Partizipation und Distanz: Henri Bergsons hermeneutische Philosophie 9783495808368, 9783495487365


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German Pages [913] Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Auch einer?
Die These und das Projekt
Hindernisse
Vorgänger und Begleiter
Ziele der Untersuchung
Aufbau der Untersuchung
Einschränkungen
1 Texthermeneutik: Das Material und der Sinn
1.1 Der Text des Philologen
1.1.1 Bergson als Erzieher
1.1.2 Philologie zwischen Handwerk und Hermeneutik
1.2 Der Text des Philosophen
1.2.1 Vom Material zur Intuition: Der Weg des Interpreten
1.2.2 Von der Intuition zum Material: Der Weg des Autors
1.2.3 Divinatorische und poietische Hermeneutik
1.2.4 Der hermeneutische Zirkel
1.2.5 Geschichtlichkeit und Wahrheit
1.3 Der Text des Dichters
1.3.1 Poetische und philosophische Texte
1.3.2 Textverstehen als comparaison
1.4 Entwerfen und Verstehen
1.4.1 Textverstehen als expérience décisive
1.4.2 Verstehen als Entwurf
2 Handlungshermeneutik: Das Unbewusste und das Bewusstsein
2.1 Erweiterung des Hermeneutikbegriffs
2.1.1 Bergson und das Unbewusste
2.1.2 Exkurs: Die Hermeneutik und das Unbewusste
2.1.3 Schichten-Modelle
2.1.4 Exkurs: Vom Text zur Handlung
2.2 Phänomenologie der Artikulation
2.2.1 Exkurs: Lebensphilosophie und Hermeneutik
2.2.2 Im Spannungsfeld von Sinn und Funktion
2.2.2.1 Der Sinn
2.2.2.2 Die Bedeutung
2.2.2.3 Die Funktion
2.2.3 Artikulation als Struktur und Prozess
2.2.4 Risse in der persönlichen Erfahrung
2.2.5 Das Verstehen und die Hermeneutik
2.3 Anfangsgründe der Hermeneutik Bergsons
2.3.1 Philosophische Anthropologie als Grundlegung der Hermeneutik
2.3.1.1 Das Leben als hermeneutischer Prozess
2.3.1.2 Die Pflanze: »Einschlafendes« Bewusstsein
2.3.1.3 Das Tier: Lebenskraft und Instinkt
2.3.1.4 Der Mensch: Intelligenz als Gestalt des Bewusstseins
2.3.2 Die Geburt des Verstehens aus dem Zwiespalt
2.3.2.1 Exkurs: Statisches vs. dynamisches Unbewusstes in der Psychologie der Bergson-Zeit
2.3.2.2 Das statische Unbewusste als Gewohnheit
2.3.2.3 Das dynamische Unbewusste als Tiefen-Ich
2.3.2.4 Das dynamische Unbewusste als Phantasie und Appell
3 Der Raum und die Welt des homo faber
3.1 Bergsons Intuition
3.2 Bergsons Raumbegriff und seine Wandlungen
3.2.1 Der Raum und die Welt der Dinge
3.2.2 Der Raum als allgemeine symbolische Form
3.2.3 Die Raumvorstellung und das Handeln
3.2.4 Die unbewusste Metaphysik der Intelligenz
3.3 Hermeneutische Aspekte der Welt des homo faber
3.3.1 Lebenswelt
3.3.1.1 Die sinnliche Wahrnehmung als Interpretation
3.3.1.2 Automatisches Wiedererkennen als Form des Verstehens
3.3.1.3 Der geschlossene Zirkel
3.3.1.4 Das Herstellen und seine Folgen
3.3.2 Wissenschaft
3.3.2.1 Die Naturwissenschaften als Auslegung des handelnden Weltverhältnisses
3.3.2.2 Relativität und Historizität der Wissenschaft
3.3.2.3 Der Zwiespalt der Bewegungswissenschaft
3.3.2.4 Mathematische Wissenschaft und Hermeneutik
3.3.2.4.1 Das Leitbild der Wissenschaft
3.3.2.4.2 Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften
3.3.2.4.3 Infinitesimalrechnung und Hermeneutik
4 Die Dauer und das Leben des homo historicus
4.1 Die Entdeckung der Dauer
4.1.1 Die Frage nach der Dauer
4.1.2 Im Reich der Mathematik: Zahl und Zeit
4.1.3 Im Reich der Psychologie: Oberflächen-Ich und Tiefen-Ich
4.2 Drei Lektüren
4.2.1 Laurent Fedi: Kraft, Sinn und Geist
4.2.2 Jean Hyppolite: Die Ekstasen der Zeit
4.2.2.1 Die Artikulation der Dauer
4.2.2.2 »Das berühmte Bild des Kegels«
4.2.2.3 Macht und Ohnmacht des Vergangenen
4.2.3 Rocco Ronchi: Philosophie der Interpretation
4.2.3.1 Das Aufbrechen des geschlossenen Zirkels
4.2.3.2 Der Erwerb neuer Handlungsmuster
4.2.3.3 Die konzentrischen Kreise der Interpretation
4.3 Philosophie des Zwischen
5 Sympathie: Die Dauer der Anderen
5.1 Grundlagen
5.1.1 Die Einsamkeit des Interpreten
5.1.2 Sympathie als Einfühlung?
5.2 Phänomenologie der Partizipation I: Die Extreme
5.2.1 Sympathie als Selbstverhältnis
5.2.2 Der Instinkt
5.2.2.1 Tödliche Sympathie
5.2.2.2 Sympathie und Partizipation
5.3 Phänomenologie der Partizipation II: Individuum und Gesellschaft
5.3.1 Hierarchie
5.3.1.1 Solidarität
5.3.1.2 Formen der Sympathie
5.3.1.3 Mitleid
5.3.2 Empathie
5.3.2.1 Die Dauer der Gesellschaft
5.3.2.2 Kameradschaft
5.3.2.3 Lebendigkeit und Ausdruck
5.3.2.4 Der Eindruck des Lebendigen
5.3.2.5 Eindruck und Hypnose
5.3.2.6 Leistung und Grenzen der Empathie
5.3.3 Analogie
5.3.3.1 Musikalischer Paradigmenwechsel
5.3.3.2 Die »Musik unter dem Text«
5.3.3.3 Quellen der Freundschaft
5.3.3.4 Übersetzbarkeit
5.3.3.5 Leistung und Grenzen der Analogie
6 Intuition: Elend und Glanz der Philosophie
6.1 Bausteine zu einer allgemeinen Theorie der Intuition
6.1.1 Dauer und Intuition
6.1.2 Intuition als Erkenntnisinhalt
6.1.3 Intuition als Reflexion
6.1.4 Intuition als Erkenntnisvermögen
6.1.5 Arten der Intuition
6.2 Die philosophische Intuition
6.2.1 Vorbemerkung: Philosophische Disziplinenlehre
6.2.2 Metaphysik
6.2.2.1 Metaphysik und Hermeneutik
6.2.2.2 Exkurs: Metaphysik und Hermeneutik bei Schopenhauer
6.2.2.3 Prozessontologie
6.2.3 Methode
6.2.3.1 Warum Methode?
6.2.3.1.1 Genie und Methode
6.2.3.1.2 Intuition und Methode
6.2.3.1.3 Der Sinn von »Methode«
6.2.3.2 Die Methode einer Hermeneutik der gemeinsamen menschlichen Welt
6.2.3.2.1 Das methodologische Grundproblem
6.2.3.2.2 Philosophische Farbenlehre
6.2.3.2.3 Die Teilungsmethode
6.2.3.2.4 Die Zirkelbewegung zwischen Intuition und Sympathie
6.2.3.2.5 Gemeinsame Erforschung der gemeinsamen menschlichen Welt
6.2.4 Moral
6.2.4.1 Moral – Untersuchungsgegenstand oder eigenständige Disziplin?
6.2.4.2 Verstehen und Überschreiten
6.2.4.3 Analogie als Verschränkung von Partizipation und Distanz
6.2.4.4 Die hermeneutische Funktion der Emotion
6.2.4.5 Die hermeneutische Funktion des Genies
6.2.4.6 Der Mensch als Produkt und Projekt
6.3 Zwischen Philosophie und Religion
6.3.1 Natura naturata und natura naturans
6.3.2 Erde und Himmel
Literaturverzeichnis
1. Werke von Henri Bergson
Bergsons Hauptwerke
Andere Texte Bergsons
2. Weitere Literatur
Namenregister
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Partizipation und Distanz: Henri Bergsons hermeneutische Philosophie
 9783495808368, 9783495487365

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Christoph Kersten

Partizipation und Distanz Henri Bergsons hermeneutische Philosophie

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495808368

.

B

Christoph Kersten Partizipation und Distanz

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

Jede Lebensphilosophie benötigt eine mehr oder weniger umfangreiche hermeneutische Komponente – das ist die These, von der diese Untersuchung ausgeht. Lebensphilosophie ist Prozessphilosophie. Als solche kann sie sich nicht zufriedengeben mit dem Erkennen unveränderlicher Dinge, sondern muss nach der Erfassbarkeit dynamischer Verläufe fragen. Ein solches Erfassen aber nennen wir »Verstehen«, die Einheit und Richtung eines Verlaufs seinen »Sinn«. Die Philosophie Henri Bergsons scheint als Gegeninstanz gegen die Ausgangsthese ins Feld geführt werden zu können, insofern sie zwar gemeinhin als Lebens- und Prozess-, nicht aber als hermeneutische Philosophie gelesen wird. Die vorliegende Untersuchung versucht deshalb zunächst, einige Vorurteile über Bergsons Philosophie als solche zu entlarven, um sodann einen neuen, frischen Blick auf seine Texte vorzuschlagen: Sie erörtern die Verlaufsform von Texten und Handlungen, von eigenem und fremdem Leben, schließlich von überindividuellen Tendenzen, in denen der Einzelne und sein Verstehen nur ein Moment des Gesamtprozesses darstellen. Sie fragen, auf welche Weise der Mensch solche Prozesse erfassen, aber auch, wie er sie in Gang setzen, in Gang halten oder neu in Gang bringen kann.

Der Autor: Christoph Kersten studierte Philosophie, Politische Wissenschaft, Ethnologie und Informatik an den Universitäten München und Basel.

https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

Christoph Kersten

Partizipation und Distanz Henri Bergsons hermeneutische Philosophie

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

Originalausgabe © Verlag Karl Alber in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48736-5 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-80836-8

https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

Inhalt

Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

1

Texthermeneutik: Das Material und der Sinn . . . . . . .

39

1.1 Der Text des Philologen . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Bergson als Erzieher . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Philologie zwischen Handwerk und Hermeneutik .

41 41 43

1.2 Der Text des Philosophen . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Vom Material zur Intuition: Der Weg des Interpreten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Von der Intuition zum Material: Der Weg des Autors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Divinatorische und poietische Hermeneutik . . 1.2.4 Der hermeneutische Zirkel . . . . . . . . . . 1.2.5 Geschichtlichkeit und Wahrheit . . . . . . . .

. .

52

. .

54

. . . . . . . . . .

66 77 81 90

1.3 Der Text des Dichters . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Poetische und philosophische Texte . . . . . . 1.3.2 Textverstehen als comparaison . . . . . . . . 1.4 Entwerfen und Verstehen . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Textverstehen als expérience décisive . . . . . 1.4.2 Verstehen als Entwurf . . . . . . . . . . . . . 2

. . . . . . . . . .

100 101 107 117 118 126

Handlungshermeneutik: Das Unbewusste und das Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

135

2.1 Erweiterung des Hermeneutikbegriffs . . . . . . . . . . 2.1.1 Bergson und das Unbewusste . . . . . . . . . . . 2.1.2 Exkurs: Die Hermeneutik und das Unbewusste . .

138 138 144

5 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

Inhalt

2.1.3 Schichten-Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4 Exkurs: Vom Text zur Handlung . . . . . . . . . 2.2 Phänomenologie der Artikulation . . . . . . . . . 2.2.1 Exkurs: Lebensphilosophie und Hermeneutik 2.2.2 Im Spannungsfeld von Sinn und Funktion . 2.2.2.1 Der Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.2 Die Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.3 Die Funktion . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Artikulation als Struktur und Prozess . . . . 2.2.4 Risse in der persönlichen Erfahrung . . . . . 2.2.5 Das Verstehen und die Hermeneutik . . . .

. . . . . . . . . 2.3 Anfangsgründe der Hermeneutik Bergsons . . . . .

. . . . . . . . . .

. . . . . . . . . .

2.3.1 Philosophische Anthropologie als Grundlegung der Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1.1 Das Leben als hermeneutischer Prozess . . . . . 2.3.1.2 Die Pflanze: »Einschlafendes« Bewusstsein . . . . 2.3.1.3 Das Tier: Lebenskraft und Instinkt . . . . . . . . 2.3.1.4 Der Mensch: Intelligenz als Gestalt des Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Die Geburt des Verstehens aus dem Zwiespalt . . . 2.3.2.1 Exkurs: Statisches vs. dynamisches Unbewusstes in der Psychologie der Bergson-Zeit . . . . . . . . 2.3.2.2 Das statische Unbewusste als Gewohnheit . . . . 2.3.2.3 Das dynamische Unbewusste als Tiefen-Ich . . . 2.3.2.4 Das dynamische Unbewusste als Phantasie und Appell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

154 165 179 179 187 189 199 210 220 232 241 245 245 245 252 256 263 267 267 276 281 287

Der Raum und die Welt des homo faber . . . . . . . . . .

297

3.1 Bergsons Intuition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

299

3.2 Bergsons Raumbegriff und seine Wandlungen . . 3.2.1 Der Raum und die Welt der Dinge . . . . 3.2.2 Der Raum als allgemeine symbolische Form 3.2.3 Die Raumvorstellung und das Handeln . . 3.2.4 Die unbewusste Metaphysik der Intelligenz

305 306 315 323 329

. . . . . . . . . . . . . . 3.3 Hermeneutische Aspekte der Welt des homo faber . . 3.3.1 Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1.1 Die sinnliche Wahrnehmung als Interpretation .

6 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

. . . . . . . .

340 341 341

Inhalt

3.3.1.2 Automatisches Wiedererkennen als Form des Verstehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1.3 Der geschlossene Zirkel . . . . . . . . . . . . . 3.3.1.4 Das Herstellen und seine Folgen . . . . . . . . . 3.3.2 Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2.1 Die Naturwissenschaften als Auslegung des handelnden Weltverhältnisses . . . . . . . . . . . . 3.3.2.2 Relativität und Historizität der Wissenschaft . . . 3.3.2.3 Der Zwiespalt der Bewegungswissenschaft . . . . 3.3.2.4 Mathematische Wissenschaft und Hermeneutik . 3.3.2.4.1 Das Leitbild der Wissenschaft . . . . . 3.3.2.4.2 Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften . . . . . . . . . . . . 3.3.2.4.3 Infinitesimalrechnung und Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . .

4

Die Dauer und das Leben des homo historicus . . . . . . .

4.1 Die Entdeckung der Dauer . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Die Frage nach der Dauer . . . . . . . . . . . 4.1.2 Im Reich der Mathematik: Zahl und Zeit . . . 4.1.3 Im Reich der Psychologie: Oberflächen-Ich und Tiefen-Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Drei Lektüren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Laurent Fedi: Kraft, Sinn und Geist . . . . . 4.2.2 Jean Hyppolite: Die Ekstasen der Zeit . . . . 4.2.2.1 Die Artikulation der Dauer . . . . . . . . 4.2.2.2 »Das berühmte Bild des Kegels« . . . . . . 4.2.2.3 Macht und Ohnmacht des Vergangenen . . 4.2.3 Rocco Ronchi: Philosophie der Interpretation 4.2.3.1 Das Aufbrechen des geschlossenen Zirkels . 4.2.3.2 Der Erwerb neuer Handlungsmuster . . . . 4.2.3.3 Die konzentrischen Kreise der Interpretation

. . . . . . . . . . 4.3 Philosophie des Zwischen . . . . . . . . . . . . . . 5

Sympathie oder Die Dauer der Anderen

. 5.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Die Einsamkeit des Interpreten . . 5.1.2 Sympathie als Einfühlung? . . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

347 357 363 370 370 380 388 401 401 404 413 429

. . 432 . . 432 . . 438 . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . .

453

. . . .

. . . .

553

467 468 483 483 490 496 506 506 517 526 543

554 554 562

7 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

Inhalt

. . . . .

. . . . .

. . . . .

569 569 575 575 581

5.3 Phänomenologie der Partizipation II: Individuum und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Hierarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1.1 Solidarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1.2 Formen der Sympathie . . . . . . . . . . . . 5.3.1.3 Mitleid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Empathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2.1 Die Dauer der Gesellschaft . . . . . . . . . . 5.3.2.2 Kameradschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2.3 Lebendigkeit und Ausdruck . . . . . . . . . 5.3.2.4 Der Eindruck des Lebendigen . . . . . . . . 5.3.2.5 Eindruck und Hypnose . . . . . . . . . . . . 5.3.2.6 Leistung und Grenzen der Empathie . . . . . 5.3.3 Analogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3.1 Musikalischer Paradigmenwechsel . . . . . . 5.3.3.2 Die »Musik unter dem Text« . . . . . . . . . 5.3.3.3 Quellen der Freundschaft . . . . . . . . . . 5.3.3.4 Übersetzbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3.5 Leistung und Grenzen der Analogie . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . .

594 595 595 600 606 610 610 621 628 632 642 649 655 655 660 667 674 684

. . . . . . . . 6.2.1 Vorbemerkung: Philosophische Disziplinenlehre . 6.2.2 Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2.1 Metaphysik und Hermeneutik . . . . . . . . . .

693

5.2 Phänomenologie der Partizipation I: Die Extreme 5.2.1 Sympathie als Selbstverhältnis . . . . . . 5.2.2 Der Instinkt . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2.1 Tödliche Sympathie . . . . . . . . . . . 5.2.2.2 Sympathie und Partizipation . . . . . . .

6

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Intuition: Elend und Glanz der Philosophie

. . . . . . . 6.1 Bausteine zu einer allgemeinen Theorie der Intuition . 6.1.1 Dauer und Intuition . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Intuition als Erkenntnisinhalt . . . . . . . . . . 6.1.3 Intuition als Reflexion . . . . . . . . . . . . . 6.1.4 Intuition als Erkenntnisvermögen . . . . . . . . 6.1.5 Arten der Intuition . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Die philosophische Intuition . . . . . . . . . . . . . .

6.2.2.2 Exkurs: Metaphysik und Hermeneutik bei Schopenhauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2.3 Prozessontologie . . . . . . . . . . . . . . . . .

8 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

695 695 698 704 711 719 722 722 726 726 732 737

Inhalt

6.2.3 Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3.1 Warum Methode? . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3.1.1 Genie und Methode . . . . . . . . . . 6.2.3.1.2 Intuition und Methode . . . . . . . . 6.2.3.1.3 Der Sinn von »Methode« . . . . . . . 6.2.3.2 Die Methode einer Hermeneutik der gemeinsamen menschlichen Welt . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3.2.1 Das methodologische Grundproblem . 6.2.3.2.2 Philosophische Farbenlehre . . . . . . 6.2.3.2.3 Die Teilungsmethode . . . . . . . . . 6.2.3.2.4 Die Zirkelbewegung zwischen Intuition und Sympathie . . . . . . . . . . . . 6.2.3.2.5 Gemeinsame Erforschung der gemeinsamen menschlichen Welt . . . . . . . 6.2.4 Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.4.1 Moral – Untersuchungsgegenstand oder eigenständige Disziplin? . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.4.2 Verstehen und Überschreiten . . . . . . . . . . 6.2.4.3 Analogie als Verschränkung von Partizipation und Distanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.4.4 Die hermeneutische Funktion der Emotion . . . . 6.2.4.5 Die hermeneutische Funktion des Genies . . . . . 6.2.4.6 Der Mensch als Produkt und Projekt . . . . . . .

746 746 746 750 755

6.3 Zwischen Philosophie und Religion . . . . . . . . . . . 6.3.1 Natura naturata und natura naturans . . . . . . 6.3.2 Erde und Himmel . . . . . . . . . . . . . . . . .

850 850 867

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

891

Namenregister

764 764 768 773 781 788 799 799 803 810 816 828 837

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 907

9 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

Vorwort

Die nachfolgende Untersuchung wurde im Herbst 2012 bei der Philosophischen Fakultät der Universität Basel als Dissertation eingereicht und im Frühjahr 2013 angenommen. Für die Druckfassung habe ich den Text um neuere Einsichten ergänzt. Im Gegenzug habe ich einige entbehrlich scheinende Passagen gelöscht, um eine Vergrößerung des Umfangs zu vermeiden. Danken möchte ich vor allem Prof. Dr. Emil Angehrn, ohne den die vorliegende Untersuchung nicht hätte entstehen können. Das gilt nicht nur, weil Prof. Angehrn das Projekt mit Sympathie und Geduld begleitet hat. Es gilt vor allem, weil ich erst bei ihm gelernt habe, dass Hermeneutik sehr viel mehr ist als nur eine von vielen leicht angestaubten und etwas langweilig gewordenen philosophischen Richtungen. Ohne diese Erfahrung hätte ich wohl kaum ein Thema gewählt, in dem die Hermeneutik eine so entscheidende Rolle spielt, jedenfalls aber nicht die Energie aufgebracht, die erforderlich ist, um ein solches Thema über mehrere Jahre hinweg zu bearbeiten. Ein kritischer Punkt war erreicht, als sich abzeichnete, dass die Frage nach Bergsons Verhältnis zur Hermeneutik ohne eine gründliche Auseinandersetzung mit dem Begriff des Unbewussten nicht zu beantworten ist. Prof. Dr. Joachim Küchenhoff danke ich für die Ermutigung, die in diesem Zusammenhang notwendigen Erkundungen im Grenzbereich zwischen Philosophie und Psychoanalyse zu wagen, sowie für seine Bereitschaft, das Zweitgutachten zu übernehmen. Doktorandenkolloquien in Basel und Freiburg boten mir die Möglichkeit, meine Gedanken über hermeneutisches Philosophieren zur Diskussion zu stellen. Als wahrlich günstig und förderlich erwies sich überdies der Umstand, dass fast gleichzeitig mit dem Beginn der Arbeit an meinem Projekt in Frankreich die Société des amis de Bergson gegründet und unter ihrem Dach in Deutschland ein Nachwuchsforscher-Netzwerk ins Leben gerufen wurde, so dass ich im Rahmen der Treffen dieses Netzwerks meine Bergson-Lektüre vorstellen 11 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

Vorwort

konnte. Ich danke den Teilnehmern all dieser Gruppen für Kritik und Nachfragen ebenso wie für Ermutigung und sachdienliche Hinweise. Mein besonderer Dank gilt Caterina Zanfi, die mich auf Rocco Ronchis Buch über Bergson als Interpretationsphilosophen aufmerksam gemacht, sowie Ugo Balzaretti, der meine Übersetzungen aus dem Italienischen durchgesehen und einige Verbesserungen vorgeschlagen hat. Im Hinblick auf die nun vorliegende Druckfassung möchte ich mich bedanken: bei den Mitarbeitern des Alber-Verlages für die keineswegs selbstverständliche Kombination von Engagement und Professionalität bei der Herstellung des Buches; beim Max Geldner-Dissertationenfonds für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses; bei Albrecht Kersten für die Anfertigung der Abbildungsvorlagen. Nicht möglich gewesen wäre die Fertigstellung dieser Untersuchung schließlich ohne die Unterstützung durch meine Frau Barbara. Ihr danke ich für die Nachsicht in all den Fällen, in denen ich über das Wir schrieb statt es zu praktizieren, vor allem aber für alle Gelegenheiten, in denen sich aus meinem Projekt ein gemeinsames Unternehmen machen ließ.

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Einleitung

Auch einer? Brauchen wir wirklich noch einen weiteren hermeneutischen Philosophen? Herrscht denn ein Mangel an philosophischen Texten über Ursprung, Wesen und Anwendung der Hermeneutik, der uns nötigen würde, einen Philosophen, dessen Denken nach gängiger Auffassung weit von aller Hermeneutik entfernt ist, unter Aufbietung von allerlei – wie man befürchten muss – zweifelhaften interpretatorischen Kunststücken dem hermeneutischen Philosophieren einzuverleiben? Wer so fragt, teilt vermutlich die Einschätzung Gianni Vattimos, die Hermeneutik stelle eine außerordentlich erfolgreiche philosophische Strömung dar, doch habe sie ihren Erfolg, ihre weite Verbreitung, ja ihr »allseitiges Vordringen« mit einer »Verwässerung« bezahlen müssen. Hermeneutik sei heute nur noch ein »diffuses Klima«; der Begriff werde nur noch in einem ganz allgemeinen Sinn gebraucht, der, weil er Alles und Alle einschließen soll, »keine präziseren Definitionen verträgt«; und über den spezifischen Gegenstandsbereich der Hermeneutik mache man sich schon längst keine Gedanken mehr, »weil sich die Vorstellung durchgesetzt hat, die Theorie der Interpretation könne gar nicht anders denn allgemein sein«. Das heißt: Weil nicht nur jede(r) dabei sein, sondern überdies auch noch besonders geschätzte Autoren früherer Epochen einschmuggeln will, verliert der Begriff »Hermeneutik« sein, verlieren aber auch die Autoren der philosophischen Tradition ihr eigentümliches Profil. Es wäre deshalb an der Zeit, sich, was die Hermeneutik angeht, wieder auf die »Achse Heidegger – Gadamer« zu konzentrieren und, was die nicht der Hermeneutik zuzurechnenden Autoren angeht, einzugestehen, dass es sich nicht um hermeneutische Philosophien handelt. 1 1

Vattimo[1997] 13–17 – Um Missverständnisse zu vermeiden, weise ich darauf hin,

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Einleitung

Aber es gibt auch andere Stimmen. So beklagt Ernst Behler, die philosophische Hermeneutik stelle »ihre eigene Geschichte immer als ein progressives Sinngeschehen« dar. Auf dieser Annahme fußend, habe sich »ein bestimmtes historisches Schema herausgebildet, demzufolge sich die Ausformung der neueren Hermeneutik in mehreren teleologisch aufeinander bezogenen Stufen oder Phasen vollzog«, die ihrerseits an einige ausgewählte Namen gebunden seien. Andere, im Hinblick auf das Konzept der Interpretation nicht weniger wichtige Autoren des späten 19. Jahrhunderts – Behler nennt Nietzsche und Freud als Beispiele – werden dagegen aus dem Entwicklungsschema ausgeschlossen, weil sie »die hier zugrundeliegende Metaphysik nicht teilten«, und bedeutsame Autoren aus der Epoche der Romantik – Behler verweist auf Friedrich Schlegel – können in diesem Schema bestenfalls »als Fußnote zu Schleiermacher untergebracht werden«. 2 Was bei Vattimo als Rückgang auf den Wesenskern erscheint, wertet Behler also als erst willkürlich konstruiertes, dann erstarrtes, als ausgrenzendes, dadurch aber notwendige Diskussionen und Einsichten verhinderndes Schema. Und auch dies wäre zu bedenken: Wenn wahr ist, was hermeneutische Theorien behaupten; wenn also das Bewusstsein sich nicht direkt, sondern nur auf dem Umweg über die von ihm geschaffenen Symbole erfassen kann: könnte es dann nicht sein, dass der beinahe grenzenlose Erfolg der Hermeneutik selbst ein solches Symbol ist? Ein Symbol für die Moderne als »hermeneutisches Zeitalter«? Ein Symbol, durch dessen Betrachtung – aber auch nur durch dessen Betrachtung – das moderne Bewusstsein sich über sich selbst aufklären könnte? Und wenn es sich so verhielte, wäre man dann nicht schlecht dass ich mich hier darauf beschränke, Vattimos Buch einige Formeln zu entnehmen, die man gegen das Projekt, Bergson als hermeneutischen Philosophen zu deuten, von vornherein und ganz grundsätzlich ins Feld führen könnte. Ich behaupte nicht, Vattimos Position unverkürzt widerzugeben. 2 Behler[1987] 144–145; Behler[1988] 158–159 – Um Behlers Einschätzung nicht misszuverstehen, sollte man berücksichtigen, dass wir – jedenfalls heute – den Begriff »Hermeneutik« in einem engeren Sinn, der den Blick im Grunde auf die Achse Schleiermacher – Dilthey – Heidegger – Gadamer beschränkt, und in einem weiteren Sinn, der Richtungen wie die Interpretationsphilosophie und die Dekonstruktion einschließt, verwenden können. – Vgl. Angehrn[2004] – Behler meint die Hermeneutik im engeren Sinne, wie schon der Titel »Nachwort: Dekonstruktion und Hermeneutik« klarmacht. Näher ausgeführt wird die These, dass Nietzsche in der Hermeneutik im engeren Sinne keine Rolle spielt, sie aber der Sache nach spielen müsste, in Hofmann[1994].

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Die These und das Projekt

beraten, dieses Symbol eines zweifelhaften Purismus wegen zu verschmähen? Wäre es nicht fruchtbarer, zu fragen, was die Stärke des hermeneutischen Impulses ausmacht, seine Ausbreitung ohne willkürliche Beschränkungen zu verfolgen, um so das moderne Bewusstsein sich selbst verständlich zu machen?

Die These und das Projekt Die Wurzeln des Projektes, dessen vorläufiges Endergebnis ich hier vorlege, reichen zurück in eine Zeit, in der man bestenfalls auf einen fragenden Blick oder ein verständnisloses Kopfschütteln hoffen durfte, wenn man im Bereich akademischen Philosophierens zu Protokoll gab, man halte die Lebensphilosophie 3 für eine ernstzunehmende und durchaus zeitgemäße philosophische Strömung. In Frankreich hatte 3 Der Begriff Lebensphilosophie bezeichnet hier – wie heute in philosophiegeschichtlichen Darstellungen üblich – eine Denkrichtung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, deren Kern das Dreigestirn Nietzsche – Dilthey – Bergson bildet und zu der weiterhin insbesondere Simmel, Spengler und Klages gerechnet werden. Allerdings ist diese Denkrichtung selbst für den, der nicht glaubt, in der Geschichte klar abgrenzbaren Entitäten zu begegnen, durch eine überraschende Unschärfe charakterisiert. Das liegt zum geringeren Teil daran, dass sie Vorläufer (insbesondere die Philosophie Schopenhauers) und Nachfolger (Philosophische Anthropologie, Existenzialismus, Kritische Theorie) hat. Zum größeren Teil liegt es daran, dass lebensphilosophische Denkmotive auch bei vielen Autoren prägend sind, die gar nicht den Anspruch erheben, Philosophen zu sein. Leicht zu erkennen ist etwa die Verwandtschaft der Lebensphilosophie mit dem Vitalismus Drieschs, dem Energetismus Ostwalds, der Psychoanalyse Freuds. Man kann, um solche Verwandtschaft zu erklären, entweder annehmen, dass lebensphilosophische Denkmotive in einzelne Wissenschaften (Biologie, Physik, Psychologie, Geschichte, Ästhetik) hineingetragen wurden, oder aber – was ich persönlich vorziehe – davon ausgehen, dass die Lebensphilosophie mit den Wissenschaften ihrer Zeit in engem Kontakt steht, deren Probleme aufgreift, in den einzelnen Problemen einen gemeinsamen Nenner erkennt und versucht, diesen auf den Begriff zu bringen. Jedenfalls führte die Offenheit für verschiedenartigste Probleme der Zeit dazu, dass man sich lange nicht auf eine zufriedenstellende Bezeichnung für die Denkrichtung einigen konnte. So spricht Hamann[1907], ausgehend von der zeitgenössischen Kunst, von einer »Philosophie des Impressionismus«, Goldstein [1911] vom »Irrationalismus« (womit bei ihm keine negative Wertung verbunden ist), und noch Rickert[1920] sieht sich veranlasst, die Bezeichnung »Philosophie des Lebens« zu rechtfertigen. Die von der Vielzahl der Bezugspunkte ausgehende Irritation wirkt sich bis heute in Gestalt der These aus, dass innerhalb der Lebensphilosophie eine naturphilosophisch-vitalistische und eine historisch-hermeneutische Richtung zu unterscheiden seien. Diese These halte ich nicht für hilfreich. Ich ersetze sie hier durch das Konzept eines allgemeinen – also insbesondere in Natur und Ge-

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Einleitung

Georges Politzer bereits in seinem 1929 erstmals erschienenen Buch La fin d’une parade: le bergsonisme aus der Sicht des phänomenologischen Existenzialismus mit Bergson abgerechnet. 4 In Deutschland hatte Georg Lukács 1954 unter dem Titel »Die Zerstörung der Vernunft« gegen die gesamte Lebensphilosophie sowie deren Vorund Ausläufer den Vorwurf des Irrationalismus und der Vorbereitung des Faschismus gerichtet. Und nach dem Abebben der existenzialistischen Mode bildete sich eine unheilige Allianz zwischen »östlichen«, marxistischen Positionen, von denen aus der Lebensphilosophie Irrationalismus in Gestalt des Individualismus und Vitalismus vorgeworfen wurde, und »westlichen«, vor allem sprachanalytischen Positionen, die eine vermeintliche Sprachvergessenheit, ja Sprachfeindschaft der Lebensphilosophie beanstandeten. Als unheilig erschien und erscheint mir diese Allianz, weil ihr Zweck nicht darin bestand, durch eine kritische Lektüre das immer noch Aktuelle vom Überholten zu trennen, sondern vielmehr darin, sich unter Berufung auf Politzer und Lukács die Lektüre der lebensphilosophischen Texte zu ersparen. Freilich gab es vereinzelte Ausnahmen. Hinweisen möchte ich bereits an dieser Stelle auf Herbert Schnädelbach und Ferdinand Fellmann, die mir in jener frühen Zeit der Beschäftigung mit lebensphilosophischen Autoren als Begleiter und Führer gedient und die meine Sicht der Lebensphilosophie so grundsätzlich geprägt haben, dass sich das oft gar nicht mehr durch Zitate dokumentieren lässt. Schnädelbach hatte sich im Zusammenhang der Ausarbeitung einer Philosophiegeschichte des 19. Jahrhunderts genötigt gesehen, die Lebensphilosophie zu berücksichtigen. Den zu simplen »Etikettierungen« hielt er die Frage entgegen: »Warum ist ›Irrationalismus‹ ein Vorwurf? Könnte er nicht die Wahrheit sein?« 5. Fellmann, weniger polemisch veranlagt, tastete sich langsam und vorsichtig an eine zeitgemäße Reformulierung der Lebensphilosophie heran. 1991 publizierte er sein Buch »Symbolischer Pragmatismus. Hermeneutik nach Dilthey«, in dem er sein Interesse für die Lebensphilosophie überhaupt noch hinter der Beschränkung auf Dilthey versteckte. 1993 folgte,

schichte gleichermaßen anzutreffenden – Dynamismus sowie die These, dass sich jede Lebensphilosophie im Spannungsfeld von Natur und Geschichte bewegt. 4 Spätere Auflagen erschienen auch unter dem Titel: Le bergsonisme – une mystification philosophique. 5 Schnädelbach[1983] 174

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Die These und das Projekt

nachdem dieser Versuchsballon 6 keine schwerwiegenden Proteste hervorgerufen hatte, »Lebensphilosophie. Elemente einer Theorie der Selbsterfahrung« als Einführung in die gesamte Lebensphilosophie. Nun führte freilich eine genauere Beobachtung zu dem überraschenden Ergebnis, dass lebensphilosophische Autoren gar nicht so selten gelesen wurden, wie es zunächst scheinen mochte. Gewiss: Als Lebensphilosophen las man sie nur vereinzelt. Zumindest einige von ihnen aber wurden häufig, ja geradezu regelmäßig gelesen, und zwar als hermeneutische Philosophen. Das galt und gilt insbesondere für Wilhelm Dilthey, an dessen Status als Klassiker der Hermeneutik Fellmann angeknüpft hatte. War man bereit, nicht nur die Hermeneutik im engeren Sinne (Heidegger, Gadamer), sondern auch die postmoderne oder poststrukturalistische Dekonstruktion zu einer Hermeneutik im weiteren Sinne zu rechnen 7, dann konnte man weiterhin feststellen, dass auch Friedrich Nietzsche als klassischer Vertreter einer Philosophie der Interpretation sich einer häufigen Lektüre erfreute. Und war man überdies bereit, Vorstöße in Unübliches zu berücksichtigen, so konnte man etwa auf Paul Ricœur verweisen, der 1965 Sigmund Freud als Klassiker der psychoanalytischen, damit aber auch einer Hermeneutik überhaupt dargestellt hatte. 8 Aus dieser Bestandsaufnahme ergab sich zunächst einmal, dass die Hermeneutik keine so einfache und einheitliche Sache ist, wie dies etwa Vattimos Forderung, sich auf die wenigen anerkannten Klassiker zu beschränken, um der Hermeneutik wieder ein scharfes Profil zu geben, unterstellt. Zu allen Zeiten hat es verschiedene Formen des Interpretierens, Deutens und Auslegens gegeben, die trotz ihrer – jedenfalls im Rückblick erkennbaren – Verwandtschaft nichts voneinander wussten oder nichts voneinander wissen wollten, und die sich deshalb weitgehend unabhängig voneinander entwickelt haben. Diese verschiedenartigen Tendenzen innerhalb der hermeneutischen Gesamtbewegung berufen sich auf ganz unterschiedliche Klassiker, so dass die ausschließliche Anerkennung der – wenn man so sagen darf –

Oder jedenfalls: So erschien es mir damals. Heute würde ich sagen – und dokumentiere das ja auch in den nachfolgenden Kapiteln durch zahlreiche Bezugnahmen –, dass Fellmann[1991] das gehaltvollere und wichtigere Buch ist. 7 Vgl. dazu Angehrn[2004]. 8 Ricœur[1993] 6

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Einleitung

von einer einzelnen Sekte verehrten Heiligen als willkürlich erscheinen muss. Aus dieser Bestandsaufnahme ergab sich aber noch eine ganz andere Frage: Wenn der Lebensphilosoph Wilhelm Dilthey unbestreitbar eine hermeneutische Philosophie entworfen hat; wenn weithin anerkannt ist, dass der Lebensphilosoph Friedrich Nietzsche eine Philosophie der Interpretation bietet; wenn der Soziologe und Lebensphilosoph Georg Simmel sich – teilweise in Anlehnung an Henri Bergson – mit der Ausarbeitung einer verstehenden Soziologie beschäftigt hat; wenn sich zeigen lässt, dass der mit der Lebensphilosophie in engem Kontakt stehende Psychoanalytiker Sigmund Freud sich auf eine hermeneutische Praxis und eine diese begründende Theorie stützt; wenn der Lebensphilosoph Ludwig Klages eine Graphologie und eine Ausdruckslehre entwickelt hat, die manche Interpreten mit der hermeneutischen Praxis und der hermeneutischen Grundlagentheorie der Psychoanalyse vergleichen; wenn neuerdings sogar bei den Vorläufern der eigentlichen Lebensphilosophie – insbesondere bei Arthur Schopenhauer – hermeneutische Aspekte aufgedeckt werden; und wenn man schließlich das Gefühl hat, dass man diese Aufzählung noch beliebig lange fortsetzen könnte – könnte all dies nicht daran liegen, dass schlicht jede Lebensphilosophie eine mehr oder weniger umfangreiche hermeneutische Komponente aufweist? Diese zunächst nur als Verdacht aufgetauchte und versuchsweise ins Gespräch gebrachte Frage hielt den ersten Prüfungen stand und verwandelte sich aus einer Frage immer mehr in eine These: Nicht dieser oder jener Lebensphilosoph hat zufälligerweise auch eine Hermeneutik entwickelt; vielmehr muss jede Lebensphilosophie notwendigerweise eine hermeneutische Komponente enthalten. Diese These bildete den Anfang meines Forschungsprojekts. Die Verwandlung der Frage in eine These war freilich nicht die einzige Veränderung, die sich vollzog. Setzt man die These als Anfang des Forschungsprojekts in Bezug zu dem, was ich als dessen Wurzel bezeichnet habe, so wird deutlich, dass die These zunächst einen starken polemischen Akzent aufwies. Mein fundamentales Interesse bestand ja darin, die Lebensphilosophie zu rehabilitieren, und dies sollte nun konkret dadurch geschehen, dass die Position ihrer Verächter als inkonsistent aufgewiesen wurde: einerseits ignorieren sie die Lebensphilosophie und raten davon ab, die Texte lebensphilosophischer Autoren zu lesen, andererseits vertreten sie häufig eine hermeneutische Philosophie und empfehlen die gleichen Texte der 18 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

Die These und das Projekt

gleichen Autoren als »hermeneutische Klassiker«. Diese polemische Ausrichtung der These konnte ich in dem Maße aufgeben, in dem in der jüngsten Vergangenheit ohnehin eine Rehabilitation der Lebensphilosophie 9 vollzogen wurde und Ideen, die noch vor wenigen Jahrzehnten nicht einmal als diskussionswürdig gegolten hätten, aufgrund neuerer Forschungsansätze oder Forschungsergebnisse diskussionsfähig geworden sind. 10 Freilich: Mit dem Verschwinden des polemischen Akzents verschwand die Frage als solche keineswegs. Sie bleibt auch unter den derzeitigen Bedingungen von Interesse. Eine dritte Veränderung schließlich betrifft die Transformation der ursprünglichen These in das Thema der vorliegenden Untersuchung. Es stellte sich schnell heraus, dass der Plan, unverzüglich die These in ihrem ganzen Umfang auszuarbeiten und zu belegen, nicht durchführbar war, weil die notwendigen Voraussetzungen fehlten. Nicht nur gibt es über die hermeneutisch relevanten Aspekte in den Lehren einiger Lebensphilosophen viele, anderer Lebensphilosophen wenige, noch anderer Lebensphilosophen gar keine Publikationen. Schlimmer noch: Das, was die Autoren der in diesem Zusammenhang relevanten Publikationen unter »Hermeneutik« verstehen, ist so disparat, dass jeder Versuch, diese Einzelergebnisse zu einer Gesamtsicht zusammenzufügen, zum Scheitern verurteilt ist. Ich musste mich also entschließen, nur einen Teilaspekt des Themas zu bearbeiten, und ich musste einen Teilaspekt finden, dessen Untersuchung zugleich die Materialbasis für die Plausibilisierung der globalen These spürbar verbessern würde. So fiel zunächst einmal die Grundsatzentscheidung, den schwierigsten Vertreter der Lebensphilosophie zum Thema der Untersuchung zu machen, und es war dann schnell klar, dass – jedenfalls, wenn man nach dem Zusammenhang von Lebensphilosophie und Hermeneutik fragt – dieser »Ehrentitel« Henri Bergson gebührt. Nicht genug damit, dass das Stichwort »Hermeneutik« im gängigen

Vgl. den Überblick bei Große[2006]. Ich denke etwa an den Begriff der Einfühlung, der heute nicht nur (als Empathie) in der Philosophie diskutiert wird, sondern aufgrund der Entdeckung der Spiegelneuronen sogar zu einem Gegenstand intensiver wissenschaftlicher Forschung geworden ist (vgl. Rizzolatti/Sinigaglia[2008]). Oder auch an den Gedanken einer Hintergehbarkeit der Sprache, die auf eine vorsprachliche Basis des Sprechens führt. Auch er wird heute in der Philosophie ebenso diskutiert wie in verschiedenen Wissenschaften (vgl. etwa Tomasello[2008]).

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Einleitung

Bergson-Verständnis nicht vorkommt; es gibt sogar Interpreten, die sich die Mühe gemacht haben, nachzuweisen, dass es so etwas wie Hermeneutik in Bergsons Denken gar nicht geben kann. Bergsons Philosophie also als gallisches Dorf, das erbitterten Widerstand leistet gegen die sonst überall siegreiche These vom hermeneutischen Charakter der Lebensphilosophie? Offenkundig war es diese Frage, die am dringendsten eine Prüfung verlangte.

Hindernisse Fassen wir die Schwierigkeiten, auf die man stößt, wenn man versucht, in Bergsons Philosophie eine Verbindung zur Hermeneutik zu entdecken, genauer ins Auge, so ist mit einem unbestreitbaren Faktum zu beginnen: Das Wort »Hermeneutik« kommt in den Texten Bergsons nicht vor. 11 Nun ist das an sich weder ungewöhnlich, noch ist es ein Befund, der das Projekt als von Anfang an aussichtslos erscheinen lassen müsste. Einerseits nämlich hat man darauf hingewiesen, dass selbst bei anerkannten Klassikern der philosophischen Hermeneutik – etwa bei Wilhelm Dilthey – der Begriff Hermeneutik »gar keine zentrale Rolle« spielt. 12 Andererseits hat man auch bei anderen Philosophen, die den Begriff nicht verwenden, – etwa bei Maurice Merleau-Ponty – zeigen können, dass sie sehr wohl mit der Sache beschäftigt sind. 13 Im Falle Bergsons freilich hat das Fehlen des Begriffs dazu geführt, dass allerlei allgemeine Erwägungen, die man unter anderen Bedingungen als vage Vermutungen oder Vorurteile eingestuft hätte, den Gesamteindruck nachhaltig prägen konnten. (1) Verschiedene Autoren haben auf Indizien aufmerksam gemacht, die es zweifelhaft erscheinen lassen, dass Bergsons Philosophie sich mit hermeneutischem Denken verträgt. Diese lassen sich Selbstverständlich ist herméneutique nicht das einzige Wort, nach dem man suchen kann, aber es ist das einzige, das sofort einen klaren Befund liefern würde. Ob bei Bergson häufig vorkommende Worte wie comprendre, interpréter, sympathie als Indizien für hermeneutisches Denken gewertet werden dürfen oder nur in einem vagen umgangssprachlichen Sinn gebraucht werden, ist dagegen erst im Laufe der Untersuchung zu klären. 12 Jung(M)[2002] 72; ähnlich Jung(M)[1996] 7 f. 13 Ich beziehe mich hier auf das unpublizierte Manuskript einer von Emil Angehrn im Wintersemester 2005/06 gehaltenen Vorlesung. Ähnlich aber auch Angehrn[2010] 96 ff. 11

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Hindernisse

in zwei Gruppen einteilen, nämlich in solche, die Bergsons Umfeld, und solche, die Bergsons eigene Lehre betreffen. Was Bergsons Umfeld angeht, so hat etwa Georges Gusdorf darauf hingewiesen, dass Hermeneutik zwar seit Jahrhunderten an deutschen protestantischen Hochschulen gelehrt wird, dass aber genau dieser Umstand im katholischen Frankreich zu erheblichen Vorbehalten führen musste. 14 Der nationale Gegensatz zwischen Deutschland und Frankreich verband sich also, dieser historischen These gemäß, mit dem konfessionellen Gegensatz zwischen Protestantismus und Katholizismus, und die Verbindung führte dazu, dass die als deutsch-protestantisch wahrgenommene Hermeneutik im katholischen Frankreich nicht Fuß fassen konnte. Andere Autoren verweisen auf ähnlich tiefe Gräben, die im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften sowie der Philosophie verlaufen. Insbesondere wird der besondere Stellenwert der Geschichte als typisch deutsch und wenig französisch bewertet. Daraus resultieren dann Argumentationsverläufe, für die ich hier einen Aufsatz von Denis Thouard als Beispiel anführen möchte: Thouards Thema ist die Bedeutung der Hermeneutik in Diltheys Philosophie. Dabei stützt er sich auf einen recht allgemeinen Hermeneutikbegriff, der Raum auch für andere Konzeptionen als diejenige Diltheys zu lassen scheint. Am Ende des Aufsatzes blitzt denn auch die Frage nach möglichen Gemeinsamkeiten zwischen Dilthey und Bergson auf, doch wird sie im Keim erstickt: Zu verschieden seien die intellektuellen Situationen in Deutschland und in Frankreich, und es habe deshalb gar keinen Sinn, nach Verbindungen zu fragen. 15 Ganz ähnlich verhält es sich mit den Hinweisen auf Aspekte in Bergsons eigener Lehre, die gegen Verbindungen zum hermeneutischen Denken zu sprechen scheinen. Argumentiert wird zum einen, dass die Hermeneutik als Methode bzw. als Grundlegung der Geschichte sowie der Geistes- und Sozialwissenschaften zu betrachten ist, während Bergsons Interesse der Mathematik und den Naturwissenschaften galt. Zum anderen wird geltend gemacht, dass Herme[…] l’herméneutique est enseignée, en tant que discipline, depuis des siècles, dans les universités protestantes. Ce passé confessionnel fait écran à la connaissance dans le domaine culturel français, polarisé par les traditions du catholicisme, qui n’étaient pas favorables à une discipline coupable de pactiser avec l’hérésie. – Gusdorf[1988] 19 15 La situation épistémologique de Dilthey est bien différente de celle que présente la France. C’est pourquoi il y a peu de sens à le rapprocher, au nom des « philosophies de la vie », de Bergson. – Thouard[2004] 183 14

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Einleitung

neutik unauflöslich an Sprache – oder zumindest doch an die Verwendung von Symbolsystemen – gekoppelt ist, während sämtliche Werke Bergsons eine Abwertung der Sprache und ein Streben nach unmittelbarer, intuitiver Erkenntnis zeigen. Wie aber soll aus einer Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften, die in das Konzept einer intuitiven Erkenntnis mündet, eine Hermeneutik entspringen? Kurz: Auch mit diesen Hinweisen soll suggeriert werden, dass hermeneutische Fragestellungen »gänzlich außerhalb von Bergsons Horizont liegen« 16. Bergson hätte den Effekt all dieser Äußerungen als »Entmutigung« bezeichnet. Gleich neben die von Politzer und Lukács errichteten Schilder, die vor Irrationalismus warnen, stellen die hier beispielhaft genannten Interpreten weitere Schilder, die jedem an Hermeneutik Interessierten mitteilen, dass sich die Mühe schlicht nicht lohnt. Man möge anderswo suchen, nicht hier. Eine Untersuchung, die den hermeneutischen Charakter von Bergsons Philosophie nachweisen möchte, muss sich also zwar zum Teil mit sachlichen Argumenten, zu einem nicht unbeträchtlichen Teil aber auch mit dem diffusen und unreflektierten Eindruck von Aussichtslosigkeit auseinandersetzen. (2) Bei der Betrachtung jener »Warnschilder« zeichnet sich aber noch eine zweite Schwierigkeit ab. Zunächst tritt sie in Gestalt der Frage auf, was für eine Art von Hermeneutik denn da als bei Bergson unmöglich erklärt wird. Die Hindernisse wären ja schnell aus dem Weg geräumt, wenn sich zeigen ließe, dass die Zweifler einen sehr engen Begriff von Hermeneutik vertreten. Aber genau das ist nicht der Fall. Für Denis Thouard ist die Interpretation ein Verfahren, bei dem wahrnehmbare Erscheinungen als Realitäten zweiter Ordnung auf eine Realität erster Ordnung bezogen werden. 17 Georges Gusdorf erörtert zwar ausführlich die Tradition der Texthermeneutik, betrachtet aber außerdem das an Biologie und Naturphilosophie orientierte Organismusdenken als hermeneutisch relevant. 18 Allenfalls ließe sich Vgl. Kap. 3, Anm. 111. Le recours à l’interprétation permet d’articuler deux ordres ontologiques distincts et cependant reliés secrètement, puisqu’on n’accède au second qu’à travers le premier. – Die Weite dieses Ansatzes wird deutlich, wenn Thouard hinzufügt: Depuis le romantisme il n’a pas manqué de candidats pour nommer cet au-delà des apparences, entre l’inconscient et le rêve, le vouloir-vivre schopenhauerien, le mythe, l’âme collective, la nation, ou la vie. – Thouard[2004] 172 18 Gusdorf[1988] 343 ff. 16 17

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Vorgänger und Begleiter

fragen, ob die Erweiterung des Hermeneutikbegriffs immer konsequent durchgeführt wird: Ist die Hermeneutik, die den biologischen Organismusbegriff aufgenommen hat, noch diejenige, die seit Jahrhunderten an deutschen protestantischen Universitäten gelehrt wurde? Stößt sie immer noch auf die gleichen Vorbehalte? Die vorliegende Untersuchung hat die hier auftretenden Fragen aufzunehmen und in eine allgemeinere Form zu bringen: Wenn man sich nicht an Bergsons Texte halten kann, woran soll man sich dann halten, um die Bedeutung des Begriffs »Hermeneutik« zu klären? Woher will man einen Bezugspunkt nehmen, im Hinblick auf den sich entscheiden lässt, ob – ja oder nein – Bergsons Philosophie das Attribut »hermeneutisch« verdient? Dabei scheint man nur die Wahl zwischen zwei gleichermaßen unbefriedigenden Strategien zu haben. Die erste Strategie würde darin bestehen, eine vorliegende Gestalt hermeneutischen Philosophierens zum Maßstab zu machen. Warum das unbefriedigend ist, zeigt beispielhaft der Titel eines Aufsatzes, in dem Ernst Troeltsch an Hans-Georg Gadamer gemessen wird: »Troeltschs Kultursynthese als halbierte Hermeneutik« 19. Wenn man einen Philosophen A zum Maßstab macht, dann kann Philosoph B nur als unbefriedigende Vorform oder Nachbildung erscheinen. Die zweite Strategie würde darin bestehen, aus den Texten von Philosoph B selbst einen Hermeneutikbegriff zu entwickeln. Diese Strategie wäre aber nicht nur unbefriedigend, sondern letztlich tautologisch, weil sie dem Interpreten erlaubt, im ersten Schritt genau den Begriff von Hermeneutik zu entwerfen, der ihm im zweiten Schritt eine positive Beantwortung der Leitfrage ermöglicht.

Vorgänger und Begleiter Wenn unter den Interpreten bisher die Auffassung vorherrschte, Bergsons Philosophie könne keine hermeneutische sein, die vorliegende Untersuchung aber zeigen will, dass diese Einschätzung falsch ist, – wie soll sie sich dann gegenüber der bisherigen Bergson-Forschung positionieren? Muss sie bei Null beginnen? Muss sie alles Bisherige ignorieren oder gar 100 Jahre Bergson-Forschung für völlig verfehlt erklären und den Anspruch erheben, endlich zu zeigen, wie Bergson wirklich zu lesen sei? 19

Przylebski[2006]

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Einleitung

Glücklicherweise ist das nicht notwendig. Untersucht man die bisherige Bergson-Rezeption, soweit sie schriftlich dokumentiert ist, dann stößt man insbesondere auf drei Gruppen von Texten, die im Hinblick auf das Thema der vorliegenden Untersuchung relevant sind. Ich möchte sie mit den Stichworten Fragmente, produktive Fortsetzungen und hermeneutische Interpretationen bezeichnen. Die Gruppe der Fragmente ist mit Abstand die größte. Ich fasse in ihr alle Fälle zusammen, in denen ein Autor – meist nebenbei und mit wenigen Sätzen – etwas geäußert hat, was als Unterstützung für meine These vom hermeneutischen Charakter der Philosophie Bergsons herangezogen werden kann. Wie bei einer so umfangreichen Gruppe von Belegen nicht anders zu erwarten, ergibt sich noch eine Binnendifferenzierung. Ohne zu sehr ins Detail zu gehen, muss man doch zumindest zwischen summarischen Eindrücken und isolierten Fakten unterscheiden. Was die Bezeichnung summarische Eindrücke bedeuten soll, mag das folgende Beispiel verdeutlichen: »Es gab mindestens zwei weitere Richtungen, in denen Bergsons Philosophie als Übergang dienen konnte. Die Betonung der Dauer – der radikalen Inkompatibilität zwischen der Methode der Naturwissenschaft und der Methode der intuitiven Sympathie bzw. des inneren Verstehens – führte direkt auf das Problem der historischen Erkenntnis. Was die Deutschen Verstehen nannten, was Croce den ›Blitzstrahl‹ des historischen Verständnisses nannte – all das war implizit in Bergsons Metaphysik enthalten. Allerdings wählten nur wenige praktizierende Historiker oder Soziologen den über Bergson führenden Weg. Eine noch engere Verbindung ließe sich zu Freuds Theorie der Psychoanalyse entdecken: Was Bergson als die tieferen Schichten des Bewusstseins erörterte, für die die Logik des Raums und der Zahl nicht galt, bezeichnete Freud präziser als das Unbewusste. Und indem er dies tat, erschloss er einen Bereich des Wissens, in den Bergson nur einen kurzen Blick geworfen hatte. Das neue Verständnis von Gedächtnis und Gewohnheit, das Péguy als eine von Bergsons ›unwiderruflichen Errungenschaften‹ gefeiert hatte, war in Wahrheit nicht mehr als ein Blick aus der Ferne gewesen. Die wirkliche Errungenschaft war diejenige Freuds.« 20 There were at least two other directions in which Bergson’s philosophy could serve as a transition. The emphasis on duration – on the radical incompatibility between the method of natural science and the method of intuitive sympathy or inner understanding – led directly into the problem of historical knowledge. What the Germans called Verstehen, what Croce called the ›lightning-flash‹ of historical comprehension – these things were implicit in Bergsonian metaphysics. But few practicing historians or students of society chose to come to them via the Bergsonian route. An even closer affiliation might logically be found to the Freudian theory of psychoanalysis: what Bergson referred to as the deeper layers of consciousness, in which the logic of space 20

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Vorgänger und Begleiter

Ich bezeichne derartige Äußerungen als summarische Eindrücke, weil sie zwar eine allgemeine Einschätzung bieten, aber nicht angeben, worauf sich die Einschätzung stützt. Im ersten Teil der zitierten Passage erfährt man weder, wer »die Deutschen« sind, auf die Hughes sich bezieht, noch, in welchen Begriffen oder Thesen Bergsons das Konzept des Verstehens »implizit enthalten« ist. Im zweiten Teil wird zwar Freud als Bezugspunkt genannt, aber wiederum bleibt ungewiss, auf welcher Textbasis die Aussagen über das Unbewusste bei Bergson beruhen. Kurz: Solche summarischen Einschätzungen sind zwar für das Thema der Untersuchung bedeutsam, insofern sie zeigen, dass der Eindruck, bei Bergson gebe es keinerlei Affinität zur Hermeneutik, nicht allgemein geteilt wird; zugleich sind sie aber weitestgehend wertlos, weil sie keine überprüfbaren Belege bieten. Genau umgekehrt verhält es sich bei den isolierten Fakten. Wenn Günther Pflug darauf hinweist, dass Bergsons Denkweg – wie derjenige Diltheys – mit einer »beschreibenden Psychologie« beginnt 21, oder Douglas Collins die Ansicht vertritt, dass der »Biograph« Sartre den Gedanken, Verstehen gründe sich auf Sympathie, vermutlich von Bergson übernommen hat 22, so sind das wertvolle Tatsachen, deren Bedeutung aber unbestimmt bleibt, solange sie nicht in ein Gesamtbild von Bergsons hermeneutischer Philosophie eingeordnet werden. and number did not apply, Freud more precisely termed the unconscious. And in so doing, Freud opened up a realm of knowledge into which Bergson had merely peeped. The new understanding of memory and habit that Péguy had hailed as one of Bergson’s ›irreversible conquests‹ had in reality been no more than a glimpse from afar: the actual conquest was Freud’s. – Hughes[2008] 124 21 »Die Nachbarschaft zu Diltheys beschreibender Psychologie ist bisher noch niemals herausgearbeitet worden. Die Form Diltheyscher Argumentation gegen eine positivistische Psychologie deckt sich völlig mit der Bergsonschen: die gleichen Vorwürfe mangelnden Realbezuges, der gleiche Versuch einer Überwindung der positivistischen Einseitigkeiten durch eine Rekursion auf ein vorlogisches Unmittelbares, das bei Dilthey als unmittelbares Erleben auftritt.« – Pflug[1959] 45 22 Although it is a tradition to begin an account of the formative influences on Sartre with the impact of Edmund Husserl, a study of Sartre as biographer must take into account the influence of Bergson which predates that of Husserl. […] Bergson believed that personality has a unity which must be grasped through intuition or »sympathy,« if one is to arrive at a lived and indivisible apprehension rather than at an enumeration of qualities. […] That the influence of Bergson’s methodology continues to be evident in the biographical method of the late Sartre is clear from his remark in the Genet biography, entitled Saint Genet (1952), »Let’s try to understand, that is to say, to sympathize.« – Collins[1980] 9–10

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Einleitung

Nichts ist bezeichnender für den »Stand der Forschung« als diese Fragmente. Man kann, wenn man sich ernsthaft auf die Suche begibt, leicht mehrere Hundert solcher Hinweise zusammentragen, aber man stellt dann regelmäßig fest, dass die Autoren, die sie anführen, ihnen nicht weiter nachgehen. Tatsachen, die eine Verbindung Bergsons zum hermeneutischen Philosophieren nahelegen, scheinen sich also geradezu aufzudrängen. Offenkundig verstellt aber, wann immer dies geschieht, das Vorurteil, Bergsons Philosophie könne ja gar keine hermeneutische sein, warnend und entmutigend den Weg, so dass die Autoren kehrtmachen und ihre Entdeckungen ungenutzt liegen lassen. Eine zweite Gruppe relevanter Texte umfasst die produktiven Fortsetzungen Bergsons. So bezeichne ich Texte von Denkern, denen es nie primär darum ging, Bergson zu interpretieren, die aber bei der Verfolgung ihrer eigenen Projekte – im Umfeld von Hermeneutik, Geschichte, Geistes- oder Sozialwissenschaften – von Bergson stammende Anregungen hilfreich fanden. Dass das überhaupt vorkam, ist ja an sich schon ein starkes Argument gegen die These von der Hermeneutikferne der Philosophie Bergsons. Näherhin lässt sich dann untersuchen, welche Gedanken Bergsons solche Fortsetzer interessant fanden. Schließlich ist es – bei aller methodischen Trennung zwischen den von Bergson stammenden Anregungen und den weiterführenden Überlegungen seiner Leser – gelegentlich auch von Interesse, herauszufinden, in welcher Weise Gedanken, die bei Bergson selbst gewissen Beschränkungen unterliegen, weiterentwickelt werden können, ohne sie zu verformen. Als Beispiele für solche Fortsetzer möchte ich aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Georg Simmel, Ernst Troeltsch und Alfred Schütz, aus der zweiten Hälfte Paul Ricœur nennen. Simmel 23 hat unter Rückgriff auf Bergson eine Theorie des historischen Verstehens, Troeltsch 24 eine Theorie historischer Entwicklung vorgelegt. Diese beiden Fortsetzungen sind insofern von besonderem Interesse, als man gemeinhin annimmt, Bergson habe sich nie mit Geschichte befasst. Schütz 25 hat versucht, Bergsons Philosophie als Grundlage

Zu Simmels Bergson-Rezeption vgl. Fitzi[2002], zu Bergsons Einfluss auf Simmels Konzeption des Verstehens Jung(W)[1990] 111 ff. 24 Vgl. insbesondere Troeltsch[1977] 632 ff. 25 Vgl. Schütz[2006] 23

26 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

Vorgänger und Begleiter

für die Methode einer verstehenden Soziologie zu nutzen. 26 Ricœurs Bergson-Rezeption ist so phasen- und windungsreich wie sein gesamter Denkweg. Gleichwohl lässt sich sagen, dass Bergson in allen Phasen als Bezugspunkt diente und dass umgekehrt Ricœurs Bemühung um eine zeitgemäße hermeneutische Philosophie zahlreiche Aspekte hermeneutischen Denkens bei Bergson sichtbar macht, die ansonsten verborgen blieben. 27 Schließlich gibt es eine kleine Gruppe von hermeneutischen Bergson-Interpretationen. Diese verkürzte und daher ambivalente Formel soll besagen, dass einige Interpreten bereits in mehr oder weniger ausführlichen Publikationen die These vom hermeneutischen Charakter der Philosophie Bergsons vertreten haben. In erster Linie ist hier Rocco Ronchi zu nennen, der in Bergsons Texten eine »Philosophie der Interpretation« findet. 28 Da Ronchi sich auf Vorarbeiten von Jean Hyppolite 29 stützt und seine Thesen von Kristian Bankov 30 aufgegriffen werden, hat man es hier mit dem äußerst seltenen Fall zu tun, dass mehrere für die vorliegende Arbeit bedeutsame Autoren bereits von sich aus durch einen Diskussionsstrang verbunden sind. Ich werde deshalb gelegentlich die Bezeichnung Hyppolite-RonchiBankov-Hypothese verwenden. Abseits steht Richard L. Brougham 31, der unabhängig von den zuvor genannten Interpreten die These einer »ontologischen Hermeneutik« bei Bergson entwickelt hatte, von Ronchi und Bankov aber nicht rezipiert wurde. Abseits steht – in diesem Sinne – auch der Versuch Paul Ricœurs 32, Bergson für die Ausarbeitung einer »Hermeneutik der conditio historica« nutzbar zu machen.

