahestehenden besser helfen könnten. Da die Not in den Entwicklungsländern aber so viel gravierender und weit verbreiteter ist als hierzulande, dürfte dasselbe Ausmass an Hilfe in den Entwicklungsländern gegenwärtig mehr bewirken als ein entsprechendes Hilfsbudget in unserer Breitengraden. Eine Benachteiligung schlüge also wenn schon zuungunsten der Nahestehenden aus. Im Folgenden interessiere ich mich für die Parallele zwischen dem Kind im Teich und dem Kind im Hungergebiet.26 Ich gebe Singer Recht, dass sicherlich viele die Intuition einer Hilfspflicht im Teich-Beispiel teilen. Hinsichtlich einer Hilfspflicht gegenüber dem Flüchtlingskind scheint dagegen eine entsprechende Intuition zu fehlen. Zwar erfüllt die meisten ein Unbehagen bei der Vorstellung, dass Kinder verhungern oder erfrieren. Dass wir in den beiden Beispielen in derselben Art und Weise moralisch zu Hilfe verpflichtet sein sollen, entspricht dagegen nicht unserem spontanen Urteil.27 Vielmehr würden wir, wenn jemand die Parallele zöge, um etwa jemanden zu kritisieren, der für eine Hungersnot nichts spenden will, ausrufen: „Aber das ist doch nicht dasselbe!“ Wie
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Hilfe auf Distanz
in Kapitel 2 bereits ausgeführt, stellt sich die Frage, was wir von solchen Intuitionen oder alltagsmoralischen Überzeugungen halten sollen.28 Selbst wenn wir ein rekonstruktives Moralbild29 vertreten und den Intuitionen einen hohen Erkenntniswert hinsichtlich dessen, was moralisch geboten ist, zusprechen, müssen wir unsere Intuitionen in einem zweiten Schritt stets rechtfertigen können, wollen wir daraus ein allgemein verbindliches Prinzip ableiten. Eine Möglichkeit, eine solche Rechtfertigung zu geben, ist aufzuzeigen, dass sich die Fälle „Kind im Teich“ und „von Hunger bedrohtem Kind“ in moralisch relevanter Hinsicht unterscheiden. Auf der phänomenologischen Ebene unterscheiden sich die beiden Fälle in vielerlei Hinsicht, wie die nebenstehende Übersicht zeigt. Zwischen den beiden Fällen identisch sind lediglich die beiden Faktoren, dass das Kind unverschuldet in seine Notlage geraten ist und dass die Not lebensbedrohlich ist. Für die Begründung einer Hilfspflicht sind diese beiden Faktoren sicher die gewichtigsten. Es ist jedoch zumindest eine offene Frage, ob alle anderen Faktoren für die Pflichtbegründung und -geltung moralisch irrelevant sind. Singer negiert zwar keineswegs, dass es zwischen dem TeichBeispiel und der Weltarmut Unterschiede auf der Ebene der Phänomene gibt: Er gesteht beispielsweise zu, dass im Teich-Beispiel ein Kind zu retten sei, während es weltweit Millionen sind, und dass eine Rettungsaktion im Teich-Beispiel normalerweise erfolgreich ausfallen dürfte, während es hinsichtlich der Weltarmut unklar sei, was eine erfolgreiche Rettung überhaupt beinhalten würde.30 Doch hält er diese Unterschiede für die Pflichtbegründung für allesamt nicht relevant. Um zu entscheiden, ob Singers Einschätzung korrekt ist, werde ich im Folgenden die einzelnen Faktoren gesondert untersuchen. Ich konzentriere mich dabei auf die Faktoren der räumlichen Distanz, der sozialen Distanz und der Vagheit der Pflichten.
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1) Anzahl Notlei-
dende 2) Anzahl potenti-
elle Helfer
a) Ertrinkendes Kind im Teich
b) Hungerndes Flüchtlingskind
ein Kind
Millionen von Kindern
ein Helfer
Millionen von Helfern
3) Kosten der Hilfe Nasse Kleider, Zeit
Geld
4) Kadenz der Not
(vermutlich) einmalig
(vermutlich) langfristig
(vermutlich) einmalig
(vermutlich) langfristig
(mehr oder weniger) klar umrissene Handlung: in den Teich springen und Kind herausholen
mehrere Optionen
hohe Erfolgswahrscheinlichkeit (Retter hilft eigenständig)
unklare Erfolgswahrscheinlichkeit (Retter ist bei der Hilfe auf entsprechende Institutionen/Personen angewiesen)
5) Kadenz der ge-
forderten Hilfe 6) Inhalt der
Rettungsaktion 7) Erfolgswahr-
scheinlichkeit der Rettungsaktion
8) Ursache der Not Unfall 9) Räumliche
Situation
10) Bedeutung der
Rettungsaktion für den Retter
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institutionelles Versagen
Räumliche Nähe; Helfer und Notleidender treffen direkt aufeinander.
Räumliche Distanz; Kontakt indirekt durch Medien oder Institutionen vermittelt.
„Heldentat“; allenfalls sinnstiftend (man hat jemandem das Leben gerettet); evt. langfristige Dankbarkeit des Opfers dem Retter gegenüber.
Wenig Bedeutung, es sei denn, „Helfen“ werde zum Lebensinhalt; Dankbarkeit für Geleistetes fraglich, evt. nicht einmal angemessen.
u.U. relevant
irrelevant
11) Strafrechtliche
Relevanz einer Unterlassung
5.2.1 Räumliche Distanz In der Diskussion um die moralische Relevanz von Distanz ist in aller Regel die räumliche oder geographische Distanz zwischen
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Hilfe auf Distanz
potentiellem Pflichtinhaber und Hilfsbedürftigem gemeint.31 Als Standardbeispiel für die Diskussion dieser Frage wird oft auf Singers Teich-Beispiel und auf das Flüchtlingskind zurückgegriffen. Wie gesagt eignet sich das Beispielpaar jedoch nicht für die Untersuchung der hier angestrengten Frage, denn die beiden Fälle unterscheiden sich bezüglich weitaus mehr Faktoren als allein hinsichtlich der räumlichen Nähe respektive Distanz der relevanten Akteure. Wir benötigen deshalb für unsere Untersuchung parallel liegende Fälle, die sich ausschliesslich hinsichtlich des Faktors, dessen Bedeutung wir beurteilen wollen, unterscheiden.32 Frances Kamm schlägt folgendes alternatives Beispiel-Paar vor: „Near Alone Case: I am walking past a pond (screened by bushes) in a foreign country that I am visiting. I alone learn that many children are drowning in it and I alone can save one of them. To save him, I must put the $500 I have in my pocket into a machine that then triggers (via electric current) rescue machinery that will certainly scoop him out.“ „Far Alone Case: I alone learn that in a distant part of a foreign country that I am visiting, many children are drowning and I alone can save one of them. To save him, all I must do is put the $500 I carry in my pocket into a machine that then triggers (via electric current) rescue machinery that will certainly scoop him out.“33
Diese Beispiele sind exakt identisch bis auf den Umstand der räumlichen Nähe im ersten Fall: Die Kinder ertrinken in einem Teich in meiner unmittelbaren Nähe, den ich zwar nicht sehe, da er hinter den Büschen versteckt ist. Kamm behauptet in der Folge, dass im ersten Fall eine stärkere Hilfspflicht bestehe, was allein auf die Nähe zu den Hilfsbedürftigen zurückzuführen sei. Hätten wir unendlich lange Arme, mit denen wir über den Ozean reichen und das Kind im zweiten Fall aus dem Teich ziehen könnten, so wäre die Pflicht in beiden Fällen exakt dieselbe. Da wir jedoch über keine weltumspannenden Arme verfügten, werde unsere Pflicht gegenüber Menschen in der Ferne mit wachsender Distanz unvergleichlich schwächer, so Kamm.34 Dieser Schluss überzeugt jedoch nicht. Ich kann nicht sehen, weshalb eine allfällige Pflicht, wenn sie im ersten Fall besteht, nicht auch im zweiten Fall bestehen soll und vice versa. In beiden Fällen sind wir mit einer extremen Notsituation konfrontiert und müssen $500 in eine Maschine stecken, um ein Kind zu retten. Die Beispie-
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le sind allerdings dermassen konstruiert, dass eine eindeutige Intuition ausbleibt. Viele würden eine entsprechende Pflicht vermutlich in beiden Fällen zurückweisen, weil $500 eine beträchtliche Summe sind, die sie für die Rettung eines wildfremden Kindes aufwenden müssten, im Wissen darum, dass viele andere Kinder nichtsdestotrotz ertrinken werden. Gingen wir hingegen davon aus, wir hätten nur $50 zu bezahlen und wären in der Annahme gerechtfertigt, dass die Rettungsaktion erfolgreich ausfallen wird, so scheint mir, dass wir in beiden Fällen genau gleich geneigt und auch verpflichtet sind, die Maschine in Bewegung zu setzen. Wenn wir die beiden Fälle dennoch ungleich bewerten, so meiner Meinung nach deshalb, weil wir im Near Alone Case überprüfen können (indem wir durch die Büsche blicken), ob die Maschine erfolgreich war, ob also durch unsere Spende auch tatsächlich jemand gerettet wurde. Im Far Alone Case ist dies nicht der Fall. Vielmehr müssten wir unser Geld einer Person anvertrauen, die eine relativ dubiose Geschichte von einer Maschine erzählt, welche, wenn sie mit Geld gefüttert wird, Kinder irgendwo in einer anderen Ecke des Landes retten soll. Wenn wir also die beiden genannten Fälle unterschiedlich beurteilen, so meines Erachtens nicht deshalb, weil räumliche Distanz moralisch relevant wäre, sondern weil unklar ist, ob wir eine Hilfspflicht haben in Fällen, in denen die Erfolgsaussicht der Hilfe nicht abgeschätzt werden kann.35 Wählen wir statt Kamms Beispielspaar ein etwas alltagstauglicheres Szenario, scheint mir dagegen evident zu sein, dass bei einem alleinigen Unterschied von räumlicher Distanz keine Differenz hinsichtlich der Existenz einer Pflicht resultiert. Stellen wir uns etwa vor, wir nehmen einen beissenden Geruch war, reissen die Fenster auf und sehen, dass es im Nachbarhaus brennt: Wir sind angehalten, sofort die Feuerwehr zu rufen. Sehen wir von einem Aussichtsturm aus, dass es am anderen Ende der Stadt, in einem relativ verlassenen Gebiet, das man nur von oben erspähen kann, brennt, haben wir exakt dieselbe Pflicht. Wenn wir in Fällen, in denen eine Pflicht auf Distanz zur Disposition steht, keine Pflicht ausmachen, so liegt dies meiner Ansicht nach nicht an der Distanz, sondern beispielsweise daran, dass wir unseren Augen oder der Informationsquelle nicht trauen oder uns nicht sicher sind, ob
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unsere Hilfeleistung auf Distanz überhaupt wirksam sein kann. Räumliche Distanz an sich ist jedoch nicht moralisch relevant. 5.2.2 Soziale Distanz Einige haben behauptet, der Grund dafür, dass wir Personen in der Nähe stärker verpflichtet seien als Personen in der Ferne, bestehe in der sozialen Nähe zu ihnen, die in der Regel mit räumlicher Nähe einhergehe. Diese These kann auf zwei Arten verstanden werden: Einer kommunitaristischen Lesart zufolge meint die These, dass wir mit den Menschen in unserer näheren und weiteren Umgebung nicht nur unseren Alltag, sondern meist auch Sprache, Kultur, Nationalität, politisches Leben und weit mehr teilen. Wie ich in Kapitel 2.2 ausgeführt habe, sehen Kommunitaristen die Quelle der Moral insgesamt in diesen Beziehungen, die sie als sinngebend und identitätsstiftend erachten. Menschen in unserer Nähe schuldeten wir deshalb weit mehr als Menschen, mit denen uns nichts Entsprechendes verbinde. Wie bereits dort gesagt, halte ich es für durchaus plausibel, dass entsprechende Beziehungen spezielle Pflichten generieren. Doch impliziert dies keineswegs, dass wir darüber hinaus nicht auch generelle Pflichten haben, die wir allen Menschen unabhängig von individuellen Beziehungen schulden. Und um genau diese Pflichten geht es bei unserer Frage. Wird argumentiert, wir hätten im Teich-Beispiel (im Unterschied zum Flüchtlingskind-Beispiel) eine (stärkere) Hilfspflicht, weil wir in einer speziellen Beziehung zum Opfer stünden, so scheint mir dies überdies irreführend. Das Teich-Beispiel würde nicht anders bewertet, wenn wir es so umwandelten, dass sich der Schwimmumfall des Kindes in einer uns fremden Umgebung zutrüge: Stellen wir uns etwa vor, wir spazierten während unserer Ferien in einem fernen Land an einem Teich in der Hotelanlage vorbei und erspähten darin ein Kind. In diesem Fall haben wir exakt dieselbe Pflicht wie in Singers Beispiel, in dem sich der Teich auf dem Universitätscampus befindet und ein Dozierender auf dem Weg zu seiner Vorlesung ist: Wir müssen in den Teich springen und das Kind aus dem Wasser ziehen. Es kann also für die Pflichtbegründung nicht ausschlaggebend sein, ob wir zum Opfer
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in einer Beziehung stehen, die zum Beispiel darauf beruht, dass wir es aus der Nachbarschaft kennen oder dass wir derselben Nation angehören. Eine zweite Lesart der obigen These meint, dass bereits die Tatsache der Begegnung jene spezielle Beziehung, die Hilfe in solchen Situationen zur Pflicht mache, generiere. So behauptet etwa Jeremy Waldron, dass die blosse Tatsache der räumlichen Nähe zu einer Person in grosser Not spezielle Pflichten mit sich bringe.36 Ähnlich Liam Murphy: Zwar sei es zugegebenermassen etwas eigenartig, schreibt er, im Fall einer Zufallsbegegnung von einer speziellen Beziehung zu reden, doch sei es die plausibelste Weise zu erklären, weshalb wir im Teich-Beispiel eine starke Hilfspflicht hätten, dem Jungen in Bangladesh gegenüber jedoch nicht. Ich bezweifle, dass diese Argumentation zutrifft. Betrachten wir zuerst, was unter einer speziellen Pflicht zu verstehen ist. Die Begründung für spezielle Pflichten besteht wesentlich in der Beziehung zwischen dem Pflichtinhaber und der Person, der die Pflicht geschuldet ist, respektive in der gemeinsamen Geschichte oder in Abmachungen, die diese Beziehung ausmachen. Unter die speziellen Pflichten fallen Wiedergutmachungspflichten, Vertragspflichten, Dankespflichten und Beziehungspflichten37. Spezielle Pflichten sind somit immer nur bestimmten Personen geschuldet, nämlich jenen, denen wir ein Übel angetan oder etwas versprochen haben, denen wir etwas verdanken oder mit denen wir eine Beziehung pflegen (oder, wie die Kommunitaristen meinen, eine gemeinsame Kultur oder Geschichte teilen). Ob diese Liste erschöpfend ist und ob sich die verschiedenen speziellen Pflichten letztlich auf einen Typus – etwa auf Vertragspflichten – reduzieren lassen, ist an dieser Stelle nicht von Belang.38 Ausschlaggebend für die hier diskutierte Frage ist lediglich, dass spezielle Pflichten – so konzipiert – auf akteurs-relativen Gründen beruhen: Mein Grund, mich um meine Schwester zu kümmern, ist nicht für jede andere Person ein Grund, dasselbe zu tun, selbst dann nicht – und dies ist der springende Punkt – wenn er oder sie dazu in der Lage wären. Der akteurs-relative Grund verfügt, um mit Thomas Nagel zu sprechen, über einen essentiellen Bezug zur Person, die diese Pflicht hat.39 Wäre ich nicht die Schwester, hätte ich keine spezielle Pflicht ihr
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gegenüber, mich um sie zu kümmern (es sei denn, ich hätte ihr dies versprochen, womit eine andere spezielle Pflicht ins Spiel käme). Das bedeutet jedoch wiederum nicht, dass andere, die in keinem besonderen Verhältnis zu meiner Schwester stehen, nicht eine generelle Pflicht haben, ihr in gewissen Momenten beizustehen – eben etwa in akuter Not. Doch eine solche spezielle Pflicht kann im Teich-Beispiel nicht vorliegen, denn es sind hier keine akteurs-relativen Gründe im Spiel: Jeder andere, der vorbeigeht, hat genauso die Pflicht, das Kind zu retten. Hat er dies getan, sind weitere Passanten ihrer Pflicht entledigt. Bei speziellen Pflichten verhält es sich anders. Betrachten wir zum Beispiel die Dankespflichten: Wenn ich einem Freund beim Umzug helfe und dieser sich nicht erkenntlich zeigt, ist seine Dankespflicht mir gegenüber nicht dadurch aufgehoben, dass seine Eltern sich bei der Einweihungsparty für die Hilfe ihrem Sohn gegenüber bedanken.40 Generelle Hilfspflichten bestehen jedoch genau so lange, als jemand in Not ist und deshalb der Hilfe bedarf; ist Hilfe geleistet worden, ist dem Opfer gegenüber niemand mehr in der Pflicht. Die Begründung für eine generelle Hilfspflicht liegt allein in der intrinsischen Natur des Opfers, und die Pflicht des Passanten im Teich-Beispiel ist somit eine generelle Pflicht, die alle haben, die in dessen Lage kommen. Zufallsbegegnungen stellen keine im moralischen Sinn relevanten Beziehungen dar, weshalb ihnen auch keine speziellen Pflichten erwachsen. Es scheint mir deshalb irreführend, einen moralisch relevanten Unterschied zwischen dem Teich-Beispiel und dem Flüchtlingskind-Beispiel darin zu sehen, dass bei ersterem im Unterschied zum zweitem eine spezielle Pflicht vorliege. 5.2.3 Vagheit Der Grund dafür, dass – wie im Eingangszitat geschrieben – die meisten denken, ein Kind aus dem Teich zu retten sollte Vorrang haben vor fast jedem anderen Vorhaben, derweil sie nicht glauben, dass sie einem verhungernden Kind in der Ferne mit derselben Dringlichkeit helfen müssen, besteht meines Erachtens darin, dass es sich bei Fällen wie dem Teich-Beispiel um Fälle der Nothilfe
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handelt. Solche Fälle gehen mit Hilfspflichten einher, die eine andere Struktur aufweisen als Hilfspflichten, wie sie im Rahmen der Weltarmut gefordert sind. Ob sich aus der behaupteten unterschiedlichen Pflichtstruktur auch eine Änderung von Pflichtstärke und Pflichtinhalt ergibt, ist eine Frage, die ich später wieder aufnehme. In einem ersten Schritt soll es lediglich um die Pflichtstruktur gehen. Als Beispiel für einen Akt der Nothilfe wird oft der neutestamentliche Barmherzige Samariter genannt, eine Person aus Samarien, die auf einen Verletzten trifft, der nach einer gewalttätigen Auseinandersetzung halbtot am Wegrand liegt.41 Der Samariter wechselt nicht wie vor ihm zwei andere Passanten42 die Strassenseite, sondern nimmt sich dem Verletzten an, indem er seine Wunden verbindet, ihn zu einer Herberge transportiert, dort pflegen lässt und die Rechnung für die Krankenpflege begleicht. Die Pflicht, Nothilfe zu leisten, ist nicht nur in den allermeisten Moraltheorien verankert, sondern auch in zahlreichen Rechtssprechungen als Delikt der unterlassenen Nothilfe verbrieft (Punkt 11a in der obigen Tabelle).43 Nothilfssituationen zeichnen sich durch akute und einmalige Not einerseits (4a) und durch ein direktes Aufeinandertreffen von Opfer und potentiellem Helfer andrerseits aus (9a). Da in Nothilfssituationen klar zu sein scheint, wer wozu verpflichtet ist, spricht Violetta Igneski in solchen Fällen von „moralisch bestimmten“ Pflichten. Solche Pflichten weisen nach ihr einen spezifischen Pflichtträger (2a), einen spezifischen Pflichtinhalt (6a), eine spezifische Person, der die Pflicht geschuldet ist (1a), und einen spezifischen Zeitpunkt der Pflichterfüllung (Hilfe muss sofort geleistet werden, um eine akute Gefahr zu bannen, 5a) auf.44 Sind die vier Bedingungen erfüllt, liege eine Nothilfssituation vor, die mit einer bestimmten Pflicht einhergehe. Dies ist im Teich-Beispiel der Fall: Der Passant muss das Kind im Teich sofort retten, indem er in den Teich springt und das Kind herauszieht. Allerdings sind auch Nothilfssituationen denkbar, in denen 1a) nicht erfüllt ist: Denken wir etwa an eine Variante des TeichBeispiels, in dem drei Kinder im Teich treiben und eine Gruppe von Passanten sich nähert. Igneski meint, auch in diesem Fall liege eine bestimmte Pflicht vor: Es sei dann geboten, so viele Kinder wie möglich zu retten. Wenn man Nothilfeszenarien so fasst, stellt
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Hilfe auf Distanz
sich allerdings die Frage, worin der Unterschied zwischen dem variierten Teich-Beispiel und der Weltarmut besteht, denn die Weltarmutssituation lässt sich als Gedankenexperiment auch als übergrosse Teich-Anlage vorstellen. Igneski sieht den Unterscheid zwischen den beiden Situationen darin, dass es einer Person in Bezug auf die globale Armut offen stehe, ob sie beispielsweise für ein Malariaprophylaxe-Programm in Uganda oder für Strassenkinder in Manila spende, während sie im erweiterten Teich-Beispiel genau etwas tun müsse – nämlich in den Teich springen, und zwar selbst dann, wenn zahlreiche Personen zugegen sind, die untätig bleiben.45 Igneski weicht damit jedoch ihre Unterscheidung zwischen bestimmten und unbestimmten Pflichten auf. Allerdings zu Recht, denn die Unterscheidung scheint mir keine trennscharfe zu sein, sondern eher als eine Skala zwischen zwei Polen vorzustellen: Pflichten tendieren eher zu Vagheit oder Bestimmtheit. Die Enden der Skala bilden extreme Vagheit auf der einen Seite (Weltarmutssituation) und extreme Bestimmtheit auf der anderen Seite (Singers Version des Teich-Beispiels). Die Tendenz zu Vagheit korreliert häufig mit räumlicher Distanz: Weltweit gibt es Millionen von Hungerleidenden und mannigfache Möglichkeiten, gegen das Elend etwas zu unternehmen. Ob wir Geld spenden, uns bei Caritas oder Oxfam engagieren oder einen Basar zugunsten von Kindern in Not organisieren, scheint zumindest prima facie keine Rolle zu spielen; alle diese Handlungen können als Erfüllung der Pflicht gelten, Notleidenden zu helfen. Und auch wenn die Opfer der Weltarmut dringend Hilfe benötigen – so ist es zum Beispiel angemessen zu sagen, ein Junge in Uganda benötige mit derselben Dringlichkeit ein Medikament gegen Malaria, wie der Junge im Teich unseres rettenden Sprungs ins Wasser bedarf – ist es uns gar nicht möglich, so unmittelbar zu helfen wie im Teich-Beispiel, weshalb es keinen Unterschied zu machen scheint, ob wir heute, morgen oder in einem Monat Geld überweisen oder einer NGO unsere Hilfe anbieten. Hilfswerke versuchen die räumliche Distanz und somit auch die Vagheit der Erfordernisse oft zu überwinden, indem sie durch entsprechende Kampagnen bestimmte Pflichten vortäuschen, wie etwa im Eingangsbeispiel von Amina.46 Statt einer Spende für ein Projekt in irgendeinem Land, kann dann
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ein Brunnen in einem konkreten Dorf finanziert werden oder die Schulausbildung eines bestimmten real existierenden Mädchens. Da die Übergänge zwischen bestimmten und vagen Pflichten fliessend sind, sollten die Begriffe nicht durch die kantische Terminologie der vollkommenen und unvollkommenen Pflichten ersetzt werden. Auch wenn Hilfspflichten in Igneskis Sinn bestimmt sein können, handelt es sich dabei nicht um vollkommene Pflichten in Kants Sinne – nicht nur, weil diesen keine Rechte korrelieren, sondern auch, weil deren Inhalt nicht so exakt bestimmt werden kann wie im Fall der vollkommenen Pflichten.47 Selbst wenn klar ist, was der Passant in Singers Teich-Beispiel zu tun hat – nämlich das Kind retten – gibt es noch Spielraum hinsichtlich der Wahl der Mittel und hinsichtlich des Ausmasses der Hilfe, die gefordert ist (in den Teich springen oder Rettungsring werfen und es allenfalls ins Krankenhaus fahren). Dies wird auch deutlich, wenn wir an das vorher zitierte Beispiel des Samariters denken: In dieser Situation muss sicher Nothilfe geleistet werden, sodass der Samariter überlebt. Doch darüber hinaus? Die Spesen für die Spitalpflege zu übernehmen, scheint kaum Pflicht zu sein.48 Das Obermass der Hilfspflicht kann also auch in Nothilfssituationen vage bleiben. Halten wir also fest, dass Nothilfssituationen mit (mehr oder weniger) bestimmten Hilfspflichten einhergehen, also eine andere Struktur aufweisen als die behaupteten Hilfspflichten im Rahmen der Weltarmut. Die Begründung für die beiden Pflichttypen bleibt in beiden Fällen dieselbe: Wir schulden Menschen in grosser Not Hilfe. Die Pflichten unterscheiden sich lediglich hinsichtlich ihrer Struktur: Während allgemeine Hilfspflichten vage sind, sind Nothilfspflichten in der Regel bestimmt, indem sie einen spezifischen Pflichtträger, einen spezifischen Pflichtinhalt, eine spezifische Person, der die Pflicht geschuldet ist, und einen spezifischen Zeitpunkt der Pflichterfüllung aufweisen. Aus der Struktur der Pflichten ergibt sich hinsichtlich deren Geltung oder Stärke vorläufig jedoch nichts – vielmehr bedürften wir eines Arguments, warum eine strukturell anders beschaffene Pflicht automatisch schwächer oder stärker sein sollte.49 Dass ein solches Argument notwendig ist, wird erst recht ersichtlich, wenn wir einen Blick auf die negativen Pflichten werfen: Wie wir in Ka-
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pitel 4 gesehen haben, tendieren auch sie auf Distanz zu Vagheit aufgrund der weit verästelten Kausalketten und der unklaren Verantwortungszuschreibung. Dennoch sind wir nicht der Meinung, wir dürften andere Menschen schädigen, bloss weil der einzelne Beitrag zur Schädigung und infolgedessen die Wiedergutmachung nicht klar bemessen werden könne, und weil das Recht, nicht geschädigt zu werden, nicht bei einer einzigen Person eingefordert werden kann.50 Zweifelsohne hat die Struktur der Pflicht einen grossen Einfluss auf unsere Motivation, ihr nachzukommen:51 Die Dringlichkeit der Hilfe und unsere Möglichkeit, diese zu leisten, springen in Nothilfssituationen geradezu ins Auge (4a und 5a), und die Erfolgsaussicht der Hilfe ist unter solchen Umständen gross (7a). Ausserdem müssen wir in einer Nothilfssituation mit Kritik rechnen, wenn wir unserer Pflicht nicht nachkommen. Da in solchen Fällen die Verantwortung keine diffuse ist (wie im Fall der Weltarmut), ist es im Nachhinein nachvollziehbar, wer sich aus der Verantwortung gestohlen hat. Neben der gesellschaftlichen Schmach, die uns womöglich zuteil wird, werden wir vielleicht sogar für unterlassene Hilfeleistung rechtlich belangt (11a). Weil wir in einer Nothilfssituation überdies zuweilen Leben retten können, helfen wir auch umso lieber, als solche Aktionen sich sinnstiftend anfühlen; man erfährt es als eine Bereicherung, sich in hohem Masse nützlich gemacht zu haben, und erzählt gern, wie man z.B. eine schwangere Touristin, die im Restaurant mit plötzlichen Wehen zusammengebrochen ist, des Nachts durch die Stadt gefahren hat und sie gerade noch rechtzeitig in der Klink angekommen ist und ein gesundes Baby zur Welt gebracht hat. Dagegen ist es wenig spektakulär zu erzählen, man habe 50 Franken für einen Dorfbrunnen im Sahel gespendet (10a). Bei diesen Überlegungen handelt es sich jedoch um psychologisch-motivationale Fragen, die von der Geltung der Pflicht fürs erste zu trennen sind. Für die Geltung der Hilfspflichten am bedeutsamsten scheinen mir die Punkte 1, 2 und 8 zu sein. 1a und 2a (sehr viele Opfer und sehr viele potentielle Helfer) bringen eine Verantwortungsdiffusion mit sich, die eine Zuschreibung einer Pflicht an eine spezifische Person
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unmöglich macht. Singers These, dass der einzelne in einer solchen Situation soviel zu leisten hat, wie er vermag, ohne dass für ihn selber etwas von moralischer Bedeutung auf dem Spiel stünde, scheint aus Gründen der Fairness unbefriedigend: Weshalb sollte eine einzelne Person sich abrackern, wenn womöglich alle anderen nichts tun? Singer würde dem entgegenhalten, dass die Moral verlange, das Bestmögliche zu tun, und wenn die einen tatenlos bleiben, entledigt dies die anderen nicht ihrer Verantwortung. Doch zuständig für die Beseitigung der Weltarmut kann eine Einzelperson nicht sein; zuständig sind vielmehr all jene gemeinsam, die etwas gegen die Not unternehmen können, weshalb sich diese Personen absprechen und ihre Hilfsaktionen koordinieren müssen. Bei einem Unfall, wie er im Teich-Beispiel vorliegt, ist solch eine Absprache weder möglich, noch sinnvoll. Unfälle zeichnen sich in der Regel gerade dadurch aus, dass kein institutionelles Versagen vorliegt und eine institutionelle Lösung auch nicht angemessen wäre (Punkt 8). Dies wäre nur dann der Fall, wenn sich Unfälle an einer bestimmten Stelle oder aufgrund einer bestimmten Ursache häufen würde. Fielen etwa immer wieder Kinder in einen Teich, würde man erwarten, dass die Behörden einen Zaun errichten lassen. Bei der Weltarmutssituation handelt es sich nicht um einen Unfall, sondern um chronische Not, der nur mit institutionalisierten Massnahmen beizukommen ist.52 Allerdings geht diese Analyse nicht mit einem moralischen Freispruch einher, denn die Frage, ob nicht das Individuum in der Pflicht steht, sein Bestmögliches zu tun, bis sichergestellt wird, dass mithilfe von institutionellen Sanktionen alle ihren Beitrag leisten, ist damit nicht vom Tisch. Singers Blick auf die Weltarmutsfrage scheint mir denn auch genau dieser Blick zu sein: Er will eine Antwort geben auf die Frage, wozu wir hier und jetzt verpflichtet sind – gerade auch in Anbetracht dessen, dass zu wenige etwas gegen das Leiden zu unternehmen scheinen. Ich komme auf diese Probleme in Kapitel 6 zurück. Bis anhin haben wir also keine Rechtfertigung für die Behauptung gefunden, Hilfspflichten im Rahmen der Weltarmut seien aufgrund deren Vagheit schwache Pflichten. Dass Hilfspflichten insbesondere auf Distanz schwach und inhaltlich zu unterbestimmt seien, um uns auf Hilfe für die Armutsbetroffenen zu verpflichten, wurde oft
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mit Verweis auf Kant behauptet. Im Folgenden will ich deshalb die kantische Konzeption von Hilfspflichten auf die Frage hin untersuchen, ob die oben genannten Zweifel sich bei ihm erhärten oder entschärfen lassen.