Eine systematische Untersuchung der Beziehungen zwischen Bergson und deutschen Denkern im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts bietet Zanfi[2014]. 27 In den frühen Werken finden sich zahlreiche Bezugnahmen, die den Einfluss Bergsons auf Ricœurs hermeneutisches Denken belegen. Vgl. etwa Ricœur[2002a] 85 f., Ricœur[2002b] 66 f. – Zum späten Ricœur vgl. Anm. 32. 28 Zu Ronchi vgl. Abschnitt 4.2.3, S. 506. 29 Zu Hyppolite vgl. Abschnitt 4.2.2, S. 483. 30 Bankov[2000] 31 Brougham[1993] 32 Ricœur[2001] – Vgl. dazu Thirion[2002]. 26

27 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

Einleitung

Ziele der Untersuchung Ich habe im Vorhergehenden den Weg von der allgemeinen Ausgangsthese (Jede Lebensphilosophie benötigt eine Hermeneutik) zur eingeschränkten Aufgabe dieser Untersuchung (Nachweis einer Hermeneutik in Bergsons Philosophie) skizziert. Nachdem nun geklärt ist, dass wir uns auf Vorgänger berufen und auf Begleiter hoffen dürfen, lassen sich die Ziele der Untersuchung präzisieren: (1) Es ist in Untersuchungen wie dieser üblich, mit einem Überblick über den Stand der Forschung zu beginnen, die Desiderate zu benennen und anzugeben, welche weißen Flecken man wie zu beseitigen gedenkt. Im vorliegenden Fall ist das allerdings nicht möglich, weil es gar keinen »Stand der Forschung« gibt. Sieht man von seltenen Ausnahmen (wie dem Dreigestirn Hyppolite–Ronchi–Bankov) ab, so erweist sich das, was ich unter der optimistischen Überschrift »Vorgänger und Begleiter« zusammengefasst habe, als unstrukturierte Mannigfaltigkeit von Beobachtungen, Ideen und Meinungen, als eine Vielzahl von Fragmenten, die nie ein Ganzes waren. Wenn man also einen »Stand der Forschung« darstellen möchte, dann muss man erst einmal eine Perspektive erarbeiten, von der aus die unübersichtliche Fülle des Materials als Stand einer Forschung, als Zwischenstand eines Forschungsprojekts erscheinen kann. Einen solchen Standpunkt zu gewinnen, muss demnach das erste Ziel dieser Untersuchung sein. Es ist dies kein einfaches Ziel, das sich im Vorfeld erledigen ließe. Die Interpretation, die Ronchi in den Mittelpunkt stellt, spielt bei Collins keine Rolle; umgekehrt tritt der für Collins bedeutsame Begriff der Sympathie bei Ronchi nicht auf. Brougham behauptet, dass Bergson Analogien zwischen dem menschlichen Verstehen und verschiedenartigsten Prozessen in der Natur untersucht, und findet das interessant; Bankov dagegen findet es fragwürdig und rät, diesen Aspekt aus einer Untersuchung des Hermeneutischen bei Bergson auszublenden. Es geht also nicht darum, ein Puzzle zusammenzusetzen, von dem man schon vorher weiß, dass es ein ganzes und in sich stimmiges Bild ergeben wird, sondern es geht darum, die Befunde nacheinander zu sichten und zu prüfen, ob sie sich zu einem Gesamtbild vereinigen lassen. Das aber heißt: Die Einsicht in den Stand der Forschung steht hier nicht am Anfang, sondern am Ende der Untersuchung. Dass das verfügbare Material zu sichten und zu organisieren ist, 28 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

Ziele der Untersuchung

heißt nicht, dass ich mich auf Vorgefundenes zu beschränken gedenke. Ich werde auf den folgenden Seiten zahlreiche bisher unbemerkt gebliebene Sachverhalte vorstellen. Nur wird dadurch die Zahl der isolierten Materialien zunächst einmal noch größer, nimmt die Unübersichtlichkeit eher noch zu. Im Hinblick auf die Notwendigkeit, das fragmentierte Material zu einem Ganzen zusammenzuschließen, ist die Frage, von welchen Urhebern die einzelnen Beobachtungen stammen, völlig bedeutungslos. (2) Das eben Ausgeführte besagt: All das aus der bisherigen Bergsonforschung, was sich als Unterstützung für die These dieser Untersuchung eignet, soll zu einem Gesamtbild vereinigt werden. Wie aber steht es mit all dem, was sich nicht unter der Rubrik »Vorgänger und Begleiter« einordnen lässt? Wie steht es insbesondere mit den Argumenten, die belegen sollen, dass hermeneutisches Denken nicht zu Bergsons Philosophie passt? Offenkundig muss das zweite Ziel dieser Untersuchung darin bestehen, zu diesen Einwänden Stellung zu beziehen. Insbesondere ist hier auf die Zweifel einzugehen, die aus Bergsons eigener Lehre abgeleitet werden: aus seiner Sprachfeindschaft, dem fehlenden Interesse an der Geschichte, dem Herausreißen des Individuums aus den gesellschaftlichen Zusammenhängen, dem Ideal einer unmittelbar-intuitiven Erkenntnis. Um es gleich zu sagen: All diese Klagen werden hier abgewiesen. Es gibt glücklicherweise heute Vorarbeiten, auf die man sich stützen kann, um zu zeigen, dass die angeführten Vorwürfe samt und sonders einer oberflächlichen Bergson-Lektüre entspringen. Das heißt freilich auch: Diese Untersuchung wird sich nicht damit begnügen können, Bergsons »Erkenntnistheorie« zu betrachten, sondern sich – zumindest bis zu einem gewissen Punkt – auch auf seine Sprach-, Sozialund Geschichtsphilosophie einlassen müssen. (3) Wenn aber alles Nutzbare genutzt, alles Zurückzuweisende zurückgewiesen ist, dann stellt man fest, dass immer noch der größte Teil der bisherigen Bergsonforschung unberücksichtigt bleibt. Nun könnte man sagen, dass sich eine einzelne Untersuchung schließlich nicht um alles kümmern kann. Eine derartige Haltung würde allerdings, wie mir scheint, ein grundlegendes Problem des Versuchs, Bergsons Philosophie als eine hermeneutische zu lesen, ignorieren und sich deshalb zur Erfolglosigkeit verdammen. Auf die Frage, ob diese Untersuchung die gesamte bisherige Bergsonforschung als verfehlt betrachten müsse, um sie endlich durch die richtige Auffassung zu ersetzen, hatte ich geantwortet, es 29 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

Einleitung

gebe unter den bisherigen Publikationen einige, die als Vorläufer angesehen werden können. Wenn es sich aber so verhält – wie lässt sich dann erklären, dass diese Publikationen ohne Einfluss, ja weitgehend unbekannt geblieben sind? Angesichts dieser Frage könnte man auf allerlei äußere Gründe verweisen – abgelegene Publikationsorte, die italienische Sprache –, aber mir scheint, dass das eigentliche Problem an einer ganz anderen Stelle zu suchen ist: Keine unter den bisherigen Interpretationen, die Bergsons Philosophie einen hermeneutischen Charakter attestieren, unternimmt es, die Frage nach dem Verhältnis ihrer These zum – wenn man so formulieren darf – Mainstream der Bergsonforschung zu klären. Sie alle entwickeln, gestützt auf ein gewisses Material, eine gewisse Auffassung von der Hermeneutik bei Bergson, betrachten ihre Aufgabe damit als beendet, lassen aber den Rest der Bergsonforscher ratlos zurück, weil Umfang und Anspruch der These ungeklärt bleiben. Ich betrachte es deshalb als drittes Ziel dieser Untersuchung, zu klären, welche Konsequenzen sich aus der Bejahung des hermeneutischen Charakters von Bergsons Philosophie für den Umgang mit konkurrierenden Interpretationen ergeben. Zunächst einmal ist die Reichweite der These deutlich zu machen. Bei der Betrachtung der bisherigen Versuche fällt auf, dass sie sich alle auf eine äußerst schmale Materialbasis berufen (Matière et mémoire sowie zwei Aufsätze, die sowohl zeitlich wie thematisch in das Umfeld dieses Buches gehören). Was folgt daraus? Gilt die These nur für ausgewählte Texte? Soll man also davon ausgehen, dass nur eine Schicht oder eine Phase in Bergsons Werk als hermeneutisch zu bezeichnen ist? Wenn ja: Gilt dann für alle übrigen Texte oder Schichten einfach die traditionelle Interpretation oder ist diese zu modifizieren? Wenn aber nicht: Wie ist dann mit den Geltungsansprüchen der konkurrierenden Thesen zu verfahren? Bergson selbst hat ja seine Philosophie häufig als »Metaphysik« bezeichnet, und viele Interpreten sind dieser Selbsteinschätzung gefolgt. Welche Folge hätte es, wenn man die These so verstehen würde, dass Bergsons gesamte Philosophie als eine hermeneutische zu lesen ist? Müsste man die These, es handele sich um Metaphysik, als falsch bewerten? Sollte man zu zeigen versuchen, dass Hermeneutik und Metaphysik miteinander kompatibel sind? Sollte man behaupten, dass Bergson, wenn er »Metaphysik« sagt, eigentlich »Hermeneutik« meint? Es versteht sich von selbst, dass ich in den folgenden Kapiteln nicht sämtliche konkurrierenden – oder jedenfalls: als konkurrierend 30 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

Aufbau der Untersuchung

erscheinenden – Bergson-Interpretationen betrachten kann. Ich muss mich auf einige wenige, mir wesentlich erscheinende beschränken. Immerhin aber ist dies ein Anfang, und ein solcher Anfang muss, wie mir scheint, gemacht werden, weil die These, die hier entfaltet werden soll, niemanden überzeugen wird, solange ihr Geltungsanspruch im Ungewissen bleibt.

Aufbau der Untersuchung Die beiden vorangehenden Abschnitte deuten an, wie ich mit der Schwierigkeit umgehen möchte, dass es Zweifel an der Möglichkeit hermeneutischer Elemente in Bergsons Philosophie gibt. Nun hatte sich aber als eine weitere Schwierigkeit die Frage herauskristallisiert, welcher Maßstab letztlich verwendet werden soll, um die Frage, ob Bergson als ein hermeneutischer Denker eingeordnet werden kann, zu entscheiden. Ist über das Endergebnis nicht schon in dem Moment entschieden, in dem man den Maßstab auswählt? Mir scheint, dass das nicht so sein muss und dass wir es hier auch mit gar keiner irgendwie einzigartigen Schwierigkeit zu tun haben. Gewiss, wir müssen, wenn wir nicht willkürlich einen Maßstab festlegen wollen, mit zwei Variablen arbeiten. Wir müssen zunächst offen lassen, was das Hermeneutische bei Bergson, aber auch, was Hermeneutik an sich ist, und wir müssen dann beide Seiten sich wechselseitig bestimmen lassen. Aber was ist das anderes als die typische Konstellation der Hermeneutik: dass der Sinn nur von den Worten her, die Worte aber ihrerseits nur vom Sinn her zu verstehen sind? Was ist das anderes als die Aufforderung, sich auf einen hermeneutischen Zirkel einzulassen? Oder auf ein Gespräch, in dem zwar immer die eine Seite fragt, die andere aber mehr als nur Ja oder Nein antworten darf? Die sechs Kapitel, aus denen diese Untersuchung besteht, versuchen, eine solche wechselseitige Erhellung der Texte Bergsons und des Sinns von Hermeneutik durchzuführen. Der Verlauf der Untersuchung lässt sich so verstehen, dass nacheinander sechs verschiedene Aspekte von Hermeneutik erprobt werden, die allerdings als zu drei Blöcken gehörig betrachtet werden können. Kapitel 1 hat die schwierige Aufgabe, die Zirkelbewegung überhaupt erst einmal in Gang zu bringen. Zu diesem Zweck beruft es sich auf ein zumindest weit verbreitetes, wenn nicht gar allgemein an31 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

Einleitung

erkanntes Vorverständnis: Hermeneutik hat jedenfalls etwas mit dem Verstehen von Texten (allgemeiner: von sprachlichen Äußerungen) zu tun. Es geht darum, herauszufinden, was geschieht, wenn man mit der Frage nach einer Texthermeneutik an Bergsons Werke herantritt. Schweigen oder antworten sie? Das Ergebnis besteht aus drei Erkenntnissen: (1) Es gibt in Bergsons Denken texthermeneutische Elemente. (2) Bergsons texthermeneutische Überlegungen zeigen, dass das Vorurteil, seine Philosophie sei durch Sprachfeindschaft geprägt, nicht zu halten ist. (3) Texthermeneutik kann allerdings nicht als Kern von Bergsons Philosophie betrachtet werden. Kapitel 2 erinnert daran, dass in der Handlungshermeneutik eine zweite weit verbreitete Ausprägung des hermeneutischen Grundgedankens vorliegt, und fragt, ob man einen größeren Teil von Bergsons Denken erschließen kann, wenn man von der Textzur Handlungshermeneutik übergeht. Das ist in der Tat der Fall, und zwar in einem solchen Maße, dass Kapitel 2 die sich ergebenden Perspektiven nur anreißen, aber noch nicht zu einem vollständigen Konzept von Bergsons Handlungshermeneutik gelangen kann. Insbesondere zeigt sich, dass Bergsons Theorien des Bewusstseins und des Unbewussten berücksichtigt werden müssen und dass diese Theorien ihrerseits mit seiner »Naturphilosophie« verbunden sind. Kapitel 3 wechselt die Betrachtungsrichtung: Während in den ersten beiden Kapiteln gleichsam die Hermeneutik die Fragen stellt und Bergsons Texte antworten müssen, gehen die Kapitel 3 bis 6 von einigen für Bergsons Philosophie wesentlichen Grundgedanken bzw. Grundbegriffen aus und fragen nun die Hermeneutik, ob sie mit diesen Konzepten etwas anzufangen weiß. Im Mittelpunkt von Kapitel 3 stehen die Begriffe des Raumes sowie des Dinges, und damit letztlich das vergegenständlichende Denken, das nach Bergsons Auffassung für das Alltagsleben und die Naturwissenschaften maßgeblich ist. Dieses Denken gehört in den Bereich der Handlungshermeneutik, insofern es dazu dient, das Bearbeiten von vorgefundenen Dingen zu ermöglichen. Es stellt freilich, wenn nicht geradezu einen Null-, so doch jedenfalls einen Tiefpunkt hermeneutischer Aktivität dar, weil sein Ideal darin besteht, auf standardisierte Situationen mit standardisierten Verhaltensmustern zu reagieren. Bergson thematisiert dies als »geschlossenen Zirkel«. Er zeigt freilich auch, dass eine solche Einstellung gegenüber der Wirklichkeit – im Alltagsleben ebenso wie in der Wissenschaft – immer wieder durch Phänomene aufgeschreckt wird, die nicht in ein vorgefertigtes Schema passen. 32 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

Aufbau der Untersuchung

Kapitel 4 erörtert mit dem Begriff der Dauer dasjenige Konzept, auf das sich Bergsons Gegenentwurf zur Welt der Dinge im Raum stützt. Von Kapitel 4 an folgt die Darstellung, obwohl sie weiterhin systematisch an den Grundbegriffen ausgerichtet bleibt, zugleich genetisch dem Denkweg Bergsons. Kapitel 4 beschränkt sich auf Bergsons Entdeckung der Dauer im Essai sur les données immédiates de la conscience (1889) und die erste Erweiterung der Konzeption in Matière et mémoire (1896). Da Matière et mémoire zugleich dasjenige Werk ist, auf das sich die bisherigen Verfechter der These, Bergsons Philosophie sei als eine hermeneutische zu lesen, beziehen, empfiehlt es sich, an dieser Stelle innezuhalten, um die Argumente der Vorgänger aufzunehmen. Im Mittelpunkt stehen dabei Rocco Ronchis Deutung von Bergsons Philosophie als Philosophie der Interpretation sowie die für das Interpretieren charakteristische Figur des »offenen Zirkels«. Damit ist, nachdem Kapitel 2 die begrenzte Welt der Texthermeneutik aufgebrochen und Kapitel 3 nur eine defizitäre Gestalt des Hermeneutischen betrachtet hatte, erstmals wieder eine in sich geschlossene Konzeption erreicht: Bergsons Philosophie ist eine hermeneutische Philosophie, insofern sie Philosophie der Interpretation ist. Und da die von dieser Philosophie erörterten Interpretationen stets auf Handlungen abzielen, ist sie im Kern als Handlungshermeneutik zu fassen. Kapitel 5 macht zunächst auf die Defizite dieser Konzeption aufmerksam. Zum einen bleibt ungeklärt, wie Bergsons Philosophie nach Matière et mémoire zu bewerten ist. Zum anderen zeigt sich, dass das in Matière et mémoire beschriebene interpretierende Subjekt ein »einsames«, aus allen gesellschaftlichen Bindungen herausgelöstes Individuum ist. Ich versuche nun, einen dritten und letzten Anlauf in Gang bringend, zu zeigen, dass Bergson in den Jahren nach der Publikation von Matière et mémoire daran arbeitet, diesen Schwachpunkt zu beseitigen, so dass er in L’évolution créatrice (1907) erstmals die Konzeption eines Menschen vorstellen kann, der immer schon in eine soziale Mitwelt und eine lebendige Umwelt eingebettet ist. Sofern Mit- und Umwelt nicht verdinglicht werden, erschließen sie sich dem Einzelnen vermittels der Sympathie. Kapitel 5 stellt die Frage: Ist Bergsons »Sympathie« das, was die zeitgenössischen deutschen Theoretiker der Hermeneutik als »Einfühlung« bezeichnet haben? Kapitel 6 schließlich untersucht Bergsons schwierigen und häufig missverstandenen Begriff der »Intuition«. Schnell wird klar, dass für Bergson Intuition in einem engeren Sinne das auf Reflexion be33 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

Einleitung

ruhende Selbstverständnis des Einzelnen bedeutet. Zugleich aber wollte Bergson zeigen, dass eigentliches, auf Reflexion beruhendes Verstehen auch als Verstehen Anderer, d. h. als Fremdverstehen möglich ist. Sein Ansatz kombiniert Sympathie und Intuition: Fremdverstehen ist die Klärung der eigenen Sympathie für den Anderen oder das Andere. Solche Intuition im weiteren, nicht auf das Ich beschränkten Sinn tritt in drei Hauptgestalten auf: als künstlerische, mystische und philosophische. Kapitel 6 unterscheidet deshalb zwischen den vorphilosophischen Verstehensleistungen, die Bergson beschreibt, und der hermeneutischen Philosophie, die er konzipiert. Das Kapitel schließt mit einem Überblick über diese hermeneutische Philosophie und ihre Kerndisziplinen Ontologie, Erkenntnistheorie und praktische Philosophie. Damit ist die dritte, letzte und umfassendste Konzeption der Hermeneutik bei Bergson erreicht: Bergsons Philosophie ist eine hermeneutische, insofern sie klärt, wie Selbst, Mit- und Umwelt durch das Zusammenspiel von Sympathie und Intuition verstanden werden können.

Einschränkungen Da philosophische Untersuchungen von endlichen Menschen hervorgebracht werden, enthalten sie Fehler, die der Autor nicht bemerkt hat, sowie Schwächen, die er zwar bemerkt hat, aber für hinnehmbar hielt. Um nur einige der mir sehr bewussten Schwächen zu nennen: Diese Untersuchung ist zu lang, weil ich mich bemüht habe, einen möglichst großen Teil des Materials in einer nicht nur für Spezialisten verständlichen Weise vorzustellen. Diese Untersuchung ist zu kurz, weil ich trotzdem viele interessante und wichtige Gesichtspunkte ausklammern musste. Diese Untersuchung ist einseitig, weil ich – der Fragestellung entsprechend – Bergsons Stärken herausarbeite, seine Schwächen – die etwa in der Gegenüberstellung mit anderen Lebensphilosophen sichtbar würden – dagegen kaum betrachte. Diese Untersuchung ist schließlich nicht politically correct, weil ich feststellen musste, dass der Versuch, immer und überall deutlich zu machen, dass Leser, Sprecher, Autoren und Interpreten männlich oder weiblich sein können, meinen Text zwar komplizierter, aber nicht inhaltsreicher macht, und weil ich mich deshalb generell auf die maskulinen Formen beschränkt habe. Ich meine dennoch, dass diese Schwächen für Leserinnen und 34 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

Einschränkungen

Leser, die mit gutem Willen und gesundem Menschenverstand an den Text herangehen, keine wesentlichen Hindernisse darstellen werden, und will es deshalb bei ihrer Aufzählung belassen. Dagegen möchte ich abschließend auf einen Punkt eingehen, der sich als Schwäche und Hindernis erweisen könnte. Kurz vor dem Ende der Arbeit am Text dieser Untersuchung stieß ich auf Wolfgang Isers Buch The Range of Interpretation. Dieses Buch ist aus meiner Sicht bemerkenswert, weil Iser, obwohl von einer ganz anderen Fragestellung ausgehend, auf die gleichen, im Kontext der Hermeneutik überraschend oder gar merkwürdig anmutenden Phänomene stößt, auf die mich die Frage nach dem hermeneutischen Charakter von Bergsons Philosophie geführt hat: auf die Theorie des Unbewussten, auf die Theorie der Selbstorganisation, auf die Integralrechnung. An einer Stelle allerdings geht Iser einen völlig anderen Weg als ich selbst: Er betrachtet »Hermeneutik« als Synonym für »Texthermeneutik«, mithin als ein Spezialgebiet, und verwendet für das weite – Unbewusstes, Selbstorganisation und Infinitesimales einschließende – Verfahren die Bezeichnung »Interpretation« 33, während ich den Begriff »Hermeneutik« zwar immer weiter dehne, ihn aber bis zum Schluss beibehalte. Man kann sich nun fragen, ob meine Vorgehensweise günstig oder nicht vielmehr als Schwachpunkt und Verständnishindernis zu betrachten ist. Ein derartiger Zweifel ist, wie mir scheint, ernst zu nehmen. Im Kontext des Forschungsprojekts gehaltene Vorträge haben mir immer wieder gezeigt, dass der Begriff »Hermeneutik« mit ganz bestimmten Assoziationen verbunden wird und dass, wenn die Dehnung des Begriffs einen gewissen Punkt überschreitet, die Aufmerksamkeit der Zuhörer weniger der Sache als vielmehr der Frage gewidmet ist, ob man so etwas noch Hermeneutik nennen darf. Auch zeigt der nachfolgende, schon vor der Iser-Lektüre geschriebene Text immer wieder Interesse an anderen Bezeichnungen oder Modellen – so etwa, wenn ich in Kapitel 2 Foucaults Gedanken aufgreife, ein um 1800 in sämtlichen Wissenschaften vollzogener Paradigmenwechsel habe dazu geführt, dass man die beobachteten Phänomene stets auf eine hinter ihnen wirkende Kraft bezieht, oder wenn ich in Kapitel 6 mit Sympathie den Gedanken erwäge, die Hermeneutik (im engeren Sinne) als Teil einer Theorie der Selbstorganisation zu betrachten. Wenn ich dennoch bei dem Begriff »Hermeneutik« bleibe, so hat das zum einen Gründe, die nur für mein Thema relevant sind. Um 33

Iser[2000] IX

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Einleitung

nur diesen einen Punkt herauszugreifen: Die Bezeichnung »Interpretationsphilosophie« steht in diesem Umfeld für Ronchis Lesart von Bergsons Philosophie. Weil ich nun aber der Auffassung bin, dass man da, wo Ronchi stehengeblieben ist, nicht stehenbleiben muss, bin ich genötigt, entweder für das, was ich in den Kapiteln 5 und 6 vortrage, eine Bezeichnung zu finden, die nicht »Interpretationsphilosophie« heißt, oder aber das, was Ronchi selbst »Interpretationsphilosophie« genannt hat, anders zu nennen – was dem Verständnis nicht besonders dienlich sein dürfte. Zum anderen aber ist es auch dann, wenn das Thema nicht »Bergson« heißt, keineswegs selbstverständlich, dass »Interpretation« etwas Allgemeineres, Umfassenderes ist als »Hermeneutik«. Emil Angehrn, der – ähnlich wie Iser – versucht hat, eine Ordnung in den heute so vielfältigen Formen des Hermeneutischen zu entdecken, verwendet »Hermeneutik« als Oberbegriff und sieht »Verstehen«, »Interpretation« sowie »Dekonstruktion« als dessen Hauptmomente an. 34 Auch wenn man das umfassende Projekt als »Interpretation« bezeichnet, steht also der Teil für das Ganze. Letztlich zeigen die terminologischen Schwierigkeiten an, dass die Hermeneutik über sich hinausgewachsen ist. Das heißt meines Erachtens gerade nicht, dass sie – wie Vattimo argwöhnt – zu einem konturlosen Allerweltsdenken verkommen ist, sondern vielmehr, dass sie in einen größeren Kontext eingebettet ist und dass sie begonnen hat, sich diesen Kontext bewusst anzueignen. Dazu gehört jener allgemeine Paradigmenwechsel im Bereich der Wissenschaften, auf den Autoren wie Gusdorf, Foucault oder Ziolkowski hingewiesen haben. Die moderne Hermeneutik ist – so meine ich jedenfalls – hervorgegangen aus einer Verschmelzung der vormodernen Texthermeneutik mit jener spezifisch modernen Konzeption, die in Begriffen wie Dynamik, Kraft, Energie, Trieb, Entwicklung, Prozess oder Selbstorganisation zum Ausdruck kommt. Die Affinität zu denjenigen Gegenstandsbereichen, auf die diese Begriffe angewandt werden, besitzt sie deshalb von Anfang an. Zum größeren Kontext der modernen Hermeneutik gehören aber auch all jene – wenn man so will: zwischen Ästhetik und Mystik angesiedelten – Phänomene, die man oft geradezu als das Andere der Moderne gedeutet hat. Sympathie, Einfühlung, Divination, Ahnung, Instinkt und Intuition sind

34

Angehrn[2004], insbesondere S. 134 ff.

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Einschränkungen

Begriffe, die solche – als »romantisch«, irrational, anti-aufklärerisch, reaktionär gewerteten – Phänomene bezeichnen. Die große Erzählung der Moderne ist die Erzählung vom Licht der Vernunft. Da, wo dieses Licht nicht hinreicht, herrsche – so die Erzählung – notwendigerweise Unvernunft. Aber das Andere der Vernunft begleitet, wie man inzwischen weiß, die sich selbst nur teilweise verstehende Moderne wie ein Schatten. Jenes X, das ich hier »Hermeneutik« nenne, wäre das Sich-selbst-Verstehen einer Moderne, die begriffen hat, dass sie und ihr Anderes eine unauflösliche Einheit bilden. Für dieses X haben wir noch keine Bezeichnung. Das deutet darauf hin, dass wir – was immer auch einige im Schwange befindliche Vorsilben suggerieren mögen – noch bis über beide Ohren in der Moderne stecken und dass die Eule der Minerva weiterhin abwartend in ihrem Bau sitzt. Auch Bergson hat keine geeignete Bezeichnung für dieses X anzubieten. Aber er hat sich um die Sache bemüht, indem er seine hermeneutische Philosophie zwischen Begriff und Bild, Mathematik und Musik, Intelligenz und Instinkt, Kultur und Natur ansiedelte. Deshalb ist er mehr als nur »auch einer«. Und deshalb lohnt auch und gerade heute das Gespräch mit ihm.

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1 Texthermeneutik: Das Material und der Sinn

Dieses erste Kapitel verfolgt vier Ziele, die vorab kurz umrissen werden sollen: Das Kapitel hat – erstens – den Charakter einer Stichprobe. Da die These vom hermeneutischen Charakter der Philosophie Bergsons sich weder im Bereich der Bergson-Forschung noch im Bereich hermeneutischen Philosophierens einer weiten Verbreitung erfreut, muss ich mit einer gewissen Skepsis rechnen: Wäre, wenn Bergsons Philosophie wirklich einen – wie auch immer gearteten – hermeneutischen Charakter aufwiese, dies nicht längst bemerkt und anerkannt worden? Und tut man, wenn dem offenkundig nicht so ist, gut daran, seine Zeit der Lektüre einer langen Untersuchung mit zweifelhaften Erfolgsaussichten zu widmen? Ich möchte deshalb versuchen, zweifelnden Lesern die Entscheidung zu erleichtern und sie zur weiteren Lektüre zu ermuntern, indem ich zunächst einmal auf vergleichsweise wenigen Seiten und anhand einiger kurzer Texte Bergsons zeige, dass es überhaupt irgendwelche hermeneutischen Elemente in seiner Philosophie gibt. Durch eine derartige Stichprobe lässt sich natürlich weder der Umfang noch der Stellenwert des Hermeneutischen in Bergsons Denken ermitteln, aber es lässt sich möglicherweise die Plausibilität der These erhöhen. Aus der Perspektive dieses Ziels ist das erste Kapitel eine in sich geschlossene Einheit. Sein Ziel ist erreicht, wenn der Leser nach dessen Lektüre meiner These vom hermeneutischen Charakter der Philosophie Bergsons mehr Vertrauen entgegenbringt als vorher. Das zweite Ziel blickt weiter. Aus seiner Perspektive dient das erste Kapitel als Einstieg. In der Einleitung war bereits deutlich geworden, dass diese Untersuchung sich in einem hermeneutischen Zirkel bewegen muss, weil einerseits der hermeneutische Charakter der Philosophie Bergsons aufgewiesen werden, andererseits aber die Bedeutung von »Hermeneutik« nicht vorab festgelegt werden soll. Es muss also – um auf die berühmte Formulierung Heideggers zurück39 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

1 · Texthermeneutik: Das Material und der Sinn

zugreifen – zunächst einmal darum gehen, auf die rechte Weise in diesen Zirkel hineinzukommen. Die »rechte Weise« besteht bekanntlich darin, dass man weder von einem absoluten Nullpunkt noch von einem fertigen Wissen, sondern von einem – im Prinzip beliebigen – Vorverständnis ausgeht, dieses Vorverständnis aber als unvollkommenes und unfertiges zur Disposition stellt, d. h. zum Gegenstand einer klärenden und präzisierenden Untersuchung macht. Damit die Untersuchung der Philosophie Bergsons in Gang kommen kann, ist demnach ein Vorverständnis von »Hermeneutik« erforderlich, das sich als Ausgangspunkt eignet. Nun wüsste ich nicht, welches Vorverständnis weiter verbreitet wäre als dasjenige, dass Hermeneutik – wenn nicht ausschließlich, so doch zumindest wesentlich – Texthermeneutik sei, es also mit dem Hervorbringen und Verstehen sprachlicher Äußerungen zu tun habe. Das erste Kapitel stellt sich deshalb (provisorisch) auf den Standpunkt, dass »Hermeneutik« identisch ist mit »Texthermeneutik«, und es geht der Frage nach, ob sich unter dieser Voraussetzung hermeneutische Elemente in Bergsons Philosophie entdecken lassen. Dabei wird das zweite Ziel mit dem ersten verknüpft: Indem ich zeige, dass es in Bergsons Werken texthermeneutische Elemente gibt, zeige ich zugleich, dass es irgendwelche hermeneutischen Elemente gibt. Drittens möchte ich durch einen derartigen Beginn gleich zu Anfang eines der größten Hindernisse – nämlich die These von Bergsons Sprachfeindschaft – aus dem Weg räumen. Gewiss, auch in dieser Hinsicht wird nicht die ganze Arbeit schon im ersten Kapitel erledigt werden können. Aber wie ich hoffe, durch einige Belege für texthermeneutische Elemente in Bergsons Werken meine These vom hermeneutischen Charakter seiner Philosophie plausibler machen zu können, so hoffe ich zugleich, durch Belege, die auf eine sehr viel differenziertere Sprachtheorie hindeuten, die Plausibilität der These von Bergsons Sprachfeindschaft vermindern zu können. Schließlich: Wenn die Vormeinung, Hermeneutik sei identisch mit Texthermeneutik, es uns ermöglichen soll, in einen hermeneutischen Zirkel – also in eine zwischen Material und Sinnhypothese kreisende Bewegung – hineinzukommen, dann sollte die Lektüre der für dieses Kapitel ausgewählten Texte auch weiterführende Hinweise ergeben. Wir werden also in den Texten nicht nur texthermeneutische Elemente suchen, sondern zugleich Ausschau halten nach Indizien dafür, dass Hermeneutik für Bergson mehr bedeutet als nur Texthermeneutik, und nach Anhaltspunkten, die uns zeigen, in wel40 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

Der Text des Philologen

cher Richtung (gegebenenfalls auch: in welchen Richtungen) wir andere Bedeutungen von Hermeneutik zu suchen haben.

1.1 Der Text des Philologen 1.1.1 Bergson als Erzieher Zwischen 1882 und 1902 hielt Bergson mehrfach Festreden bei Abschlussfeierlichkeiten höherer Schulen. Obwohl sich Bergsons Leben und Denken in diesen zwanzig Jahren erheblich veränderten – 1882 war er selbst noch ein junger Gymnasiallehrer, 1902 hatte er bereits zwei seiner vier Hauptwerke publiziert und war ein berühmter Philosoph –, weisen die Festreden so deutliche Gemeinsamkeiten auf, dass man sich angewöhnt hat, sie als eine Einheit zu betrachten. Alle Reden 1 stellen sich aus gegebenem Anlass auf die Schwelle zwischen der schulischen Bildung, die die Schüler gerade beenden, und dem Leben in der Gesellschaft, in das sie entlassen werden sollen. Bergson behandelt also verschiedene Aspekte des Lebens in der Gesellschaft bzw. des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft, wobei sowohl positive – Höflichkeit (La politesse, 1885/1892), gesunder Menschenverstand (Le bon sens et les études classiques, 1895), Intelligenz (De l’intelligence, 1902) – wie auch negative Aspekte – das Spezialistentum (La spécialité, 1882) – zur Sprache kommen. Zugleich bezieht Bergson diese Aspekte zurück auf die schulische Ausbildung. Er stellt in Bezug auf die positiv bewerteten, weil gelingenden Formen des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft (Höflichkeit, gesunder Menschenverstand) die Frage, ob es sich bei ihnen um naturhafte Begabungen einzelner Personen oder um lern- und somit auch lehrbare Verhaltensweisen handelt, und er stellt im Hinblick auf das negativ bewertete Spezialistentum die Frage, ob die allgemeinbildende Schule dem Schüler eine Kraft vermitteln (oder zumindest eine bereits vorhandene Kraft stärken) kann, die es ihm ermöglicht, trotz der in Studium und Beruf geforderten Spezialisierung das Ganze im Auge zu behalten. Es ist nachvollziehbar, dass die meisten Bergson-Interpreten diese »Gelegenheitsreden« als repräsentativ für einen bestimmten Typ Mél. 257–264, 318–332, 359–372, 553–560 | Écr. 39–46, 47–58, 152–164, 272–279 – Für Erläuterungen zur Zitierweise vgl. S. 891ff.

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von Festreden, aber nicht als repräsentativ für Bergsons Philosophie betrachtet, sie deshalb unbeachtet gelassen und sich auf die im strengen Sinne philosophischen »Hauptwerke« beschränkt haben. Wenn sich diese Texte in jüngster Zeit gleichwohl eines etwas regeren Interesses erfreuen, so liegt das hauptsächlich daran, dass sie – zusammen mit den Kursen, die Bergson als Gymnasiallehrer gehalten hat – als Teil der Vorgeschichte seines ersten Hauptwerks (Essai sur les données immédiates de la conscience, 1889) betrachtet werden. 2 Daneben gibt es aber noch eine andere Betrachtungsweise, deren Pointe man in einer ersten Annäherung so formulieren könnte, dass sie in den Festreden einen Teil der Vorgeschichte seines letzten Hauptwerks (Les deux sources de la morale et de la religion, 1932) sieht. Die Frage, ob eine Gruppe kleinerer Texte zur Vorgeschichte des ersten oder zu derjenigen des vierten Hauptwerks gehört, müsste als sinnlos erscheinen, wenn sich Bergsons Hauptwerke mühelos als kontinuierliche und bruchlose Entwicklung, als fortschreitende Entfaltung eines grundlegenden Themas begreifen ließen. Das ist aber nicht der Fall. Interpreten, die nur Bergsons Hauptwerke betrachten, stehen immer wieder vor der Schwierigkeit, dass die ersten drei Hauptwerke sich vergleichsweise leicht als Einheit begreifen lassen, während das letzte ein wenig als Fremdkörper wirkt. Das liegt nicht nur, aber doch wesentlich daran, dass Bergson in den ersten drei Hauptwerken Fragen untersucht, die aus der Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften (Mathematik, Physik, Biologie, experimentelle Psychologie) entspringen, im letzten dagegen den Bereich der moralischen und religiösen Vorstellungen betrachtet. Nun hat allerdings Rose-Marie Mossé-Bastide schon 1955 gezeigt, dass der Eindruck, Bergson habe in der Hauptphase seines Schaffens einen Dialog mit den Naturwissenschaften geführt und sich erst spät moralischen und religiösen Fragen zugewandt, schlicht die Folge einer zwar gängigen, aber deshalb nicht weniger einseitigen Textauswahl ist und dass er sich durch Berücksichtigung zusätzlicher, andersartiger Texte korrigieren lässt. 3 Dass die Festreden zur Vorgeschichte von Bergsons viertem Hauptwerk gehören heißt dann: Ihre Bedeutung besteht darin, dass sie einen Bergson zeigen, dem moralische und pädagogische Fragestellungen von Anfang an wichtig waren. Sie lieAus dieser Perspektive kommentiert auch Frédéric Worms La spécialité und La politesse in Écr. (124 ff.). 3 Mossé-Bastide[1955] 2

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gen im Anfangsbereich einer Linie, in deren Endbereich Les deux sources de la morale et de la religion anzusiedeln ist und in deren Verlauf wir, nachdem unser Blick erst einmal geschärft ist, zahlreiche andere Texte finden, die oft ebenfalls als »unbedeutend« oder »enttäuschend« 4 gelten: neben einigen Passagen des Essai sur les données immédiates de le conscience – den Anmerkungen zur Anmut im ersten, der Untersuchung der Freiheit im dritten Kapitel – etwa Bergsons kleines, ebenfalls Fragen des Zusammenlebens in der Gesellschaft behandelndes Buch über das Lachen (Le rire), Rezensionen von Büchern über Glaube und Religion 5 oder weitere Stellungnahmen zum Bildungssystem und zu seiner Reform 6. Wählt man die Texte so, dann verliert Les deux sources mit einem Schlag seine isolierte Stellung, und vor unserem geistigen Auge zeichnet sich zunächst das Bild eines »anderen Bergson« ab, der sich sein ganzes Leben lang mit Kunst, Moral und Religion, mit Soziologie und Pädagogik beschäftigt, einen Dialog mit Sozial- und Geisteswissenschaften geführt hat. So überrascht es nicht, dass bereits Kristian Bankov auf die Gedanken MosséBastides zurückgegriffen hat, um seine These vom hermeneutischen Charakter der Philosophie Bergsons zu begründen. 7

1.1.2 Philologie zwischen Handwerk und Hermeneutik Verlassen wir nunmehr die Ebene der großen Linien und werfen wir einen Blick auf die Texte. Dem Thema dieses Kapitels entsprechend, beschränke ich mich auf Passagen, in denen Bergson sich mit sprachlichen Äußerungen und ihrer Interpretation beschäftigt, und ich beschränke mich zudem auf La spécialité, um mir die übrigen Festreden für spätere Kapitel aufzusparen. In dieser Rede stellt Bergson zunächst die Frage nach den Ursachen der Spezialisierung. Warum gibt es sie überhaupt? Nach Bergsons Auffassung sind dafür zwei Ursachen verantwortlich. Die erste liegt in der Natur unseres Erkenntnisvermögens. 8 Die menschliche Intelligenz hat zwar in ihrer »Kindheit« danach gestrebt, »alles zu erkennen«, und die Philosophie hat So bezeichnet etwa Le Goff[2004], S. 10, Le Rire als »sehr enttäuschende Studie«. So die weder in Mél. noch in Écr. enthaltene Rezension RBos. 6 Vgl. etwa den aus dem Jahre 1922 stammenden Vortrag Les études gréco-latines et la réforme de l’enseignement secondaire (Mél. 1366–1379). 7 Bankov[2000] 53 ff. 8 Mél. 258 f. | Écr. 40 f. 4 5

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anfänglich geglaubt, die »Wissenschaft von den göttlichen und menschlichen Dingen« zu sein. Aber das war nur eine »wohltätige Illusion«, auf die alsbald eine »niederschmetternde Entdeckung« folgte: »Das Universum ist größer als unser Geist. Das Leben ist kurz, die Bildung [éducation] lang, die Wahrheit unendlich.« Gründlich erforschen und wirklich erkennen kann man immer nur einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit. Spezialisierung ist demnach eine Notwendigkeit, wenn auch eine »harte Notwendigkeit«: »Wir müssen uns auf die Erkenntnis von Wenigem beschränken, wenn wir nicht in der Unkenntnis von allem verharren wollen.« Die Spezialisierung, zu der diese erste Ursache führt, lässt sich demnach als Einschränkung charakterisieren. Sie ist notwendig und legitim, und sie ist auch durchaus vereinbar mit dem Bestreben, das Ganze und den Stellenwert des bearbeiteten Teilgebiets innerhalb des Ganzen nicht aus den Augen zu verlieren. Es tritt nun freilich noch eine zweite Ursache hinzu, und zwar in Gestalt der Illusion, es gebe keinen Unterschied zwischen geistiger und manueller Arbeit. 9 Bergson verweist an dieser Stelle auf Adam Smith und dessen Lob der Arbeitsteilung. Man kann die Produktivität jeder Arbeit, die auf das Herstellen von Dingen gerichtet ist, steigern, indem man sie in einzelne Schritte zerlegt und diese Schritte von verschiedenen Menschen oder Maschinen ausführen lässt. Jede Maschine erfüllt dann lediglich die Teilaufgabe, für die sie konstruiert wurde, und auch jeder Mensch, der in dieser Weise arbeitet, soll nur seine spezielle Aufgabe erfüllen, aber nicht nach dem Produkt oder dem Herstellungsprozess als ganzem fragen. Diese Spezialisierung ist also als Arbeitsteilung zu charakterisieren, und die von Bergson kritisierten Folgen der Spezialisierung entstehen dann, wenn die Vorstellung, durch Arbeitsteilung lasse sich die Effizienz steigern, aus dem Bereich der manuellen in denjenigen der geistigen Arbeit übertragen wird. Allgemein gesagt: Die negativen Folgen der Spezialisierung sind Oberflächlichkeit und Sterilität. Wer nicht nach Gründen und Hintergründen fragen soll, der hält sich an die Gegebenheiten, die er in seinem kleinen Ausschnitt vorfindet, und wer sich in einen großen Forschungsbetrieb eingliedern soll, der hat wenig Anlass, über anders- oder gar neuartige Methoden nachzudenken. Bergson zeigt das zunächst für die Naturwissenschaften 10, hier exemplarisch vertreten 9 10

Mél. 262 f. | Écr. 44 f. Mél. 260 f. | Écr. 42 f.

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durch Physik und Chemie. Der Spezialist in dem negativen Sinn, den Bergson vor Augen hat, tritt als »simpler Faktensammler« in Erscheinung. Er beschränkt sich darauf, einen »Katalog der Phänomene« zusammenzustellen, und »vergisst, dass die Fakten das Material der Wissenschaft, aber nicht die Wissenschaft selbst sind«. Weil er es nicht gewohnt ist, die gesammelten Fakten in ein umfassendes Ganzes einzuordnen, kann er nicht nach übergreifenden Gesetzmäßigkeiten und allgemeinen Prinzipien fragen. Eine analoge Oberflächlichkeit findet Bergson dann auch im Bereich der Geisteswissenschaften 11, die hier durch die Beschäftigung mit »Literatur« (littérature), also mit Texten repräsentiert werden. Das Korpus der relevanten Texte unterteilt Bergson in neusprachliche (notre littérature nationale) 12 und altsprachliche (auteurs grecs et latins, auteurs anciens). Da insbesondere bei den klassischen Texten keinerlei weitere Einschränkungen vorgenommen werden, dürften zur littérature nicht nur Werke der »schönen Literatur« zu zählen sein, sondern alle Texte, bei denen – anders als etwa bei mathematischen Darlegungen – die sprachliche Gestaltung bedeutsam ist, alle Texte also, die von Lesern als Texte (sprachliche Kunstwerke) wahrgenommen werden oder zumindest wahrgenommen werden können (also auch historische Darstellungen, Landschafts- und Naturbeschreibungen usw.). Es wäre deshalb irreführend, den von Bergson verwendeten Begriff histoire littéraire mit »Literaturgeschichte« zu übersetzen. Angemessener scheinen mir für die Gesamtheit des hier zur Debatte Stehenden die Bezeichnung Philologie, und für die beiden Teilbereiche die Bezeichnungen Neuere bzw. Klassische Philologie. Der Spezialist für diesen Bereich ist folglich der Philologe. Was treibt nun ein solcher Philologe? Werfen wir – gemeinsam mit Bergson – zunächst einen Blick auf den Spezialisten für neusprachliche Texte: »Der Spezialist […] wird einen unserer Schriftsteller herausgreifen, ihn im Detail studieren, nur ihn studieren. Da man aber das Denken eines Autors nur dann verstehen und beurteilen kann, wenn man ihn mit vielen anderen vergleicht, können Sie sicher sein, dass es nicht das Denken ist, um das er sich bemüht. Was bleibt ihm also? Die Person. Und die Anekdoten, die er Mél. 261 f. | Écr. 43 f. Bergson schränkt also den Bereich der neusprachlichen Texte auf solche französischer Sprache ein. Texte in modernen Fremdsprachen kommen in seiner Systematik gar nicht vor. Diese Einschränkung resultiert lediglich aus den Gegebenheiten des damaligen Bildungssystems und ist für sein zentrales Argument ohne Belang.

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über sie zusammentragen kann. Er wird demnach unbedeutende, aber unbekannte Fakten anführen. Er ist der erste, der von ihnen berichtet – daher ihre Wichtigkeit. Er wird Papiere und Dokumente sammeln und dabei vergessen, dass das Unbekannte im Geist zu finden ist, nicht in alten Pergamenten. Der Stil und die Ausdrucksweise eines Autors beschäftigen ihn gar nicht: Erzählen Sie mir lieber von seiner Geburt.« 13

Fleiß kann man diesem Philologen gewiss nicht absprechen. Er sieht seine Aufgabe als Spezialist darin, nicht nur alle bekannten Fakten und Dokumente zu kennen, sondern überdies noch neues Material zu entdecken und zu publizieren. Gleichwohl kritisiert Bergson ihn, und so stellt sich die Frage: Warum? Die Antwort scheint offenkundig: Bergson kritisiert den Philologen, weil er die Person des Autors ins Spiel bringt. Nun wird freilich nicht nur ein im weiteren Verlauf dieses Kapitels noch zu besprechender Text zeigen, dass Bergson das Interesse an der Person des Autors geradezu als Voraussetzung des Verstehens betrachtet; auch im gegenwärtigen Text deutet Bergson an, dass Denken immer das Denken einer konkreten Person ist – warum sonst sollte der Spezialist seinen Autor mit anderen Autoren vergleichen? Besteht also das Defizit darin, dass der Spezialist sich auf einen einzigen Autor beschränkt und das Vergleichen mit anderen Autoren versäumt? Aber auch an dieser Vermutung wird man zweifeln – und zwar nicht nur deshalb, weil Bergson in anderen Texten die vergleichenden Methoden dafür kritisiert, dass sie statt des Persönlichen einer Person nur unpersönliche Gemeinsamkeiten erfassen, sondern auch deshalb weil er im gegenwärtigen Text das Vergleichen als Voraussetzung, aber nicht als den Kern des Verstehens bezeichnet. Der Punkt, auf den Bergsons Kritik zielt, ist vielmehr eine falsche Vorstellung davon, was der Begriff »Person« besagen will. Mit den Worten des Essai sur les données immédiates de la conscience – in dessen Vorgeschichte La spécialité also doch auch einzuordnen ist – lässt sich sagen: Die Oberflächlichkeit des Philologen besteht darin, Le spécialiste […] prendra un de nos écrivains, l’étudiera en détail, n’étudiera que lui. Mais comme on ne peut guère comprendre et juger la pensée d’un auteur qu’à la condition de le comparer à beaucoup d’autres, ce n’est pas de la pensée qu’il se souciera, soyez-en sûrs. Que lui reste-t-il ? la personne, et les anecdotes qu’il pourra recueillir sur elle. Il citera des faits insignifiants, mais inédits ; il est le premier à les raconter, de là leur importance. Il collectionnera les papier et les documents, oubliant que l’inédit doit se trouver dans l’esprit, non dans les vieux parchemins. Le style et la manière d’un auteur ne le préoccuperont guère : parlez-moi de son acte de naissance. – Mél. 261 | Écr. 43

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dass er seine Aufmerksamkeit nur auf das Oberflächen-Ich (moi superficiel) richtet, während er sie eigentlich auf das Tiefen-Ich (moi profond) richten sollte. Und aus diesem Missverständnis im Hinblick auf die Person ergibt sich zwangsläufig ein Missverständnis im Hinblick auf das Verstehen. Einen Autor zu verstehen – das bedeutet für den von Bergson geschilderten Philologen: die Lebensumstände dieses Autors möglichst vollständig zu rekonstruieren. Ein derartiger Philologe ist also entweder ein purer Faktenkrämer, der über die Ebene der »Anekdoten« nicht hinauskommt und auch gar nicht hinauswill, oder aber er ist – wenn er über seine Vorgehensweise reflektiert und sie zu begründen versucht – Verfechter eines Psychologismus oder Biographismus, der davon ausgeht, dass man einen Autor versteht, wenn man seine Lebensumstände kennt, weil sein Werk wesentlich Ausdruck seiner Lebensumstände ist. Ein anderes – und doch analoges – Missverständnis führt den klassischen Philologen in die Irre: »Es gab eine Zeit, in der man die Autoren des Altertums las, um sie wirklich kennenzulernen, in der man wichtige philosophische und moralische Lehren von ihnen erwartete. Der Spezialist liest sie heute nur, um sie zu korrigieren. Mit Rotstift in der Hand und fiebrigem Blick lauert er, den Text überfliegend, auf Fehler im Manuskript. Er wäre untröstlich, wenn die Texte des Altertums unversehrt zu uns gelangt wären oder wenn ein fehlerfreies Manuskript uns seine Konjekturen entbehrlich machen würde. Er fragt sich nicht, was der Autor dachte, als er seinen Satz schrieb, sondern woran der Kopist dachte, während er ihn abschrieb. Er hat so eine neue Wissenschaft begründet, die man Psychologie des Abschreibens nennen könnte und die die Auseinandersetzung mit dem Werk zu ersetzen droht.« 14

Im Unterschied zu den modernen Texten, die nach ihrer Fertigstellung unverzüglich gedruckt wurden, mussten die Texte des Altertums handschriftlich überliefert werden. Das ist zwar im Grunde ein äußerlicher Unterschied, aber er ist doch die Ursache dafür, dass sich Il fut un temps où on lisait les auteurs anciens pour les connaître, où on leur demandait de grands enseignements philosophiques et moraux. Le spécialiste ne les lit aujourd’hui que pour les corriger. Le crayon à la main, le regard fiévreux, il guette au passage les erreurs du manuscrit. Il serait désolé que le texte des auteurs anciens nous fût parvenu intact, ou qu’un manuscrit correct nous dispensât de ses conjectures. Il ne se demande pas ce que pensait l’auteur en écrivant sa phrase, mais à quoi pensait le copiste en la transcrivant. Il a ainsi fondé une science nouvelle, qu’on pourrait appeler la psychologie de la transcription, et qui menace de remplacer la critique littéraire. – Mél. 262 | Écr. 43 f.

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der auf klassische Texte spezialisierte Philologe eine andere Aufgabe stellt als derjenige, der sich nur mit neueren Texten befasst. Wenn der neuere Philologe primär die Rekonstruktion der Lebensumstände anstrebt, so bemüht sich der klassische Philologe um die Rekonstruktion der Texte. Indem er dies als arbeitsteiliger Spezialist tut, unterliegt aber auch er einem Missverständnis, insofern er eine falsche Vorstellung davon hat, was der Begriff »Text« besagen will. Ein Text ist für ihn nur ein Ding, das im Kontext eines Auf- und Abschreibesystems anzusiedeln ist. Und es sind noch nicht einmal die Besonderheiten und Leistungen eines solchen Systems, die ihn beschäftigen, sondern es sind die Defizite in Gestalt der Fehler, die sich im Laufe der Jahrhunderte in die Texte eingeschlichen haben und die unserem Spezialisten nun Gelegenheit geben, mit seinen Konjekturen zu brillieren. Um diese anbringen zu können, bedarf er zwar einer gründlichen Kenntnis des Vokabulars und der Grammatik der betreffenden Sprache – die Frage nach dem Sinn des Textes dagegen kann er sich ersparen. An dieser Stelle mag man sich fragen, ob die angeführten Texte wirklich als Belege für das Vorhandensein texthermeneutischer Elemente in Bergsons Philosophie geeignet sind. Stärken sie nicht vielmehr die Position derjenigen, die Bergson Sprachfeindschaft vorwerfen, indem sie zur Verachtung der Sprache noch eine Verachtung der Philologie hinzufügen? Aber wer Ohren hat zu hören, der hört mühelos, dass die zitierten Sätze sich nicht gegen die Philologie überhaupt richten, sondern gegen einige ihrer Ausprägungen, die Bergson als verfehlt betrachtet. Er hört auch, dass die Texte sich nicht in der Kritik des philologischen Spezialistentums erschöpfen, sondern überdies einen anderen Sinn von »Verstehen« wenn auch nicht im Detail ausarbeiten, so doch zumindest andeuten. Der Neuphilologe sammelt unbekannte Dokumente und »vergisst« dabei, »dass das Unbekannte im Geist zu finden ist, nicht in alten Pergamenten«. Er verhält sich wie der naturwissenschaftliche Spezialist, der lediglich einen »Katalog der Phänomene« erstellt und ebenfalls »vergisst, dass die Fakten das Material der Wissenschaft, aber nicht die Wissenschaft selbst sind«. Und auch beim altphilologischen Spezialisten finden wir eine bestimmte Form des Vergessens. Vergessen nämlich ist »eine Zeit«, in der man »wichtige philosophische und moralische Lehren« von den Autoren des Altertums erwartete. Man hat es hier im Grunde mit Formen der Verdrängung zu tun. Die Menschheit als ganze, die einzelne Disziplin, der Wissenschaftler 48 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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als Individuum – sie alle haben einmal angefangen mit dem »ebenso noblen wie naiven Ehrgeiz« 15, alles erkennen und alles verstehen zu wollen. Sie alle haben dieses Streben verdrängt und es ersetzt durch einen Wissenschaftsbetrieb, der Fakten in unüberschaubarer Menge produziert, aber keinen Blick auf das Ganze gestattet, einen Wissenschaftsbetrieb, in dem der Einzelne methodischen Gewohnheiten folgt, ohne sie zu hinterfragen. Und parallel dazu haben sie das »Objekt des Wissens« verwandelt. Wie das Forschen des Spezialisten oberflächlich geworden ist, so untersucht es auch nur noch die Oberfläche seines Gegenstandes. Gefragt wird nicht mehr nach den – nur erschließbaren – gestaltenden Prinzipien, gefragt wird nur noch nach den – objektiv feststellbaren – Fakten. In Bezug auf die Philologie bedeutet das: Untersucht wird nur noch der Text, nicht mehr das Denken, nur noch der Buchstabe, nicht mehr der Geist, nur noch das Dokument, nicht mehr die Gedanken, die den Autor bewegten. Bergson empfiehlt hier nicht, dem Realitätsprinzip abzuschwören und stattdessen auf eine illusorische Ganzheit und Unmittelbarkeit zu hoffen. Bergson fordert vielmehr eine schwierige, vielleicht sogar paradoxe Haltung, die sich in der ambivalenten Rede vom »ebenso noblen wie naiven Ehrgeiz« ankündigt, und die dann insbesondere in zwei Sätzen zum Ausdruck kommt. Der erste Satz wurde bereits zitiert: »Wir müssen uns auf die Erkenntnis von Wenigem beschränken, wenn wir nicht in der Unkenntnis von allem verharren wollen.« Der zweite Satz – im Text der Rede unmittelbar auf den ersten folgend – lautet: »Aber man kann sich nicht spät genug beschränken.« 16 So spricht der selbst noch junge Henri Bergson zu Schülern der allgemeinbildenden Schule, die den »noblen und naiven Ehrgeiz« noch nicht verlernt haben. Später, wenn Bergson selbst älter ist und sich an Menschen wendet, die ihrerseits bereits Spezialisten sind, wird er sagen: Wir müssen uns wieder an jenes Streben nach dem Ganzen erinnern. Wir müssen uns wieder an das Ganze erinnern und nach dem Sinn dessen, womit wir es gerade zu tun haben, innerhalb dieses Ganzen fragen. Wenn wir es als Philosophen mit einzelnen Texten zu tun haben, dürfen wir uns nicht darauf beschränken, die sprachlichen Strukturen und die Wege der Überlieferung zu er-

Mél. 259 | Écr. 41 Nous devons nous résigner à connaître peu, si nous ne voulons pas tout ignorer. Mais on ne saurait s’y résigner trop tard. – Mél. 259 | Écr. 41

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forschen. Wir müssen vor allem nach ihrem Sinn fragen, nach der Sache, um die es in den Texten geht und um die es ihren Autoren ging. Kurz: Wir sind als Philosophen auch Philologen, aber Philologie darf nicht nur Kritik, sondern muss auch Hermeneutik sein. 17 Zieht man eine Linie von Bergsons frühen Festreden zu Les deux sources de la morale et de la religion, so hatte ich zu Beginn dieses Abschnitts behauptet, dann zeigt sich ein »anderer Bergson« – ein Bergson, der nicht »Philosoph der Naturwissenschaften« ist, sondern der einen Dialog mit den Geistes- und Sozialwissenschaften führt. Ich hatte freilich hinzugefügt: zunächst. Würden wir bei dieser Betrachtungsweise stehenbleiben, so würde sich ja die Frage stellen, ob wir zwischen dem einen und dem anderen Bergson wählen müssen, ob wir also, wenn wir Bergsons Philosophie als eine hermeneutische deuten wollen, zeigen müssen, dass diejenigen Interpretationen, die in ihr eine Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften sehen, falsch sind. Nun, wir müssen uns nicht die Mühe machen, unsererseits irgendwelche allgemeinen Überlegungen zu dieser Frage anzustellen, denn in dem Text, den wir gerade betrachten, gibt Bergson selbst eine Antwort. Diese Antwort ist merkwürdig, aber in ihrer Intention unmissverständlich: »Um die feinen Nuancen einer Denkweise zu erfassen, sind allgemeine Kenntnisse notwendig, die dem Spezialisten oft genug fehlen. Die Literatur ist genauso umfassend wie die Wahrheit, deren Ausdruck sie ist. Derjenige, der sich auf die Auseinandersetzung mit ihr einlässt, ohne sich durch ausgiebige Studien vorbereitet zu haben, derjenige, dem Naturwissenschaften und Philosophie fremd sind, der wird unweigerlich dazu verleitet werden, den Gehalt um der Form, den Gedanken um des Wortes willen zu missachten. Wenn der mathematische Geist darin besteht, richtig zu denken und das, was man denkt, klar auszudrücken – welcher Literat könnte darauf verzichten, ein wenig Mathematiker zu sein? Wenn die Philosophie die Wissenschaft der allgemeinen Ideen ist, dann ist derjenige, der ihr keine Beachtung schenkt, ein armseliger Kritiker. Ist denn die Literatur etwas anderes als eine Geometrie ohne Figuren, als eine Metaphysik ohne Barbarismen?« 18 Diese Unterscheidung Schleiermachers bringt offenkundig das auf den Begriff, was Bergson hier im Auge hat. – Vgl. Schleiermacher[1977]. 18 C’est que, pour saisir les nuances délicates d’une pensée, des connaissances générales sont nécessaires qui manquent trop souvent au spécialiste. La littérature est aussi vaste que la vérité dont elle est l’expression. Celui qui en aborde la critique sans s’être préparé par de fortes études, celui qui ignore la science et la philosophie, sera fatalement amené à négliger le fond pour la forme, l’idée pour le mot. 17

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Die Argumentation vollzieht sich in zwei Schritten. Im ersten Absatz scheint Bergson nur sagen zu wollen: Ein Literat darf sich nicht nur durch eine schöne Sprache auszeichnen, er muss auch etwas wissen, damit er etwas zu sagen hat. Und auch ein Interpret muss über ein gewisses Allgemeinwissen verfügen, damit er nicht nur die Form, sondern auch den Inhalt eines Textes erfassen kann. Im zweiten Absatz aber radikalisiert Bergson das Argument. Er sagt in diesem Absatz nicht nur, was andere hermeneutische Philosophen auch behauptet haben: dass nämlich auch die Kunst Wahrheit ausdrückt (wenn auch vielleicht eine andere als die Naturwissenschaft). Er sagt, dass Naturwissenschaft, Mathematik, Philosophie und Literatur letztlich nur verschiedene Formen sind, in denen sich die eine Wahrheit darstellt. Ja er behauptet sogar, dass die Literatur, wenn sie wirklich Literatur ist und als wirkliche Literatur wahrgenommen wird, zugleich auch Mathematik und Philosophie ist. Das macht unsere Aufgabe in gewisser Hinsicht einfacher, denn wir werden nicht wählen, uns nicht zwischen dem »einen« (naturwissenschaftlich-metaphysischen) und dem »anderen« (geisteswissenschaftlich-hermeneutischen) Bergson entscheiden müssen. In anderer Hinsicht aber macht es sie wesentlich schwieriger, denn wir werden im Verlauf der Untersuchung klären müssen, was es bedeuten soll, dass Literatur zugleich Mathematik, Hermeneutik zugleich Metaphysik ist. An einer ersten Antwort auf diese Frage arbeitete Bergson wohl bereits, als er seine Festrede über Nutzen und Nachteil des Spezialistentums hielt. Ein Jahr nach dieser Rede nämlich erschien im Pariser Verlag Delagrave ein Buch mit dem etwas barocken Titel Extraits de Lucrèce. Avec un commentaire, des notes et une étude sur la poésie, la philosophie, la physique, le texte et la langue de Lucrèce par Henri Bergson. 19 Bergson demonstriert also, dass die in seiner Festrede vorgetragenen Gedanken keine bloßen Worthülsen waren, indem er – was wenig bekannt ist – sich selbst als Philologe betätigt und als Gegenstand seiner Untersuchungen Lukrez’ Lehrgedicht De rerum natura wählt. Es fällt nicht schwer, diese Wahl zu verstehen. Wenn man zeigen will, dass nicht nur irgendwelches, sondern naturwissenschaftSi l’esprit mathématique consiste à penser juste, et à exprimer nettement ce qu’on pense, quel littérateur se dispenserait d’être un peu mathématicien ? Si la philosophie est la science des idées générales, celui-là est un piètre critique qui n’en fait point de cas. La littérature est-elle autre chose qu’une géométrie sans figures, une métaphysique sans barbarismes ? – Mél. 262 | Écr. 44 19 Vorwort und Einleitung sind abgedruckt in Mél. 265 ff.

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liches und mathematisches Wissen erforderlich ist, um ein literarisches Werk zu verstehen; wenn man zeigen will, dass Wissenschaft, Philosophie und Literatur eine Einheit bilden; wenn man zusätzlich zeigen will, dass die antiken Autoren uns noch etwas zu sagen haben; und wenn man schließlich all dies tun will, indem man Philologie betreibt, dann gibt es wohl keinen näher liegenden Text als diesen. Bergson jedenfalls hat diesen Text, wie der Titel bereits erkennen lässt, als Basis für einen Kommentar genutzt, der die naturwissenschaftlichen und philosophischen Aspekte des Werkes nicht minder beleuchtet als die sprachlichen und literarischen. Ein fragwürdiges, ein »unmögliches Buch«? 20 Vielleicht. Aber gerade als unmögliches wäre es ein typisches Buch – typisch für eine Epoche, die ihre Inspiration aus der Philologie bezog, deren bedeutendste Denker aber die Konzepte und Methoden der Philologie so weiterentwickelten, dass eine weit über deren Gegenstandsbereich hinausweisende Bedeutung sichtbar wurde. 21 Es würde zu weit führen, Extraits de Lucrèce im Detail zu untersuchen. Ich werde aber im Abschnitt 1.2.1 auf einige mir besonders interessant erscheinende Aspekte aus der Einleitung zu diesem Buch zurückkommen.

1.2 Der Text des Philosophen 1911 – also fast 30 Jahre nach La spécialité – hielt Bergson wieder einen Vortrag, diesmal freilich nicht vor Schülern, sondern vor den Teilnehmern des Internationalen Kongresses für Philosophie in Bologna. Bergson hatte zu dieser Zeit den Höhepunkt seines Ruhmes erreicht. Er wurde viel gelesen, fühlte sich manchmal verstanden, oft missverstanden, und vielleicht hielt er deshalb einen Vortrag über die Frage, was es bedeutet, einen philosophischen Text zu verstehen. Der Titel, den Bergson ihm gab, lautet freilich: »Die philosophische Intuition« (L’intuition philosophique). Er muss diesen Vortrag für wichtig und gelungen gehalten haben, denn er nahm ihn 1934 in die Aufsatz-

So hat bekanntlich Nietzsche in einem späten Vorwort sein Frühwerk »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik« charakterisiert. – KSA I, 11+14 21 Das ist bei Nietzsche offenkundig. Es lässt sich, wie man sieht, auch für Bergson zeigen. Habermas hat sogar auf analoge Zusammenhänge bei Freud hingewiesen (Habermas[1994] 263). 20

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sammlung La pensée et le mouvement auf, die gemeinhin als Sammlung der wichtigsten methodologischen Abhandlungen betrachtet wird. 22 Bergson deutet Thema und Gliederung des Vortrags in einer äußerst kurzen – lediglich den ersten Paragraphen umfassenden – Einleitung an. Er geht vom Gesamteindruck des Kongresses aus, den er in die Formulierung kleidet, die Metaphysik sei derzeit bestrebt, »sich zu vereinfachen«. Dieses Streben ziele seiner Meinung nach in die richtige Richtung, denn man dürfe »angesichts der Kompliziertheit des Buchstabens nicht die Einfachheit des Geistes aus den Augen verlieren« 23. Durch den Rückgriff auf diese Redewendung nimmt Bergson beinahe unmerklich das vor, was ich die Drehung des Themas ins Hermeneutische nennen würde. Das Thema hätte sich nicht nur anders behandeln lassen, Bergson hat es in anderen Texten auch anders behandelt. Hier aber werden nun »Geist« und »Buchstabe« zu Leitbegriffen, wobei der Geist für das Einfache, der Buchstabe für die Kompliziertheit steht. Bergson fährt fort: »Wenn man sich nur an die einmal formulierten Lehren hält, an die Synthese, in der sie anscheinend die Schlussfolgerungen der früheren Philosophien und die Gesamtheit der erworbenen Erkenntnisse umfassen, so läuft man Gefahr, die wesenhafte Spontaneität im philosophischen Denken nicht mehr zu bemerken.« 24

Die Kompliziertheit des Buchstabens bzw. der einmal – d. h. endgültig – formulierten Lehre beruht demnach darauf, dass sie eine Synthese mannigfaltiger Materialien darstellt, die der Philosoph fertig vorfindet. Auf der anderen Seite wird der Geist, dem bereits das Merkmal der Einfachheit zugesprochen wurde, nun zusätzlich als Spontaneität Die Ausarbeitung des vorliegenden Kapitels war bereits abgeschlossen, als Rocco Ronchis Buch Bergson. Una sintesi erschien (Ronchi[2011]), in dem L’intuition philosophique ebenfalls als Einstiegstext verwendet wird. Wenn zwei Interpreten unabhängig voneinander auf den Gedanken kommen, dieser zumeist als Randerscheinung betrachtete Text sei geeignet, einen ersten Gesamteindruck von Bergsons hermeneutischer Philosophie zu vermitteln, so deutet das, wie ich meine, darauf hin, dass hier nicht persönliche Willkür, sondern eine in der Sache liegende Logik am Werke ist. 23 Car il ne faut pas que la complication de la lettre fasse perdre de vue la simplicité de l’esprit. – PM 1345 | 117 | 126 24 À ne tenir compte que des doctrines une fois formulées, de la synthèse où elles paraissent alors embrasser les conclusions des philosophies antérieures et l’ensemble des connaissances acquises, on risque de ne plus apercevoir ce qu’il y a d’essentiellement spontané dans la pensée philosophique. – a. a. O. 22

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charakterisiert. Damit ist das Thema des Vortrags umrissen: Es geht – wie schon in La spécialité – um das Verhältnis von Geist und Material. Bergson unterscheidet nun zwei Arten von Material. Zum einen handelt es sich um »Schlussfolgerungen der früheren Philosophien«, zum anderen um durch die Wissenschaft »erworbene Erkenntnisse«. Daraus ergeben sich die beiden Hauptteile des Vortrags. Im ersten Teil betrachtet Bergson philosophie-intern das Verhältnis einer Philosophie zu der ihr vorausgehenden Tradition. Dieser erste und weitaus längere Teil lässt sich noch einmal gliedern in einen ersten, allgemeine Erörterungen bietenden, und einen zweiten, die allgemeinen Grundsätze auf ein Beispiel (Berkeley) anwendenden Abschnitt. Im zweiten Teil bezieht Bergson dann die Wissenschaften in die Betrachtung ein, indem er die Frage nach dem Verhältnis einer Philosophie zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen ihrer Zeit stellt. Wir können demnach die These, dass dieser Vortrag texthermeneutische Elemente enthält, präzisieren. Bergson betreibt (1) das, was die Hermeneutik untersucht – also das Verstehen, Interpretieren, Auslegen –, indem er die Grundzüge von Berkeleys Philosophie vorstellt. Er betreibt (2) etwas, was man als hermeneutische Methodenlehre bezeichnen könnte, indem er einerseits eine gängige, aber seiner Meinung nach inadäquate, andererseits eine angemessenere Form des Zugangs zu philosophischen Texten vorstellt. Er betritt (3) das Feld einer Grundlegung der Hermeneutik bzw. einer philosophischen Hermeneutik, indem er fragt, was wir eigentlich meinen, wenn wir zwischen dem Text als Dokument oder als sprachlichem Gebilde – dem »Buchstaben« – einerseits und der Bedeutung oder dem Sinn – dem »Geist« – eines Textes andererseits unterscheiden.

1.2.1 Vom Material zur Intuition: Der Weg des Interpreten Im ersten, dem Verhältnis einer Philosophie zur philosophischen Tradition gewidmeten Teil von L’intuition philosophique wird eine Denkbewegung vorgeführt. Genauer gesagt: Sie wird zweimal vorgeführt. Zu Beginn des theoretischen Teils wird sie skizziert, und im Rahmen der Erörterung des Beispiels (Berkeley) wird sie noch einmal ausführlicher wiederholt. Die Situation, von der Bergson ausgeht, gleicht weitgehend derjenigen, die er in La spécialité beschrieben hatte: Ein Gelehrter liest philosophische Texte. Allerdings handelt es sich bei dem gelehrten Leser hier nicht – wie in La spécialité – um einen 54 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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Philologen, sondern – mit Rücksicht auf die mehrheitlich aus Professoren für Philosophie bestehende Zuhörerschaft – um einen Philosophieprofessor. Wichtiger ist, dass der Philologe sich nicht für das Denken des Autors interessiert hatte, während der Philosophieprofessor das sehr wohl tut. Am wichtigsten aber ist, dass Bergson sich in La spécialité darauf beschränkt hatte, das oberflächliche und kurzsichtige Spezialistentum des Philologen zu kritisieren, während er sich in L’intuition philosophique zusammen mit dem Philosophieprofessor – und zusammen mit seinen Hörern/Lesern – auf eine Denkbewegung einlässt, die der Beantwortung der Frage dient: Was ist denn eigentlich dieses »Denken«, das die Texte hervorgebracht hat? Was meinen wir eigentlich, wenn wir vom »Geist« einer Philosophie oder vom »Sinn« eines Textes sprechen? Um die von Bergson vorgeführte Denkbewegung beschreiben und nachvollziehen zu können, benötigen wir zunächst die Begriffe Material und Geist. Das Material ist durch seine Vielzahl, der Geist durch seine Einheit charakterisiert. Tritt das Material innerhalb einer umgreifenden Einheit (eines philosophischen Werkes) auf, dann wird aus der puren Vielzahl Komplexität. Tritt der Geist in Verbindung mit dem Material, dann wird aus der puren Einheit integrative Kraft. Komplexität und integrative Kraft sind die zwei Seiten einer Zwischenschicht, die gleichsam zwischen der Schicht des Materials und der Schicht der Einheit eingeschoben wird. Diese Zwischenschicht ist das, was wir als Sinn bezeichnen. Das Verstehen eines Textes ist dann die Aktivität, durch die man den Text mit der Sinnschicht in Verbindung bringt. Die Grundlegung der Texthermeneutik, die Bergson in L’intuition philosophique vorträgt, beruht nun auf der These, dass zwischen der Vielheit des Materials und der Einheit des Geistes nicht nur eine Schicht des Sinns – gleichsam an einer präzise angebbaren Stelle – existiert, sondern dass wir von mehreren derartigen Schichten ausgehen müssen. Bergson beschreibt vier Gestalten des Sinns, die er als »Architektur«, »Organismus«, »Bild« und »Intuition« bezeichnet. 25 Man kann sich an dieser Stelle fragen, was Bergson genau sagen wollte. Besagt seine These, dass es (genau) vier Schichten des Sinns gibt, oder besagt sie, dass es mehrere (also möglicherweise mehr als vier) Schichten des Sinns gibt? Ohne Zweifel ist das von Bergson in L’intuition philosophique vorgetragene Vier-Schichten-Modell so anschaulich, überzeugend und anregend für die Praxis, dass man wenig Anlass hat, sich nach Alternativen umzusehen. Andererseits wird man, wenn man diesen Vortrag nicht isoliert, sondern im Kontext von Bergsons gesamter Philosophie betrachtet,

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Die Denkbewegung, die ich in diesem Abschnitt beschreiben möchte – also die Denkbewegung des Lesers oder des Interpreten –, führt von der Gestalt mit der niedrigsten zu derjenigen mit der höchsten integrativen Kraft. Sie kommt zustande aufgrund einer Erfahrung, die ich als diejenige der Nicht-Übereinstimmung oder Nicht-Identität bezeichnen möchte. Jede 26 Konzeption von »Sinn« erweist sich als defizitär in einem gleich zu klärenden Sinn und erzwingt dadurch eine neue Konzeption, d. h. den Sprung auf eine andere Ebene. Wenden wir uns nunmehr der ersten Konzeption des Sinnes zu. Sie liegt vor allem einer gewissen akademisch-philosophischen Forschung und Lehre zugrunde: »Es gibt eine Beobachtung, die alle diejenigen unter uns haben machen können, die die Geschichte der Philosophie unterrichten, alle diejenigen, die Anlass haben, häufig auf das Studium der gleichen Lehren zurückzukommen und so immer tiefer in sie einzudringen. Ein philosophisches System stellt sich zunächst als ein vollständiges Gebäude dar, in großartiger Architektonik, so konstruiert, dass man alle Probleme bequem darin unterbringen könnte. Wenn wir es in dieser Form betrachten, empfinden wir dabei einen ästhetischen Genuss, der noch durch eine Art von fachlicher Befriedigung erhöht wird. Nicht nur, dass wir in der Komplikation eine alles durchwaltende Ordnung finden (und uns gelegentlich damit vergnügen, diese Ordnung noch zu vervollständigen, während wir sie beschreiben), sondern wir haben auch die Befriedigung, dass wir wissen, woher die Materialien stammen, und wie die Konstruktion durchgeführt worden ist. In den Problemen, die der Philosoph sich gestellt hat, erkennen wir die Fragestellungen, die seine Zeit bewegten. In den Lösungen, die er bietet, glauben wir, in mehr oder weniger guter Anordnung, aber im Grunde unverändert, die Grundbestandteile der älteren oder zeitgenössischen Philosophie wiederzufinden.« 27 feststellen müssen, dass das Vier-Schichten-Modell letztlich dem Bild des sich immer stärker verengenden Kegels entspricht, das Bergson in Matière et mémoire entwickelt und in Introduction à la métaphysique an entscheidender Stelle eingesetzt hatte (vgl. Abschnitt 4.2.2.2, S. 490). In beiden Werken spricht Bergson aber davon, dass der Kegel sich prinzipiell in unendlich viele Schichten zerlegen lasse. 26 Jede? Jede. Dass auf ihre – freilich ganz andersartige – Weise auch die Intuition defizitär, d. h. durch Nicht-Übereinstimmung charakterisiert ist, versuche ich im Abschnitt 1.2.2, S. 66, zu zeigen. 27 Il y a une remarque qu’ont pu faire tous ceux d’entre nous qui enseignent l’histoire de la philosophie, tous ceux qui ont occasion de revenir souvent à l’étude des mêmes doctrines et d’en pousser ainsi de plus en plus loin l’approfondissement. Un système philosophique semble d’abord se dresser comme un édifice complet, d’une architecture savante, où les dispositions ont été prises pour qu’on y pût loger commodément tous les problèmes. Nous éprouvons, à le contempler sous cette forme, une joie esthé-

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Das Verfahren, das Bergson hier im Auge hat, beginnt mit dem Vergleichen. Nun ist das Vergleichen, wie sich im Abschnitt 1.1 bereits gezeigt hatte, kein ganz unproblematischer Begriff. Halten wir deshalb fest, dass das Vergleichen, dessen Unterlassung er in La spécialité dem philologischen Spezialisten vorwirft und das er selbst in seinem Lukrez-Kommentar praktiziert, eine ganz andere Operation darstellt als dasjenige Vergleichen, von dem in L’intuition philosophique die Rede ist. Wenn Bergson im zweiten Abschnitt seines LukrezKommentars den Atomismus des Lukrez mit demjenigen Demokrits und Epikurs vergleicht, dann geschieht das mit der Absicht, vor dem Hintergrund des Gemeinsamen das Eigentümliche der von Lukrez vorgetragenen Lehre herauszustellen. Der Leitbegriff dieses Vergleichens ist die Originalität. 28 Das Resultat derartigen Vergleichens liefert unter anderem die Antwort auf die Frage, warum es sich lohnt, Lukrez auch dann zu lesen, wenn man Demokrit und Epikur bereits gelesen hat. Ganz anders das Vergleichen, um das es sich hier handelt. Dessen Leitbegriff ist derjenige der Quelle. Dieses Vergleichen zielt ausschließlich darauf ab, Gemeinsamkeiten zwischen dem zu interpretierenden Text und anderen Texten aufzufinden. Da, wo es solche Gemeinsamkeiten findet, interpretiert es sie als Einfluss in dem Sinne, dass der spätere Autor einen Begriff oder eine Denkfigur unverändert von dem früheren übernommen hat. Das Endergebnis dieser Operation besteht darin, dass man den zu untersuchenden Text gleichsam in seine Bestandteile zerlegt hat, dass man – so jedenfalls stellen die Verfechter eines derartigen Verfahrens sich die Sache vor – das Baumaterial besichtigen kann, das dem Philosophen für die Errichtung seines Gebäudes zur Verfügung stand. Nun kann es dabei nicht bleiben. Man kann nicht den Text in Teile zerlegen und dann das Geschäft der Interpretation für beendet erklären. Wer so verführe, hatte Bergson bereits in seiner Rede über tique renforcée d’une satisfaction professionnelle. Non seulement, en effet, nous trouvons ici l’ordre dans la complication (un ordre que nous nous amusons quelquefois à compléter en le décrivant), mais nous avons aussi le contentement de nous dire que nous savons d’où viennent les matériaux et comment la construction a été faite. Dans les problèmes que le philosophe a posés nous reconnaissons les questions qui s’agitaient autour de lui. Dans les solutions qu’il en donne nous croyons retrouver, arrangés ou dérangés, mais à peine modifiés, les éléments des philosophies antérieures ou contemporaines. – PM 1346 | 118 | 126 f. 28 Vgl. die Überschrift des zweiten Teils der Einleitung: Originalité de Lucrèce comme philosophe et comme poète. Démocrite et Épicure. – Mél. 276 ff.

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das Spezialistentum gesagt, der gliche einem Koch, der seinem Gast anstelle eines guten Gerichts nur die rohen Zutaten serviert. Und noch deutlicher: »Kennen Sie ein Gebäude, nachdem man Ihnen alle Steine gezeigt hat, aus denen es besteht?« 29 Deshalb muss auf die quellenkritische Analyse eine zweite, in entgegengesetzter Richtung arbeitende Operation folgen: die Rekonstruktion der ursprünglich vorgefundenen Philosophie aus dem ermittelten Material. Die dabei leitende Vorstellung ist, wie Bergson durch Formulierungen wie »Elemente«, »kaum modifiziert«, »mehr oder weniger originelle Synthese« andeutet, diejenige eines philosophischen Atomismus, der unterstellt, dass es eine gewisse Menge von Denkelementen gebe und dass die Verschiedenheit der einzelnen Philosophien sich aus der verschiedenartigen Zusammensetzung dieser Elemente ergebe. Sie wird ergänzt durch den Gedanken einer Architektur der philosophischen Systeme – einer Ordnung, durch die aus den ursprünglich heterogenen Elementen ein stimmiges Ganzes wird. Die Architektur schafft die Ordnung in der Komplexität. Bergson bemüht sich, die Vorgehensweise als solche und ihre Leistungen zunächst einmal sachlich zu beschreiben. Aber schon diese Darstellung enthält ironische Elemente, durch die eine gewisse Distanz aufgebaut wird. Deren offenkundigstes ist sicherlich die gleichsam augenzwinkernd vorgetragene Bemerkung, die gelehrten Interpreten würden sich gelegentlich »damit vergnügen«, die Ordnung zu vervollständigen, also gleichsam noch den einen oder anderen Anbau auf eigene Rechnung hinzuzufügen. Damit deutet Bergson – wenn auch äußerst behutsam – an: All das ist – zumindest teilweise – Spielerei. All dem fehlt – zumindest in mancher Hinsicht – der nötige Ernst. Je genauer Bergson nun aber die Grundlagen und die Ergebnisse dieses Verfahrens betrachtet, desto größer wird die Distanz, desto stärker die Kritik, und am Ende – nämlich bei dem Versuch, Berkeleys Philosophie auf diese Weise darzustellen – bleibt von der erhabenen Architektonik nur noch eine lächerliche Karikatur übrig: »Nehmen wir also diese Brocken antiker und moderner Philosophie, tun wir sie alle in ein einziges Gefäß, fügen wir eine gewisse angriffslustige Ungeduld in Bezug auf den mathematischen Dogmatismus und den bei einem philosophisch interessierten Bischof ganz natürlichen Wunsch, den Glauben mit der Vernunft in Einklang zu bringen, als Essig und Öl hinzu, 29

Mél. 260, 259 | Écr. 42, 41

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rühren und mischen wir gewissenhaft, streuen wir über dieses Ganze, gleichsam als würzige Kräuter, eine gewisse Anzahl von Aphorismen, die wir bei den Neuplatonikern aufgesammelt haben: und schon haben wir – verzeihen Sie mir den Ausdruck – einen Salat beieinander, der, aus der Ferne betrachtet, demjenigen, was Berkeley geschaffen hat, hinlänglich ähnelt.« 30

Indessen wäre es falsch, diese Polemik aus dem Gesamtzusammenhang des Textes herauszureißen und daraus zu schließen, Bergson wolle die philosophische Forschung im Sinne eines Aufdeckens der Traditionszusammenhänge als wertlos beiseite schieben. Bergson selbst hebt hervor, dass das nicht seine Absicht ist: »Ich sage nicht, die Arbeit des Vergleichens, der wir uns zunächst hingegeben hatten, sei verlorene Zeit gewesen. Ohne diese Vorarbeit, eine Philosophie zu rekonstruieren aus dem, was nicht sie selbst ist, und sie in Beziehung zu setzen zu dem, was es um sie herum gab, würden wir vielleicht niemals zu dem gelangen, was wirklich sie selbst ist. Denn der menschliche Geist ist so beschaffen, dass er das Neue erst zu verstehen beginnt, nachdem er alles versucht hat, es auf das Altbekannte zurückzuführen.« 31

Festzuhalten ist nämlich: Das Verfahren, zunächst die in einem Text verborgenen traditionellen Denkelemente zu ermitteln und anschließend zu untersuchen, wie dieses Baumaterial in der Philosophie, mit der man es gerade zu tun hat, zusammengefügt wurde, stellt eine eigenständige, über das bloß passive Hinnehmen des Textes hinausgehende intellektuelle Leistung dar. Es spannt gleichsam eine zweite Schicht – die der Denkelemente und der sie zusammenschließenden Struktur – über der Schicht des Textes, d. h. der sprachlichen Diskursivität auf. Dieses Verfahren gibt zugleich eine erste Antwort auf die Prenons donc ces tranches de philosophie ancienne et moderne, mettons-les dans le même bol, ajoutons en guise de vinaigre et d’huile, une certaine impatience agressive à l’égard du dogmatisme mathématique et le désir, naturel chez un évêque philosophe, de réconcilier la raison avec la foi, mêlons et retournons consciencieusement, jetons par-dessus le tout, comme autant de fines herbes, un certain nombre d’aphorismes cueillis chez les néo-platoniciens : nous aurons – passez-moi l’expression – une salade qui ressemblera suffisamment, de loin, à ce que Berkeley a fait. – PM 1352 | 126 | 134 31 Je ne dis pas que le travail de comparaison auquel nous nous étions livrés d’abord ait été du temps perdu : sans cet effort préalable pour recomposer une philosophie avec ce qui n’est pas elle et pour la relier à ce qui fut autour d’elle, nous n’atteindrions peut-être jamais ce qui est véritablement elle ; car l’esprit humain est ainsi fait, il ne commence à comprendre le nouveau que lorsqu’il a tout tenté pour le ramener à l’ancien. – PM 1346 | 118 f. | 127 30

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Frage, wie man sich das vorzustellen hat, was wir meinen, wenn wir vom »Sinn« sprechen: Der Sinn eines Textes ist nach dieser Auffassung identisch mit der Architektur des Systems. Und einen Text zu verstehen bedeutet, die Ebene des diskursiven sprachlichen Verlaufs mit der Ebene der Architektur in Beziehung zu setzen. All dies ist fraglos als Leistung der philosophischen Gelehrsamkeit zu verbuchen. Gleichwohl erweist sich deren Ansatz als ungenügend. Aber es geht Bergson nicht darum, dies – gleichsam vom Standpunkt des Wissenden aus – zu verkünden und eine bessere, richtigere Methode zu entwickeln, die man dann zu übernehmen hätte. Es geht ihm vielmehr darum, den Leser eine Erfahrung machen zu lassen, oder vielmehr: ihn auf eine Erfahrung hinzuweisen, die er vermutlich ohnehin macht und die ihn von selbst auf die richtige Methode führen wird. Voraussetzung für diese Erfahrung ist, dass die Lektüre philosophischer Texte nicht als intellektuelle Spielerei, sondern mit dem notwendigen Ernst betrieben wird. Dieser Ernst äußert sich zunächst als »häufig wiederholter Kontakt mit dem Denken des Meisters« 32. Aber aus der bloßen Häufigkeit des Zurückkommens auf den Text entspringt das, was Nietzsche die »Kunst, gut zu lesen« 33, genannt hat, und aus dieser wiederum entspringt eine Erfahrung, die ich weiter oben bereits als die Erfahrung der Nicht-Übereinstimmung bezeichnet habe. Es ist dies eine Erfahrung, die man, wie sich im weiteren Verlauf der Untersuchung immer deutlicher zeigen wird, getrost als die Grunderfahrung von Bergsons hermeneutischer Philosophie bezeichnen kann. Hier begegnen wir ihr – wiederum im Kontext der Berkeley-Skizze – in einer ersten Gestalt: »Was für ein eigenartiger ›Nominalismus‹, der darauf hinausläuft, eine gewisse Zahl von Allgemeinbegriffen zu ewigen, in der göttlichen Intelligenz enthaltenen Wesenheiten zu erheben! Und was für eine seltsame Leugnung der Realität der Körper, die sich in einer positiven Theorie vom Wesen der Materie ausdrückt, einer fruchtbaren Theorie übrigens, die so weit wie irgend möglich von einem sterilen, die Wahrnehmung dem Traum angleichenden Idealismus entfernt ist!« 34

contact souvent renouvelé avec la pensée du maître – PM 1346 | 118 | 127 Nietzsche, KSA 6, 233 34 […] singulier « nominalisme » que celui qui aboutit à ériger bon nombre d’idées générales en essences éternelles, immanentes à l’Intelligence divine ! étrange négation de la réalité des corps que celle qui s’exprime par une théorie positive de la nature 32 33

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Die Erfahrung, die der gründliche Leser macht, ist also diese: Er hat bei der ersten Begegnung mit dem philosophischen Text darin ein gewisses traditionelles Denkelement X gefunden. Das war möglich, weil die erste Begegnung nur ganz wenige und sehr grobe Linien erkennen ließ. Eine genauere Lektüre führt dann zu feinerem und präziserem Erfassen der Gestalt, in der das Denkelement auftritt, und so wird sichtbar, dass das, was man umstandslos mit dem Denkelement X identifiziert hatte, in mancherlei Hinsicht von dem abweicht, was zu erwarten gewesen wäre. Formulieren wir es so: Das »Denkelement X«, das im Text begegnet, entspricht in mancherlei Hinsicht nicht der Definition des »Denkelements X«, die man etwa in einem philosophischen Wörterbuch finden würde. Was ist mit dieser Erfahrung anzufangen? Zunächst einmal: Aus ihr folgt nicht die Falschheit des anfänglichen Eindrucks. Vielmehr folgt daraus die Unangemessenheit der Vorstellung, dass ein Denkelement gar nicht oder nur unwesentlich verändert aus einer Philosophie in eine andere übernommen werden könnte. Es mag so etwas wie philosophische Denkelemente geben, aber wenn es sie gibt, dann kann man sie jedenfalls nicht einfach übereinanderschichten wie Bausteine. Das ist deshalb so, weil zwei Denkelemente, die man in einer Philosophie kombiniert, sich gegenseitig modifizieren. Nach der Kombination sind sie nicht mehr das, was sie vorher waren, und sie sind auch nicht das, was sie gemäß der Definition im Wörterbuch sein sollten. Sind aber die gegenseitigen Modifikationen der Grund für die Abweichungen – sowohl von der »Normalform« als auch von der Form, die ein Denkelement in einem anderen Zusammenhang annimmt –, dann folgt daraus, dass es nicht möglich ist, ein Denkelement, das in einer Philosophie auftritt, isoliert zu betrachten, sondern dass es nur im Zusammenhang mit allen anderen Denkelementen verstanden werden kann. Es kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu. Wenn man das Ziel der Bemühung um einen philosophischen Text darin sieht, die Architektur des Systems zu rekonstruieren, so hat man es sowohl im Hinblick auf die angeblich unveränderlichen Denkelemente als auch im Hinblick auf die sie verbindende Struktur mit unpersönlichen Gebilden zu tun. Es handelt sich um einen Atomismus bzw. Strukturalismus, der nur das Spiel von Denkpartikeln kennt, dem aber der Gede la matière, théorie féconde, aussi éloignée que possible d’un idéalisme stérile qui assimilerait la perception au rêve ! – PM 1352 f. | 126 | 134

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danke der Individualität oder der Persönlichkeit vollkommen fremd ist. Dieser Gedanke scheint erstmals auf, wenn man sich von der Vorstellung unveränderlicher Denkelemente befreit: »Diese Illusion hält nicht lange an, denn wir bemerken bald, dass selbst da, wo der Philosoph schon einmal gesagte Dinge zu wiederholen scheint, er sie doch auf seine Weise denkt.« 35

Nimmt man das ernst, dann entspringt daraus eine neue und andersartige Konzeption (oder Gestalt) des Sinns. Die Sinnebene erscheint nun nicht mehr, wie zuvor, als mechanische, nachträgliche Verbindung vorgefertigter Teile (assemblage), sondern als lebendige Einheit (organisme), deren Teile miteinander reagieren und sich gegenseitig modifizieren. 36 Aufgabe des Verstehens ist es dann, den gelesenen Text von dieser organischen Einheit her zu erfassen. Ist damit der Gesichtspunkt erreicht, den Bergson erreichen wollte? Keineswegs. Wer sich, auf dieser Stufe angekommen, weiter in die Texte und das Denken eines Philosophen vertieft, der wird bemerken, dass die Vorstellung, der Sinn sei als organische Verbindung von Denkelementen aufzufassen, auf eine neue Nicht-Übereinstimmung führt, die einen weiteren konzeptionellen Sprung erzwingt. Ein Denkelement kann, wie wir gesehen hatten, aus einer Philosophie in eine andere versetzt werden. Dadurch verändert es sich zwar, aber es wird doch nicht zu etwas völlig Anderem. Nun kann man sich fragen, ob es auch möglich ist, die in einem philosophischen Text verwendeten Denkelemente so durch andere zu ersetzen, dass der Text dadurch nicht zu etwas völlig Anderem wird, d. h. dass darin immer noch das gleiche Denken zum Ausdruck kommt. In der Tat gibt es Erfahrungen, die uns veranlassen werden, diese Frage zu bejahen. Dazu gehört etwa die Erfahrung, dass ein Philosoph sein Denken in verschiedenen Texten auf unterschiedliche Weise formuliert. Dazu gehört auch die Erfahrung, dass es einem Interpreten gelingen kann, den Gehalt einer Philosophie nach mehreren Jahrzehnten, Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden nicht nur zu verstehen, sondern – unter völlig anderen Gegebenheiten und unter Verwendung völlig anderer Denkmittel – für die eigene Zeit fruchtbar zu machen. Gewiss, man kann nicht einfach ein einzelnes Denkelement aus dem ZusamMais l’illusion ne dure guère, car nous nous apercevons bientôt que, là même où le philosophe semble répéter des choses déjà dites, il les pense à sa manière. – PM 1349 | 122 | 130 36 PM 1353 | 127 | 134 35

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menhang herausnehmen, es durch ein anderes ersetzen und erwarten, dass die Bedeutung des Ganzen die gleiche bleibt. Sehr wohl aber scheint es stets mehrere verschiedene Konstellationen von Denkelementen zu geben, die äquivalent sind in dem Sinne, dass durch sie der gleiche Inhalt zum Ausdruck gebracht wird. Das Verhältnis des philosophischen Gedankens zu den vorgefundenen Denkelementen ist also kein anderes als dasjenige zum vorgefundenen Sprachmaterial: »Der gleiche Gedanke kann sich in verschiedenen Sätzen ausdrücken, die aus ganz verschiedenen Worten bestehen, vorausgesetzt, dass die Worte untereinander in derselben Beziehung stehen.« 37

Diese Äquivalenz verschiedener Konstellationen von Denkelementen ist nun ein Indiz für eine Nicht-Übereinstimmung. Das wird erkennbar, wenn man fragt, wie die Äquivalenz zustande kommt und woran äquivalente Konstellationen zu erkennen sind. Wenn die Rede von äquivalenten Materialkonstellationen gerechtfertigt sein soll, dann muss es etwas geben, was die Äquivalenz begründet, d. h. etwas, was gleich bleibt, wenn sich die Materialkonstellation verändert. Die Äquivalenz verweist also auf eine höhere, noch über assemblage und organisme hinausgehende Ebene der Integration. Bergson nennt sie image, image intermédiaire oder – unter dieser Bezeichnung ist sie berühmt geworden – image médiatrice. 38 Wie hat man sich ein solches Bild vorzustellen? Man hat gesagt – und zu Recht gesagt –, dass der Gedanke des »vermittelnden Bildes« ein neuer Gedanke sei, den Bergson in L’intuition philosophique erstmals vortrage. Das schließt aber nicht aus, dass sich in früheren Werken bereits »primitive«, d. h. weniger differenzierte Vorformen finden lassen. In der Tat stößt man bereits im Lukrez-Kommentar (also fast 3 Jahrzehnte vor L’intuition philosophique) auf etwas, was Bergson zunächst idée directrice, dann idée maîtresse, schließlich conception poétique de l’univers 39 nennt. Lukrez war nach Bergsons Auffassung einerseits zutiefst von der Wahrheit des antiken Atomismus überzeugt, für den die Welt aus einer unendlich großen Anzahl von Atomen besteht, deren Bewegungen streng und lückenlos determiniert sind, so dass es keinen Zufall und keine Freiheit gibt. Anderer37 […] la même pensée se traduit aussi bien en phrases diverses composées de mots tout différents, pourvu que ces mots aient entre eux le même rapport. – PM 1358 | 134 | 140 38 PM 1347–1348, 1355 | 119–121, 130 | 128–129, 137 39 Mél. 270, 272, 286

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seits aber erfreute er sich an der Vielfalt der Formen in der Natur und verfolgte voll Mitgefühl das Streben der Menschen, ihr Leben zu gestalten. Diese beiden Aspekte der Wirklichkeit sind aber nicht miteinander vereinbar, und so sah Lukrez eine Welt vor sich, die in bunter Fülle erscheint, aber doch nur aus Zusammenballungen eigenschaftsloser Atome besteht, und in der Menschen sich mühen, obwohl doch jede kleinste Bewegung determiniert ist. »Und das ist die Idee, die das Gedicht des Lukrez beherrscht. Nirgendwo ist sie explizit formuliert, aber das ganze Gedicht ist ihre Entfaltung.« 40

Das Bild, das Lukrez nach Bergsons Auffassung vor sich sah – das Bild einer Welt, die geprägt ist vom Widerspruch zwischen menschlichem Streben und Determiniertheit des Geschehens – ist eins der schönsten und am leichtesten nachvollziehbaren Beispiele für das »vermittelnde Bild«. Man sieht deutlich, dass es die Äquivalenz verschiedener Konstellationen von Denkelementen begründen kann, weil es sehr viel allgemeiner, abstrakter, kurz: einfacher ist als die organisch zu einer Einheit verschmolzenen Denkelemente. Es ist zwar – wie der Gegensatz von individuellem Streben und vollständiger Determiniertheit des Ganzen zeigt – durchaus nicht strukturlos, aber diese Struktur ist nicht mehr an bestimmte traditionelle Denkelemente gebunden. Man kann sich das leicht klarmachen, wenn man das von Bergson ermittelte Leitbild des Lukrez zusammenbringt mit Hans Blumenbergs Analyse der geistigen Situation im späten Mittelalter. 41 Man sieht dann sofort, dass Blumenbergs Beschreibung auf der gleichen Grundstruktur beruht, nur dass nun die von den Theologen auf die Spitze getriebene Willkür Gottes an die Stelle der unabänderlichen physikalischen Bewegungsgesetze tritt und die rationale Erforschung der Wirklichkeit auf die Seite der Vergeblichkeit wandert, wo sie sich mit dem menschlichen Erlösungsstreben trifft. Blickt man auf das Grundmuster, das dem Weltbild des von Bergson beschriebenen Lukrez und demjenigen des von Blumenberg beschriebenen spätmittelalterlichen Menschen gemeinsam ist, dann versteht man, was ein vermittelndes Bild ist, und dann versteht man auch, inwiefern es die

Voilà l’idée maîtresse du poème de Lucrèce. Nulle part elle n’est explicitement formulée, mais le poème tout entier n’en est que le développement. – Mél. 272 41 Vgl. Blumenberg[1988], Teil II: Theologischer Absolutismus und humane Selbstbehauptung. 40

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Äquivalenz völlig verschiedener Konstellationen von Denkelementen zu begründen vermag. Nun kann man zugestehen, dass sich der Autor eines Textes von einem derartigen Bild hat leiten lassen. Man kann auch zugestehen, dass ein Leser, der sich gründlich genug mit dem Text beschäftigt, in der Lage ist, ein derartiges, den Text prägendes Bild zu ermitteln und den Text von ihm her zu verstehen. Aber wie soll man als Leser in Erfahrung bringen, ob das Bild, das sich vor den eigenen Augen abzeichnet, auch das Bild war, das dem Autor vorschwebte? Die Antwort, die wir auf diese Frage erhalten, ist erstaunlich ruppig für einen Bergson, der sonst stets korrekt und diplomatisch auftritt, und erstaunlich gleichgültig für einen Philosophen, der nicht müde wird, Präzision des Denkens zu fordern: »Hat das vermittelnde Bild, das sich bei fortschreitendem Studium des Werkes immer deutlicher im Geist des Interpreten abzeichnet, in dieser Form auch im Denken des Meisters existiert? Nun, wenn es nicht dieses war, dann war es eben ein anderes, das vielleicht einer anderen Ordnung von Wahrnehmungen angehörte und keinerlei materielle Ähnlichkeit mit ihm hatte, das ihm aber nichtsdestoweniger äquivalent war wie zwei Übersetzungen des gleichen Originals in verschiedene Sprachen einander äquivalent sind.« 42

Mag der Ton auch überraschen, so ist doch die Botschaft im zweiten Teil des angeführten Zitats mit aller wünschenswerten Deutlichkeit formuliert: Der Interpret muss zwar darauf achten, dass sein Bild zum Text passt, er muss aber nicht sicherstellen, dass es identisch ist mit demjenigen Bild, das den Autor leitete. Das ist deshalb der Fall, weil es eine Äquivalenz der Bilder gibt. 43 Wenn es sich freilich so verhält, dann ist auch das Bild, so komprimiert es sein mag, noch nicht die endgültige Gestalt des Sinns, dann muss die integrative Kraft, die im Bild schon ein gewaltiges Ausmaß erreicht hat, noch

L’image médiatrice qui se dessine dans l’esprit de l’interprète, au fur et à mesure qu’il avance dans l’étude de l’œuvre, exista-t-elle jadis, telle quelle, dans la pensée du maître ? Si ce ne fut pas celle-là, c’en fut une autre, qui pouvait appartenir à un ordre de perception différent et n’avoir aucune ressemblance matérielle avec elle, mais qui lui équivalait cependant comme s’équivalent deux traductions, en langues différentes, du même original. – PM 1355 f. | 130 | 137 43 Wie wenig es darauf ankommt, das »richtige« Bild zu finden, zeigt sich auch, wenn Bergson selbst zwei Bilder vorstellt, die als vermittelnde Bilder im Hinblick auf Berkeleys Philosophie dienen können. – Vgl. Anm. 108. 42

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einer weiteren Steigerung fähig sein. Es muss noch etwas geben, was die Äquivalenz der Bilder begründet. Diese letzte, kompakteste Stufe des Sinns ist diejenige, die dem Vortrag seinen Titel gegeben hat: die Intuition. Bergson charakterisiert sie als »etwas Einfaches, etwas unendlich Einfaches, etwas außerordentlich Einfaches«. 44 Der Interpret muss, wie wir gesehen haben, etwas Derartiges annehmen, aber wenn schon das vermittelnde Bild – das, wie sich nun zeigt, so heißt, weil es zwischen der Intuition und dem Material vermittelt – nur als Resultat lange fortgesetzter Bemühungen zu erreichen ist, so ist die Intuition dem Interpreten fast gar nicht mehr zugänglich. Bergson macht das mit einer Bemerkung klar, deren Ruppigkeit sich mit derjenigen des zuvor angeführten Zitats durchaus messen kann: »Welches ist nun diese Intuition? Wenn es dem Philosophen nicht gelungen ist, eine Formulierung dafür zu finden, so wird es uns erst recht nicht gelingen.« 45

Diese Bemerkung ist nicht wenig entmutigend. Zugleich aber bringt sie eine neue Perspektive ins Spiel, nämlich die des Autors (des Philosophen). Gewiss, auch er scheint Mühe mit der Intuition zu haben. Dennoch folgen wir Bergson und betrachten die Vorgänge, die wir bisher aus der Sicht des Lesers bzw. des Interpreten beschrieben haben, nunmehr aus der Sicht des Autors.

1.2.2 Von der Intuition zum Material: Der Weg des Autors Hermeneutik befasst sich nicht nur mit der Frage, auf welche Weise und in welchem Maße man die sprachlichen Äußerungen Anderer zu verstehen vermag. Sie untersucht auch, was geschieht, wenn man selbst das, »was man sagen will«, »zur Sprache bringt«. Sie achtet dabei insbesondere auf Phänomene, die andeuten, dass man gar nicht immer genau weiß, was man sagen will, und dass es mit einer gewissen Anstrengung verbunden sein kann, dies herauszufinden. Kurz: Sie untersucht auch das Problem des Ausdrucks und des Selbstverstehens. Insofern ist es weder überraschend noch entfernt es uns von

PM 1347 | 119 | 127 Quelle est cette intuition ? Si le philosophe n’a pas pu en donner la formule, ce n’est pas nous qui y réussirons. – PM 1347 | 119 | 128

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unserem Thema, wenn Bergson, nachdem er den Aufstieg des Interpreten vom Material zum Sinn in Gestalt der Intuition dargestellt hat, nun die Perspektive wechselt und der Frage nachgeht, wie sich die Situation für den philosophischen Autor darstellt. Es ist nach allem, was wir bisher gehört haben, auch nicht überraschend, dass Bergson die Vorstellung, der Philosoph lerne zunächst die von der Tradition ausgearbeiteten Fragen und Lösungsversuche kennen und konstruiere aus diesen seine eigene Philosophie, ablehnt und stattdessen einen Abstieg des Philosophen von der Intuition zum Material annimmt: »Der Philosoph geht nicht von vorher schon fertigen Ideen aus; man kann höchstens sagen, dass er bis zu ihnen gelangt.« 46

Vielleicht ist es noch nicht einmal überraschend, dass der Philosoph als Autor von Texten bei seinem Abstieg auf Schwierigkeiten stößt, die eine gewisse Ähnlichkeit mit denen des Interpreten haben. Erstaunlich ist aber denn doch, in welchem Umfang auch der Philosoph die Erfahrung der Nicht-Übereinstimmung macht. Man könnte die Paragraphen, die den Weg des Philosophen von der Intuition zum Material beschreiben, geradezu als einen Traktat von der Nicht-Übereinstimmung bezeichnen. Ich möchte nachfolgend vier 47 Erscheinungsformen dieser Erfahrung hervorheben. Die erste Erscheinungsform ist die Erfahrung der Nicht-Übereinstimmung des Philosophen mit sich selbst. Der Philosoph »besitzt« eine Intuition. Aber wann, wo und wie hat er sie erworben? Das ist eine Frage, auf die Bergson mit keinem einzigen Wort eingeht. Bedenkt man diese »Lücke«, dann wird klar, dass Bergson nicht einfach vergessen hat, auf diesen Punkt einzugehen, sondern dass er schweigt, weil es dazu nichts zu sagen gibt. Der Philosoph hat die Intuition nicht erworben. Wäre es so, dann würde sie sich nicht von den Denkelementen unterscheiden, die er aus der Tradition und aus seiner Umwelt übernommen hat. Nun ist sie aber gewissermaßen der Gegenspieler der fertig übernommenen Denkelemente, und deshalb muss sie von anderer Art sein und aus einer anderen Quelle stamLe philosophe ne part pas d’idées préexistantes ; tout au plus peut-on dire qu’il y arrive. – PM 1358 | 134 | 140 47 Dass es sich gerade um vier Stufen handelt, ist kein reiner Zufall. Man kann sie in der Tat mit den vier Stufen in Verbindung bringen, die der Interpret bei seinem Aufstieg durchläuft. Da allerdings Bergson im Text diesen Zusammenhang nicht eigens betont, lasse auch ich ihn hier beiseite. 46

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men. Ich werde im Abschnitt 1.2.5 noch einmal auf diesen Punkt zurückkommen. Begnügen wir uns vorläufig mit der Formulierung, dass die Intuition dem Philosophen gewissermaßen »angeboren« ist. Nur: Er weiß nichts davon. Sie ist ihm völlig unbekannt. Und das bedeutet nicht nur, dass der Philosoph nicht weiß, worauf seine Intuition hinauswill, was sie inhaltlich besagt – schlimmer noch: er weiß anfangs nicht einmal, dass ihm eine solche Intuition zu eigen ist. Nicht, als ob die Intuition untätig in irgendeinem dunklen Winkel ruhte. Sie prägt durchaus und von Anfang an das Denken, das Wollen, das Suchen des Philosophen. Nur eben: Er bemerkt es nicht. Dieses Nicht-Wissen, dieses Nicht-Bemerken kann sich übrigens bis auf die Ebene des Bildes (image médiatrice) erstrecken. Aus der Intuition kann längst ein Bild hervorgegangen sein, das die Bemühungen des Philosophen lenkt, aber auch dieses Bild kann unbemerkt bleiben. Es ist dies ein »flüchtig aufleuchtendes Bild, welches – möglicherweise unbemerkt – im Geist des Philosophen herumspukt und ihm wie sein Schatten auf allen Wegen und Umwegen seines Denkens folgt.« 48

Die erste Lehre aus diesen Anmerkungen besagt, dass wir alles vergessen sollten, was wir über die Bedeutung des Wortes »Intuition« zu wissen glauben. Wie das Bild nicht gesehen wird, sondern unbemerkt bleibt, so ist auch die Intuition hier keine Schau. Eher schon könnte man sagen, dass sich der Philosoph anfangs gerade durch das Gegenteil davon auszeichnet: durch Blindheit. Bergson selbst weist auf diesen Umstand hin und deutet an, in welcher Richtung die Bedeutung des Wortes zu suchen ist. Die Intuition des Philosophen, von der Bergson hier spricht, »war weniger eine Schau als ein Kontakt; diesem Kontakt entsprang ein Antrieb, und diesem Antrieb eine Bewegung.« 49

[…] image fuyante et évanouissante, qui hante, inaperçue peut-être, l’esprit du philosophe, qui le suit comme son ombre à travers les tours et détours de sa pensée […]. – PM 1347 | 119 f. | 128 – Maurice Merleau-Ponty hat dieses Bild in seinem Husserl-Aufsatz »Der Philosoph und sein Schatten« aufgegriffen. Wie für Bergson, so ist auch für Husserl der Schatten das »Ungedachte«, und der Philosoph ist »ein ganzes philosophisches Leben« lang damit beschäftigt, »der fortwährenden Geburt eines Denkens beizuwohnen«. [Merleau-Ponty (1984): 46] 49 […] encore fut-ce moins une vision qu’un contact ; ce contact a fourni une impulsion, cette impulsion un mouvement […]. – PM 1350 | 123 | 131 48

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Eher als eine Schau ist diese Intuition also ein Trieb. Nur ist dies nicht – wie bei Freud – ein vorpersönlicher Trieb, der uns gleichsam auf die Ebene des Animalischen zurückversetzt, sondern einer, der gerade das Persönlichste darstellt: die persönliche Richtung des Suchens, des Strebens, des Forschens, kurz: das, was den Philosophen »bewegt«. Die zweite Lehre aus den Bemerkungen über das, was wir wohl schlicht die Unbewusstheit der Intuition und des Bildes nennen müssen, besagt, dass wir es hier mit dem zu tun haben, was Paul Ricœur einmal in die Worte gekleidet hat, das cogito sei sich selbst nicht durchsichtig. 50 Und wie Ricœur daraus die Konsequenz gezogen hat, die reine Phänomenologie müsse durch eine Hermeneutik ergänzt werden, so deutet sich hier an, dass Bergsons Bemerkungen über die Nicht-Übereinstimmung des Philosophen mit sich selber – die eben darin besteht, dass er sich selbst nicht durchsichtig ist, dass er nicht weiß, was ihn bewegt – uns an den Ursprung der Hermeneutik führen. Hermeneutik entspringt nicht primär der Notwendigkeit, Texte Anderer zu verstehen, sondern der Notwendigkeit, sich zuerst einmal selbst zu verstehen, sich durchsichtig zu werden, die unbewussten Motivationen – im Rahmen des Möglichen – bewusst zu machen. Die Notwendigkeit einer Texthermeneutik ergibt sich erst als Folge davon, nämlich wenn man annimmt, dass auch die Autoren der Texte, mit denen man es zu tun hat, sich selbst nicht völlig durchsichtig gewesen sind, und dass dieser Umstand Spuren in den Texten hinterlassen hat. Die zweite Erscheinungsform der Nicht-Übereinstimmung hängt eng mit dieser Unbewusstheit zusammen, tritt aber gleichwohl ins Bewusstsein. Es ist dies die Erfahrung der Nicht-Übereinstimmung des Philosophen mit anerkannten Fakten und Thesen: »Was dieses Bild zunächst kennzeichnet, ist eine gewisse Macht der Negation, die es in sich trägt. Denken Sie daran, wie der Dämon des Sokrates sich verhielt, der in einem bestimmten Augenblick den Willen des Philosophen hemmte und ihn eher von einer Handlung zurückhielt, als dass er vorschrieb, was er zu tun hätte. Es scheint mir, dass die Intuition sich oft auf spekulativem Gebiet genauso verhält wie der Dämon des Sokrates im praktischen Leben; zum mindesten beginnt sie in dieser Gestalt, wie sie sich auch weiterhin in dieser Art am reinsten offenbart: sie verbietet. Gegenüber allgemein anerkannten Ideen, gegenüber für selbstverständlich geltenden Thesen, gegenüber Behauptungen, die bis dahin für wissenschaftlich gegolVgl. etwa den Aufsatz »Existenz und Hermeneutik« (Ricœur[1969] 7–28 | Ricœur[2010] 23–47).

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ten hatten, flüstert sie dem Philosophen das Wort ins Ohr: Unmöglich! Unmöglich, selbst wenn die Tatsachen und die Vernunftgründe den Glauben nahelegen, dass es möglich, wirklich und gewiss sei. Unmöglich, weil eine gewisse Erfahrung, wenn auch unklar, aber doch bestimmt in dieser inneren Stimme ihm sagt, dass sie unvereinbar ist mit den Tatsachen, die man anführt, und den Gründen, die man ins Feld führt, und dass daher diese Tatsachen schlecht beobachtet und diese Schlussfolgerungen falsch sein müssen. Was für eine einzigartige Kraft, dieses intuitive Vermögen der Negation! […] Ist es nicht augenfällig, dass der erste Schritt des Philosophen, solange sein Denken noch unsicher und er noch zu keiner abschließenden Lehre gelangt ist, darin besteht, dass er gewisse Dinge endgültig verwirft?« 51

Der Philosoph beginnt, sich seiner Intuition bewusst zu werden, indem er geltende Ansichten ablehnt. Dieses Ablehnen ist nicht die Folge von bewussten Überlegungen, es wird ihm vielmehr von einer »inneren Stimme« nahegelegt, wenn nicht aufgezwungen. In Gestalt dieser inneren Stimme zeigt sich die Intuition oder das Bild als das Andere des eigenen Bewusstseins – und genau deshalb kann sie nun bewusst, d. h. Gegenstand des Bewusstseins werden. Was dem Philosophen hier zu Bewusstsein kommt, ist freilich zunächst einmal nur die Tatsache, dass es diese Intuition gibt. Aber damit ist der erste und wichtigste Schritt getan, denn er ermöglicht weitere Fragen wie etwa die nach dem Grund und der Zuverlässigkeit jener intuitiven Ablehnungen sowie die Frage, ob sich in all den Verneinungen eine

Ce qui caractérise d’abord cette image, c’est la puissance de négation qu’elle porte en elle. Vous vous rappelez comment procédait le démon de Socrate : il arrêtait la volonté du philosophe à un moment donné, et l’empêchait d’agir plutôt qu’il ne prescrivait ce qu’il y avait à faire. Il me semble que l’intuition se comporte souvent en matière spéculative comme le démon de Socrate dans la vie pratique ; c’est du moins sous cette forme qu’elle débute, sous cette forme aussi qu’elle continue à donner ses manifestations les plus nettes : elle défend. Devant des idées couramment acceptées, des thèses qui paraissaient évidentes, des affirmations qui avaient passé jusque-là pour scientifiques, elle souffle à l’oreille du philosophe le mo : Impossible : Impossible, quand bien même les faits et les raisons sembleraient t’inviter à croire que cela est possible et réel et certain. Impossible, parce qu’une certaine expérience, confuse peutêtre mais décisive, te parle par ma voix, qu’elle est incompatible avec les faits qu’on allègue et les raisons qu’on donne, et que dès lors ces faits doivent être mal observés, ces raisonnements faux. Singulière force que cette puissance intuitive de négation ! […] N’est-il pas visible que la première démarche du philosophe, alors que sa pensée est encore mal assurée et qu’il n’y a rien de définitif dans sa doctrine, est de rejeter certaines choses définitivemen ? – PM 1347 f. | 120 f. | 128 f.

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positive Zielrichtung zeigt. Kurz: Dieser erste Schritt bringt eine auf zunehmendes Selbstverständnis und Selbstbewusstsein abzielende Dynamik in Gang, die derjenigen Dynamik verwandt ist, auf die sich der Interpret einlassen musste. Warum aber muss sich das Zu-sich-Kommen der Intuition gerade als Ablehnung, d. h. als negative Stellungnahme zum Erfahrenen und zum Geltenden vollziehen? Dafür lassen sich zwei Gründe nennen. Zum einen muss sich die Intuition, wie bereits ausgeführt, als Gegenpol zur Tradition sowie zum zeitgenössischen und zeitgemäßen Wissen konstituieren. Das kann sie aber nur, wenn sie sich nicht aus diesen Quellen nährt, sondern sich als eine Kraft sui generis zeigt. Wie die Intuition nur dadurch zu Bewusstsein kommen kann, dass sie sich als das Andere des Bewusstseins zeigt, so kann sie zum Organisationsprinzip der traditionellen Denkelemente und der wissenschaftlichen Erkenntnisse nur dadurch werden, dass sie sich als das Andere der Tradition und der wissenschaftlichen Erkenntnis zeigt. Die ablehnenden Stellungnahmen sind, wenn man so sagen darf, Anfängerübungen in selbständigem Denken. Der zweite Grund besteht darin, dass Bergson hier jeden Anschein einer Teleologie vermeiden will. Die auf Selbstverständnis und Selbstvergewisserung gerichtete hermeneutische Bemühung kennt kein festes, vorgegebenes – in Bergsons Terminologie: kein »fertiges« (tout fait) – Ziel. Alles, was der Philosoph zur Verfügung hat, ist das gelegentlich sichtbare, meist aber unsichtbare Bild, das in seinem Geist »herumspukt«, ein vages Gefühl für die Richtung, in die er sich bewegen muss, sowie vielleicht die Hoffnung, diesem Spuk irgendwann einmal ein Ende bereiten zu können. Deshalb muss er wie ein Bildhauer verfahren, der von einem gestaltlosen Block so lange einzelne Teile abschlägt, bis die gewünschte Skulptur sichtbar ist: Er muss so lange verneinen (und damit ausschließen), bis sich eine positive Gestalt abzuzeichnen beginnt. Die dritte Erscheinungsform, auf die wir eingehen müssen, ist die Erfahrung der Nicht-Übereinstimmung von Intuition und verfügbaren Ausdrucksmitteln. Nun könnte man meinen, diese NichtÜbereinstimmung sei bereits Gegenstand der zuvor geschilderten Erfahrung gewesen. Richtig ist an einem solchen Eindruck, dass es eine grundlegende Gemeinsamkeit zwischen der zweiten und der dritten Erscheinungsform gibt, insofern beide das Verhältnis des Philosophen bzw. seiner persönlichen Intuition zu den unpersönlichen Denkelementen der Tradition und der Wissenschaft betrachten. Aber es 71 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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gibt auch einen grundlegenden Unterschied. An jenem Punkt, den wir mit der Bezeichnung »Intuition« markieren, schreibt Bergson, »ist etwas Einfaches, etwas unendlich Einfaches, etwas so außerordentlich Einfaches, dass es dem Philosophen niemals gelungen ist, es auszusprechen. Und deshalb hat er sein ganzes Leben lang geredet. Er konnte das, was er im Geist hatte, nicht formulieren, ohne sich alsbald verpflichtet zu fühlen, seine Formulierung zu korrigieren, dann seine Korrektur zu korrigieren. Und so, von Theorie zu Theorie sich berichtigend, während er sich zu vervollständigen glaubte, hat er nichts anderes getan als – durch eine Komplikation, die eine weitere Komplikation nach sich zog, und durch Erläuterungen, die sich an Erläuterungen reihten – mit zunehmender Näherung die Einfachheit seiner ursprünglichen Intuition wiederzugeben. Die ganze Komplexität seiner Lehre, die bis ins Unendliche gehen würde, ist also nichts anderes als die Inkommensurabilität zwischen seiner einfachen Intuition und den ihm zur Verfügung stehenden Ausdrucksmitteln.« 52

Worin besteht also der grundlegende Unterschied zwischen der zweiten und der dritten Erscheinungsform der Nicht-Übereinstimmung oder – wie Bergson hier formuliert – der »Inkommensurabilität«? Man muss zwei Seiten berücksichtigen. Zum einen hat man es mit verschiedenen Teilmengen des Materials zu tun. Durch die gerade beschriebene intuitive Ablehnung grenzt der Philosoph einen Teil des traditionellen Denkmaterials als inakzeptabel aus. Aber man kann nicht alles ablehnen. Man kann – um bei dem eben benutzten Bild zu bleiben – keine Skulptur schaffen, indem man so lange Teile abschlägt, bis von dem ursprünglichen Steinblock gar nichts mehr übrig ist. Neben der Teilmenge des Inakzeptablen wird es also eine weitere Teilmenge geben, die neutral oder sogar positiv bewertete Denkelemente enthält. War im vorigen Punkt von der ersten Teilmenge die Rede, so geht es bei der jetzt zu behandelnden Nicht-Übereinstimmung um die zweite. Zusätzlich aber hat man es mit ganz verschiedenen Aktivitäten vonseiten des Philosophen zu tun. Anfänglich En ce point est quelque chose de simple, d’infiniment simple, de si extraordinairement simple que le philosophe n’a jamais réussi à le dire. Et c’est pourquoi il a parlé toute sa vie. Il ne pouvait formuler ce qu’il avait dans l’esprit sans se sentir obligé de corriger sa formule, puis de corriger sa correction – ainsi, de théorie en théorie, se rectifiant alors qu’il croyait se compléter, il n’a fait autre chose, par une complication qui appelait la complication et par des développements juxtaposés à des développements, que rendre avec une approximation croissante la simplicité de son intuition originelle. Toute la complexité de sa doctrine, qui irait à l’infini, n’est donc que l’incommensurabilité entre son intuition simple et les moyens dont il disposait pour l’exprimer. – PM 1347 | 119 | 127 f.