5.3 Kantische Hilfspflichten und Vagheit Im letzten Abschnitt haben wir als eines der Probleme der Hilfspflichten auf Distanz deren Unbestimmtheit oder Vagheit ausgemacht. Unbestimmte Pflichten sind den kantischen unvollkommenen Pflichten ähnlich: Wir schulden sie nicht bestimmten Personen, und sie haben keinen spezifischen Inhalt. Anders verhält es sich mit den vollkommenen Pflichten, die wir bestimmten Personen gegenüber haben, die ein Recht darauf haben, dass ihnen gegenüber genau diese Pflicht eingehalten wird. Dies hat damit zu tun, dass es sich dem kantischen Verständnis nach bei den Hilfspflichten um Tugend- und nicht um Rechtspflichten handelt. Und da gemäss Kant niemand ein Recht auf unsere Hilfe hat, kann – so scheint es zumindest – nicht die Rede davon sein, dass Hilfe Pflicht im strengen Sinne ist; vielmehr obliegt es offenbar ganz und gar dem Gutdünken der handelnden Person, ob und wem sie wann womit zu helfen geneigt ist. In der Folge wurde Wohltätigkeit als eine Frage der persönlichen Präferenzen verstanden, was für eine verbindliche Idee von Hilfe verheerend ist: Wenn wohltätig zu sein optional ist, dann ist auch Gleichgültigkeit gegenüber Menschen in Not erlaubt – solange mein Verhalten die grundlegenden Rechte anderer nicht verletzt. Im Folgenden will ich deshalb diskutieren, wie es um die „Schwäche“ von Hilfspflichten bestellt ist. Dabei werde ich von Kant ausgehend verschiedenen Formen der Vagheit der Hilfspflichten aufgreifen und zu zeigen versuchen, dass die Vagheit der Pflichten bei Kant weitaus weniger ausgeprägt ist, als zuweilen unterstellt. In seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten schreibt Kant, eine Handlung sei verboten, wenn deren Maxime entweder nicht ohne Widerspruch als Naturgesetz verstanden werden könne, oder wenn wir nicht ohne Widerspruch wollen können, dass die Maxime
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ein Naturgesetz werde. Nehmen wir an, jemand folge der Maxime, anderen Menschen müsse man nicht helfen. Diese Maxime kann gemäss Kant durchaus ohne Widerspruch zum Naturgesetz werden: Die Überzeugung eines vermögenden Mannes beispielsweise, der gegenwärtig keinerlei Hilfe bedarf und der Maxime des Nicht-Helfens entsprechend handelt, steht nicht in Widerspruch zum allgemeinen Naturgesetz, denn die Menschheit könnte weiter existieren, wenn alle diese Maxime befolgten. Universales NichtHelfen ist, anders gesagt, ein mögliches Naturgesetz. Etwas ist nur dann kein mögliches Naturgesetz, wenn es für jedes Individuum, das ihm unterworfen ist, unmöglich ist, ihm gemäss zu handeln. Eine Person, die gemäss der genannten Maxime des Nicht-Helfens handelt, macht jedoch aufgrund der zweiten Alternative einen Fehler: Sie kann nicht wollen, dass ihre Maxime ein allgemeines Naturgesetz werde.53 Den Grund dafür sieht Kant in unserer Verletzlichkeit und, darauf basierend, in unserer gegenseitigen Abhängigkeit. Wie ist dies zu verstehen? Die nahe liegende Interpretation scheint eine Klugheitsüberlegung zu sein: Da es eine empirische Tatsache ist, dass wir zumindest zeitweilig aufeinander angewiesen sind, tun wir gut daran, einander zu helfen, denn möglicherweise werden wir dereinst ebenso der Hilfe anderer bedürfen.54 Diese Interpretation macht sich etwa Henry Sidgwick zu eigen, der aus Kants Überlegungen folgert, dass es für einen reichen, gesunden Mann keinen Grund gebe, anderen zu helfen, denn mit Problemen könne dieser stets allein fertig werden.55 Hilfe ist – zumindest die meisten Formen davon – käuflich. Man könnte also folgern, die Hilfspflicht sei für Wohlhabende weniger bindend, weil sie es sich leisten können, das Risiko einzugehen, dass ihnen, falls sie Unterstützung bräuchten, niemand freiwillig helfen wird. Diese Überlegung entspricht Narvesons „Silberregel“, die empfiehlt, einander nur zu helfen, wenn wir erwarten können, dass auch uns geholfen wird, wenn wir in eine Notlage geraten.56 Ich halte diese Interpretation der kantischen Idee der Hilfspflichten jedoch nicht für korrekt. Die kantischen Hilfspflichten bestehen nämlich unabhängig davon, wie es um uns aktuell bestellt ist; sie kommen Menschen qua Menschen zu. Kants Hilfspflicht darf deshalb nicht als eine Art hypothetische Versicherungsmassnahme vorgestellt werden.57 So schreibt Kant selber in aller Deutlichkeit:
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„Allein ich soll mit einem Theil meiner Wohlfahrt ein Opfer an Andere ohne Hoffnung der Wiedervergeltung machen, weil es Pflicht ist […].“58
Ein Prinzip der gegenseitigen Hilfe abzulehnen, ist gemäss Kant deshalb ein Widerspruch im Willen, weil es für niemanden garantiert ist, dass er seine Ziele ohne die Unterstützung anderer erfolgreich verfolgen kann. Zuweilen sind wir sogar auf andere angewiesen, um überhaupt als Personen, als autonom und rational handelnde Individuen existieren zu können.59 Um unsere Zwecke zu verwirklichen, bedürfen wir alle bestimmter Mittel wie eigener Fähigkeiten und Talente, materieller Dinge und eben auch der Unterstützung anderer Personen, die unsere Zwecke auch als die ihren sehen und behandeln.60 Herman schliesst deshalb, dass der Wunsch nach einer Welt, in der es keine Hilfe und Fürsorge gäbe, mit den praktischen Folgen menschlicher Vernunft kollidierten – nämlich mit den natürlichen Grenzen unserer Macht.61 Kants Argument für gegenseitige Hilfe basiert somit auf unserer conditio humana. Die eigennützige Maxime widerstreitet sich selbst, wenn sie zum allgemeinen Gesetz wird, und deren Befolgung ist somit pflichtwidrig. Andere Menschen sind als „Mitmenschen“ anzusehen, „d.i. bedürftige, auf einem Wohnplatz durch die Natur zur wechselseitigen Beihülfe vereinigte vernünftige Wesen […].“62 Wäre die Natur als unser „Wohnplatz“ anders beschaffen oder wären wir Wesen, die unverletzlich und unabhängig voneinander existieren könnten, wäre es durchaus möglich, ohne Widerspruch im Willen eine Maxime des Nicht-Helfens zu verinnerlichen – doch verhält es sich nun einmal mit uns Menschen nicht so.63 Kant meint also, dass wir einander helfen müssen. Lässt sich daraus ableiten, wir hätten auch gegenüber den Opfern der Weltarmut Hilfspflichten? Dies ist, wie gesagt, mit Verweis auf die Vagheit der Hilfspflichten bezweifelt worden: Erstens wurde gesagt, die kantische Hilfspflicht sei keine Pflicht im eigentlichen Sinne, sondern es handle sich um supererogatorische Akte (5.3.1); zweitens wurde behauptet, die Pflicht sei aufgrund der Tatsache, dass sie weit sei, niemandem im Speziellen geschuldet und es sei deshalb uns überlassen, wem wir helfen (5.3.2); und drittens wurde moniert, Kants Verständnis der Hilfspflicht als Tugendpflicht führe dazu, dass pflichtkonformes Verhalten nicht einforderbar sei (5.3.3).
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5.3.1 Vagheit und Supererogation Es ist oft behauptet worden, Hilfspflichten seien „schwach“ insofern als es dabei gar nicht um eigentliche Pflichten handle, sondern vielmehr um eine Art freiwillige Akte der Barmherzigkeit. So schreibt etwa Ernst Tugendhat, „dass eine Pflicht zu helfen, sei es als ‚supererogatorisch‘ angesehen wird (und das soll u.a. heissen, dass kein Rechtsanspruch besteht), sei es nur bestehen soll, wenn sie keine besondere Mühe kostet […].“64
Zwar sind Kants Hilfspflichten tatsächlich den Tugend- und nicht den Rechtspflichten zuzurechnen.65 Doch aus dem Umstand, dass sich Hilfe nicht im Sinne einer Rechtspflicht einfordern lässt, folgt nicht, dass es sich dabei gar nicht um eine Pflicht handelt. Kant verwirft ganz im Gegenteil die Vorstellung von Hilfsakten als grosszügige und heldenhafte Handlungen als „hochfliegenden emotionalen Non-sense“, um mit Jens Timmermann zu sprechen.66 In seiner Kritik der praktischen Vernunft schreibt Kant: „Es ist lauter moralische Schwärmerei und Steigerung des Eigendünkels, wozu man die Gemüther durch Aufmunterung zu Handlungen als edler, erhabener und grossmüthiger stimmt, dadurch man sie in den Wahn versetzt, als wäre es nicht Pflicht, d. i. Achtung fürs Gesetz, dessen Joch […] sie, wenn gleich ungern, tragen müssten, was den Bestimmungsgrund ihrer Handlungen ausmachte, und welches sie immer noch demüthigt, indem sie es befolgen (ihm gehorchen); sondern als ob jene Handlungen nicht aus Pflicht, sondern als baarer Verdienst von ihnen erwartet würden.“67
Die These, Hilfspflichten seien in dem Sinne „schwach“, als dass es sich dabei nicht einmal um Pflichten im eigentlichen Sinne handle, kann also zurückgewiesen werden. Allerdings sind Hilfspflichten in den meisten Fällen den weiten Pflichten zuzurechnen, bei deren Erfüllung wir durchaus Spielraum haben. Dieser Spielraum ist jedoch, wie Kant deutlich macht, nicht so zu verstehen, als wären wir frei, gar nichts zu tun: „Es wird aber unter einer weiten Pflicht nicht eine Erlaubnis zu Ausnahmen von der Maxime der Handlungen, sondern nur die der Einschränkung einer Pflichtmaxime durch die andere (z. B. die allgemeine Nächstenliebe durch die Elternliebe) verstanden, wodurch in der That das Feld für die Tugendpraxis erweitert wird.“68
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Gemeint ist also vielmehr, dass wir hinsichtlich der Erfüllung unserer Tugendpflichten Spielraum haben, also hinsichtlich dessen, wie wir diesen Pflichten konkret nachkommen –nicht aber, ob wir ihr überhaupt nachkommen. 5.3.2 Vagheit und Weite der Pflichten Mit der Weite der Hilfspflichten ist ein anderes Problem in den Fokus gerückt: Es scheint uns überlassen, wem wir womit helfen, solange wir nur helfen. Was spricht dann jedoch dagegen, dass wir unserer Pflicht nachkommen, indem wir ausschliesslich, wenn auch durchaus mit grossem Engagement, unseren Familienangehörigen und Freunden helfen? Macht jemand, der sich um das Elend der Menschen in extremer Armut foutiert, sich jedoch liebevoll um ältere Menschen in der Nachbarschaft kümmert, einen moralischen Fehler? Um zu verstehen, was mit der „Weite“ einer Pflicht gemeint ist, müssen wir zuerst ein anderes Begriffspaar klären, nämlich die „Vollkommenheit“ respektive „Unvollkommenheit“ der Pflichten. Diese Unterscheidung beruht bei Kant auf dem Typ von Konflikt mit dem kategorischen Imperativ, die eine Verletzung der jeweiligen Pflicht mit sich bringt. Maximen, die eine vollkommene Pflicht verletzen, sind solche, die kein allgemeines Gesetz sein können; Maximen, die eine unvollkommene Pflicht verletzen, sind solche, von denen wir nicht wollen können, dass sie ein allgemeines Gesetz werden. Vollkommene Pflichten weisen uns deshalb an, eine bestimmte Handlung zu tun oder zu unterlassen; unvollkommene Pflichten weisen uns an, bestimmte Zwecke zu verfolgen, indem wir uns bestimmte Prinzipien zu Herzen nehmen und unser Tun und Lassen daran ausrichten.69 Vollkommene Pflichten verpflichten somit auf ein ganz bestimmtes Verhalten. Meistens handelt es sich dabei um Unterlassungen, die gefordert sind – etwa, um Kants Beispiel zu nennen, Versprechen nicht zu brechen. Im Falle unvollkommener Pflichten verhält es sich anders: Obwohl wir die unvollkommene Pflicht haben, unsere Talente zu entfalten, müssen wir weder ein bestimm-
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tes Talent fördern, noch dazu bestimmte Mittel ergreifen – solange wir den Zweck unseres Handelns vor Augen halten und verfolgen. Kant meint also, dass bei der Erfüllung unvollkommener Pflichten eine gewisse Freiheit besteht: „[D]enn wenn das Gesetz nur die Maxime der Handlungen, nicht die Handlungen selbst gebieten kann, so ists ein Zeichen, dass es der Befolgung (Observanz) einen Spielraum (latitudo) für die freie Willkür überlasse, d. i. nicht bestimmt angeben könne, wie und wie viel durch die Handlung zu dem Zweck, der zugleich Pflicht ist, gewirkt werden solle.“70
Unvollkommene Pflichten sind in diesem Sinne weite Pflichten. Daraus zu folgern, es sei einerlei, ob ich dem Schweizer Kaninchenzüchterverein unter die Arme greife, eine Ausstellung im Zürcher Kunsthaus sponsere, meiner Grossmutter einen Platz in einem luxuriöseren Pflegeheim finanziere oder Geld für Aidswaisen in Afrika einsetze – solange ich nur irgendwie und hie und da „Gutes tue“ – ist allerdings verfehlt. Kant kann nämlich zur Frage, wem womit zu helfen ist, durchaus mehr sagen. Als erstes muss bestimmt werden, welche Zwecke (oder welche Bedürfnisse zu stillen und welche Notstände zu beseitigen) überhaupt unter die entsprechende Maxime, dass einander in Not zu helfen sei, fallen. Es scheint zumindest auf der Hand zu liegen, dass diesbezüglich ein Unterschied besteht zwischen meiner Bitte, es möge mich jemand ins Krankenhaus fahren, weil ich unter akuten Koliken leide, und meiner Bitte, es möge mir jemand zeigen, wie ich auf meinem Computer DVD-Filme abspielen kann. Wäre es durchaus nett, letzterem Wunsch nachzukommen und ist es in Freundschaften gewöhnlich üblich, sich solche Dienste zu erweisen, so besteht hinsichtlich der ersten Bitte offenkundig eine Pflicht, der nachzukommen moralisch geboten ist.71 Um herauszufinden, ob ein Zweck unter eine gebotene Maxime fällt, bedürfen wir der Urteilskraft. Kant schreibt in seiner Abhandlung Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis: „Dass zwischen der Theorie und Praxis noch ein Mittelglied der Verknüpfung und des Übergangs von der einen zur anderen erfordert werde, die Theorie mag auch so vollständig sein, wie sie wolle, fällt in die Augen; denn zu dem Verstandesbegriffe, welcher die Regel enthält, muss ein Ac-
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tus der Urtheilskraft hinzukommen, wodurch der Praktiker unterscheidet, ob etwas der Fall der Regel sei oder nicht; und da für die Urtheilskraft nicht wieder Regeln gegeben werden können, wonach sie sich in der Subsumtion zu richten habe (weil das ins Unendliche gehen würde), so kann es Theoretiker geben, die in ihrem Leben nie praktisch werden können, weil es ihnen an Urtheilskraft fehlt […].“72
Um zu bestimmen, ob eine bestimmte Handlung als Realisation einer bestimmten Maxime gelten kann, müssen wir uns also unserer Urteilskraft bedienen und uns darauf besinnen, worum es beim kategorischen Imperativ im Kern geht. Nimmt man Kants Gedanken der Universalisierung ernst und setzt sich bei der Überlegung, was als Erfüllung unserer Pflicht zu gelten hat, an die Stelle der anderen, so müssen wir uns fragen: Kann ich wollen, dass es ein allgemeines Gesetz werde, dass ich den Kaninchenzüchterverein unterstütze oder eine Kunstausstellung sponsere, anstatt den Opfern einer Hungerkatastrophe zu helfen?73 Wohl kaum. Die menschliche Natur liefert uns sozusagen das Material für unsere Entscheidung, indem sie anzeigt, was wirklich zählt. Wenn wir das Kunsthaus unterstützen statt Menschen, die an Leib und Leben bedroht sind, nehmen wir die Maxime, der wir unser Handeln unterordnen sollen, nicht ausreichend ernst. Thomas Hill schliesst deshalb: „Kant is clearly committed to the priority of basic needs.“74 Doch selbst wenn wir die Maxime so verstehen, dass zuerst jenen zu helfen sei, die existentielle Hilfe benötigen, gibt es immer noch sehr viele Möglichkeiten, unserer Pflicht nachzukommen, denn Hilfe wird – will man den Hilfswerken glauben – dringend an allen Ecken und Enden dieser Welt benötigt.75 Wem genau wir dann helfen oder welches Hilfsprojekt wir unterstützen ist, wenn die Not wirklich gleichermassen akut ist, in der Tat einerlei. Wenn zig Kinder im Teich treiben, die alle gleich schlecht schwimmen können, dann ist es gleichgültig, welches ich zuerst rette – solange ich nur tätig werde. Ebenso wenig spielt es eine Rolle, welches Hilfsmittel wir wählen, solange wir dieses zweckrational aussuchen und einsetzen. So spielt es keine Rolle, ob wir den Ertrinkenden im Teich Schwimmringe zuwerfen oder selber in den Teich springen – Hauptsache wir tun etwas, was tatsächlich hilft.76 Eine andere Frage, die mit der Unvollkommenheit der Pflichten aufkommt, ist jene nach der Obergrenze der geforderten Hilfe.
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Müssen wir uns die ganze Zeit bemühen, der Not anderer Abhilfe zu schaffen? Thomas Hill scheint zu meinen, dass wir auch hierin Spielraum haben: „[E]ven if we know that one of the widest principles of imperfect duty applies, we may still do something that we may rather do which is not commended by a principle of duty, provided that we stand ready to do acts of the prescribed sort on some other occasions.“77
Solange wir also die Maxime verinnerlicht haben und immer wieder im Einklang mit ihr handeln, können wir uns dazwischen auch anderem zuwenden, meint Hill. Sich hinsichtlich der Begründung von Hilfspflichten Kant zuzuwenden, scheint mitunter gerade deshalb attraktiv, weil seine Theorie – zumindest auf den ersten Blick – eine Mittelposition zwischen den Libertären, die der Meinung sind, unsere Pflichten erschöpften sich im Respekt vor der negativen Freiheit anderer, und Singers Konsequentialismus, der uns dazu auffordert, soviel zu geben, bis weitere Hilfsakte uns unter den Level der Bedürftigkeit der Notleidenden bringen würde, einzunehmen scheint.78 Da bei Kant eine Maximierungsidee fehlt, entsteht der Eindruck, die kantische Position sei weniger anspruchsvoll als die konsequentialistische. So schreibt etwa Thomas Hill: „Acts of ‘moral worth’ deserve our esteem as manifestations of an agent’s commitment to moral standards, but there is no mandate to ‘do as many as possible’ acts of moral worth. The moral goodness (or esteem-worthiness) of a person depends on whether or not the person has a good will, but is not measured by the number of acts in which the person is moved by a good will.“79
Ob diese Ansicht richtig ist, wurde kontrovers diskutiert.80 Als Beleg für eine Auslegung, wie sie Hill vertritt, wird gern auf eine Stelle in der Grundlegung verwiesen, in der Kant schreibt: „Übrigens verstehe ich hier unter einer vollkommenen Pflicht diejenige, die keine Ausnahme zum Vortheil der Neigung verstattet […].“81 Daraus wurde geschlossen, dass unvollkommene Pflichten – anders als vollkommene – Ausnahmen zugunsten der Neigung gestatten.82 Kant sagt jedoch nirgends, dass wir unsere unvollkommenen Pflichten von Zeit zu Zeit zugunsten der Neigung unerfüllt lassen können; er sagt lediglich, dass wir dies bei vollkommenen Pflichten nicht dürfen.83 Demzufolge kann nicht gemeint sein, dass es Ausnahmen von unserer Pflicht gibt oder eine Aufhebung der Pflicht aufgrund
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unserer Neigung. Wir müssen die Maximen umsetzen, und wenn sie – wie im Fall der unvollkommenen Pflichten – ein Ziel zu verfolgen gebieten anstatt eine Handlung zu verbieten, dann kann man diesem Gebot auf verschiedene Weisen Rechnung tragen. Damit ist jedoch nicht gemeint, dass wir unsere Pflicht von Zeit zu Zeit vernachlässigen dürfen. Unsere Hilfspflicht wird damit in der gegenwärtigen Welt, in der es soviel Elend gibt, durchaus auch dann anspruchsvoll, wenn wir uns bei der Pflichtbegründung auf Kant berufen. Allerdings findet man bei Kant durchaus Vorstellungen, die der Forderung eines schrankenlosen Engagements entgegen zu stehen scheinen: Erstens verdient Kant zufolge nicht jede Person Hilfe; bösen Menschen beispielsweise müssen wir nicht helfen.84 Dies hilft uns jedoch in unserem Ansinnen, eine Obergrenze der geforderten Hilfe für extrem Arme zu eruieren, nicht weiter, denn natürlich trifft es nicht zu, dass alle Menschen, die in extremer Armut leben, böse sind. Unsere Pflicht ihnen gegenüber scheint aufgrund dieses Arguments also nicht geringer. Zweitens meint Kant, unsere Hilfe müsse dort ihre Grenze finden, wo andere durch weitere Unterstützung von uns abhängig würden.85 Wiederum scheint diese Idee hinsichtlich einer Grenze der geforderten Hilfe im Rahmen der Weltarmut aber nichts auszutragen. Zwar ist Abhängigkeit von Entwicklungshilfe innerhalb der Development Ethics ein wichtiges Thema,86 doch dürfte eine drohende Abhängigkeit in vielen Fällen das weitaus geringere Übel darstellen als ein Leben in jenen traurigen Umständen, in denen sich viele Menschen im Süden befinden. Das Universalisierungsprinzip würde kaum gutheissen, Menschen verhungern zu lassen, damit sie nicht Gefahr laufen, für eine gewisse Zeit abhängig von uns zu werden. Die dritte Idee einer Grenze dürfte am erfolgversprechendsten sein: Weil es in der Hilfe darum geht, die Menschheit in anderen und in der eigenen Person zu achten, kann unsere Pflicht nicht als erfüllt gelten, wenn sie unsere eigene Autonomie gefährden würde oder wenn wir vor lauter Hilfe plötzlich anderen zur Last fielen.87 Die Erfordernisse der Hilfe können, anders gesagt, nicht in Konflikt mit
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dem stehen, was notwendig ist, damit der Hilfespender selber ein autonomes Leben führen kann. Gemäss Kant haben wir überdies Pflichten gegen uns selbst: Wir sollen bei guter Gesundheit bleiben, unsere Talente entwickeln und unser Wohl befördern. Doch was heisst dies konkret? Mit dem Verweis auf unsere Pflichten gegen uns selbst lässt sich sicher nicht rechtfertigen, dass wir statt anderen zu helfen all das aufrechterhalten, was unser Leben angenehm macht und was wir ungern zum Wohle anderer hergeben würden. Doch ab welchem Punkt können wir mit gutem Grund darauf beharren, unser Hilfsbudget sei vorerst aufgebraucht? In der Metaphysik der Sitten schreibt Kant: „Es kommt sehr darauf an, was für jeden nach seiner Empfindungsart wahres Bedürfnis sein werde, welches zu bestimmen jedem selbst überlassen bleiben muss. Denn mit Aufopferung seiner eigenen Glückseligkeit (seiner wahren Bedürfnisse) Anderer ihre zu befördern, würde eine an sich selbst widerstreitende Maxime sein, wenn man sie zum allgemeinen Gesetz machte.“88
Jeder muss also für sich selber entscheiden, wie viel er zu seiner eigenen Glückseligkeit bedarf. Bei dem einen wird es mehr, bei dem anderen weniger sein. Fest steht auf jeden Fall, dass die kantische Hilfspflicht nicht einfach fordert, manchmal und gegenüber einigen tätig zu werden. Sie fordert dies vielmehr in einer Art und Weise, die zum Ausdruck bringt, dass der Akteur Hilfe für andere als geboten betrachtet. Katja Vogt schliesst deshalb: „Erratisches und vereinzeltes Handeln kann nicht als Pflichterfüllung gelten.“89 Fassen wir zusammen: In der gegenwärtigen Welt, in der so viele Menschen in grosser Not leben, können wir uns Kant zufolge nicht widerspruchsfrei dafür entscheiden, diesen Menschen nicht zu helfen. Wir haben die Pflicht, die Bedürfnisse anderer ernst zu nehmen – die Pflicht gibt uns jedoch nicht vor, wie wir ihr konkret nachzukommen haben. Die Wahl der Mittel erfolgt nach zweckrationalen Überlegungen, weshalb wir die indirekte Pflicht haben, uns darüber zu informieren, welches die besten Mittel zur Verfolgung eines Zweckes, der unsere Pflicht ist, sind. Timmermann nennt zur Erläuterung seiner These folgendes Beispiel: Ob ich, wenn ich im Radio von einer Naturkatastrophe höre, bei der dringend Hilfe benötigt wird, mein Geld Oxfam oder Brot für die Welt
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gebe, ist – vorausgesetzt ich weiss von beiden Hilfswerken gleichermassen, dass sie seriös arbeiten und das Geld somit seinen Zweck erfüllen wird – einerlei. Es gibt keine Pflicht, einem bestimmten Hilfswerk Geld zu geben, doch dies ist, wie Timmermann zu Recht bemerkt, auch nicht Gegenstand der Pflicht. Vielmehr ist es Pflicht, den Notleidenen zu helfen, und es gibt verschiedene Arten, diese zu erfüllen. Es ist jedoch nicht möglich zu entscheiden, heute nichts zu spenden, weil ich letzte Woche schon gespendet habe.90 Konzipiert man die Sache so, stellt sich die Frage, wann wir in Übereinstimmung mit der Maxime handeln müssen, nie. Es stellen sich lediglich zwei Fragen: Nämlich erstens, welche Formen von Bedürfnis überhaupt unter die Maxime fallen, und zweitens, welche Mittel zur Erfüllung unserer Pflicht zweckrational sind.91 Die erste Frage ist im Zusammenhang mit der Weltarmut hinfällig; Not, wie sie die arme Bevölkerung in Entwicklungsländern erduldet, fällt mit Sicherheit darunter. Und auch die zweite Frage spricht für Hilfe gegenüber den Opfern der Weltarmut, denn ihr Leiden ist immens, jedoch ist mit relativ bescheidenem finanziellem Aufwand viel auszurichten. 5.3.3 Vagheit und fehlende Einforderbarkeit Die Vagheit der kantischen Hilfspflicht hat sich bis anhin als keineswegs so ausgeprägt erwiesen wie befürchtet. Vor allem aber hat sich aus ihr nicht ergeben, dass die betreffenden Pflichten in ihrer Geltung abgeschwächt würden. Ganz im Gegenteil: Die Pflichten gelten und sind stark, und wir sollten uns in unseren Bemühungen zuerst an jenen ausrichten, die von grosser Not betroffen sind und unserer Hilfe dringend bedürfen. Ein Aspekt der Vagheit bleibt allerdings bestehen: Da es sich bei den Hilfspflichten Kant zufolge um Tugend- und nicht um Rechtspflichten handelt, sind sie nicht nur nicht einem bestimmten Subjekt geschuldet und von diesem erzwingbar, sondern deren Erfüllung kann – kantisch gedacht – auch nicht rechtlich eingefordert werden. In jüngster Zeit wurde vermehrt argumentiert, dass es sich beim Gegenstand natürlicher Hilfspflichten um so fundamentale
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Güter handle, dass alle Menschen gleichermassen ein Recht auf diese Güter hätten.92 Die diesen Rechten korrelierenden Pflichten seien deshalb Rechtspflichten.93 Natürliche Hilfspflichten haben wir demnach aufgrund bestimmter natürlicher Rechte, die alle Menschen ungeachtet ihrer staatlichen Zugehörigkeit haben.94 Andere haben an dieser Auffassung kritisiert, es sei nicht zulässig, von der Dringlichkeit eines Anliegens auf zugrunde liegende Rechte zu schliessen.95 Dass immer mehr Bedürfnisse in die Sprache des Rechts überführt würden, um deren Bedeutung herauszustreichen, trage zu einer Inflation des Rechtsbegriffes selber bei. Dieser Trend werde etwa an den philosophischen Debatten über die Geltung und Erweiterung des juridischen Menschenrechtskatalogs deutlich.96 Politische Anliegen seien aber mit moralischer Rechtfertigung nicht zu verwechseln. Und aus moralischer Sicht mache es eben gerade keinen Sinn, von Rechten zu sprechen, ohne konkreten Verantwortungsträgern entsprechende Pflichten zuweisen zu können.97 Rechte zu etablieren, wo keine institutionalisierte Allokation korrelierender Pflichten vorliege, sei nicht bloss wenig hilfreich, sondern untergrabe die Idee natürlicher Rechte an sich und entwerte letztlich den Rechtediskurs.98 Onora O’Neill weist deshalb die Rede von natürlichen Wohlfahrtsrechten zurück. Rechtspflichten müssten, wie sie mit Verweis auf Kant argumentiert, vollkommen sein: Der Rechtsträger müsse in der Lage sein, den Inhalt der korrespondierenden Pflicht wie den Pflichtträger zu identifizieren. Dies sei jedoch bei Wohlfahrtsrechten im Rahmen der Weltarmut nicht oder nicht zureichend möglich. Ähnlich argumentiert Stephan Schlothfeldt: Es sei zwar einfach, Kataloge von Rechten aufzustellen, aber nur solange, als man die Frage nach ihrer Einlösung ignoriere. Es sei nämlich unklar, wem gegenüber ein bestimmter Notleidender seinen Rechts- oder Gerechtigkeitsanspruch geltend machen könne. Die Rede von Pflichten setze hingegen nicht voraus, dass es solche einforderbaren Ansprüche Einzelner gebe.99 Auf diese Einwände wurde geantwortet, wir wüssten auch ohne institutionelle Strukturen, wer für die Erfüllung der Hilfspflichten, die den Wohlfahrtsrechten korrespondieren, zuständig ist: nämlich wir alle, das heisst jeder, der dazu hinreichend in der Lage ist, und das heisst in der Regel, jedes einigermassen wohlhabende Individuum.100 Natürlich sollten diese Pflichten idealerweise institutionell