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musste es darum gehen, durch ablehnende Stellungnahme gegenüber dem Vorgefundenen sich der eigenen Intuition zu vergewissern, die Intuition als ein Streben zu erfahren durch das, was sie nicht ist und nicht sein will. Irgendwann aber wird der Philosoph einen Punkt erreichen, an dem er sich sagen muss, dass das alleine nicht genügt und dass er versuchen muss, auch einmal positiv zu formulieren, auf was sein Streben abzielt. Von dieser zweiten Aktivität ist hier die Rede. Man kann also sagen: Während jene zweite Form der Nicht-Übereinstimmung besagt, dass der Philosoph durch den Umgang mit den von ihm negativ bewerteten Denkelementen seine Intuition negativ bestimmt, versucht er nun, unter Benutzung der positiv bewerteten Denkelemente seine Intuition positiv zu bestimmen. Trat die Erfahrung der Nicht-Übereinstimmung dort als Ablehnung auf, so äußert sie sich hier als Gefühl des Ungenügens und als Streben nach Verbesserung. Wir berühren hier einen zweiten Punkt von entscheidender Bedeutung. Ich hatte bei der Diskussion der Nicht-Übereinstimmung des Philosophen mit sich selbst als erste für das Verständnis von Bergsons Hermeneutik unverzichtbare Einsicht die Unbewusstheit der Intuition und das daraus hervorgehende Streben nach Selbstverständigung und Selbstvergewisserung betont. Die hier in den Blick kommende zweite Einsicht hängt damit aufs Engste zusammen. Sie betrifft die Rolle des Materials in Bergsons Philosophie, und zwar des sprachlichen Materials nicht minder als desjenigen Denkmaterials, das die philosophische Tradition und die Wissenschaften zur Verfügung stellen. Bergson bezieht sich in L’intuition philosophique – mit Ausnahme eines einzigen Paragraphen 53 – nur auf letzteres, nicht aber auf ersteres, und ich bin ihm darin in meinen bisherigen Erläuterungen gefolgt. Aber es liegt auf der Hand, dass zwischen diesen beiden Formen von »Material« ein Zusammenhang besteht. Der Philosoph kann nicht seine Intuition unter Verwendung traditioneller Denkelemente darstellen, ohne sich dabei der Sprache zu bedienen. Und er kann sich nicht der Sprache bedienen, ohne dadurch implizit die zu Begriffen geronnenen Denkelemente in seine Darstellung aufzunehmen. 54 Jene Bergson-Interpreten, die die Ansicht vertreten haPM 1358 | 133 f. | 140 Nous ne pouvons construire une phrase, nous ne pouvons même plus aujourd’hui prononcer un mot, sans accepter certaines hypothèses qui ont été créées par nos ancêtres et qui auraient pu être très différentes de ce qu’elles sont. – PM 1447 | 248 | 242 –

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ben, dass Bergson die Sprache abwerte und einer sprachlos-unmittelbaren Einsicht das Wort rede, müssen also konsequenterweise auch behaupten, dass Bergson die philosophische Tradition und die wissenschaftlichen Erkenntnisse abwerte. Wir befinden uns erst am Anfang dieser Untersuchung, und wir haben uns erst eine sehr kleine Textbasis erarbeitet. Gleichwohl reicht diese Basis schon aus, um mit völliger Sicherheit zu sagen, dass Bergsons Denken nicht so simpel ist wie die Kritiker meinen, die diese Auffassung vertreten. Auf der einen Seite nämlich ist zu sagen, dass in dieser Auffassung etwas Richtiges stecken muss, denn was wir hier gerade diskutieren, ist gerade die Erfahrung der Nicht-Übereinstimmung, ja der »Inkommensurabilität« von Intuition und »zur Verfügung stehenden Ausdrucksmitteln«. Die Intuition ist etwas Neues, etwas Persönliches, etwas Dynamisches, etwas Ganzes, während das Material – um nur diejenigen Kritikpunkte anzuführen, die man in beinahe allen Texten Bergsons finden kann – aus altbekannten, unpersönlich-allgemeinen, erstarrten und vereinzelten Partikeln besteht. Es ist offenkundig, dass hier nichts zusammenpasst und dass man sich kaum etwas für den Ausdruck der Intuition Ungeeigneteres vorstellen kann als dieses Material. Auf der anderen Seite genügt aber die bisher erarbeitete Textbasis auch, um unsere innere Stimme angesichts der Vorstellung, Bergson spricht an der zitierten Stelle über den Pragmatismus, insbesondere denjenigen von William James. Man könnte also fragen, ob der angeführte Satz wirklich Bergsons eigene Meinung wiedergibt. Da ich immer wieder einmal aus Aufsätzen zitieren werde, in denen Bergson sich zu den Lehren anderer Philosophen äußert, dürfte es notwendig sein, kurz allgemein zu dieser Frage Stellung zu nehmen. Man hat William James als das alter ego Bergsons bezeichnet. Man hat Bergson vorgeworfen, er habe in seinem Text über Ravaisson mehr über seine eigene Philosophie gesprochen als über diejenige Ravaissons. Und Bergson selbst schreibt in einer Anmerkung, die nur wenige Zeilen von dem gerade zitierten Text entfernt zu finden ist, er sei sich nicht sicher, ob James das Wort »Erfindung«, das Bergson in seiner Darstellung benutzt, selbst gebraucht habe. Diese und zahlreiche andere Indizien deuten darauf hin, dass Bergson, wenn er über andere Denker spricht oder schreibt, sich nicht zu etwas ihm Fremdem in distanzierter Weise äußert, sondern etwas vorträgt, das seinem eigenen Denken entspricht. Das heißt nicht, dass er andere Denker »bergsonifiziert« (PM 1450 | 253 | 246, Anm. 1). Es heißt, dass er erläutert, warum er mit jenen Denkern sympathisiert – denn er hat derartige Aufsätze ja nur über Denker geschrieben, mit denen er sympathisierte –, und dass er die Sache, um die es jenen Denkern ging, zu seiner eigenen macht. Insofern scheint es mir gerechtfertigt, Teile aus solchen Texten als Bergsons eigene Meinung anzuführen, sofern nicht Indizien im Text Distanz oder Ablehnung erkennen lassen.

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Der Text des Philosophen

Bergson könnte nun empfehlen, bei der unmittelbar-intuitiven Einsicht zu bleiben und auf die sprachliche Ausarbeitung des eigenen Leitbildes zu verzichten, ausrufen zu lassen: Unmöglich! Diese Intuition, so hatten wir gesehen, ist ja nicht eine alles erhellende Anschauung, keine Wohlfühl-Unmittelbarkeit, sondern ein unterirdisches Wühlen, Rumoren und Herumspuken. Die Intuition ist unbewusst. Der Gedanke, in der Unmittelbarkeit der Intuition zu verbleiben, würde also bedeuten, sie im Unbewussten zu belassen, auf ihre Bewusstwerdung, genauer: auf die Anstrengung ihrer Bewusstmachung, damit aber auch auf Selbstverständigung und Selbstverständnis zu verzichten. Dies ist – was immer es sonst sein mag – jedenfalls nicht das Ideal des von Bergson beschriebenen Philosophen. Bergson sagt nicht: Die Inkommensurabilität zwischen Intuition und Material ist so groß, dass der Philosoph den Versuch, seine Intuition zu erläutern, irgendwann aufgegeben hat. Bergson sagt vielmehr: Die Intuition ist einfach, das Material ist äußerst ungeeignet, und deshalb hat der Philosoph sein ganzes Leben lang und in immer neuen Anläufen über seine Intuition gesprochen. In einem anderen, ebenfalls im Jahre 1911 gehaltenen Vortrag greift Bergson die Frage auf, warum der Geist trotz der Inkommensurabilität die Anstrengung des Ausformulierens seiner Intuition auf sich nimmt. Er antwortet: »Ein Gedanke, der sich selbst überlassen bleibt, bietet ein wechselseitiges Ineinander von Elementen dar, von denen man nicht sagen kann, ob sie eine Einheit oder eine Mehrheit seien: es ist eine Kontinuität, und in jeder Kontinuität ist Verwirrung. Damit der Gedanke deutlich werde, muss er sich in Worte auflösen: wir geben uns von dem, was wir im Kopf haben, erst dann genaue Rechenschaft, wenn wir ein Blatt Papier genommen und die Begriffe, die sich durcheinanderdrängten, nebeneinander aufgereiht haben.« 55

Das Material mag also noch so ungeeignet sein – dem Philosophen steht kein anderes zur Verfügung. Es bleibt ihm, wenn er zu größerer Klarheit über seine Intuition gelangen will, nichts anderes übrig, als auf dieses Material zurückzugreifen, es zu arrangieren und zu reUne pensée, laissée à elle-même, offre une implication réciproque d’éléments dont on ne peut dire qu’ils soient un ou plusieurs : c’est une continuité, et dans toute continuité il y a de la confusion. Pour que la pensée devienne distincte, il faut bien qu’elle s’éparpille en mots : nous ne nous rendons bien compte de ce que nous avons dans l’esprit que lorsque nous avons pris une feuille de papier, et aligné les uns à côté des autres des termes qui s’entrepénétraient. – ES 831 | 22 | 21

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arrangieren, in der Hoffnung, dass er auf diese Weise seine Intuition immer präziser zum Ausdruck bringt, sich ihr immer mehr annähert. Was er damit freilich schafft, ist eben jene Komplexität, die dem Leser und dem Interpreten bei der ersten Begegnung mit den Texten ins Auge springen. Zu untersuchen bleibt die vierte Erscheinungsform der NichtÜbereinstimmung. Es ist dies die Nicht-Übereinstimmung des Werkes mit sich selbst. Dass es eine derartige Nicht-Übereinstimmung gibt, folgt beinahe zwangsläufig aus dem, was wir gerade festgestellt haben, denn wenn es eine grundsätzliche Inkommensurabilität von Intuition und Material, von Sinn und Ausdrucksmitteln gibt, dann ist zu erwarten, dass diese im Werk – also in den Texten des Philosophen – ihre Spuren hinterlässt. Der Text kann kein in sich stimmiges, mit sich selbst übereinstimmendes Gebilde sein, er kann Gehalt und Gestalt nicht vollständig zur Deckung bringen, wenn die beiden Pole, aus deren Kontakt er hervorgegangen ist, so grundsätzlich verschiedener Natur sind wie Intuition und Tradition oder Intuition und Sprache. Wie wichtig Bergson dieser Punkt ist, zeigt der Paragraph, mit dem Teil 1 B seines Vortrags beginnt. Bergson hat die theoretische Darstellung der Wege des Interpreten und des Philosophen abgeschlossen und möchte die teilweise noch etwas abstrakten Darlegungen nun am Beispiel der Philosophie Berkeleys konkretisieren. Er leitet diesen Teil mit der Bemerkung ein, dass er sich in seinen philosophiegeschichtlichen Vorlesungen vor allem mit Berkeley und Spinoza befasst habe, dass er Spinoza beiseite lassen wolle (»er würde uns zu weit abführen«) – um Spinoza dann freilich doch mehr als eine Seite zu widmen. Den Grund für diese etwas eigenartige Vortragsweise muss man nicht lange suchen. Man findet ihn bereits im ersten Satz, der Spinoza gewidmet ist: »Ich kenne nichts Lehrreicheres als den Kontrast zwischen der Form und dem Inhalt bei einem Buch wie der Ethik.« 56

Bergson erlaubt sich also die Abschweifung, weil er anhand von Spinozas »Ethik« und dem sie prägenden Gegensatz zwischen der Form der Darstellung (»diese komplizierte Maschinerie mit ihrer erdrüJe laisserai de côté Spinoza ; il nous entraînerait trop loin. Et pourtant je ne connais rien de plus instructif que le contraste entre la forme et le fond d’un livre comme l’Éthique […]. – PM 1350 | 123 | 132

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ckenden Wucht«, die bewirkt, dass der Leser »von Bewunderung und Schecken erfüllt« ist) und dem wesentlichen Gehalt (dem »Subtilen und fast Ätherischen« seiner Intuition) besonders deutlich zeigen kann, dass ein philosophischer Text kein in sich stimmiges Gebilde ist. Die Inkommensurabilität von Intuition und Material wird im Text erkennbar als Spannung zwischen Inhalt und Form, zwischen Sinn und Ausdrucksmitteln. Damit schließt sich der Kreis – ein Kreis –, denn wie die Inkommensurabilität von Intuition und Material beim Autor das Streben nach Präzisierung auslöst, deren Resultat jene Komplexität ist, die dem Leser des Textes zuerst begegnet, so führt der Kontrast von Form und Inhalt beim Leser zu jenem Gefühl der Nicht-Übereinstimmung, das, wie wir im Abschnitt 1.2.1 gesehen haben, die von der Frage nach dem Sinn geleitete Denkbewegung des Interpreten in Gang bringt. Der vom Wunsch nach Selbstverstehen in Gang gebrachte Abstieg des Philosophen von der Intuition zum Material, dem der Text entspringt, begründet den vom Text ausgehenden Aufstieg des Interpreten vom Material zur Intuition, die vom Wunsch, den Text zu verstehen, in Gang gebracht wird. Wäre der Text ein mit sich selbst identisches Ganzes, in dem sich Form und Inhalt lückenlos decken – die Hermeneutik wäre überflüssig.

1.2.3 Divinatorische und poietische Hermeneutik Unterbrechen wir die Lektüre von L’intuition philosophique für einen Augenblick, um das, was wir bisher textnah mitvollzogen haben, auf ein allgemeineres Niveau zu heben. Bergson hatte zunächst den Scheinwerfer auf den Leser/Interpreten gerichtet und dessen Weg vom sprachlichen bzw. gedanklichen Material zur Intuition beschrieben. Er hatte sodann einen Schwenk zum Philosophen als Autor vollzogen und uns dessen mühsamen Weg von der Intuition zu einem – aus sprachlichem und gedanklichem Material zusammengesetzten – Text vor Augen geführt. Beide Wege sind Thema der Hermeneutik. Die Bemühung des Lesers richtet sich auf das, was zu einem der Kernworte, wenn nicht zu dem Kernwort der Hermeneutik geworden ist: Verstehen. Für die Anstrengung des Autors, einen gegebenen schöpferischen Impuls (Intuition, Inspiration, Leitgedanke) in eine kommunizierbare Form zu übertragen, bietet sich z. B. der in der Hermeneutik gebräuchliche Begriff Auslegung an. 77 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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Es gibt nun allerdings einige Gesichtspunkte, die die Verwendung der Begriffe »Verstehen« und »Auslegung« im gegenwärtigen Kontext als nicht ratsam erscheinen lassen. Dazu gehört der Umstand, dass Heidegger im § 32 von »Sein und Zeit« diese beiden Begriffe nicht für gegensinnige Operationen, sondern für zwei Stufen eines einzigen Vorgangs verwendet. Dazu gehört weiterhin der Umstand, dass wir in den folgenden Kapiteln Fälle zu untersuchen haben werden, in denen schöpferische Impulse zu Gestaltungen und Umgestaltungen in den verschiedensten Bereichen des menschlichen Lebens führen, mit dem Begriff »Auslegung« dagegen gemeinhin eine Versprachlichung verbunden wird. Dazu gehört schließlich der Umstand, dass »Verstehen« und »Auslegung« zwei ganz verschiedene Worte sind und nicht unmittelbar anzeigen, dass von zwar gegensinnigen, zugleich aber auch zusammengehörigen Aspekten eines Grundvorgangs die Rede sein soll. Ich schlage deshalb vor, von divinatorischer Hermeneutik und poietischer Hermeneutik zu sprechen. Das in beiden Fällen verwendete Substantiv »Hermeneutik« soll auf die gemeinsame Basis verweisen. Das Adjektiv »divinatorisch« scheint mir als Indikator für den Weg vom Material zur Intuition deshalb geeignet zu sein, weil die Worte »Divination«, »divinieren«, »divinatorisch« sowohl von Klassikern der Hermeneutik (insbesondere Schleiermacher) wie auch von Bergson 57 verwendet werden. Das Adjektiv »poietisch« schließlich greife ich auf, weil überall da, wo es in deutschsprachigen Texten verwendet wird, eine nicht nur sprachlich, sondern in vielfältigsten Formen sich äußernde schöpferische Tätigkeit gemeint ist. Ob man nun diese oder andere Begriffe für die geeignetsten hält – entscheidend ist, dass man das divinatorische »Erraten« der gleichsam hinter dem Text stehenden Intuition und das poietische »Auseinanderlegen« der Intuition zu einer mitteilbaren Gestalt als zwei gleichberechtigte und einander ergänzende Aspekte dessen anerkennt, worum sich die Hermeneutik kümmert. In gewisser Hinsicht ist das geradezu trivial: Wo nicht gesprochen wird, kann man nicht hören, wo nicht geschrieben wird, nicht lesen. Wenn ich hier dennoch darauf beharre, so deshalb, weil (1) es eine weit verbreitete Tendenz gibt, die Hermeneutik auf eine Lehre vom Verstehen zu beschränken; (2) Bergson – wie im Grunde alle Lebensphilosophen – keinen Anlass für eine solche Bevorzugung des divinatorischen As57

Vgl. Anm. 123; Kap. 5, Anm. 12.

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pekts sieht, ja oft sogar den poietischen Aspekt in den Vordergrund rückt; (3) demnach Leser, die – bewusst oder unbewusst – Hermeneutik primär mit der Grundlegung der auf rezeptivem Verstehen basierenden Geisteswissenschaften befasst sehen, bei Bergson vielleicht nicht das Gefühl haben, sie hätten es mit einer »echten« Hermeneutik zu tun. Im Hinblick auf Bergson wie auf die Lebensphilosophie insgesamt hat man sich also, wenn man nicht mit unangemessenen Erwartungen an sie herantreten will, unter »Hermeneutik« eine Theorie vorzustellen, die sich nicht nur mit der Rezeption, sondern auch mit dem Schaffen befasst, ja das Schaffen oft sogar für wichtiger hält: • Was Bergson betrifft, so haben wir gesehen, dass schon im ersten größeren Text, dem wir eine gründliche Lektüre gewidmet haben, der divinatorische und der poietische Aspekt der Hermeneutik als gleichwertig und gleich wichtig erscheinen. Dieses Grundmuster wird uns begleiten bis ins letzte Kapitel unserer Untersuchung, wo wir Anlass haben werden, zwischen einer letztlich divinatorischen Methode der theoretischen Philosophie sowie einer auf das Poietische abzielenden Moral als Gegenstand der praktischen Philosophie zu unterscheiden. 58 • Was die Lebensphilosophie insgesamt angeht, so ist, wie sich gezeigt hat, die Unterscheidung zwischen divinatorischem und poietischem Aspekt nicht nur für das Verständnis der im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wirkenden Lebensphilosophen im strengen Sinne dieses Wortes, sondern sogar schon für das Verständnis ihrer Vorläufer wichtig. Bei Schopenhauer etwa entdeckt Daniel Schubbe – ähnlich wie wir hier bei Bergson – hermeneutische Elemente, bemerkt aber zugleich, dass diese auf einen »zweifachen, durchaus ambivalenten Sinn« 59 von Hermeneutik verweisen. Zum einen nämlich wird »Verstehen« im Einklang mit den »Bemühungen klassischer Hermeneutik« als »wiedererkennendes Nachvollziehen« und somit als »Übersetzung« oder »Transport« gefasst; zum anderen entwirft Schopenhauer in einer »an Wendungen der Hermeneutik bei Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer« erinnernden Weise ein »Anschlussmodell«, das die »Ausgestaltung« von etwas intuitiv Erfasstem zum Gegenstand hat. 60 Es scheint mir – jedenfalls 58 59 60

Vgl. Kapitel 6, Abschnitte 6.2.3, S. 746, und 6.2.4, S. 799. Schubbe[2013] 413 Schubbe[2013] 415 f., 418; Schubbe[2012] 377 f.

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dann, wenn man die schon angesprochene weitere Entfaltung von Bergsons Ansatz berücksichtigt – offenkundig, dass der von Schubbe diagnostizierte Unterschied zwischen zwei Ausprägungen der Hermeneutik bei Schopenhauer und meine im Hinblick auf Bergson vorgeschlagene Unterscheidung zwischen divinatorischer und poietischer Hermeneutik letztlich den gleichen Sachverhalt betreffen. Man sieht das noch deutlicher, wenn man in Betracht zieht, dass der Schwerpunkt dieser Unterscheidung nicht auf der Trennung, sondern auf der Zusammengehörigkeit beider Aspekte liegt. Es ging mir darum, Divination und Poiesis als gleichrangige und gleichermaßen unverzichtbare Themen der Hermeneutik darzustellen, nicht darum, eine strenge Trennung zwischen zwei verschiedenartigen Bereichen durchzuführen. Eine Verschränkung von Verstehen und Schaffen ist eher die Regel als die Ausnahme. Dass Lesen nicht als bloß passive Rezeptivität begriffen werden darf, sondern einen entwerfenden Akt des Lesers einschließt, hat ja nicht erst Wolfgang Iser 61, sondern, wie sich zeigen wird 62, schon Henri Bergson behauptet. Und dass ein als »Anschluss« gedachtes Verstehen neben einem schöpferisch-weiterführenden auch einen aufnehmend-aneignenden Pol erfordert, leuchtet nicht nur unmittelbar ein, sondern wird auch von Bergson sehr deutlich herausgearbeitet. 63 Abschließend sei angemerkt, dass die hier durchgeführte Unterscheidung zwischen divinatorischer und poietischer Hermeneutik nicht identisch ist mit der in Kapitel 2 zu erörternden zwischen Texthermeneutik und Handlungshermeneutik. Geht es hier um die Richtung der Anstrengung, so geht es dort um die Bestimmung des Gegenstandsbereiches von Hermeneutik. Beide Aspekte können, ja müssen kombiniert werden. Es gibt demnach eine divinatorische Texthermeneutik, die das Verstehen von Texten, und eine poietische Texthermeneutik, die das Versprachlichen von Intuitionen untersucht. Ebenso gibt es eine divinatorische Handlungshermeneutik, die das Verstehen der Handlungen Anderer (und manchmal – siehe Psychoanalyse – sogar der eigenen Handlungen), außerdem eine poietische Handlungshermeneutik, die das Umsetzen von schöpferischen

61 62 63

Iser[1994] Vgl. Abschnitt 1.4.2, S. 126. Vgl. Abschnitt 6.2.4, S. 799.

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Impulsen in angemessene (d. h. als Ausdruck der Impulse verständliche) Handlungen zum Gegenstand hat.

1.2.4 Der hermeneutische Zirkel Die Kreisbewegung, die entsteht, wenn man den absteigenden Weg des Philosophen und den aufsteigenden Weg des Interpreten miteinander verknüpft, ist nicht die einzige Kreisbewegung, die man in L’intuition philosophique finden kann. Wir hatten bereits zur Kenntnis genommen, dass der Philosoph, wenn er eine von ihm selbst ausgearbeitete Darstellung seiner Philosophie betrachtet, dabei ein Gefühl des Ungenügens empfindet, deshalb immer wieder auf die Darstellung zurückkommt und – teils durch Ergänzungen, teils durch Korrekturen – versucht, sich dem, was er eigentlich sagen will, immer mehr anzunähern. Aber Bergson beschreibt diesen Vorgang der Selbstkorrektur noch genauer. Wenn der Philosoph »sich wandelt in dem, was er behauptet, so geschieht auch dies durch die Macht der Negation, die der Intuition oder dem von ihr ausgehenden Bild innewohnt. Er hat sich vielleicht verleiten lassen, aus Bequemlichkeit Schlussfolgerungen nach den Regeln einer geradlinigen Logik zu ziehen. Und siehe da: Plötzlich empfindet er angesichts seiner eigenen Behauptung das gleiche Gefühl der Unmöglichkeit, das ihn zuvor angesichts der Behauptungen Anderer beschlichen hatte. Indem er die Kurve seines eigenen Denkens verließ, um geradlinig der Tangente zu folgen, ist er gleichsam aus sich herausgetreten. Er kehrt wieder bei sich ein, wenn er auf seine Intuition zurückkommt. Aus diesen Bewegungen des Verlassens und des Zurückkehrens formt sich die Zickzacklinie einer Lehre, die ›sich entwickelt‹, d. h. die sich verliert, sich wiederfindet und sich endlos selbst korrigiert.« 64

Dieser Text weist einige schwerer und einige leichter verständliche Aspekte auf. Beginnen wir mit den letzteren: Man sieht sofort, dass

Et s’il varie dans ce qu’il affirme, ce sera encore en vertu de la puissance de négation immanente à l’intuition ou à son image. Il se sera laissé aller à déduire paresseusement des conséquences selon les règles d’une logique rectiligne ; et voici que tout à coup, devant sa propre affirmation, il éprouve le même sentiment d’impossibilité qui lui était venu d’abord devant l’affirmation d’autrui. Ayant quitté en effet la courbe de sa pensée pour suivre tout droit la tangente, il est devenu extérieur à lui-même. Il rentre en lui quand il revient à l’intuition. De ces départs et de ces retours sont faits les zigzags d’une doctrine qui « se développe », c’est-à-dire qui se perd, se retrouve, et se corrige indéfiniment elle-même. – PM 1348 | 121 | 129

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man es hier mit einer »Wiederkehr der intuitiven Ablehnung« zu tun hat. Und man sieht auch, dass diese Ablehnung, von der man meinen sollte, sie habe ihre Aufgabe längst erfüllt, sich gleichsam ein anderes Opfer gesucht und es auch gefunden hat. Hatte sie sich zuvor gegen das Fremde gerichtet (»die Behauptungen der Anderen«), so wendet sie sich nun gegen das Eigene (»die eigenen Behauptungen«). Hatte sie zuvor Allgemeines – die allgemein akzeptierten »Wahrheiten« – kritisiert, so kritisiert sie nun des Philosophen eigenes Werk. Aber trifft diese Beschreibung den entscheidenden Punkt? Schleudert die innere Stimme ihr »Unmöglich!« wirklich gegen das ganze Werk? Der Philosoph, so schreibt Bergson, hat »sich verleiten lassen, gemäß den Regeln einer geradlinigen Logik Schlussfolgerungen zu ziehen«. Hier beginnen die Schwierigkeiten. Denn was soll das heißen? Ist das eine Definition des Fehlerhaften überhaupt oder handelt es sich nur um ein Beispiel? Wieso erfahren wir weder, woraus, noch, auf welches Ziel hin die Schlussfolgerungen gezogen werden? Wieso ist das Schlussfolgern kritikwürdig? Und wieso ist es ein Zeichen von »Bequemlichkeit«? Ghislain Waterlot und Anthony Feneuil vertreten in ihrem Kommentar 65 die Auffassung, Bergson distanziere sich hier einerseits von dem Leitgedanken, Philosophie müsse – wie diejenige des Deutschen Idealismus – von einer »ursprünglichen Einsicht« ausgehen und das »System der Philosophie« deduktiv aus ihr entwickeln, und er weise andererseits die Vermutung zurück, das, was er »Intuition« nennt, sei so eine »ursprüngliche Einsicht«. Vieles spricht für diese Deutung: Der Weg des Interpreten beginnt, wie wir gesehen hatten, mit der Einsicht, dass die Vorstellung, der Sinn der Texte sei in einer »Architektur des Systems« zu finden, als ungenügend erkannt wird. Spinozas Ethik war Bergson deshalb eine Abschweifung wert, weil der in diesem Werk durchgeführte Versuch einer streng deduktiven Darstellung der Philosophie gleichsam die größtmögliche NichtÜbereinstimmung von Form und Inhalt anschaulich vor Augen führt. Und es gibt schließlich Texte, in denen Bergson sich explizit gegen jeden Versuch wehrt, sein Konzept der Intuition mit dem Deutschen Idealismus in Verbindung zu bringen. 66 Aber man stößt mit dem vorgeschlagenen Deutungsansatz auch auf Schwierigkeiten: Will Bergson sagen, dass ein deduktiv durchkomponiertes Werk wie Spinozas 65 66

PM – | 399, Anm. 11 | – PM 1271 | 25 | 42

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Ethik nur einem Sich-gehen-Lassen und der Bequemlichkeit ihres Autors zu verdanken sei? Sagt er nicht 1908 in der Vorlesung über Berkeley, die als Vorstufe von L’intuition philosophique gelten muss und aus der Waterlot und Feneuil deshalb einen Auszug publiziert haben, genau das Gegenteil, wenn er von den »wahren Philosophen, das heißt denen, die den systematischen Geist besitzen« 67, spricht? Prüfen wir, wohin es führt, wenn man diese letzte Bemerkung ernst nimmt. Man wird dann sagen müssen, dass Systematik die conditio sine qua non eines jeden philosophischen Denkens ist, das nicht in der Unmittelbarkeit und Unbewusstheit der Intuition verharren, sondern sich in Textform darstellen will. Das nicht zu vermeidende und nicht zu beseitigende Ideal der Vernunft besteht darin, das vollständige System des Wissens aus einem einzigen Grundprinzip oder zumindest aus einigen wenigen Axiomen abzuleiten, wobei »ableiten« bedeutet, dass die einzelnen Behauptungen durch nachvollziehbare Schlussfolgerungen miteinander verbunden werden. Dieses Ideal meint Bergson, wenn er von der »geradlinigen Logik« spricht. Geradlinig ist sie, weil sie kontinuierlich voranschreitet, weil dieses Voranschreiten keine Lücken und keine Überraschungen kennt. Dieses – wie ich es nennen möchte – systematische Ideal kann und soll der Philosoph, wie mir scheint, gar nicht vermeiden. Woher kommt dann aber die negative Bewertung des Schlussfolgerns? Auf einen Text, der bei der Beantwortung dieser Frage hilfreich sein kann, weisen Waterlot und Feneuil in ihrem Kommentar hin. 68 Im vierten Kapitel seines 1907 erschienenen Werkes L’évolution créatrice – einem Kapitel, das so etwas wie eine Geschichte der Philosophie enthält – diagnostiziert Bergson in der Philosophie DesUn système philosophique est une attitude simple de l’esprit, mais elle ne peut s’exprimer que par des thèses nombreuses. C’est de même avec tous les vrais philosophes, c’est-à-dire ceux qui ont l’esprit systématique. – PM – | 507 | –– 68 Einen anderen Text zitiert Rose-Marie Mossé-Bastide. Er hüte sich, schreibt Bergson an Albert Adès, »gewisse Fragen«, die ihm gelegentlich gestellt würden, zu beantworten, denn er habe diese Fragen »noch nicht gründlich untersucht«. Und er wehre sich auch gegen die »Konsequenzen«, die andere – gleichsam stellvertretend für ihn – meinten ziehen zu dürfen, indem sie aus den Antworten, die er auf einzelne Fragen gegeben habe, »seine« Antworten auf andere Fragen ableiteten, zu denen er sich noch nicht geäußert habe. Er wehre sich gegen diese Konsequenzen »nicht deshalb, weil sie mir Angst machen, sondern weil sie nicht die Konsequenzen aus meinen Ideen sind«. Seine bisher entwickelten Gedanken seien Antworten auf spezielle Fragestellungen, und man könne sie nicht einfach in andere Gebiete »verpflanzen« (transplanter). – Mossé-Bastide (1955), 193. 67

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cartes ein »Schwanken«. Einerseits habe Descartes den »universalen Mechanismus« behauptet, der von der vollständigen Determiniertheit aller Vorgänge ausgehe, andererseits aber »glaubt Descartes an den freien Willen des Menschen«. 69 Man erinnere sich hier an jenen frühen Kommentar, in dem Bergson bei Lukrez ein ähnlich zwiespältiges Bild von der Wirklichkeit gefunden hatte. Der Vergleich zeigt dann: Die Wirklichkeit – oder vielmehr: unsere Erfahrung der Wirklichkeit – ist für Bergson kein in sich stimmiges Ganzes in einem trivialen Sinne. Vielmehr weist sie Brüche, Widersprüche, Lücken und immer wieder neue unerwartete Wendungen auf. 70 Somit entsteht ein Gegensatz zwischen dem systematischen Ideal der Vernunft und unserer durch Brüche gekennzeichneten Erfahrung der Wirklichkeit. Nun ist das Schwanken ganz gewiss nicht Bergsons philosophisches Ideal. Gleichwohl ist er der Ansicht, dass die »Redlichkeit« eines Philosophen 71 darin bestehe, diesen Gegensatz zunächst einmal auszuhalten. Deshalb lobt er Descartes dafür, dass er »nicht bis zu den äußersten Konsequenzen gegangen« ist, dass er keine der beiden Tendenzen »bis zum Ende verfolgt« habe. Ganz ähnlich äußert er sich in einem 1912 gehaltenen Vortrag: »Descartes ging allerdings noch nicht so weit. Bei seinem tiefen Wirklichkeitssinn zog er es vor – mochte auch die Strenge des Systems darunter leiden –, dem freien Willen etwas Raum zu lassen.« 72

Im Negativ wird hier der Fehler sichtbar, auf den die innere Stimme denjenigen Philosophen aufmerksam macht, der sich nicht so redlich wie Descartes verhält. Er besteht nicht im systematischen Ideal, nicht im Bemühen um logische Verknüpfung der Gedanken, sondern in einer blinden, mechanischen Logik, die rücksichtslos auch dann geradeaus und bis zu den letzten Konsequenzen marschiert, wenn sie auf Brüche in der Erfahrung stößt. Sie ist blind und sie macht blind, L’oscillation est visible dans le cartésianisme. D’un côté, Descartes affirme le mécanisme universel […]. Mais d’autre part (et c’est pourquoi le philosophe n’est pas allé jusqu’à ces conséquences extrêmes) Descartes croit au libre arbitre de l’homme. […] Il s’est donc engagé tour à tour sur l’une et sur l’autre voies, décidé à ne suivre aucune des deux jusqu’au bout. – EC 787 | 344 f. | 348 70 Man vergleiche dazu die ersten Seiten von Bergsons Aufsatz über William James (PM 1440 ff. | 239 ff. | 234 ff.). 71 Mossé-Bastide (1955), a. a. O. 72 Descartes, il est vrai, n’allait pas encore aussi loin : avec le sens qu’il avait des réalités, il préféra, dût la rigueur de la doctrine en souffrir, laisser un peu de place à la volonté libre. – ES 844 f. | 40 | 36 69

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weil sie Aspekte der Erfahrung, die sie nicht integrieren kann, einfach beiseiteschiebt. Sie ist ein Ausdruck der Bequemlichkeit, weil ein Philosoph, der so verfährt, sich die Mühe einer Klärung der Lücken, Brüche und Widersprüche in seiner Erfahrung der Wirklichkeit erspart. Wenn – und nur wenn – der Philosoph so verfährt, gerät die von ihm ausgearbeitete Darstellung seiner Philosophie in Widerspruch mit seiner Erfahrung. Deshalb – und nur deshalb – ruft seine innere Stimme: »Unmöglich!«. Was aber heißt es, wenn der Philosoph sich zu solchen geradlinigen und bequemen Schlussfolgerungen verleiten lässt? Es heißt, dass er die Orientierung an seiner persönlichen Erfahrung, seinem persönlichen Leitbild, seiner persönlichen Intuition aufgibt und sich durch unpersönliche, allgemeine Regeln des Schließens, Vergleichens und Übertragens leiten lässt. So gesehen, muss man sagen, dass sich die innere Stimme gar nicht verändert und sich auch kein neues Opfer gesucht hat. Sie war und ist auf das Allgemeine gerichtet. Handelte es sich dabei zunächst um die allgemein zugänglichen Wissensbestände und warnte sie den Philosophen zunächst vor der Übernahme jener Denkelemente, die nicht seinem eigenen Wesen entsprachen, so handelt es sich nunmehr um die allgemeinen Denkformen, warnt sie ihn nunmehr vor der trügerischen Annahme, Selbsterkenntnis und Selbstverständnis könnten durch Schlussfolgerungen nach den allgemeinen Gesetzen der Logik erreicht werden. Zudem äußerte sich die innere Stimme und äußert sie sich weiterhin nur als Kritik. Sie rät dem Philosophen, die deduktiven Passagen in seinem Text zu löschen oder zu überarbeiten, aber sie flüstert ihm nicht ins Ohr, was er schreiben soll. Damit befindet sich unser Philosoph, sofern er ein redlicher Philosoph ist, freilich in einer ziemlich unkomfortablen Situation. Auf der einen Seite wird er geplagt von dem – aus seiner Intuition hervorgegangenen – unscharfen Bild, das in seinem Geist herumspukt. Also beginnt er seinen Abstieg, macht sich schließlich ans Werk und versucht, eine Darstellung des ihm vorschwebenden Bildes in Form eines philosophischen Textes auszuarbeiten. Aber da wartet schon die – ebenfalls der Intuition entspringende – innere Stimme auf ihn, die gnadenlos ihr »Unmöglich!« ruft, sobald er es sich gestattet, die Lücken seiner Einsicht mit deduktiv Erschlossenem zu füllen. Was bleibt ihm übrig? Gewiss, er kann das ganze Projekt abbrechen. Will er das aber nicht, dann wird er sich wiederum – nur diesmal in umgekehrter Richtung – auf den Weg machen müssen. Er wird wieder zum Bild 85 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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aufsteigen müssen, um es sich noch einmal genauer anzusehen. Daraufhin wird er zu seinem alten Text zurückkehren oder einen neuen beginnen, versuchen, es diesmal besser zu machen, aber schon ahnen, dass die innere Stimme auch zu diesem zweiten Versuch etwas zu sagen haben wird. Bergson bezeichnet diese Bewegung als »Kommen und Gehen« (départs et retours) – eine Formulierung die an die zuvor schon verwendete Formel »Wege und Umwege« (tours et détours) anknüpft – und kurz darauf als »Zickzacklinie« (les zigzags). Achtet man aber nicht auf Worte, sondern auf die Sache, dann ist klar, dass er hier von derjenigen Bewegung spricht, die gewöhnlich als hermeneutischer Zirkel bezeichnet wird. Der hermeneutische Zirkel ist eine Bewegung, die zwischen einer vagen Sinnvermutung und einem noch gar nicht oder nur unvollkommen verstandenen Text hin und her pendelt, um jeweils vom Text aus die Sinnvermutung zu präzisieren, mit der präzisierten Sinnvermutung zum Text zurückzukehren, um ihn besser zu verstehen, danach die Kreisbewegung aufs Neue zu beginnen und so in prinzipiell unendlicher Annäherung Sinn und Textgestalt immer mehr zu klären. Nun stammt der Begriff des Zirkels (Kreises) aus der Mathematik. Insofern ist es eigentlich nicht überraschend, dass auch Bergson sich eines Bildes aus der Mathematik bedient. Und wenn er ein anderes Bild benutzt, so ist es nicht unbedingt ein unvollkommeneres. Der Begriff des Zirkels kann ja den in diesem Zusammenhang gar nicht erwünschten Nebensinn des Durchlaufens der immer gleichen Bahn, also letztlich des Auf-der-Stelle-Tretens annehmen. Man hat deshalb – freilich erfolglos – versucht, den Sprachgebrauch zu ändern und von einer Spirale zu reden. Aus dieser Perspektive betrachtet, ist das von Bergson vorgeschlagene Bild weniger missverständlich, denn die »Linie« oder »Kurve« zeigt von sich aus jenes Fortschreiten, das man in der Vorstellung des Kreisens vermisst. Die Hindernisse, die der zitierte Text dem Verständnis entgegensetzt, ergeben sich auch nicht daraus, dass man das Bild des Kreises in dasjenige einer Kurve umdenken muss, sondern daraus, dass das von Bergson entworfene Bild eine größere Zahl von Linien zeigt, man aber nur eine erwartet hatte. Versuchen wir also, diese Linien zu entwirren (vgl. Abbildung 1): • Leben und Geist zeichnen sich dadurch aus, dass sie Neues, Überraschendes hervorbringen. Deshalb wird das Denken des Philosophen nicht durch eine Linie repräsentiert, sondern durch eine Kurve, die letztlich natürlich auch eine Linie ist, aber jeden86 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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falls keine gerade, sondern eine solche, die ständig ihre Richtung ändert. Man hat sich hier mindestens einen gekrümmten Kurvenverlauf vorzustellen, besser noch einen, der allerlei Schwingungen und unregelmäßige Windungen enthält. Diese Kurve ist »seine eigene«. Ihr würde der Philosoph folgen, wenn er sich selbst vollkommen durchsichtig wäre und den Gehalt seiner Intuition ohne Rückgriff auf irgendwelche von außen kommenden Ausdrucksmittel entwickeln könnte.

Normale

Tangente

»Zickzacklinie« »Kurve des Denkens«

Abbildung 1: Die Entstehung der »Zickzacklinie«



Das kann er aber nicht. Will er zu irgendeinem Zeitpunkt – im Bild: an irgendeinem Punkt der Kurve – sich selbst (und vielleicht auch Anderen) vom positiven Gehalt seiner Intuition – oder vielmehr: vom gegenwärtigen Stand seiner Einsicht in diese Intuition – Rechenschaft geben, so muss er notwendigerweise auf die konventionelle Sprache, die traditionellen Denkelemente und nicht zuletzt auf die unpersönlichen Regeln für eine schlüssige Darstellung zurückgreifen. Er kann gar nichts anderes tun, als das, was er über seine Intuition weiß, logisch zu entwickeln. Gleichwohl muss man sagen, dass das, was er so konsequent entfaltet, eben nur jenes unvollständige und unvollkommene Verständnis ist, das er zu diesem Zeitpunkt besitzt. Auf diesen 87 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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Sachverhalt bezieht sich Bergson, wenn er die Ausarbeitung des Philosophen als Tangente bezeichnet. Die Tangente ist eine gerade Linie. Sie trifft die Linie des lebendigen Denkens an einem einzigen Punkt, folgt aber dann geradlinig der einmal eingeschlagenen Richtung. Das geistige Leben freilich hört deshalb nicht auf, sich weiterzuentwickeln, seine Richtung zu verändern, und so entfernen sich die Kurve des lebendigen Denkens und die geradlinige Tangente der systematischen Darstellung immer weiter voneinander. Irgendwann wird der Abstand zu groß. Dann ruft die innere Stimme: »Unmöglich!«, und der Philosoph kehrt zu seiner Intuition bzw. zum vermittelnden Bild zurück. Das heißt freilich nicht, dass er auf der Tangente – im Rückwärtsgang – wieder zu seinem Ausgangspunkt zurückkehren könnte. Er hat ja inzwischen gelebt und sich weiterentwickelt. Deshalb benutzt der Philosoph einen neuen Weg, der in einem gewissen Winkel zur Tangente steht, wodurch das Gesamtbild um eine weitere Linie bereichert wird. Nehmen wir an 73, dass es sich um einen rechten Winkel handelt, dann können wir diese Linie, wie in der Mathematik üblich, als Normale bezeichnen. Entscheidend am Verlauf dieser Linie ist, dass der Philosoph der Intuition nicht wieder an dem Punkt begegnet, an dem er sie verlassen hat, sondern an einem »späteren« Punkt. Das soll besagen, dass der neue Kontakt eine neuartige – eine reichere und präzisere – Einsicht in die Intuition liefert. Die Bereicherung und Präzisierung durch den neuen Kontakt motiviert den Philosophen, einen neuen Darstellungsversuch zu wagen. Die Folgen dieses Entschlusses sind eine weitere Tangente, ein weiteres »Unmöglich!« und eine weitere Normale. Bergsons mathematisches Bild zeigt also zwar nur eine Kurve des lebendigen Denkens, aber beliebig viele Tangenten und Normalen. Lässt man nun einerseits die Kurve außer Acht und schließt andererseits alle Tangenten und alle Normalen zu einer einzigen Linie zusammen, dann hat man das vor Augen, was

Diese Annahme dient lediglich der Vereinfachung des Sprechens. Sie ermöglicht es, die äußerst schwerfällige Formulierung »eine Linie, die in einem gewissen Winkel zur Tangente steht,« durch die einfachere Bezeichnung »Normale« zu ersetzen. Der Sache nach ist die Größe des Winkels völlig bedeutungslos, und auch Bergson macht keine Angaben dazu.

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Bergson als Zickzacklinie bezeichnet. Repräsentiert die Kurve den idealen Verlauf des philosophischen Denkens, so zeigt die Zickzacklinie den realen Verlauf des philosophischen Bemühens. Diese Zickzacklinie, so sagt Bergson in dem angeführten Zitat, ist nicht nur die übliche, sondern die einzige Form, in der sich eine philosophische Lehre entwickeln kann. Er sagt nicht: Die Zickzacklinie zeigt uns einen Philosophen, der, trunken durch übermäßigen Genuss allgemeiner Denkelemente und Denkformen, durch die Gefilde des Geistes taumelt. Er sagt nicht: Die Linie müsste eigentlich anders verlaufen. Er sagt: Dies ist die Form, in der philosophisches Denken sich entwickelt. Gewiss, die Tangenten zeigen uns Umwege und Phasen der Selbstentfremdung. Aber es ist dem redlichen Philosophen – und es ist dem Menschen überhaupt – nicht möglich, den direkten Weg zu gehen. Ich bin auf die Details dieses nicht ganz einfachen Textes eingegangen, ich habe den Leser gebeten, mir auf diesem etwas steinigen Weg zu folgen, und ich habe schließlich immer wieder die Legitimität des Strebens nach Logik und Systematik betont, weil es hier um den Punkt geht, der letztlich über die Plausibilität meiner These vom hermeneutischen Charakter der Philosophie Bergsons entscheidet. Wer glaubt, dass Bergson Sprache, Tradition, Logik, Wissenschaft, kurz: das Material ablehnt und nur die Intuition für legitim hält, wer glaubt, dass Bergson den Umweg über das Material für überflüssig oder gar schädlich hält und stattdessen ein unmittelbar-intuitives Erfassen empfiehlt, der wird sich nie und nimmer von meiner These überzeugen lassen. Die These vom hermeneutischen Charakter der Philosophie Bergsons ist nur dann plausibel, wenn man davon überzeugt ist, dass Bergsons Philosophie nicht einzig und allein um die Intuition (und die mit ihr verbundene Dauer) kreist, sondern vom Anfang bis zum Ende auch – und vielleicht sogar: vor allem – die Frage nach dem Anderen der Intuition (und der Dauer) stellt. Bergsons Abhandlung über die philosophische Intuition zeigt: Intuition und Material sind völlig inkommensurabel. Sie zeigt aber auch: Die Intuition kann ohne den Umweg über das Material nicht bewusst gemacht werden, sie kann ohne Selbstentfremdung nicht zu sich selbst kommen. Es gibt zwei Wege der Bequemlichkeit: Der Philosoph kann auf die Bewusstmachung verzichten oder er kann sich mit einer partiellen Einsicht zufriedengeben und sich im Übrigen einer mechanischen Logik anvertrauen. Der redliche Philosoph aber wird den Weg der Anstrengung (effort) beschreiten. Das ist der Weg des Sich89 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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Verlierens und Zu-sich-Zurückkehrens, der Weg der stufenweisen Annäherung, der Weg der Zickzacklinie, der Weg des hermeneutischen Zirkels. 74

1.2.5 Geschichtlichkeit und Wahrheit Die Hermeneutik insbesondere des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts wurde von zwei schwerwiegenden Problemen geplagt. Das eine Problem war das des »Zugangs zum Fremdseelischen«, das andere, das uns hier ausschließlich interessieren soll, war dasjenige der Wahrheitsfähigkeit von Verstandenem. Man begriff das Verstehen – mehr oder weniger explizit – im Gegensatz zum Erklären und dachte sich Letzteres als auf Allgemeines, Ersteres aber als auf Individuelles gerichtet. Individualität ließ sich entweder historisch oder psychologisch begründen. Die eine Strategie freilich lief auf das Problem des Historismus, die andere auf dasjenige des Psychologismus hinaus. Beiden gemeinsam war der Verdacht des Relativismus und die Frage: Wie kann individuelles Verstehen von Individuellem wahre Erkenntnis liefern, wenn sich Wahrheit durch Allgemeingültigkeit auszeichnet? Es ist nicht das geringste Indiz für den hermeneutischen Charakter von L’intuition philosophique, dass Bergson in diesem Text auf die Frage nach der Wahrheitsfähigkeit eingeht. Dass er das tut und dass er darauf abzielt, den Wahrheitswert philosophischen Denkens gegen einen historistisch begründeten Relativitätsverdacht zu verteidigen, ist offenkundig:

Man mag es sonderbar finden, dass Bergson den hermeneutischen Zirkel aus der Perspektive des Autors, nicht aber aus der des Lesers erläutert. Dazu ist zweierlei zu sagen: Zum einen wird sich im Abschnitt 1.2.5 zeigen, dass für Bergson zwischen Produzieren und Verstehen kein wesentlicher Unterschied besteht. Zum anderen gibt es im Text von L’intuition philosophique Indizien, die auf eine Zirkelbewegung auch des Verstehens hinweisen. Erwähnt seien der mehrfach wiederholte Hinweis, dass der Interpret nur dann besser versteht, wenn er immer wieder auf die Texte zurückkommt, sowie der Umstand, dass das vermittelnde Bild nicht nur im Geist des Philosophen, sondern auch in demjenigen des Interpreten herumspukt: Der Intuition des Autors »nähern wir uns erst, wenn wir das vermittelnde Bild gewinnen, […], – ein Gespenst, das uns verfolgt [fantôme qui nous hante], während wir den Sinn der Lehre hin und her wenden […]«. – PM 1355 | 130 | 137. 74

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Der Text des Philosophen

»Lösen wir uns von dieser Komplikation, steigen wir wieder auf zur einfachen Intuition oder doch zumindest zu dem Bild, das ihre Übersetzung darstellt: sogleich sehen wir, wie die Lehre frei wird von den zeitlichen und örtlichen Bedingungen, von denen sie abzuhängen schien.« 75

Bergson diagnostiziert zwei Irrtümer der Philosophiehistoriker. Der erste besteht in der Annahme, die Lehre eines Philosophen sei nicht mehr als eine Konfiguration fertig vorgefundener, somit zeit- und ortsabhängiger Denkelemente: »Zweifellos: Die Probleme, mit denen der Philosoph sich beschäftigt hat, sind die Probleme, die sich zu seiner Zeit stellten. Die Wissenschaft, die er benutzt oder kritisiert hat, war die Wissenschaft seiner Zeit. In den Theorien, die er darlegt, kann man, wenn man sie sucht, die Ideen seiner Zeitgenossen und Vorläufer wiederfinden. […] Aber es wäre ein sonderbarer Irrtum, wenn man das für einen wesentlichen Bestandteil der Lehre nähme, was doch nur ein Mittel war, um sie auszudrücken.« 76

Man sieht den Zusammenhang dieser Kritik mit jener These, von der unsere Beschäftigung mit L’intuition philosophique ihren Ausgang nahm: Eine philosophische Lehre ist mehr als die Summe der von ihr benutzten Denkelemente, ihr Sinn etwas anderes als die Architektur des Systems. Ging es aber anfangs nur darum, den Interpreten darauf aufmerksam zu machen, dass seine theoretischen Konzepte nicht zu dem passten, was er bei genauer und vorurteilsfreier Lektüre in den Texten vorfand, so wird der Vorschlag, nach einem angemesseneren Konzept von »Sinn« zu suchen, nun zusätzlich durch die Einsicht motiviert, dass eine Philosophie, die man sich nur aus fertig übernommenen Bausteinen zusammengesetzt denkt, dem Verdacht geschichtlicher Relativität ausgesetzt wäre. Der zweite von Bergson diagnostizierte Irrtum ist bereits ein Lösungsvorschlag, der die Wahrheit der philosophischen Lehre retten möchte: Dégageons-nous de cette complication, remontons vers l’intuition simple ou tout au moins vers l’image qui la tradui : du même coup nous voyons la doctrine s’affranchir des conditions de temps et de lieu dont elle semblait dépendre. – PM 1348 | 121 | 129 f. 76 Sans doute les problèmes dont le philosophe s’est occupé sont les problèmes qui se posaient de son temps ; la science qu’il a utilisée ou critiquée était la science de son temps ; dans les théories qu’il expose on pourra même retrouver, si on les y cherche, les idées de ses contemporains et de ses devanciers. […] Mais ce serait se tromper étrangement que de prendre pour un élément constitutif de la doctrine ce qui n’en fut que le moyen d’expression. – PM 1348 f. | 121 f. | 130 75

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1 · Texthermeneutik: Das Material und der Sinn

»Wir stellen uns die Lehre – selbst wenn es die eines Meisters ist – gern als aus früheren Philosophien hervorgegangen und als ›Moment einer Entwicklung‹ vor. […] Aber dies neuerliche Vergleichen hat – abgesehen davon, dass es der Geschichte des Denkens mehr Kontinuität zuschreibt als sich darin wirklich findet – den Nachteil, dass es unsere Aufmerksamkeit bei der äußerlichen Komplexität des Systems und bei dem, was es an Vorhersehbarem in seiner oberflächlichen Form gibt, festhält, statt uns auf die Neuheit und Einfachheit seines Inhalts hinzuweisen.« 77

Wahrheit würde nach dieser Auffassung nicht so sehr den einzelnen philosophischen Lehren als vielmehr der Geschichte der Philosophie überhaupt zukommen. Nun ist es nicht das Ziel dieses Kapitels, Bergsons Gedanken über die Geschichte der Philosophie oder gar die Geschichte im Allgemeinen zu untersuchen. Ich lasse daher die Frage, gegen welche(n) Philosophen oder Philosophiehistoriker Bergsons Kritik konkret gerichtet sein könnte, ebenso beiseite wie die Frage, ob Bergson jegliche übergreifenden Zusammenhänge in der Philosophiegeschichte leugnet, und beschränke mich auf eine einzige Bemerkung: Bergson kritisiert die Auffassung, eine Philosophie sei – wie er wörtlich schreibt – »aus früheren Philosophien hervorgegangen«. Leonore Kottje übersetzt: »als eine notwendige Konsequenz früherer Philosophien«. 78 Diese Formulierung ist, wenn man auf den Buchstaben schaut, ein wenig frei, aber sie liefert uns genau das Stichwort, das wir brauchen, um den Sinn zu erfassen, indem es uns daran erinnert, dass die von Bergson kritisierte Bequemlichkeit und Unredlichkeit eines Philosophen darin bestand, von den durchdachten und geprüften Antworten auf einige wenige Fragen die Antworten auf andere Fragen per Schlussfolgerung als Konsequenz abzuleiten. 79 Bergsons Kritik ist hier gegen eine Position gerichtet, die den Glauben an derartige Konsequenzen noch nicht einmal auf den Bereich einer einzelnen philosophischen Lehre beschränkt, sondern meint, eine ganze philosophische Lehre als notwendige Konsequenz aus früheren Lehren auffassen zu dürfen. Bergson hatte das schlussfolgernVolontiers nous nous figurons la doctrine – même si c’est celle d’un maître – comme issue des philosophies antérieures et comme représentant « un moment d’une évolution ». […] Mais cette nouvelle comparaison, outre qu’elle attribue à l’histoire de la pensée plus de continuité qu’il ne s’en trouve réellement, a l’inconvénient de maintenir notre attention fixée sur la complication extérieure du système et sur ce qu’il peut avoir de prévisible dans sa forme superficielle, au lieu de nous inviter à toucher du doigt la nouveauté et la simplicité du fond. – PM 1349 f. | 122 | 130 f. 78 PM –– | –– | 130 79 Vgl. Abschnitt 1.2.4, insbesondere S. 84 f. 77

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de Übertragen von Antworten aus einem Teilgebiet in ein anderes abgelehnt, weil unsere Erfahrung der Wirklichkeit durch Brüche geprägt ist. Aus dem gleichen Grund lehnt er im Bereich der Philosophiegeschichte die Vorstellung von Konsequenzen, die sich vorhersehen und vorhersagen lassen, ab: sie unterstellt ein Ausmaß von Kontinuität, das unsere Erfahrung nicht bestätigt, wenn wir uns auf das gründliche Studium der Philosophien einlassen. Die Philosophiegeschichte zeigt – vielleicht nicht nur, aber jedenfalls auch – Brüche, Diskontinuitäten, Inkonsequenzen. Aber sie zeigt vor allem Neues und Unerwartetes, das die bedeutenden Philosophen in die Diskussion einbringen. Diesen letzteren Aspekt betont Bergsons eigene Position. Bergson trägt sie in drei Thesen vor, die er auf so markante Weise formuliert, dass sie berühmt geworden sind und nicht nur in beinahe jeder Einführung in seine Philosophie sondern – zumindest im französischsprachigen Raum – auch in vielen Untersuchungen über das Konzept einer Geschichte der Philosophie zitiert werden. 80 These 1: »Ein Philosoph, der dieses Namens würdig ist, hat immer nur eine einzige Sache gesagt. Oder vielmehr: Er hat eher versucht, sie zu sagen, als dass er sie wirklich gesagt hätte.« 81

Diese These ist uns bereits vertraut. Sie besagt, dass ernsthaftes philosophisches Denken sich als Entfaltung oder Auslegung einer Intuition vollzieht. Immerhin verdienen zwei Feinheiten der Formulierung Beachtung. Zunächst: In einer früheren, ganz ähnlichen Formulierung hatte Bergson Wert darauf gelegt, dass die Intuition einfach (simple) ist. 82 Hier nun liegt die Betonung auf dem Umstand, dass jeder Philosoph nur von einer einzigen (une seule) Intuition geleitet wird, dass es ihm nur um eine einzige Sache gegangen ist. Dadurch wird weder eine interne Vielfalt der Intuition – man denke an die Spannung zwischen Determinismus und menschlichem Streben bei Lukrez – noch eine externe Vielfalt des Werkes – Untersuchung verschiedenartigster Fragen – ausgeschlossen, aber gefordert, dass das gesamte Werk eines Philosophen als Einheit zu begreifen sei. Sodann: Schon in dieser ersten These, die die Intuition als einheitlichen Ursprung und als Sinn des Werkes in Erinnerung ruft, bleibt die IntuiVgl. etwa Bréhier[1940], S. 40 u. 64; Ricœur[2001], S. 56 u. 60. Un philosophe digne de ce nom n’a jamais dit qu’une seule chose : encore a-t-il plutôt cherché à la dire qu’il ne l’a dite véritablement. – PM 1350 | 122 f. | 131 82 Vgl. Anm. 52. 80 81

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tion nicht in sich verschlossen. Schon hier wird gesagt, dass der Philosoph versucht, sie auszusprechen. Bergson stellt sich die Intuition, wie wir gesehen hatten, weniger als Anschauung, sondern eher als Antrieb und als eine aus diesem Antrieb entspringende Bewegung vor. Daraus ergibt sich These 2: »Wenn diese Bewegung, die man einer Art von Wirbelsturm vergleichen kann, unseren Augen auch nur sichtbar wird durch all das, was sie auf ihrem Weg aufgegriffen hat, so ist es doch nicht weniger wahr, dass anderes Material hätte mitgerissen werden können und dass es gleichwohl der selbe Wirbelsturm wäre.« 83

Auch diese These kennen wir bereits: Der Philosoph lässt sich auf das Material ein, weil er es braucht, um seine Intuition formulieren zu können. Gleichwohl ist das Material in einem gewissen Sinne unwesentlich, weil es verschiedene äquivalente Materialkonstellationen gibt, die den gleichen Sinn ausdrücken können. Aber auch diese These wiederholt Bergson nicht einfach. Er formuliert sie auf neue Weise, nämlich unter Verwendung eines neuen Bildes. Es ist dies ein Bild, das Bergson gern und häufig verwendet. Man könnte sogar sagen, dass es sich dabei – freilich in einer ersten, noch unvollkommenen Fassung – um das vermittelnde Bild handelt, von dem sich Bergson selbst leiten lässt. Es lohnt sich also wohl, eine zweite – weitaus freundlichere und friedlichere – Version zum Vergleich heranzuziehen: »William James neigte sich zu den mystischen Seelen, wie wir uns an einem Frühlingstag aus dem Fenster neigen, um den sanften Hauch der Brise zu spüren, oder wie wir am Meeresufer das Hin und Her der Boote und die Schwellung ihrer Segel betrachten, um zu erfahren, woher der Wind weht.« 84

Einen uralten Vergleich aufgreifend, stellt sich also Bergson den Geist als einen – mehr oder weniger stürmischen – Wind vor, der mit sich reißt, was ihm auf seiner Bahn begegnet. Worauf der Wind im Ein[…] si ce mouvement, qui est comme un certain tourbillonnement d’une certaine forme particulière, ne se rend visible à nos yeux que par ce qu’il a ramassé sur sa route, il n’en est pas moins vrai que d’autres poussières auraient aussi bien pu être soulevées et que c’eût été encore le même tourbillon. – PM 1350 | 123 | 131 84 La vérité est que James se penchait sur l’âme mystique comme nous nous penchons dehors, un jour de printemps, pour sentir la caresse de la brise, ou comme, au bord de la mer, nous surveillons les allées et venues des barques et le gonflement de leurs voiles pour savoir d’où souffle le vent. – PM 1444 | 243 f. | 238 83

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zelnen stößt, ist zufällig und ohne Einfluss auf Ursprung, Bahn oder Ziel der Luftbewegung, weshalb Bergson in L’intuition philosophique so weit geht, von »Staub« zu sprechen, der aufgewirbelt wird. Die Bewegungen der einzelnen Materialien und die Veränderungen ihrer Stellungen zu einander sind allerdings wichtige Anhaltspunkte für den Interpreten, der nur so erfahren kann, »woher der Wind weht«. These 3: »Der Philosoph hätte mehrere Jahrhunderte früher kommen können. Er hätte es dann mit einer anderen Philosophie und einer anderen Wissenschaft zu tun gehabt. Er hätte sich andere Probleme gestellt. Er hätte sich durch andere Formulierungen ausgedrückt. Vielleicht wäre nicht ein einziges Kapitel der Bücher, die er geschrieben hat, das, was es jetzt ist. Und dennoch hätte er dasselbe gesagt.« 85

Man sieht, wie der Gang der Argumentation sich von These 1 bis These 3 aufbaut. Man bemerkt auch, dass Bergson sich innerhalb von These 3 in mehreren Schritten der eigentlichen Pointe nähert. Diese Pointe ist das eigentlich Neue, aber sie ist zugleich eine Provokation, ja ein Paradox. Wir müssen demnach prüfen, woraus die Provokation resultiert und ob der These trotz ihres paradoxen Charakters ein plausibler Sinn zu entnehmen ist. Kurz gesagt: Der Eindruck des Widersinnigen resultiert daraus, dass Bergson in These 3 zwei Teilthesen miteinander verbindet, dies aber weder explizit formuliert noch begründet. Die erste Teilthese besagt, dass die Intuition, weil sie von dem zu ihrer Darstellung benutzten zeitspezifischen Material so unabhängig ist wie der Wind von dem Staub, den er aufwirbelt, als epochenübergreifend gültig und in diesem Sinne als wahr zu bezeichnen ist. Bergson spricht also in dieser Teilthese über die Intuition als ein bloßes geistiges Gebilde. Er erinnert an die Äquivalenz von Materialkonstellationen, denkt aber hier nicht an verschiedene Konstellationen von Elementen, die dem Material der gleichen Zeit entnommen wurden, sondern an solche aus dem Material verschiedener Zeiten. Er behauptet, mit anderen Worten, dass sich der gleiche Sinn mit den in der Antike verfügbaren Denkelementen ebenso darstellen lasse wie mit Elementen aus dem Bestand des 17. Jahrhunderts oder unserer eigenen Zeit. Die InLe philosophe eût pu venir plusieurs siècles plus tôt ; il aurait eu affaire à une autre philosophie et à une autre science ; il se fût posé d’autres problèmes ; il se serait exprimé par d’autres formules ; pas un chapitre, peut-être, des livres qu’il a écrits n’eût été ce qu’il es ; et pourtant il eût dit la même chose. – PM 1350 | 123 | 131 – Wiederholung der These: PM 1358 | 133 | 139 f.

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tuition als geistiges Gebilde hätte also auch zu einer anderen Zeit auftreten können, und sie wäre dennoch formulierbar gewesen. Deshalb ist sie wahr, wobei »wahr« hier erst einmal nur heißt: nicht dem historischen Relativismus unterworfen, epochenübergreifend gültig. Die zweite Teilthese besagt nun freilich, dass eine Intuition niemals als unpersönliches geistiges Gebilde auftritt, sondern immer nur als Intuition einer konkreten Person. Eine Intuition ist kein abstraktes Naturgesetz und auch keine platonische Idee, sie ist eine persönliche – und deshalb an eine Person gebundene – Perspektive auf die Wirklichkeit. Sie ist etwas Neues, aber Neues entsteht nicht von allein, sondern wird von konkreten Personen geschaffen. Deshalb kann Bergson im Aufsatz über William James schreiben, dass der Bestand unserer Wahrheiten ein ganz anderer wäre, wenn statt der Menschen, die diese Wahrheiten aufgestellt haben, andere gelebt hätten. 86 Diese These ist offenkundig nur eine Variation der These, mit der wir es hier gerade zu tun haben: Einerseits hätte eine Person (der Philosoph), wenn er zu einer anderen Zeit gelebt hätte, dennoch die gleiche Wahrheit ausgesprochen. Andererseits wäre der Bestand unserer Wahrheiten ein anderer, wenn in der Vergangenheit andere Personen gelebt hätten. Das beiden Variationen gemeinsame Thema kann dann nur dieses sein: Die Person ist identisch mit der Intuition, die Intuition ist identisch mit der Person, und der sprachliche – oder andersartige – Ausdruck der Intuition ist dann wahr – im Sinne von richtig, zutreffend –, wenn er den Gehalt der Intuition adäquat darstellt. Diese beiden Teilthesen sind, so möchte man meinen, völlig unvereinbar. Entweder, so scheint es, ist eine philosophische Lehre ein zeitlos gültiges Gebilde, oder aber es ist der subjektive Ausdruck einer einzelnen Person. Bergson verknüpft beide Teilthesen gleichwohl. Damit wird verständlich, warum die aus der Verknüpfung sich ergebende Gesamtthese zuerst so paradox wirkt – aber lässt sich dieser Eindruck auch überwinden? Man müsste, wenn dies gelingen soll, sich eine Wahrheit vorstellen können, die zugleich individuell und allgemein, Ausdruck des Innersten der Person und doch von verschiedenen Personen, an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten nachvollziehbar wäre. Bergson zumindest kann sich eine derartige Wahrheit vorstellen. In Les deux sources de la morale et de la religion führt er folgendes Beispiel an: 86

PM 1447 | 248 | 242

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Der Text des Philosophen

»Das Gebirge hat zu allen Zeiten seinen Betrachtern gewisse Gefühle eingeflößt, die den Sinneseindrücken vergleichbar waren und ihnen in der Tat anhafteten. Aber Rousseau hat im Hinblick auf das Gebirge eine neue und eigentümliche Gemütsbewegung geschaffen. Diese Gemütsbewegung ist gängig geworden, [aber erst,] nachdem Rousseau sie in Umlauf gebracht hatte. Und noch heute ist es Rousseau, der sie uns empfinden lässt, ebenso sehr und mehr noch als das Gebirge. Gewiss, es gab Gründe dafür, dass diese aus der Seele Jean-Jacques hervorgegangene Gemütsbewegung sich eher an das Gebirge als an einen anderen Gegenstand geheftet hat: Die elementaren, den Sinneseindrücken benachbarte Gefühle, die durch das Gebirge unmittelbar hervorgerufen wurden, müssen sich mit der neuen Gemütsbewegung gut vertragen haben. Aber Rousseau hat diese Gefühle aufgegriffen, und er hat sie, die seither als einfache Harmonie erscheinen, in einen Gesamtklang eingefügt, dem er, durch eine wahrhaftige Schöpfung, den Grundton gegeben hat.« 87

Was Rousseau geschaffen hat, war zunächst einmal lediglich die Auslegung seiner ganz persönlichen Intuition. Das besagt nun aber nicht, dass es sich nur um die Darstellung einer subjektiven Sicht der Wirklichkeit gehandelt hätte. Vielmehr erschloss Rousseaus Perspektive eine neue, bisher unbeachtet gebliebene Seite der Wirklichkeit. Sie war nicht die – unerhebliche oder gar verzerrende – Färbung einer im Grunde für alle Menschen gleichen, objektiven Wirklichkeit, sondern eine individuelle Sicht, die gleichwohl, wenn man so sagen darf, ein fundamentum in re hat. Deshalb konnte sie »in Umlauf gebracht«, d. h. von anderen übernommen werden. Und diese Übernehmbarkeit ist genau das, was ihre Wahrheit ausmacht. Freilich ist dies ein besonderer Typ von Wahrheit. Vergleicht man eine derartige Wahrheit mit einer naturwissenschaftlichen oder einer logischen Wahrheit, so wird man sagen müssen, dass sie zugleich weniger und mehr ist. Sie ist weniger, insofern sie nicht den Anspruch zwingender Allgemeingültigkeit erhebt. Sie schlägt eine Ainsi la montagne a pu, de tout temps, communiquer à ceux qui la contemplaient certains sentiments comparables à des sensations et qui lui étaient en effet adhérents. Mais Rousseau a créé, à propos d’elle, une émotion neuve et originale. Cette émotion est devenue courante, Rousseau l’ayant lancée dans la circulation. Et aujourd’hui encore c’est Rousseau qui nous la fait éprouver, autant et plus que la montagne. Certes, il y avait des raisons pour que cette émotion, issue de l’âme de Jean-Jacques, s’accrochât à la montagne plutôt qu’à tout autre obje : les sentiments élémentaires, voisins de la sensation, provoqués directement par la montagne devaient s’accorder avec l’émotion nouvelle. Mais Rousseau les a ramassés ; il les a fait entrer, simples harmoniques désormais, dans un timbre dont il a donné, par une création véritable, la note fondamentale. – DS 1009 f. | 37 f. | 33

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Sicht auf die Wirklichkeit vor, die ihren Grund in der Sache hat und die sich prinzipiell jeder Mensch aneignen kann. Aber sie sagt nicht, dass jemand, der anders denkt oder Anderes sieht, falsch denkt oder sieht. Und sie ist mehr, weil sie mehr ist als bloß eine theoretische Wahrheit. Rousseaus neuartige Perspektive auf die Wirklichkeit umfasst – wie die Perspektive eines jeden bedeutenden Philosophen, Künstlers, Religionsstifters oder Wissenschaftlers 88 – eine neue Art des Fühlens, eine neue Form des Denkens und eine neue Form des Handelns. Diese mehrdimensionale Wahrheit meinten Bergsons deutsche Zeitgenossen, wenn sie von einer »Einstellung« oder einer »Lebensform« sprachen, und diese mehrdimensionale Wahrheit meint Bergson, wenn er in L’intuition philosophique den Begriff der »Haltung« (attitude) einführt: »Sehen wir uns den Schatten einmal näher an: Wir werden aus ihm die Haltung des Körpers, der ihn wirft, erraten, und wenn wir uns sehr bemühen, diese Haltung nachzuahmen oder besser noch: uns in sie hineinzuversetzen, so werden wir, so weit das möglich ist, das sehen, was der Philosoph gesehen hat.« 89

Wir stehen am Ende unseres Durchgangs durch L’intuition philosophique. Aber wie es mit philosophischen Untersuchungen zu gehen pflegt: Ihr wichtigstes Ergebnis ist die Einsicht, dass man die Frage anders stellen muss, als man sie zu Beginn gestellt hat. Gewiss, wir haben eine Antwort bekommen. Wir haben gesehen, dass Bergson jeder bedeutenden Philosophie eine Wahrheit zuschreibt, deren UrWenn man zögert, Wissenschaftler mit Künstlern und Religionsstiftern in eine Reihe zu stellen, so deshalb, weil man sich vorstellt, Wissenschaftler seien mit der Vermehrung »objektiven Wissens« beschäftigt, und weil man selbst dann, wenn man zugesteht, dass es in der Wissenschaft »Paradigmenwechsel« gibt, an einen Handwerker denkt, der ein ungeeignetes Werkzeug zur Seite legt und statt seiner ein besser geeignetes wählt. Aber wer wollte leugnen, dass das unendliche Universum der Neuzeit ganz andere Emotionen weckt als die geschlossene Welt der Antike oder des Mittelalters, Darwins vom Affen abstammender Mensch ganz andere als das Ebenbild Gottes, Freuds zwischen Es und Über-Ich eingeklemmtes Ich ganz andere als Kants autonomes Subjekt? Man muss nur die Frage nach dem Ursprung der Widerstände gegen neue wissenschaftliche Konzeptionen stellen, um auf ihre emotionale Dimension zu stoßen. Bergson hat schon im Lukrez-Kommentar – insbesondere am Beispiel Epikurs – intensiv über die weltanschauliche Funktion der Wissenschaft nachgedacht. 89 Regardons bien cette ombre : nous devinerons l’attitude du corps qui la projette. Et si nous faisons effort pour imiter cette attitude, ou mieux pour nous y insérer, nous reverrons, dans la mesure du possible, ce que le philosophe a vu. – PM 1347 | 120 | 128 88

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Der Text des Philosophen

sprung nicht in den allgemein anerkannten Denkelementen liegt, sondern gerade im Individuellsten, was diese Philosophie aufzuweisen hat, nämlich in der persönlichen Perspektive auf die Wirklichkeit. Wir haben gesehen, dass diese persönliche Sicht einen Wahrheitsanspruch erheben darf, weil sie ein fundamentum in re hat, weil der Philosoph durch sie nicht nur sich, sondern auch Anderen einen neuen Aspekt der Wirklichkeit und damit neue Formen des Fühlens, Denkens und Handelns im Hinblick auf diese Wirklichkeit erschließt. Kurz: Wir haben gesehen, dass die Wahrheit einer Intuition oder eines Bildes der Wirklichkeit in ihrer Übernehmbarkeit durch Andere besteht. Nur: Was soll das Wort »Übernehmbarkeit« besagen? Entweder besagt es, dass der Gehalt der Intuition, nachdem er dank der Anstrengungen des Philosophen in Worte gefasst wurde, dem Bestand der Tradition eingefügt wird und dass er dann von späteren Philosophen »übernommen« werden kann, wie eben fertige Denkelemente übernommen werden. Aber dann stünden wir wieder ganz am Anfang und hätten durch unsere Diskussion nicht das Geringste gewonnen. Oder aber es gibt noch eine andere Bedeutung des Wortes »übernehmen«, noch eine ganz andere Gestalt des Übernehmens. Aber dann müssen wir uns eingestehen, dass wir nach diesem Vorgang und seiner Möglichkeit bisher überhaupt noch nicht gefragt haben. Klar ist: Das Übernehmen einer »Haltung« durch Andere muss etwas Anderes sein als das Übernehmen fertiger Denkelemente. Es dürfte sich dabei nicht um jenes Aufwirbeln von totem Material handeln, das Bergson in seinem Bild beschrieben hatte, sondern es müsste eher so etwas sein wie eine zwischen zwei Wirbelwinden be- oder entstehende Ähnlichkeit. Bergson deutet das in den zuletzt zitierten Sätzen durch die Verben »erraten« (deviner), »nachahmen« (imiter) und »sich hineinversetzen« (s’insérer) an. Wie aber sollten wir dieses andersartige Übernehmen bezeichnen, wenn nicht als – Verstehen? Nun hatten wir uns bisher unter dem Verstehen einen Vorgang vorgestellt, durch den die Ebene des Textes auf eine Ebene des Sinnes bezogen und von dieser her strukturiert wird. Am Ende unseres Durchgangs durch L’intuition philosophique müssen wir diese Vorstellung vielleicht nicht geradezu als falsch verwerfen, wohl aber einsehen, dass sie nicht umfassend genug ist. Wenn wir klären wollen, was es mit dem Verstehen in Bergsons Philosophie auf sich hat, dann werden wir der Frage nachgehen müssen, wie man sich ein Übernehmen von Wahrheiten vorzustellen hat, das anders abläuft als ein Auf99 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

1 · Texthermeneutik: Das Material und der Sinn

raffen fertig vorliegender Denkelemente. Auf diese Frage kommt Bergson immer wieder zurück, und auch wir werden sie erst im letzten Kapitel dieser Untersuchung beantworten können. 90

1.3 Der Text des Dichters Wenn es nur darum ginge, die Existenz texthermeneutischer Elemente in der Philosophie Bergsons zu belegen, dann könnten wir das erste Kapitel an dieser Stelle beenden, denn unsere Analyse von L’intuition philosophique hat deutlich genug gezeigt, dass es solche Element gibt. Freilich wird man schwerlich behaupten können, dass Bergsons gesamte Philosophie den Fragen der Texthermeneutik gewidmet sei, und so erhebt sich denn die Anschlussfrage, welche Rolle die texthermeneutischen Elemente im Gesamtzusammenhang der Philosophie Bergsons spielen. Nun braucht man aber diese Frage nur zu stellen, um sich alsbald mit der Schwierigkeit konfrontiert zu sehen, dass es sich bei allen Texten, die wir bisher betrachtet haben, um kleinere Texte – Vorträge oder Aufsätze – handelt, dass aber noch kein einziges von Bergsons Hauptwerken Gegenstand der Untersuchung war. Sollte dieser Befund repräsentativ für das Ergebnis einer umfassenden Bergson-Lektüre sein, dann müssten wir feststellen, dass sich texthermeneutische Elemente zwar in »zweitrangigen« Texten finden, die, kleinen Monden gleich, um das eine oder andere von Bergsons Hauptwerken kreisen, dass aber Bergsons »eigentliche«, in den »Hauptwerken« ausgebreitete Philosophie ganz anderen Themen gewidmet ist. Sollte dieser Befund aber nicht repräsentativ sein, so muss unsere nächste Aufgabe darin bestehen, zu zeigen, dass es auch in den Hauptwerken texthermeneutische Elemente gibt, und zu klären, welche Funktion ihnen zukommt. Das erste Werk Bergsons, das ich unter dieser Perspektive betrachten möchte, ist L’évolution créatrice. 1907 als drittes Hauptwerk erschienen und – was vielleicht für unser Thema bedeutsamer ist als man zunächst meinen könnte – 1927 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet, scheint dieses Buch auf den ersten Blick eine Naturphilosophie und auf den zweiten eine evolutionäre Theorie der Erkenntnis zu bieten. Beide Themen sind so beschaffen, dass man sagen muss: Unter allen Hauptwerken Bergsons ist L’évolution créa90

Vgl. Kapitel 6, insbesondere Abschnitt 6.2.4, S. 799.

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Der Text des Dichters

trice sicherlich dasjenige, in dem man texthermeneutische Elemente am wenigsten vermuten würde. 91

1.3.1 Poetische und philosophische Texte Gleichwohl sind solche Elemente überraschend leicht zu finden. Und die Überraschung wird nicht kleiner dadurch, dass nun nicht mehr philosophische, sondern poetische Texte betrachtet werden: »Liest mir ein Dichter seine Verse vor, so kann ich genug Interesse für ihn hegen, um in sein Denken einzutreten, mich in seine Gefühle einzufügen und den einfachen Zustand nachzuerleben, den er in Sätze und Worte zersplittert hat. Ich sympathisiere dann mit seiner Inspiration, ich folge ihr in einer ununterbrochenen Bewegung, die, gleich der Inspiration selbst, ein einziger ungeteilter Akt ist. Nun genügt es aber, dass meine Aufmerksamkeit nachlässt, dass, was gespannt in mir war, sich abspannt – und die bisher in den Sinn eingesenkten Töne erscheinen mir gesondert, in ihrer Materialität. […] Je mehr ich mich nun gehen lasse, desto mehr individualisiert sich das Nacheinander der Töne: wie die Sätze in Worte zergingen, so skandieren sich die Worte in Silben, die ich eine um die andere wahrnehme. Und gehe ich in der Richtung des Traumes weiter: so sind es die Buchstaben, die sich voneinander lösen, und die ich, auf einem imaginären weißen Blatt, wie verkettet vorübergleiten sehe.« 92

Das Beispiel dieses Dichters ist, wie Arnaud François in seinem Kommentar vermerkt, ein »entscheidendes und häufig widerkehrendes«. 93 Anders jedoch als in L’intuition philosophique, wo allein die Polarität Natürlich müsste man eigentlich sagen, dass texthermeneutische Elemente in Durée et simultanéité noch viel weniger zu erwarten sind. Aber dieses Buch wird ja gemeinhin nicht zu Bergsons Hauptwerken gerechnet. 92 Quand un poète me lit ses vers, je puis m’intéresser assez à lui pour entrer dans sa pensée, m’insérer dans ses sentiments, revivre l’état simple qu’il a éparpillé en phrases et en mots. Je sympathise alors avec son inspiration, je la suis d’un mouvement continu qui est, comme l’inspiration elle-même, un acte indivisé. Maintenant, il suffit que je relâche mon attention, que je détende ce qu’il y avait en moi de tendu, pour que les sons, jusque-là noyés dans le sens, m’apparaissent distinctement, un à un, dans leur matérialité. […] A mesure que je me laisserai aller, les sons successifs s’individualiseront davantage: comme les phrases s’étaient décomposées en mots, ainsi les mots se scanderont en syllabes que je percevrai tour à tour. Allons plus loin encore dans le sens du rêve : ce sont les lettres qui se distingueront les unes des autres et que je verrai défiler, entrelacées, sur une feuille de papier imaginaire. – EC 672 | 210 | 213 f. 93 EC –– | 479, Anm. 90 | –– 91

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von Intuition und traditionellen Denkelementen sowie deren Bedeutung für das Hervorbringen und Verstehen von Texten auf über einem Dutzend Seiten ausgebreitet und Schritt für Schritt entwickelt wird, hat man es in L’évolution créatrice zwar mit zahlreichen, aber vergleichsweise kurzen Passagen zu tun, die in den Formulierungen variieren, im Grunde aber doch immer wieder das Gleiche sagen. Die kürzeste Variation des zugrunde liegenden Themas besteht nur aus zwei Sätzen: »So kann man von einem poetischen Gefühl, das sich in gesonderten Strophen, gesonderten Versen, gesonderten Worten ausdrückt, sagen, dass es diese Vielheit individualisierter Bestandteile in sich enthalten habe und dass es dennoch die Materialität der Sprache ist, die sie hervorbringe. Und doch rinnt durch die Worte, die Verse und die Strophen die einfache Inspiration, die das Ganze des Gedichts ist.« 94

Die längste, sich über fast zwei Seiten erstreckende Variation ist jene, deren Beginn ich bereits als Zitat 1 angeführt habe. Führen wir schließlich noch eine dritte Variation an, die dem, was wir aus L’intuition philosophique kennen, besonders nahe steht, so dass wir in die Lage versetzt werden, nicht nur das den drei Variationen gemeinsame Thema zu erschließen, sondern auch die grundlegenden Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Konzeptionen in L’intuition philosophique und in L’évolution créatrice zu erkennen: »Die schöpferische Idee eines Gedichtes entfaltet sich in tausenden von Vorstellungsbildern, und diese verkörpern sich in Sätzen, die sich ihrerseits in Worten auseinanderlegen. Je tiefer man nun von der unbewegten, in sich selbst zusammengeballten Idee zu den Worten herabsteigt, die sie auseinanderlegen, desto mehr Raum bleibt für Zufall und Wahl. Andere und durch andere Worte ausgedrückte Bilder hätten auftauchen können; Bild ist durch Bild, Wort durch Wort herbeigerufen worden. Nun eilen all diese Worte hintereinander her und suchen, die Einheit der Schöpferidee vergeblich aus eigener Kraft wiederzugeben. Das Ohr hört nur Worte; es nimmt nur Zufälligkeiten wahr. Der Geist aber schwingt sich in einer Folge von Sprüngen von den Worten zu den Bildern, von den Bildern zur ursprünglichen Idee – so von der Wahrnehmung der Worte, diesen durch Zufälle ausgelös-

C’est ainsi que d’un sentiment poétique s’explicitant en strophes distinctes, en vers distincts, en mots distincts, on pourra dire qu’il contenait cette multiplicité d’éléments individués et que pourtant c’est la matérialité du langage qui la crée. Mais à travers les mots, les vers et les strophes, court l’inspiration simple qui est le tout du poème. – EC 714 | 259 | 262 f.

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102 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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ten Zufälligkeiten zur Auffassung der Idee zurücksteigend, die sich selber setzt.« 95

Bedenkt man, dass sich L’intuition philosophique mit philosophischen Texten befasst, während die Beispiele aus L’évolution créatrice sich auf poetische Texte beziehen; bedenkt man also, dass dort und hier von höchst verschiedenartigen Textgattungen die Rede ist, so wird man sagen müssen, dass die Beschreibungen des Schaffens und des Verstehens von Texten nicht nur vergleichbar, sondern sogar erstaunlich ähnlich sind. Was sofort als Gemeinsamkeit ins Auge springt, ist die Polarität von vielfältigem Material und Einheit stiftendem Sinn. Das Einheit stiftende Prinzip heißt hier allerdings nicht »Intuition«. Man kann noch nicht einmal sagen, dass es in L’évolution créatrice anders heißt als in L’intuition philosophique, denn Bergson benutzt – an Einheitlichkeit offenbar nicht sehr interessiert – in jedem der angeführten Zitate eine andere Bezeichnung. Bald heißt es »Inspiration«, bald »poetisches Gefühl«, bald »schöpferische Idee« (idée génératrice). Aber man kann sich ohnehin fragen, ob das, was Bergson hier meint, der »Intuition« entspricht oder nicht eher dem »vermittelnden Bild«. Die entscheidende Leistung, die Bergson in allen drei Zitaten hervorhebt, ist ja die, dass das Sinnprinzip die Einheit des Gedichts – dieses einen Gedichts – herstellt. Dass der Dichter wahrscheinlich noch viele andere Gedichte geschrieben und sich vielleicht sogar sein ganzes Leben lang bemüht hat, in ihnen und durch sie »eine einzige Sache zu sagen«, ist ein Aspekt, der Bergson hier ganz offenkundig nicht interessiert. Was das Material angeht, so haben wir es hier wohl mit dem größten Unterschied zwischen L’intuition philosophique und L’évolution créatrice zu tun. Hatte sich Bergson dort hauptsächlich für die fertig vorliegenden Denkelemente als das Material des Philosophen interessiert und die Tatsache, dass sich der PhiL’idée génératrice d’un poème se développe en des milliers d’imaginations, lesquelles se matérialisent en phrases qui se déploient en mots. Et, plus on descend de l’idée immobile, enroulée sur elle-même, aux mots qui la déroulent, plus il y a de place laissée à la contingence et au choix : d’autres métaphores, exprimées par d’autres mots, eussent pu surgir; une image a été appelée par une image, un mot par un mot. Tous ces mots courent maintenant les uns derrière les autres, cherchant en vain, par eux-mêmes, à rendre la simplicité de l’idée génératrice. Notre oreille n’entend que les mots; elle ne perçoit donc que des accidents. Mais notre esprit, par bonds successifs, saute des mots aux images, des images à l’idée originelle, et remonte ainsi, de la perception des mots, accidents provoqués par des accidents, à la conception de l’Idée qui se pose elle-même. – EC 765 f. | 319 f. | 323 f.

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losoph beim Schreiben von Texten auch der Sprache bedienen muss, nur ganz am Rande berücksichtigt, so steht hier nun das sprachliche Material im Mittelpunkt: Der einfache Sinn muss entfaltet werden in Sätze, Worte und Buchstaben. Als zweite Gemeinsamkeit lässt sich festhalten, dass Bergson Stufenmodelle präsentiert, die zwischen den beiden Polen der Vielheit und der Einheit vermitteln. Wie schon bei der Benennung des Sinnprinzips, so geht er allerdings auch hier sehr undogmatisch vor. Wiederum nämlich ersetzt Bergson nicht einfach das uns vertraute Vier-Schichten-Modell durch ein anderes – was man vielleicht mit dem andersartigen Charakter des Materials und der Texte erklären könnte –, sondern er benutzt in jedem Zitat eine andere Stufenfolge. Spricht Zitat 1 – in absteigender Reihenfolge – von Sätzen, Worten, Silben und Buchstaben, so spricht Zitat 2 von Strophen, Versen und Worten, und Zitat 3 – am stärksten an L’intuition philosophique erinnernd, aber dadurch hier etwas aus dem Rahmen fallend – von Vorstellungsbildern, Sätzen und Worten. Will man diese Beobachtung nicht durch eine gewisse Zerstreutheit Bergsons erklären, so wird man annehmen müssen, dass Zahl und Art der Stufen nicht wesentlich sind, sondern Bergson auf einen fortschreitenden Vermittlungsprozess abzielt, der – absteigend beim Autor, aufsteigend beim Leser – in beliebig viele Stufen aufgeteilt werden kann. 96 Der Prozess ist also zwar kontinuierlich, vollzieht sich aber gleichwohl durch »Sprünge« (vgl. Zitat 3), durch die sich der Leser zu einem neuen Verständnisniveau aufschwingt, bzw. durch Abstiege, durch die sich der Autor auf ein neues Niveau der Darstellung begibt. Als dritte Gemeinsamkeit ist das Prinzip der Äquivalenz anzuführen, das in Zitat 3 besonders deutlich hervortritt. Je weiter der Dichter, von seiner schöpferischen Idee bzw. seinem poetischen Gefühl ausgehend, sich dem Material nähert, desto mehr entsteht »Raum für Zufall und Wahl«. Der Dichter kann aus »tausenden« von Vorstellungsbildern wählen und diese Bilder in die verschiedensten sprachlichen Formen kleiden, sofern es sich um äquivalente Materialkonstellationen handelt. Bergson geht so weit, das, was dann letztlich als Text entsteht und womit der Leser konfrontiert ist, als Ansammlung von »Zufälligkeiten« zu bezeichnen. Die vierte Gemeinsamkeit ist die Verschränkung von Sinn und Person. Diese Verschränkung, die uns im Hinblick auf den Text des 96

Vgl. dazu auch Anm. 25.

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Philosophen sehr beschäftigt hat, würde hier vielleicht gar nicht auffallen, da man in einem poetischen Text sehr viel eher eine persönliche Äußerung zu sehen gewohnt ist als in einem philosophischen Text, wenn Bergson sie nicht – im Zitat 1 – durch eine ungewöhnliche Konstellation so in den Vordergrund rücken würde, dass man sie bemerken muss: Der Rezipient des Gedichtes wird nicht als Leser eines Textes dargestellt, sondern als Zuhörer, der dem persönlich anwesenden und seine Gedichte vortragenden Dichter lauscht. Und die Bedeutung der persönlichen Anwesenheit des Dichters wird noch unterstrichen durch eine Satzkonstruktion, die minimal, aber entscheidend, vom zu Erwartenden abweicht. Nach dem einleitenden Nebensatz (»wenn ein Dichter mir seine Verse vorliest«) würde man – und zwar gerade dann, wenn man nach texthermeneutischen Elementen in Bergsons Philosophie sucht – eigentlich eine Fortsetzung erwarten, die beim Text bleibt (»kann ich genug Interesse für sie [= die Verse] aufbringen«). Stattdessen aber treffen wir auf eine Fortsetzung, die den Scheinwerfer direkt auf den Autor schwenkt (»kann ich genug Interesse für ihn [= den Dichter] aufbringen«). Zu dieser Betonung der Persönlichkeit scheint etwas zu passen, was sich zunächst einmal als fünfte Gemeinsamkeit von L’évolution créatrice und L’intuition philosophique ansprechen lässt. Wir hatten am Schluss unseres Durchgangs durch L’intuition philosophique festgestellt, dass die ganze Erörterung hinauslief auf die Hypothese eines Vorgangs, durch den es möglich ist, Wahrheit von Anderen zu übernehmen, ohne dass sie durch diese Übernahme zu einem bloßen Denkelement wird. Wir hatten diesen Vorgang – gleichsam auf Kredit – als »Verstehen« bezeichnet, ansonsten aber kaum die Frage wirklich ausformuliert, geschweige denn eine Antwort skizziert. Sagen ließ sich anhand des Textes von L’intuition philosophique eigentlich nur, dass Bergson einen derartigen Vorgang wohl für möglich halten muss, denn er charakterisiert ihn – und zwar keineswegs hypothetisch – durch Verben wie »erraten« (deviner), »nachahmen« (imiter) und »sich einfügen« (s’insérer). Nun fällt auf, dass Bergson im Zitat 1 teils die gleichen, teils verwandte Verben benutzt, um die Haltung des Zuhörers gegenüber dem lesenden Dichter zu charakterisieren: Der Zuhörer kann sich für den Dichter »interessieren« (s’intéresser). Tut er das, dann wird er zunächst in das Denken des Dichters »eintreten« (entrer), sich dann in es »einfügen« (s’insérer) und es schließlich »nacherleben« (revivre). Eine ähnliche Steigerung enthält der zweite Satz, der von dem Zustand ausgeht, dass der Zuhörer mit der Inspi105 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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ration des Dichters »sympathisiert« (sympathiser), und diesen Zustand sich so lange entwickeln lässt, bis der Zuhörer die Inspiration selbst »ist« bzw. vollzieht (je la suis d’un mouvement continu). Wie soll man nun aber diese Steigerungen bezeichnen, wenn nicht als schrittweises Sich-hinein-Versetzen, als Einfühlung des Zuhörers in den Dichter? Für eine solche Auffassung des Verstehens als Einfühlung spräche, dass die ursprüngliche »Inspiration« des Dichters zugleich »poetisches Gefühl« ist. Für sie spräche, dass die Theorie der Einfühlung in der Hermeneutik des 19. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle gespielt hat. Für sie spräche auch, dass Bergson – und zwar keineswegs nur gelegentlich – Begriffe verwendet, die charakteristisch sind für diese Art des hermeneutischen Diskurses (man denke etwa an das Verb deviner und die Bedeutung der Divination bei Schleiermacher, Droysen und anderen Theoretikern). Was nun allerdings Anlass zur Vorsicht gibt, ist nicht nur die Frage, ob wir, wenn dieser Gedanke sich erhärten sollte, auch das Verstehen philosophischer Texte als Einfühlung auffassen müssen, sondern auch der Umstand, dass wir bei genauer Lektüre von Zitat 1 noch auf einen zweiten unerwarteten Schwenk des Scheinwerfers aufmerksam werden. Nachdem nämlich Bergson zunächst das Interesse vom Text weg- und auf die Person des Dichters hingelenkt hatte, ändert er den Fokus alsbald noch einmal: Das, was der Zuhörer betritt, das, worauf er sich einlässt und was er schließlich nachvollzieht, ist »das Denken« des Dichters. Und das, womit der Zuhörer sympathisiert, ist des Dichters »Inspiration«. Der Text also ist die Person, aber die Person ist ihre Inspiration, ist die Sache, um die es ihr geht. Damit würde genau die gegenteilige Schlussfolgerung gelten. Schien es eben noch so, als müsste auch das Verstehen philosophischer Texte als Einfühlung gedacht werden, so gilt nun offenbar, dass das Wesentliche eines Gedichtes nicht in den darin beschriebenen individuellen Erlebnissen und subjektiven Gefühlen zu sehen ist, sondern dass auch das Verstehen eines Gedichtes den Nach- und Mitvollzug der Sache erfordert, um die es darin geht. Diese Einsicht besagt nicht, dass die Frage nach einer Einfühlungshermeneutik bei Bergson erledigt – nämlich negativ entschieden – wäre. Sie besagt nur, dass wir die Frage nach dem Wesen des Verstehens weiter offenhalten müssen. Betrachten wir schließlich eine letzte Gemeinsamkeit. In L’évolution créatrice wird das Verstehen, das Erfassen des Sinns ebenso wie in L’intuition philosophique als Anstrengung (effort) gedacht. In beiden Texten tritt dann aber auch ein Gegenteil, ein Anderes der An106 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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strengung in Erscheinung. Das war in L’intuition philosophique die Bequemlichkeit (paresse), die sich darin äußerte, dass der Philosoph es vorzog, Antworten auf von ihm noch nicht geklärte Fragen durch einfache Schlussfolgerungen statt durch detaillierte Prüfung der Erfahrung zu ermitteln. Hier nun begegnen wir einer Unterbrechung der Anstrengung, die zunächst nur eine »Entspannung« (détente) zu sein scheint, sich dann aber als Erschlaffung (relâchement), als Sichgehen-Lassen (se laisser aller), ja als »Träumerei« erweist. 97 Verstehen ist der Mitvollzug einer geistigen Bewegung. Wird dieser Mitvollzug eingestellt, dann zeigt sich das sprachliche Material, das zuvor »in den Sinn eingelassen« (noyé dans le sens) war, in seiner Materialität, d. h. in seiner Vielzahl und seiner Vereinzelung. Das muss – worauf Bergson in der Fortsetzung von Zitat 1 hinweist – nicht bedeuten, dass all die Bilder, Sätze, Worte und Silben nur noch als chaotische, ungeordnete Menge von Materialien erscheinen. Ganz im Gegenteil: Der Text kommt in den Blick als Ordnung, als Struktur, als Konfiguration sprachlicher Elemente. Nur: Was ist diese Ordnung anderes als eben jene äußerliche Komplexität, von der L’intuition philosophique ausgegangen war und die der dort geschilderte Leser in mehreren mühsamen, auf die Einheit des Sinnes gerichteten Anläufen überwunden hatte? Und was ist jener – von Bergson unmerklich aus einem Zuhörer in einen Leser verwandelte – Rezipient, der den an der Sache orientierten Mitvollzug eingestellt hat und sich der Struktur des Textes zuwendet, anderes als der in La spécialité beschriebene philologische Spezialist, der sich nur mit dem Buchstaben befasst, aber nicht mit dem Geist, für den der Text ein abgeschlossenes und fertiges Ding ist und nicht Ausdruck eines Denkens, das mit immer noch nicht gelösten Problemen rang?

1.3.2 Textverstehen als comparaison Die texthermeneutischen Passagen, die man in L’évolution créatrice findet, basieren also auf den gleichen Grundgedanken, auf denen auch jene Texthermeneutik basiert, die wir in L’intuition philosophique gefunden haben. Was ist dann aber die Funktion dieser texthermeneutischen Passagen im Gesamtzusammenhang von L’évolution créatrice oder zumindest im Kontext jener Argumentationen, in die 97

Vgl. Zitat 1 und EC 665 f. | 201 f. | 205 f.

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sie eingebunden sind? Bergson selbst gibt uns eine Antwort, die freilich zunächst nicht mehr als ein Wort ist. Am Ende jener Betrachtungen, deren Beginn ich als Zitat 1 angeführt habe, schreibt er: »Ein derartiger Vergleich lässt – in einem gewissen Maße – verstehen, wie die selbe Unterdrückung positiver Realität, die selbe Umkehrung einer bestimmten ursprünglichen Bewegung zugleich die Ausgedehntheit im Raume und die wunderbare Ordnung erschaffen kann, die unsere Mathematik in ihm findet.« 98

Das entscheidende Stichwort heißt »Vergleich« (comparaison). Bergson wiederholt es noch einmal zu Beginn einer Anmerkung, die er dem Haupttext an dieser Stelle hinzufügt: »Unser Vergleich entwickelt lediglich den Gehalt des Begriffs λόγοϚ, so wie Plotin ihn verstand. Denn der λόγοϚ dieses Philosophen ist einerseits eine schöpferische und formende Macht, ein Aspekt oder ein Teil der ψυχὴ, andererseits aber spricht Plotin manchmal auch von ihm wie von einer Rede.« 99

Auch die beiden anderen Textpassagen sind in Vergleiche eingebunden. Das lässt in Zitat 2 der Anfang des ersten Satzes erkennen (c’est ainsi que), und mit einer analogen Formulierung (ainsi procède le philosophe) beginnt der Satz, der unmittelbar auf die als Zitat 3 angeführte Passage folgt. Was aber bedeutet das Wort »Vergleich«? Und welche Bedeutung kommt der Texthermeneutik zu, wenn sie als »Vergleich« angeführt wird? Zunächst scheint es, als müssten wir uns zwischen zwei Möglichkeiten entscheiden, von denen die eine für unseren Versuch, die Texthermeneutik als bedeutsames Element von Bergsons Philosophie aufzuweisen, ebenso ungünstig wäre wie die andere. Die eine Möglichkeit möchte ich als erläuterndes Bild, die andere als begründenden Vergleich bezeichnen. Die Bezeichnung erläuterndes Bild stützt sich auf eine Bemerkung Bergsons in L’intuition philosophique, in der er unterscheidet zwischen Bildern, die der Philosoph benutzt, wenn er »seine GedanUne comparaison de ce genre fera comprendre, dans une certaine mesure, comment la même suppression de réalité positive, la même inversion d’un certain mouvement originel, peut créer tout à la fois l’extension dans l’espace et l’ordre admirable que notre mathématique y découvre. – EC 673 | 211 | 214 f. 99 Notre comparaison ne fait que développer le contenu du terme λὀγοϚ, tel que l’entend Plotin. Car d’une part le λὀγοϚ de ce philosophe est une puissance génératrice et informatrice, un aspect ou un fragment de la ψυχὴ, et d’autre part Plotin en parle quelquefois comme d’un discours. – EC 673 | 211 | 215 98

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ken Anderen mitteilen will«, und dem Bild, das »nahe bei der Intuition liegt«, das er für sich selbst benötigt und das oft im Text gar nicht explizit in Erscheinung tritt. 100 Dieses zweite Bild, das Leitbild des Philosophen, das deshalb nur im Singular auftritt, ist offensichtlich dasjenige, das wir als image médiatrice kennengelernt und untersucht haben. Jene ersteren, die in beliebiger Zahl, also im Plural auftreten, sind stilistische Figuren, die der Philosoph zur Verdeutlichung des von ihm Gemeinten einsetzen kann, aber nicht muss. Der problematische Status dieser erläuternden Bilder wird deutlich, wenn man sich an die Vorrede zur ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft erinnert. Kant unterscheidet dort die »diskursive« (»durch Begriffe«) und die »intuitive Deutlichkeit« (»durch Anschauungen«), um dann hinzuzufügen, er habe zwar im ersten Entwurf des Textes »Beispiele und Erläuterungen […] an ihren Stellen gehörig« einfließen lassen, sich dann aber angesichts der Länge des Textes letztlich doch entschlossen, diese zu entfernen, da sie »nur in populärer Absicht notwendig sind« und überdies zwar der Anschaulichkeit im Detail dienen, dafür aber oft die »Überschauung des Ganzen« erschweren. 101 Die erläuternden Bilder sind also nicht nur durch andere, äquivalente ersetzbar, sie sind sogar verzichtbar. Sollte das Wort »Vergleich« in diesem Sinne zu interpretieren sein, dann müssten wir also feststellen, dass die texthermeneutischen Überlegungen, die Bergson in einigen kleineren Schriften anstellt, zwar nicht ganz uninteressant, aber doch für seine »eigentliche« Philosophie letztlich bedeutungslos sind. Sie wären ein darstellerisches Element an der Oberfläche, aber kein wesentlicher Aspekt seines Denkens. Was ich mit der Bezeichnung begründender Vergleich sagen will, wird deutlich, wenn man den Kontext betrachtet, in dem Zitat 1 auftritt. Im dritten Kapitel von L’évolution créatrice geht es Bergson darum, eine Vorstellung unserer Wirklichkeit zu entwickeln, die besagt, dass die ganze uns zugängliche Wirklichkeit in Wahrheit etwas ist, was sich mit Worten wie Impuls, Kraft, Bewegung oder Prozess beschreiben lässt, dass diese Dynamik aber durch Phasen der Erschlaffung unterbrochen wird, dass solches Erschlaffen das entstehen lässt, was wir als Materie und materielle Dinge kennen und dass schließlich die »wunderbare Ordnung«, die Mathematik und Naturwissenschaften in unserer Wirklichkeit finden, nur die Struktur des Erstarrten, 100 101

PM 1400 | 186 | 188 KrV A XIX

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nicht aber das Wesen der Dynamik erfasst. Nun sieht man, dass das Beispiel vom Dichter und seinem Zuhörer genau diesen Wechsel von angespanntem Mitvollzug der geistigen Dynamik und erschlaffendem In-den-Blick-Nehmen der »wunderbaren Ordnung« des sprachlichen Materials beschreibt, und da die Konzeption der Wirklichkeit, die Bergson vermitteln möchte, mit mathematischer Naturwissenschaft recht wenig zu tun hat, drängt sich der Verdacht auf, dass Bergson hier eine Erfahrung aus dem Bereich des Geistes in den Bereich der materiellen Wirklichkeit überträgt und dass insofern die texthermeneutische Erfahrung die ontologische These begründen, tragen und stützen muss. Verhielte es sich wirklich so, dann würden aber die texthermeneutischen Passagen in ein noch ärgeres Zwielicht geraten als im Falle des erläuternden Bildes. Zum einen nämlich wäre das, was ich als »begründenden Vergleich« bezeichnet habe, letztlich das, was in L’intuition philosophique »Schlussfolgerung« oder »Konsequenz« heißt: der Schluss von einem bekannten auf einen unbekannten Bereich, der, wie wir gehört haben, Indiz für Bequemlichkeit und für mangelnde philosophische Redlichkeit ist. Sodann ist zu befürchten, dass man es hier mit einer unberechtigten Übertragung aus einem Bereich der Realität in einen andern zu tun hat. Das ist ein Problem, das Bergson selbst oft und ausführlich diskutiert hat. Im weiteren Text jener Fußnote, deren Beginn ich zitiert habe, 102 kritisiert er die griechischen Philosophen, die sich »durch eine ganz äußerliche Analogie« hätten täuschen lassen, und wir werden später sehen, dass er bei einem großen Teil der modernen Denker eine nicht zu rechtfertigende Übertragung der für materielle Dinge gültigen Kategorien in die Bereiche des Lebendigen und des Geistigen kritisiert – eine Übertragung, die er bemerkenswerterweise fast immer mit Worten wie traduction oder métaphore bezeichnet, mit Worten also, die dem Bereich der Sprache entnommen sind. Aber macht sich nicht auch Bergson einer verfälschenden Übersetzung, einer Übertragung in einen andersartigen Bereich (μετάβασιϚ εἰϚ ἄλλο γένοϚ) schuldig, wenn er die Grundstruktur unserer gesamten Wirklichkeit von der Erfahrung des Sprechens und Verstehens ableiten und die ontologische These auf die hermeneutische Erfahrung stützen möchte? Dass es sich so verhalten könnte, ist jedenfalls – und damit legen wir den Finger auf den dritten, im

102

Vgl. Anm. 99.

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Zusammenhang dieser Untersuchung besonders wichtigen Aspekt des Problems –, die Befürchtung, die Interpreten wie Ronchi und Bankov veranlasst hat, sich bei der Begründung ihrer These, Bergson vertrete eine noch heute plausible hermeneutische Philosophie, auf Matière et mémoire zu beschränken. »Diese zweite Phase in Bergsons Denken«, schreibt etwa Kristian Bankov, »– die Globalisierung und ›Kosmologisierung‹ der Prinzipien – schmälert die Modernität des Begriffs der intellektuellen Anstrengung.« 103 Einen ersten Hinweis darauf, dass es noch eine andere, angemessenere Interpretation des Begriffs »Vergleich« geben könnte, erhält man durch Arnaud François’ Bemerkung, die von Bergson im Anschluss an Beispiel 1 vorgetragene ontologische These sei der »Hauptgegenstand des langen und schwierigen Beweises«, der dann im weiteren Verlauf des Kapitels folgt. 104 Diese Bemerkung, die unsere Aufmerksamkeit auf den Gesamtaufbau des dritten Kapitels lenkt, besagt ja, dass die Schilderung der hermeneutischen Erfahrung der Formulierung der ontologischen These und einem anschließenden Beweis derselben vorangeht und deshalb schwerlich dazu dient, die These zu begründen. In der Tat ist von einer Begründung nirgends die Rede. Vielmehr schreibt Bergson, die hermeneutische Erfahrung lasse »verstehen«, wenn auch nur »in einem gewissen Maße«. Was da des Verständnisses bedarf, sagt Bergson gleich im Anschluss: Selbst wenn man die Frage ihrer Anwendbarkeit auf dieses oder jenes Gebiet der Wirklichkeit beiseitelässt, scheint die vorgeschlagene Denkfigur absurd zu sein. Wie kann das Erlahmen, die Umkehrung, ja die Negation einer schöpferischen Aktivität selbst etwas hervorbringen, somit selbst schöpferisch tätig sein? Und wieso kann das, was aus dem Erschlaffen einer ordnenden Kraft hervorgeht, eine »wunderbare Ordnung« aufweisen? Wie soll man sich so etwas vorstellen? Diese Zweifel wiegen umso schwerer, als sie sich auf die Thesen stützen können, die Bergson selbst in früheren Werken vorgetragen hatte. Schon in Matière et mémoire (1896) spielt der Gedanke, dass der Geist sich entweder auf eine schöpferische Handlung hin konzentrieren oder aber in ein zerstreutes Träumen abgleiten kann, eine zentrale Rolle. Indem Bergson in L’évolution créatrice das Stichwort »Traum« ins Spiel bringt, erinnert er selbst an diesen Ge-

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Bankov[2000] 54 EC – | 479, Anm. 92 | –

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danken. 105 Nur: Das Träumen, wie Bergson es in Matière et mémoire oder auch noch in dem 1901 gehaltenen Vortrag La rêve konzipiert hatte, war nicht schöpferisch 106, und schon gar nicht wurde im Traum eine Ordnung sichtbar, die mit derjenigen vergleichbar gewesen wäre, die uns unsere Erfahrung der Wirklichkeit zeigt. Wenn also, wie man gemeinhin annimmt, das Bild des auf dem Kopf stehenden Kegels, das Bergson im dritten Kapitel von Matière et mémoire vorführt 107 und das gerade die Gegensätzlichkeit von geistiger Konzentration (schöpferische Handlung) und geistiger Zerstreuung (Traum) veranschaulicht, das Leitbild (image médiatrice) darstellt, das in diesem Werk entfaltet wird, dann muss irgendwann zwischen 1901 und 1907 Bergsons innere Stimme gerufen haben: »Unmöglich!«, und dann muss Bergson sich entschlossen haben, zu seiner Intuition zurückzukehren, um sich eine genauere, treffendere Vorstellung von seinem Leitbild machen zu können. Wir werfen hier gleichsam einen Blick in Bergsons Werkstatt: Bergson hat erkannt, dass die in Matière et mémoire gelieferte Darstellung seines Leitbildes ungenügend ist. Er muss sich selbst eine präzisere Vorstellung davon bilden, und er muss in L’évolution créatrice seinen Lesern erläutern, warum und in welcher Weise die bekannte Version des Leitbilds zu überarbeiten ist. Das ist keine einfache Aufgabe, aber eben in dieser Situation erweist sich die texthermeneutische Erfahrung als Hilfe, weil sie zeigt, dass es das zumindest in einem Teilbereich unserer Erfahrung – nämlich der Erfahrung unseres Umgangs mit Sprache – gibt: ein Erschlaffen der Konzentration, das gleichwohl etwas entstehen lässt, ein Erschlaffen der ordnenden Kraft, das gleichwohl eine Ordnung sichtbar werden lässt. Die texthermeneutische Erfahrung zeigt, wie man sich so etwas vorzustellen hat. Aber zeigt sie es allein? Zeigt sie es von sich aus und unaufgefordert? Keineswegs. Das, was die texthermeneutische Erfahrung uns lehren soll, lehrt sie nur, wenn man sie aus der Perspektive der ontologischen These betrachtet. Genau deshalb spricht Bergson von einem »Vergleich«. Er stellt zunächst – im Haupttext – eine produktive Beziehung zwischen der hermeneutischen Erfahrung und der ontologischen These her, baut also einen zweigliedrigen Vergleich auf. Sodann 105 Laissons-nous aller, au contraire ; au lieu d’agir, rêvons. – Allons plus loin encore dans le sens du rêve […]. – EC 666, 672 | 202, 210 | 206, 214 106 Remarquons d’abord que le rêve ne crée généralement rien. – ES 884 | 93 | 82 107 Vgl. Abschnitt 4.2.2.2, S. 490.

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fügt er – in der Anmerkung – noch ein weiteres Element hinzu, indem er auf die antike Logos-Philosophie hinweist, so dass letztlich ein dreigliedriger Vergleich entsteht. Was diese drei Glieder verbindet, ist so offensichtlich wie vage: die Vorstellung von einer Ordnung der gesamten Wirklichkeit, die irgendwie ähnlich beschaffen ist wie die Ordnung, die wir in sprachlichen Äußerungen antreffen. Dieses »irgendwie« nun scheint mir wesentlich zu sein. Keines der drei Glieder des Vergleichs nämlich ist hinlänglich bestimmt. Die ontologische These steht erst am Beginn ihrer Ausarbeitung, sie soll gerade erst plausibel gemacht werden. Die texthermeneutische Erfahrung wird nur vage umrissen, aber nicht ausführlich analysiert. Und die antike Logos-Philosophie ist uns heute nicht mehr unmittelbar zugänglich, müsste also erst einmal von Irrtümern befreit und in ihrem Sinn neu erschlossen werden. Keines der drei Glieder ist also so klar erkannt und so gut begründet, dass man von ihm aus per Analogie die beiden anderen erschließen könnte. Ein begründender Vergleich wäre in dieser Konstellation gar nicht möglich. Dieser Vergleich kann überhaupt nur dann produktiv sein, kann überhaupt nur dann mehr bewirken als ein vages Gefühl von Ähnlichkeit, wenn der Leser bereit ist, sich – ähnlich wie bei einem hermeneutischen Zirkel – gleichsam in die Mitte des aus den Gliedern des Vergleichs gebildeten Dreiecks zu stellen, die Glieder so miteinander in Kontakt zu bringen, dass sie sich gegenseitig erhellen, und auf diese Weise die beim Aufbau des Vergleichs nur vage empfundene Ähnlichkeit immer mehr zu präzisieren. Es kann aber auch von einem bloß erläuternden Bild nicht die Rede sein, denn Bergson bemüht sich ja hier um eine neue Darstellung seines Leitbildes (image médiatrice). Darauf, dass es sich in der Tat so verhält und dass die Erfahrung unseres Umgangs mit Sprache helfen soll, die Grundzüge dieses Bildes sichtbar und darstellbar zu machen, deutet auch eine bisher unberücksichtigt gebliebene Übereinstimmung zwischen L’évolution créatrice und L’intuition philosophique hin. In den Ausführungen über Berkeleys Philosophie, die sich in L’intuition philosophique an die allgemeinen Erörterungen anschließen, stellt Bergson fest, dass er bei diesem Philosophen zwei vermittelnde Bilder zu erkennen meine. Das zweite beschreibt er so: »Aber es gibt einen anderen, von diesem Philosophen häufig herangezogenen Vergleich, der nur die Übertragung des visuellen Bildes, das ich soeben beschrieben habe, ins Akustische ist: Demnach wäre die Materie eine Sprache, in der Gott zu uns spricht. Die verschiedenen Metaphysiken der Materie würden dann, indem sie jede einzelne Silbe verdichten, absondern und

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verselbständigen, unsere Aufmerksamkeit vom Sinn auf den Laut lenken und uns hindern, der göttlichen Rede zu folgen.« 108

Man wird bei der Lektüre dieser Sätze über Berkeley schwerlich auf den Gedanken verfallen, Bergson spreche hier über ein Leitbild, das seinem eigenen nicht gar so unähnlich ist. Liest man aber L’intuition philosophique und L’évolution créatrice parallel, so zeigt sich nicht nur das Zerfallen der Rede in Worte und Silben als beiden Texten gemeinsame hermeneutische Erfahrung, sondern auch die analoge Funktion des Verweises auf Berkeley dort und des Verweises auf Plotin hier. Die Philosophie Plotins wie diejenige Berkeleys, soll das heißen, lässt sich als Auslegung eines Bildes verstehen, in dem unsere Wirklichkeit wie eine Sprache erscheint. Beachtet man all diese Hinweise, so wird – erstens – verständlich, warum die Passagen, die texthermeneutische Erfahrungen schildern oder in Erinnerung rufen, nur im dritten und vierten Kapitel von L’évolution créatrice zu finden sind. Wie in Matière et mémoire, so schafft Bergson auch in L’évolution créatrice in den ersten beiden Kapiteln zunächst einmal die notwendigen Voraussetzungen und konfrontiert den Leser erst im dritten Kapitel mit dem Leitbild als solchem. Zusätzlich zum Text hatte Bergson in Matière et mémoire graphische Darstellungen mathematischen Charakters eingesetzt, um den Leser zur Erzeugung des Leitbildes in der eigenen Vorstellung aufzufordern und ihn dabei zu unterstützen. 109 Die Korrekturen, die Bergson in L’évolution créatrice für notwendig erachtete, ließen sich aber offenkundig durch solche mathematisch geprägten Darstellungen nicht mehr veranschaulichen. Diese Aufgabe muss nun der Appell an die texthermeneutische Erfahrung übernehmen. Es wird – zweitens – deutlich, welch zentrale Rolle der Erfahrung 108 Mais il y a une autre comparaison, souvent évoquée par le philosophe, et qui n’est que la transposition auditive de l’image visuelle que je viens de décrire : la matière serait une langue que Dieu nous parle. Les métaphysiques de la matière, épaississant chacune des syllabes, lui faisant un sort, l’érigeant en entité indépendante, détourneraient alors notre attention du sens sur le son et nous empêcheraient de suivre la parole divine. – PM 1356 | 131 | 138 109 Ebenso wenig wie die sprachliche ist die graphische Darstellung schon das zu vermittelnde Bild. Es handelt sich in beiden Fällen um symbolische Darstellungen, die dem Leser – insbesondere durch die produktive Spannung, die entsteht, wenn sie beide benutzt werden – mehr oder weniger gute Anhaltspunkte für die Erzeugung des Bildes in der eigenen Vorstellung liefern, ihn aber von der Notwendigkeit der selbständigen Erzeugung nicht befreien. Vgl. dazu Abschnitt 1.4.2, S. 126.

114 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

Der Text des Dichters

unseres Umgangs mit Sprache im Sprechen, Schreiben und Verstehen zukommt. Weit davon entfernt, die Sprache als einen toten Symbolismus geringzuschätzen, der durch eine lebendig-unmittelbare, aber sprachlose Erfahrung ersetzt werden müsste, erklärt Bergson vielmehr die texthermeneutische Erfahrung zu einer privilegierten Wirklichkeitserfahrung. Oder vielmehr: Das, was diejenigen, die bei Bergson eine Sprachskepsis zu finden meinen, ist kein Trugbild. Bergson begreift die Sprache, die wir im Alltag und in der Wissenschaft benutzen, in der Tat als »Symbolismus« 110, d. h. als Ansammlung erstarrter Worte und mechanischer Konstruktionsprinzipien. Aber gerade dieser Ausgangspunkt ermöglicht ihm – was die Kritiker für gewöhnlich übersehen – die Entdeckung einer – wenn man so sagen darf – »zweiten Dimension« der Sprache, die sich als Bild und als Sinn zeigt. Und eben dadurch kann die Erfahrung unseres Umgangs mit Sprache zu einer paradigmatischen Erfahrung werden. Gewiss: Die Worte sind tot und isoliert wie die materiellen Dinge im Raum. Aber genau deshalb ermöglicht die Entdeckung einer zweiten, geistigen Dimension in dem Teil unserer Erfahrung, der mit dem Sprechen und Verstehen zu tun hat, – nun, gewiss nicht die leichtfertige Übertragung des Entdeckten aus dem einen Bereich der Wirklichkeit in andere, wohl aber das Formulieren der alle weiteren Nachforschungen leitenden Frage, ob denn nicht möglicherweise auch in anderen Bereichen der Wirklichkeit bei unvoreingenommener Betrachtung eine solche zweite Dimension anzutreffen sei. Das in den Begriffen der Texthermeneutik formulierte Leitbild verschafft Bergson keine bequeme Antwort, sondern überhaupt erst eine leitende Frage. Schließlich bemerkt man – drittens – die Präzision, mit der Bergson die kurzen texthermeneutischen Passagen formuliert hat. Wenn sie da auftreten, wo Bergson mit der Klärung und Mitteilung des modifizierten Leitbildes beschäftigt ist, dann wird man es kaum für einen Zufall halten dürfen, dass der Autor des Textes, der in L’intuition philosophique ein Philosoph war, in L’évolution créatrice als Dichter erscheint. Mag Bergson noch so sehr betonen, dass auch der Philosoph von einer Intuition und einem Bild geleitet wird, so ist dies doch – wie das Adjektiv philosophische Intuition im Titel zeigt – eine Intuition besonderer Art, und man wird das Geschäft des Philosophen auch immer mit begrifflicher Klärung verbinden. Die ureigenste Auf110

EC 673 | 211 | 214

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gabe der Dichter dagegen ist seit jeher die sprachliche Vermittlung von Bildern als solchen. Das Auftreten des Dichters in L’évolution créatrice ist also im Zusammenhang zu sehen mit unserer Beobachtung, dass der von Bergson ins Spiel gebrachte Vergleich (ontologische These – texthermeneutische Erfahrung – antike Logos-Philosophie) aus drei »unscharfen« Gliedern besteht und mehr umrissen als ausgeführt wird, sowie der Aufgabe, ein leitendes Bild durch Sprache zu übermitteln. Die sprachliche Vermittlung eines Bildes erfordert einen besonderen Modus des Sprechens, den Bergson als »Suggerieren« (suggérer, suggestion) bezeichnet und der als besonderer Modus beim Dichter besonders deutlich in Erscheinung tritt. Dichterisches Sprechen und Schreiben ist darum bemüht, die einzelnen Worte und ihre individuellen Bedeutungen möglichst wenig zu Bewusstsein kommen zu lassen und stattdessen die Aufmerksamkeit des Hörers oder Lesers auf einen bildhaften oder emotionalen Gesamteindruck zu lenken. Ein – verglichen mit dem alltäglichen oder wissenschaftlichen – so andersartiges Sprechen ist – wie auch die bereits erwähnte »Zweidimensionalität« der Sprache – nach Bergsons Auffassung nur deshalb möglich, weil die erstarrte Sprache, die wir üblicherweise benutzen, aus einem anderen, bildhafteren und geistigeren Element durch Verarmung hervorgegangen ist und noch Überreste des ursprünglichen Zustandes enthält. Bergson schließt hier an ein Sprachdenken an, das sich spätestens seit dem 18. Jahrhundert (Vico) erkennen lässt, und das Ralph Waldo Emerson auf die prägnante Formel gebracht hat: »Sprache ist versteinerte Poesie«. 111 Bei Bergson selbst ist die Sprache zwar unter dem Einfluss der Intelligenz zu leblosen Formeln erstarrt, gleichwohl aber ist ihr ein Rest von Leben geblieben, den der Dichter im bildhaften Sprechen reaktiviert. Mag nun aber der Dichter auch der paradigmatische Vertreter des anderen, nicht-begrifflichen, bildhaften, suggerierenden Sprechens sein, so ist er doch nicht der einzige. In denjenigen Teilen seiner Texte, in denen der Philosoph nicht argumentiert, sondern versucht, ein leitendes Bild oder eine Intuition – geistige Gehalte, »für deren Ausdruck die Sprache eigentlich nicht geschaffen worden war« 112 – dennoch sprachlich zu übermitteln, wird auch er auf diesen Modus des Sprechens und Schreibens zurückgreifen müssen. Das bedeutet nicht, dass er Umschreibungen, also sprachliche Umwege wählen 111 112

Language is fossil poetry. – Emerson[1981] 275 R 461 f. | 119 | 105

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würde, wo auch der direkte Weg über den Begriff möglich wäre. Die suggerierende Rede ist in diesen Fällen die einzig angemessene, obwohl sie, streng genommen, »nichts zeigt«, weil der Philosoph sich bemüht, nicht nur die Bedeutungen der einzelnen Worte, sondern auch die mit den sprachlichen Bildern verbundenen konkret-dinghaften Vorstellungen in den Hintergrund zu drängen und lediglich eine »Haltung« (attitude) zu vermitteln. Er tut dies in erster Linie dadurch, dass er mehrere konkurrierende Bilder oder Vergleiche heranzieht und so den Hörer oder Leser auffordert, sich von den Details des einzelnen Bildes zu lösen. Eben dieses Verfahren, das Bergson in Introduction à la métaphysique theoretisch beschreibt 113, wendet er, wie wir gesehen haben, in L’évolution créatrice praktisch an. Der aus drei unscharf gezeichneten Gliedern – ontologische These, sprachhermeneutische Erfahrung, antike Logos-Philosophie – bestehende Vergleich ist so ein Appell an den Leser, die hinter Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Vergleichsglieder sich abzeichnende Haltung im eigenen Geist aktiv zu erzeugen. Und der Begriff der »Haltung« tritt nun immer deutlicher hervor als etwas, was man von Anderen übernehmen kann, ohne es dadurch zu einem toten Denkelement zu machen. Unsere Betrachtung von L’évolution créatrice hat also nicht nur die Bedeutung der texthermeneutischen Erfahrung als einer paradigmatischen Erfahrung »mehrdimensionaler« Wirklichkeit ans Licht gebracht. Sie hat überdies die Klärung des verstehenden Übernehmens von Haltungen vorangebracht, indem sie uns darauf aufmerksam gemacht hat, dass diesem ein besonderer Modus des Redens und Schreibens entspricht, den Bergson als »Suggerieren« bezeichnet. Das ist gewiss nur ein Anfang, aber es ist der Anfang einer Spur.