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verankert und einzelnen Akteuren zugewiesen sein. Doch sei es unzulässig, untätig zu warten, bis eine solche Institutionalisierung vorhanden ist. Vielmehr hätten wir alle die Pflicht, eine Institutionalisierung voranzutreiben, und diese Pflicht beruhe eben auf dem moralischen Recht der extrem Armen auf ein Leben, in dem ihre basalen Bedürfnisse gedeckt werden.101 Nun scheint mir die Frage, ob Menschen ein Anspruchsrecht auf basale Güter haben, philosophisch wenig auszutragen, ohne eine Theorie dessen vorzulegen, was es überhaupt heisst, Rechte zu haben. Wollen wir die schiere Rhetorik überwinden, müssen wir positiv begründen können, was moralische Rechte sind und was sie implizieren. Eine solche Theorie kann ich an dieser Stelle nicht liefern. Das scheint mir aber auch für unseren Zweck gar nicht nötig zu sein, denn die Hilfspflichten, andere Menschen mit basalen Gütern zu versorgen, habe ich als starke Pflichten dargestellt. Ich sehe nicht, weshalb sie durch eine Fundierung durch Rechte stärker würden. Das Problem der Vagheit stellt sich bei Pflichten auf Distanz ganz unabhängig davon, ob sie rechtebasiert begründet werden oder nicht. Die Vorstellung, rechtebasierte Pflichten seien stärker als Hilfspflichten, die nicht mit dem Verweis auf zugrunde liegende Rechte, sondern etwa auf die Würde von Personen begründet werden, ist deshalb falsch. Allerdings – und dies scheint mir in diesem ganzen Streit um die Frage, ob unsere Hilfspflichten rechtebasiert vorzustellen sind oder nicht, der ausschlaggebende Punkt zu sein – kann die Erfüllung der Hilfspflicht im Falle einer Rechtspflicht nicht nur von der bedürftigen Person, sondern auch von all jenen, die ebenfalls helfen müssen, eingefordert werden. Anders gesagt scheint die Institutionalisierung von Hilfspflichten, die mit Sanktionen gegen jene vorgeht, die ihren Teil nicht beitragen, nur zu rechtfertigen, wenn ein Recht auf diese Hilfe besteht. So dürfen wir einander beispielsweise daran hindern, Drittpersonen zu bestehlen, weil diese Dritten einen rechtmässigen Anspruch auf ihren Besitz haben. Gegen eine Institutionalisierung von Hilfspflichten wurde denn auch eingewendet, dass man in der Erfüllung seiner Hilfspflichten
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frei sei, solange keine Rechte geltend gemacht werden könnten. Eine Institutionalisierung solcher Hilfspflichten, die mit Zwang einhergehe, sei deshalb illegitim. Kant heisst rechtliche Anreize, moralisch zu sein (etwa in Form von Steuererleichterungen) tatsächlich nicht gut. Die Methode des Rechts hat ihm zufolge im Bereich der Tugend schlicht nichts verloren. Ebenso wenig sollten wir versuchen, andere durch sozialen Druck oder Sanktionen zu moralischem Verhalten zu zwingen.102 Bringt dies nun aber mit sich, dass die Hilfe für die Hungernden ineffektiv bleibt, weil statt koordinierten und institutionalisierten Hilfsaktionen unvorhersehbare, punktuelle Einzelspenden erfolgen, kann die Hilfspflicht gar nicht erfüllt werden.103 Ich meine deshalb, dass wir einander durchaus zwingen dürfen, im Kampf gegen extreme Armut mitzuhelfen. Dies führt mich zurück zur Diskussion von Thomsons These, dass gegen ein Recht (in diesem Fall die Freiheits- oder Eigentumsrechte jener, die sich weigern, mitzuhelfen) verstossen werden darf, wenn die Bedeutung des Gegenstands des Rechts für den Rechtsinhaber nicht extrem gross ist und wenn das Gut, das für den Notleidenden auf dem Spiel steht und um dessentwillen der Verstoss erfolgt, extrem wichtig ist.104 Als dritte Bedingung dafür, dass Zwang legitim ist (und damit auch ein Verstoss gegen Freiheits- und Eigentumsrechte Dritter) hatte ich in Kapitel 2.3 hinzugefügt, dass die existentiell wichtige Hilfe nicht geleistet werden kann ohne diesen Rechtsverstoss. Alle diese Bedingungen scheinen mir mit Blick auf die Weltarmutssituation gegeben: Eine Steuerabgabe zugunsten der Opfer der Weltarmut, die als Zwang zur Spende interpretiert werden kann, ist gerechtfertigt, weil sie die einzelnen Bewohnerinnen und Bewohner der Industrieländer nur minim belasten wird, und für die extrem Armen überlebensnotwendig ist. Ohne eine entsprechende Steuer oder anderes institutionalisiertes Hilfsarrangement wird die Weltarmut nicht zu beseitigen sein. Aus der Tatsache, dass wir einander zwingen dürfen, Hilfsbedürftigen in gravierender Not zu helfen, falls wir dazu alleine nicht in der Lage sind, sollte jedoch nicht geschlossen werden, dass Hilfsbedürftige ein Recht auf Hilfe haben. Dies hiesse, das Pferd am Schwanz aufzuzäumen. Und ob diese Institutionalisierung eine rechtliche sein
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Hilfe auf Distanz
soll, die entsprechende Hilfe mit juristischen Mitteln eintreibt,105 ist eine zusätzliche praktische Frage, die von der Fundierung der Pflichten zu trennen ist. Eine adäquate Institutionalisierung würde vermutlich implizieren – da gehe ich mit O’Neill einig –, den Bedürftigen entsprechende Rechte zuzugestehen. Diese Rechte wären dann allerdings ihr zufolge keine natürlichen, sondern institutionelle Rechte, die durch die entsprechenden Institutionen, die zu errichten wir natürlicherweise moralisch verpflichtet sind, gesichert würden.106
5.4 Hilfspflichten Gegen die Behauptung, wir müssten den Opfern der Weltarmut helfen, aus dem Elend herauszufinden, kann man aus zwei Gründen skeptisch sein. Einerseits wurde immer wieder gesagt, Entwicklungshilfe sei in letzter Konsequenz schädlich und schaffe Abhängigkeiten. Ganz abgesehen davon, dass dies sicherlich nicht für alle Formen der Hilfe gilt, gilt es natürlich, sich über entsprechend sinnvolle Massnahmen zu informieren. Wer für eine Hilfspflicht votiert, muss die derivative Pflicht akzeptieren, sich über schädliche und hilfreiche Formen von Hilfe zu informieren.107 Die Pflicht zu helfen beinhaltet deshalb auch eine Informationspflicht.108 Dies gilt m.E. im Besonderen für die Hilfspflicht, wie ich sie an dieser Stelle begründet habe: Hilfe beruht auf der gegenseitigen Achtung von uns Menschen als Personen. Einander in Abhängigkeiten zu stürzen, kann mit Sicherheit nicht als Erfüllung dieser Pflicht angesehen werden. Zweitens wurde vielfach betont, es gehe in der ganzen Weltarmutsdebatte gar nicht um Hilfe, sondern um Gerechtigkeit. Damit wurde, wie oben bereits gesagt, unter anderem die These angesprochen, dass wir in die Ursachen der Armut in schuldhafter Weise verstrickt sind und uns deshalb nicht in der Rolle des grosszügigen Helfers gefallen sollten. Dass dem teilweise in der Tat so ist, negiere ich keineswegs. Unserer Verstrickung ins Unrecht und den Pflichten, die daraus hervorgehen, habe ich mich im vorangehenden Kapitel 4 ausführlich gewidmet. Meine These ist vielmehr jene eines
Hilfspflichten
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Pflichtenpluralismus: Über unsere Bürger- und Konsumentenpflichten hinaus haben wir auch Hilfspflichten, gegen die Armut aktiv zu werden. Letztere Pflichten haben wir allein aufgrund der Tatsache, dass wir Menschen sind, die es vermögen, anderen Menschen, die in einer extremen Notlage stecken, zu helfen. Oft wurde behauptet, Hilfspflichten seien zu vage und zu schwach, um ihnen jene Durchsetzungskraft zu verleihen, die angesichts der extremen Armut und des immensen Leidens nicht nur notwendig, sondern auch angemessen ist. Die Idee, Hilfspflichten seien in die Nähe supererogatorischer Akte zu rücken oder mit diesen identisch, ist verfehlt: Selbst wenn man sich auf die einschlägigen Stellen bei Kant beruft, der als Gewährsmann für diese Position oft genannt wird, wird klar, dass Hilfe geboten und keineswegs freiwillig ist, und dass wir nicht irgendwelchen Personen in irgendwelchen Umständen zu helfen haben, sondern dass unsere primäre Aufmerksamkeit Menschen in grosser Not gelten muss. Unsere Mittel zur Erfüllung dieser Pflicht sind überdies möglichst effizient einzusetzen. Der Umstand, dass wir generelle Hilfspflichten gewöhnlich als weitaus weniger dringlich einschätzen als Nothilfspflichten, hat mit der Struktur dieser Pflichten zu tun: Nothilfspflichten rücken in die Nähe der kantischen vollkommenen Pflichten, während generelle Hilfspflichten unvollkommen sind. Dies macht die Pflichterfüllung jedoch weder freiwillig, noch sind wir gänzlich frei in der Wahl, wem wir helfen. Die Bewohnerinnen und Bewohner der Wohlstandsländer haben somit über ihre Bürger- und Konsumentenpflichten hinaus die Hilfspflicht, gegen extreme Armut tätig zu werden. Dies können sie allerdings nur dann erfolgreich tun, wenn sie Hilfe bündeln und auf eine geeignete Institutionalisierung der Hilfsaktionen hinarbeiten.
Societies are not made of sticks and stones, but of men whose individual characters, by turning the scale one way or another, determine the direction of the whole. Jonathan Glover 1
6 Weltarmut und individuelle Verantwortung Extreme Armut hat viele Ursachen: solche, in die wir in moralisch relevanter Art und Weise verstrickt sind, und solche, mit denen wir nichts zu tun haben. Deshalb lassen sich die Pflichten im Rahmen der Beseitigung der Weltarmut nicht auf einen einzigen Typus von Geboten reduzieren. Ich habe in diesem Buch denn auch für einen Pflichtenpluralismus argumentiert. Demnach sind die Bewohnerinnen und Bewohner der reichen Industrieländer erstens in ihrer Rolle als Bürgerinnen und Bürger verpflichtet, ihre demokratischen Rechte nach Möglichkeit so wahrzunehmen, dass sich ihre Regierungen in den internationalen Verhandlungen nach Kräften für eine gerechte Weltordnung einsetzen. Was diese gerechte Weltordnung genau impliziert, habe ich an dieser Stelle nur angedeutet: Sicherlich gehören faire Handelsund Austauschbeziehungen dazu, möglicherweise auch – mit der voranschreitenden Globalisierung – bestimmte Formen der Umverteilung. Bürgerinnen und Bürger eines demokratisch regierten Staates haben die Entscheidungen ihrer Regierungen zumindest bis zu einem gewissen Grade mitzuverantworten. Die Bürgerpflichten beinhalten deshalb auch, sich die Bedeutung politischer Entscheide für die Situation der Entwicklungsländer und deren extrem armer Bevölkerung bewusst zu machen und diese Entscheide so fair wie möglich auszugestalten, indem sie Regierungsvertreterinnen und -vertreter wählen, die in diesem Sinne agieren. Zweitens schulden die Bewohnerinnen und Bewohner der vermögenden Staaten den extrem Armen Wiedergutmachung auf der Basis ihres Involviertseins in ein Unrecht, das zu bestimmten Formen extremer Armut beiträgt, diese ermöglicht oder perpetuiert. Ihre Verstrickung ins Unrecht kommt dadurch zustande, dass sie einerseits, wie eben ge-
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sagt, als Bürgerinnen und Bürger demokratisch regierter Länder für die politischen Entscheidungen ihres Landes eine gewisse Verantwortung tragen und somit auch für globale Regeln und lokale Entscheidungen mitverantwortlich sind, die sich auf die Entwicklung der extrem armen Länder negativ auswirken. Andrerseits kaufen sie als Konsumentinnen und Konsumenten Produkte oder nehmen Dienstleistungen in Anspruch, die eine Ausbeutung extrem armer Menschen ermöglichen oder für die Besitzer transnationaler Unternehmen attraktiv machen. Diese moralische „Komplizenschaft“ ist – wenn immer möglich – zu unterlassen, und entstandene Schädigungen müssen wieder gut gemacht werden (korrektive Pflichten). Allerdings ist es für den „gewöhnlichen Mann“ oder die „gewöhnliche Frau“ zuweilen extrem schwierig, sich ein Bild von den Auswirkungen ihrer Konsumentscheidungen zu machen. Ich habe deshalb dafür plädiert, die Konsumentenpflichten als Sorgfaltspflichten zu konzipieren, die mit einer Informationspflicht einhergehen und dazu auffordern, im Zweifelsfall eine Kaufentscheidung zugunsten bzw. nicht zuungunsten der extrem Armen zu fällen. Ausserdem ist davon auszugehen, dass Bewohnerinnen und Bewohner reicher Staaten oft nolens volens von Unrecht profitieren (etwa indem sie in einem Land leben, das seinen Reichtum unter anderem seiner Existenz als Bankenplatz verdankt, der zum Teil in moralisch problematische Geschäfte verwickelt ist). Diese unrechtmässigen Gewinne auferlegen ihnen über ihre korrektiven Pflichten hinaus restitutive Pflichten: Die Profite, die ihnen unrechtmässig zugefallen sind, weil sie auf einer Schädigung Dritter beruhen, sind den Geschädigten rückzuerstatten. Bei den genannten Pflichttypen handelt es sich um transaktionale Pflichten, die aufgrund eines Involviertseins in schädigende institutionelle Verhältnisse bestehen. Sie verpflichten erstens zu (im weitesten Sinne) politischem Engagement, damit das Unrecht ein Ende findet; zweitens zu Kompensation und Restitution in Form von Spenden oder in Form eines Engagement für Organisationen, die schädigende Geschäftsstrategien bekämpfen; und drittens zu Sorgfalt und Sensibilität in den eigenen Konsumentscheidungen. Obwohl es sich also insofern um positive Pflichten handelt, als ein Tun und nicht ein Unterlassen gefordert ist, resultieren diese Pflichten (anders als die natürlichen Pflichten) aus einer Verletzung des Nichtschädigungsgebots.
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Über die genannten Pflichten hinaus bestehen drittens aufgrund der extremen Not, in der andere Menschen leben müssen, Hilfspflichten: Einander als Menschen zu sehen und als solche zu behandeln, bedingt, wie ich argumentiert habe, einander aus Zuständen extremer Armut zu befreien. Bei diesen Pflichten handelt es sich um natürliche Pflichten. Anders als die transaktionalen Pflichten bestehen sie unabhängig von Austauschverhältnissen oder vorgängigen Abmachungen und Beziehungen. Im Rahmen dieser natürlichen Hilfspflichten sind ähnliche Massnahmen gefordert wie hinsichtlich der transaktionalen Pflichten: Als probate Mittel der Hilfe haben sich einerseits materielle Ressourcen bewährt, andrerseits müssen bestehende globale Institutionen optimiert und neue geschaffen werden, um die armen Länder und insbesondere deren arme Bevölkerung beispielsweise zu einer Teilnahme am globalen Wirtschaftswachstum zu befähigen. Diese Veränderungen werden erwirkt durch politisches Engagement, durch die Unterstützung entsprechender spezialisierter Organisationen, die politischen Druck aufrechtzuerhalten vermögen, sowie durch individuelle Kaufentscheide aus Produktionen, die langfristige Entwicklung und Selbständigkeit der extrem armen Bevölkerung vorantreiben. Die verschiedenen Pflichten – Bürgerpflichten, Konsumentenpflichten und Hilfspflichten – haben also alle ähnliche Pflichtinhalte, die sich daran ausrichten, wie extreme Armut am wirkungsvollsten beseitigt werden kann. Der Terminus des Pflichtenpluralismus meint also nicht, dass den genannten unterschiedlichen Pflichten auch ganz verschiedene Inhalte korrespondierten, sondern vielmehr, dass sie unterschiedlich fundiert oder begründet sind. Dass diese Fundierung je eine andere ist, scheint mir wichtig zu betonen, denn sie spricht die Bewohnerinnen und Bewohner der Industrieländer in ihren je unterschiedlichen Rollen an, die sie im Rahmen der Weltarmutsdebatte innehaben. Ausserdem zeigt der Pflichtenpluralismus, dass es nicht angemessen wäre, wenn wir uns ausschliesslich als „Zuschauer“ verstehen würden, die unbeteiligt auf die Katastrophe der Weltarmut blicken und allenfalls Hilfe anbieten. Wir sind nicht nur und keinesfalls immer unbeteiligte Zuschauer, sondern darüber hinaus in ein Unrecht involviert, das wiedergutzumachen auch unsere Pflicht ist.
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Bei allen genannten Pflichten handelt es sich um Pflichten auf Distanz, insofern deren Erfüllung Menschen in Not geschuldet ist, die weit entfernt von den Pflichtinhabern leben. Was Pflichten auf Distanz von Pflichten im Nahbereich gewöhnlich abhebt, ist, wie wir gesehen haben, deren Vagheit: Es handelt sich um Pflichten, bei denen unklar bleibt, wer wem was schuldet. Dies ist – anders als zuweilen suggeriert – zum Teil auch hinsichtlich der transaktionalen Pflichten der Fall: Wie viel Wiedergutmachung wer wem schuldet, ist aufgrund der komplexen Kausalketten und der vielen Akteure, die zum Unrecht beitragen, schwer zu bestimmen. Am plausibelsten scheint es deshalb zu sein, die Verantwortung für die Beseitigung extremer Armut als eine gemeinsame zu sehen, die all jene in die Pflicht nimmt, die in der Lage sind, etwas zur Bekämpfung extremer Armut beizutragen.2 Damit ist unsere Ausgangsfrage, welche Verantwortung dem Individuum in diesem Zusammenhang zukommt, aber nicht geklärt. Dieser Frage möchte ich mich zum Schluss zuwenden. In einem ersten Abschnitt untersuche ich, was es eigentlich heisst, Pflichten gemeinsam zu haben, und was für einen Ansatz gemeinsamer Verantwortung spricht (6.1). Danach gehe ich der Frage nach, welche Aufgaben in einem Konzept gemeinsamer Verpflichtung dem Individuum zukommen (6.2). In einem weiteren Abschnitt nehme ich die Einwände, die in Kapitel 2 als offene Fragen bestehen blieben, wieder auf und frage, ob mein Vorschlag dem Einwand des Moralismus, dem Einwand des Verlusts der Gemeinschaft und dem Einwand des Verlusts der Freiheit standzuhalten vermag. Ich meine, dass dies der Fall ist – allerdings nur solange, wie wir den Blickwinkel der gemeinsamen Verantwortung konsequent einnehmen (6.3). Aus einer strikt individualethischen Perspektive jedoch bleiben zumindest zum Teil Bedenken bestehen, die sich so einfach nicht ausräumen lassen (6.4).
6.1 Gemeinsame Pflichten als institutionelle Pflichten Was heisst es, Pflichten gemeinsam zu haben? Ein starkes Konzept gemeinsamer Verpflichtung beruht auf der Behauptung kollektiver
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Pflichten. Ob Kollektive als eigenständige Adressaten moralischer Pflichten in Frage kommen, ist jedoch ebenso umstritten wie die Frage, was genau Kollektive eigentlich sind.3 Von gemeinsamen Pflichten zu sprechen, legt einen allerdings nicht auf ein so kontroverses Konzept wie jenes kollektiver Pflichten fest. Im Folgenden möchte ich ein schwächeres Konzept gemeinsamer Verpflichtung fruchtbar machen, demzufolge durchaus Individuen (und nicht Kollektive) normativ angesprochen werden, aber eben nicht als Einzelpersonen, sondern als Mitglieder einer entsprechenden Gruppe.4 Damit ist gemeint, dass Individuen ihren Pflichten innerhalb einer gemeinschaftlichen, koordinierten Aktion nachkommen müssen. Was spricht für ein solches Konzept gemeinsamer Verpflichtung? Eine erste Begründung für gemeinsame Verantwortung lautet, dass Akteure nur dann, wenn sie gemeinsam und koordiniert vorgehen, die Weltarmut effektiv mildern und langfristig beseitigen können. Wenn damit gemeint ist, dass im Alleingang niemand etwas auszurichten vermag, dann haben Einzelpersonen aufgrund des „sollen impliziert können“-Prinzips tatsächlich keine individuelle Pflicht, extreme Armut zu bekämpfen. Doch das kann nicht gemeint sein. Denn natürlich können Individuen etwas tun – zumindest ein Teil ihrer Spenden wird bei den Bedürftigen ankommen und Not lindern. Die Pflicht zu Hilfe lautet denn fürs Individuum auch nicht: „Beseitige die Weltarmut!“, sondern vielmehr: „Hilf den Opfern der Weltarmut, und mache Unrecht, in das du involviert bist, wieder gut!“ Ähnlich in einer Massenkarambolage, in der ein herannahender Automobilist so vielen Opfern wie möglich helfen soll und von seiner Pflicht nicht befreit ist, weil er nicht allen wird helfen können. Allerdings wirkt im Fall der Weltarmut die Einzelspende wie der berühmte Tropfen auf den heissen Stein, was im Beispiel der Massenkarambolage nicht der Fall ist: Immerhin wird ein einzelner Helfer vielleicht ein oder zwei Personen durch korrekte Nothilfe das Leben retten können, während vielleicht weitere fünf nicht überleben werden. Hinsichtlich der Weltarmut sehen wir uns mit Millionen von Opfern konfrontiert, weshalb der Eindruck entsteht, der Tropfen auf den heissen Stein könne unmöglich Pflicht sein. Ob sich ein erweitertes Prinzip wie „Sollen impliziert mehr zu können, als den berühmten Tropfen auf den heissen Stein
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beizutragen“, rechtfertigen lässt, bezweifle ich allerdings. Wenn es eine Pflicht gibt, Menschen in extremer Not zu helfen, dann besteht sie auch dann, wenn nur ganz wenigen Menschen geholfen werden kann. Allerdings kann das Individuum angesichts des heissen Steins und des Tropfens, den es offenbar nur beizutragen vermag, leicht verzweifeln. Sein Beitrag scheint ihm zu gering, als dass er sich lohnen würde, und die Hitze des Steins zu gross, als dass er ihn kühlen könnte. Diese Überlegung lässt sich moralpsychologisch deuten: Personen sind gewöhnlich schlicht nicht motiviert, sich anzustrengen, wenn ihr Einsatz kaum einen Effekt zeitigt. Aber wie gesagt, vermag dies ein Unterlassen der Hilfe nicht zu rechtfertigen. Die These, dass es nicht verlangt sei, den Tropfen auf den heissen Stein zu geben, kann aber auch so interpretiert werden, dass der heisse Stein all jene überfordert, die versuchen, die Hitze mit individuellen Wasserspritzern zu dämmen. Das Problem wäre dann nicht mangelnde Motivation, sondern die schiere Überforderung. Damit sind wir bei der zweiten Begründung für gemeinsame Verantwortung angelangt: Ein individualethischer Zugang, der vielen Fragen der Moral angemessen ist, scheint bei einem Problem wie der Weltarmut offenbar nicht passend, weil die Pflichten, die er nahelegt, die betroffenen Pflichtenträger überfordert. Vielmehr handelt es sich bei der Beseitigung extremer Armut um eine gemeinsame Aufgabe, die nur vermittelst Institutionen zu lösen ist. Wie hängen die Punkte der gemeinsamen Verantwortung, der Forderung der Institutionalisierung der Hilfspflichten und der Behauptung einer drohenden Überforderung zusammen? Wenn die Verantwortung für die Hilfe Menschen in extremer Not gegenüber eine gemeinsame ist, dann muss offenkundig über ein Instrument oder eben eine Institution nachgedacht werden, die diese Verantwortung koordiniert und distribuiert.5 Darüber hinaus vermögen Institutionen Hilfsaktionen nicht nur zu koordinieren, sondern die zu tragenden Lasten fair auf- und zuzuteilen. Ein individualethischer Zugang zum Problem scheint dagegen notgedrungen in ein überforderndes Szenario fürs Individuum zu münden, weil distributive Institutionen fehlten, die eine moralische Arbeitsteilung durchsetzen und das Individuum dadurch entlasten.6 Das Problem
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moralischer Überforderung soll also handhabbar werden, indem Weltarmut nicht als ein Problem der Individualethik respektive individueller Pflichten, sondern als eines der Institutionenethik respektive institutioneller Pflichten betrachtet wird.7 Im Folgenden interessiert mich die Frage, was unter der angesprochenen Überforderung zu verstehen ist und inwiefern diese mit einem Ansatz gemeinschaftlicher Verantwortung aufgelöst wird. Das Problem der Überforderung gilt gewöhnlich als Standardeinwand gegen den Utilitarismus respektive gegen Singers Hilfsprinzip, dessen gemässigter Variante zufolge wir anderen zu helfen haben, bis jede weitere Handlung auch für uns etwas von moralischer Bedeutung aufs Spiel setzt.8 Dagegen wird eingewandt, dass eine Moraltheorie, die so umfangreiche Opfer zugunsten schlechter Gestellter von uns verlange, schlicht überfordernd und nur für moralische Heilige bestimmt sei.9 Stephan Schlothfeldt zufolge resultieren jedoch so umfangreiche Forderungen keineswegs nur aus dem Utilitarismus. Seiner Ansicht nach folgen Forderungen in der Höhe, wie Singer sie veranschlagt, bereits aus der Annahme, dass in der Abwägung eigener und fremder Anliegen alle Personen gleichermassen zählten und strikte Unparteilichkeit gefordert sei. Daraus folge, „dass man als potentieller Helfer seine Anliegen zurückstellen muss, solange jemand ein Bedürfnis nicht befriedigen kann, das klarerweise wichtiger ist als die eigenen Wünsche. Eine Grenze der Verpflichtung ist also erst erreicht, wenn man selbst elementare Einschränkungen in Kauf nehmen, sprich: etwas vergleichbar Gravierendes opfern müsste.“10
Diese Abwägung hält Schlothfeldt nur scheinbar für konsequentialistisch. Sie sei einschlägig für jede Ethik, in der alle Personen gleichermassen berücksichtigt werden.11 Ich bezweifle allerdings, dass dem so ist: Nicht-Konsequentialisten können durchaus bestreiten, dass anderen Menschen auch dann zu helfen sei, wenn für letztere Güter auf dem Spiel stehen, die zwar „klarerweise wichtiger“ sind als die eigenen Wünsche, die jedoch nicht überlebensnotwendig sind und deren Entbehrung Menschen nicht in einen unwürdigen Zustand versetzen. Einander als moralisch Gleiche und vor allem als Menschen zu behandeln, würde demnach heissen, einander in lebensbedrohlichen Lagen zu
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helfen, wenn das Opfer, das wir erbringen müssen, nicht von vergleichbarer moralischer Bedeutung ist; es würde jedoch zugleich heissen, dass wir nicht zu helfen verpflichtet sind, wenn das Bedürfnis des Gegenübers weniger akut ist – und zwar selbst dann nicht, wenn unsere eigenen Bedürfnisse von weitaus geringerer oder gar keiner moralischen Relevanz sein sollten. Mir scheint also, dass wir Schlothfeldts Schluss nicht zustimmen sollten, wonach eine jede plausible Moraltheorie mindestens Singers schwächeres Prinzip akzeptieren muss. Dennoch ist Schlothfeldt hinsichtlich der These recht zu geben, dass angesichts des Ausmasses lebensbedrohlicher Armut und Not äusserst kostspielige Opfer von den Bessergestellten verlangt sind. Denn sie befinden sich angesichts der verbreiteten extremen Armut selbst dann, wenn sie nur dann zu helfen verpflichtet sind, wenn für andere lebensnotwendige Güter auf dem Spiel stehen, offenbar ständig in der Situation, dass sie helfen müssten. Insofern scheint das Problem der Überforderung tatsächlich jede plausible Moraltheorie zu treffen, wenn man den Blick erst einmal auf globale Probleme öffnet und Pflichten auf Distanz mit einbezieht. In jüngster Zeit wurden denn auch deontologische wie kontraktualistische Theorien gerade vor dem Hintergrund der Weltarmut und einer globalen Ausdehnung der Moral dafür kritisiert, zu anspruchsvoll zu sein.12 Es könne von Menschen schlicht nicht verlangt werden, dass sie ihr Leben in den Dienst der Armutsbekämpfung stellten und auf das meiste von dem, was das Leben schön und angenehm macht – Ferien in Übersee, Konzertbesuche, auswärts essen gehen, einander beschenken – verzichten. Mit dem Einwand der Überforderung ist in diesem Zusammenhang also das Folgende gemeint: Die moralischen Erfordernisse stürzen die Bessergestellten offenbar erstens in einen Dauerkonflikt mit dem Eigeninteresse, sodass es ihnen nicht mehr möglich ist, ihren eigenen Plänen Rechnung zu tragen. Denn angesichts der extremen Not, in der andere Menschen leben, ist die Hilfspflicht der Privilegierten ein Fass ohne Boden, das immer weitere Engagements erfordert. Damit einher geht zweitens eine bestimmte Form der Selbstbeobachtung, die von den Pflichtinhabern offenbar verlangt, jede einzelne Handlung mit einer für die meisten schädlichen Form der Selbstüberwachung auszuführen.13 Wir müssten, wie beispielsweise Cullity schreibt, ein altruistisch fokussiertes Leben führen,
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das von uns verlangt, unsere eigene Bedürfnis- und Wunschbefriedigung so weit als möglich einzuschränken, um anderen zu helfen.14 Dem Individuum geht mit einer solchen Einstellung aber nicht nur die Freiheit verloren, spontan zu handeln.15 Ein solcher Standpunkt untergräbt letztlich, wie beispielsweise auch Bernard Williams moniert, die praktische Identität von Akteuren.16 Wie ist dieser Überforderungseinwand zu bewerten? Einerseits kann gefragt werden, ob er als Einwand gegen eine Moraltheorie oder ein Moralprinzip taugt; zweitens stellt sich die Frage, ob die beschriebene Überforderung mit der hier geforderten Pflichterfüllung überhaupt einhergeht. Beginnen wir mit dem ersten Punkt: Ob „Überforderung“ als Einwand gegen ein moralisches Erfordernis akzeptiert werden kann oder nicht, hängt vom Moralverständnis ab, das wir vertreten. Ist man wie Shelly Kagan der Meinung, Moral sei eben ein „hartes Geschäft“ und die Tatsache, dass wir gewisse Erfordernisse nur unwillig erfüllen, kein Hinweis auf die Falschheit einer Theorie, sondern ein Hinweis auf unsere Trägheit, unseren Egoismus oder ähnliches, so wird die geltend gemachte Überforderung kaum als ein Problem für eine Moraltheorie angesehen.17 Dies ist ebenso wenig der Fall, wenn man wie James Griffin lakonisch bemerkt: „[I]f morality is demanding, it is demanding.“18 Derek Parfit meint deshalb, wir könnten nur hoffen, dass die beste Moraltheorie nicht unrealistische Forderungen berge, wir könnten jedoch nicht davon ausgehen, dass dem so sei.19 Wenn mit dem Überforderungseinwand gemeint sein soll, dass es die Grenzen des Menschenmöglichen überschreite, sich im geforderten Masse für Notleidende einzusetzen, dann bleiben Vertreter des Überforderungseinwands einen Beleg dieser empirischen Behauptung schuldig.20 Wenn mit dem Einwand jedoch gemeint sein soll, dass die geltend gemachten moralischen Erfordernisse sehr kostspielig sind, will meinen: unangenehm zu erfüllen, dann ist nicht einzusehen, weshalb dies als Einwand gegen eine Moraltheorie gelten sollte. Anders gesagt: Ein moralisches Erfordernis, das man als solches einmal akzeptiert hat, lässt sich nicht mit der Begründung zurückweisen, es sei zu anspruchsvoll.
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Statt diese These anzugreifen, haben einige Philosophen zu zeigen versucht, dass das Problem der moralischen Überforderung bei genauer Analyse der jeweiligen Theorien so drastisch gar nicht ausfällt, sondern dass vielen der Einwände im Rahmen der Überforderungsthese durchaus Rechnung getragen werden kann. So argumentiert etwa Singer in jüngeren Publikationen, dass seine Theorie durchaus Raum für Eigeninteresse, für das Planen und Verfolgen individueller Lebensentwürfe und für gerechtfertigte Formen von Parteilichkeit lasse. Die Einwände träfen nur jene, die nach einer unparteilichen Rechtfertigung für jede einzelne Handlung verlangten, wohingegen er sich durchaus vorstellen könne, dass es ausreiche, im Sinne von Richard Hares „zwei Ebenen-Utilitarismus“21 einen „extra Gedanken“ zu tätigen und unsere Lebensweise insgesamt (und nicht jede einzelne Handlung) kritisch zu hinterfragen.22 Eine kritische Evaluation der eigenen Präferenzen, die sich in unserer Lebensweise niederschlagen, würde laut Singer vermutlich ergeben, dass wir unsere Kinder weiterhin bevorzugt behandeln dürfen und sollen, weil diese natürliche Neigung zu bekämpfen mit so hohen Kosten verbunden wäre, dass das Kalkül zugunsten der Parteilichkeit ausschlagen würde. Auch eigeninteressiertes Handeln, das für unser Wohl unabdingbar ist, kann unter diesem Blickwinkel gerechtfertig werden.23 Ähnlich wurde, wie ich im letzten Kapitel erläutert habe, innerhalb des Kantianismus argumentiert, dass in dieser Theorie durchaus Raum für die Berücksichtigung eigener Bedürfnisse und parteiliches Handeln sei.24 Der Vorschlag lautet also, man könne auch bei gleicher Berücksichtigung aller dafür argumentieren, dass ein gewisser Freiraum von Verpflichtungen gewährt werden müsse und könne, um eine moralisch wertvolle autonome Lebensgestaltung zu sichern.25 Doch abgesehen davon, dass unsicher ist, wie viel Handlungsspielraum wir uns diesen gemässigten Theorien zufolge wirklich zugestehen können, scheint mir auch im Fall der Rechtfertigung solcher Freiräume die Begründung fehlerhaft. Alles, was wir uns erhalten möchten, dürften wir nur schätzen, wenn und insofern es Bestandteil des Gesamtglücks ist. Das entspricht jedoch in vielen Fällen nicht unserem Eindruck: Wir schätzen viele Dinge aufgrund ihrer Eigenschaften, nicht weil sie uns glücklich machen und dies vielleicht noch besonders kosteneffizient tun. Wäre letzteres der
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Fall, müssten wir unsere Präferenzen ständig wechseln, wenn wir eine Tätigkeit entdeckten, die noch mehr Spass und Befriedigung mit sich bringt. Viele Dinge sind jedoch nicht wertvoll, weil sie glücklich machen, sondern sie machen glücklich, weil sie wertvoll sind.26 Ich bin allerdings auch aus anderen Gründen skeptisch, ob diese „Ausweichmanöver“ wirklich zum Ziel führen. In unserem alltäglichen Leben, das den Blick auf unsere zwischenmenschlichen Beziehungen richtet, scheinen diese Fragen zwar nicht so sehr zum Problem zu werden: Moral ist in unserem näheren Umfeld nur in seltenen Situationen so kostspielig, dass wir uns durch sie überfordert fühlen. In aller Regel ist es nicht besonders schwer und schon gar nicht überfordernd, eine moralisch mehr oder minder integre Person zu sein. Auf Distanz hingegen wird das Problem unausweichlich, weil unsere Welt so beschaffen ist, dass extreme Armut und somit auch extreme Not weit verbreitet sind, und für uns von dem Moment an in den Blick kommen, in dem wir unseren moralischen Horizont gleichsam auf den gesamten Globus ausdehnen. Selbst wenn man betont, wie zentral eine autonome Lebensgestaltung für unser Wohlergehen ist, dürfte dies unser Problem nicht lösen: Entweder fassen wir den Begriff der autonomen Lebensgestaltung so eng, dass er selber existentiell wird (dass er sich also etwa in Subsistenz und Handlungs- und Willensfreiheit erschöpft) und man in der Tat nicht verlangen kann, dass sich Personen unter Preisgabe dieses Minimums für andere engagieren. Dann jedoch ist die Zone dessen, was sie für sich verteidigen dürfen, so klein, dass die Pflichten den Armutsbetroffenen gegenüber immer noch extrem anspruchsvoll ausfallen. Oder aber wir fassen den Begriff einer autonomen Lebensweise weiter und subsumieren darunter beispielsweise, dass Personen verschiedene Optionen der Lebensgestaltung haben müssen, über die sie frei entscheiden und in denen sie sich entfalten können, dann muss man sich die Frage gefallen lassen, ob existentielle Bedürfnisse wie Nahrung, ein Dach über dem Kopf – das nackte Überleben – nicht offensichtlich gewichtiger sind als der Wunsch nach Autonomie. Wenn alle gleichermassen berücksichtigt werden sollen, müsste dieser Wunsch gegen die Pflicht zur Hilfeleistung ausgespielt werden. Angesichts der Weltarmut müssen wir deshalb in beiden Szenarien damit
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rechnen, dass Bessergestellte erhebliche Belastungen auf sich zu nehmen haben.27 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass vom Moment an, in dem das Problem der Weltarmut als ein moralisches oder individualethisches Problem anerkannt ist, nur schwerlich gesagt werden kann, es sei zu kostspielig, auf dieses Problem mit umfangreichen Hilfeleistungen zu reagieren. Es scheint mir, dass jeder individualethische Blick auf das Problem – das Problem als „meines“ zu sehen – uns in äusserst kostspielige Szenarien verstrickt. Dabei scheinen insbesondere zwei Aspekte des individualethischen Zugangs zur Weltarmut überfordernd zu sein: Einerseits die Unklarheit, wie viel und was genau das Individuum zu leisten hat; andererseits der Eindruck, das Individuum müsse unendlich viel tun, weil das Leiden anderer so gross und sein luxuriöses Leben angesichts dessen so unangebracht scheint. Die eine Form der Überforderung kommt also durch die im letzten Kapitel angesprochene Vagheit insbesondere der Hilfspflichten, aber auch der transaktionalen Pflichten auf Distanz zustande; die andere Form durch die inhaltliche Kostspieligkeit. Eine Institutionalisierung als Folge gemeinschaftlicher Verpflichtung dürfte in der Tat beide Formen der Überforderung tilgen: Einerseits ist zu erwarten, dass eine Institutionalisierung der Hilfe klare Angaben hinsichtlich des geforderten Individualbeitrags machen wird, denn, um mit Katja Vogt zu sprechen, „[e]ine in ihrer Höhe unbestimmte Steuer […] ist ein Unding.“28 Die Vagheit wird dank einer institutionell fundierten moralischen Arbeitsteilung29 klar umrissenen Pflichten mit einer Obergrenze weichen. Diese Pflichten sind dann nicht mehr als natürliche, sondern als institutionelle Pflichten der Gemeinschaft geschuldet, welche die geforderte Hilfe zu leisten hat.30 Darüber hinaus resultiert aus einer Arbeitsteilung auch eine Minimierung der Kosten für das Individuum, weil der Anteil für die einzelne Person weitaus günstiger ausfällt, wenn alle, die in der Lage sind zu helfen, ihren Anteil übernehmen. Die Individuen müssen dann nur noch den ihnen zugewiesenen Anteil der Pflichten erfüllen und die entsprechenden Institutionen unterstützen. Davon abgesehen können sie sich ihren eigenen Lebenszielen widmen. Allerdings kann der Individualbeitrag auch in einer institutionell normierten Welt noch kostenintensiv ausfallen – etwa dann,
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wenn eine globale Gleichverteilung der Güter verlangt wäre. Ich habe jedoch argumentiert, dass ich eine weltweite Gleichverteilung weder für gefordert, noch für opportun erachte. Geboten ist vielmehr, extreme Armut zu beseitigen und alle Menschen auf die Stufe eines sozialen Minimums zu heben, das ihnen ein Leben in Würde ermöglicht, und dies scheint, wenn wir eine faire Aufteilung der Lasten zugrunde legen, keinesfalls besonders kostspielig.31 Viele der Einwände, die in jüngster Zeit gegen Singers Thesen vorgebracht worden sind, richten sich denn auch weniger gegen die hohen Erfordernisse, die seine Argumentation mit sich bringt, als gegen den individualethischen Zugang, den er für die moralphilosophische Untersuchung extremer Armut wählt. Da Weltarmut als ein Problem angesehen werden müsse, das nur gemeinschaftlich gelöst werden könne und einer institutionellen Regelung bedürfe, rückte in jüngster Zeit mehr und mehr die Frage ins Zentrum, welchen Massstäben entsprechende Institutionen aus moralischer Sicht zu genügen haben. Doch die Frage, welche Verantwortung dem Individuum in entsprechenden Institutionen und vor der Errichtung dieser zukommt, ist dabei weitgehend offen geblieben. Sie steht im Zentrum des folgenden Abschnitts.
6.2 Der Umfang der individuellen Verantwortung Die Frage nach dem Umfang der individuellen Verantwortung angesichts der Weltarmut kann mit Blick auf zwei Szenarien gestellt werden: Einerseits gilt es zu bestimmen, wie viel das Individuum einer idealen Theorie zufolge leisten muss, in einer Welt also, die über funktionierende Institutionen verfügt, die extreme Armut beseitigen und Verantwortlichkeiten in Notfällen festlegen. Die Frage nach der individuellen Verantwortung innerhalb einer idealen Theorie ist somit die Frage nach der fairen Aufteilung der Lasten, welche die Beseitigung der Weltarmut mit sich bringt (6.2.1). Andrerseits stellt sich die Frage, welche Pflichten dem Individuum in einer nicht-idealen Theorie zufallen, in einer Welt also, in der entsprechende Institutionen fehlen und viele ihrer Pflicht nicht nachkommen, weil sie sich dazu nicht aufgefordert fühlen
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oder dazu nicht gezwungen werden.. Nicht alle Autorinnen und Autoren, die sich zur Frage der individuellen Pflichten hinsichtlich der Bekämpfung gravierender Armut geäussert haben, haben eine Antwort bezüglich beider Szenarien gegeben. Dabei taugen Antworten der idealen Theorien nicht immer für die nicht-ideale Theorie und vice versa (6.2.2). 6.2.1 Individuelle Pflichten in der idealen Theorie Stellen wir uns vor, die Beseitigung der Weltarmut wäre als gemeinsame Aufgabe der Bewohnerinnen und Bewohner der Wohlstandsländer akzeptiert worden und alle wären willig, entsprechend ihren Beitrag zu leisten, oder würden institutionell dazu gezwungen – wie sähe eine faire Lastenverteilung aus? Welchen Beitrag hätte wer zu leisten? Und nach welchen Massstäben wären die entsprechenden Institutionen zu gestalten? Um diese Fragen zu beantworten, orientiere ich mich im Folgenden zuerst an einem einfacheren Beispiel32 als an der Weltarmut: Stellen wir uns vor, in einer Familie mit fünf Kindern werden die Eltern alt und pflegebedürftig. Nehmen wir weiter an, es gebe keine staatlichen oder anderen sozialen Einrichtungen, die sich um die Eltern kümmerten. Die Ersparnisse der Eltern reichten auch nicht aus, um einen privaten Pflegedienst zu engagieren. Die Pflicht zur Versorgung der Eltern liegt also bei den Kindern.33 Es stellt sich aber heraus, dass keines der Kinder über die finanziellen oder zeitlichen Ressourcen verfügt, um die Versorgung der Eltern allein zu finanzieren. Alle zusammen könnten jedoch sehr wohl die Mittel aufbringen, ohne dass sie selber in den Ruin getrieben würden. Wozu sind die Kinder als Einzelne verpflichtet? Wilfried Hinsch schlägt vor, die Kinder müssten eine Regelung zu finden, die es ihnen ermögliche, gemeinsam für die Eltern zu sorgen, und die gleichzeitig sicherstelle, dass jedes Kind einen fairen Anteil der anfallenden Kosten übernimmt. Doch bereits in diesem stark vereinfachten Beispiel stellt es sich als schwierig heraus, Fairnesskriterien anzugeben. Da sind fünf Kinder, die gemeinsam eine Aufgabe bewältigen müssen. Wahrscheinlich verfügen sie über unterschiedliche Einkommen, leben in verschiedenen sozialen Si-
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tuationen und hatten ein unterschiedlich enges Verhältnis zu den Eltern, infolgedessen sie vielleicht mehr oder weniger (materielle und immaterielle) Zuwendung von ihnen erhalten haben. Wenn der ältere Bruder beanstandet, dass er vier Kinder im Ausbildungsalter zu ernähren habe, derweil die jüngere Schwester unverheiratet geblieben ist und dass sie deshalb für einen Pflegedienst mehr bezahlen müsse als er, so scheint sie durchaus darin gerechtfertigt, zu kontern, dass er sich für die Kinder freiwillig entschieden habe, derweil sie selbst gerade im Begriff sei, ein Haus zu kaufen und ebenfalls über wenig flüssiges Geld verfüge. Wie auch immer ein faires Arrangement in einem solchen Fall auszusehen hätte34 – klar ist, dass sich die Situation hinsichtlich der Beseitigung globaler Armut noch um ein Vielfaches komplexer ausnimmt. Zu dieser Komplexität gehört auch, dass der Notstand, den es zu bewältigen gilt, im Fall extremer Armut nur zu geringen Teilen naturgegeben ist (wie etwa das älter und pflegebedürftig Werden der Eltern). Zu weitaus grösseren Teilen ist extreme Armut die Folge von Bürgerkriegen, Unterdrückung, Kolonialzeit, kulturellen Faktoren und vielem mehr, Faktoren also, die auf Unrecht oder menschlichem Versagen beruhen. Bevor die Aufgaben in jedem beliebigen Szenario, in dem Hilfe benötigt wird, zugeteilt werden, muss die Situation aus Gründen der Fairness deshalb analysiert werden: Ist die Not selbst- oder fremdverschuldet oder trägt gar niemand Schuld an der vorhandenen Not? Ist die Not selbstverschuldet müssen sich die Notleidenden, so jedenfalls meinen viele, als erstes nach Kräften selber zu helfen versuchen. Zumindest entspricht die Vorstellung, dass in Situationen, in denen sich Personen ganz eindeutig selber in eine missliche Lage gebracht haben, keine Hilfspflicht bestehe, einer weit verbreiteten Überzeugung.35 Genau aus diesem Grund bezeichnet Pogge den Erklärungsnationalismus als eine gefährliche Theorie: Er befürchtet, dass aus der These, dass die Entwicklungsländer für ihre Misere selber verantwortlich seien, abgeleitet werde, wir schuldeten ihnen nichts.36 Wir können diesen Aspekt hier vernachlässigen, insofern erstens ausser Frage steht, dass sich extreme Armut sicherlich nicht allein auf lokale Faktoren zurückführen lässt. Wie ich in Kapitel 4 gesagt habe, spielen globale Faktoren ohne Zweifel auch eine Rolle,
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wobei nicht alle diese Faktoren als Elemente einer „schädigenden Weltordnung“ interpretiert werden sollten. Zweitens ist selbst dann, wenn lokale Faktoren eine herausragende Rolle spielen würden, zu erwarten, dass die leidtragende, extrem arme Bevölkerung an diesen Faktoren keine Schuld trägt. Sie ist den Machenschaften korrupter Regimes oft wehrlos ausgeliefert; von „Selbstverschuldung“ kann also meist nicht die Rede sein. Drittens ist der Schluss, dass, wäre extreme Armut selbstverschuldet, keine Hilfspflicht bestünde, sicherlich nicht in jedem Fall korrekt. Auch wenn es richtig sein mag, dass wir beispielsweise nicht verpflichtet sind, auf dem Geschäftsauflug einem Kollegen von unserem Picknick abzugeben, wenn dieser zu faul war, einen Rucksack mitzunehmen, ändert sich dieses Urteil schlagartig, wenn wir uns in der Wüste befinden und unser tragfauler Kollege verdursten wird, wenn wir ihm nicht einen Teil unseres (reichlich vorhandenen) Wasservorrats überlassen. Wir sind also unter Umständen selbst dann zur Hilfe verpflichtet, wenn die Not selbstverschuldet ist und so bedrohlich ausfällt, dass die Hilfe von existentieller Bedeutung ist. Dies ist im Fall von extremer Armut mit Sicherheit gegeben. Ist die Not in einem moralisch verwerflichen Sinne fremdverschuldet, beruht sie also auf einem Unrecht, muss geklärt werden, wer für dieses Unrecht zur Verantwortung gezogen werden kann. Jene, die diese Not verursacht oder zu ihr beitragen haben, sind als Erstes in der Pflicht, die Not zu beseitigen, bevor Unbeteiligte zur Hilfe aufgefordert werden.37 Lassen sich etwa transnationale Unternehmen Umweltverschmutzung, Bestechung korrupter Eliten oder Produktion in Fabriken, in denen die Mindeststandards der International Labour Organization (ILO) nicht eingehalten werden, zuschulden kommen, haben sie dieses Unrecht wieder gutzumachen respektive Kompensationszahlungen zu leisten, die zur Beseitigung der Not aufgewendet werden können.38 Auch ungerechtfertigte Profite sind zurückzugeben respektive für die Beseitigung der Not einzusetzen.39 Mit Blick auf ein einzelnes Individuum ist – wie in Kapitel 4 geschrieben – schwer anzugeben, wie hoch seine korrektiven und restitutiven Beiträge zum Unrecht, in das es verstrickt ist, zu veranschlagen sind. Das Aufzeigen der Verstrickung ins Unrecht dient hinsichtlich der Weltarmut deshalb weniger dem Bemessen des Beitrags, den Individuen zur Beseitigung des Un-
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rechts aufwerfen müssen, als der Begründung der Pflicht, etwas gegen die Weltarmut zu unternehmen. Denn die Bewohnerinnen und Bewohner der Industrieländer sollten ihre Pflichten den extrem Armen gegenüber nicht ausschliesslich als Erfordernisse sehen, die sie aufgrund garstiger Umstände, die andere in Not stürzen, haben. Vielmehr kommen ihnen diese Pflichten auch – wenn auch nicht nur – aufgrund ihres Involviertseins in Unrecht zu. Weil sich aber das Ausmass dieses Beitrags zum Unrecht nicht bestimmen lässt und weil ich überdies meine, dass ein Teil der Not durch Faktoren zustande kommt, die niemandem anzulasten sind, bedürfen wir weiterer Allokationsprinzipien, wie der Not beizukommen ist. Sind Schuld und Versäumnisse erst einmal getilgt, haben alle zu helfen, die dazu in der Lage sind. Zuweilen wird argumentiert, dass zuerst die Nahestehenden zu helfen hätten.40 Dieses Prinzip beruht auf der Annahme, dass aufgrund des Kooperationsprinzips soziale Gerechtigkeit eine interne Angelegenheit von Gemeinschaften ist.41 Allerdings ist die Armut in vielen Ländern nicht zuletzt deshalb so extrem, weil ruchlose Diktatoren und deren Entourage keinerlei Interesse daran haben, dass es der breiten Bevölkerung besser geht und diese erstarkt. Eine nicht-ideale Theorie ist daher mit dem Phänomen konfrontiert, dass jene, die Unrecht begehen, dieses weder unterlassen, noch wiedergutmachen. Die Pflicht, Nothilfe für die extrem Armen zu leisten und darauf hinzuwirken, dass entsprechende globale Institutionen in Zukunft dafür sorgen, dass die einzelnen Staaten intern für soziale Gerechtigkeit sorgen, geht dann an die Bewohner anderer Länder über, die zu helfen in der Lage sind. Nicht auf alle Bewohnerinnen und Bewohner der reichen Industrieländer trifft dies zu. Wer in Armut lebt, ist sicher nicht verpflichtet, anderen zu helfen, solange es ausreichend Personen gibt, die bestens Hilfe zu leisten vermögen. Wie viel haben aber jene, die über ausreichend materielle und zeitliche Ressourcen verfügen, sich am Kampf gegen die Weltarmut zu beteiligen, zu leisten, und wie sind die Kosten aufzuteilen? Ein Vorschlag lautet, dass wir uns bei der Arbeitsteilung an Kompetenzkriterien orientieren sollten. So meint etwa Gosepath, je mehr Möglichkeiten und Fähigkeiten ein Handelnder habe, desto mehr
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werde er zu einem geeigneten Kandidaten für potentielle Hilfeleistung.42 Für diese These führt er einerseits ein Effizienzkriterium, andrerseits ein Fairnesskriterium an: Das Hilfsbudget wird Personen mit mehr Möglichkeiten weniger belasten als schlechter ausgestattete Personen. Angesichts der Tatsache, dass gemäss einer Studie des UN World Institute for Development Economics Research den reichsten zwei Prozent der Weltbevölkerung mehr als die Hälfte des weltweiten Vermögens gehört,43 scheinen sich „Normalverdiener“ ihren Beitrag tatsächlich sparen zu können mit dem Verweis darauf, dass die Reichsten der Welt auf ein bisschen ihres Luxus zugunsten der Notleidenden verzichten sollten. Dieser Schluss scheint mir jedoch alles andere als fair: Wieso sollte der Umstand, dass eine Person reicher ist als eine andere, dafür sprechen, nur die Reicheren in die Pflicht zu nehmen?44 Auch das Effizienzkriterium scheint mir unfair. So ist beispielsweise nicht einzusehen, weshalb in einer Wohngemeinschaft Marco, der sehr viel schneller und sauberer abwäscht als Silvia, stets den Abwasch besorgen sollte. Nur wenn Marco durch irgendeinen Umstand extreme Vorteile gegenüber Silvia hätte (Silvia hat z.B. einen Allergie gegen Abwaschmittel und kann deshalb nur mit Wasser spülen, weshalb sie viel länger braucht für den Abwasch und das Geschirr zudem nicht wirklich sauber wird), liesse sich argumentieren, dass sich die beiden auf ein Arrangement einigen sollten, dem gemäss Marco öfter abwaschen muss als Silvia. In unserem Beispiel liesse sich in diesem Sinne für eine progressive Steuer argumentieren, die Abgaben in Abhängigkeit von Einkommen und Vermögen vorsähe, sodass alle durch die Hilfspflicht ihren Kräften gemäss ähnlich belastet würden. Doch sobald wir überlegen, wie die Lasten zu verteilen wären, die immatrieller Natur sind (wie etwa politisch aktiv zu sein und Institutionen, die gemeinsame Hilfe ermöglichen, zu unterstützen), ist unklar, weshalb ein Kompetenz- oder Kapazitätskriterium angewendet werden sollte. Zumindest scheint es mir nicht gerecht, wenn Hannah, die in einer NGO arbeitet und um die Ursachen extremer Armut weiss, mehr tun muss als Maria, die sich für Fragen der Politik und der globalen Gerechtigkeit nicht interessiert. Plausibler scheint mir hier eine Gleichverteilung der Lasten, indem sich alle gleichermassen beteiligen müssen oder sich – wiederum einkom-
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mens- und vermögensabhängig – von ihrer Pflicht „freikaufen“ können, indem sie etwa politische Organisationen oder Parteien unterstützen, die für die Armutsbekämpfung einstehen. Die Kriterien für gerechte Institutionen zu umreissen, denen eine faire Lastenaufteilung zugrunde liegt, ist also keine triviale Aufgabe, sondern bedürfte einer weiterführenden Erörterung. Im Folgenden konzentriere ich mich aber auf die Pflichten des Individuums in der nicht-idealen Theorie – in der Welt, wie sie sich hier und jetzt präsentiert. 6.2.2 Individuelle Pflichten in der nicht-idealen Theorie Wenn wir erst einmal bestimmt haben, wie in einer idealen Welt, die anhand fairer Prinzipien institutionell geordnet ist, die Pflichtenallokation auszusehen hat, können wir die Verantwortungszuschreibungen dieser idealen Welt dann auf die nicht-ideale Situation übertragen? Die nicht-ideale Welt zeichnet sich unter anderem durch „non-compliance“ aus, also dadurch, dass zumindest einige andere ihren Pflichten nicht oder nicht zureichend nachkommen.45 Neben dem fairen Anteil, den wir der idealen Theorie gemäss berechnen können, fällt in der nicht-idealen Welt, in der wir leben, deshalb einiges an Mehraufwand an. Die entsprechenden Institutionen gilt es überhaupt erst aufzubauen, und Lücken im System müssen laufend ausgeglichen werden. Diese Aufgabe kommt uns gemeinsam zu, und die Arbeitsteilung müsste den Prinzipien der idealen Theorie gemäss erfolgen. Aber erstens werden viele ihre Aufgabe nicht erfüllen, denn Sanktionen bleiben aus, solange noch keine entsprechenden Institutionen bestehen. Zweitens wird es auch in einer institutionell geregelten Welt immer Trittbrettfahrer geben, die ihre Aufgabe nicht übernehmen. Wer muss deren Ausfall kompensieren? Drittens wird es immer neue Formen von Not geben, dem (noch) nicht institutionell abgeholfen werden kann und dessen Beseitigung deshalb gemeinsamer Anstrengungen bedarf. Auch hier ist zu erwarten, dass nicht alle ihren fairen Anteil der Lasten übernehmen. Es stellt sich somit hinsichtlich aller drei Aspekte die Frage, ob wir zusätzlich zu dem, was unsere „ideale“
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Pflicht ist, noch ausgleichen müssen, was andere zu tun versäumen, und falls ja, bis zu welchem Grad. Das Problem, das wir mit dem Konzept gemeinsamer Verantwortung ausschalten wollten, taucht also spätestens dann wieder auf, wenn wir den Blick auf den gegenwärtigen Weltzustand richten, in dem die gemeinschaftliche Verantwortung nicht institutionalisiert ist. Dies hat auch John Rawls gesehen, der mit seiner Theorie der Gerechtigkeit zwar eine ideale Theorie vorlegt,46 jedoch argumentiert, wir müssten, falls entsprechende Arrangements fehlten, „bei der Errichtung neuer gerechter Institutionen mithelfen, mindestens wenn es mit geringem Aufwand für uns möglich ist.“47 Was aber, wenn der Aufwand kostspieliger wird, weil andere ihre Arbeit nicht tun? Dürfen jene, die ihren Beitrag geleistet haben – beispielsweise regelmässig gespendet, ihr Kaufverhalten überdacht und moralisch optimiert und sich politisch engagiert haben – sich weigern, das fehlende Engagement anderer auszugleichen? Elizabeth Ashford verneint dies. Denn ihrer Meinung nach besteht, solange das Problem chronischer Armut auf institutioneller Ebene nicht angemessen gelöst ist, permanent eine Notfallsituation grössten Ausmasses: „Jederzeit stehen die Lebensinteressen einer riesigen Zahl von Menschen auf dem Spiel. Und unabhängig davon, ob relativ wohlhabende Individuen durch ihr Verhalten zu dieser Notlage beigetragen haben, sind sie permanent in der Lage, Menschen zu retten.“ 48