1.4 Entwerfen und Verstehen Als zweites Hauptwerk soll zum Abschluss dieses Kapitels Matière et mémoire auf texthermeneutische Elemente hin untersucht werden. Die Berücksichtigung dieses Werkes ist aus zwei Gründen unverzichtbar: • Während L’évolution créatrice als dasjenige unter den Hauptwerken Bergsons gelten kann, in dem man texthermeneutische Elemente am wenigsten vermutet, sind die texthermeneutischen 113

PM 1399 f. | 185 f. | 187 f.

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Passagen insbesondere im zweiten Kapitel von Matière et mémoire so deutlich erkennbar und von so offenkundig strategischer Bedeutung, dass sie von kaum einem Interpreten übersehen wurden. Dieser Text ist also nicht nur als solcher für unser Thema höchst bedeutsam; er könnte darüber hinaus die Möglichkeit bieten, einen Kontakt zum Mainstream der Bergson-Forschung herzustellen. • Matière et mémoire sowie der als Fortsetzung zu verstehende Aufsatz L’effort intellectuel sind sodann diejenigen Texte, auf die sich bisher alle Interpreten berufen haben, die der Ansicht waren, Bergsons Philosophie weise einen hermeneutischen Charakter auf. Eine Auseinandersetzung mit diesen beiden Texten ist demnach auch notwendig, um Anschluss an diejenigen Interpretationen zu gewinnen, die die wichtigsten Vorläufer unserer eigenen Untersuchung darstellen. Nachfolgend wird zunächst die Funktion der texthermeneutischen Passagen im Ganzen von Matière et mémoire umrissen (Abschnitt 1.4.1). Anschließend soll mit der Theorie des Sprachverstehens der im Zusammenhang des gegenwärtigen Kapitels interessanteste Aspekt der in Matière et mémoire und L’effort intellectuel ausgearbeiteten Gedanken vorgestellt werden (Abschnitt 1.4.2). Auf weitere Aspekte wird dann im Kontext unseres Referats der Hyppolite-Ronchi-Bankov-These einzugehen sein (Kapitel 4).

1.4.1 Textverstehen als expérience décisive Im Essai sur les données immédiates de la conscience, seinem ersten Hauptwerk, hatte Bergson – unter Verwendung einer Methode, die man mit Diltheys beschreibender Psychologie und Husserls Phänomenologie vergleichen kann – festgestellt, dass das in der Dauer sich vollziehende Bewusstsein eine ganz andere Form aufweist als die im Raum anzutreffende Welt der materiellen Dinge, und daraus den Schluss gezogen, dass sich das Bewusstsein mit den für die materielle Welt gültigen Kategorien nicht angemessen beschreiben lässt. 114 Der Essai sur les données immédiates de la conscience lief also auf die Theorie eines Bewusstseins hinaus, das gewissermaßen ortlos war, insofern es aus der räumlich-materiellen Welt herausgerissen und 114

Vgl. dazu die Kapitel 3 und 4.

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ihr entgegengesetzt worden war. Weil nun aber der Mensch, um dessen Bewusstsein es sich handelt, in der räumlich-materiellen Welt lebt, konnte die Frage nicht ausbleiben, ob die äußere Welt der materiellen Dinge und die innere Welt des Bewusstseins als zwei verschiedene, ja inkompatible Wirklichkeiten oder als miteinander verknüpfte Aspekte einer einzigen Wirklichkeit aufzufassen sind. 115 Bergsons zweites Hauptwerk, Matière et mémoire, ist dieser Frage gewidmet. Der Titel »Materie und Gedächtnis« sowie der Untertitel »Versuch über die Beziehung des Körpers zum Geist« deuten durch ihre Parallelität ebenso wie durch ihre Verschiedenheit darauf hin, dass die Grundfrage in verschiedenen Ausprägungen auftritt, die verschiedenen philosophischen Disziplinen entsprechen. In der Tat hat man sich angewöhnt, die vier Kapitel, aus denen Matière et mémoire besteht, in die »metaphysischen« äußeren (Kapitel 1 und 4) sowie die »psychologischen« oder »erkenntnistheoretischen« 116 inneren Kapitel (Kapitel 2 und 3) einzuteilen. Übernimmt man diese Einteilung, so lässt sich sagen, dass der Umgang mit sprachlichen Äußerungen im »psychologischen« inneren Teil thematisiert und dass insbesondere das zweite Kapitel durch dieses »Beispiel« geprägt wird. Bergson möchte in Kapitel 3 eine Theorie unserer Erfahrung von Wirklichkeit entwickeln, die er selbst als »dualistisch« bezeichnet. 117 Dabei sieht er sich mit zwei grundlegenden Hindernissen konfrontiert. Das erste Hindernis stellen all jene dualistischen Theorien dar, die – wie insbesondere diejenige Descartes – die Wirklichkeit zerreiWorms[2004a], 30 ff. Dieser Begriff darf in Bezug auf Bergson nur äußerst behutsam verwendet werden, da Bergson sich oft ablehnend gegenüber der Erkenntnistheorie seiner Zeit geäußert hat. Kritikwürdig schien ihm zum einen der Gedanke, man könne eine Methode der Erkenntnis unabhängig von der ontologischen Erschließung des Gegenstandsbereichs, auf den sie angewendet werden soll, ausarbeiten und sich gleichwohl zur Anwendung der Methode auf diesen Gegenstandsbereich berechtigt fühlen. Ausarbeitung der Methode und ontologische Erschließung müssen nach seiner Auffassung stets Hand in Hand gehen (vgl. Jankélévitch[1999] 5 f.). Kritikwürdig schien ihm zum anderen die – etwa bei Kant und im Neukantianismus anzutreffende – Vorstellung einer ahistorischen Beschreibung unserer Bewusstseinsstrukturen. Die Strukturen unseres Bewusstseins und die Formen unseres Erkennens haben sich nach seiner Auffassung teils im Rahmen der biologischen Evolution, teils im Rahmen der historischen Entwicklung der menschlichen Kultur herausgebildet. Eine ihres Namens würdige Theorie der Erkenntnis – und L’évolution créatrice beansprucht, eine solche zu sein – hätte also gerade das Werden und die Veränderung unserer Bewusstseinsstrukturen zum Thema. 117 MM 161 | 1 | I 115 116

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ßen, indem sie Geist und Materie als einander fremde Gestalten des Wirklichen auffassen. Anders als diese Theorien lenkt Bergsons Dualismus die Aufmerksamkeit gerade auf das Zwischenreich. Er arbeitet Geist und Materie nur deshalb als scharf getrennte Pole heraus, um anschließend desto leichter eine präzise Beschreibung der Beziehungen zwischen ihnen geben zu können. Das zweite Hindernis sind dann alle monistischen Theorien, die versuchen, den als unbefriedigend empfundenen Dualismus dadurch zu vermeiden, dass sie entweder diesen oder jenen Pol als die eigentliche Wirklichkeit und den jeweils anderen Pol als Epiphänomen betrachten. So entstehen auf der einen Seite Idealismen, Spiritualismen und Theorien, die die Autonomie des Geistes dadurch verteidigen, dass sie die materielle Wirklichkeit zum formlosen Material machen. Auf der anderen Seite entstehen Materialismen, Naturalismen und Positivismen, für die alles Geistige sich auf Physiologisches reduziert. Gegen alle derartigen Reduktionen entwirft Bergson einen Dualismus, der die Realität beider Pole, ihre Gleichrangigkeit und ihr Zusammenspiel im Prozess der Erfahrung behauptet. Bergson zeigt nun, dass den idealistischen Philosophien, die annehmen, dass der Geist einer formlosen Mannigfaltigkeit sinnlicher Eindrücke seine Ordnung – gleichsam von oben – aufprägt, und den naturalistischen oder sensualistischen Theorien, die behaupten, dass die zunächst vereinzelten sinnlichen Eindrücke sich von sich aus – gleichsam von unten – zu größeren Einheiten verbinden, zwei Voraussetzungen gemeinsam sind: Einerseits gehen alle diese Theorien davon aus, dass Wahrnehmungen Sinneseindrücke von Einzeldingen sind. Andererseits unterstellen sie, dass das Allgemeine, das den eigentlichen Gegenstand der Erkenntnis bildet, dem sinnlichen Material in irgendeiner Weise durch den Geist hinzugefügt wird. Bergson baut seine andersartige Theorie dagegen auf der Voraussetzung auf, dass Wahrnehmung und Geistigkeit, Individuelles und Allgemeines, Tatsache und Interpretation von Anfang an in einer dynamischen Einheit zusammengeschlossen sind. Es ist für die Bewertung der texthermeneutischen Elemente in Bergsons Werken, aber auch für die Ausrichtung unserer Untersuchung über das gegenwärtige erste Kapitel hinaus von entscheidender Bedeutung, zwei Aspekte seiner Theorie zu unterscheiden: • Zum einen wird ein Ansatz erkennbar, der nicht auf bestimmte Gegenstandsbereiche, einzelne Wissenschaften oder andere Formen unseres Umgangs mit Wirklichkeit beschränkt ist. Bergsons 120 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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dualistische Philosophie erhebt den Anspruch, eine Theorie der Erfahrung überhaupt zu sein. • Zum anderen aber hebt Bergson – im zweiten Kapitel von Matière et mémoire ebenso wie im dritten Kapitel von L’évolution créatrice – das Sprachverstehen als paradigmatische Erfahrung hervor, an der die prinzipiell überall aufweisbaren Strukturen besonders deutlich in Erscheinung treten. Was den ersten Aspekt angeht, so lohnt es sich, einen Blick in einen Text zu werfen, der fast 20 Jahre nach Matière et mémoire entstanden ist. In einer Rede über Claude Bernard würdigt Bergson dessen Einführung der experimentellen Methode in die Physiologie folgendermaßen: »Es war Claude Bernards […] ständiges Anliegen, uns zu zeigen, wie Tatsache und Idee bei der experimentellen Untersuchung zusammenwirken. Die mehr oder weniger klar erfasste Tatsache suggeriert den Gedanken an eine bestimmte Erklärung; diesen Gedanken sucht der Gelehrte im Experiment zu bestätigen, aber er muss immer bereit sein, im Verlauf seines Experimentes seine Hypothese wieder aufzugeben oder sie den Tatsachen neu anzupassen. Die wissenschaftliche Untersuchung ist also ein Dialog zwischen dem Geist und der Natur. Die Natur weckt unsere Neugierde; wir stellen ihr Fragen; ihre Antworten geben der Unterhaltung eine unvorhergesehene Wendung und rufen neue Fragen hervor, auf die die Natur antwortet, indem sie neue Ideen suggeriert, und so ad infinitum. […] Zu oft glauben wir, dass Erfahrung und Experiment uns nur nackte Tatsachen liefern; erst nachdem die Intelligenz sich ihrer bemächtigt und sie in Zusammenhang gebracht hätte, destilliere sie daraus Gesetze von immer höherer Allgemeinheit. Verallgemeinern wäre also eine Funktion für sich und Beobachten ebenfalls. Nichts ist falscher als diese Auffassung der geistigen Synthese, nichts gefährlicher für die Wissenschaft und die Philosophie. Sie hat zu dem Glauben geführt, dass die bloße Anhäufung von Tatsachen aufs Geratewohl, dass ihre beiläufige und passive Registrierung ein wissenschaftliches Interesse hätte im Hinblick darauf, dass deren Beherrschung und Auswertung einer späteren geistigen Bearbeitung vorbehalten bleibt. Als ob eine wissenschaftliche Beobachtung nicht immer auch eine Antwort auf eine Frage wäre, sie möge in präziser oder noch unklarer Weise gestellt sein! Als ob beiläufig notierte Beobachtungen etwas anderes wären als zusammenhanglose Antworten auf zufällig gestellte Fragen! Als ob die Arbeit der Verallgemeinerung darin bestünde, nachträglich einen plausiblen Sinn für eine unzusammenhängende Rede zu finden! In Wahrheit muss die Rede von vornherein einen Sinn haben, oder sie wird ihn niemals bekommen.« 118 118

La pensée constante de Claude Bernard […] a été de nous montrer comment le fait

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Diese Sätze erinnern an die Kritik, die Bergson in seiner Rede über das Spezialistentum am bloßen Faktensammeln geübt und die ja bereits dem Naturwissenschaftler ebenso gegolten hatte wie dem Philologen. Während aber in jener frühen Rede der Naturwissenschaftler aufgefordert wurde, nach Gesetzen und Prinzipien zu suchen, der Philologe nach dem Denken der Autoren fragen sollte, und ein übergreifender Gesichtspunkt zwar – in Gestalt der Unspezialisiertheit – angedeutet, aber durch die Bemerkung, die Literatur sei im Grunde nur eine Geometrie ohne Figuren, auf eine etwas gekünstelt wirkende Weise konkretisiert wurde, begegnet uns in der Rede über Claude Bernard die hermeneutische Erfahrung des Gesprächs als Leitbild, an dem sich eine Theorie der wissenschaftlichen Erfahrung zu orientieren hat. Zweimal setzt Bergson beim naturwissenschaftlichen Experiment und den dadurch ermittelten Tatsachen an, und zweimal führt ihn seine Gedankenbewegung in den Bereich der Hermeneutik sprachlicher Äußerungen: im ersten Absatz über das Bild einer Zusammenarbeit (collaboration) von Tatsache und Idee hin zu dem – mehrere Jahrzehnte später von Ilya Prigogine und Isabelle Stengers aufgegriffenen – Konzept eines »Dialogs mit der Natur«, im zweiten Absatz über die Konzeption des Experiments als Frage hin zum Ge-

et l’idée collaborent à la recherche expérimentale. Le fait, plus ou moins clairement aperçu, suggère l’idée d’une explication ; cette idée, le savant demande à l’expérience de la confirmer; mais, tout le temps que son expérience dure, il doit se tenir prêt à abandonner son hypothèse ou à la remodeler sur les faits. La recherche scientifique est donc un dialogue entre l’esprit et la nature. La nature éveille notre curiosité ; nous lui posons des questions ; ses réponses donnent à l’entretien une tournure imprévue, provoquant des questions nouvelles auxquelles la nature réplique en suggérant de nouvelles idées, et ainsi de suite indéfiniment. […] Trop souvent nous nous représentons encore l’expérience comme destinée à nous apporter des faits bruts : l’intelligence, s’emparant de ces faits, les rapprochant les uns des autres, s’élèverait ainsi à des lois de plus en plus hautes. Généraliser serait donc une fonction, observer en serait une autre. Rien de plus faux que cette conception du travail de synthèse, rien de plus dangereux pour la science et pour la philosophie. Elle a conduit à croire qu’il y avait un intérêt scientifique à assembler des faits pour rien, pour le plaisir, à les noter paresseusement et même passivement, en attendant la venue d’un esprit capable de les dominer et de les soumettre à des lois. Comme si une observation scientifique n’était pas toujours la réponse à une question, précise ou confuse ! Comme si des observations notées passivement à la suite les unes des autres étaient autre chose que des réponses décousues à des questions posées au hasard ! Comme si le travail de généralisation consistait à venir, après coup, trouver un sens plausible à ce discours incohéren ! La vérité est que le discours doit avoir un sens tout de suite, ou bien alors il n’en aura jamais. – PM 1433 ff. | 230 f. | 226 ff.

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danken der Gleichursprünglichkeit von Tatsache (als Antwort) und Sinn. Der Gedanke, dass Faktum und Sinn in jeder Erfahrung als – wenn auch dynamische, d. h. sich verändernde – Einheit vorliegen, und die damit verbundene Polemik gegen die Vorstellung einer bloß Daten sammelnden Wahrnehmung und eines diesen Daten nachträglich Ordnung und Bedeutung verleihenden Geistes beherrscht auch das zweite Kapitel von Matière et mémoire. Freilich weiß Bergson, dass dieser Gedanke zunächst einmal nicht mehr als eine These und dass seine Theorie nur eine unter vielen ist. Aber Bergson behauptet, seine eigene Theorie unterscheide sich gerade dadurch von den anderen, dass sie – wie naturwissenschaftliche Theorien – konkrete Vorhersagen ermögliche, die sich durch die Erfahrung bestätigen oder widerlegen ließen. Die Details von Bergsons Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der experimentellen Psychologie seiner Zeit können wir hier übergehen. Von erheblichem Interesse für unser Thema ist dagegen der Umstand, dass Bergson – und damit gelangen wir zum zweiten Aspekt seiner Theorie – das Verstehen sprachlicher Äußerungen als paradigmatische Erfahrung auswählt und dass er seine Wahl – anders als in L’évolution créatrice – ausführlich begründet. Diese Begründung liegt uns in zwei Fassungen vor, da Bergson drei der vier – darunter auch das uns hier beschäftigende zweite – Kapitel als Vorabdrucke in philosophischen Zeitschriften veröffentlichte, die Texte vor der Publikation als Monographie dann aber noch einmal gründlich überarbeitete. 119 Berücksichtigt man beide Versionen, so lässt sich die Begründung in fünf Schritten zusammenfassen. (1) Bergson unterscheidet zunächst die Phänomene des Sehens und des Hörens als zwei Felder, die für die Prüfung seiner Theorie in Betracht kommen. Was das Sehen – und damit jenen Sinn, auf den sich sowohl die Wissenschaft wie auch die philosophische Tradition in erster Linie berufen – angeht, so sagt Bergson im Vorabdruck, dass sich seine Thesen in diesem Bereich »möglicherweise«, in der Monographie, dass sie sich »gewiss« experimentell bestätigen ließen. In beiden Textvarianten schließt dieser erste Schritt dann allerdings mit der Feststellung, dass Bergson es vorziehe, den Bereich des Hörens, und näherhin das hörende Erfassen der gesprochenen Sprache zu un119 Ich beziehe mich auf MM 253 f. | 119 | 100 f. – Die Varianten des Vorabdrucks sind in den maßgeblichen französischen Ausgaben zu finden, in der deutschen Übersetzung dagegen nicht enthalten (MM 1496 f. | 359 f. | –).

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tersuchen, weil dieses Beispiel »das umfassendste von allen« sei. Was das besagen soll, wird in den nachfolgenden Punkten erläutert. (2) Eine kleine, aber bedeutsame sprachliche Variation leitet die erste Erläuterung ein: Aus dem »Hören der Sprache« wird ein »Verstehen der Rede« (entendre la parole). Das Hören von Gesprochenem ist aber nur dann das Verstehen einer Rede, wenn das bloße Aufnehmen des Klanges von einem Erfassen des Sinnes begleitet wird. Das Beispiel des Verstehens sprachlicher Äußerungen ist nun zunächst einmal deshalb besonders umfassend, weil der Sinn hier sogar auf mehreren Ebenen erscheint. Man muss zunächst die Lautfolgen der einzelnen Worte wiedererkennen, dann den in den Worten unmittelbar zum Ausdruck kommenden Sinn ermitteln und schließlich das so auf einer ersten Stufe Verstandene in höherstufige Interpretationszusammenhänge einordnen. (3) Wie später Merleau-Ponty in seiner »Phänomenologie der Wahrnehmung«, so zieht auch Bergson in erheblichem Umfang Veröffentlichungen über Patienten mit Störungen des Wahrnehmens, des Sprechens und des Verstehens heran, um aus dem, was bei solchen Patienten fehlt, das zu erschließen, was der normale und gelingende Vorgang erfordert. Bergson stellt nun fest, dass Störungen des Sprechens und des Sprachverstehens besonders häufig vorkommen und besonders gründlich untersucht worden sind. Besonders umfassend ist also auch die empirische Erforschung der relevanten Vorgänge. Der prüfende Vergleich der Theorie mit dem psychologischen Erfahrungsmaterial ist deshalb besonders gut möglich. (4) Störungen des Sprechens und Verstehens sind in der Regel mit Verletzungen des Gehirns verbunden. Dadurch wird es möglich, auch den Zusammenhang zwischen der physiologischen Ebene und der Ebene des Sinns einer Prüfung zu unterziehen. (5) Im Vorabdruck schließt sich an die drei bisher angeführten Erläuterungen noch eine vierte an. Da diese Variante in der deutschen Übersetzung fehlt, andererseits aber für unseren Zusammenhang von Interesse ist, weil sie noch einmal auf die Frage nach dem Sinn des Gesprochenen zurückkommt, sei sie hier vollständig zitiert: »Diese unterschiedlichen Gründe hätten schon genügt, um unsere Entscheidung zu bestimmen. Es gibt aber noch einen anderen, schwerwiegenderen, der sie alle überragt. Während die anderen psychologischen Vorgänge sich nämlich nur zufällig mit der Aufmerksamkeit verbinden, ist dem Sprechen und dem Verstehen der Rede die Aufmerksamkeit wesentlich. Die Rede ist nichts als eine Musik, solange man sich darauf beschränkt,

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den Klang aufzunehmen; sie wird nur dann zur Sprache, wenn man sie auf eine Idee bezieht, d. h. wenn man sie für einen Effekt hält, der dazu bestimmt ist, seine Ursache wiederzugeben. Nun, aufmerksam sein ist nichts anderes. Die Aufmerksamkeit, sagten wir, besteht darin, die Bewegungen, durch die eine Wahrnehmung sich in nützliche Effekte verlängert, zu unterdrücken und so in gewisser Weise der Neigung der Natur entgegenzuarbeiten. In allen anderen Fällen tun wir dies nur durch eine vereinzelte und gelegentliche Anstrengung; die gesprochene und verstandene Sprache aber bezeugt, in dieser Richtung, eine kollektive und konstante Anstrengung. Sie symbolisiert die Aufmerksamkeit der [menschlichen] Spezies. Das Wiedererkennen der Worte muss uns also in stabiler, organisierter und leicht zu beobachtender Form die gewöhnlich flüchtigen Phänomene des aufmerksamen Wiedererkennens zeigen.« 120

Gemeinsam ist der ersten, in Punkt 2 angeführten, und dieser vierten Begründung der Gedanke, dass das Sprachverstehen als Beleg für Bergsons Theorie der Erfahrung deshalb besonders geeignet ist, weil es die Polarität von Wahrnehmung des Lautmaterials und Erfassen des Sinns zwingend und permanent voraussetzt. Während aber die Begründung in Punkt 2 sich auf die Vielgestaltigkeit des Sinns konzentrierte, zielt Bergson hier auf die Allgemeinheit der Erfahrung ab. Im Bereich des visuellen Erfassens materieller Dinge ist es nicht nur üblich, sondern sogar von wissenschaftlichen und philosophischen Theorien empfohlen, eine Tatsache als bloße Tatsache hinzunehmen und nicht nach einer tieferen Bedeutung, einem weiter reichenden Sinn zu fragen. Eine solche Frage kommt zwar gelegentlich vor, aber man kann darüber streiten, ob sie mehr ist als eine subjektive Laune. Anders im Bereich des Sprachverstehens: Jeder Mensch, der Gesprochenes oder Geschriebenes als Rede versteht, bemüht sich, dessen 120 Ces diverses raisons auraient déjà suffi à déterminer notre choix. Mais il y en a une autre plus grave, qui les domine toutes. Tandis que les autres processus psychologiques, en effet, peuvent se doubler d’attention par accident, parler et entendre la parole impliquent l’attention par essence. La parole n’est qu’une musique tant qu’on se borne à en enregistrer le son; elle ne devient langage que si on l’approfondit en idée, c’est-à-dire si on la tient pour un effet destiné à reproduire sa cause. Or, faire attention n’est point autre chose. L’attention, disions-nous, consiste à inhiber les mouvements par lesquels une perception se prolongerait en effets utiles, et à remonter ainsi, en quelque sorte, la pente de la nature. Dans tous les autres cas, nous ne la remontons que par un effort individuel et capricieux; mais le langage parlé et compris témoigne, dans cette direction, d’un effort collectif et constant. Il symbolise l’attention de l’espèce. La reconnaissance des mots doit donc nous présenter sous une forme stable, organisée, facile à observer, les phénomènes ordinairement fugitifs de la reconnaissance attentive. – a. a. O.

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Sinn zu erfassen, wird zugeben, dass er dies tut, und wird auch zugestehen, dass der Sinn keine subjektive Zutat zu etwas objektiv Wahrgenommenem ist, sondern etwas, was für diejenige Wirklichkeit, die uns in dieser Erfahrung zugänglich wird, wesentlich ist. Das Sprachverstehen erweist sich als Faktum von eminenter Bedeutung, insofern es die Feststellung erlaubt, dass die Theorien, die das wahrnehmende Registrieren von Tatsachen und die geistige Verarbeitung derselben als zwei getrennte Vorgänge ansehen, zumindest für eine Art von Erfahrung nicht gelten. Das könnte bedeuten, dass es verschiedene Arten von Erfahrung gibt. Es könnte aber auch – wie in der zuletzt zitierten Passage angedeutet – besagen, dass in der Erfahrung des Sprachverstehens etwas deutlich sichtbar wird, was uns in anderen Fällen verborgen bleibt. Werfen wir also noch einen Blick auf die Theorie des Sprachverstehens, die Bergson in Matière et mémoire ausgearbeitet hat, bevor wir prüfen, was texthermeneutische Erfahrungen nach Bergsons Ansicht an anderen Formen von Erfahrung sichtbar machen können.

1.4.2 Verstehen als Entwurf Wenn es ein Thema gibt, als dessen Variationen sich alle in diesem Kapitel betrachteten Texte Bergsons verstehen lassen, dann ist es dieses: Die Vorstellung, dass (1) Texte aus kleinen, vorgefertigten, d. h. allen Angehörigen einer Kultur verfügbaren Bausteinen zusammengesetzt sind, dass (2) diese Bausteine die eigentlich Bedeutung tragenden und Bedeutung übermittelnden Elemente sind und dass deshalb (3) der Hörer oder Leser die Bausteine wiedererkennen und zu einem Ganzen zusammensetzen muss, um den Sinn zu erfassen, – diese Vorstellung ist falsch. Einheit und Bedeutung eines Textes entspringen aus einem Sinn-Wollen des Sprechenden oder Schreibenden, das der Hörer oder Leser sich aneignen muss, wenn er das erfassen will, was wir »Sinn« nennen. Das heißt nicht, dass ein solches Sich-Aneignen leicht wäre. Ganz im Gegenteil: Es erfordert eine Anstrengung. Das heißt nicht einmal, dass es dem Theoretiker leicht fiele, zu sagen, was dieser Sinn genau ist und wie sich das Sich-Aneignen des Sinns vollzieht. Die immer neuen Anläufe zur Beantwortung der Frage nach dem Sinn von »Sinn«, die Bergson in L’intuition philosophique unternimmt, und unser langsames Herantasten an ein Auf- oder Übernehmen, das den einstmals lebendigen Sinn nicht zu 126 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

Entwerfen und Verstehen

etwas Abgeschlossenem und Totem deformiert, zeigen deutlich, dass auch das Geschäft des hermeneutischen Theoretikers ein mühsames ist. Aber es heißt, dass die Fragen nach dem Wesen des Sinns und nach dem Wesen des Verstehens im Zentrum einer Theorie stehen müssen, die davon ausgeht, dass Sprechen etwas Anderes ist als ein Übermitteln von Bedeutungsatomen. Die Theorie des Lesens, die Bergson im zweiten Kapitel von Matière et mémoire entwickelt und dann in einigen kleineren Texten aufnimmt 121, stellt eine weitere Variation über dieses Thema dar. Während aber in L’intuition philosophique die Frage nach dem Sinn von »Sinn« im Mittelpunkt stand und wir in L’évolution créatrice auf die Bemühung stießen, nicht nur nach der Fremdheit, sondern auch nach der Verwandtschaft von Sinn und Material zu fragen, geht es in den jetzt zu betrachtenden Texten vor allem um die Frage, was »Verstehen« bedeutet und wie es sich vollzieht. Stellen wir Bergsons provozierende These gleich an den Anfang, und versuchen wir dann, sie nachzuvollziehen: Es gibt keinen wesentlichen Unterschied zwischen Sprechen und Verstehen. Beide sind ein von der Sinn-Intention ausgehendes Produzieren eines Textes. Um diese These plausibel zu machen, entwickelt Bergson sie im Gegenzug zu einer Theorie, die Verständigung als das Übermitteln von Bedeutungsatomen auffasst. Eine derartige Theorie lässt sich durch folgende Hauptpunkte charakterisieren: 1. Worte sind Träger eindeutig festgelegter Bedeutungen. Die Bedeutung eines Wortes ist, da kulturell festgelegt, allen am Verständigungsvorgang Beteiligten bekannt. Zudem hat ein Wort in jedem Satz, in dem es vorkommt, die gleiche Bedeutung. 2. Ein Leser muss den zu verstehenden Text Wort für Wort, ja Buchstabe für Buchstabe durchgehen und sich an die Bedeutungen der einzelnen Worte erinnern. 3. Aus diesen einzelnen Bedeutungen erwächst, in langsamem Fortschreiten sich zusammenfügend, der Sinn des ganzen Textes. 4. Das so aufgefasste Verstehen ist eher ein passiv hingenommenes Geschehen – ein Hinnehmen der gehörten oder gelesenen Worte, ein Sich-Erinnern an die schon bekannte Bedeutung, ein Sich-Zusammenschließen der Teilbedeutungen – als eine aktiv durchgeführte Handlung. Insofern unterscheidet es sich wesentlich vom Sprechen. 121

MM 249 | 113 | 95 – ES 943 f. | 170 f. | 152 f. – ES 888 f. | 97 ff. | 86 ff.

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1 · Texthermeneutik: Das Material und der Sinn

Man nehme nun einmal an, dass diese Theorie den Vorgang gelingender Verständigung korrekt beschreibt. Verhielte es sich so, dann müssten Fehler – und zwar Fehler im Text (z. B. falsche Reihenfolge der Buchstaben, fehlendes Wort) ebenso wie Fehler auf der Seite des Lesers (z. B. kurzfristige Unaufmerksamkeit) – zu einer Modifikation des Gesamtsinns und damit zu einem Misslingen der Kommunikation führen. Diese Konsequenz ist der Ansatzpunkt für Bergsons Kritik, denn er kann auf die Ergebnisse zahlreicher psychologischer Experimente verweisen, die eine erhebliche Fehlertoleranz der Leser gegenüber bewusst herbeigeführten Verdrehungen und Lücken in den Texten belegen. Wenn aber die Leser den »richtigen« Sinn selbst dann erfassen, wenn der Text – als sprachliches Konstrukt betrachtet – fehlerhaft ist, dann heißt das, dass wir eben nicht so lesen, wie die Theorie des Übertragens von kleinsten Bedeutungsatomen sich das vorstellt. Diese Erkenntnis hat aus Bergsons Sicht gar nichts Überraschendes. Gesprochene Sprache ist zwar, wenn sie als reine Lautfolge betrachtet wird, ein Kontinuum, als Wortsprache aber ist sie diskontinuierlich. Jedes Wort gleicht einem Punkt, und zwei aufeinanderfolgende Worte gleichen durchaus nicht zwei unmittelbar benachbarten Punkten, sondern zwei Punkten, zwischen denen ein mehr oder weniger großer Abstand besteht. Weil das so ist, sind wir es gewohnt, beim Textverstehen Lücken zu füllen, und wir sind selbst dann noch fähig, dies zu tun, wenn durch gewolltes oder ungewolltes Weglassen von eigentlich erforderlichen Worten die Lücken größer werden. Bergson formuliert nun seine eigene Theorie des Sprachverstehens, indem er diese experimentell gewonnenen und in der Alltagserfahrung bestätigten Ergebnisse radikalisiert. Seine Theorie ist in jedem einzelnen Punkt das genaue Gegenteil der zuvor skizzierten: 1. Worte sind nicht die entscheidenden Bedeutungsträger. Es gibt zwar in der Wissenschaft Bemühungen um eindeutig definierte Begriffe und Symbolsysteme, ja es gibt selbst in der Alltagssprache Erstarrungstendenzen – gleichwohl aber gilt: Nicht der Satz ist von der Bedeutung des einzelnen Wortes her, sondern das einzelne Wort ist von der Bedeutung des Satzes her zu verstehen. 122 122 Un mot n’a d’individualité pour nous que du jour où nos maîtres nous ont enseigné à l’abstraire. Ce ne sont pas des mots que nous apprenons d’abord à prononcer, mais des phrases. – MM 262 | 130 | 111

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Entwerfen und Verstehen

2.

Weit davon entfernt, alle Worte oder gar alle Buchstaben einzeln wahrzunehmen, überfliegen wir vielmehr den Text und erfassen nur da und dort einen charakteristischen Punkt. Das Fehlen einzelner Worte fällt uns deshalb meist nicht auf, weil wir auch unter normalen Bedingungen gar nicht alle Worte des Textes lesen. 3. Der Gesamtsinn des Textes wird weder schrittweise ermittelt, noch liegt er erst am Ende der Lektüre vor. Das »Erraten« (divination) 123 einer Sinnhypothese auf der Basis einiger weniger charakteristischer Züge des Textes steht vielmehr ganz am Anfang. Es bildet den ersten Schritt des Verstehensprozesses. 4. Von dieser Sinnhypothese ausgehend, verhält sich der Leser nun wie ein Sprecher. Er entfaltet die Sinnhypothese selbständig, entwickelt also von sich aus diejenigen Gedanken, die der Autor seiner Meinung nach äußern müsste, und prüft von Zeit zu Zeit im Fortgang der Lektüre, ob sich sein eigener Entwurf mit dem deckt, was der fremde Text sagt. Verstehen ist kein passives Aufnehmen. Es ist aktives Nachschaffen und unterscheidet sich insofern nicht wesentlich vom Schaffen des Autors. Stellt diese Theorie des Lesens wirklich die Variation eines uns schon vertrauten Themas dar? Passt sie zu dem, was wir aus den zuvor behandelten Texten ermittelt haben? Ich möchte anhand von vier Aspekten zeigen, dass sich die Lehren, die Bergson in den hier behandelten Texten vorträgt, in der Tat zu einem einheitlichen Bild zusammenfügen, und hoffe, auf diese Weise auch die Theorie des Lesens weiter zu klären. Der erste Punkt, auf den ich eingehen möchte, betrifft das, was man die zwei Aspekte des Verstehens nennen könnte. Bergsons Theorie des Lesens beschreibt drei verschiedene Vorgänge: zunächst das Entwerfen der Sinnhypothese, dann das (nach-)schaffende Auslegen der Sinnhypothese, schließlich den von Zeit zu Zeit stattfindenden Abgleich der eigenen Auslegung mit dem fremden Text. Diese drei Vorgänge bilden zusammen zwei Formen des Verstehens, und zwar in der Weise, dass das Entwerfen der Sinnhypothese für sich allein eine Operation darstellt, die ich im Hinblick auf das von Bergson selbst verwendete Wort und die Verbreitung dieses Wortes auch in der deutschen hermeneutischen Diskussion des 19. Jahrhunderts Divination nennen werde, während das eigenständige Auslegen und das 123

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Überprüfen der Auslegung am Text zusammen eine zweite Operation bilden, für deren Bezeichnung sich das Wort Interpretation anbietet, weil es auch von Bergson in diesem Sinne gebraucht wird. 124 Diese beiden Operationen kann man als Formen des Verstehens bezeichnen, wenn man ihre Verschiedenheit betonen möchte, man kann sie aber auch als Aspekte des Verstehens bezeichnen, um darauf hinzuweisen, dass sie letztlich zu einem einzigen, übergeordneten Verstehensprozess gehören. Nun braucht man aber die theoretische Konstellation nur in dieser Weise herzuleiten, um sofort zu sehen, dass die beiden Aspekte des Verstehens sich auch im Hinblick auf ihre Nachvollziehbarkeit erheblich unterscheiden. Während nämlich Bergsons Konzept der Interpretation in den Grundzügen plausibel ist, weil es dem Element des Entwurfs ein Element der Verifikation zur Seite stellt, steht man ein wenig ratlos vor dem Konzept der Divination, bei dem ein Gegenspieler des Entwerfens fehlt, so dass man nicht recht sieht, woher die Sinnhypothese, die ja der Interpretation vorausgeht, ihren Sachgehalt beziehen soll. Unter allen Fragen, die man an Bergsons Theorie des Lesens stellen kann, dürfte also die nach dem Ursprung der Sinnhypothese wohl die dringlichste und schwierigste sein. Ich will nicht den Eindruck erwecken, dass sich diese Frage in wenigen Sätzen beantworten ließe. Es ist an dieser Stelle nicht einmal möglich, die Antwort, die Bergson in Matière et mémoire gibt, vollständig zu referieren, weil in seiner Antwort Erinnerungen und Handlungsimpulse eine entscheidende Rolle spielen, wir aber bisher weder das Gedächtnis noch das menschliche Handeln erörtert haben. Immerhin erlaubt es der Stand, den diese Untersuchung erreicht hat, auf einen wesentlichen Zusammenhang aufmerksam zu machen: In Abschnitt 1.3.2 hatte sich gezeigt, dass Bergson von zwei Modi des Sprechens, nämlich einem diskursiven, den Gegenstand begrifflich entfaltenden, und einem suggestiven, ein Bild oder ein Gefühl poetisch vermittelnden, ausgeht. Wenn Bergson nun in der Rede über Claude Bernard die Frage, mit der der Wissenschaftler an die Natur herantritt, auf eine Suggestion von Seiten der Natur zurückführt und wenn er in Matière et mémoire sowie L’effort intellectuel davon 124 L’interprétation est donc en réalité une reconstruction. […] Là où la superposition est parfaite, la perception est complètement interprétée. […] Ce travail d’interprétation est trop facile, quand nous entendons parler notre propre langue […] Il faut, pour que l’interprétation soit exacte, que la jonction s’opère. – ES 944 f. | 171 f. | 153 f.

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spricht, dass gewisse auffällige Merkmale des Textes die Sinnhypothese suggerieren, so legt dies einen Zusammenhang zwischen den zwei Modi des Sprechens und den zwei Formen oder Aspekten des Verstehens nahe. Die diskursive Rede will interpretiert sein, während die suggestive Rede die Divination ermöglicht. Oder vielmehr: Die suggestiven Aspekte eines Textes dienen als Ausgangspunkt der Divination, und von dieser Basis aus kann der Leser interpretierend Gestalt und Verlauf des Textes im Detail erschließen. Solche markanten, suggestiven Merkmale eines Textes können sich aus zufälligen, vom Autor weder gewollten noch vorhergesehenen Randbedingungen ergeben – so in dem von Bergson angeführten Beispiel 125 des Textes oder der Rede in einer Sprache, die wir nicht fließend sprechen: Wir stützen unsere Sinnhypothese auf diejenigen Worte, die uns zufällig bekannt sind, und füllen anschließend interpretierend die – möglicherweise erheblichen – Lücken zwischen den Stützpunkten. Sie können sich freilich auch daraus ergeben, dass suggestiv gemeinte Elemente in der vom Autor gewünschten Weise wirken. Dies wäre etwa bei einem Leser der in Abschnitt 1.3 interpretierten Passage aus L’évolution créatrice der Fall, wenn er die von Bergson als suggestive Impulse gemeinten Beispiele des vorlesenden Dichters und der antiken Logos-Philosophie als solche aufnimmt und sie zum Ausgangspunkt einer eigenständigen Auslegung macht. Als zweiter Punkt ist die Unteilbarkeit der Sinnhypothese hervorzuheben. Mögen auch mehrere »charakteristische Züge« die Worterkennung leiten, mehrere auffallende Worte oder mehrere Glieder eines Vergleichs zusammen die Basis für eine Sinnhypothese bilden, so vollzieht sich der Vorgang des Entwurfs doch nicht diskursiv. Der Hörer oder Leser durchläuft nicht eine Folge einzelner Merkmale, sondern er reagiert auf etwas, was man die Physiognomie des Textes nennen könnte. Entsprechend stellt die Sinnhypothese eine einfache Hypothese in dem Sinne dar, in dem die Intuition des Philosophen als »einfach« bezeichnet wurde: Sie liefert einen einheitCe travail d’interprétation est trop facile, quand nous entendons parler notre propre langue, pour que nous ayons le temps de le décomposer en ses diverses phases. Mais nous en avons la conscience nette quand nous conversons dans une langue étrangère que nous connaissons imparfaitement. Nous nous rendons bien compte alors que les sons distinctement entendus nous servent de points de repère, que nous nous plaçons d’emblée dans un ordre de représentations plus ou moins abstraites, suggéré par ce que notre oreille entend, et qu’une fois adopté ce ton intellectuel, nous marchons, avec le sens conçu, à la rencontre des sons perçus. – a. a. O. 125

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lichen Gesichtspunkt, von dem her der Text als Einheit aufgefasst werden kann. Bergson betont diesen Punkt immer wieder: Die Divination geschieht »plötzlich«, »mit einem Schlag«. Sie stellt einen »Sprung« dar, durch den sich der Leser von der Ebene der sprachlichen Komplexität auf die Ebene des einheitlichen Sinns begibt und der identisch ist mit den Sprüngen, die der Leser in L’intuition philosophique vollzieht (auch wenn jener Leser philosophischer Texte mehrere Anläufe benötigt). Durch die versetzt sich der Leser in eine bestimmte Thematik hinein, identifiziert sich mit der Sache, um die es geht, und wird so in die Lage versetzt, den erfassten Grundgedanken eigenständig zu entfalten. 126 Betrachtet man die Dinge von der Ebene des Materials her, so wird man feststellen müssen, dass die Divination sich auf »sehr wenig« 127 stützen kann. Und berücksichtigt man die Plötzlichkeit des Vorgangs, so ist auch klar, dass die Divination nicht durch eine bewusst angewandte Methodik zu steuern ist. Aber – und dies ist der dritte erwähnenswerte Punkt – unsere suggestibilité, d. h. unsere Empfänglichkeit für suggestive Impulse kann beeinflusst werden. Das geschieht z. B. dadurch, dass man sich mit einem Sachgebiet oder dem Denken einer bestimmten Person vertraut macht. Wie zwei Personen, die sich schon viele Jahre kennen, selbst kurze Andeutungen genügen, um zu verstehen, was die jeweils andere Person sagen will, so erfasst man die Bedeutung eines philosophischen Textes leichter, wenn man zuvor schon andere Texte des gleichen Verfassers oder aber Texte anderer Verfasser über das gleiche Thema gelesen hat. Das heißt – noch einmal – nicht, dass der Sinn Stück für Stück erarbeitet und zusammengesetzt würde. Es heißt auch nicht, dass man gelangweilt die Formeln widerfindet, die man schon hundert Mal gehört oder gelesen hat. Es heißt vielmehr, dass man intuitiv die Tragweite einer nur hingetupften Andeutung erfasst, weil man sich mit der Haltung vertraut gemacht hat, der sie entsprungen ist. Bergson behandelt dieses Vertraut-Werden mit einer Person oder einer Sache in mehreren Werken unter dem Stichwort camaraderie 128, und er fügt diesem Substantiv häufig das Adjektiv longue hinzu, um anzudeuten, dass es sich um einen Prozess handelt, der Zeit und Geduld 126 Vgl. die in Anm. 121 angeführten Textpassagen, vor allem aber ES 943–947 | 169–174 | 151–156. 127 ES 943 | 170 | 152 128 Vgl. Abschnitt 5.3.2.2, S. 621.

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verlangt. Ein anderes, aus L’intuition philosophique bekanntes Stichwort ist das »häufige Zurückkommen« auf die Texte eines Philosophen. Beide Formulierungen verweisen auf ein Mit-etwas-vertrautWerden, das unsere Fähigkeit, relevante suggestive Impulse zu bemerken und richtig zu deuten, verbessert, obwohl dieser Vorgang sich nicht unter der Kontrolle des Bewusstseins abspielt. Eine zweite, nicht minder wichtige Maßnahme zur Steigerung unserer Offenheit für suggestive Impulse ist der Abbau von Vorurteilen. Führt fehlende Vertrautheit mit der Sache dazu, dass man Wichtiges nicht bemerkt, weil man es nicht vom Unwichtigen unterscheiden kann, so führen Vorurteile dazu, dass man Bedeutsames nicht sieht, weil man es nicht sehen will. Der vierte Punkt schließlich betrifft die Vorläufigkeit der Sinnhypothese. Vertrautheit mit der Sache und Abbau von Vorurteilen können unser divinatorisches Gespür schärfen. Da aber die Aufgabe der Divination darin besteht, beim ersten Kontakt mit dem Text – also vor Beginn der Interpretation, sehr schnell und ohne reichhaltige Materialbasis – eine Sinnhypothese zu entwerfen, kann man nicht erwarten, dass dieser schnelle Schuss immer ins Schwarze trifft. Das behauptet Bergson aber auch gar nicht. Wie die Forschungshypothese des Naturwissenschaftlers, deren Bedeutung er im Vortrag über Claude Bernard betont, kann auch die Sinnvermutung des Lesers präzise oder unklar, treffend oder revisionsbedürftig sein. Wichtig ist Bergson nicht die Richtigkeit der Sinnhypothese, sondern die Tatsache, dass sie den Anfang und die Voraussetzung der interpretierenden Beschäftigung mit dem Text bildet: »Die Rede muss von vornherein einen Sinn haben, oder sie wird ihn niemals bekommen.« Es gibt beim Lesen nicht eine erste Phase, in der wir uninterpretierte Worte sammeln, und eine zweite, in der wir versuchen, »nachträglich einen plausiblen Sinn zu finden«. 129 Sinnerwartung und Sinnvermutung begleiten das Hören und das Lesen vom ersten Wort an. Dessen ist sich jeder Hörer und jeder Leser bewusst, darauf vertraut jeder Sprecher – und eben dies begründet den paradigmatischen Charakter der hermeneutischen Erfahrung. Daraus folgt natürlich nicht, dass jede Sinnhypothese gleich gut wäre und man zufrieden sein muss, wenn sich nur überhaupt eine Hypothese einstellt. In der Interpretation entfaltet der Leser die Sinnhypothese und prüft sie am vorgefundenen Text. Wenn diese 129

Vgl. Anm. 118.

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1 · Texthermeneutik: Das Material und der Sinn

Prüfung ergibt, dass der Verlauf der Entfaltung der eigenen Sinnhypothese mit dem Verlauf des Textes in Einklang zu bringen ist, so können Sinnhypothese und Interpretation als zutreffend angesehen werden. Ist das aber nicht der Fall, dann »wenden wir uns einer anderen schematischen Vorstellung«, d. h. einer anderen Sinnhypothese zu. 130 Außer der Bewegung, durch die der Leser die Sinnhypothese entfaltet, gibt es also noch eine zweite Bewegung, in der die bei Auslegung und Prüfung gemachten Erfahrungen mehr oder minder stark modifizierend auf die Sinnhypothese zurückwirken. Kurz: Es gibt einen hermeneutischen Zirkel. Das plötzliche Geschehen der Divination, das zunächst alleinzustehen und unkontrollierbar zu sein schien, erweist sich demnach als eingebettet in zwei Vorgänge, die nicht nur viel Zeit, sondern sogar wiederholte Bemühungen erfordern. Der divination geht die camaraderie voraus, durch die sich der Leser vertraut macht mit der Sache, um die es geht, und durch die der »Geistesblitz« der Sinnhypothese vorbereitet wird. Und der divination folgt die interprétation, die nicht eine ganz andere Phase, sondern gerade das von uns zunächst vermisste Element der Verifikation bzw. Falsifikation der Sinnhypothese darstellt.

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2 Handlungshermeneutik: Das Unbewusste und das Bewusstsein

Das erste Kapitel hat ergeben, dass Bergsons Werke texthermeneutische Elemente – im Sinne einer Theorie des Sprechens, Schreibens, Hörens, Lesens und Verstehens – enthalten und dass das deshalb so ist, weil die Erfahrungen, die wir beim Umgang mit Sprache machen, aus Bergsons Sicht paradigmatisch sind für einen Typ von Erfahrung, den man als anti-positivistisch bezeichnen könnte: Wenn man Sprache als Sprache erfahren und erfassen will, dann darf man gerade nicht versuchen, von den »subjektiven Zutaten« – Erwartungen, Gefühlen, Bedeutungen – zu abstrahieren. Das Verstehen sprachlicher Äußerungen ist nur möglich, wenn die sinnliche Wahrnehmung von einer Sinnerwartung begleitet wird. Dieses Ergebnis steht in einem gewissen Widerspruch zu dem weit verbreiteten Glauben an Bergsons Geringschätzung der Sprache als eines toten Symbolismus, aber ich hatte schon angedeutet, dass sich die beiden Positionen leicht versöhnen lassen, insofern gerade die Tatsache, dass Worte wirklich leblosen Dingen gleichen, die Erfahrung einer »Inkommensurabilität«, mithin die Erfahrung einer anderen Dimension des Sprechens ermöglicht. Freilich bestand von Anfang an nicht die Absicht, die Texthermeneutik als Kern der Philosophie Bergsons zu erweisen oder auch nur in Betracht zu ziehen. Deshalb hatte eines der Ziele, die mit Kapitel 1 erreicht werden sollten, darin bestanden, nach Hinweisen zu suchen, die es ermöglichen, unseren ersten, provisorischen Interpretationsansatz – »Hermeneutik« bei Bergson bedeutet »Texthermeneutik« – zu erweitern und/oder zu modifizieren. In der Tat sind wir auf zahlreiche derartige Hinweise gestoßen, und mir scheint, dass man sie in zwei Gruppen einteilen kann. Da gibt es zum einen Beobachtungen, die darauf hindeuten, dass Bergson glaubt, die für das Sprechen und Verstehen charakteristische »Zweidimensionalität« auch in anderen Bereichen unserer Erfahrung

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2 · Handlungshermeneutik: Das Unbewusste und das Bewusstsein

nachweisen zu können. Die Rede über Claude Bernard 1 ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, und die hier immer wieder verwendete Formel von der texthermeneutischen Erfahrung als einer paradigmatischen Erfahrung soll eben diesen Umstand, dass die texthermeneutische Erfahrung sich nicht auf ihr angestammtes Gebiet beschränkt, sondern auf andere Gebiete ausstrahlt, zum Ausdruck bringen. Man kann sagen, dass diese Hinweise, wenn wir ihnen nachgingen, uns eine Erweiterung des Hermeneutikbegriffs durch eine Ausdehnung ihres Gegenstandsbereichs ermöglichen würden. Diese Hinweise sind nicht unwichtig; eine Erweiterung des Gegenstandsbereichs ist notwendig, wenn man sich nicht mit der Auskunft zufriedengeben will, Phänomene hermeneutischen Charakters seien nur in einer kleinen Nische von Bergsons Philosophie zu finden, – und doch scheint es mir ungünstig, sofort an diese Beobachtungen anzuknüpfen und die Lösung unserer Aufgabe von einer bloßen Erweiterung des Gegenstandsbereichs der Hermeneutik zu erwarten. Ein derartiges Vorgehen verführt zu der Annahme, Bergson habe das texthermeneutische Modell im Wesentlichen unverändert auf andere Bereiche der Erfahrung übertragen, – eine Annahme, die um so plausibler erscheinen muss, je mehr man der Lehre von der Unhintergehbarkeit der Sprache 2 anhängt, die sich aber – von vielen anderen Aspekten abgesehen – im vorliegenden Fall als ungeeignet erweist, wenn man die bereits erwähnte Auffassung 3, die bloße Übertragung einer Einsicht aus einem Wissensbereich in einen anderen verrate Bequemlichkeit und Unredlichkeit, nicht nur als einen kritischen Einwand Bergsons gegen andere Denker, sondern auch als einen Anspruch an sein eigenes Denken betrachtet. Eine zweite Gruppe von Beobachtungen ließ uns Verbindungen der texthermeneutischen Thematik zu anderen Themen erkennen, ohne dass aber die Art und die Bedeutung dieser Verbindungen schon im Detail deutlich geworden wären, so dass eine nähere Untersuchung als notwendig erscheint. Ich denke dabei an die Frage, wie überpersönliche Zusammenhänge in der Geschichte möglich sind, wenn jeder Mensch seine ihm eigentümliche Perspektive auf die Wirklichkeit entwickeln muss und Gedanken Anderer nur als totes

1 2 3

Vgl. S. 121. Vgl. dazu Holenstein[1980]. Vgl. Abschnitt 1.2.4, S. 81.

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2 · Handlungshermeneutik: Das Unbewusste und das Bewusstsein

Material übernehmen kann 4, oder an die Frage, wie man von der Erfahrung des Sprachverstehens zu einer ontologischen These kommt 5. Ich denke aber auch an die Frage nach dem Unbewussten, nach der Nicht-Übereinstimmung des Philosophen – und vielleicht nicht nur des Philosophen – mit sich selbst, sowie an die Vermutung, Hermeneutik entspringe eben der Bemühung, zu einer Übereinstimmung mit sich selbst zu gelangen. 6 Wenn die Vermutungen, die ich in Kapitel 1 nur thesenartig hingeworfen habe, zutreffen, wenn also wirklich die Notwendigkeit, sich überhaupt erst einmal selbst zu verstehen und mit sich selbst übereinzustimmen, für Bergson am Anfang aller hermeneutisch relevanten Anstrengungen steht 7, Operationen wie das Textverstehen dagegen nur als Konsequenzen dieser ursprünglichen Notwendigkeit anzusehen sind, dann darf man erwarten, dass wir, wenn wir diesen Hinweisen – und hier insbesondere dem Hinweis auf das Unbewusste – nachgehen, zu einer Erweiterung des Hermeneutikbegriffs durch eine Vertiefung, d. h. durch das Freilegen der Wurzeln der Hermeneutik gelangen. Und man darf vielleicht sogar hoffen, dass wir, wenn wir uns dieser Anstrengung unterziehen, die gewünschte Ausdehnung des Gegenstandsbereiches gleichsam als kostenlose Zugabe erhalten. Ich schlage also vor, alle anderen nach Beendigung des ersten Kapitels lose herumhängenden und nach Weiterführung verlangenden Fäden erst einmal auf sich beruhen zu lassen und lediglich jenen Faden aufzugreifen, dessen Anfang sichtbar wurde, als wir feststellten, dem Philosophen sei die ihn leitende Intuition anfangs unbewusst und daraus ergebe sich – da Unbewusstheit nicht Untätigkeit bedeute – die Nicht-Übereinstimmung des Philosophen mit sich selber. Wir haben damals den Begriff des Unbewussten von außen ins Spiel gebracht, um das anfängliche Verhältnis – oder eher: Nicht-Verhältnis – des Philosophen zu seiner Intuition zu charakterisieren. Es stellt sich aber heraus, dass das gar nicht notwendig ist, weil Bergson den Begriff des Unbewussten kennt und an strategisch wichtigen Stellen selbst einsetzt. Von diesem Umstand geht das vorliegende zweite Kapitel aus. Es versucht, Bergsons »Lehre vom Unbewussten« im Kontext der, aber auch in Absetzung von den zeitgenössischen 4 5 6 7

Vgl. Abschnitt 1.2.5, S. 90. Vgl. Abschnitt 1.3.2, S. 107. Vgl. Abschnitt 1.2.2, S. 66. Vgl. Abschnitt 1.2.2, S. 68.

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2 · Handlungshermeneutik: Das Unbewusste und das Bewusstsein

Positionen darzustellen, und es tut dies in der Erwartung, dass die umfassendere Klärung der Idee des Unbewussten bei Bergson uns letztlich zu einer umfassenderen Idee von Nicht-Übereinstimmung, von Selbstverständnis und Hermeneutik führen wird. Eine letzte Vorbemerkung mag nützlich sein: Das erste Kapitel hat, obwohl weiterführende Fragen registrierend, doch ein in sich geschlossenes Bild von Bergsons Texthermeneutik gezeichnet. Ähnliches ist hier nicht zu erwarten. Dieses Kapitel legt wichtige Grundlagen für die Erweiterung des Hermeneutikbegriffs, aber es nutzt sie noch nicht, um darauf ein Gebäude zu errichten. Hier wird gesät, aber geerntet wird erst in den nachfolgenden Kapiteln. Ein in sich geschlossenes Bild wird erst am Ende des vierten Kapitels wieder erkennbar sein.

2.1 Erweiterung des Hermeneutikbegriffs 2.1.1 Bergson und das Unbewusste Es ist nicht schwierig, in den Texten Bergsons auf den Begriff des Unbewussten aufmerksam zu werden. Immer schon hat man ihn in Matière et mémoire (1896) bemerkt. Im dritten Kapitel dieses Werkes greift Bergson an strategisch wichtiger Stelle diesen Begriff aus der zeitgenössischen Diskussion auf und verteidigt ihn gegen Kritiker: »Ohne noch den Kernpunkt der Frage zu berühren, beschränken wir uns auf die Bemerkung, dass unsere Abneigung gegen den Begriff des unbewussten psychischen Zustandes besonders darin wurzelt, dass wir das Bewusstsein als wesentliche Eigenschaft des psychischen Zustandes ansehen, so dass ein psychischer Zustand scheinbar nicht aufhören kann, bewusst zu sein, ohne dass er zu existieren aufhört.« 8 »Der Begriff einer unbewussten Vorstellung ist, trotz eines verbreiteten Vorurteils, klar; man könnte sogar sagen, dass wir uns seiner fortwährend bedienen und dass es für den gesunden Menschenverstand keinen vertrauteren Begriff gibt.« 9 Sans entrer encore dans le vif de la question, bornons-nous à remarquer que notre répugnance à concevoir des états psychologiques inconscients vient surtout de ce que nous tenons la conscience pour la propriété essentielle des états psychologiques, de sorte qu’un état psychologique ne pourrait cesser d’être conscient, semble-t-il, sans cesser d’exister. – MM 283 | 156 | 135 f. 9 L’idée d’une représentation inconsciente est claire, en dépit d’un préjugé répandu ; 8

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Erweiterung des Hermeneutikbegriffs

Unverkennbar ist auch die Bedeutung, die dem Begriff des Unbewussten in Le rire (1900) für das Verständnis des Komischen zukommt. »Um sich davon zu überzeugen, wird es genügen, daran zu denken, dass eine komische Person im allgemeinen in genau dem Maße komisch ist, in dem sie nichts von ihrer Eigenschaft weiß. Das Komische ist unbewusst. Als ob es ein Gegenstück zum Ring des Gyges wäre, sichtbar den andern allen, sich selber unsichtbar.« 10

Eine systematische Prüfung aber zeigt, dass der Begriff des Unbewussten Bergsons gesamten Denkweg begleitet, wenn nicht gar prägt. Das Interesse an diesem Thema lässt bereits eine der frühesten Publikationen erkennen: 1886 veröffentlicht Bergson – damals noch Gymnasiallehrer in Clermont-Ferrand – einen Aufsatz, in dem er von teils beobachteten, teils selbst durchgeführten Versuchen mit der Hypnose berichtet. 11 Zudem behandelt Bergson »Das Problem des Unbewussten« in Psychologie-Kursen, die er als Gymnasiallehrer hält. 12 Was die Hauptwerke angeht, so findet sich der Begriff des Unbewussten keineswegs nur in Matière et mémoire. Im Essai sur les données immédiates de la conscience spricht Bergson vom Tiefen-Ich, dessen Manifestationen zwar an sich »durchaus nicht unbewusst« sind, die wir aber »nicht beachten wollen«, sondern sie »in die dunklen Tiefen unseres Wesens zurückstoßen«. 13 Elf Jahre vor Freuds »Traumdeutung« findet sich also bei Bergson bereits der Gedanke der Verdrängung. In L’évolution créatrice wird das Verhältnis von Unbewusstem und Bewusstsein im Kontext der Evolution des Lebendigen untersucht. 14 Les deux sources de la morale et de la religion schließlich thematisiert den Gegensatz zwischen traditionellen, an unbewusst geschaffenen Phantasmen orientierten Religionen und

on peut même dire que nous en faisons un usage constant et qu’il n’y a pas de conception plus familière au sens commun. – MM 284 | 157 f. | 137 10 Il suffira, pour s’en convaincre, de remarquer qu’un personnage comique est généralement comique dans l’exacte mesure où il s’ignore lui-même. Le comique est inconscient. Comme s’il usait à rebours de l’anneau de Gygès, il se rend invisible à luimême en devenant visible à tout le monde. – R 394 | 13 | 15 11 De la simulation inconsciente dans l’état d’hypnotisme – Mél. 333–341 | Écr. 59–66 12 CPsy 158 ff. 13 DI 112 | 127 | 128 14 Vgl. dazu Abschnitt 2.1.3, S. 154.