Es kann sich deshalb, so Ashford, niemand auf den Standpunkt stellen, den erforderlichen Anteil geleistet zu haben und deshalb für die verbleibende Not nicht mehr zuständig zu sein. Ich meine dagegen sehr wohl, dass man sich auf diesen Standpunkt stellen darf – allerdings nur dann, wenn der Adressat dieser Aussage die Gruppe der Verpflichteten ist: Dann ist es durchaus gerechtfertigt, die Untätigen darauf hinzuweisen, dass wir unser Scherflein beigetragen haben und nicht länger bereit sind, die Aufgaben der Drückeberger zu übernehmen. Diese Abgrenzung büsst allerdings an normativer Kraft ein, sobald diese Entschuldigung jenen gegenüber geltend gemacht wird, die dringend existentieller Hilfe bedürfen: Richtet man den Blick auf die Opfer des Unrechts, scheint eine solche Entschuldigung nicht mehr zu taugen. Aus die-
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ser Perspektive scheint die Verantwortung potentieller Helfer nicht kleiner zu werden, wenn sie den Anteil, der ihnen in einer idealen Welt zukäme, bereits geleistet haben, die Not aber nach wie vor sehr gross ist. Die Frage ist also weniger, ob Personen sich auf den Standpunkt stellen dürfen, sie hätten ihre Arbeit getan und jetzt seien andere an der Reihe – sondern die Frage ist, wem gegenüber eine solche Entschuldigung normativ etwas austrägt. Und ich meine, sie trägt nur jenen gegenüber etwas aus, die ebenfalls zu helfen hätten, sich jedoch aus der Affäre ziehen – nicht aber jenen gegenüber, die weiterhin dringend der Hilfe bedürften. Dies ist umso mehr der Fall, als extreme Not keinen besonders exotischen Einzelfall darstellt, sondern das Gesicht unserer Welt gegenwärtig stark prägt.49 Nehmen wir also erst einmal die Perspektive der Individualethik ein und blicken als potentielle Helfer auf die Not, scheint es schwierig, die Verantwortung von sich zu weisen. Und ich meine, dass dies genau der Blickwinkel ist, den Konsequentialisten wie Peter Singer typischerweise einnehmen. Singers Ansatz etwa ist klar als eine Antwort auf die Frage nach unseren Pflichten in einer nicht-idealen Welt konzipiert.50 Zwar äussert sich Singer in seiner Praktischen Ethik vorsichtig und verlangt, wir sollten zehn Prozent unseres Einkommens spenden, „mehr als eine blosse symbolische Spende, aber dennoch nicht so hoch, dass nur Heilige dafür in Frage kommen.“51 Ein Argument für diesen Betrag liefert er aber meines Erachtens nicht. Aber wie viel auch immer von uns verlangt ist – es sind Singer und auch Unger zufolge beträchtliche Opfer in Kauf zu nehmen, die umso höher ausfallen, als andere ihrer Pflicht nicht nachkommen.52 Es mag zwar unfair erscheinen, wenn wir die Pflichten unwilliger potentieller Helfer übernehmen müssen, doch diese Ungerechtigkeit wiegt in ihren Augen gering im Vergleich zur Not der Betroffenen. Die Erfordernisse steigen somit für das Individuum, wenn andere nicht kooperieren.53 Liam Murphy hat diesen Schluss als unfair bezeichnet.54 Stattdessen argumentiert er für eine „compliance condition“, die besagt, dass ein Moralprinzip die Kosten für die Pflichtenträger nicht erhöhen darf, wenn die Kooperationsbereitschaft der anderen Pflichten-
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träger sinkt.55 Die obere Grenze des Geschuldeten muss gemäss Murphy an dem festgemacht werden, was gefordert wäre, wenn alle kooperierten. Sein „Kooperationsprinzip“56 verlangt demnach, dass jeder optimal (das bestmögliche Resultat erzielend) handelt. In Situationen, in denen das optimale Resultat ausschliesslich als Gruppe in einer gemeinschaftlichen Handlung erzielt werden kann, müsse das Individuum nur soviel leisten, wie es zu leisten hätte, wenn alle kooperierten. Diese Position legt Murphy nicht auf die absurde Position fest, Passant A müsse nur ein Kind aus dem Teich ziehen, wenn Passant B das zweite Kind im Teich nicht rettet. Denn Murphys Prinzip verlangt optimales Handeln, wenn ein optimales Resultat im Alleingang erzielt werden kann. Dies ist im Teichbeispiel mit zwei Kindern und zwei Passanten, von denen einer seiner Pflicht nicht nachkommt, der Fall. Passant A kann vermutlich problemlos zweimal in den Teich springen. Stellen wir uns allerdings eine komplexere Variante des Teichbeispiels vor mit einem gekenterten Boot und einer ganzen Schulklasse, die im Wasser treibt, so fragt sich, ob Murphys Kooperationsprinzip nicht nahe legen würde, dass Passant As Pflicht sich in der Rettung eines Kindes erschöpft, wenn zahlreiche andere Spaziergänger untätig bleiben. Ein solcher Schluss vermag aber nicht recht zu überzeugen. Warum sollte die Tatsache, dass andere nicht kooperieren, meiner Pflicht eine obere Grenze setzen?57 Wie oben bereits gesagt, meine ich, dass diese Überlegung nur dann plausibel ist, wenn sie mit Blick auf die anderen potentiellen Helfer, nicht jedoch, wenn sie mit Blick auf die Opfer angestellt wird. Dass andere auch etwas tun könnten, sich aber aus der Verantwortung stehlen, ist aus der zweiten Perspektive also kein Grund, selber weniger zu tun. Die eigentlich entscheidende Frage ist deshalb meines Erachtens, welche Perspektive wir einzunehmen haben, wenn wir das obere Pflichtmass festlegen: Ist es zulässig, das Problem der Weltarmut in erster Linie als ein Problem zu sehen, das wir nur gemeinschaftlich angehen können, weshalb wir uns auch im Hinblick auf den Umfang unserer je individuellen Verantwortung an dem orientieren dürfen, was von uns verlangt wäre, wenn alle kooperierten? Oder ist diese Perspektive nur dann zulässig, wenn wir darüber nachdenken, wie eine faire Arbeitsteilung aussähe und welchen Prinzipien die entsprechenden Institutionen zu genügen
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hätten – nicht aber, wenn wir überlegen, was wir in einer nichtidealen Welt zu tun verpflichtet sind? Ein Argument dafür, dass wir uns auch in einer nicht-idealen Welt, in der nicht alle – oder sogar die wenigsten – kooperieren, an dem ausrichten dürfen, was von uns in einer gemeinschaftlichen Aktion verlangt wäre, lautet, dass wir im Alleingang gar nichts auszurichten vermögen. Die These lautet dann, dass die Perspektive der Moral – des individuell Geschuldeten – dem Problem gar nicht gerecht werden kann, sondern dass allein ein institutionenethischer Zugang angemessen ist. Dies trifft möglicherweise umso mehr zu, als es sich bei der Weltarmut eben nicht um ein erweitertes Teichszenario handelt, sondern um ein strukturelles Problem, das nur politisch-gemeinschaftlich gelöst werden kann. Andrew Kuper klagt Singer denn auch eines gravierenden „political acontextualism“58 an, der nicht nur unangemessen, sondern sogar moralisch verwerflich sei, da er den Opfern der Weltarmut nicht helfe, sondern sie weiter schädige.59 Singer und viele Hilfswerke würden eine „Notpflasterpolitik“ betreiben, statt dass das Problem extremer Armut an der Wurzel gepackt würde, indem dafür gesorgt würde, dass das Kind – bildlich gesprochen – gar nicht erst in den Teich falle.60 Statt nachhaltiger Hilfe würden in der Folge Abhängigkeiten produziert, und die eigentlichen – politischen und institutionellen – Probleme nicht angegangen. Individuelle Einzelaktionen, die aus einem übereifrigen individualethischen Blick auf das Elend resultierten, seien nicht nur unnütz, sondern würden die Armutsbetroffenen letztlich schädigen.61 Mit seiner Kritik schiesst Kuper meines Erachtens aber übers Ziel hinaus. Denn wenn sich aus empirischen Studien ergeben sollte, dass die herkömmliche Entwicklungszusammenarbeit sich vor allem negativ auswirkt, wären Konsequentialisten wie Singer sicher die ersten, die zu einer Unterlassung herkömmlicher Hilfe aufrufen würden. Doch damit wären wir nicht aus unserer Pflicht entlassen – es sei denn, es stellte sich heraus, wir könnten an der Misere überhaupt nichts ändern.62 Doch dies scheint auch Kuper nicht zu meinen. Er fordert als effektive Formen der Hilfe beispielsweise den Ausbau des fairen Handels und die Unterstützung eines nachhaltigen, lokalen Tourismus in Entwicklungsländern. Aller-
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dings gibt uns Kuper keinen Anhaltspunkt hinsichtlich der Höhe des geforderten Engagements: Man kann Produkte aus dem fairen Handel kaufen und sein politisches Mitspracherecht dahingehend nutzen, dass Entscheidungsträger an die Macht kommen, die sich für eine gerechte Weltwirtschaft einsetzen. Das ist die Minimalvariante. Man kann aber auch selber politisch aktiv werden, Fair Trade-Organisationen finanziell unterstützen, sich eigenhändig über Produkte und deren Produktion informieren, die Informationen aktiv weitergeben – unserem Engagement ist keine Grenze gesetzt. Wie viel also ist von uns verlangt? Selbst wenn wir der These Glauben schenken, dass sich das Problem nur institutionenethisch lösen lässt, werden wir, mit anderen Worten, den individualethischen Blick auf die Sache und die Frage, wie viel Verantwortung das Individuum trägt, nicht los. Der Verweis auf die dem Problem angemessene Perspektive der gemeinsamen Verantwortung kann jedoch auch meinen, dass wir Probleme, die wir gemeinsam zu lösen haben und zu deren Lösung wir nicht wie in Notfallsituationen im Alleingang beitragen können, auch weiterhin als gemeinsames Problem sehen dürfen. Etwas als „mein“ moralisches Problem zu sehen, impliziert, die leidtragende oder hilfesuchende Person als mein Gegenüber anzuerkennen. Dies ist in Notsituationen die einzig angemessene Perspektive. Werden wir in einer Situation wie dem Teichbeispiel angewiesen einzugreifen und geben zur Antwort: „Das ist doch nicht mein Problem!“, so ist diese Reaktion vollkommen unangemessen. Anders verhält es sich jedoch, wenn wir von Notständen erfahren, gegen die wir alle gemeinsam aktiv werden sollten. In solchen Situationen scheint es angemessen zu meinen, dass dies unser aller und nicht mein Problem darstellt und dass das Individuum nicht mehr und nicht weniger als seinen fairen Anteil zu leisten hat. Wenn in Nick Hornbys Roman How to be good der Vater seinen Sohn bittet, seinen Computer einer Hilfsorganisation zu überlassen, die diesen dringender brauche als er, so ist die Weigerung des Sohnes, die er begründet mit den Worten: „Because it’s my computer“, vollkommen nachvollziehbar und gerechtfertigt. Allerdings – und dies ist die Crux mit den beiden komplementären Perspektiven – scheint der Vater auch darin gerechtfertigt zu sagen, dass wir, wenn wir um
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das Schicksal der armen Leute wirklich besorgt wären, nicht warten könnten, bis die Regierung aktiv werde und ihrerseits Massnahmen zur Linderung der Not ergreife.63 Wir befinden uns also in einer Art moralischen Pattsituation: Die gemeinschaftliche, institutionelle Perspektive scheint aus verschiedenen Gründen die angemessene und richtige zu sein. Ihre Plausibilität hängt aber letztlich davon ab, dass wir genau diese Perspektive der gemeinsamen Verantwortung auch einnehmen. Denn aus strikt individualethischer Perspektive scheint die Tatsache, dass andere etwas tun könnten und tun sollten, dies aber unterlassen, kein Grund, den eigenen Einsatz zu begrenzen. Letztlich scheint nur eine tugendethische Wende aus dieser Pattsituation zu führen, indem es dem Individuum überlassen bleibt, sich die Frage zu stellen, wie viel es zu leisten bereit ist und welches Leben es zu führen gewillt ist respektive worauf es verzichten kann, ohne das preisgeben zu müssen, was ein wertvolles, glückliches Leben für es ausmacht. Wir müssen uns demnach die Frage stellen, was es für uns Menschen und für das Bild, das wir von uns selber haben, bedeutet, in einer Welt zu leben, in der so viele Menschen extreme Not erleiden. Darauf gibt es vermutlich keine klare Antwort und keine eindeutig richtige Reaktion, aber mit dieser Frage einher geht womöglich eine Haltung, die aus der Pattsituation ein Stück weit herauszuführen vermag. Darüber hinaus bleibt nur zu betonen, dass die Perspektive der gemeinsamen Verantwortung eine plausible, moralisch vertretbare und wahrscheinlich auch die einzig langfristig erfolgversprechende Lösung zur Beseitigung der Weltarmut ist: Sie fordert keine übermässige Belastung des Individuums und wird dank einer Institutionalisierung, die sich aus einem gemeinschaftlichen Vorgehen natürlich ergeben wird, entsprechend effizient sein. Solange jedoch diese Institutionen nicht vorhanden sind, sollten wir uns nach Kräften bemühen, diese zu schaffen und Hilfe zu leisten, wo keine Institutionen greifen – ohne dabei die gemeinschaftliche Perspektive aus dem Blick zu verlieren und auf deren Institutionalisierung zu drängen, die es über kurz oder lang ermöglichen wird, dass wir alle weitaus weniger belastet sein werden durch eine Situation, die nicht
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nur den Armutsbetroffenen nicht würdig ist, sondern auch all jenen nicht, die die Situation ändern könnten und dies nicht tun.
6.3 Drei Sorgen und Versuche ihrer Entschärfung Im 2. Kapitel habe ich drei Positionen vorgestellt, die der Möglichkeit einer Begründung individueller Pflichten gegenüber Menschen in extremer Armut skeptisch gegenüber stehen: Erstens Ansätze, die sich an der Alltagsmoral orientieren und darauf hinweisen, dass wir es gewöhnlich nicht als unsere Pflicht erachten, Geld zu spenden oder uns in unserer Freizeit für Entwicklungszusammenarbeit zu engagieren, und dass wir entsprechend auch niemanden tadeln, der oder die dies unterlässt; zweitens kommunitaristische Positionen, die Moral als gesellschaftsinterne Angelegenheit verstehen und deren globale Ausdehnung für problematisch halten; und drittens libertäre Ansätze, die jeglichen Hilfspflichten kritisch gegenüber stehen. Bei allen drei Positionen handelt es sich um unterschiedliche Versionen der „Wohltätigkeitsperspektive“64, die ein Engagement zugunsten von Menschen, die in extremer chronischer Armut leben, möglicherweise als gut und nett, aber nicht als von uns verlangt erachten. Im Folgenden sollen diese kritischen Stimmen wieder aufgenommen werden. Dabei soll es nicht darum gehen, die prinzipiellen Einwände, die sich aus diesen skeptischen Positionen gegen Pflichten gegenüber Notleidenden in weiter Ferne ergeben und die ich bereits ausführlich diskutiert habe, noch einmal aufzurollen. Vielmehr ist es das Ziel dieses Abschnitts, die zentralen Sorgen, die am Ende des zweiten Kapitels unbeantwortet stehen geblieben sind, wieder aufzugreifen und zu untersuchen, ob sich diese nach der geleisteten Begründung und inhaltlichen Bestimmung der entsprechenden Pflichten entschärfen lassen. Der Einwand des Moralismus besagt, wir würden zuviel unter die Moral subsumieren, wenn sie von uns verlange, dass wir unsere ganze Lebensführung in ihren Dienst stellten und letztlich zu „moralischen Heiligen“ mutierten. Personen, die uns glauben
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machen wollen, wir sollten unseren Lebensstil angesichts der extremen Armut, in der andere Menschen leben, radikal überdenken und ändern, empfinden wir deshalb zuweilen als Moralisten. Wie in den letzten Abschnitten deutlich geworden sein dürfte, ist für die Sorge eines drohenden Moralismus vor allem die Frage relevant, ob wir uns auf Pflichten einlassen müssen, die wir als „überfordernd“ bezeichnet haben. Eine Moralisierung menschlichen Daseins, die alles unter dem Blickwinkel der Moral zu betrachten vorschreibt, verträgt sich nämlich, so der Einwand des Moralismus, nicht mit unserem Bestreben, glückliche Leben zu führen und wertvolle, vielseitige Personen zu sein. Susan Wolf beschreibt diesen Konflikt folgendermassen: „In other words, if the moral saint is devoting all his time to feeding the hungry or healing the sick or raising money for Oxfam, then necessarily he is not reading Victorian novels, playing the oboe, or improving his backhand.“65
Nun gehört es sicherlich nicht zu jedermanns Lebensentwurf zu musizieren, viktorianische Romane zu lesen oder Tennis zu spielen, aber es ist leicht ersichtlich, worauf Wolf hinaus will: Das, was unser Leben angenehm, reich und letztlich auch zu unserem je individuellen Leben macht, scheint keinen Platz mehr zu haben, wenn wir uns zugleich um die Leidenden in der Welt kümmern wollen.66 Die Frage ist allerdings, ob die hier begründeten Erfordernisse in der Tat eine solche Moralisierung aller Lebensbereiche verlangen, ob also der Konflikt, wie ihn Susan Wolf beschreibt, tatsächlich so besteht. Nehmen wir die gemeinschaftliche Perspektive ein und gehen von entsprechenden Institutionen aus, die eine moralische Arbeitsteilung ermöglichen, resultiert kein solcher Konflikt. Denn wie gesagt, sind Institutionen als eine Entlastung des Individuums zu sehen, und bei erfolgreicher Arbeitsteilung fallen die Kosten für alle, die helfen können und müssen, nicht besonders hoch aus. Auch der Umstand, dass es möglicherweise bestimmte Produkte nicht mehr zu kaufen geben wird oder einige Erzeugnisse teurer (da fair gehandelt) sein werden, dürfte mit Blick auf das Wohl der Reicheren kaum ins Gewicht fallen. Anders sieht es aus, wenn wir den individualethischen Blickwinkel einnehmen: Nicht nur hinsichtlich der geforderten Hilfe in Form von Spenden und politi-
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schem Engagement, sondern auch hinsichtlich des Versuchs, sich nicht in Unrecht zu verstricken und sich als Konsumentin oder als Konsument entsprechend korrekt zu verhalten, scheinen wir einer mehr oder weniger starken Moralisierung des Lebens nicht ausweichen zu können. An dieser Stelle wird noch einmal plausibler, weshalb Bittner dafür plädiert, Weltarmut als ein politisches und nicht als moralisches Problem zu verstehen: Es ist dies weniger eine These darüber, was Weltarmut uns angeht oder eben nicht angeht, als darüber, dass das Problem nicht im Bereich der Individualethik oder der Moral, sondern im Bereich der Institutionenethik auszuhandeln ist. Ein Problem als eine Frage der Institutionenethik zu behandeln, meint, wie wir gesehen haben, in erster Linie, regulative Massnahmen zur Behebung des Problems anzustreben, was mit einer weitgehenden Entlastung im Bereich der persönlichen Moral einhergeht. Die Sorge eines drohenden Moralismus spricht also nicht generell gegen Pflichten gegenüber den Opfern der Weltarmut. Ein Moralismus droht nämlich gar nicht, wenn wir das Problem der Weltarmut als ein institutionenethisches auffassen, welches das Individuum weitaus weniger in die Pflicht nimmt, als wenn es im Alleingang gegen die Misere kämpfen würde. Die Sorge bleibt aber bestehen, wenn wir als Individuen auf die extreme Not schauen und die Armut als unser je individuelles Problem betrachten. Diese Sorge lässt sich meines Erachtens nicht wegdiskutieren oder lösen. Es stellt sich allerdings die Frage, ob die Moral von uns verlangt, diese individualethische Perspektive auf das Problem der Weltarmut einzunehmen. Letztlich scheint hier nur eine tugendethische Antwort möglich – eine Antwort letztlich, die sich daran orientiert, welche Personen wir sein und wonach wir unser Leben ausrichten wollen. Wie ist die kommunitaristische Sorge, Pflichten auf Distanz könnten das Wohl der Gemeinschaften gefährden, zu bewerten? Kommunitaristen stehen Pflichten, extreme Armut im Süden zu bekämpfen, insbesondere deshalb kritisch gegenüber, weil sie befürchten, eine damit einhergehende Ausdehnung des moralischen Aufmerksamkeitsbereichs auf die ganze Welt würde auf einer Unparteilichkeit basieren, die parteiliche Bedürfnisse und Erfordernisse als illegitim
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zurückweist. Parteilichkeit erachten Kommunitaristen jedoch für das Bestehen und Funktionieren von florierenden Gemeinschaften als unabdingbar, und funktionierende Gemeinschaften sind ihnen zufolge wiederum für das menschliche Wohl von eminenter Bedeutung. Schliesslich steht es auch in unserer Gemeinschaft nicht mit allem zum Besten, auch bei uns gibt es Armut und Not, und den Kommunitaristen zufolge inhäriert dem Gemeinschaftsverständnis eine Bevorzugung der je eigenen Gemeinschaftsmitglieder, wenn es darum geht, Güter zu verteilen. Unter dem Stichwort „charity begins at home“67 plädieren Kommunitaristen und Nationalisten dafür, zuerst die Sorgen und Nöte der eigenen Landsleute zu beseitigen, denn wenn wir unserer nationalen Zugehörigkeit nicht in Form der Bevorzugung unserer Landsleute und des Schutzes unserer Kultur Rechnung tragen können, wären wir letztlich nur noch, wie Yael Tamir meint, „isolierte Individuen“ und laufen Gefahr, eine „abstrakte Menschlichkeit“ leben zu müssen.68 Die sogenannten Stufenmodelle der Pflichten (split level-theories), wie sie in den vergangenen Jahren zum Beispiel von David Miller69, Yael Tamir70, Samuel Scheffler71 und Michael Hardimon72 vertreten worden sind, beruhen auf der These, dass unsere Verpflichtungen Hierarchien folgen: Einerseits haben wir (wenig anspruchsvolle) globale Pflichten, die wir als generelle Pflichten allen Menschen schulden und die sich auf Nichtschädigungsgebote (und möglicherweise rudimentäre Hilfsgebote) beschränken, andrerseits stehen wir in den unterschiedlichsten Beziehungen zu verschiedenen Personen, die mit lokalen, speziellen (und anspruchsvolleren) Pflichten einhergehen, die wir ausschliesslich unseren Gruppenmitgliedern (und kleineren Kreisen der persönlichen Beziehungen) schulden. Ganz abgesehen davon, was von diesen Modellen zu halten ist, können wir festhalten, dass der Sorge offenbar ein Triageproblem zugrunde liegt: Grundsätzliche Bedenken gegen Pflichten auf Distanz können demnach nur dann geltend gemacht werden, wenn gezeigt werden kann, dass deren Erfüllung notwendig zu einem Konflikt mit den lokalen Pflichten führen würde. Dies scheint mir jedoch unter den gegebenen Umständen nicht der Fall zu sein. Michael Blake schreibt dazu: „[I]t is entirely open for an observer to note that the continued existence of the United States is certainly compatible with greater aid to the Third
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World – indeed, it is compatible with a vast reduction in the standard of living of wealthy Americans. Present problems of resource development are not best understood as being ones of triage, in which one national group will necessarily disappear because of the inadequacy of natural resources.“73
Was Blake für die USA geltend macht, dürfte für Europa und dessen Staaten ebenso gelten. Die Welt verfügt gegenwärtig über ausreichend Ressourcen, um zumindest die Grundbedürfnisse aller Erdenbewohner zu sichern. Eine Umverteilung als Gleichverteilung würde allenfalls entsprechende Probleme mit sich bringen, doch hinsichtlich der Beseitigung von extremer Armut kann nicht die Rede davon sein, dass diese Aufgabe so kostenintensiv ausfiele, dass die Pflege der Gemeinschaft, der gemeinsamen Kultur, Sprache, Religion und Geschichte verunmöglicht würde. Teuer ist es womöglich, unser Wohlstandsniveau zu halten, doch einerseits kann dieses mit dem Verweis darauf, dass bei einer Senkung des Niveaus unsere Gemeinschaft und damit unsere Identität zerstört würden, nicht gerechtfertigt werden; andererseits ist fraglich, ob dieses Niveau stark absinken würde, wenn alle Staaten die auf internationaler Ebene vereinbarten 0.7 des Bruttoinlandproduktes in die Entwicklungshilfe stecken würden. Die dritte Sorge galt dem Verlust der Freiheit. Libertäre weisen Pflichten den Opfern der Weltarmut gegenüber zurück aufgrund der These, dass wir schlicht niemandem gegenüber zur Hilfe verpflichtet sind. Moral erschöpft sich ihnen zufolge, kurz gesagt, in der Wahrung der negativen Freiheitsrechte aller. Wir schulden Menschen in Not somit nichts, solange wir ihre Not nicht verursacht haben – ganz unabhängig davon, wo diese Menschen leben. Damit ist jedoch bereits klar, dass wir unsere Nichtschädigungsund Wiedergutmachungspflichten (korrektive wie restitutive) gegenüber den Armutsbetroffenen erfüllen müssen. Allerdings ist zu vermuten, dass die Erfüllung dieser Pflichten nicht ausreichen wird, um die extreme Armut zu beseitigen. Vielmehr sind auch positive Bemühungen vonnöten, und deren Gebotenheit bestreiten Libertäre prinzipiell. Die libertäre Sorge um den Verlust der Freiheit bei einer Behauptung von Pflichten im Rahmen der Weltarmut ist berechtigt.
Schluss – oder: die Sorge, die bleibt
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Sie ist dies vor allem dann, wenn wir vom gemeinschaftlichen, institutionellen Blick zum individualethischen Blick wechseln und sich dasselbe Problem zeigt, wie wir es bereits bei der Diskussion des Moralismus angetroffen haben: Versteht das Individuum die Existenz extremer Armut als sein Problem, das es (auch) individuell in die Pflicht nimmt, solange keine institutionellen Regelungen existieren, die die Aufgabe der Armutsbekämpfung erfolgreich delegieren, scheint das Individuum nicht nur überfordert, sondern auch extrem eingeschränkt in seinem Bestreben, sein Leben in Freiheit zu leben. Die libertäre These, viele Moraltheorien würden uns gegenseitig zu Sklaven degradieren, ist vor diesem Hintergrund mit einem Mal nicht mehr unplausibel.74 Daraus geht noch einmal hervor, wie sehr wir das Problem der Weltarmut als ein gemeinsames sehen sollten, das wir auch gemeinsam zu lösen haben. Libertäre sollten vor diesem Hintergrund gerade aus Liebe zur Freiheit in diesem Fall ausnahmsweise für mehr, statt für weniger Staat und Steuern plädieren.
6.4 Schluss – oder: die Sorge, die bleibt In einem seiner Aufsätze zur Weltarmut schreibt Stefan Gosepath: „Die moralphilosophische Unklarheit stellt sich uns als ein Problem, weil jeder gerne selber für sich Klarheit darüber haben möchte, zumindest wenn er intellektuell aufgeklärt und redlich ist, was er eigentlich angesichts von Menschen in Notlagen tun sollte. Zudem besteht, solange die moralphilosophische Frage nicht geklärt ist, die Gefahr, dass zwar alle die Notlage beklagen, aber unter Umständen niemand (effektiv) hilft. Die intellektuelle Unklarheit führt so zu praktischer Apathie, die das Elend der Notleidenden noch vergrössert.“75 Ich habe versucht, Licht in die „intellektuelle Unklarheit“ zu bringen, indem ich dem Individuum verschiedene Pflichten zugewiesen habe, die mit seinen unterschiedlichen Rollen und Einflussbereichen in der Gesellschaft korrelieren: Es sind dies erstens Bürgerpflichten, die uns als Bürgerinnen und Bürger demokratisch regierter Länder in die Pflicht nehmen, unsere Stimmen zugunsten einer gerechten Weltordnung zu erheben; zweitens Konsumenten-
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Weltarmut und individuelle Verantwortung
pflichten, die uns als Käufer, Anlegerinnen, Investoren und Kundinnen darauf verpflichten, unsere Konsumentscheidungen mit Sorgfalt zu treffen und für eine Verstrickung ins Unrecht Wiedergutmachung und Restitution zu leisten; und drittens Hilfspflichten, die Menschen darauf verpflichten, anderen Menschen in extremer Not Unterstützung zu gewähren. Diese Pflichten kommen allen Bewohnerinnen und Bewohnern der reicheren Länder zu, die in der Lage sind, den geforderten Beitrag zu leisten; es war deshalb von einem Pflichtenpluralismus die Rede. Die Weltarmut zu beseitigen ist somit eine Aufgabe, die wir alle gemeinsam haben, und die am effektvollsten und effizientesten gelöst werden kann, wenn sie koordiniert und institutionalisiert angegangen wird. In einer idealen Welt, die über die entsprechenden institutionellen Arrangements verfügt, wird die Belastung des Individuums nicht übermässig ausfallen. Die Sorge, die dagegen bestehen bleibt, ist die Individualethik. Es ist angesichts der Bilder und Zahlen von extremer Armut, mit denen wir konfrontiert werden, schwierig, diese individualethische Perspektive begründet und gerechtfertigt aufzugeben, solange entsprechende Institutionen fehlen und die ideale Welt noch nicht Realität geworden ist. Vielleicht sollten wir diesen Blick auf die extreme Armut und das menschliche Leiden, das mit ihr einhergeht, auch gar nicht ablegen. Letztlich ist es dieser Blick, der Singer dazu bewogen hat, 1972 sein Plädoyer für umfangreiche Hilfe für die Flüchtlinge im heutigen Bangladesh zu verfassen, und letztlich ist es auch dieser Blick, der die Debatte um Weltarmut und Ethik motiviert und inspiriert. Dies wissen natürlich auch die Hilfswerke, die uns entsprechend oft mit Bildern und personalisierten Briefen wie jenem von Amina und ihrer Familie versorgen, mit dem dieses Buch begann. Dennoch sollten wir nicht Amina, sondern das gesamte politische und institutionelle globale Gefüge im Blick haben und uns nach Kräften für gemeinsame, institutionelle Lösungen einsetzen. Wir erreichen am nachhaltigsten und am effizientesten am meisten, wenn wir gemeinsam vorgehen. Insofern haben wir alle vor allem die Pflicht, sensibel zu bleiben für das Elend, das andere Menschen ertragen müssen, und aktiv mitzuhelfen, entsprechende Organisa-
Schluss – oder: die Sorge, die bleibt
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tionen zu gründen, voranzubringen und in unserer Gesetzgebung zu verankern. Die norwegische Entwicklungspolitikerin Hilde Johnson schreibt in einem Aufsatz etwas pathetisch: „When we can put a man on the moon, why can we not eradicate poverty? The answer is – we can. We can, but we must do more, we must want more.“76 Pathos hin oder her – es ist ihr recht zu geben.
Anmerkungen 1 Einleitung 1 2 3 4 5 6
LaFollette 2003b, 238. Schreiben vom 17. Januar 2007. Im zitierten Brief vom 17. Januar 2007 auf Seite 1. Vgl. http://one.wfp.org/german/?n=32 (letzter Zugriff: 9.6.2009). Vgl. zum letzteren Punkt Drèze/Sen 1989, 275f. Als extrem arm sollen im Folgenden Menschen gelten, die unter der von der Weltbank definierten Armutsgrenze leben. Extrem arm ist demnach, wer weniger als einen kaufkraftbereinigten Dollar pro Kopf und pro Tag für den Konsum zur Verfügung hat. Diese Armutsgrenze wurde 1990 aus dem Medianwert der Armutsgrenzen der zehn ärmsten Länder der Erde abgeleitet (vgl. World Bank 1990; vgl. dazu auch Kappel 2007). Zu Beginn des 21. Jahrhunderts waren etwa 1,2 Milliarden Menschen extrem arm (vgl. Kappel 2007). 7 „Wohlhabend“ ist zugegebenermassen ein relativer Begriff. Ich meine an dieser Stelle nicht mehr, als dass Bewohner und Bewohnerinnen der reichen Länder, die selber in Armut leben, natürlich keine oder nur sehr wenig umfangreiche Pflichten haben, gegen die Weltarmut aktiv zu werden. 8 Für einen ausführlicheren Überblick über die Debatte siehe Bleisch/Schaber 2008. 9 Rousseau äussert sich in verschiedenen Schriften zu diesem Problem, am prominentesten im Artikel „Economie politique“ im 5. Band der Encyclopédie, die 1755 erschien. Vgl. dazu Ritter 2004, 44ff. 10 Singer 1972, wieder abgedruckt in Aiken/LaFollette 1996 sowie, mit einem Postscript versehen, in LaFollette 1997, 585-595. In deutscher Übersetzung: Singer 2007. 11 Singer 2007, 39. 12 Singer führt zu Beginn des Textes ein stärkeres Prinzip ein. Ich gehe auf diesen Unterschied und auf Singers Argument ausführlich in Kap. 5.1 ein. 13 Dem Argument der Überforderung widmet sich Kap. 6.1. 14 So z.B. Feinberg 1992 oder Kamm 2004. 15 Zahlreiche Hilfswerke versuchen, ein anderes Bild zu zeichnen, indem etwa Kinderpatenschaften angeboten werden, die einem ganz bestimmten Kind dank einer langfristigen Unterstützung eine Schulausbildung ermöglichen. Entwicklungsexperten sind bezüglich Patenschaften zumeist skeptisch: Einem Kind könne langfristig nur geholfen werden, wenn sich auch die Struktur seiner Umgebung ändere, z.B. seine ganze Familie ein besseres Auskommen habe, für Trinkwasser in der Schule und im Dorf gesorgt sei, die Sicherheit zunehme, etc. Vgl. zu dieser Debatte auch Appiah 2006, 164. 16 Siehe Singer 2005 und vgl. meine Ausführungen dazu in Kap. 6.2.2. 17 John Arthur eröffnet seinen Aufsatz etwa mit dieser Frage. Siehe Arthur 1997, 596. (Der Aufsatz erschien bereits 1977 in Aiken/LaFollette 1977.) 18 Vgl. Drèze/Sen 1990/1991. Vgl. auch Sen 1981; Sen/Nussbaum 1993. 19 Dale Jamieson schreibt in diesem Sinne: „Increasingly, famine is seen as a dramatic
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Anmerkungen moment in a process that almost always involves war, vulnerability, systematic violations of human rights, and radically unequal power relationships. Extreme natural events such as droughts or cyclones may be proximate causes, but without these other conditions famine almost never occurs.“ (Jamieson 2005, 154f.). Vgl. Beitz 2005, 13 und Føllesdal/Pogge 2005, 2. Vgl. dazu kritisch O’Neill 2004. Vgl. dazu Kap. 3. Vgl. z.B. Pogge 1998; Pogge 2002; Pogge 2004. Vgl. z.B. Gosepath 2007; Miller 2007c; Schaber 2007. Vgl. dazu Kap. 4. Eine Ausnahme bilden hier u.a. Anwander 2009; Ashford 2007; Gosepath 2007; Schlothfeldt 2008. Gosepath 2007, 214. Vgl. auch Kap. 6.4, wo das Zitat wieder aufgenommen wird. Vgl. Igneski 2006, 439. Der Begriff des Neomalthusianismus geht auf den englischen Sozialphilosophen Thomas Robert Malthus (1766-1834) zurück, der in seinen Werken An Essay on the Principle of Population (1798) und Principles of Economics (1820) seine Bevölkerungstheorie darlegte. Das Kernstück dieser Theorie bildet das so genannte Bevölkerungsgesetz, dem gemäss sich die Bevölkerung stets in Form einer geometrischen Reihe vermehre, die Menge an Nahrungsmitteln jedoch nur linear wachse. Daraus folgerte Malthus, dass sich die Bevölkerungskurve irgendwann mit der der Geraden der Nahrungsmittelzuwachses schneiden müsse; Seuchen, Hungersnöte und Kriege sind die Folge. Deshalb gelte es, via Geburtenkontrolle das Bevölkerungswachstum einzudämmen. Obwohl das Gesetz empirisch nicht haltbar ist, fand Malthus immer wieder Beachtung. Unter Neomalthusianismus versteht man heute die These, dass eine Hemmung des Bevölkerungswachstums zur Vermeidung humanitärer Katastrophen unabdingbar sei. Vgl. Hardin 1996. Eine direkte Kritik an Hardin findet sich etwa in Aiken 1996. Vgl. dazu Dower 1991, 276f. Abgesehen davon, dass die empirische Hintergrundannahme heute als überholt gilt, kann man darüber hinaus fragen, ob selbst dann, wenn sie stimmen würde, folgt, was Hardin meint. Gerade Konsequentialisten könnten nämlich der Meinung sein, es sei moralisch gesehen richtig, im Kampf für eine bessere Welt das Sterben eigener Leute in Kauf zu nehmen, wenn der Gesamtnutzen überwiegt, etwa indem stattdessen Flüchtlingskinder, die noch nicht viel Nahrung brauchen und überdies noch ein ganzes Leben vor sich haben, in die Boote respektive in unsere Länder gelassen würden. Für kritische Anmerkungen zur life boat-ethics, siehe z.B. LaFollette 2003, 241. Vgl. zu dieser These z.B. Pelda 2006. Siehe Schaber 2007, 144. Schaber ist jedoch nicht der Meinung, wir sollten Entwicklungshilfe deshalb gänzlich einstellen, sondern plädiert dafür, nach effektiveren Methoden etwa im Rahmen des Aufbaus besserer lokaler Institutionen zu suchen. Vgl. zur Ineffektivität der Entwicklungshilfe auch Meredith 2005, 681f. und Easterly 2006. Siehe Easterly 2006. Vgl. Dower 1991, 275f.; Dower 2003, 651. Ähnlich auch Pogge 2002, 8. LaFollette 2003b, 18ff.
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Wobei diese Fragen natürlich nicht ganz voneinander zu trennen sind. Vgl. Kap. 6.2.
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LaFollette 2003b, 238. Zur Bedeutung der Empörung für das Verständnis von Moral, vgl. auch Demmerling 2004, 23; Strawson 1978; Tugendhat 1999, 164f. Vgl. auch Williams 1999, Kap. 10 und insbesondere Seite 249, wo Williams schreibt: „Menschen können für Taten bewundert oder anerkannt werden, deren Unterlassung keinerlei Schuldzuweisungen nach sich gezogen hätte.“ Vgl. auch Mill 1976, 85. LaFollette 2003b. Vgl. Eingangszitat. Tugendhat 1999, 164. Vgl. Singer 1984, 287. So auch Tugendhat 1999, 165. Diese Position vertritt etwa Rüdiger Bittner: „[M]orality speaks to people only on how to deal with those with whom they are close.“ (Bittner 2002, 28). So etwa Bittner 2002, 26: „World hunger is a political problem. […] Doing what is right, because it is right, is paradigmatically intended to improve the situation of people who are in some way close to the agent. […] Political problems […] indiscriminately affect the near and the far.“ Vgl. z.B. Sachs 2005 und Klasen 2007. Dies meinen etwa Kuper 2005a und Risse 2005. Vgl. insbesondere Kap. 3 und Kap. 6.1. Vgl. seine Erklärung zum Internationalen Tag für die Beseitigung der Armut vom 17. Oktober 2006 unter http://www.unis.unvienna.org/unis/de/pressrels/2006/ unisinf172.html (letzter Zugriff: 10.6.2009). Vgl. Bittner 2002, 24. Vgl. dazu ausführlich Kap. 4. Vgl. Bittner 2002. Diamond 1997, 214. Vgl. Diamond 1997, 211. Vgl. auch Williams 1981. Eine solche Reaktion kann auch auf Regeln der Höflichkeit oder des Anstands beruhen: So ist es beispielsweise unhöflich, einen Witz über Österreicher zu erzählen, wenn der Gastgeber Österreicher ist (es sei denn, man wisse, dass der Gastgeber über ausreichend Selbstironie verfügt). Regeln der Moral und Anstandsregeln liegen oft nahe beieinander: So kann ein Witz unter Umständen auch verletzend sein, und andere nicht grundlos zu verletzen, ist ein fundamentales Gebot der Moral. Zum Begriff des „moralisch Heiligen“ vgl. Wolf 1982. Den Begriff des „revisionism“ für Moraltheorien, welche die Zustände in der Welt und mit ihnen die alltagsmoralischen Überzeugungen hinsichtlich des Guten und Richtigen verändern wollen, hat David Brink geprägt (vgl. Brink 1989). Die deutsche Wiedergabe des Begriffes ist aufgrund der Gleichbedeutung mit der Theorie
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Anmerkungen der Holocaustleugner äusserst unglücklich, aber es handelt sich gleichwohl um die nahe liegende Übersetzung. Vgl. zu dieser Position z.B. Hoerster 2003; Nozick 1974; Stemmer 2000. Dieser Ansicht sind etwa Peter Unger und Peter Singer. Unger unterscheidet zwischen Preservationism (entspricht dem Rekonstruktivismus) und Liberationism (entspricht dem Revisionismus): „[E]ven as the Preservationists seek (almost) always to preserve the appearances promoted by these responses [to specific cases, BB.], the Liberationist seeks often to liberate us from such appearances.“ (Unger 1996, 11f.) Singer 2007, 44. Ein revisionistisches Moralbild scheint auch Pogge zu vertreten, der zugesteht, dass seine „Verbrechensthese“ (siehe Kap. 4.2) oft als absurd abgetan werde, dass dies aber keinesfalls bedeute, dass sie falsch sei, sondern eher, dass sich die Leute in ihrem Urteil irrten. Denn während wir davon ausgingen, dass sich beispielsweise Pädophile in ihren moralischen Urteilen massiv täuschten, zögen wir nicht in Betracht, dass wir uns ebenso täuschten, wenn wir der Meinung sind, es sei nicht unsere Pflicht, die Weltordnung gerechter zu gestalten. (vgl. Pogge 2002, 24f.) Für eine rekonstruktive Position siehe z.B. Millers Auseinandersetzung mit den verschiedenen Gerechtigkeitsauffassungen der Leute in Miller 2002 und in Schramme 2006. Vgl. auch Scanlon 1998; Scheffler 2001a. Vgl. z.B. Kamm 1999, 177. Zum Überlegungsgleichgewicht vgl. Rawls 1975, 38f. und 65ff. sowie Rawls 1951. Vgl. dazu auch Daniels 1996. Zum Unterschied zwischen „idealer“ und „nicht-idealer“ Welt, vgl. Kap. 6.1. Vgl. dazu die Ausführungen in Kap. 6. Zum Begriff und Konzept der moralischen Arbeitsteilung, siehe auch Nagel 1991, Kap. 6 und 9. Vgl. dazu meine Ausführungen in Kap. 6. Auf die Frage, was unter einer gemeinschaftlichen Pflicht zu verstehen ist, gehe ich in Kapitel 6.1 ein. Für diese Debatte vgl. z.B. Birnbacher/Brudermüller 2001 und Gardiner 2003. Diese thematische Einschränkung könnte kritisiert werden: Vieles scheint darauf hinzuweisen, dass aufgrund der Klimaerwärmung, zu der die Industriestaaten in einem unvergleichlich höheren Mass beitragen als die Entwicklungsländer, zu Naturkatastrophen vor allem in Entwicklungsländern führen wird, was die Armut in Zukunft weiter verstärken und neue Hungersnöte auslösen dürfte. Fragen intergenerationeller globaler Gerechtigkeit sind also für das hier verhandelte Thema durchaus relevant, werden jedoch aus Platzgründen nicht weiter thematisiert. Singer 1984, 318. Ich gehe im Folgenden nicht auf die zahlreichen Nuancen und Unterschiede zwischen den einzelnen kommunitaristischen Ansätzen ein, noch behaupte ich, dass die hier verhandelten Thesen von allen so genannten Kommunitaristen geteilt werden. Zu verschiedenen kommunitaristischen Positionen siehe z.B. Forst 1993, 181ff. Walzer 1992, 29f. Vgl. Tamir 1993, 73 oder Taylor 1985. Vgl. Miller 1993, 5. Vgl. Sandel 1996, 50ff.
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Siehe dazu das obige Zitat von Singer zum Status der Flüchtlinge. Zur Vielfalt der Relativismuskonzepte vgl. z.B. Rippe 1993, 209-222 und Schaber 2008. Den Begriff der Sphären der Gerechtigkeit hat Michael Walzer geprägt. Vgl. Walzer 1992. Forst 1993, 188. Forst 1993, 188. Vgl. Habermas 1991, Kap. 5. Zu ihnen gehören etwa David Miller (vgl. Miller 1995, Miller 1999), Richard W. Miller (Miller 1998b), Yael Tamir (Tamir 1993) und andere. Vgl. Miller 1993. Narveson 2000, 307. Vgl. Narveson 2003, 419. Vgl. dazu Narveson 2000, 320. Die genannten Optionen der Rechtfertigung spezieller Pflichten scheinen nicht anwendbar auf Pflichten, die Eltern ihren Kindern gegenüber haben. Eine mögliche libertäre Rechtfertigung dieser Pflichten besteht darin, Kinder als eine Art freiwillig erworbener Besitz zu betrachten, um den sich der Besitzer insofern zu kümmern hat, als dass sein Besitz niemand anderen stören darf. So wie es mir untersagt ist, mein Auto mitten auf der Strasse zu parken, ist es unzulässig, sich aus der Verantwortung für das eigene Kind zu stehlen, weil Eltern damit der Allgemeinheit Arbeit aufbürden. Vgl. dazu Narveson 2000, 318ff. Vgl. Narveson 2003, 427. Narveson 2003, 432. Shue 1996b, 119-122. Ernst Tugendhat hat den Libertarianismus aus diesem Grund auch als eine „Moral der Starken“, die Hilfsbedürftige ausschliesse, kritisiert. Vgl. Tugendhat 1993, 356. Orend 2002, 115. Vgl. auch Tugendhat 1993, 358; Shue 1996a; Miller 2005, 73ff. Griffin 2000, 29. Vgl. z.B. Nagel 1975. Vgl. Nozick 1974, 171-174. Einige halten es sogar für grundsätzlich illegitim, wenn der Staat von Personen Geld nimmt – genauso falsch, wie wenn dies Privatpersonen tun. Narveson schreibt beispielsweise: „Indeed, libertarians tend to regards [sic!] governments as equivalent to gangs of thieves.“ (Narveson 2000, 312). Vgl. auch Narveson 2003, 427f. und Hospers 1998. Thomson 1986, 51f. Thomson 1986, 52. Für verschiedene Anlässe für solche legitimen Verstosse, vgl. Thomson 1986, 52. Vgl. Thomson 1986, 54. Vgl. Nozick 1974, 29. Nozick 1974, 30. Diese argumentatorische Schwierigkeit gesteht auch Thomson zu (siehe Thomson 1986, 64). Narveson 1993, 142. Vgl. dazu Kap. 6.2.1.
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Anmerkungen Vgl. Wolf 1982. Vgl. Hospers 1998. Vgl. auch Igneski 2001, 605 und Kamm 2004, 59. Narveson 2003, 419. Vgl. zur These, dass die Geltung negativer Pflichten in allen Moraltheorien unbestritten ist, auch Pogge 1998, 327 und Pogge 2002, 130. So auch Igneski 2001, 605.
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Forst 2002, 222f. Gemäss dem Human Development Report des UNDP betrug die durchschnittliche Lebenserwartung im Jahr 2008 in der Schweiz 81.3 Jahre, in Lesotho 42.6 Jahre (siehe http://hdrstats.undp.org/, letzter Zugriff: 16.4.2009). Diese Ansicht teilen nicht alle. Siehe zu skeptischen Positionen Kap. 2. Als Beispiel für diese Position wird gern Brasilien angefügt, wo sich in der Hauptstadt das teuerste Luxuswarenhaus der Welt befindet – wenige Kilometer entfernt von Slums, wo Kinder sich im Kampf ums Überleben prostituieren. Dies impliziert freilich nicht, dass Etatisten nicht zugestehen können, dass ein moralisches Problem vorliegt, wenn die grundlegenden Bedürfnisse anderer Menschen missachtet werden und dass daraus Pflichten erwachsen. Die Bezeichnung „Globalisten“ stammt meines Wissens von Rainer Forst (z.B. Forst 2002). In vielen anderen Texten wird die Position als Kosmopolitanismus bezeichnet. Genau genommen besteht jedoch ein Unterschied zwischen diesen beiden Positionen: Der Globalismus besagt nicht mehr, als dass Gerechtigkeitsgrundsätze auch global anzuwenden seien, insofern entsprechende weltumspannende Institutionen bestehen. Die Geltung der Gerechtigkeitsgrundsätze weltweit hängt somit von empirischen Umständen ab. Der Kosmopolitanismus setzt dagegen beim Individuum an, dem Gerechtigkeit widerfahren soll – und zwar unabhängig von entsprechenden Institutionen. Siehe dazu die Abschnitte 3.2 und 3.3. Murphy 1998. Vgl. auch Barry 1995, 214. Rawls 1975, 19. Pogge 1989, 17. Vgl. auch Føllesdal und Pogge: „In the wake of Rawls, then, the distinction between institutional and interactional moral analysis has come to be marked as a distinction between justice and ethics.“ (Føllesdal/Pogge 2005, 4) So stellt Rawls den Ausgangspunkt seiner Theorie der Gerechtigkeit dar (Rawls 1975, Kap. 1). Vgl. Barry 1991, 194f.; Chwaszcza 1996, 173; Kersting 1996, 197ff. Vgl. dazu das gleichnamige Buch von Jürgen Habermas (Habermas 1998). Vgl. Gosepath 2002, 203. Gosepath 2002, 203. Dieses Argument wurde etwa von Thomas Nagel (Nagel 2005), Michael Blake (Blake 2001) und Ronald Dworkin (Dworkin 2000, siehe etwa Einleitung und Dworkin 1986) vorgebracht. Vgl. Dworkin 1986, Kap. 5 und 6. Vgl. auch Blake 2001 und Risse 2005, 100: „Through the justification of the legal body in general and of property law in particular, the justification of coercive structures leads straightforwardly to economic
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redistribution.“ So auch Nagel 2005, 121. Vgl. Rawls 2002, 41 sowie insbesondere §15. Einen ähnlichen Ansatz vertritt Nagel 2005. Rawls 2002, 131ff. Für eine Kritik an diesem Verständnis, siehe Zanetti 2007. Vgl. Rawls 2002, §16. Vgl. dazu kritisch auch Pogge 1989; Pogge 2004, 261. So auch Nagel: „Mere economic interaction does not trigger the heightend standards of socioeconomic justice.“ (Nagel 2005, 138). Vgl. auch Barry 1991. Vgl. zu dieser Frage auch Pogge 1989, 241ff. und Beitz 1999b, 143ff. So auch Miller 2008, 32. Vgl. Hinsch 2003, 26. Vgl. dazu Gosepath 2007, 223. Vgl. Hinsch 2003, 27. Vgl. dazu das Ringen um einen theoretischen Ansatz, was genau „fairer Handel“ bedeuten soll, etwa in Anderson/Riedl 2006; Stiglitz/Charlton 2005. Vgl. Hinsch 2003. So auch Gosepath 2007; Gosepath 2004. Vgl. z.B. Pogge 2002; Pogge 2007 und ausführlich Kap. 4. So auch Forst 2002, 221. Deshalb wird diese Position zuweilen auch als Rawlsianischer Kosmopolitanismus bezeichnet. Vgl. z.B. Blake 2005. Diese Meinung vertreten beispielsweise Beitz 1999b; Moellendorf 2002; Pogge 1989; Pogge 1992; Zanetti 2007. Vgl. Gosepath 2002, 212. Vgl. auch Forst 2002, 216. Auch Immanuel Kant hat in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ vor der Schaffung eines Weltstaats gewarnt, der Gefahr laufe, zum „Kirchhofe der Freiheit“ zu werden (AA VIII: 367; Kant 2000e). Vgl. z.B. Cabrera 2005; Gosepath 2002; Gosepath 2005; O’Neill 1993; O’Neill 2004. Hinsichtlich subsidiär aufgebauter föderaler Systeme scheinen auch die Bedenken der Etatisten, wonach der institutionelle Kosmopolitanismus zu einer depolitisierten Sichtweise der Menschen führe, die sich nur noch als Rädchen in einer weltweiten Maschinerie von Produktion und Distribution ansehen würden (vgl. Kersting 1996, 201 und 192) zumindest unbegründeter. Vgl. Pogge 1989, 247. Carens 2002. Vgl. auch Nagel 2005, 119. Vgl. Gosepath 2002, 199 und Murphy 1998, 253ff. „The idea of distributive justice presupposes a bounded world within which distributions take place: a group of people committed to dividing, exchanging and sharing goods, first of all among themselves.“ (Walzer 1977, 31f.) Vgl. Miller 1993. Vgl. dazu auch Miller 2007a. Vgl. Tamir 1993, 120. So ähnlich auch neuerdings Miller 2008, 32. Vgl. Gosepath 2002, 197. Vgl. dazu Scheffler 2001b, 114; Beitz 2005, 15. Scheffler 2001a, 115. Vgl. O’Neill 1993, 9f. Vgl. auch Beitz 2005; Pogge 2002, 169. Vgl. Miller 2008, 30.
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Anmerkungen Vgl. Beitz 2005, 18. Siehe auch Brock/Moellendorf 2005, 2. Vgl. Brock/Moellendorf 2005, 2. Vgl. Forst 2002, 215. Gosepath 2002, 199. Gosepath 2002, 199. Murphy 1998, 254. Rawls 1975, 20. Rawls 1975, 74. Dieselbe Position vertritt Rawls in Political Liberalism (Rawls 1993, 283 und 5f.). Vgl. Pogge 1989, 17. Vgl. die Kritik am Dualismus in Cohen 1991, 312; Murphy 1998, 251. Vgl. Murphy 1998, 280. Vgl. Pogge 2000, 159, Fussnote 39. Vgl. Murphy 1998, 274. Murphy 1998, 274. Vgl. Pogge 2000, 154 und Nagel 2005, 122. So auch Forst 2002, 222f. und Hurrell 2001. Hinsch 2003, 31. Vgl. auch David Millers These, dass Prinzipien globaler Gerechtigkeit (anders als Prinzipien sozialer Gerechtigkeit) non-comparative seien. (Miller 1998a, 171). So auch Hinsch 2003, 31. Vgl. z.B. Schmitz 2007. Vgl. z.B. Shue 1996a. Vgl. z.B. Nussbaum 1999 und Sen/Nussbaum 1993. Vgl. z.B. Margalit 1997 und Schaber 2003. Vgl. Hinsch 2003, 34; Hinsch 2001. Vgl. z.B. Barry 1991. Vgl. z.B. Schaber 2007. Narveson 1993, 139. Die Gleichsetzung der Gerechtigkeitspflichten mit Rechtspflichten hat unter anderem einen sprachlichen Hintergrund: Die kantische Rechtspflicht wird auf Englisch genau so wie die Gerechtigkeitspflicht als duty of justice wiedergegeben, weshalb die Rede von Gerechtigkeitspflichten im angelsächsischen Bereich mit der Rede von Rechtspflichten stets zusammen fällt. Dieses Verständnis der Gerechtigkeitspflichten findet sich zum Beispiel bei in Mill 1976, 86ff.; Tugendhat 1993, 348ff.; Narveson 1993. Mill 1976, 87. Vgl. Mill 1976, 78. Mill 1976, 84. Mill 1976, 86f. Vgl. auch Narveson 1993, 139. Barry 1991, 185. Zu letzterem Beispiel und zu einer konträren Einschätzung desselben, siehe Gosepath 2002, 205. Das Gedankenexperiment findet sich bereits in Arneson 1999, 226. Vgl. auch Pogges „Venus-Beispiel“ (Pogge 2002, 198) und für kritische Anmerkungen dazu Bleisch 2003; Anwander 2005. Vgl. dazu die Kampagne von 2005 ‚Make Poverty History‘ (siehe http://www. makepovertyhistory.org/theyearof/, letzter Zugriff: 28.4.2009).