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2 · Handlungshermeneutik: Das Unbewusste und das Bewusstsein

der Mystik, die Bergson als Verschieben der Grenze zwischen Bewusstsein und Unbewusstem interpretiert. 15 Das gleiche Bild findet man in Aufsätzen und Vorträgen. Bezeichnend sind die Worte, mit denen Bergson im Jahre 1901 einen Vortrag über den Traum schließt: »Das Unbewusste zu erforschen, im Kellergeschoss des Geistigen mit dafür speziell geeigneten Methoden zu arbeiten, das wird in dem eben beginnenden Jahrhundert die Hauptaufgabe der Psychologie sein.« 16

Wichtig für das Verständnis des Umfeldes, in dem Bergson seine Gedanken über das Unbewusste entwickelte, sind seine Rezensionen und Diskussionsbeiträge. Hingewiesen sei hier insbesondere auf den Vortrag L’inconscient dans la vie mentale, den der belgische Psychologe Georges Dwelshauvers 1909 in der Société Française de Philosophie hielt, und die anschließende Diskussion, an der sich Bergson rege beteiligte. 17 Schließlich kommt das Unbewusste auch in Bergsons Korrespondenz zur Sprache. Im Jahre 1905 schreibt er an William James: »Der Hauptunterschied [zwischen uns] betrifft wahrscheinlich (aber ganz sicher bin ich mir da nicht) die Rolle des Unbewussten. Ich kann nicht umhin, ihm einen bedeutenden Platz einzuräumen, und zwar nicht nur im psychologischen Leben, sondern auch im Universum überhaupt […].« 18

An Textmaterial herrscht also kein Mangel. Dennoch – vielleicht auch: gerade deswegen– stößt man bei dem Versuch, die Bedeutung des Wortes inconscient bei Bergson zu klären, auf Schwierigkeiten. Zunächst einmal ergibt eine systematische Untersuchung, dass Bergson das Wort »unbewusst« in verschiedenen Bedeutungen verwendet, aber nur einige dieser Bedeutungen erläutert. Andere – so die des in fast allen Texten häufig gebrauchten Adverbs inconsciemment 19 – DS 1170 | 243 | 178 Explorer l’inconscient, travailler dans le sous-sol de l’esprit avec des méthodes spécialement appropriées, telle sera la tâche principale de la psychologie dans le siècle qui s’ouvre. – ES 896 f. | 108 | 97 17 Vortrag und Diskussion in Dwelshauvers[1910]. Auszüge (Bergsons Diskussionsbeiträge) auch in Mél. 803 ff. 18 La principale différence porte probablement (encore n’en suis-je pas bien sûr) sur le rôle de l’inconscient. Je ne puis m’empêcher de faire à l’inconscient une très large place, non seulement dans la vie psychologique mais encore dans l’univers en général […]. – Mél. 652 19 Vgl. dazu Abschnitt 3.2.4, S. 329. 15 16

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müssen vom Leser erschlossen werden. Umgekehrt erkennt man schnell, dass die Sache des Unbewussten nicht nur mit diesem einen Wort bezeichnet werden kann. Bergson setzt eine äußerst vielfältige und differenzierte lexikalische Palette ein, um die Erfahrungen zu beschreiben, in denen sich das Unbewusste zeigt. Glücklicherweise findet man die zum semantischen Feld gehörenden Worte oft sehr nahe bei dem Wort inconscient, so dass es möglich ist, im Rahmen eines systematischen Durchgangs durch die Belege für das Kernwort zugleich einen beträchtlichen Teil des semantischen Feldes kennenzulernen. Aber es gibt noch eine dritte Schwierigkeit. Für uns heutige Leser ist der Begriff des Unbewussten eng mit dem Namen Freuds und mit den Grundgedanken der Psychoanalyse verbunden. Nun hat Bergson Freud gekannt und in seinen Schriften immer wieder einmal auf ihn verwiesen. Daraus folgt freilich noch nicht, dass sein Begriff des Unbewussten sich mit demjenigen Freuds decken würde. Vielmehr lassen Bergsons Äußerungen Vorbehalte erkennen, die freilich – zumindest in den publizierten Werken 20 – nur angedeutet werden. So liest man im zweiten Teil der Einleitung zu La pensée et le mouvant (geschrieben 1922): »Selbst unsere Idee einer vollständigen Erhaltung der Vergangenheit hat mehr und mehr ihre empirische Bestätigung gefunden in dem umfangreichen Erfahrungsmaterial, das die Freud-Schule zusammengetragen hat.« 21

Die – freilich nicht von Bergson selbst geschriebene – ausführliche Zusammenfassung der 1910/11 am Collège de France gehaltenen Vorlesung über La théorie de la personne legt nahe, dass Bergson sich in diesem Rahmen ausführlicher zu Freud geäußert hat. Allerdings vermittelt der Text letztlich das gleiche Bild wie die kurzen Andeutungen in den publizierten Werken: Bergson findet une part de vérité in Freuds Überlegungen, entdeckt aber doch grundsätzliche Mängel (Mél. 851 f.). Bemerkenswert ist, dass der Autor der Zusammenfassung von sich aus auf die Ähnlichkeit der Positionen Bergsons und Pierre Janets aufmerksam macht (Mél. 853, Anm. 3). 21 Il n’est pas jusqu’à notre idée d’une conservation intégrale du passé qui n’ait trouvé de plus en plus sa vérification empirique dans le vaste ensemble d’expériences institué par les disciples de Freud. – PM 1316 | 81 | 93 – Es fällt auf, dass Bergson an dieser Stelle von »den Schülern Freuds« spricht. Da ich aber – ebenso wie die Herausgeber der Édition critique (vgl. PM – | 367, Anm. 306 | –) – keine Indizien dafür kenne, dass Bergson die – ja durchaus vorhandenen – Gegensätze zwischen Freud und einigen seiner Schüler zum Anlass genommen hätte, für einen oder einige der Schüler Partei zu ergreifen, und da andererseits die Formel les disciples de Freud im Sinne von »die Vertreter der Psychoanalyse« bei zahlreichen Autoren jener Zeit nachweisbar ist, scheint mir Leonore Kottjes Übersetzung »die Freud-Schule« gerechtfertigt zu sein. 20

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Bergson findet es erwähnenswert und hilfreich, dass die Anhänger von Freuds Psychoanalyse empirisches Material zusammengetragen haben. Er findet es dagegen nicht erwähnenswert – oder zumindest nicht hilfreich –, dass die Freud-Schule auch eine psychoanalytische Grundlagentheorie erarbeitet hat, die dieses Material deutet. Was die Deutungen angeht, so ist es vielmehr seine eigene Theorie, die er durch dieses Material bestätigt sieht. Man mag das zunächst als eine interpretatorische Spitzfindigkeit betrachten. Je mehr man aber von einem Vergleich der Äußerlichkeiten zu einem Vergleich der grundlegenden Intentionen übergeht, desto deutlicher sieht man, dass es – bei aller Gemeinsamkeit 22 – in der Tat einen fundamentalen Dissens zwischen Bergson und Freud gibt. Dieser Dissens lässt sich mit den bisher erarbeiteten Mitteln noch nicht angemessen erläutern. Ich möchte aber zumindest andeuten, wo er zu suchen ist, indem ich vorschlage, eine Äußerung Bergsons am Ende von Les deux sources de la morale et de la religion, die meines Wissens bisher noch nie unter diesem Gesichtspunkt betrachtet worden ist, als Hinweis Bergsons auf das für ihn inakzeptable Element im Denken Freuds zu lesen: »Die Forderungen des Geschlechtstriebes sind mächtig, aber man würde schnell mit ihnen fertig werden, wenn man sich an die Natur hielte. Indessen hat die Menschheit um eine starke, aber armselige Empfindung herum, die sie als Grundton nahm, eine immer wachsende Zahl von Akkorden erstehen lassen; sie hat daraus eine so reiche Varietät von Klangfarben entwickelt, dass jedes beliebige Objekt, von irgendeiner Seite her angeschlagen, jetzt den Ton gibt, der zu einer Besessenheit geworden ist. Es ist ein dauerndes Anrufen der Sinnlichkeit mittels der Phantasie. Unsere ganze Kultur ist ein Aphrodisiakum.« 23

Bergson bestreitet, wie sich zeigen wird, nicht, dass der Mensch von Trieben, ja von einer einzigen grundlegenden Dynamik beherrscht wird, die nicht vom Bewusstsein abhängig ist. Aber er bestreitet, dass Frédéric Worms charakterisiert die Konstellation Bergson/Freud aus heutiger Sicht als Kombination von problème commun und solutions profondément opposées (Worms[2009] 117 ff.). 23 Les exigences du sens génésique sont impérieuses, mais on en finirait vite avec elles si l’on s’en tenait à la nature. Seulement, autour d’une sensation forte mais pauvre, prise comme note fondamentale, l’humanité a fait surgir un nombre sans cesse croissant d’harmoniques ; elle en a tiré une si riche variété de timbres que n’importe quel objet, frappé par quelque côté, donne maintenant le son devenu obsession. C’est un appel constant au sens par l’intermédiaire de l’imagination. Toute notre civilisation est aphrodisiaque. – DS 1232 | 322 | 235 22

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Freud diese Dynamik richtig beschrieben hat, indem er sie als Libido charakterisierte. Der Sexualtrieb, so argumentiert Bergson hier, mag »mächtig« sein, aber er prägt nicht die Natur des Menschen. Erst »unsere« Kultur bringt ihn überall – und in geradezu zwanghafter Fixierung – ins Spiel. Hielte man sich wirklich an die Natur, so wäre man »schnell mit ihm fertig«. Bergson stand mit solchen Vorbehalten nicht allein. Man erinnert sich heute wieder daran, dass der zu seinem engeren Pariser Umfeld gehörende Psychologe und Psychiater Pierre Janet 1913 auf dem XVII. Internationalen Kongress für Medizin eine weit ausholende Kritik von Freuds Psychoanalyse vortrug 24, durch die er sich nicht nur den Zorn der anwesenden Psychoanalytiker, sondern auch die Nichtbeachtung seiner Schriften während beinahe des ganzen 20. Jahrhunderts einhandelte. Der zweite Teil seines Vortrags kreist um die Frage, ob man den psychischen Krankheiten gerecht wird, wenn man sie immer und überall aus Problemen der Sexualität entspringen lässt. 25 Es kann hier nicht darum gehen, diese Diskussionen im Detail zu verfolgen. Die kurzen und teilweise vorläufigen Anmerkungen über das Verhältnis Bergsons zu Freud 26 sollten lediglich dazu dienen, eine gewisse Vorsicht im Hinblick auf die Interpretation von Bergsons Gedanken über das Unbewusste zu wecken und zu motivieren. Bergsons Äußerungen über das Unbewusste werden nachfolgend zunächst einmal für sich betrachtet und dann in den Kontext der französischsprachigen Psychologie seiner Zeit (Binet, Dwelshauvers, Janet, Ribot) gestellt, wann immer die Konturen dadurch klarer werden. Damit soll kein unüberwindlicher Gegensatz zwischen dieser Psychologie und der (zunächst vor allem) deutschsprachigen Psychoanalyse konstruiert werden, denn es wäre ein sonderbares Verfahren, das Schubladen-Denken im Hinblick auf Bergsons Verhältnis zur Hermeneutik zu kritisieren und das gemeinsame Problem herauszuarbeiten, auf der anderen Seite aber eben dieses Schubladen-Denken im Hinblick auf Bergsons Verhältnis zur Psychoanalyse wieder ins Spiel zu bringen und das gemeinsame Problem zu ignorieren. Das

Janet[2004] Zu Janet vgl. Ellenberger[2005] 449 f. Die Gründe für die Wiederentdeckung Janets am Ende des 20. Jahrhunderts werden beschrieben in Ehrenberg[2004], insbesondere Kap. 1 (S. 19 ff.). Einen kurzen Überblick über die Gemeinsamkeiten zwischen Janet und Bergson gibt Matsuura[2006]. 26 Für eine gründlichere Untersuchung dieses Verhältnisses vgl. Sitbon[2014]. 24 25

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Ziel besteht vielmehr darin, Bergsons Theorie des Unbewussten als eigenständige Position herauszuarbeiten, bevor sie mit anderen Positionen verglichen wird, denn ein Gespräch ist nur dann fruchtbar, wenn jeder Teilnehmer seine eigene Position darlegt und vertritt. 27

2.1.2 Exkurs: Die Hermeneutik und das Unbewusste Es gibt also ein deutlich erkennbares Interesse Bergsons am Problem des Unbewussten. Nun beschäftigt uns dieses Interesse hier, weil die Vermutung im Raum steht, dass es einen Zusammenhang zwischen der Beschäftigung mit dem Unbewussten und dem hermeneutischen Charakter der Philosophie gibt. Indessen: Was genau soll dieser Satz bedeuten? Soll er besagen, dass wir einen Zusammenhang zwischen Bergsons Beschäftigung mit dem Unbewussten und dem hermeneutischen Charakter der Philosophie Bergsons vermuten? Oder soll er besagen, dass wir einen generellen Zusammenhang zwischen der Beschäftigung mit dem Unbewussten und dem hermeneutischen Philosophieren annehmen? Dass die Klärung dieser Frage nicht überflüssig ist, kann man sich zum Beispiel durch einen kurzen Blick in Hans-Josef Wagners Darstellung der »objektiven Hermeneutik« klarmachen. 28 Wagner vertritt die Ansicht, die »traditionellen Hermeneutikkonzeptionen« seien »in der Regel, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, dem Paradigma der Bewusstseinsphilosophie verhaftet. […] Sie gehen vom Bewusstsein aus und beziehen Verstehen auf das Verstehen von subjektiv Beabsichtigtem, Intendiertem.« Verstehen werde dort »auf einen Akt des Nachvollzugs oder Nach-erlebens der subjektiven Absichten der Akteure reduziert«. Im Gegensatz dazu fordert Wagner eine Hermeneutik, die von »der Kategorie der Handlung« ausgeht und berücksichtigt, dass in der und durch die Handlung »objektive Sinnstrukturen emergieren, die allererst Bewusstsein und Intentionalität konstituieren«. Er verweist auf die mögliche »NichtKoinzidenz von objektivem und subjektivem Sinn« und stellt in die-

Zu Bergsons Konzeption des Unbewussten vgl. außer den bereits angeführten Untersuchungen noch Dayan[1965]. Nach Beziehungen zwischen Bergson und Jung fragt Gunter[1982]. 28 Wagner[2001] 27

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sem Zusammenhang fest, dass »der Bereich des Unbewussten des Subjekts in erheblichem Maße ausgeweitet werden muss«. 29 Dieser Bezug auf Wagner dient nicht dem Ziel, eine negative Folie aufzubauen, von der ich mich absetzen könnte. Ganz im Gegenteil: Wagners an Peirce, Mead und Freud orientiertes, nicht auf philologisch arbeitende Geisteswissenschaften, sondern auf beobachtende und verstehende Sozialwissenschaften ausgerichtetes Hermeneutikkonzept weist viele Ähnlichkeiten mit demjenigen, das ich hier entwickeln möchte, auf. Nur: Bei dem Hermeneutikkonzept, das hier entwickelt werden soll, handelt es sich nach meinem Verständnis gerade nicht um ein neuartiges, sondern um eines, das bereits in den Texten Bergsons zu finden ist. Es handelt sich überdies – wie ich jedenfalls meine – um eines, das Bergson mit anderen hermeneutischen Philosophen verbindet und das uns berechtigt, ihn in der Gruppe hermeneutischer Philosophen zu verorten. Anders gesagt: Wagner, der eine neuartige Hermeneutik vorlegen möchte, kann sehr gut damit leben, nur einige wenige Vertreter der Tradition als seine Vorläufer zu betrachten. Wenn es aber um die Frage geht, ob Bergsons Philosophie als eine hermeneutische verstanden werden darf, dann wird man sich nicht zuerst den Besonderheiten und Eigentümlichkeiten zuwenden, sondern nach dem Typischen fragen, nach den Gemeinsamkeiten, die das Urteil rechtfertigen könnten: Ja, in der Tat, Bergson gehört dazu. Entweder also hat Wagner Recht, d. h. die Vertreter der traditionellen Hermeneutik fassen wirklich mehrheitlich Sinn als bewusst intendierten Sinn auf – dann folgen wir hier der falschen Spur, weil die Auseinandersetzung mit dem Unbewussten nicht die gesuchte gemeinsame Plattform bieten kann; oder aber Wagner hat nicht Recht, d. h. auch bei den Vertretern der traditionellen Hermeneutik entspringt das hermeneutische Kernproblem aus der Existenz des Unbewussten – dann aber müssen wir zeigen, dass Wagner nicht Recht hat. Und es ist in der Tat diese zweite Option, der ich zuneige und die ich hier plausibel machen möchte. Nun kann es angesichts der weiten Verbreitung hermeneutischen Denkens und der Vielzahl unterschiedlichster Ansätze nicht darum gehen, hier gleichsam en passant zu beweisen, dass ausnahmslos jede Hermeneutik den Begriff des Unbewussten kennt und aus dem Problem des Unbewussten entspringt. Aber das muss es wohl auch nicht. Den Kontext dieser Untersuchung bildet ja, wie in der 29

A. a. O., 9–13

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Einleitung dargelegt, die These, dass jede Lebensphilosophie eine Hermeneutik beinhalten muss, wobei aber selbst diese schon wesentlich begrenztere, speziellere These nur als Horizont, nicht als Thema der Untersuchung aufzufassen ist. Insofern scheint es mir nicht notwendig, gleichsam den ganzen Wald auszureißen, sondern hinreichend, eine kleine Lichtung zu schaffen, auf der wir unsere Siedlung errichten können, d. h. uns den Freiraum zu verschaffen, in dem sich unsere Bergson-spezifische Argumentation ungehindert entfalten kann. Ich möchte also nachfolgend nicht allgemeingültig beweisen, wohl aber anhand einiger Beispiele plausibel machen, dass zumindest jede von einem Lebensphilosophen entwickelte Hermeneutik mit dem Gedanken des Unbewussten verknüpft ist. Ein derartiger Versuch kann nur bei Sigmund Freud beginnen. Dass es eine Beziehung zwischen Hermeneutik und Unbewusstem gibt, das gilt jedenfalls – und zwar auch nach Wagners Ansicht – für die Psychoanalyse. Freud spricht nicht nur davon, dass Triebwünsche verdrängt, d. h. ins Unbewusste abgedrängt werden und dass die dadurch keineswegs beseitigten Triebe sich in Träumen äußern, Freud spricht auch davon, dass der Psychoanalytiker diese Träume deuten kann, weil die Träume etwas sagen wollen oder jedenfalls etwas bedeuten. Paul Ricœur, der in einer 1965 erstmals erschienenen Monographie Freud als wichtigen Gesprächspartner in der hermeneutischen Diskussion herausgestellt hat, spricht in diesem Zusammenhang von der »Semantik des Wunsches«. Als Interpretation eines sprachanalogen Geschehens ist die Traumdeutung also einerseits eine hermeneutische Aktivität wie jede andere auch: »Die analytische Erfahrung hat weit größere Ähnlichkeit mit dem Verstehen als mit dem Erklären. […] Die Gültigkeit der Interpretationen in der Psychoanalyse erheischt die gleiche Art von Fragen wie die Gültigkeit einer historischen oder exegetischen Interpretation. Man muss Freud die gleichen Fragen stellen, wie man sie Dilthey, Max Weber, Bultmann stellt, nicht solche, wie man sie einem Physiker oder Biologen stellt.« 30

Andererseits kommen aber, wenn man die Psychoanalyse als hermeneutische Theorie und Praxis gelten lässt, Elemente ins Spiel, die insbesondere dann als neu und fremdartig erscheinen können, wenn man bestimmte Formen der Texthermeneutik als maßgebend betrachtet. Die Irritationen gehen vor allem vom Begriff des Triebes als 30

Ricœur[1993] 383

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einer naturwüchsigen Kraft aus, bei dem man fragen kann, ob es angemessen ist, ihn auf eine Ebene mit jenen Vorgängen zu stellen, durch die Texte entstehen. Indessen: »Die Psychoanalyse stellt uns niemals vor nackte Kräfte, sondern immer vor Kräfte auf der Suche nach einem Sinn.« »Die Originalität Freuds besteht darin, dass er den Punkt des Zusammenfallens von Sinn und Kraft ins Unbewusste verlegt.« »Es gibt einen Punkt, an dem das Problem der Kraft und das des Sinns zusammenfallen; dieser Punkt ist jener, wo der Trieb sich selbst bezeichnet, sich kundtut, sich in einer psychischen Repräsentanz zeigt […].« 31

Man mag sich bei der Lektüre solcher Sätze an L’intuition philosophique erinnert fühlen. Als Bergson den Punkt erreicht hatte, an dem es ihm nötig schien, konkreter zu formulieren, wie man sich die Intuition des Philosophen vorzustellen hat, da hatte er geschrieben, sie sei weniger eine Schau als vielmehr eine Berührung (contact), und aus dieser Berührung sei ein Antrieb (impulsion) entsprungen, der sich dann in eine Bewegung umgesetzt habe. 32 Nun wird man Bergsons impulsion nicht für einen Trieb im Sinne Freuds – und schon gar nicht für einen Sexualtrieb – halten, aber alles, was wir von Bergson über das Schicksal des Philosophen gehört haben, belegt, dass es sich bei der Intuition um eine »Kraft auf der Suche nach einem Sinn« handelt. Die Intuition ist nicht »reiner Sinn« – was immer das sein mag –, sondern ein Wesen mit zwei Gesichtern, das bald als treibende Kraft, bald als Sinn in Erscheinung tritt. Überdies ist sie, wie Bergson eindringlich gezeigt hatte, am Anfang völlig unbewusst und kann erst durch die fortgesetzten Anstrengungen des Philosophen Schritt für Schritt bewusst gemacht werden. Kurz: Es deutet sich an, dass es gewinnbringend sein kann, Bergson mit Freud in Verbindung zu bringen, ihn freilich auch von jenem abzusetzen. Nun kann man nicht nur Bergson mit Freud in Verbindung bringen. Man findet eine analoge – und sogar noch deutlicher ausgeprägte – Konstellation bei Friedrich Nietzsche. Der von Schopenhauer übernommene Wille, der dann bei ihm Wille zur Macht wird, stellt eine das Handeln und Denken des Menschen prägende Kraft dar, deren Aktivität freilich dem Menschen nicht nur meist unbewusst

31 32

Ricœur[1993] 161, 145, 144 Vgl. Kap. 1, Anm. 49

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bleibt, sondern die sogar so wirkt, dass sich der Mensch von den Resultaten und den ihnen zugrunde liegenden Motiven häufig ganz falsche Vorstellungen macht. Deshalb ist eine Hermeneutik – mit Ricœur gesprochen: eine Hermeneutik des Verdachts – notwendig, die die Gestalten, in denen der Wille sich ausdrückt, auf diesen als ihren Ursprung zurückbezieht. 33 Ludwig Klages entwickelt mit der Graphologie eine hermeneutische Praxis, die man mit Freuds Psychoanalyse verglichen hat 34, und er entwickelt mit der »Wissenschaft vom Ausdruck« eine hermeneutische Theorie als Grundlegung dieser Praxis. Bei kaum einer anderen lebensphilosophisch geprägten Hermeneutik ist das Gegenargument gegen Wagner so unmittelbar sichtbar wie hier: Auch Klages liest – als Graphologe – Texte. Aber an diesen Texten interessiert ihn gerade nicht das, was der Schreiber bewusst zum Ausdruck bringen will, sondern das, was er durch die Merkmale der Handschrift unwillkürlich über seinen Charakter, d. h. ihm selbst unbewusste seelische Tendenzen offenbart. Bei Georg Simmel begegnet uns der Gedanke des Unbewussten im Zusammenhang mit der Frage nach Möglichkeit und Grenzen des Verstehens von Handlungen in Geschichtsforschung und Soziologie. Bereits in seiner frühen Studie über »Die Probleme der Geschichtsphilosophie« vertritt er die Ansicht, mit unbewussten Vorgängen sei insbesondere da zu rechnen, wo Handlungsmuster zwar ihre Entstehung »wirklich einem Bewusstsein verdanken, dieses aber eingebüßt haben, indem sich die Handlung allmählich in eine bloß reflektorische und instinktive umgebildet hat«, sowie da, »wo es sich um die Bewegungen ganzer Gruppen handelt«. 35 Und wiederum liest es sich wie eine Replik auf Wagners These, wenn Simmel schreibt: »Und wenn man selbst behauptet, dass die Geschichtswissenschaft nur die Geschichte der bewussten Vorgänge zu beschreiben hätte, so schieben sich die unbewussten Vorgänge doch so mannigfach zwischen die bewussten, und bilden so durchgehends den Untergrund derselben, dass ohne Zuhülfenahme ihrer eine zulängliche Erklärung des Bewussten nicht erreichbar ist; welche Erklärung eben notwendig in die Brüche gehen muss, wenn man

Zu Nietzsches Kraftbegriff vgl. Christians[2002]. Martynkewicz[2006] 35 GSG[2] 313 f. – Der zweite Punkt – die »Bewegungen ganzer Gruppen« – bildete drei Jahre später (1895) das Thema von Le Bons berühmter »Psychologie der Massen«. 33 34

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jeder sichtbaren Handlung klare Gedanken und bewusste Zweckmäßigkeit unterlegen will.« 36

Ein Jahrzehnt später fügt er – in der »Philosophie des Geldes« – hinzu: »Es ist nämlich keineswegs ausgemacht, kann vielmehr nur bei ganz flüchtigem Hinsehen gelten, dass wir unsere Zwecke am besten erreichen, wenn sie uns am klarsten als solche bewusst sind. So schwierig und unvollkommen nämlich der Begriff des ›unbewussten Zweckes‹ auch sei – die damit ausgedrückte Tatsache: dass unser Handeln in der genauesten Anpassung an gewisse Endziele verläuft und ohne irgendwelche Wirksamkeit derselben völlig unverständlich ist, während in unserem Bewusstsein von ihrer Wirksamkeit nichts zu finden ist – diese Tatsache wiederholt sich so unendlich oft und so unsere ganze Daseinsart bestimmend, dass wir eine besondere Bezeichnung für sie gar nicht entbehren können. Wir müssten sie nur mit dem Ausdruck des unbewussten Zweckes nicht erklärt, sondern nur benannt haben wollen.« 37

Befragen wir schließlich Wilhelm Dilthey, einen der bedeutendsten Vertreter der philosophischen Hermeneutik ebenso wie auch der Lebensphilosophie, nach seiner Stellung zum Unbewussten. Auch seine Antwort ist eindeutig. In seiner Abhandlung über »Die Entstehung der Hermeneutik« schreibt er: »Das letzte Ziel des hermeneutischen Verfahrens ist, den Autor besser zu verstehen, als er sich selber verstanden hat. Ein Satz, welcher die notwendige Konsequenz der Lehre von dem unbewussten Schaffen ist.« 38

Dilthey nimmt, indem er die Lehre vom unbewussten Schaffen anspricht, Bezug auf den Genie-Gedanken 39, wie er seit dem 18. JahrA. a. O. GSG[6] 295 38 Dilthey[1957] 331 39 Zumindest Hans-Georg Gadamer war die Bedeutung der Vorstellung vom unbewussten Schaffen für Ästhetik und Hermeneutik des 18. und 19. Jahrhunderts bewusst. Aber er sah in dieser Vorstellung gerade den Fehler der »romantischen Hermeneutik«. Für das 20. Jahrhundert diagnostiziert er »eine Art Geniedämmerung« (Gadamer[1990] 98 f.). Der Rausch ist verflogen, man ist nüchtern geworden, und dieser allgemeinen Ernüchterung will seine an der Tradition orientierte Hermeneutik Rechnung tragen. Indessen können wir uns von diesem Einwand Gadamers hier so wenig aufhalten lassen wie von Wagners Vorwurf, die traditionelle Hermeneutik wolle nur bewusst intendierten Sinn erfassen. Abgesehen davon, dass diese beiden Stellungnahmen zwei offenkundig inkompatible Bilder von der traditionellen Hermeneutik zeichnen, ist noch gar nicht ausgemacht, dass eine Hermeneutik, die den unbewussten 36 37

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hundert im Gegenzug gegen das rationalistische Ideal des poeta doctus entwickelt worden war. 40 Das Genie – genauer: das »Naturgenie« – ist nicht auf die Normen der Vernunft und das Regelwerk des Klassizismus verpflichtet. In ihm wirkt die ungebundene Schaffenskraft der Natur, »die ihr eigenes Vermögen jedem Modell und jeder Norm entgegensetzt oder vielmehr selber zur Norm wird«. Folglich hat auch »das Werk sein eigenes Produktionsgesetz und ist selber sein Beweis«. 41 Wenn man mit diesem Gedanken des unbewussten Schaffens Ernst macht, ergibt sich zunächst ein Problem für das Genie selbst. Um es mit den Worten Jacques Rancières zu formulieren: Das Schaffen des Genies repräsentiert, ja ist »die aktive Macht der Natur«, ist »bedingungslose« – d. h. keinen äußeren Regeln unterworfene – »Produktion«. Zugleich aber erweist es sich als »absolute Passivität«, denn dieses Schaffen geschieht, widerfährt dem Genie. In gewissem Sinne spricht nicht mehr der Autor selbst, sondern »Es« spricht aus ihm und durch ihn. Das Genie »ist jemand, der nicht weiß, was er tut, und der unfähig ist, sich darüber Rechenschaft abzulegen«. Das Genie ist gekennzeichnet durch eine »Identität von Wissen und Nichtwissen, von Handeln und Leiden«, durch »verworrene Klarheit«. 42 Diesem bereits im 18. Jahrhundert entwickelten Bild vom schaffenden Menschen entspricht nicht nur Bergsons durch eine ihm zunächst völlig unklare Intuition geleiteter Philosoph, sondern auch Diltheys unbewusst schaffender Autor. Und man sieht, dass beide, wenn sie nicht nur willen- und gedankenloses Medium sein, sondern sich selbst verstehen wollen, eine hermeneutische Anstrengung in Gang bringen müssen. Aber dieses Konzept hat auch Konsequenzen für den Rezipienten, etwa den Leser eines literarischen Kunstwerks oder eines philosophischen Textes. Einerseits nämlich liegt es auf der Hand, dass ein Werk, das nicht mehr »vernünfftige Gedancken« zum Ausdruck bringen will und sich auch nicht mehr allseits be- und anerkannten Normen der Darstellung unterwirft, unverständlich wird. Das ist nicht irgendeine, sondern eine ganz spezifische Form von Unver-

Aspekt des Schaffens und Verstehens berücksichtigt, zwangsläufig bei einer »falschen Romantik« endet. 40 Schmidt[1985] 41 Rancière[2006/2008] 20 42 A. a. O.

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ständlichkeit 43, und zu deren Beseitigung ist nicht irgendein, sondern ein ganz spezifisches Verstehen erforderlich, das die materiale Konstellation, als die sich ein Werk zunächst präsentiert, auf den unbewussten Ausdruckswillen des Autors zurückbezieht. Hier entspringt demnach das spezifische Problem der modernen Hermeneutik, und Dilthey ist sich dieses Umstands völlig bewusst. Die andere Seite aber ist diese: Weil und insofern der Rezipient sich die Sinnintention des Autors durch eine bewusste Anstrengung erschließen muss, können ihm Aspekte bewusst werden, die dem Autor selbst trotz aller Bemühungen um Selbstverständnis niemals bewusst gewesen sind. Hieraus ergibt sich der berühmte und von Dilthey in der zitierten Passage angesprochene hermeneutische Grundsatz, dass der Interpret im Fremdverstehen den Autor besser verstehen kann, ja soll, als dieser sich selbst verstanden hat. 44 Diltheys Rede vom unbewussten Schaffen deutet an, dass die Lichtung, von der ich zu Beginn dieses Abschnitts gesprochen habe, mitsamt der darauf erbauten lebensphilosophisch-hermeneutischen Siedlung nicht einsam und isoliert im undurchdringlichen Wald liegt, sondern dass – um im Bild zu bleiben – Wege zu dieser Siedlung hinSchmidt zitiert Goethes Äußerung, man müsse bei der Lektüre von Autoren wie Hamann »durchaus auf das Verzicht tun, was man gewöhnlich Verstehen nennt«. Die Betonung liegt hier auf dem Wort »gewöhnlich«. Goethe will, wie die über mehrere Seiten sich erstreckende positive Würdigung Hamanns zeigt, nicht sagen, dass dieser Autor schlechthin unverständlich, folglich die Lektüre seiner Texte nicht der Mühe wert sei. Er will sagen, dass Hamanns Texte zwar die gängige – wenn man will: aufklärerische – Erwartung eines an den Worten direkt ablesbaren, eindeutigen Sinns enttäuschen, dass sie aber auf einer anderen Ebene wirken und deshalb einer anders gearteten Verstehensbemühung sehr wohl zugänglich sind: »Solche Blätter verdienen auch deswegen sibyllinisch genannt zu werden, weil man sie nicht an und für sich betrachten kann, sondern auf Gelegenheit warten muß, wo man etwa zu ihren Orakeln seine Zuflucht nähme. Jedesmal wenn man sie aufschlägt, glaubt man etwas Neues zu finden, weil der einer jeden Stelle innewohnende Sinn uns auf eine vielfache Weise berührt und aufregt.« Goethe weist hier bereits auf das Phänomen hin, das Bergson später unter dem Titel »Suggestion« thematisieren wird. – Dichtung und Wahrheit III.12 (Goethe[1979] 564) – Dazu Schmidt[1985] 97. 44 »Einen Autor besser zu verstehen, als er sich selber verstanden hat, ist also nach Dilthey darum möglich, weil das Schaffen unbewusst verläuft und erst in der Deutung zum vollen Bewusstsein kommt. Und einen Autor besser zu verstehen, als er sich selber verstanden hat, ist so weit und nur so weit möglich, als eben das Schaffen im Unbewussten verläuft. Damit wird deutlich, wie sehr diese Frage über den Umkreis einer bloßen Methodik der Geisteswissenschaften hinaus auf den tieferen Bereich der Frage nach dem Wesen des Menschen zurückführt.« – Bollnow[1982] 55. – Hervorhebungen von mir [C. K.]. 43

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und von ihr wegführen, die wir zwar nicht begehen wollen, die wir aber begehen könnten, wenn wir ein umfassenderes und detaillierteres Bild zeichnen wollten. Vermutlich würden wir dann feststellen, dass die Verknüpfung von Unbewusstem und Hermeneutik kein Spezifikum der Lebensphilosophie im strengen Sinne einer Epoche der Philosophiegeschichte ist. Der – von der Lebensphilosophie aus – in die Vergangenheit gerichtete Weg würde uns zu Hamann und Herder führen. Er würde uns zeigen, dass diese Verknüpfung sich im 18. Jahrhundert herausbildete, und zwar – der These Jochen Schmidts zufolge – durch eine Transformation der theologischen Hermeneutik: Das Grundproblem der spezifisch modernen Hermeneutik entsteht durch die Säkularisierung bzw. Naturalisierung der Inspiration. 45 Aus der Stimme Gottes wird die Stimme der Natur. Erhalten aber bleibt die Anders- und Fremdartigkeit, die Deutungsbedürftigkeit dessen, was diese Stimme sagt: »Das Über-Bewusste der Inspiration wurde ersetzt durch das Unter-Bewusste, das den entscheidenden Vorteil hatte, dass es sich in die NaturSphäre integrieren ließ.« 46

Der von der Lebensphilosophie aus in die Zukunft gerichtete Weg würde uns – um nur ein einziges Beispiel herauszugreifen – zu Paul Ricœur führen. Ricœur ist nicht nur der Autor der bereits erwähnten Studie über Freuds hermeneutische Methode, er ist auch einer der bedeutendsten Vertreter hermeneutischen Philosophierens im 20. Jahrhundert. Aber man weiß, wie er es geworden ist: Nachdem Mir ist bewusst, dass an dieser Stelle einige grundsätzliche, das Verständnis von Hermeneutik überhaupt betreffende Fragen aufbrechen können: Trifft es zu, dass das spezifische Problem der modernen Hermeneutik sich aus der Naturalisierung der schöpferischen Tätigkeit ergibt? Hatte man sich nicht daran gewöhnt, es vielmehr mit der Historisierung der Kultur in Verbindung zu bringen? Und handelt es sich bei der Hermeneutik, auf die wir hier zusteuern, nicht um das, was Gadamer als »romantische Hermeneutik« bezeichnet und kritisiert hat? Ich möchte auf diese legitimen und wichtigen Fragen hier dennoch nicht eingehen. Was Bergson betrifft, so können nur Verlauf und Ergebnis der Untersuchung zeigen, ob es ihm gelingt, Natur und Kultur als Einheit zu denken, ohne ihre Verschiedenartigkeit zu verwischen, und auf dieser Basis ein Konzept von Hermeneutik zu entwickeln, das Gadamers Kritik entgeht. Was aber die über Bergson hinausgehenden, allgemeineren Thesen zur Hermeneutik, die ich hier in mehreren Exkursen darlege, angeht, so sei an das erinnert, was ich bereits in der Einleitung ausgeführt habe: Diese Thesen bilden den Kontext, innerhalb dessen sich meine Bergson-Interpretation bewegt, aber sie bilden nicht das Thema und nicht das Beweisziel dieser Untersuchung. 46 Schmidt[1985] 135 45

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er versucht hatte, das Handeln des Menschen – und zwar sowohl das bewusst gewollte (le volontaire) wie auch das ungewollte (l’involontaire) – mit einer phänomenologischen Methode zu beschreiben, musste er erkennen, dass die Phänomene, die ihn interessierten, dem Bewusstsein nicht vollständig zugänglich sind. Es stellte sich heraus, dass das cogito, auf das man von Descartes bis Husserl gesetzt hatte, sich selbst nicht durchsichtig ist und dass man auf die Phänomenologie eine Hermeneutik »aufpfropfen« muss, deren Aufgabe darin besteht, überall da, wo die Intention nur symbolisch zum Ausdruck kommt, der phänomenologischen Beschreibung deutend zur Seite zu stehen. 47 Wie eng diese Überlegungen mit den lebensphilosophischen Ansätzen, die uns hier im Hinblick auf Bergson interessieren, verbunden sind, hat Johann Michel 48 gezeigt. Man muss – so fasst Michel Ricœurs Position zusammen – zwei grundsätzlich verschiedene Arten von Bewusstseinstheorien unterscheiden. Auf der einen Seite gibt es die – paradigmatisch durch Descartes und Kant repräsentierte – rationalistische Position, die das Bewusstsein als eigenständig, unabhängig und sich selbst begründend betrachtet. Auf der anderen Seite stehen die Vertreter einer eher vitalistischen Position, die das Bewusstsein dem Begehren oder dem Leben unterordnen. Die »vitalistische« Gegenposition gegen den Gedanken des reinen Bewusstseins ist nach Ricœurs Auffassung nicht erst in der Lebensphilosophie des 19. Jahrhunderts anzutreffen. Bereits mit Spinoza (Streben nach Sein) und Leibniz (appétition der Monaden) etabliert sich ein Diskurs, der in gewisser Weise mit Nietzsche und Freud seinen Höhepunkt erreicht. Er thematisiert das Unbewusste als das Andere des Bewusstseins, aber eben als das Andere des cartesianisch gedachten Bewusstseins 49, und er fasst das Bewusstsein als diesem Anderen nachgeordnet. Ricœur nimmt diesen Diskurs auf: »Alle diese Denker treffen eine wichtige Entscheidung im Hinblick auf das Schicksal der bewussten Vorstellung: Diese ist nicht mehr das erstrangige Faktum, die ursprüngliche Funktion, das am besten Bekannte, und sie ist es weder für das psychologische Bewusstsein noch für die philosophische Reflexion. Sie wird eine zweitrangige, dem Streben und dem Begehren nach-

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Vgl. Kap. 1, Anm. 50. Michel[2006] 25 Vgl. dazu auch Whyte[1962] 26–28

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geordnete Funktion. Sie ist nicht mehr das, was verstehen lässt, sondern das, was es zu verstehen gilt.« 50

Menschliches Bewusstsein ist nicht mehr das, was verstehen lässt, sondern das, was es zu verstehen gilt – kann man sich eine kürzere und präzisere Zusammenfassung dessen vorstellen, was Bergson in L’évolution créatrice dargelegt hat? Das vorstellende Bewusstsein ist nicht autark, sondern abhängig von seinem Anderen. Der Sinn ist nicht immer schon klar und deutlich, sondern zunächst verschleiert und verborgen. Und eben deshalb bedarf es einer Hermeneutik.

2.1.3 Schichten-Modelle Ich habe in den beiden vorangehenden Abschnitten Indizien dafür angeführt, dass das Unbewusste einerseits ein für Bergson zentrales Thema darstellt, andererseits das Problem der modernen Hermeneutik überhaupt entstehen lässt: Wenn das Bewusstsein einerseits nicht mehr als sich selbst durchsichtig, nicht mehr als Herr im eigenen Hause, andererseits aber auch nicht als völlig machtlos oder gar als Epiphänomen angesehen wird, dann muss es sich der Aufgabe stellen, das nicht von ihm initiierte psychische Geschehen zu deuten und deutend sich anzueignen. Es wird nunmehr darum gehen müssen, diese sehr allgemeine Feststellung zu verdeutlichen, indem wir die bisher noch beinahe leeren Begriffe des Unbewussten und des Bewusstseins Schritt für Schritt mit konkreten Details füllen. Bei dem Versuch, die Erscheinungsformen des Unbewussten, wie sie uns in den Texten Bergsons entgegentreten, im Zusammenhang darzustellen, muss man nicht nur die unterschiedlichen Auffassungen vom Unbewussten innerhalb der Psychologie seiner Zeit berücksichtigen, sondern auch den Umstand im Auge behalten, dass Bergsons »Lehre vom Unbewussten« nicht primär eine psychologische oder gar psychoanalytische, sondern eine philosophische Lehre sein […] tous ces penseurs prennent une décision importante concernant le destin de la représentation: elle n’est plus le fait premier, la fonction primaire, le mieux connu, ni pour la conscience psychologique, ni pour la réflexion philosophique; elle devient une fonction seconde de l’effort et du désir. Elle n’est plus ce qui fait comprendre, mais ce qu’il faut comprendre. – Ricœur[1969] 211 – Der Aufsatz »Der Akt und das Zeichen nach Jean Nabert«, dem diese Sätze entnommen sind, fehlt in der ersten, 1973/74 in zwei Bänden erschienenen deutschen Übersetzung von Le conflit des interprétations, ist jedoch im Auswahlband Ricœur[2010] enthalten (Zitat: S. 120 f.).

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will. Bei allem Interesse an den Ergebnissen der psychoanalytischen und überhaupt der experimentellen psychologischen Forschung seiner Zeit, von dem Bergsons Texte beredtes Zeugnis ablegen, darf man ihn nicht nur mit diesen Bemühungen in Zusammenhang bringen, sondern muss ihn auch im Kontext jener philosophischen, bisweilen metaphysischen Theorien des Unbewussten sehen, für die im späten 19. Jahrhundert vor allem der Name Eduard von Hartmanns steht. Ich hatte bereits auf den Brief an William James hingewiesen, in dem Bergson schreibt, er komme nicht umhin, dem Unbewussten »einen bedeutenden Platz einzuräumen, und zwar nicht nur im psychologischen Leben, sondern auch im Universum überhaupt«. 51 Nur so wird verständlich, dass Bergson nicht beim Menschen einsetzt, sondern bei der Welt, d. h. der Wirklichkeit als ganzer. Im zweiten Kapitel seines 1907 erschienenen Werkes L’évolution créatrice rekonstruiert Bergson unter philosophischen Gesichtspunkten die Evolution des Lebendigen vom Ursprung des Lebens bis zur Entstehung des menschlichen Bewusstseins. 52 Er stellt dort Instinkt und Intelligenz als zwei Formen von Handlungssteuerung einander gegenüber und geht dabei auch auf die Frage ein, ob bzw. in welchem Maße man dem Instinkt Bewusstsein zusprechen dürfe. In diesem Zusammenhang schreibt er: »Jedoch muss hier auf einen bisher zu wenig betonten Unterschied zwischen zwei Arten des Unbewussten hingewiesen werden; auf die Unbewusstheit nämlich, die in Nicht-Bewusstsein besteht, und jene andere, die auf vernichtetem Bewusstsein beruht. Nicht-Bewusstsein und vernichtetes Bewusstsein sind beide gleich Null; davon aber drückt die eine Null aus, dass überhaupt nichts da ist, die andere dagegen, dass man gleichwertige, aber entgegengesetzte Größen vor sich hat, die sich kompensieren und neutralisieren. Die Unbewusstheit eines fallenden Steines ist Nicht-Bewusstsein: der Stein hat keinerlei Empfindung seines Falles. Verhält es sich ebenso mit der Unbewusstheit des Instinkts in jenen extremen Fällen, in denen auch der Instinkt unbewusst ist?« 53 Vgl. Anm. 18. Zu den Details dieser Rekonstruktion der Evolution des Lebendigen und ihrer Funktion im Kontext von Bergsons hermeneutischer Philosophie vgl. Abschnitt 2.3.1, S. 245. 53 Mais il faut signaler ici une différence, trop peu remarquée, entre deux espèces d’inconscience, celle qui consiste en une conscience nulle et celle qui provient d’une conscience annulée. Conscience nulle et conscience annulée sont toutes deux égales à zéro ; mais le premier zéro exprime qu’il n’y a rien, le second qu’on a affaire à deux quantités égales et de sens contraire qui se compensent et se neutralisent. L’incons51 52

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Bergson unterscheidet demnach zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen Bedeutungen des Wortes »unbewusst«. Wir können von unbelebten, materiellen Dingen oder Vorgängen an diesen Dingen sagen, dass sie »unbewusst« oder »bewusstlos« sind. Damit meinen wir, dass ihnen das Bewusstsein fehlt und dass es ihnen nicht etwa gelegentlich und versehentlich, sondern immer und grundsätzlich fehlt. Das Fehlen von Bewusstsein ist ein Wesenszug unbelebter Dinge. Man kritisiert einen fallenden Stein nicht dafür, dass er sich über seinen Fall keine Gedanken macht. Wir können auch von instinktgesteuertem Handeln sagen, dass es sich »unbewusst« vollziehe. In diesem Fall aber denken wir – wie vage auch immer – an ein Bewusstsein, das nur zufällig fehlt und das ebenso gut auch vorhanden sein könnte. Eine instinktive Handlung ist – als Handlung – ein Vorgang, der prinzipiell auch von Bewusstsein begleitet sein könnte. Bergson formuliert diese Vorstellung – aus noch zu klärenden Gründen – in der entgegengesetzten Weise: Die instinktive Handlung ist für ihn nicht ein Vollzug, zu dem noch Bewusstsein hinzutreten könnte, sondern ein Vollzug, bei dem das de facto vorhandene Bewusstsein durch eine Gegenkraft unterdrückt wird. In der Dwelshauvers-Diskussion 54 führt Bergson die gleiche Unterscheidung in etwas anderer Weise ein: »Alle Diskussionen, die die Frage des Unbewussten auslöst, scheinen mir um eine zentrale Schwierigkeit zu kreisen, die sich daraus ergibt, dass der Begriff »unbewusst« ein negativer Begriff ist. Das Unbewusste im eigentlichen Sinne des Wortes wäre einfach das Nicht-Bewusste und würde alles umfassen, was nicht bewusst ist. Aber die Ausdehnung des Begriffs wäre dann unbeschränkt. Einzuschließen wäre darin die Gesamtheit des Wirklichen und des Möglichen, abgesehen von jenen Bewusstseinsflecken, mit denen die Wirklichkeit uns hier und da bestäubt zu sein scheint. Aber wenn das Unbewusste so de jure etwas rein Negatives ist, so bestimmt der Psychologe dieses Unbewusste de facto positiv, wenn er davon spricht. Er denkt nicht mehr an die Gesamtheit des Nicht-Bewussten, sondern nur noch an jenen Teil des Nicht-Bewussten, der für das ›psychologische Leben‹ von Interesse ist.« 55 cience d’une pierre qui tombe est une conscience nulle : la pierre n’a aucun sentiment de sa chute. En est-il de même de l’inconscience de l’instinct dans les cas extrêmes où l’instinct est inconscien ? – EC 617 | 144 f. | 148 54 Vgl. Anm. 17. 55 Toutes les discussions que soulève la question de l’inconscient me paraissent graviter autour d’une difficulté centrale, qui tient à ce que le terme « inconscient » est un terme négatif. L’inconscient, au sens propre du mot, serait simplement le non-cons-

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In diesem Diskussionsbeitrag geht Bergson von dem Umstand aus, dass inconscient – ebenso wie »unbewusst«, unconscious usw. – ein negativer, d. h. verneinender Begriff ist. Als primäres, mit einer positiven Bedeutung versehenes Wort muss, wenn man von der Sprache her argumentiert, »bewusst« angesehen werden, während »unbewusst« lediglich sekundär eine Defizienz bezeichnet. Eine solche Auffassung passt auch vorzüglich zu dem fehlenden Bewusstsein, das im vorhergehenden Zitat den unbelebten Dingen zugesprochen wurde. Sie passt aber nicht zu demjenigen Unbewussten, von dem die Psychologen sprechen. Obwohl nämlich das psychologische Unbewusste negativ als Fehlen von prinzipiell möglichem Bewusstsein betrachtet werden kann, weist es auch noch eine andere, positive Seite auf: »Wenn man Betrachtungen dieser Art nicht berücksichtigen will, müsste man behaupten, dass es außerhalb der im strengen Sinne bewussten Zustände nur rein physiologische Zustände gibt. Aber diese Position scheint mir nicht mehr haltbar, seit man all das kennt, was die Phänomene der Hypnose, der Verdoppelung der Persönlichkeit usw. an positivem, und das heißt: beobachtbarem Unbewussten mit sich führen. Herr Binet hat gerade zwischen dem ›statischen‹ und dem ›dynamischen‹ Unbewussten unterschieden. Angenommen, man bestreitet das erstere oder, mit anderen Worten, man identifiziert es mit dem rein Physiologischen – wie kann man das zweite bestreiten? Es verhält sich jedenfalls so, als ob es urteilte, überlegte, fühlte, wollte, und man sieht nicht, wie ein rein physiologischer Vorgang derartige Operationen auch nur entfernt nachahmen könnte.« 56

cient et comprendrait tout ce qui n’est pas conscient. Mais l’extension du terme serait alors illimitée. Il y faudrait mettre la totalité du réel et du possible, abstraction faite des taches de conscience dont la réalité nous paraît être, çà et là, saupoudrée. Mais si l’inconscient est ainsi, en droit, quelque chose de purement négatif, en fait, le psychologue détermine positivement cet inconscient quand il en parle. Il ne pense plus à la totalité du non-conscient, mais seulement à cette partie du non-conscient qui intéresse la « vie psychologique ». – Mél. 805 | Dwelshauvers[1910] 33 – Mit Dwelshauvers [1910] und gegen Mél. lese ich taches (statt tâches) de conscience. 56 Si l’on ne veut pas tenir compte de considérations de ce genre, on devra soutenir qu’en dehors des états proprement conscients il n’y a que des états purement physiologiques. Mais cette position ne me paraît plus tenable depuis que l’on sait tout ce que les phénomènes d’hypnose, de dédoublement de la personnalité, etc., comportent d’inconscient positif, je veux dire observable. M. Binet faisait tout à l’heure une distinction entre l’inconscient « statique » et l’inconscient « dynamique ». A supposer qu’on nie le premier, ou que, en d’autres termes, on l’identifie avec le physiologique pur, comment nier le second ? Il procède en tout cas comme s’il jugeait, raisonnait, sentait, voulait, et l’on ne voit pas comment un processus purement physiologique pourrait imiter, même de loin, de pareilles opérations. – Mél. 810 | Dwelshauvers[1910] 45

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Wenn der Psychologe vom »Unbewussten« spricht, dann will er nicht lediglich darauf aufmerksam machen, dass da etwas (das Bewusstsein) fehlt. Er will auch – und wohl vor allem – darauf hinweisen, dass es da etwas gibt: ein Geschehen, einen Vollzug, eine Leistung. Das psychologische Unbewusste ist Ursprung von Aktivität. Das heißt zunächst einmal, dass die vom Psychologen beobachteten und auf das Unbewusste zurückgeführten Vorgänge nicht – wie etwa das Fallen des Steins – von außen angestoßen werden und unpersönlichen Gesetzen gehorchen. Sie entspringen – wie sehr bewusste Wesen sie auch als ein Anderes und Fremdes empfinden mögen – aus dem Lebewesen selbst. Zudem aber erweist sich das, was diese Vorgänge in Gang bringt, als bewusstseinsanalog: »Es verhält sich, als ob es urteilte, überlegte, fühlte, wollte«. Durch diese positive Bestimmung entsteht ein Bruch im Reich des Nicht-Bewussten. Das psychologische Unbewusste – mag es in gewisser Hinsicht auch zur Menge dessen gehören, dem Bewusstsein mangelt – ist etwas Anderes als die Fühlund Bewusstlosigkeit der Steine. Aufgrund dieser Beobachtung verliert in der zuletzt zitierten Passage die negativ bestimmte Gemeinsamkeit (fehlendes Bewusstsein) an Bedeutung. Dafür rückt nun die Verschiedenheit – dort nur Mangel, hier eine positiv bestimmbare Leistung – in den Vordergrund, und so wird letztlich das Zwei-Schichten-Modell (in sich differenziertes Unbewusstes einerseits, Bewusstsein andererseits) gesprengt und durch ein Drei-Schichten-Modell ersetzt: In der – nach gängiger Anordnung – untersten Schicht trifft man nun die materiellen Dinge, denen das Bewusstsein völlig fehlt. In der obersten Schicht zeigt sich das bewusste Vorstellen und Denken. Und das seelische Unbewusste tritt als eigene, in der Mitte angesiedelte Schicht auf. Dieses Drei-Schichten-Modell lässt deutlich die doppelte polemische Ausrichtung erkennen, die das Konzept des Unbewussten prägt. Betrachtet man nur die unterste und die oberste Schicht, so hat man es mit dem cartesischen Dualismus von res extensa und res cogitans zu tun. Die res extensae sind materielle Dinge im Raum, denen jegliches Bewusstsein mangelt. Die res cogitantes vollziehen bewusstes Denken, das sich selbst rein und vollständig erfasst. Es gibt in diesem Modell keine Stufen des Bewusstseins. 57 Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, erweist sich die These vom seelischen Unbewussten als anti-cartesianische These. Sie bestreitet, dass es Be57

Dies betont auch Dwelshauvers[1916] 3.

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Erweiterung des Hermeneutikbegriffs

wusstsein nur ganz oder gar nicht gibt. Dass in dem alternativen Modell zwischen materielle Dinge und Bewusstsein eine zusätzliche Schicht der unbewussten seelischen Zustände und Vorgänge eingeschoben wird, besagt: Materie und Bewusstsein stellen nicht zwei distinkte Bereiche des Seins dar. Sie treten – teils sich ergänzend, teils sich behindernd – miteinander in Verbindung. Deshalb gibt es Grade des Bewusstseins. Deshalb gibt es – im Bereich der Evolution des Lebendigen ebenso wie im Bereich der Ausdifferenzierung verschiedener Kulturen und im Bereich der Bildung einzelner Individuen – Entwicklung und Entfaltung des Bewusstseins. Deshalb gibt es freilich auch verfehltes und verdrängtes Bewusstsein. Kurz: Deshalb ist Bewusstsein nicht Gabe, sondern Aufgabe. Die andere Frontstellung, die das Konzept des Unbewussten prägt, kommt im dritten Bergson-Zitat deutlich zum Ausdruck. Die vom Unbewussten verursachten Verhaltensweisen dienen aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit bewusst gesteuertem Verhalten den Verteidigern des Geistes als Argument gegen einen Naturalismus, der jegliches Verhalten der Lebewesen – und am liebsten auch noch das menschliche Bewusstsein – auf physiologische Vorgänge reduzieren möchte. Das ist genau jene Debatte, in der Bergson an der Seite Diltheys steht. 58 Während aber Dilthey die Möglichkeit von eigenständigen Geisteswissenschaften durch Berufung auf Kultur und Geschichte zu verteidigen sucht, gehen Bergson und die ähnlich wie er argumentierenden Verfechter einer »Wissenschaft vom Geist« 59 zum Angriff über. Sie verlegen die Frontlinie tief ins Reich der Biologie hinein, indem sie auf Vorgänge verweisen, die bewusst gesteuerten Handlungen ähneln. In diesem Kontext bekommt das Wort »positiv« eine zweite, zusätzliche Bedeutung. Es bedeutete bisher – und bedeutet auch weiterhin –, dass das Unbewusste bei lebenden Wesen mehr ist als nur die für unbelebte Dinge charakteristische Abwesenheit von Bewusstsein. Wenn Bergson davon spricht, dass die Phänomene, in denen das Unbewusste sich darstellt, »positives Unbewusstes« sind, dann will er das Wort aber auch in dem Sinne verstanden wissen, in dem man von »Positivismus« spricht: Bei jenen Phänomenen handelt es sich nicht um – in irgendeiner Innenwelt Dieser Punkt wird in Abschnitt 4.2.1, S. 468, genauer ausgeführt. Ainsi se constituera une science de l’esprit, une métaphysique véritable, qui définira l’esprit positivement au lieu de nier simplement de lui tout ce que nous savons de la matière. – PM 1320 | 85 | 97

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angesiedelte – persönliche Erfahrungen, sondern um beobachtbare Tatsachen im Sinne der Naturwissenschaft (d’inconscient positif, je veux dire observable). Zugleich aber werfen sie die Frage nach einer angemessenen Interpretation auf, denn die in diesen Phänomenen zum Ausdruck kommende steuernde Kraft ähnelt in vielerlei Hinsicht dem Bewusstsein, »und man sieht nicht, wie ein rein physiologischer Vorgang derartige Operationen auch nur entfernt nachahmen könnte«. Man könnte vielleicht zugestehen, dass die unter dem Oberbegriff »statisches Unbewusstes« 60 zusammengefassten Phänomene (Gewohnheiten, Automatismen) rein physiologisch erklärbaren Vorgängen nahekommen, aber eine angemessene Beschreibung der Phänomene des dynamischen Unbewussten (Ahnung, Phantasie usw.) erfordert andere Kategorien. Nun kann aber das seelische Unbewusste all das, was es im Kontext dieser Polemiken leisten soll, offenkundig nur leisten, wenn es nicht als ein eigenes, vom Bewusstsein verschiedenes Prinzip der Handlungssteuerung gedacht wird. Ein vom Bewusstsein verschiedenes Unbewusstes könnte keine Stufen des Bewusstseins begründen, und ein Unbewusstes, das Bewusstsein nur »nachahmt«, würde die Verfechter einer naturalistisch-reduktionistischen Deutung des Geistes nicht ernsthaft in Schwierigkeiten bringen. Das Unbewusste kann die ihm zugedachte Aufgabe nur dann übernehmen und erfüllen, wenn es nicht das Andere des Bewusstseins, sondern anderes Bewusstsein ist. Anders formuliert: Das Drei-Stufen-Modell, das fehlendes Bewusstsein, Unbewusstes und Bewusstsein unterscheidet, dürfte lediglich ein Übergang sein zwischen einem Zwei-Stufen-Modell, das an der Sprache, und einem anderen, das an der Sache orientiert ist. Das erste Zwei-Stufen-Modell ging von dem Umstand aus, dass wir sowohl das Fallen eines Steines wie auch die instinktive Handlung eines Tieres oder die gewohnheitsmäßige Handlung eines Menschen als »unbewusst« bezeichnen können. Daraus ergab sich die Gegenüberstellung von Unbewusstem und Bewusstsein, wobei das Unbewusste noch einmal in fehlendes Bewusstsein und seelisches Unbewusstes unterschieden wurde. Das neue, der Sache angemessene Zwei-Stufen-Modell würde den externen Ursachen und dem fehlenden Bewusstsein der materiellen Dinge die interne Dynamik und

Zur Unterscheidung zwischen statischem und dynamischem Unbewusstem vgl. Abschnitt 2.3.2, S. 267.