Anmerkungen
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Pogge 2002, 214. Siehe z.B. Pogge 1998; Pogge 2002; Pogge 2004; Pogge 2005a; Pogge 2005b; Pogge 2007. Vgl. zur institutionellen Schädigungsthese auch Beitz 1999a; Forst 2002; Kreide 2007; Nagel 1977; O’Neill 1986, Kap. 6; Young 2006. Pogge 1998, 330. Vgl. auch Pogge 1998; Pogge 2002; Pogge 2007. Die These, dass die krasse materielle Ungleichheit zwischen den Staaten und die Armut in Entwicklungsländern auf ausbeuterischen Wirtschaftsbeziehungen beruhen, ist dabei nicht neu, sondern es handelt sich um eine der Grundannahmen der neomarxistischen Dependenztheorie der 60er und 70er Jahre. Zur Dependenztheorie siehe Frank 1969; Sunkel 1972. Vgl. auch Hinsch 2003, 29f. Pogge 2002, 25. Pogge 2007, 131. Pogge 2005a, 33. Pogge 1998, 329. Vgl. dazu und zum Folgenden auch Pogge 2002, Kap. 8. Vgl. dazu die Auseinandersetzung Pogges mit seinen Kritikern in Pogge 2005a. These 2 spielt allerdings innerhalb von These 1 eine gewichtige Rolle. Mit „historischem Unrecht“ ist in diesem Zusammenhang die Kolonialzeit gemeint (vgl. Pogge 1998, 338; Pogge 2004, 262f.; Pogge 2007, Abschnitt 3). Vgl. auch Landes 1998; Hinsch 2003, 32. Für eine moralphilosophische Erörterung der Frage nach historischem Unrecht, siehe z.B. Schefczyk 2006. Pogge 2005b, 36. Pogge 2006. Siehe z.B. Pogge 1999, 356; Pogge 2002, 15; 49; 112ff. 139ff. Pogge wechselt zwischen der These, Vertreter von EN seien der Meinung, die Weltarmut sei vollständig durch lokale Faktoren zu erklären („[…] world poverty today can be fully explained in terms of national and local factors“, Pogge 2002, 15), und der These, Vertreter von EN meinten, die Armut sei vor allem die Folge lokaler Faktoren (Weltarmut sei „a set of national phenomena explainable mainly by bad domestic policies and institutions […]“, Pogge 2002, 139). In späteren Texten (etwa in Pogge 2004 und Pogge 2007) hat Pogge die Rede vom Explanatory Nationalism durch die Rede von der Purely Domestic Poverty Thesis (PDPT) ersetzt. Siehe z.B. Narveson 2003. Auch zahlreiche Entwicklungsökonomen vertreten EN und sind dennoch der Meinung, wir sollten uns weiter nach Kräften bemühen, das Elend, in dem anderen Menschen leben, zu lindern. Vgl. Pogge 2004, 262. Vgl. Pogge 2002, 140 und 111. Rawls 1996, 89. Rawls 2002, 134. Rawls 2002, 134, Fussnote 34. Rawls 2002, 134. Im Falle chronischer Armut könnte für Vertreter von EN der springende Punkt allerdings darin liegen, dass Personen wiederholt selbstverschuldet in Not geraten. Allerdings anerkennen wir selbst dann in vielen Fällen Hilfspflichten – denken wir etwa an die medizinische Versorgung von Alkoholikern, die sich jeder Therapie
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Anmerkungen verweigern (wobei in diesem Zusammenhang das Konzept der Selbstverschuldung geklärt werden müsste). Siehe z.B. Sachs 2005 und Landes 1998. Pogge könnte allerdings auch anders argumentieren: Einerseits wird das Klima durch die Emissionen der Industrie- und Schwellenländer beeinflusst, und menschengemachte Klimakatastrophen könnten in Zukunft gerade Entwicklungsländer besonders treffen. Naturkatastrophen wären dann zumindest zum Teil auch ein Resultat der Weltordnung, welche die reichen Länder nicht zwingt, sich beispielsweise an die Vereinbarung des KyotoProtokolls zu halten. Andrerseits ist die Binnenlage einiger Entwicklungsländer nicht „naturgegeben“, sondern das Resultat von Grenzziehungen, die von den Kolonialmächten so vorgenommen worden sind. Zugunsten von Pogge muss allerdings erwähnt werden, dass er natürlich gerade nicht für Geldtransfers votiert, sondern für institutionelle Reformen. Vgl. Meredith 2005, 681f.: „Most African countries have lower per capita incomes now than they had in 1980 or, in some cases, in 1960.“ Für weitere Beispiele siehe auch Easterly 2006, 115. Vgl. z.B. Landes 1998; Niggli 2007; World Bank 1998, 28. Vgl. auch Risse 2005, 85 und Schaber 2007, 143ff. Diese Staaten werden in der Diskussion immer wieder als positive Beispiele für wirtschaftliche Entwicklung genannt. Gerade China ist jedoch ein trügerisches Beispiel, denn ein Teil des Erfolges von China dürfte davon abhängen, dass sich der Staat lange geweigert hat, der WTO beizutreten und sich somit beispielsweise nicht an die darin enthaltenen Patentrechte halten musste. Vgl. auch kritisch Pogge 2007. Vgl. Pogge 2004, 263; Pogge 2007, Abschnitt 3. In vielen Armutsmessungen wird offenbar tatsächlich nicht ausreichend auf ungleiche Ausgangssituationen eingegangen. So argumentiert Peter Niggli in einem NZZ-Artikel, dass bei einem kürzlich gezogenen Vergleich zwischen dem armen Ghana und dem reichen Südkorea, die 1960 den gleichen Entwicklungsstand aufgewiesen haben sollen, nicht beachtet worden sei, dass 1960 in Südkorea prozentual mehr Menschen einen Mittelschulabschluss vorweisen konnten als etwa in Frankreich oder England, während in Ghana damals weniger als 5 Prozent lesen und schreiben konnten. Vgl. Niggli 2007. Das Beispiel findet sich in Pogge 2007, 121; Pogge 2005a, 48; Pogge 2005b, 63f. Vgl. Pogge 2002, 140. Dies trifft zumindest auf die gemässigtere Variante von EN zu. Pogge 2002, 112. Vgl. Pogge 2002, 140. Allerdings ist es schwierig, globale und lokale Faktoren auseinander zu halten. Vgl. zu diesem Punkt auch Beitz 1999c, 525. Vgl. Pogge 2002, 143. Siehe Pogge 2007, 125. Vgl. Pogge 2007, 125. Pogge 2007, 126; Pogge 2005a, 47. Vgl. Pogge 2007, 127. Zur erwähnten negativen Korrelation siehe auch UNDP 2006, 332-334; Ross 1999. Vgl. Bitala 2003; Christen 2006; Pelda 2006a. Vgl. Pelda 2006b.
Anmerkungen 40
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Ein anderes Beispiel zur Erläuterung des Rohstoffprivilegs ist das Verhalten des französischen Ölkonzerns Total in Burma. Zusammen mit der amerikanischen Firma Unocal förderte Total in Burma Erdgas. Die Gebühren flossen zu einem grossen Teil in die burmesische Armee, die für grausame Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist. Siehe Missbach 2006a, 8ff. Pogge 2007, 127. Vgl. UNDP 2006, 344ff. Vgl. Pogge 2004, 268. So auch Klasen 2007, 171 und Sachs 2005. Pogge scheint dies zu meinen. Siehe z.B. Pogge 2002, 15. Vgl. Meredith 2005, 684. Vgl. Nicholas Stern, „Cutting Agricultural Subsidies“ (globalenvision.org/library/6/309, letzter Zugriff: 3.1.2007). Vgl. UNCTAD 1998. „[T]hese protections certainly account for a sizeable fraction of the 270 million poverty deaths since 1989.“ (Pogge 2005a, 50). Auf die Frage, wem in solchen Fällen eigentlich die Beweislast zukommt und wie diese zu definieren wäre, kann ich an dieser Stelle nicht eingehen. Hilfreiche Überlegungen dazu finden sich in Barry 2005a. Vgl. Chabal/Daloz 1999, 15; Koechlin 2007; Schaber 2007, 148f. Die am wenigsten entwickelten Länder (Least Developed Countries (LDC)) bilden eine von den Vereinten Nationen bestimmte Gruppe von fünfzig besonders armen Ländern überall in der Welt. Vgl. Klasen 2007, 179. Vgl. Klasen 2007, 179. Vgl. zu diesem Punkt auch Collier 2007. Vgl. z.B. Pogge 2002, 95-96; 136-39; 176; 199-201. Vgl. auch Patten 2005, 26f. Cassee 2007, 55. Pogge 2002, 144. Vgl. auch Pogge 2007, 129: „Auch jetzt noch wäre eine rasche Verringerung schwerer Armut möglich durch realisierbare Reformen, welche die besonders schädlichen Eigenschaften dieser Weltordnung verändern oder deren Auswirkungen abmildern würden.“ Und weiter Pogge 2005b, 55: „[M]ost of it could be avoided, I hold, if this global order had been, or were to be, designed differently.“ Pogge 2005b, 79. Patten 2005, 23. Pogge 2007, 121. Vgl. auch Pogge 2005a, 48; Pogge 2005b, 63f. Dieses Bild ist allerdings schief: Korrupt sind nicht nur die Machthaber, sondern Korruption ist oft ein gesellschaftliches Phänomen. Es ist deshalb problematisch, als schädigende Faktoren die Weltordnung und die korrupten Machthaber anzuführen; schädigend dürfte sich die kulturelle Praxis des Klientelismus insgesamt auswirken. Wenn wir jedoch zusätzlich annehmen, das flussabwärts lebende Volk habe den Teich im Hinterland, den es früher zur Verfügung gehabt hätte, durch eigene Verschmutzung zerstört, gewinnt das Beispiel an Plausibilität. Das Recht, aus dem Fluss sauberes Wasser zu schöpfen, verliert das Volk dadurch nämlich nicht.
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Anmerkungen Feinberg 1984, 33. Vgl. Feinberg 1984, 33ff. sowie Feinbergs detaillierte Ausführungen zu diesem Thema in Feinberg 1988. Feinberg 1984, 34. In den meisten Fällen eines „wrongs“ werden auch die Interessen des andern zurückgesetzt, d.h. ein „wrong“ ist meist auch ein „harm“. Ein Gegenbeispiel lautete: Jemand dringt in das Grundstück einer anderen Person ein, was deren Eigentumsrechte verletzt („wrong“), womöglich jedoch nicht seine Interessen tangiert (kein „harm“). Vgl. Feinberg 1984, 34f. Vgl. World Bank 2006, 289; Pogge 2007, 103f. Schaber 2007, 147. In diesem Zitat scheint nicht ganz klar zu sein, ob das Privileg Armut oder Korruption ermöglicht, was mir zwei unterschiedliche Thesen zu sein scheinen. Allerdings ist dies auch bei Pogge nicht immer klar; zuweilen scheint er zu meinen, die Privilegien verursachten Armut, dann wieder, die Privilegien verstärkten die Korruption, die ihrerseits wiederum die Armut verursachten. Dancy 2000, 127. Vgl. Dancy 2000, 127. Eine ähnliche Unterscheidung und ausführliche Überlegungen dazu finden sich bereits bei H.L.A. Hart und A.M. Honoré, die zwischen causes und mere conditions unterscheiden. Vgl. Hart/Honoré 1959, 8-23; 30-41; 58-70. Hart und Honoré weisen überdies darauf hin, dass die Unterscheidung zwischen Ursache und Ermöglichung keineswegs strikt ist, sondern je nach Kontext variiert. Siehe Hart/Honoré 1959, 31. Für das Folgende siehe auch frühere Überlegungen in Anwander/Bleisch 2007. Vgl. auch Dancy 2000, 127. In diese Richtung scheint Hugh LaFollette zu argumentieren, wenn er schreibt: „For most of what is important in our lives, the question is not am I solely or even predominantly responsible for harm, but whether am I [sic!] responsible enough? We must ask: did I play a sufficiently important role that it is proper to attribute responsibility to me—to blame me for mistakes (and to expect me to atone for them) or to praise me for my successes?“ (LaFollette 2003b, 248f.) Vgl. news.amnesty.org/index/ENGPOL300102005 (letzter Zugriff: 22.2.2009). Dieses Beispiel stammt von Andreas Cassee. Eine solche These vertritt auch Mackie: „We cannot first decide what each person did and then proceed to pass a series of moral judgements; for to decide what each person ‚did’, in the sense of ‚was responsible for’ presupposes a system of moral judgements.“ (Mackie 1955) Vgl. zu Mackie auch Cassee 2007, 20ff. So auch Miller 2007c. Vgl. auch Bleisch 2009. Vgl. zur Schwierigkeit, das Haftungsmodell auf globale Fragen anzuwenden, Miller 2007b, 81ff.; Scheffler 2001a, 32ff.; Jamieson 1992, 149f.; Young 2006. Vgl. Young 2006, 114. Vgl. Young 2006. Young 2006, 121. Young 2006, 119. Siehe auch Young 2006, 122. Entsprechende Pflichten können meiner Meinung nach auch anders begründet werden (siehe dazu Kap. 5). Was ich meine, ist lediglich, dass, wenn eine Beseitigungspflicht durch die Verstrickung in die schädigende Weltordnung begründet ist, das Haftungsmodell der Verantwortungszuschreibung nicht aufgegeben werden kann.
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StGB, Art. 12.3. StGB, Art. 12.3. Von einem Arzt kann beispielsweise erwartet werden, dass er um die toxische Nebenwirkung eines Medikaments bei gleichzeitiger Einnahme eines anderen Mittels wissen oder sich entsprechend informieren muss, wenn er sich hinsichtlich einer solchen Nebenwirkung unsicher ist. Dasselbe kann u.U. von einer Pflegerin, welche die verschriebenen Medikamente dem Patienten eingibt, nicht erwartet werden. Vgl. dazu auch Überlegungen, wie sie in der Risikoethik angestellt werden, etwa in Thomson 1985 oder Shrader-Frechette 1991. Wie diese Pflichten im Einzelnen gerechtfertigt werden – durch Effizienzüberlegungen in Form moralischer Arbeitsteilung oder durch deontologische Überlegungen zu speziellen Beziehungen – ist an dieser Stelle irrelevant. Dieses Prinzip ist nicht gleichzusetzen mit einem Prinzip, das verlangt, dass jene, die um das Elend wissen, generell stärker in der Pflicht stehen. Letzteres würde implizieren, dass beispielsweise Journalisten, die vor Ort die Situation recherchieren und beobachten, zu mehr Engagement verpflichtet sind als Personen, die in einem Industrieland leben und sich um die Opfer extremer Armut foutieren. Im an dieser Stelle genannten Prinzip geht es ausschliesslich um Personen, die zugleich kausal ins Unrecht verstrickt sind. Dass die Anerkennung einer moralischen Pflicht oft ein Lippenbekenntnis bleibt, solange diese nicht in eine rechtliche übergeführt wird, gilt auch für die Unternehmen, die ihren formellen Bekenntnissen oft zuwiderhandeln. Vgl. http://www.unglobalcompact.org/AboutTheGC/TheTenPrinciples/Principle2.html (letzter Zugriff: 13.6.2009). Zur Erläuterung des Prinzips, siehe Ruggie 2008, ch.I.2. Vgl. z.B. Pogge 1998, 331; Pogge 2002, 142. Im Original „a negative duty not to uphold injustice, not to contribute to or profit from the unjust impoverishment of others.“ (Pogge 2002, 197). Vgl. auch Pogge 2002, 21, 66f., 172; Pogge 2004, 273. Pogge 1998, 331. Vgl. Wolff 2001; LaFollette 2003b, 249; Bühler/Fuchs 2002. So auch Feinberg 1968, 685. Pogge 2006. Die Frage ist natürlich, welche Alternativen zumutbar sind: Ist es zumutbar, ganz auf ein Mobiltelefon zu verzichten, wenn keines erhältlich ist, das nicht aus Rohstoffen aus den berüchtigten Minen gefertigt ist? LaFollette 2003b, 248. Vgl. Brooks 1989. Von einer „Ansteckung“ (contagion) spricht etwa Ronald M. Green (Green 2002). Anders dagegen Anwander 2005. Das privatrechtliche Konzept der ungerechtfertigten Bereicherung findet sich sowohl in angelsächsischen als auch in kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen (in Deutschland: §§812-822 BGB). Ich übergehe hier die juridischen Finessen und konzentriere mich auf die zentrale Idee: Jemand, der auf Kosten eines anderen profitiert hat, ist zur Herausgabe des Gewinns verpflichtet, wenn dieser auf einem
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Anmerkungen Unrecht beruht oder es für ihn keine rechtliche Grundlage gibt – und dies auch dann, wenn der Profiteur selbst keinerlei Unrecht begangen hat. Neben Verträgen und unerlaubten Handlungen ist ungerechtfertigte Bereicherung damit ein weiterer möglicher Grund dafür, dass eine Person einer anderen etwas schuldet. Vgl. dazu Brooks 1989, 36. Vgl. dazu auch die ausführlichen Überlegungen in Birks 2001; Birks 2005; Gordley 2006, 419-457; Butt 2007. Vgl. zum Folgenden frühere Überlegungen in Anwander/Bleisch 2007, Abschnitt 2.3. Fullinwider 1975, 75f. So auch Butt 2007. Vgl. dazu Amdur 1979, 231. Vgl. Butt 2007, 142. Sämtliche ausländische Privatvermögen, die von der Schweiz aus verwaltet werden, werden auf 2500 bis 3000 Milliarden Franken geschätzt. Der Anteil des unversteuerten Vermögens wird – je nach Quelle – auf 70 bis 90 Prozent geschätzt. Vgl. Missbach 2006b, 398. Vgl. Tax Justice Network 2006. Eine Tageszeitung hat kürzlich behauptet, die Abschaffung des Schweizer Bankgeheimnisses koste die Schweiz rund 2% des BIP oder rund tausend Franken pro Kopf und Jahr (Schöchli 2009). Brooks 1989, 40. Eine erhellende Analyse dieser beiden Aspekte findet sich in Anwander 2009. Vgl. z.B. Anwander 2009; Gosepath 2006; Young 2006. Gosepath 2006, 398. Gosepath 2006, 398. So auch Forst 2006, 412. Pogge 2006. Der Terminus „Produkt“ ist hier in einem sehr weiten Sinne zu verstehen; zu denken ist etwa auch an Anlagestrategien, Hauseinrichtungen, Ferienarrangements, etc. Pogge 2005a, 36. Pogge 2005a, 36. Siehe auch Pogge 2002, 205. Pogge hat hier die Ansätze von Singer 1972, Shue 1996a und Unger 1996 im Blick. Siehe Pogge 2005a, 35. Vgl. Pogge 2005a, 35. Alan Patten wirft Pogge vor, sein Buch World Poverty and Human Rights enthalte „almost no sustained empirical analysis at all.“ (Patten 2005, 20). Dies ist sicher übertrieben, aber es fällt auf, dass eine Auseinandersetzung mit der neueren entwicklungsökonomischen und -kritischen Literatur nahezu fehlt. Vgl. kritisch Mieth 2008, 20ff. Pogge 2002, 133. Vgl. dazu auch Pogge 1998, 327; LaFollette 2003b; Narveson 2003, 419. Ich gehe auf diese Frage ausführlich in Kap. 5 ein. Pogge 1998, 327. Vgl. auch Pogge 2004, 279: „Negative duties not to support and not to pocket gains from an unfair institutional order that forseeably contributes to severe deprivations are not only weightier than the positive duty to help to relieve such deprivations. They are also much less sensitive to variations in community and distance.“
Anmerkungen
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Pogge 2002, 13. Vgl. zu diesem Punkt bei Pogge auch LaFollette 2003a. Pogge 2005a, 34. Vgl. Pogge 2002, 132; Pogge 2005a, 34. Pogge 2005a, 34. Vgl. Barry 2005b. So bezweifelt etwa Onora O’Neill, dass die Libertären Pogges negative Pflichten als solche anerkennen würden: „[S]ome laissez faire liberals are dubious about rights to compensation except where the individuals who inflicted wrong are identifiable and obliged to compensate for the injuries they inflicted. […] Just compensation presupposes an injuring as well as an injured party.“ (O’Neill 1987, 77). Dass hier die Rede ist von Rechten und nicht von Pflichten, soll nicht irritieren; in den Augen Libertärer sind Rechte ausschlaggebend und Pflichten existieren ohnehin nur, wenn ihnen entsprechende Rechte korrelieren. Insofern lässt sich das Zitat problemlos in eine Analyse hinsichtlich Pflichten zur Kompensation ummünzen: Diese haben wir gemäss vieler Libertärer nur, wenn sowohl eine schädigende als auch eine geschädigte Partei klar identifiziert haben. 135 Pogge 2002, 133. 136 Vgl. dazu auch Bleisch 2003.
5 Hilfe auf Distanz 1 2
Igneski 2006, 439. Wie im letzten Kapitel diskutiert, sind einige der Meinung, auch Naturkatastrophen und Bürgerkriege seien zumindest teilweise den Industrieländern anzulasten, weshalb es auch in diesen Fällen nicht um Hilfe, sondern um Unterlassung von Schädigung und Wiedergutmachung gehe. Ich habe argumentiert, dass dies zum einen nicht für alle humanitären Katastrophen gilt und zum andern die Erfüllung von Nichtschädigungsgeboten und Kompensationszahlungen nicht ausreicht, diese Katastrophen und deren Auswirkungen zu beseitigen. Selbst Verfechter der Verbrechensthese (siehe Kap. 4.2) müssen deshalb meiner Meinung nach zusätzlich für Hilfspflichten argumentieren, soll extreme Armut beseitigt werden. 3 Singer 1972; Singer 1984; Singer 2004a; Singer 2004b; Singer 2005; Singer 2006. Ebenfalls konsequentialistisch argumentiert Unger 1996. 4 Der Begriff findet sich ursprünglich bei Beauchamp und Childress. Gemeint sind Prinzipien, die in verschiedenen ethischen Theorien anerkannt sind, weitgehend akzeptiert werden und so allgemein sind, dass sie in allen einschlägigen Diskursen vorkommen (vgl. Beauchamp/Childress 1994). 5 Ein ähnliches Vorgehen wählen Schlothfeldt mit seiner „Strategie der Konfliktvermeidung“ (Schlothfeldt 2002, 96, Fn. 6) und Pogge mit seinem „ökumenischen Ansatz“ (siehe Kap. 4.4). 6 So auch Slote 2007, 28. 7 So auch O’Neill 1989, 230 und Schaber 2003, 125. 8 Vgl. Bleisch u.a. 2006. 9 Hinsch 2003, 33 und Hinsch 2002, Kap. 6 und 7. 10 Hinsch 2003, 33. 11 Margalit 1997, 135.
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Anmerkungen Margalit 1997, 260. Ähnlich meint Peter Schaber, dass ein Leben in extremer Armut Menschen erniedrige, da es sich dabei um einen Zustand handle, in denen Menschen sich nicht mehr selber achten können. (Schaber 2003, 125). Vgl. auch O’Neill 1996a, 98: „To treat another as ends in themselves we must not only avoid using them as mere means but also treat them as rational and autonomous beings with their own maxims.“ Vgl. dazu auch Schaber 2010, Abs. 2. Vgl. Hinsch 2003, 34. Einander zu achten, umfasst freilich weit mehr, als dafür zu sorgen, dass alle unter menschenwürdigen Bedingungen leben, etwa auch Gebote wie einander nicht zu instrumentalisieren oder auszubeuten. Auf diese weiteren Inhalte des Konzepts der Achtung gehe ich hier jedoch nicht ein. Siehe auch Gosepath 2002. Vgl. Gosepath 2002, Fussnote 14. Vgl. dazu auch Schaber 2010, Abs. 5. Singer 1972, wieder abgedruckt in Aiken/LaFollette 1996 sowie, mit einem Postscript versehen, in LaFollette 1997, 585-595. Der Aufsatz ist jüngst auch erstmals in einer deutschen Übersetzung erschienen in Bleisch/Schaber 2007b. Singer hat das Beispiel in verschiedenen Texten wieder aufgegriffen, so etwa in seiner Praktischen Ethik (Singer 1984, 292). Singer 2007, 39. Was unter Gütern „von moralischer Bedeutung“ genau zu verstehen ist, wird bei Singer nicht klar. Vgl. dazu Bleisch/Schaber 2007a, 13; Gosepath 2007, Abschnitt 3. Singer 2007, 39 (Hervorhebung BB). Singer 2007, 39f. Als Ausgangspunkt dient Singer das Elend in den Flüchtlingslagern im heutigen Bangladesh, in denen als Folge des Unabhängigkeitskrieges des damaligen Ostpakistan in den 1970-er Jahren Millionen von Menschen in grosser Not lebten. Singer 2007, 40. Peter Unger diskutiert ein ähnliches Beispielspaar: Er behauptet, wir hätten dieselbe Pflicht dem ertrinkenden Kind im Teich zu helfen wie auf einen Spendenaufruf von UNICEF, der uns per Post zugestellt wird, mit einer Geldspende zu reagieren (vgl. Unger 1996). Vgl. auch Kamm 2004, 61. Singer meint, solche Reaktionen liessen sich damit erklären, dass sich unser moralisches Empfinden über Jahrtausende in Sippen und Familien herausgebildet habe und wir in diesen Gefühlen sozusagen auf einer archaischen Stufe stehen geblieben sind. Unsere moralische Urteilskraft zeige uns heute jedoch, wie sehr wir diesen Gefühlen misstrauen müssten. Vgl. das Gespräch mit Singer in Bleisch/Schefczyk 2008. Vgl. dazu die Ausführungen in Kap. 2.1. Vgl. Singer 2004b, 11. Siehe z.B. Kamm 2004, 59 und Kamm 1999. So auch Kamm 2004, 61 und Kamm 1999, 179. Kamms Vorgehen ist hier dasselbe wie jenes, das sie bei der Suche nach moralisch relevanten Unterschieden zwischen „töten“ und „sterben lassen“ zur Anwendung brachte.
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33 Kamm 2004, 62. 34 Kamm 1999. 35 Diese Frage bedürfte einer ausführlichen Diskussion: Haben wir etwa die Pflicht, Nothilfe zu leisten, wenn der Verunfallte mit grosser Wahrscheinlichkeit sterben wird (nehmen wir an, wir sind medizinisch gebildet und können dies beurteilen)? Wie gross muss die Wahrscheinlich des Erfolgs der Hilfsaktion sein, damit diese geboten ist? 36 „[T]he sheer fact of proximity (to a person in desperate need) gives rise to special duties.“ (Waldron 2003, 347). Eine ähnliche Meinung vertreten Reader 2003, 371 und Murphy 1993. 37 Als Beziehungspflichten bezeichne ich die von Ronald Dworkin „associative duties“ genannten speziellen Pflichten. Diese Übersetzung ist möglicherweise nicht glücklich, weil sie einen engeren Anwendungshorizont impliziert als der Begriff „associative duties“, der sich auf Gruppenmitglieder beziehen kann, die keine Beziehung im engeren Sinne pflegen. „Gruppenpflichten“ als Übersetzung anzubieten wäre jedoch nicht minder ungeschickt, denn dies würde suggerieren, es handle sich um kollektive Pflichten, was Dworkin gerade verneint. Vgl. Dworkin 1986, 196f. 38 Vgl. zu dieser Frage etwa Scheffler 2001a, 49ff. 39 Nagel 1986, 153. Vgl. auch Parfit 1984, 143. 40 Es sei denn, sie täten dies in seinem Namen, weil er sie zum Beispiel darum gebeten hat. 41 Vgl. Lk 10, 25-27. 42 Brisanterweise handelt es sich im Gleichnis vom guten Samariter um einen Priester und einen Leviten, zwei religiöse Führer. Dieser Umstand spielt jedoch nur dann eine Rolle, wenn man der Meinung ist, es sei keine Frage der Pflicht, sondern des Charakters, ob man Hilfe leistet oder nicht, wie etwa Stell 1979, 12 meint. 43 Portugal hat als erstes Land in Europa bereits Mitte des 19. Jahrhunderts ein Gesetz erlassen zur Strafe bei „schlechtem Samaritertum“. Rund hundert Jahre später fand die rechtliche Pflicht, einfache Nothilfe zu leisten, Eingang in die Strafgesetzbücher von fünfzehn europäischen Ländern, darunter die Schweiz und Deutschland. In den englischsprachigen Ländern wurden entsprechende Gesetze, die eine Haftung bei unterlassener Hilfeleistung ermöglichen, nie erlassen – mit Ausnahme von Fällen, in denen spezielle Pflichten zur Nothilfe vorliegen (etwa Eltern ihren Kindern oder Leibwächter ihren Kunden gegenüber). Als Grund gegen rechtliche Sanktionen wurde u.a. der hohe administrative Aufwand zur Ahndung solcher Taten genannt. Vgl. dazu Feinberg 1992, 175f. 44 Igneski 2001. 45 Vgl. Igneski 2006, 455f. 46 Siehe Einleitung. 47 Dass bestimmte Pflichten nicht gleich vollkommenen Pflichten sind, sehen wir auch daran, dass bei einem Konflikt zwischen einer bestimmten vollkommenen Pflicht und einer bestimmten unvollkommenen Pflicht ersterer Vorrang zu geben ist: Wenn ich dem ertrinkenden A nur helfen kann, indem ich Nichtschwimmerin B den Rettungsring entreisse, dann habe ich zwar eine instrumentell bestimmte Hilfspflicht gegenüber A, aber gegenüber B eine bestimmte vollkommene Nichtschädigungspflicht, weshalb ich A in diesem Fall nicht helfen kann. Vgl. Waldron 2003, 344.
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Anmerkungen Genau aus diesem Grund dient das Beispiel nicht nur der Erläuterung von Nothilfe, sondern auch von Supererogation. Vgl. dazu etwa den Band Die gute Samariterin. Zur Struktur der Supererogation (Wessels 2002). Unter der relativen Stärke einer Pflicht verstehe ich, a) dass eine starke Pflicht zu verletzen, einem grösseren moralischen Vergehen gleichkommt, denn eine schwächere nicht einzuhalten; b) dass im Konfliktfall die stärkere Pflicht die schwächere übertrumpft. Vgl. dazu auch die Vorschläge in Scheffler 2001a, 36 und 52 und Pogge 2002, 130f. Vgl. dazu auch Ashford 2007. Allerdings muss diskutiert werden, unter welchen Umständen überhaupt von einer moralisch verwerflichen Schädigung die Rede sein kann. Siehe Kap. 4.2. Diesen Punkt erwähnt auch Singer im erwähnten Text. Vgl. dazu auch Joel Feinbergs Unterscheidung zwischen „positive duties to give assistance“ und zu „easy emergency rescues“. Erstere Pflichten können und sollen aus Kostengründen an den Staat delegiert werden, letztere jedoch nicht. Vgl. Feinberg 1992. Vgl. zu diesem Punkt auch Mieth 2008, 19ff. Vgl. GMS, IV: 423 (Kant 2000c, 423). Vgl. Herman 1984, 579, die diese Interpretation in der Folge zurückweist. Vgl. Sidgwick 1907, 389. Vgl. Kap. 2.3. So auch Herman 1984, 582. MS, VI: 393 (Kant 2000b, 393). Vgl. O’Neill 1989, 230. Herman 1984, 585. Vgl. Herman 1984, 587. MS, VI: 453 (Kant 2000b, 453). Vgl. dazu auch Herman 1984, 590 sowie O’Neill 1989, 229. Tugendhat 1993, 356. Ich komme auf diesen Unterschied in Kap. 5.3.3 zurück. Timmermann 2005, 10. Supererogation kommt bei Kant überhaupt nicht vor. Entweder eine Handlung ist Pflicht oder nicht; ist letzteres der Fall, ist sie jedoch auch nicht im moralischen Sinne gut. KpV, V: 84f. (Kant 2000d, 84f.). MS, VI: 390 (Kant 2000b, 390). Vgl. dazu auch Lohmann 2004, 124. Vgl. Hill 1992, 150. MS, VI: 390 (Kant 2000b, 390). Je nach dem wie man den zweiten Wunsch konzipiert, könnte auch dessen Erfüllung Pflicht sein, etwa wenn das Beherrschen von DVD-Abspielen notwendig ist, um irgendein Talent pflegen zu können. Wie weit unsere Pflichten im Befördern der Lebensziele anderer bei Kant wirklich gehen, ist umstritten. Siehe dazu z.B. Herman 1984. Gemeinspruch, VIII: 275 (Kant 2000a, 275). Wichtig ist hier das „anstatt“: So mag viel dafür sprechen (und Menschen machen sich durchaus verdient damit), eine Ausstellung zu sponsern und so das Kunstbewusstsein der Gesellschaft zu fördern. Doch wäre es kantisch gedacht falsch, dies anstelle eines Engagements für die extrem Bedürftigen zu tun. Dass wir nur das eine tun können und das andere lassen müssen, ist in den meisten Fällen nicht der
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Fall. Wir haben durchaus zeitliche und finanzielle Ressourcen, uns für mehrere Anliegen einzusetzen. Hill 2002, 213. Sind die Grundbedürfnisse aller Menschen erst einmal gestillt, sind unsere Hilfspflichten damit jedoch keineswegs erschöpft. Kant macht an verschiedenen Orten klar, dass wir darüber hinaus Pflichten haben, die Zwecke anderer Menschen als die unseren zu sehen und zu befördern. Vgl. dazu auch Lohmann 2004, 125. Vgl. dazu Kamm 2004, 60: „So, instrumentally, there are many ways to pursue the duty of helping people and morally I am not obliged to pursue any one way in particular; though morally I must do something to aid.“ Vgl. dazu auch Timmermann 2005, 19. Hill 1992, 157. Hill 2002, 201. In diesem Aufsatz revidiert Hill seine diesbezügliche Meinung allerdings zum Teil. Hill 2002, 217. Vgl. z.B. Hill 2002. GMS, IV: 421, Fussnote (Kant 2000c, 421). So etwa Hill 2002, 214. Vgl. Timmermann 2005, 16. Vgl. MS, IV: 480f. (Kant 2000b, 480f.). Timmermann 2005, 24. Vgl. Gasper 2004 und Goulet 2006. Innerhalb der Kasuistischen Fragen, die Kant an seinen Abschnitt Von der Pflicht der Wohltätigkeit anhängt, schreibt Kant: „Wie weit soll man den Aufwand seines Vermögens im Wohltun treiben? Doch wohl nicht bis dahin, dass man zuletzt selbst anderer Wohltätigkeit bedürftig würde.“ (MS, VI: 454 (Kant 2000b, 454)). MS, VI: 393 (Kant 2000b, 393). Vogt 2002, 351. Timmermann 2005, 20f. Vgl. dazu Dan Moller, der schreibt: „[I]t’s hard to see how a deontologist could resist a subsidiary principle along the lines, ‚When you intend to provide a fixed amount of aid to strangers to whom you have no special, agent-relative obligations, distribute aid in such a way as to help the most’. One need not be a consequentialist to find something odd in a Kantian’s proposal to donate $ 100 to a famine relief organization she happens to know is especially inefficient when there is a more efficient organization that will save more people standing by.“ (Moller 2006, 244). Z.B. von Ashford 2007 und Kuper 2005a. Damit einher geht oft die These, es handle sich beim Weltarmutsproblem um ein Problem der Gerechtigkeit. Wie in Kap. 3 gesagt, halte ich diesen Gerechtigkeitsbegriff für irreführend weit. Ich verwende ihn an dieser Stelle nur im Zusammenhang von sozialen Arrangements, die gerecht zu gestalten sind. So meint etwa Henry Shue, seine „basic rights“ seien die unwiderruflichen moralischen Ansprüche, die jedes Individuum aufgrund seines Menschseins habe, die also im universalen moralischen Status von Personen gründen (vgl. Shue 1996a). Vgl. auch Tugendhat 1993, Kap. 5. Vgl. O’Neill 1989, 226.
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Anmerkungen Vgl. exemplarisch die Diskussion um ein Menschenrecht auf Wasser in Brewster 2006. Vgl. Cullity 2007; O’Neill 1986; O’Neill 1989; O’Neill 1996a; O’Neill 1996b; O’Neill 1998; Schlothfeldt 2007. Vgl. zu diesem Vorwurf Kuper 2005a. Aufgrund dieses Problems wurde in jüngster Zeit viel darüber debattiert, wem die den (Menschen-)Rechten korrelierende Verantwortung obliegt. Vgl. etwa die Beiträge in Barry/Pogge 2005 und Kuper 2005b. Vgl. auch Hellsten 2005, 372. Vgl. Schlothfeldt 2007, 79. Siehe Ashford 2007; Gosepath 2004; Gosepath 2007, Kap. II.5; Hinsch 2003; Tugendhat 1993, 349f. Vgl. Ashford 2007, 198. Vgl. Hill 2002, 236. Kant hat sich zur Problematik der Weltarmut freilich nie geäussert. Die Bekämpfung innerstaatlicher Armut sah Kant durchaus als Gegenstand der Rechtspflichten an, deren Beseitigung entsprechende institutionelle Arrangements nötig macht. In der Rechtslehre der Metaphysik der Sitten schreibt Kant beispielsweise, dass es dem Staat zustehe, das Volk „mit Abgaben zu seiner (des Volks) eigenen Erhaltung zu belasten, als da sind: das Armenwesen, die Findelhäuser und das Kirchenwesen […]“ (MS, VI: 325f., Kant 2000b. Zur Frage, inwiefern sich mit Kant ein Sozialstaat im heutigen Sinne begründen lässt, siehe z.B. Holtmann 2004.) Allerdings ist die Begründung für eine Umverteilung, die Kant gibt, eine kontraktualistische. Eine Ausdehnung kontraktualistisch fundierter Theorien sozialer Gerechtigkeit auf die ganze Welt ist jedoch, wie in Kapitel 3 gesagt, kein einfaches Unterfangen. Vgl. z.B. Singer 2005. Vgl. Thomson 1986 und meine Ausführungen dazu in Kap. 2.3. Denkbar wäre z.B. eine Erhöhung der staatlichen Entwicklungshilfe, die via Steuern eingetrieben wird. Vgl. O’Neill 1989, 232. Vgl. Dower 2003, 651. Nigel Dower schreibt dazu: „An uninformed or ill-informed good will, pace Kant, may not be as good as a well-informed good will.“ (Dower 2003, 651).
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Glover 2001, 379. Dies wird nicht alle Bewohnerinnen und Bewohner der Industrieländer betreffen. Wie hinlänglich bekannt, leben auch in reichen Ländern immer mehr Menschen unter der lokal definierten Armutsgrenze. Wenn sie auch materiell gesehen weitaus besser gestellt sind als extrem arme Menschen im Süden, haben sie dennoch mit den menschenunwürdigen Nebeneffekten chronischer Armut zu kämpfen wie Stigmatisierung, Ausschluss aus der Gemeinschaft, Abhängigkeit etc., weshalb sie in erster Linie für sich selber besorgt sein dürfen. Siehe dazu die Beiträge in Renz/ Bleisch 2007. Vgl. zu dieser Frage z.B. Schlothfeldt 2007, 85ff. Vgl. Schlothfeldt 2007, 86. Einen solchen „schwachen“ Begriff kollektiver Ver-
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antwortung legt auch Katja Vogt ihren Überlegungen zugrunde (siehe Vogt 2002, 357). Vgl. dazu auch Hinsch 2003. Ob es sich bei diesen Institutionen um staatliche handeln muss, bleibe an dieser Stelle dahingestellt. Gerade in jüngster Zeit wird vermehrt die zentrale Rolle von Nichtprofitorganisationen (NPOs) und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) für eine nachhaltige und erfolgreiche Entwicklungszusammenarbeit herausgestrichen. So auch Tugendhat 1993, 335. Dieser Ansicht ist auch Lohmann 2004, 129. Vgl. Singer 2007, 39. Richard Brandt hat den Einwand zum Beispiel so formuliert: „Act utilitarianism makes extreme and oppressive demands on the individual, so much so that it can hardly be taken seriously; like the Sermon on the Mount, it is a morality only for saints.“ (Brandt 1979, 276). Zum Begriff der „moralisch Heiligen“ siehe auch Wolf 1982. Schlothfeldt 2007, 82. Vgl. Schlothfeldt 2007, 82. Zur Kostspieligkeit des Kantianismus vgl. Kap. 5.3, zur Kostspieligkeit des Kontraktualismus vgl. z.B. Ashford 2003, v.a. 284ff. Murphy behauptet überdies, dass auch pluralistische Konzeptionen, die ein Optimierungsprinzip der Hilfe in ihre Theorie integrieren, vom Einwand betroffen sind, so etwa Ross’ Ansatz (Murphy 2000, 10). Wolf argumentiert ebenfalls, dass Kantianismus wie Utilitarismus von uns verlangten, „moralische Heilige“ zu werden (vgl. Wolf 1982). Vgl. zur Kostspieligkeit des Kantianismus auch Timmermann 2005, 25. Vgl. zu diesem Punkt Cullity 2003, 406. Cullity 2003, 407. Vgl. Arneson 2004, 34f. Hinsichtlich dieses Punktes setzt sich die Debatte wesentlich mit Argumenten von Bernard Williams auseinander. Vgl. v.a. Williams 1976; Williams 1979. Vgl. Kagan 1984; Kagan 1989. Griffin 1986, 185. „We may hope that the best theory is not unrealistically demanding. But […] this can only be a hope. We cannot assume that this must be true.“ (Parfit 1984, 29). Vgl. Schaber 1997; Schlothfeldt 2002; Schlothfeldt 2007, 83. Vgl. Hare 1992. Vgl. Singer 2004b, 15. Vgl. Singer 2004b, 15f. Vgl. Kap. 5.3. Zur These, dass sich mit Kant die hier gemachten Vorwürfe entkräften liessen, siehe Gosepath 2004, 173f. und die Überlegungen von Herman 1993, 25ff. Eine Position dieser Art haben (auf unterschiedliche Weise) Scheffler 1984 und Nagel 1986 ausgearbeitet. Vgl. Wolf 1982, 429. Vgl. Schlothfeldt 2007, 84; Wolf 1982, 428. Vogt 2002, 353. Zum Begriff und Konzept der moralischen Arbeitsteilung, siehe auch Nagel 1991, Kap. 6 und 9.
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Vgl. zu dieser Idee auch Hinsch 2003. Wollen wir etwa Pogge Glauben schenken, der behauptet, dass ein Beitrag von ungefähr 312 Milliarden Dollar jährlich (ein Prozent des globalen Einkommens) ausreichen würde, um extreme Armut zu beseitigen (vgl. Pogge 2002, 205), würde dies z.B. mit einer Lohnkürzung um 1.2% aller Löhne in Industrieländern erreicht (vgl. Pogge 2002, 7f.). Vgl. dazu auch Pogge 2007, 219. 32 Das Beispiel stammt ursprünglich von Wilfried Hinsch, siehe Hinsch 2003. 33 Dieser Schluss beruht auf der These, dass Kinder ihren Eltern gegenüber eine spezielle Pflicht haben, was bezweifelt werden kann. Für das Folgende ist diese Debatte jedoch irrelevant, da wir von einer gemeinsamen Pflicht, den Notleidenden zu helfen, ausgehen. 34 Hinsch meint, dass sich von aussen nicht bestimmen lasse, was „fair“ in diesem Falle heisse; vielmehr sei dies eine Frage des Arrangements, das die Kinder im Verhandlungsprozess (der vermutlich bestimmten prozeduralen Kriterien zu genügen hätte) wählen. 35 So auch Hinsch 2003, 35. 36 Siehe Kap. 4.1. 37 Im obigen Fall der pflegebedürftigen Eltern würde sich die Situation mit Sicherheit anders präsentieren, wenn sich herausstellte, dass die Eltern mitunter so stark pflegebedürftig sind aufgrund eines Unfalls, an dem eines der Kinder eine Mitschuld trägt, weshalb dieses mehr als die anderen Kinder zu Hilfe verpflichtet wäre. 38 Vgl. dazu z.B. Kreide 2007. 39 Diesen Punkt macht Anwander 2009 stark. 40 Für eine solche spezielle Pflicht argumentiert z.B. Gosepath 2007, 235. 41 Siehe dazu Kap. 3.1. 42 Gosepath 2007, 234. Vgl. dazu auch Miller 2001, 461 sowie Kreide 2007 und Young 2006. 43 Vgl. BBC News, 5.12.2006, http://news.bbc.co.uk/2/hi/business/6211250.stm (letzter Zugriff: 14.06.2009). 44 Anders sieht es natürlich aus, wenn der Reichtum unrechtmässig erworben worden ist. 45 Vgl. Murphy 2000, 5. 46 Vgl. Rawls 1975, 26. 47 Rawls 1975, 368f. Vgl. auch Rawls 1975, 137 und Kap. 3.4. 48 Ashford 2007, 210. Siehe auch Ashford 2003. 49 Vgl. auch Murphy 2000, 11. 50 Vgl. dazu etwa den Anfang seines Textes „Famine, Affluencs, and Morality“ aus dem Jahre 1972, der lautet: „Während ich dies schreibe, im November 1971, sterben in Ostbengalen Menschen, weil es ihnen an Nahrung, Obdach und medizinischer Versorgung fehlt.“ Des Weiteren fragt sich Singer, was er in diesem Moment angesichts dieses Wissens um das Leiden anderer Menschen aus moralischer Sicht zu tun verpflichtet sei (vgl. Singer 2007, 37). 51 Singer 1984, 313. 52 Peter Unger verlangt von einer durchschnittlich wohlhabenden Person, dass sie das meiste ihres Vermögens und einen grossen Teil ihres Einkommens spenden sollte (Unger 1996, 134). 53 Vgl. Arneson 2004, 35. Frances Kamm bemerkt allerdings zu Recht, dass es mit
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Singers Position durchaus vereinbar wäre, jene, die nichts tun, zu ihrem Beitrag zu zwingen, bevor man selber mehr tut als den eigenen fairen Anteil beizusteuern (vgl. Kamm 1999, 175). So auch Shue 1996a, 172: „[E]xpecting some individuals endlessly to be willing to step into the breaches left by the failures of others to do their prior duties is wildly unfair. These lives would simply be consumed by (default) duties – this is precisely to ignore that for duty-bearers too, as much as for victims of rights violations, this is the only life they will have.“ Vgl. Murphy 1993, 278 und vor allem ausführlich Murphy 2000. Engl. „cooperative principle of beneficence“, vgl. Murphy 2000, 7f. So auch Arneson 2004, 37. Kuper 2005a, 159. Kuper 2005a, 159. Vgl. zu dieser Kritik auch Jamieson 2005, 157ff. Kuper 2005a, 159. Vgl. Singer 2005, 175. Hornby 2001, 91. Vgl. dazu Kap. 2. Wolf 1982, 421. Es mag durchaus Personen geben, die in einer solchen Aufgabe aufgehen; aber wir können nicht davon ausgehen, dass es den meisten so ergeht. Tamir 1993, 100. Vgl. dazu kritisch auch Dower 1991, 279. Tamir 1993, 116. Miller 1995 und Miller 1999. Tamir 1993. Scheffler 2001a. Hardimon 1994. Blake 2005, 8f. Vgl. Hospers 1998. Gosepath 2007, 214. Johnson 2005, 26.
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Personenregister Anwander, Norbert 214 (26), 220 (81), 224 (71), 225 (102), 226 (104, 113f.), 234 (39) Ashford, Elizabeth 198, 214 (26), 230 (50), 231 (92), 232 (100f.), 233 (12), 234 (48) Carens, Joseph 74, 219 (36) Cullity, Garrett 186, 232 (97), 233 (12, 14) Dancy, Jonathan 113, 224 (69f., 72) Diamond, Cora 36, 215 (18f.) Dower, Nigel 214 (31, 35), 232 (107f.), 235 (67) Dworkin, Ronald 67, 218 (14f.), 229 (37) Feinberg, Joel 110, 111, 213 (14), 224 (64ff.), 225 (96), 229 (43), 230 (52) Forst, Rainer 46, 59, 61, 216 (36), 217 (44f.), 218 (1, 6), 219 (30, 33), 220 (50, 63), 221 (2), 226 (117) Gosepath, Stefan 20, 66, 79, 134, 195, 209, 214 (24, 26f.), 218 (12f.), 219 (24, 28, 33f., 37, 43), 220 (51f., 81), 226 (114ff.), 228 (16f., 22), 232 (100), 233 (24), 234 (40, 42), 235 (75) Griffin, James 187 , 217 (57), 233 (18) Habermas, Jürgen 217 (45), 218 (12) Hare, Richard 188, 233 (21) Herman, Barbara 164, 230 (54, 57, 60f., 63, 71), 233 (24) Hill, Thomas E. 168, 169, 230 (69), 231 (74, 77ff.), 232 (102) Hinsch, Wilfried 83, 146, 192, 219 (23, 25, 27), 220 (64f., 70), 221 (3, 9), 227 (9f.), 228 (14), 232 (100), 233 (5), 234 (30, 32, 34f.) Igneski, Violetta 141, 157ff., 214 (28), 218 (72, 74), 227 (1), 229 (44f.) Kagan, Shelly 187, 233 (17) Kamm, Francis 152f., 213 (14), 216 (27), 218 (72), 228 (27, 31f.), 229 (33f.), 231 (76), 235 (53)
Kant, Immanuel 27, 61, 85ff., 142f., 159, 162ff., 175, 177, 188, 219 (33), 220 (74), 230 (53, 58, 62, 67ff.), 231 (74, 81, 84, 87f., 91), 232 (102, 108), 233 (12, 24) Kuper, Andrew 201f., 215 (12), 231 (92), 232 (98), 235 (58f., 61) LaFollette, Hugh 13, 24, 29f., 127, 213 (1, 10, 17), 214 (31, 36), 215 (1, 4), 224 (73), 225 (95, 99), 226 (126), 227 (129), 228 (19) Margalit, Avishai 146f., 220 (69), 227 (11), 228 (12) Mill, John Stuart 86f., 215 (3), 220 (75ff.) Miller, David 207, 214 (24), 216 (26, 39), 217 (46f., 56), 219 (22, 39f., 42, 47), 220 (64), 224 (77, 78), 234 (42), 235 (69) Moller, Dan 231 (91) Murphy, Liam 79, 81, 155, 199f., 218 (7), 219 (37), 220 (53, 57f., 60f.), 229 (36), 233 (12), 234 (45, 49), 235 (55f.) Narveson, Jan 50, 55, 57, 85ff., 163, 217 (48ff., 60, 68), 218 (73), 220 (73, 75, 79), 221 (13), 226 (126) Nozick, Robert 52f., 216 (23), 217 (59, 65f.) O’Neill, Onora 173, 176, 214 (21), 219 (34, 46), 221 (2), 227 (134, 7), 228 (12), 230 (59, 63), 232 (95, 97 106) Parfit, Derek 187 , 229 (39), 233 (19) Patten, Allan 108, 223 (57, 61), 226 (124) Pogge, Thomas 19, 21, 36, 57, 64, 72, 93ff., 116f., 121, 123f., 127, 135, 137ff., 193, 214 (20, 23, 35), 216 (25), 218 (73, 9), 219 (19, 21, 29, 32, 35, 46), 220 (56, 59, 62, 81), 221 (1ff., 15f.), 222 (22f., 26f., 29ff.), 223 (41, 43, 45, 49, 56, 59f. 62), 224 (67f.), 225 (92ff.,
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Personenregister
97), 226 (118, 120ff., 126, 128), 227 (129ff., 134f., 5), 230 (49), 232 (98), 234 (31) Rawls, John 38, 63, 67, 73, 76, 79, 96ff., 138, 198, 216 (28), 218 (8ff.), 219 (18ff., 31), 220 (54f.), 221 (17ff.), 234 (46f.) Schaber, Peter 22, 112f., 213 (8), 214 (24, 33), 217 (42), 220 (69, 72), 222 (25), 223 (51), 224 (68), 227 (7), 228 (12f., 18f., 22), 233 (20) Scheffler, Samuel 77, 207, 216 (26), 219 (44f.), 224 (78), 229 (38), 230 (49), 233 (25), 235 (71) Schlothfeldt, Stefan 173, 185f., 214 (26), 227 (5), 232 (97, 99, 3), 233 (4, 10f., 20, 27) Sen, Amartya 17, 213 (5, 18), 220 (68) Shue, Henry 50, 217 (54, 56), 220 (67), 226 (122), 231 (94), 235 (54) Sidgwick, Henry 163, 230 (55) Singer, Peter 16f., 26, 31, 36, 38, 41, 138, 143f., 148ff., 154, 158ff., 169, 185f., 188, 191, 199, 201, 210, 213 (10ff., 16), 215 (7), 216
(24f., 35), 217 (41), 226 (122), 227 (3), 228 (19ff., 28, 30), 230 (51), 232 (103), 233 (8, 22f.), 234 (50f.), 235 (53, 62) Tamir, Yael 76, 207, 216 (38), 217 (46), 219 (41), 235 (67) Thomson, Judith Jarvis 52ff., 175, 217 (61ff., 67), 225 (87), 232 (104) Timmermann, Jens 165, 171f., 230 (66), 231 (76, 83, 85, 90), 233 (12) Tugendhat, Ernst 30, 165, 215 (2, 6, 8), 217 (55f.), 220 (75), 230 (64), 231 (94), 232 (100), 233 (6) Unger, Peter 138, 199, 216 (24), 226 (122), 227 (3), 228 (26), 234 (52) Waldron, Jeremy 155, 229 (36, 47) Walzer, Michael 42, 45, 75, 216 (37), 217 (43), 219 (38) Williams, Bernhard 187, 215 (3, 19), 233 (16) Wolf, Susan 205, 215 (21), 218 (70), 233 (9, 12, 26f.), 235 (65) Young, Iris Marion 116f., 221 (2), 224 (78ff.), 226 (114), 234 (42) Zanetti, Véronique 219 (18, 32)
Sachregister Arbeitsteilung 117, 121f., 133, 184, 190, 195ff., 200, 205 Beitragen zum Unrecht 119ff., 131, 136, 139, 194 Bevölkerungswachstum 21f., 98 Bürgerpflichten 88ff., 124, 135ff., 179, 209 Demütigung 146f. Distanz räumliche 41, 149ff. soziale 41, 154ff. Dualismus 79ff. Empörungstest 29ff. Erklärungsnationalismus 96, 108, 193 Ermöglichungsbedingung 112ff. Etatismus 63ff. Exportsubventionen 103ff. Fahrlässigkeit 118ff., 123ff., 136 Fairness 72, 103, 161, 193, 196 Fair Trade 125, 202 Gerechtigkeit distributive 65, 67f., 70ff., 79, 82ff., 90ff., 106 globale 72ff., 77ff. intergenerationelle 40 kommutative 70f., 82, 89f. prozedurale 71, 89 soziale 17f., 45, 60ff., 81ff., 195 Globalismus 68ff. Good Governance 18, 105 Grundbedürfnisse 44, 47, 67, 82ff., 91, 208 Haftungsmodell 115ff. Hilfspflichten 16, 22f., 48, 51f., 67, 76, 86ff., 97, 108, 121, 135, 139, 141ff. 181, 184ff., 194, 196, 204, 210 Ideale vs. nicht-ideale Theorie 39, 173, 191ff., 210 Individualethik 17, 35, 79, 185, 206, 210 Institutionenethik 17f., 35, 80, 185, 206 Klugheitsregeln 35, 49, 64, 125, 163
Kommunitarismus 41ff., 75f., 154f., 206f. Komplizenschaft 122, 180 Konsequentialismus 17, 22, 144, 149, 169, 199, 201 Konsumentenpflichten 121, 124f., 135ff., 141f., 177, 180, 206, 209f. Kooperationsverhältnisse 62, 65ff., 68ff., 75, 77, 81ff., 195 Kooperationsprinzip 199f. Korruption 34, 99, 101f., 105, 112 Kosmopolitanismus 62f., 74ff., 77ff. Kreditprivileg 101f., 107, 112, 123 Libertarianismus 47ff., 95, 137, 169, 204, 208f. Menschenrechte 44, 47, 67, 82, 90, 97, 106f, 122, 126, 173 Menschenwürde 145f. Monismus 79f. Moralismus 36, 39, 47, 56, 182, 204ff., 209 Narration 43ff. Nationalismus 75 Nichtschädigung 43, 49, 57, 72, 82, 87, 93ff., 180, 207f. Nothilfe 156f., 159, 183, 195 Parteilichkeit 47, 188, 207 Pflichten generelle 49, 52, 145, 154, 156, 177, 207 korrektive 93, 95, 123, 137f., 180, 208 natürliche 84, 87, 91, 115, 142, 145, 147, 172f., 180f., 190 positive 47, 48f., 57, 97, 105, 108, 134, 138f., 180, 208 restitutive 26, 95, 129, 130ff., 137, 141, 180, 194, 208, 210 spezielle 49, 87, 145f., 154ff., 207 unvollkommene 86, 142, 159, 166ff., 177 vollkommene 159, 162, 166ff., 173, 177 weite 165, 166ff.
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Sachregister
Prinzipien mittlerer Reichweite 144, 147 Profitieren von Unrecht 58, 123, 126, 128ff., 136f., 180 Rechtspflicht 61, 85ff., 143, 162, 165, 172ff. Rekonstruktivismus 37f., 150 Relativismus 44 Revisionismus 37 Rohstofffluch 102 Rohstoffprivileg 101, 124 Schädigungsthese 72, 90, 93f., 96ff., 135 Sorgfaltspflicht 95, 118ff., 136, 180 Standards absolute 83f., 90 minimale 45, 51f., 72, 83 Supererogation 31, 143, 165ff., 177 Teich-Beispiel 148ff., 152, 154ff., 161
Tugendpflicht 61, 86f., 143, 164, 166 Überforderung 184ff., 205, 209 Überlegungsgleichgewicht 38 Ungerechtfertigte Bereicherung 129ff. Urteilskraft 168 Utilitarismus 143, 185, 188 Vagheit 156ff., 162ff., 182, 190 Verantwortung gemeinsame 182ff., 192, 197f., 202f., 209f. kollektive 182f. prospektive 115ff., 120, 123, 127 retrospektive 115ff., 120 Verantwortungsdiffusion 121, 124, 160 Verbrechensthese 95ff., 109ff., 135f. Welthandelsorganisation (WTO) 93, 102ff., 110 Weltstaat 73 Wohltätigkeitsperspektive 30, 204