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Handlungssteuerung der Lebewesen gegenüberstellen, im Reich des Lebendigen aber noch einmal ein Vor- oder Unbewusstes und ein Bewusstsein im eigentlichen Sinne unterscheiden. Denkt Bergson das Verhältnis von Unbewusstem und Bewusstsein so? Um zu zeigen, dass das in der Tat der Fall ist, seien hier noch zwei kurze Textpassagen herangezogen. Die eine dieser beiden Passagen ist schlicht die Fortsetzung des bereits als erstes Zitat angeführten Textes. Bergson hatte zwischen dem fehlenden Bewusstsein des fallenden Steines und dem vernichteten oder verhinderten Bewusstsein der instinktiven oder der gewohnheitsmäßigen Handlung unterschieden. Er fährt fort: »Wenn wir mechanisch eine gewohnte Handlung vollbringen, wenn der Somnambule seinen Traum automatisch aufführt, kann die Bewusstlosigkeit vollkommen sein, rührt aber dieses Mal einzig daher, dass die Vorstellung der Tat durch die Tat selbst in Schach gehalten wird, weil diese Tat der Vorstellung so ganz und gar gleicht, sich ihr so völlig einfügt, dass kein Bewusstsein mehr überstehen kann. Die Vorstellung ist durch die Handlung wie zugepfropft. Beweis dafür ist, dass das Bewusstsein hervorbrechen kann, sobald nur die Handlung durch Hindernisse aufgehalten oder sonst wie gehemmt wird. Es war also da, war bloß neutralisiert durch die das Vorstellen ausfüllende Handlung. Das Hindernis hat nichts Positives geschaffen, hat nur einen leeren Raum freigelegt, hat nur ein Ausflussrohr geöffnet. Eben diese Inadäquatheit von Tat und Vorstellung aber ist es, die wir Bewusstsein nennen.« 61

Bergson unterscheidet, verbindet aber auch Handlung und Vorstellung. Lebewesen sind handelnde Wesen, d. h. Wesen, die sich in und zu ihrer Umwelt verhalten, und Handlungen sind geleitet von Vorstellungen. Die handlungsleitenden Vorstellungen nun können unausdrücklich bleiben oder ausdrücklich werden. Ersteres ist der Fall,

Quand nous accomplissons machinalement une action habituelle, quand le somnambule joue automatiquement son rêve, l’inconscience peut être absolue ; mais elle tient, cette fois, à ce que la représentation de l’acte est tenue en échec par l’exécution de l’acte lui-même, lequel est si parfaitement semblable à la représentation et s’y insère si exactement qu’aucune conscience ne peut plus déborder. La représentation est bouchée par l’action. La preuve en est que, si l’accomplissement de l’acte est arrêté ou entravé par un obstacle, la conscience peut surgir. Elle était donc là, mais neutralisée par l’action qui remplissait la représentation. L’obstacle n’a rien créé de positif ; il a simplement fait un vide, il a pratiqué un débouchage. Cette inadéquation de l’acte à la représentation est précisément ici ce que nous appelons conscience. – EC 617 | 145 | 148 f.

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2 · Handlungshermeneutik: Das Unbewusste und das Bewusstsein

wenn die Vorstellung vom Handlungsziel und vom Handlungsverlauf sich – wie bei der instinktiven oder gewohnheitsmäßigen Handlung, aber auch in den von Bergson angeführten Fällen der Hypnose und des Schlafwandelns – vollständig mit dem Vollzug deckt. Die handlungsleitende Vorstellung bleibt dann unbewusst, während die Handlung als solche in Erscheinung tritt. Ausdrücklich werden handlungsleitende Vorstellungen nur dann, wenn sie nicht problemlos mit dem Vollzug in Einklang gebracht werden können bzw. wenn der Vollzug auf ein Hindernis stößt. Das kann geschehen, weil sich angesichts einer gegebenen Situation mehrere Handlungsoptionen anbieten, so dass ein Abwägen und Entscheiden notwendig wird, oder auch deshalb, weil eine Situation nur teilweise zu einem verfügbaren Handlungsmuster passt, daneben aber auch Aspekte aufweist, die eine Modifikation der verfügbaren Vollzugsform verlangen. In solchen Fällen werden die handlungsleitenden Vorstellungen bewusst. Die Vorstellung ist also für Bergson nicht notwendigerweise bewusst. Es gibt seiner Ansicht nach auch unbewusste Vorstellungen 62, die – wie er sich seit Matière et mémoire ausdrückt – nur in der Handlung »gespielt« werden 63. Bewusstsein im strengen Sinne dagegen erfordert, dass die Vorstellungen als Vorstellungen thematisch werden, wie es etwa beim Abwägen unterschiedlicher Handlungsziele oder Handlungsweisen geschieht. Dieser kurze Text hat gewaltige Konsequenzen. Die erste wird sichtbar, wenn man eine Verbindung herstellt zwischen der »Inadäquatheit« von Akt und Vorstellung, die Bergson hier erörtert, und der »Inkommensurabilität« von Intuition und sprachlichen Darstellungsmitteln, die wir im ersten Kapitel 64 als eine von mehreren Erscheinungsformen der Nicht-Übereinstimmung kennengelernt hatten. Schon dort hatte sich gezeigt, dass die Intuition unbewusst bleiben muss, wenn sie sich nicht – aller Inkommensurabilität zum Trotz – auf die Sprache einlässt. Ohne die aus der Inkommensurabilität resultierende Anstrengung der sprachlichen Darstellung kann der Philosoph nicht zum Bewusstsein seiner Intuition gelangen. Ebenso bildet nun auch hier die Inadäquatheit von Akt und Vorstellung die Voraussetzung dafür, dass der Handelnde der »Selbstver-

62 63 64

Vgl. das Zitat Anm. 9. Vgl. dazu Abschnitt 4.2.2.2, S. 490. Abschnitt 1.2.2, S. 66.

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Erweiterung des Hermeneutikbegriffs

gessenheit« des Handelns 65 entrinnen kann. Will man es ein wenig – aber auch nur ein wenig – überspitzt formulieren, so kann man sagen: Im Gegensatz zu einer Tradition, die die adaequatio als das entscheidende Merkmal bewussten Denkens betrachtete, betont Bergson zunächst einmal die inadéquation. Was auch immer am Ende über Aspekte wie Richtigkeit und Wahrheit des Denkens zu sagen sein mag – zunächst einmal gilt es festzuhalten, dass die Nicht-Übereinstimmung als erzwungene oder gewollte Distanzierung vom selbstvergessenen, d. h. unbewussten Vollzug die conditio sine qua non jeglichen Bewusstseins darstellt. Die zweite Konsequenz besagt, dass Unbewusstes und Bewusstsein sich nur dann unterscheiden lassen, wenn man das Handeln berücksichtigt, und dass das Wesen des Bewusstseins nur im Kontext des Handelns verständlich wird. Bergson macht also Ernst mit der Forderung, den ganzen Menschen in die Betrachtung einzubeziehen. Der Mensch ist kein frei schwebendes Bewusstsein, das irgendwelche Ideen arrangiert. Er ist zunächst einmal – wie die Pflanze und das Tier auch – ein in der Welt befindliches, auf die Welt hin ausgerichtetes und sich handelnd mit der Welt auseinandersetzendes Wesen. Bergson betont immer wieder, dass das für den Menschen charakteristische bewusste Denken – die Intelligenz – nicht einem Willen zur Spekulation, sondern den Notwendigkeiten des Handelns entsprungen ist. Wir haben es also mit einer Philosophie zu tun, die in eine Reihe mit den Philosophien Heideggers (In-der-Welt-Sein) oder Merleau-Pontys (être au monde) zu stellen ist. Und hier liegt auch der entscheidende Grund dafür, dass wir – auf der Suche nach dem Hermeneutischen in Bergsons Philosophie – nicht bei der Texthermeneutik stehenbleiben dürfen, sondern nach einem Konzept suchen müssen, das die Hermeneutik aus der Notwendigkeit und dem Willen zur Erhellung der selbstvergessenen Vollzüge des in der Welt lebenden Menschen entspringen lässt. Besagt die zweite Konsequenz, dass selbst das Bewusstsein des Menschen nicht aus dem Kontext des handelnden In-der-Welt-Seins herausgelöst werden darf, so fordert die dritte Konsequenz umgekehrt, noch den Vollzügen der primitivsten Lebewesen so etwas wie Vorstellung und Bewusstsein zuzusprechen. Ziehen wir an dieser Stelle eine zweite kurze Textpassage heran, die zeigt, wie weit Bergson in dieser Hinsicht geht: 65

Buck[1981] 28

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2 · Handlungshermeneutik: Das Unbewusste und das Bewusstsein

»Ich sage ›lebendig und bewusst‹, denn ich bin der Überzeugung, dass das Lebendige wenigstens de jure bewusst ist; es wird da unbewusst, wo das Bewusstsein gleichsam einschläft […].« 66

Diese These möchte Bergson nicht – oder jedenfalls: nicht ausschließlich – als eine metaphysische verstanden wissen. Im zweiten Kapitel von L’évolution créatrice bemüht er sich darum, sie mit den Mitteln, die die Naturwissenschaften seiner Zeit – von der Physik bis zur Evolutionstheorie – zur Verfügung stellten, zu formulieren. Er beschreibt dort das Lebewesen als ein »System«, das aus seiner Umwelt Energie aufnimmt, diese speichert und sie zu gegebener Zeit auf eine für es vorteilhafte Weise wieder verausgabt. Indem ein Lebewesen all dies tut, gerät es in eine eigentümliche Situation. Auf der einen Seite nämlich bleibt es der materiellen Welt, aus der es hervorgegangen ist, verhaftet, insofern es die Energie in Form von Nahrung aus ihr gewinnen und sie als Reaktion auf bestimmte Konstellationen in ihr wieder verausgaben muss. Auf der anderen Seite aber grenzt es sich als eigenständiges Gebilde von ihr ab, ja konstituiert sich geradezu im und als Gegensatz zu den in ihr geltenden Gesetzen. Als System, das von sich aus Energie aufnimmt und speichert, ist jedes Lebewesen der Gestalt gewordene Widerstand gegen das Prinzip zunehmender Entropie. Als System, das diese Energie nach seinen eigenen Kriterien wieder verausgabt, schafft es zunächst einmal eine »Zone der Unbestimmtheit«, in der die Gesetze der Materie zumindest teilweise ihre Gültigkeit verlieren, um dann innerhalb dieser Zone seine eigenen Vorstellungen durchzusetzen. 67 Wenn aber einerseits Lebewesen nicht zufällig und gelegentlich, sondern grundsätzlich und wesentlich als Nicht-Übereinstimmung mit den für die Materie geltenden Gesetzmäßigkeiten betrachtet werden müssen, und wenn andererseits Nicht-Übereinstimmung der Anfang von Bewusstsein ist, dann ist Leben grundsätzlich und wesentlich Bewusstsein. Nun lässt sich diese kühne und schwierige These gewiss durch die wenigen hier angeführten Hinweise allein nicht hinreichend plausibel oder auch nur verständlich machen. Wir werden deshalb später auf sie zurückkommen müssen. 68 Halten wir aber fest, was schon jetzt Je dis vivants et conscients, car j’estime que le vivant est conscient en droi ; il devient inconscient en fait là où la conscience s’endort […]. – PM 1332 | 100 f. | 111 67 MM 181–192 | 27–40 | 16–27 – Die zones oder centres d’indétermination sind so zugleich centres d’action réelle. 68 Abschnitt 2.3.1, S. 245, kann als Fortsetzung des hier Ausgeführten gelesen werden. 66

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deutlich ist: Bergson behauptet selbstverständlich nicht, jedes Lebewesen verfüge über ein Bewusstsein, das demjenigen des Menschen gleicht. Leben ist Bewusstsein – aber nur de jure. De facto finden wir bei verschiedenen Arten von Lebewesen unterschiedliche Gestalten des Bewusstseins, und wir finden, dass Bewusstsein entwickelt werden oder auch »einschlafen« kann. Aber genau deshalb braucht Bergson ein Unbewusstes, und zwar näherhin ein psychisches Unbewusstes, dem nicht die Klarheit und Ausdrücklichkeit des menschlichen Bewusstseins eignet, das sich aber dennoch »so verhält, als ob es urteilte, überlegte, fühlte, wollte«, kurz: das bewusstseinsanaloge Leistungen vollbringt. Dieses Unbewusste, das nicht mit dem fehlenden Bewusstsein der leblosen Dinge, sondern mit dem bewussten Wollen und Denken des Menschen verwandt ist, ermöglicht es Bergson, Stufen des Bewusstseins, d. h. Grade der Ausdrücklichkeit zu thematisieren.

2.1.4 Exkurs: Vom Text zur Handlung Wir haben dieses Kapitel mit einer aus zwei Hauptbegriffen zusammengefügten Konstellation begonnen, indem wir uns vornahmen, nach dem allgemeinen, über das Beispiel der philosophischen Intuition und auch über den Bereich der Texthermeneutik hinausgehenden Zusammenhang zwischen der Hermeneutik und dem Unbewussten zu suchen. Diese Konstellation musste erweitert werden, als der Begriff des Bewusstseins ins Spiel kam – eine Erweiterung, die sich bei der Betrachtung der Schichtenmodelle bereits als fruchtbar erwiesen hat, von der wir annehmen dürfen, dass sie noch zu weiteren interessanten Ergebnissen führen wird, da ja das Verstehen gemeinhin als Bewusstmachung von Unbewusstem betrachtet wird (Besser-Verstehen), die aber gleichwohl nicht eben eine Überraschung darstellt, insofern das Unbewusste als Gegenbegriff zum Bewusstsein zumindest sprachlich an dieses gebunden ist. Schließlich erwies es sich als notwendig, den Begriff der Handlung als einen weiteren Hauptbegriff zu berücksichtigen. Nachdem sich schon in Abschnitt 2.1.2 – etwa durch Diltheys Rede vom »unbewussten Schaffen«, Simmels Gegenüberstellung von »sichtbaren Handlungen« und »unbewussten Zwecken«, Rancières Verschränkung von »bedingungsloser Produktion« und »absoluter Passivität« – ein Übergang »vom Text zur

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Handlung« 69 angekündigt hatte, zeigte sich in Abschnitt 2.1.3, dass die Bedeutung von »Bewusstsein« und »Unbewusstem« sich nur im Kontext des Handelns klären lässt. Die Vermutung liegt also nahe, dass wir das Handeln als den gesuchten erweiterten Gegenstandsbereich der Hermeneutik betrachten dürfen und dass die Annahme, »Hermeneutik« sei als »Handlungshermeneutik« zu fassen, insbesondere auf die Texte Bergsons sehr viel besser passen, sie uns in deutlich größerem Umfang erschließen würde, als dies auf der Basis der Voraussetzung »Hermeneutik = Texthermeneutik« möglich war. Nun bewegen wir uns, wenn wir Hermeneutik als Handlungshermeneutik zu fassen versuchen, glücklicherweise nicht auf völligem Neuland. Handlungen wurden ebenso wie Texte seit jeher als paradigmatische Gegenstände des Verstehens aufgefasst. 70 Orientieren sich die historisch und/oder philologisch arbeitenden Geisteswissenschaften eher am Modell der Texthermeneutik, so tendieren auf direkter Beobachtung basierende Wissenschaften wie die verstehenden Sozialwissenschaften oder die Pädagogik zur Ausarbeitung von Handlungshermeneutiken. Man kann vielleicht feststellen, dass die Existenz einer Handlungshermeneutik weniger stark ins allgemeine Bewusstsein gedrungen ist wie die Existenz einer Texthermeneutik, aber man wird niemandem erklären müssen, was es bedeutet, eine Handlung zu verstehen, und warum diese Fähigkeit für menschliches Leben unverzichtbar ist. Wenn ich gleichwohl hier noch einige Anmerkungen anfüge, so deshalb, weil ich versuchen möchte, Missverständnisse zu vermeiden, die sich aus der Kombination der Worte »Handlung« und »Hermeneutik« ergeben könnten. (1) Zunächst einmal mag das Wort »Handlung« an Handlungstheorien denken lassen, die auf dem Modell des über Ziele und Mittel rational entscheidenden homo oeconomicus oder auf dem Modell der Orientierung an bewussten Werten aufbauen. 71 Otto Friedrich Bollnow hat bereits darauf hingewiesen, dass lebensphilosophische Handlungstheorien wie diejenige Bergsons geradezu die Umkehrung dieser gängigen Ansätze darstellen: »Wenn wir landläufig von ›Theorie und Praxis‹ sprechen, so deutet schon die Reihenfolge der Wörter eine Reihenfolge in den Sachen selber an. Erst So der Titel einer von Paul Ricœur herausgegebenen Sammlung eigener Aufsätze (Ricœur[1986]). 70 Angehrn[2004] 62 71 Joas[1996] 11 ff. 69

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die Theorie, dann die Praxis. Alle Praxis ist letztlich angewandte Theorie. Erst müssen wir richtig erkennen, um dann mit Hilfe des richtig Erkannten auch zweckmäßig zu handeln. […] Bergson aber kehrt das Verhältnis um: Das Handeln, das Handeln-wollen und Handeln-müssen, ist das Primäre. Das Erkennen wird notwendig, wo beim Handeln auftretende Schwierigkeiten dazu zwingen.« »Der Mensch ist erst ein handelndes Wesen, ehe er ein erkennendes Wesen ist, und vom Verständnis der Handlung her muss das Verständnis der Erkenntnis entwickelt werden. Das heißt mit andern Worten: von der Theorie muss zurückgegangen werden auf die Praxis, und von dieser her muss die Theorie verstanden werden. Wir können das als den allgemeinen lebensphilosophischen Standpunkt bezeichnen, der das Erkennen als eine Funktion im Leben begreift.« 72

Dass wir es hier nicht mit einer Bergson eigentümlichen Auffassung zu tun haben, macht Bollnow plausibel, indem er Dilthey, Dewey und Heidegger zum Vergleich heranzieht, also über die Grenzen der Lebensphilosophie im strengen Sinne sogar hinausgeht. Bei Dilthey stößt er auf die Lehre vom ›Untergrund des Lebens‹ 73, der allem bewussten Denken und Wollen zugrunde liegt. Es ist dies eine ursprüngliche Schicht des Weltverhältnisses, in der Menschen und gegebenenfalls auch Dinge als förderliche oder behindernde Kräfte begegnen, in der gegenständliches Denken, gefühlsmäßige Bewertung und praktische Reaktion also noch verbunden sind und aus der ›Auffassen, Wertgeben, Zwecksetzen‹ als getrennte Typen des – wie Dilthey bemerkenswerterweise formuliert – ›Verhaltens‹ erst hervorgehen. 74 Bei Dewey entspricht diesem ursprünglichen Weltverhältnis das unproblematische, durch Gewohnheiten gesteuerte Leben. Die Gewohnheiten können freilich so starr werden, und das Individuum kann sich durch sie so sehr eingeengt fühlen, dass es sich zur Wehr setzt. In einer solchen Situation macht sich zunächst ein triebähnlicher Impuls bemerkbar, der der Gegenwehr die nötige Energie liefert. Alsbald aber kommt ihm die Intelligenz zu Hilfe und sucht nach neuen Verhaltensmustern. Bollnow fasst zusammen: »Die Störung« – und man müsste betonen: erst die Störung – »der Gewohnheit beBollnow[1981] 37–39 Ich benutze die Form ›…‹, um Formulierungen der von Bollnow behandelten Philosophen zu kennzeichnen, Formulierungen mithin, die bereits bei Bollnow als Zitate auftreten. Die Form »…« kennzeichnet dagegen von Bollnow selbst stammende Formulierungen. 74 A. a. O., 32–35 72 73

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deutet also die Geburt des Bewusstseins.« 75 Bei Heidegger schließlich verweist Bollnow auf die in »Sein und Zeit« vorgetragene Analyse des ›besorgenden Umgangs‹ mit dem ›Zeug‹, eine vorreflexive Form des Hantierens mit Materialien und Werkzeugen, in der sich der Mensch ›schon immer befindet‹. Das ›Zeug‹ bleibt unthematisch, unauffälliges ›Zuhandenes‹, und dieser Zustand ändert sich erst, wenn es, weil beschädigt oder nicht am erwarteten Platz auffindbar, ›auffällt‹. Auch hier also das vertraute Muster: Die »Störung des gewohnten Ablaufs« führt dazu, »dasjenige sichtbar zu machen, was im ungestörten Zustand, eben weil es selbstverständlich war, gar nicht bemerkt werden konnte«. Die Störung des selbstvergessenen, unreflektierten Vollzuges macht eine Nicht-Übereinstimmung bewusst und stößt Reflexion an. 76 Zusätzlich zu den von Bollnow genannten könnte man auf neuere Autoren wie Georg Hans Neuweg und Christine Klappacher verweisen, die, aufbauend auf Michael Polanyis These vom »impliziten Wissen«, zwischen einem cognitive view und einem tacit knowing view unterscheiden. Unter Anhängern des cognitive view werden dabei Autoren verstanden, die annehmen, »dass das Wissen dem Können vorausgeht. Wer also etwas kann, verfügt auch über das entsprechende Wissen, da es als Basis für die ausgeübte Kompetenz angesehen wird.« 77 Dabei ist mit »Wissen« explizites, bewusstes und sprachlich ausdrückbares Wissen gemeint. Nach Ansicht der Verfechter des tacit knowing view geht dagegen die Praxis der Theorie voraus und enthält stets implizites Wissen. Explizites Wissen wird nur dann erstrebt, wenn Probleme – d. h. Störungen der geläufigen Praxis – auftreten. 78 Allerdings interessieren sich Neuweg und Klappacher vor allem für den Umstand, dass implizites Wissen »nicht, nicht vollständig oder nicht angemessen artikulierbar« ist. 79 Die Frage, ob wir »etwas implizit Vorhandenes explizit machen können«, sei – so Klappacher – »falsch gestellt«, denn sie orientiere sich »am traditionellen Modell der Erkenntnistheorie, demzufolge eine äußere Handlung von einem inneren Vorgang begleitet und durch ihn ergänzt werden muss, damit überhaupt von einer Handlung, im Gegensatz zu bloßem

75 76 77 78 79

A. a. O., 40–44 A. a. O., 44–51 Klappacher[2006] 22 A. a. O., 15 A. a. O., 15

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Verhalten, die Rede sein kann«. Allenfalls könne man zugestehen, dass »es sprachliche Anschluss- oder Fortsetzungshandlungen gibt, die den nichtsprachlichen, impliziten Teil von Handlungen erhellen können«. 80 Anders Bollnow. Die Gedanken Diltheys, Bergsons, Deweys und Heideggers resümierend, charakterisiert er den ursprünglichen Lebensbezug durch ein »vorgängiges vages Verständnis«, aus dem die klare und bewusste Erkenntnis erst »entspringt«. 81 Die Aufgabe einer hermeneutischen Philosophie der Erkenntnis besteht dann darin, »das Hervorgehen der ausdrücklichen Leistungen aus diesem Untergrund zu verfolgen.« 82 Schließlich schreibt er: »Wir hatten mehrfach darauf aufmerksam gemacht, dass diese Grundschicht des Wissens, wenn auch nicht unbewusst im strengen Sinn, so doch in der Regel unbeachtet im Hintergrund bleibt und erst bei bestimmten Gelegenheiten in das Blickfeld der Aufmerksamkeit tritt. Dafür hat sich darum auch die Bezeichnung eines Vorverständnisses eingebürgert. Der Name Vorverständnis soll besagen, es ist ein Verständnis, das noch vor dem eigentlichen klaren und seiner selbst bewussten Verständnis liegt – eine noch unentfaltete Vorform des Verständnisses, die aber in dieser unentfalteten Form nicht weniger mächtig ist, sondern gerade hier im verborgenen ihre stärkste Wirksamkeit entfaltet.« 83

Damit wird der für unsere Untersuchung wesentliche Zusammenhang deutlich: Weil die Lebensphilosophie davon ausgeht, dass jedenfalls ein bedeutender Teil des realen, empirisch anzutreffenden Handelns nicht so zustande kommt, wie es das Modell des homo oeconomicus erwarten lässt, weil es vielmehr – in den Worten Max Webers – »in dumpfer Halbbewusstheit oder Unbewusstheit« sich vollzieht, ist so etwas wie Verstehen und Hermeneutik notwendig. Weil aber das lebensweltliche Handeln nicht schlechthin durch Dumpf- und Unwissenheit gekennzeichnet ist, sondern durch dumpfe Halbbewusstheit und Unbewusstheit »seines ›gemeinten Sinns‹«, und weil der Handelnde, auch wenn er »triebhaft oder gewohnheitsmäßig« handelt und den Sinn seiner Handlungen nicht deutlich vor Augen hat, ihn zumindest »unbestimmt ›fühlt‹« 84, ist so etwas wie Verstehen und Hermeneutik als Explikation des impliziten Wissens, als Denken des 80 81 82 83 84

A. a. O., 26 Bollnow[1981] 50 A. a. O., 48 A. a. O., 104 Weber(M)[1972] 10

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nur gespielten Wissens, als Ausdrücklich-Machen des nur geahnten Sinns möglich. Weil also unbewusstes – präziser: aus Bewusstheit und Unbewusstheit, Wissen und Nicht-Wissen, Produktivität (Eigeninitiative) und Passivität gemischtes – Handeln nicht als sinnloses, sondern nur als seines Sinnes sich nicht vollständig bewusstes Handeln zu fassen ist, kann das in der Handlung implizierte Verständnis als Vorverständnis betrachtet und die Bemühung um ein ausdrückliches Verstehen des im Vorverständnis Enthaltenen in Angriff genommen werden. (2) An dieser Stelle ist aber sofort eine zweite, gegen ein weiteres mögliches Missverständnis gerichtete Anmerkung erforderlich: Das ausdrückliche Verstehen darf nicht auf das Ausdrücklich-Machen eines unausdrücklich Vorhandenen oder das Versprachlichen eines in der Handlung vorsprachlich implementierten Sinnes beschränkt werden. So verstanden, ist Christine Klappachers Einwand gegen das Explizit-Machen eines implizit Vorhandenen vollkommen berechtigt. Ein derartiges Modell mag vor allem den historisch arbeitenden Geisteswissenschaften einigermaßen angemessen sein. Freuds Psychoanalyse aber bemüht sich gerade nicht um ein nachsichtiges, tolerantes oder mitleidig Anteil nehmendes Verstehen des Verhaltens der Patienten. Sie bemüht sich um das Verstehen eines Problems zum Zweck seiner Überwindung. Gleiches gilt für Bergsons Konzeption des Lachens, die besagt, dass das, was die Lachenden verstehen, gerade die Unangemessenheit einer Handlung ist, und dass sie durch das Lachen die ausgelachte Person auffordern, ihre Handlungsweise zu ändern. Und auch in all den von Bollnow herangezogenen Fällen, in denen die philosophische Analyse darauf hinausläuft, dass Bewusstsein entsteht, wenn das selbstvergessene Handeln auf ein Hindernis stößt, ist nicht zu erwarten, dass sich das Nachdenken darauf beschränken kann, den Sinn der fehlgeschlagenen Handlung zu ermitteln, sondern auch nach dem Grund des Fehlschlagens fragen sowie gegebenenfalls die Umwelt oder die eigene Handlungsweise verändern muss. Mit anderen Worten: Wenn wir als paradigmatische Situation, in der sich Verstehen ereignet, nicht einen gemütlichen Vorleseabend am winterlichen Kaminfeuer betrachten, sondern das Fehlschlagen einer vertrauten und gängigen Handlungsweise, das Scheitern, die Krise, dann werden wir damit rechnen müssen, dass die Frage nach dem Sinn auf eine Differenz stößt: auf die Differenz zwischen einem 170 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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»subjektiven« und einem »objektiven« Sinn 85 oder auf die Differenz zwischen einem in der gängigen Handlungsweise implementierten und einem »eigentlich gemeinten« Sinn. Wir werden damit rechnen müssen, dass Verstehen sich nicht nur als Tolerieren und Billigen äußert, sondern auch als Kritisieren und Überwinden. (3) Auch meine dritte Anmerkung verfolgt den Zweck, den Bereich der hermeneutisch relevanten Phänomene möglichst weit zu fassen, um nicht durch vorzeitige, unangemessene Einschränkungen in Schwierigkeiten zu geraten: Der Bereich der Handlungen, in denen wir erwarten, ein Vorverständnis anzutreffen, darf nicht auf die in der Kultur gespeicherten, durch die Tradition weitergegebenen menschlichen Verhaltensmuster oder gar auf das Agieren in einer »durch menschlichen Ordnungswillen gestalteten handwerklichtechnischen Welt« 86 beschränkt werden. Bereits bei Max Weber hatten wir neben dem »gewohnheitsmäßigen« Handeln, das diesen Bereich kennzeichnet, das »triebhafte« Handeln erwähnt gefunden. 87 Ohne die Berücksichtigung triebgesteuerter Handlungen, die nicht der gesellschaftlich, sondern der natürlich geprägten Schicht im menschlichen Individuum entspringen, wird man keinen Hermeneutikbegriff entwickeln können, der es erlaubt, Freuds Psychoanalyse in die Betrachtung einzubeziehen. Aber wir müssen noch einen Schritt weiter gehen: Nicht einmal die Beschränkung auf menschliches Handeln überhaupt – sei es nun gewohnheitsmäßig, triebhaft oder rational – würde der Sache gerecht werden. Eine derartige Einschränkung würde insbesondere das Verhalten der Tiere ausklammern. Nun hatten wir aber bereits am Ende von Abschnitt 2.1.3 festgestellt, dass Bergson noch den Vollzügen der primitivsten Lebewesen so etwas wie Vorstellung und Bewusstsein zuspricht; wir werden im weiteren Verlauf der Untersuchung feststellen, dass dem tierischen Instinkt eine zentrale Rolle bei der EntWagner[2001] 11 Bollnow[1981] 47 – Bollnow bezieht sich auf Heidegger, verweist aber an der zitierten Stelle explizit auch auf Bergson. Nun gibt es diese handwerklich-technische Welt, in der Natur nur im Hintergrund (als Bedrohung und Material) und bewusste Erkenntnis nur als naturwissenschaftliche Erkenntnis erscheint, bei Bergson durchaus. Wir werden sie in Kapitel 3 unter dem Titel einer »Welt des homo faber« genauer betrachten. Aber man würde, wie die nachfolgenden Kapitel zeigen werden, nur die unvollkommensten und unbefriedigendsten Anfänge des Hermeneutischen zu Gesicht bekommen, wenn man sich auf diesen Bereich beschränkte. 87 Vgl. Anm. 84. 85 86

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faltung von Bergsons Hermeneutikkonzept zukommt 88; schließlich wird man feststellen müssen, dass die Lebensphilosophie überhaupt darum bemüht ist, die Kultur in die Natur zu integrieren, d. h. Natur und Kultur als Einheit zu denken. 89 Aber nicht nur aus der philosophiegeschichtlichen Perspektive ist eine strikte Grenzziehung fragwürdig: Läge den Bewegungen, die wir bei Pflanzen und Tieren beobachten, keinerlei implizites Wissen zugrunde, so müssten sie uns als vollkommen sinnlos erscheinen. Dies ist aber nicht der Fall. Es ist nicht zu übersehen – und in einem der kurzen Zitate von Christine Klappacher wurde ja auch bereits darauf hingewiesen –, dass der Bereich, den ich hier ins Spiel bringe, sich nicht gut mit gewissen Verwendungsweisen des Begriffs »Handlung« verträgt, die das entscheidende Kriterium im bewussten Charakter des Vollzugs sehen. Wenn ich gleichwohl nicht nach einem anderen Wort AusVorbereitend Abschnitt 2.3.1.3, S. 256, dann vor allem Abschnitt 5.2.2, S. 575. Man hat sich daran gewöhnt, die Lebensphilosophie in eine biologisch (Hauptvertreter: Bergson) und eine historisch orientierte Spielart (Hauptvertreter: Dilthey) einzuteilen (so z. B. Pflug[1980]). Diese Auffassung scheint mir weder gut begründet noch interpretatorisch fruchtbar zu sein. Zunächst einmal lassen sich die Vertreter der vermeintlich nur historisch orientierten Lebensphilosophie auch ganz anders interpretieren. So vertritt etwa Matthias Jung die Ansicht, eine derartige Dilthey-Lektüre sei die Folge einer »desaströs verlaufenen Rezeptionsgeschichte«. In Diltheys Denken gebe es, wie in jeder anderen Lebensphilosophie auch, einen »Brückenschlag zur Biologie«, das »Projekt einer Kontextualisierung des menschlichen Lebens im biologischen Rahmen« (Jung(M)[2009] 125 ff.). Sodann empfiehlt es sich, zwischen zwei verschiedenen Argumentationsbewegungen innerhalb einer jeden Lebensphilosophie (statt zwischen verschiedenen Arten der Lebensphilosophie) zu unterscheiden: Einerseits bemüht sich jede Lebensphilosophie darum, zu zeigen, dass und wie Intelligenz, Sprache, Kultur usw. aus dem natürlichen Substrat hervorgehen und gleichwohl diesem Substrat verhaftet bleiben. Aus diesem Ansatz entspringt aber kein harmonisierendes oder gar naturalisierendes Gesamtbild, weil andererseits in einer Gegenbewegung der Theorie, die eine Gegenbewegung in der Sache aufnimmt, gezeigt wird, dass diese dem natürlichen Substrat entsprungenen Instanzen sich verselbständigen und sich gegen die Natur richten können. Nietzsches Kritik des »logischen Sokratismus« (in der »Geburt der Tragödie«), sein Verdacht, das überbordende historische Wissen lähme die Kreativität (in der zweiten »Unzeitgemäßen Betrachtung«), Bergsons These von der zerstörerischen, in den Egoismus treibenden Wirkung der Intelligenz (im zweiten Kapitel von Les deux sources) sowie Klages’ Gedanke vom »Geist als Widersacher der Seele« sind verschiedene Variationen dieses einen Themas. Man verpasst die Pointe – dass nämlich das Leben mit sich selbst in Widerspruch gerät – und man verkennt die Komplexität der Lebensphilosophie – die hier Einheit und Gegensätzlichkeit zusammenzudenken versucht –, wenn man sich, peinlich berührt, von Klages’ »Irrationalismus« abwendet, Dilthey zu einem reinen Geschichts- und Bergson zu einem bloßen Naturdenker macht.

88 89

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schau halte, sondern vorschlage, bei den einmal eingeführten Bezeichnungen »Handlung« und »Handlungshermeneutik« zu bleiben, so einerseits deshalb, weil mir die mit diesen Bezeichnungen verbundene Irritation der irritierenden Sache – nämlich einem psychischen Unbewussten, das sich »so verhält, als ob es urteilte, überlegte, fühlte, wollte« – durchaus angemessen zu sein scheint, andererseits aber auch deshalb, weil eine klare terminologische Trennung zwischen reflektiertem Handeln und vorreflexivem Verhalten Bergsons Intentionen nicht gerecht würde. Wie immer es um Pflanzen und Tiere bestellt sein mag – menschliches Sich-Verhalten zur Wirklichkeit jedenfalls stellt für Bergson immer eine Mischung aus Bewusstsein und Unbewusstem, aus Handeln und Verhalten, aus eigener Initiative und Passivität, aus Gewolltem und Widerfahrnis dar. Eben deshalb sind Verstehen und Hermeneutik notwendig. (4) Noch eine vierte Anmerkung scheint mir notwendig, um zu klären, was hier unter Handlungshermeneutik verstanden werden soll. Sie besagt, dass der Übergang von der Text- zur Handlungshermeneutik nicht so zu denken ist, als stelle der Text das Modell dar, an dem sich die Beschreibung der Handlung zu orientieren hätte. Albrecht Wellmer hat die Frage nach der Sprachähnlichkeit von Musik als eine »merkwürdige Frage« bezeichnet, »denn es ist zunächst gar nicht klar, wonach hier gefragt wird«. 90 Denkt, wer diese Frage stellt, an eine »Sprache des Gefühls«, an die Darstellung außermusikalischer Inhalte oder an die interne Strukturiertheit gemäß einer »Syntax« und »Grammatik«? Als ähnlich uneindeutig erweist sich die Frage nach der Sprachförmigkeit von Handlungen. Auch Handlungen können etwa als (bewusster oder unbewusster, freiwilliger oder unfreiwilliger) Ausdruck von etwas Anderem aufgefasst werden, wenn auch strittig ist, ob dies nur für manche oder für alle Handlungen gilt und was man sich unter diesem »Anderen« vorzustellen hat. Unstrittig aber dürfte sein, dass jede einzelne Handlung ebenso wie das »praktische Feld« als ganzes eine Strukturiertheit aufweist 91, die mit der Gliederung der sprachlichen Äußerung (nach Saussure: parole) bzw. mit der Struktur des Zeichensystems (langue) verglichen werden kann. Es ist demnach dieser Gesichtspunkt, der hier – und bis in das sechste Kapitel hinein – im Mittelpunkt der Betrachtung stehen wird. 90 91

Wellmer[2009] 9 Ricœur[1986] 8: structuration interne, structuration du champ pratique

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Daraus, dass die Struktur des Handelns mit der des Sprechens, das System der Handlungsmuster mit demjenigen der Sprechmuster verglichen werden kann, folgt freilich nicht, dass die sprachliche Seite dieser Vergleiche stets die maßgebliche sein müsste, an der sich unser Verständnis der nichtsprachlichen Seite zu orientieren hätte, oder dass nur unter dieser Bedingung der Aufbau einer hermeneutischen Philosophie möglich wäre. Die Sprachpragmatik hat gezeigt, dass auch der umgekehrte Weg – die Interpretation von sprachlichen Äußerungen als Sprechhandlungen – möglich und ertragreich ist, und Paul Ricœur hat zwischen 1970 und 1980 den Übergang »vom Text zur Aktion«, von einer Hermeneutik des Symbols zu einer Hermeneutik der menschlichen Praxis erprobt. 92 An dieser Stelle geht es freilich nicht darum, die Frage zu entscheiden. Es geht vielmehr darum, sie so offen zu halten, dass wir mit ihrer Hilfe an Bergsons Texte herantreten und den von ihm ins Auge gefassten Gegenstandsbereich der Hermeneutik unsererseits in den Blick bekommen können, ohne unseren Blick durch voreilige Entscheidungen ohne Not einzuengen. Für diesen Zweck scheint mit der Begriff der Artikulation geeignet, den ich hier – nach Hermeneutik, Unbewusstem, Bewusstsein und Handlung – als fünften Hauptbegriff einführen möchte. Ich übernehme ihn von Matthias Jung 93, setze allerdings die Akzente anders als er. Während Jung von Herder und Humboldt – also von der sprachlichen Artikulation – ausgeht, um dann – beginnend mit dem wichtigen Abschnitt über Diltheys Formel »Das Leben artikuliert sich« – schrittweise die natürliche Basis ins Spiel zu bringen, verwende ich »Artikulation« hier als Oberbegriff, der es insbesondere ermöglichen soll, die Gegliedertheit nicht-sprachlicher Vollzüge für sich zu thematisieren, ohne dabei die im ersten Kapitel gewonnenen Einsichten über Bergsons Verhältnis zur Sprache gänzlich aus den Augen zu verlieren oder gar zu widerrufen. Der Begriff der Artikulation hat überdies den Vorteil, dass Bergson selbst ihn in der Weise und mit dem weiten Umfang, den ich hier angedeutet habe, verwendet. So spricht er von der sprachlichen Artikulation (articulation de la parole), von der motorischen Artikulation (articulation motrice), ja sogar von der Artikulation der Wirklichkeit überhaupt (articulation du réel, articulation naturelle). 94 Wie das Wort inconscient, so bildet 92 93 94

Die Etappen des Weges sind dokumentiert in Ricœur[1986]. Jung(M)[2009]. Vgl. auch Schlette/Jung(M)[2005]. ES 838,850,962 | 32,47,194 | 29,42,174 – EC 758 | 310 | 314

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aber auch das Wort articulation das Zentrum eines umfangreichen Wortfeldes – zu dem u. a. structure, [sub]division, rythme sowie alle Wörter gehören, die eine Zwei- oder Mehrpoligkeit ausdrücken –, so dass wir erwarten dürfen, die Konkretheit und Differenziertheit, die wir zunächst opfern, indem wir die verschiedenartigsten Phänomene unter dem Oberbegriff der Artikulation vereinen, später in Gestalt einer »Phänomenologie der Artikulation« wiederzugewinnen. Darauf, dass schon die vorsprachliche Wirklichkeit sowie das vorreflexive Sich-Verhalten zu ihr artikuliert sind, haben nicht nur zahlreiche Philosophen der Bergson-Zeit aufmerksam gemacht – diesem Umstand kommt im Rahmen ihrer Philosophien auch stets eine große Bedeutung zu. Man denke an Heideggers Gegenüberstellung der unsprachlichen Auslegung und der sprachlichen Aussage im § 33 von »Sein und Zeit«. Die »besorgende Umsicht«, so führt er aus, kennt Aussagen wie »Der Hammer ist schwer« ursprünglich nicht. »Wohl aber hat sie ihre spezifischen Weisen der Auslegung, die mit Bezug auf das genannte ›theoretische Urteil‹ lauten könnten: ›Der Hammer ist zu schwer‹ oder eher noch: ›zu schwer‹, ›den anderen Hammer!‹. Der ursprüngliche Vollzug der Auslegung liegt […] im umsichtig-besorgenden Weglegen bzw. Wechseln des ungeeigneten Werkzeuges, ›ohne dabei ein Wort zu verlieren‹. Aus dem Fehlen der Worte darf nicht auf das Fehlen der Auslegung geschlossen werden.« 95

Das wortlose Wechseln des Hammers setzt ein implizites Wissen von der Existenz eines anderen Hammers, letztlich aber die Vertrautheit mit dem voraus, was Heidegger an anderer Stelle »Verweisungszusammenhang« oder »Verweisungsganzheit« nennt. 96 Dieses Netzwerk aus aufeinander verweisenden, durch ihre jeweilige praktische Bedeutung unterschiedenen Elementen kennzeichnet auch Diltheys »Untergrund des Lebens«: »Ich fasse in ihm andere Menschen und Sachen nicht nur auf als Wirklichkeiten, die mit mir und unter sich in ursächlichem Zusammenhang stehen: Lebensbezüge gehen von mir nach allen Seiten, ich verhalte mich zu Menschen und Dingen, nehme ihnen gegenüber Stellung, erfülle ihre Forderungen an mich und erwarte etwas von ihnen. Die einen beglücken mich, erweitern mein Dasein, vermehren meine Kraft, die anderen üben einen Druck auf mich und schränken mich ein. Und wo irgend die Bestimmtheit

95 96

Heidegger[2006] 157 A. a. O., § 17

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der einzelnen vorwärtsdrängenden Richtung dem Menschen Raum dafür lässt, bemerkt und fühlt er diese Beziehungen. Der Freund ist ihm eine Kraft, die sein eigenes Dasein erhöht, jedes Familienmitglied hat einen bestimmten Platz in seinem Leben, und alles, was ihn umgibt, wird von ihm verstanden als Leben und Geist, die sich darin objektiviert haben. Die Bank vor seiner Tür, der schattige Baum, Haus und Garten haben in dieser Objektivation ihr Wesen und ihre Bedeutung. So schafft das Leben von jedem Individuum aus sich seine eigene Welt.« 97

Was Dilthey hier beschreibt, ist also – mit Ricœur gesprochen – die Artikulation des »praktischen Feldes«, die sich daraus ergibt, dass jedem seiner Elemente eine vitale Bedeutsamkeit zukommt. Von diesem Untergrund hebt sich dann die einzelne Handlung (die »einzelne vorwärtsdrängende Richtung«) ab. 98 Es ist übrigens kein Zufall, dass derjenige Bergson-Text, an den man sofort denkt, wenn man diese Sätze Diltheys liest, sich mit dem Spiel beschäftigt. Bergson beschreibt – gestützt auf empirische Forschungen Alfred Binets – das Verhältnis des geübten Schachspielers zu den Spielfiguren folgendermaßen: »Zunächst haben die befragten Spieler übereinstimmend erklärt, dass die geistige Anschauung der Spielfiguren selbst ihnen mehr schaden als nützen würde: Was sie von jeder Figur behalten und sich vorstellen, ist nicht ihre äußere Gestalt, sondern ihre Bedeutung, ihr Machtbereich, ihr Wert, kurz: ihre Funktion. Ein Läufer ist nicht ein Stück Holz von mehr oder weniger bizarrer Form: er ist eine ›schräge Kraft‹. Der Turm ist eine gewisse Fähigkeit, ›in gerader Linie zu marschieren‹, der Springer ›eine Figur, die beinahe soviel wert ist wie drei Bauern und sich nach einem ganz besonderen Gesetz bewegt‹, usw. So viel über die Figuren. Nun über das Spiel. Was dem Geiste des Spielers gegenwärtig ist, ist eine Zusammensetzung von Kräften, oder besser eine Beziehung zwischen verbündeten und feindlichen Mächten.« 99 Dilthey[1931] 78 f. Es ist bemerkenswert, dass Dilthey die Besinnung auf dieses praktische Feld als »Traum, Spiel, Zerstreuung, Zuschauen« bezeichnet und die »innere oder äußere Handlung« einer »zusammengefassten Spitze« vergleicht (a. a. O.). Der Gegensatz von »Traum« und »Handlung«, dargestellt als »Basis« und »Spitze« entspricht exakt dem berühmten Bild des auf dem Kopf stehenden Kegels aus dem dritten Kapitel von Bergsons Matière et mémoire. Da Matière et mémoire 1896, Diltheys Abhandlung über »Die Typen der Weltanschauung«, der die zitierte Passage entstammt, dagegen erst 1911 erschienen ist, und da zudem Bergsons Name an zwei Stellen dieser Abhandlung genannt wird (a. a. O., 107 und 111), könnte es sich durchaus um eine Bergson-Reminiszenz handeln. 99 Les joueurs consultés s’accordent d’abord à déclarer que la vision mentale des pièces elles-mêmes leur serait plus nuisible qu’utile : ce qu’ils retiennent et se repré97 98

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Erweiterung des Hermeneutikbegriffs

Das praktische Feld ist in der Tat so etwas wie ein Spielfeld samt Figuren und den durch diese Figuren verkörperten förderlichen bzw. hinderlichen Kräften. Deshalb beeinflusst die Artikulation des praktischen Feldes auch die Artikulation der einzelnen Handlung. Das von Heidegger beschriebene Wechseln des Werkzeugs geschieht ja nicht nur, wenn sich ein Werkzeug als ungeeignet erweist. Es kann – wie etwa im Fall des Zusammenschraubens von Holzteilen, die zuvor durch Sägen und Feilen in die richtige Form gebracht werden müssen – Bestandteil des regulären Handlungsablaufs sein. Auch das Schachspiel vollzieht sich in einzelnen Zügen, in denen verschiedene Figuren bewegt werden. Das von Dilthey betonte und auch von Bergson erwähnte Freund-Feind-Verhältnis wirkt sich besonders dann aus, wenn die von einer Person beabsichtigte Handlung die Mitwirkung anderer Personen erfordert. Die Hilfe Anderer kann das Erreichen des Zieles beschleunigen, Widerstand von Gegnern kann zu Rückschlägen führen und Kompromisse oder Umwege erzwingen. Schließlich kann sich die Artikulation des praktischen Feldes und des Handlungsverlaufs auch im fertiggestellten Produkt bemerkbar machen, und zwar in Gestalt von Teilen, denen jeweils eine ganz bestimmte Funktion zukommt. So lässt etwa noch das fertige Haus mit seinen Außenund Innenwänden, seinem Dach, den Wasser- und Stromleitungen usw. die einzelnen Bauphasen erkennen. Bei aller Anschaulichkeit, die das Handwerk, das Spiel oder die Kunst als Beispiel so geeignet macht, darf aber der Ertrag der dritten Anmerkung nicht aus dem Blick geraten: Nicht nur menschliches, sondern auch tierisches und pflanzliches Verhalten zur umgebenden Wirklichkeit erweisen sich als artikuliert, und diese Artikuliertheit repräsentiert gerade das ihnen zugrunde liegende implizite Wissen von der Wirklichkeit. Artikulation schafft Bedeutung, wo immer sie auftritt. Wir wissen noch nicht genau, wie das zu verstehen ist und welche Konsequenzen das im Einzelnen für den Aufbau einer hermeneutischen Philosophie hat. Dass es aber für eine angemessene Berg-

sentent de chaque pièce, ce n’est pas son aspect extérieur, mais sa puissance, sa portée et sa valeur, enfin sa fonction. Un fou n’est pas un morceau de bois de forme plus ou moins bizarre : c’est une « force oblique ». La tour est une certaine puissance de « marcher en ligne droite », le cavalier « une pièce qui équivaut à peu près à trois pions et qui se meut selon une loi toute particulière », etc. Voilà pour les pièces. Voici maintenant pour la partie. Ce qui est présent à l’esprit du joueur, c’est une composition de forces, ou mieux une relation entre puissances alliées ou hostiles. – ES 938 | 163 | 146

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son-Lektüre unverzichtbar ist, diesen Zusammenhang nicht aus den Augen zu verlieren, wird deutlich, wenn man Mirjana Vrhuncs Kritik an der Gesamttendenz von Bergsons Philosophie liest. Vrhunc nimmt sich mit dem Bildbegriff ein – wie wir im ersten Kapitel bereits festgestellt haben – wesentliches Element der (hermeneutischen) Philosophie Bergsons vor, doch leidet ihre Untersuchung einerseits an der beschränkten Textbasis, andererseits – und vor allem – daran, dass sie unreflektiert die alte Mär tradiert, Bergsons Philosophie sei durch ein »Andenken gegen die Sprache«, »generelle Symbolkritik« sowie ein Streben nach »Unmittelbarkeit« 100 gekennzeichnet. Unmittelbarkeit führe aber nicht zum Erfassen eines authentischen Selbst, sondern treibe das Ich notwendigerweise in »Einsamkeit« und »Angst« 101, weil es »sich selbst und seiner inneren Welt ausgeliefert« sei, sich nicht durch »Artikulation und Darstellung« davon distanzieren könne. »Aber auch diese Einsamkeit wird in der Unartikuliertheit zugleich großer und leerer Gesten wiederkehren, wird es zu einem tragischen Individuum machen, dessen Taten am Ende Untaten werden, weil sie keinen Sinn über die Tat hinaus zu schaffen vermögen. Ein solcher Sinn über die Tat – oder das Ereignis – hinaus ergibt sich erst mit der Entwicklung der symbolischen Welten, ist damit immer auch schon kultureller Sinn. Es ist dieser Zusammenhang zwischen Sinn und Symbol, den Bergson sich selbst durch seine generelle Symbolkritik verschließt. Es gelingt ihm weder in seinem Begriff der Dauer noch in seinem Bildbegriff, die Entstehung von Sinn – und dies wäre in seiner Konzeption ja ein vor- oder außersymbolischer Sinn – verständlich zu machen.« 102

Und natürlich darf auch der Topos, dass Bergson kein Philosoph der Kultur, sondern einer der Natur sei, in diesem Zusammenhang nicht fehlen: »Wenn aber der Geist getötet ist, verwandelt sich die Welt, aus der er verschwunden ist, in eine Welt des Animalischen. […] Es herrscht nicht mehr Vrhunc[2002] 29, 215, 211 ff. (passim) Es kümmert Vrhunc wenig, dass von solcher Angst in Bergsons Texten kaum, dagegen häufig von der »Freude« (joie) am schöpferischen Handeln die Rede ist. Sie schreibt: »Indem er den Menschen aus den Bezügen seiner kulturellen Welt herausgelöst und die innere Dauer des Bewusstseinslebens als die wahre Existenzform des Ich ausgezeichnet hat, hat Bergson, ohne dies selbst auch nur zu thematisieren, dieses Ich zugleich einer Einsamkeit überlassen und der Angst ausgeliefert.« – A. a. O., 214 (Hervorhebung von mir [C. K.]). 102 A. a. O., 215 100 101

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die Macht des sehenden und denkenden Intellekts, sondern nur noch die des blinden Herzens, die keinen Grund, sondern alleine die Begierde kennt.« 103

Gegen diese Einschätzung, die meines Erachtens mit geschlossenen Augen an allem vorbeiläuft, was Bergson gewollt und geleistet hat, richtet sich die gesamte in diesem Kapitel unternommene Interpretationsanstrengung. Entgegen dieser Einschätzung ist festzustellen, dass die Genesis von Sinn – das Entstehen, das Werden, die lange und mühsame Geschichte des zu sich selbst findenden Sinns – im Zentrum sowohl von Bergsons Bemühungen als auch seiner Leistungen steht. Die Genesis des sagbaren Sinns aus dem Zusammentreffen von unbewusster Intuition und erstarrtem Sprachmaterial war bereits im ersten Kapitel unser Thema. Die Genesis des Sinns ist auch hier wieder unser Thema, nur dass wir jetzt Bergson dabei zusehen, wie er den Gegenstandsbereich der Hermeneutik ausweitet, um noch die frühen, die anfänglichen, die – in der Tat – »vor- und außersymbolischen« Gestalten des Sinns in die Betrachtung einbeziehen zu können. Dass der Weg, der in die Natur führt, zwangsläufig ein Weg ist, der wegführt von Kultur, Symbol und Sinn, ist ein Vorurteil, und zwar ein unproduktives. Differenzierter hat schon George Herbert Mead gedacht: »Die Natur verfügt über Bedeutung und Bedeutsamkeit, aber nicht über die Bezeichnung durch Symbole. Das Symbol lässt sich von der Bedeutung, auf die es verweist, unterscheiden. Bedeutungen sind in der Natur, aber Symbole sind das Erbe der Menschheit.« 104

Dieser Gesichtspunkt ist nun weiter zu vertiefen.

2.2 Phänomenologie der Artikulation 2.2.1 Exkurs: Lebensphilosophie und Hermeneutik Es ist an der Zeit, der Gruppe der für unsere Interpretation Bergsons im Besonderen, der Lebensphilosophie im Allgemeinen leitenden Begriffe – bisher: Hermeneutik, Unbewusstes, Bewusstsein, Handlung, A. a. O., 216 Nature has meaning and implication but not indication by symbols. The symbol is distinguishable from the meaning it refers to. Meanings are in nature, but symbols are the heritage of man. – Mead[1967] 78 103 104

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Artikulation – einen sechsten und letzten hinzuzufügen, oder vielmehr: nun endlich explizit hinzuzufügen, denn wir haben ihn bisher schon unentwegt in Anspruch genommen. Es handelt sich um den Begriff des Lebens. Zu verhandeln ist hier freilich nicht die Frage, was Bergson unter »Leben« versteht. Diese Frage lässt sich, da sie keine Detailfrage ist, sondern das Wesentliche von Bergsons gesamter Philosophie betrifft, erst am Ende der Untersuchung beantworten. Zur Debatte steht vielmehr die Frage, wie Bedeutung und Verstehen – mithin jene Phänomene, von denen die Hermeneutik handelt – aus dem Leben entspringen und welche Rolle sie in diesem spielen. Unser Versuch einer Antwort wird von zwei berühmten Formulierungen Wilhelm Diltheys ausgehen. In der einen spricht Dilthey von dem in seinem – aber durchaus nicht nur in seinem – Denken leitenden Impuls, »das Leben aus ihm selber verstehen zu wollen«. 105 Bei der anderen handelt es sich um die bereits zitierte, von Matthias Jung hervorgehobene 106 These: »Das Leben artikuliert sich«. Die zweite Formel kann als Antwort auf ein Problem aufgefasst werden, das aus der ersten Formel entspringt. Die Verknüpfung beider Formeln besagt dann, dass Leben (nur) verstanden werden kann, weil und insofern es sich artikuliert. In Diltheys Forderung, das Leben aus dem Leben – und das will besagen: nur aus dem Leben – zu verstehen, kommt ein nicht nur für seine, sondern für die gesamte Lebensphilosophie charakteristischer »Wille zur Immanenz« zum Ausdruck, der nicht unbemerkt geblieben ist. So stellt etwa Jürgen Große, nachdem er zwei Hauptformen der Lebensphilosophie unterschieden hat, fest: »Das gemeinsame Motiv beider Lebensphilosophie-Formen bleibt eine immanente Deutung von Welt und Dasein. Für diese Immanenz wird der Titel des Lebens bemüht, das sich aus sich selbst verstehen und nichts außer oder über sich haben soll.« 107

Um dieses Streben nach konsequenter Immanenz beim Nachdenken über das Leben entspann sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine heftige Kontroverse. Die Frage, um die es dabei ging, lautete: Kann das Leben das leisten, was ihm hier zugetraut wird? Kann es sich aus sich selbst verstehen? Oder bedarf es eines festen Maßstabs, an dem 105 Bollnow[1955] 12 f. bietet zahlreiche, auf verschiedene Personen und Epochen sich beziehende Belege für diese Formel. 106 Vgl. Anm. 93. 107 Große[2010] 10

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es sich messen kann? Der prominenteste unter den Zweiflern war Heinrich Rickert, der 1920 der Lebensphilosophie mit Blick darauf, dass sie das Leben zum Gegenstand, zugleich aber »zum Organon seiner Erfassung« mache, einen »auf die Spitze getriebenen Standpunkt der Lebensimmanenz« und »Prinzipienlosigkeit« vorwarf: »Nur mit einem Kompass oder angesichts eines Leuchtturms, der die Wege weist, hat es einen Sinn, sich auf das hohe Meer des Lebens in seinem überwältigenden Reichtum hinauszuwagen, um darüber zu philosophieren. Ohne Bild: […] Die Philosophie braucht Prinzipien, die gliedern und gestalten.« 108

Der zweite Satz dieses Zitats macht deutlich, warum und wie die beiden Dilthey-Formeln zusammengehören: Die Lebensphilosophie formuliert zunächst das Programm, Leben ausschließlich aus ihm selbst zu verstehen. Rickert bezweifelt, dass dieses Programm durchführbar ist, und fordert vom betrachteten Gegenstand unabhängige Prinzipien, die »gliedern und gestalten«. Die Lebensphilosophen wiederum reagieren auf diese Forderung mit der Feststellung, derartige, über dem Leben stehende Prinzipien gebe es nicht und könne es nicht geben, eine Erkenntnis des Lebens sei aber gleichwohl möglich, weil »das Leben sich artikuliert«, d. h. von sich aus gliedert und gestaltet. Dabei ist es – um hier noch einmal an das im Abschnitt 2.1.4 Ausgeführte zu erinnern – wichtig, den Begriff »Artikulation« so weit wie möglich zu fassen. Leben artikuliert sich ganz gewiss, wenn es durch den Menschen in Sprache gefasst wird. Aber nicht nur und nicht erst dann. Es artikuliert sich bereits im menschlichen Handeln, im Sich-Verhalten der Tiere und Pflanzen zu ihrer Umwelt, ja als allgemeines Leben artikuliert es sich bereits in der Evolution des Lebendigen. Lange bevor Sprache entsteht, artikuliert sich Leben schon in einer nicht-sprachlichen Weise, und es ist nur Leben – d. h. ein dynamischer Prozess –, weil und insofern es sich so artikuliert. Diese Grundsätzlichkeit, die uns nötigt, bis zu den frühesten Stufen, den einfachsten Formen des Lebendigen zurückzugehen, weil jedes vorherige Anhalten schlichte Willkür wäre, ist durchaus keine Eigentümlichkeit Bergsons, sondern kommt selbst bei Dilthey zum Ausdruck: »Die Urzelle des inneren Lebens ist überall der Fortgang vom Eindruck aus dem Milieu des Lebewesens zu der Bewegung, die das Verhältnis zu diesem 108

Rickert[1920] 5, 34, 61

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Milieu im Lebewesen anpasst. Es gibt in allem Innenleben keine ursprünglichere Verbindung als diese. Sie ist da, ohne dass noch die Fähigkeit des Lebewesens, Eindrücke zu empfangen, sich in ein Mannigfaltiges von Empfindungen differenziert hätte. Alle Kunstgriffe der Natur, unser Wahrnehmen dem äußeren Wirklichen anzupassen, entstehen erst auf der Grundlage dieses ursprünglichen Verhältnisses. Die Entwicklung der Lebewesen zu höheren Formen ist also nach der Innenseite angesehen eine Artikulation; das Leben artikuliert sich. Und dieser inneren Artikulation entspricht die äußere des tierischen, organischen Körpers in einer Reihe von Stufen. Zwischenglieder zwischen dem Eindruck und der vollzogenen Bewegung mehren sich. Das Anfangs- wie das Endglied nehmen zusammengesetzte Formen an. Alles aber auf der Unterlage des einen gleichen Schemas des tierischen, menschlichen Lebens. Und gerade in diesem umfassenden, großartigen Zusammenhang, in dessen Verhältnis zu unserem intellektuellen Innenleben liegt der überzeugende, unantastbare Beweis, dass Denken im Leben auftritt, an dieses gebunden ist und im Dienste seines Zusammenhangs steht. Die biologische Breite der Betrachtung ist erforderlich, um in bezug auf die Struktur des Lebens zu überzeugen.« 109

Für unsere Fragestellung ist nun von entscheidender Bedeutung, dass der Grundsatz strikter Immanenz der Betrachtung nicht nur für die Lebensphilosophie, sondern in gleicher Weise für die Hermeneutik gilt, woraus sich eine enge Verwandtschaft beider Denkweisen ergibt. Hingewiesen sei insbesondere auf die folgenden vier Aspekte: • Wie die Lebensphilosophie ist auch die Hermeneutik anti-metaphysisch 110 in dem Sinne, dass sie die Existenz irgendwelcher überzeitlicher, jenseits der konkreten Wirklichkeit liegender Prinzipien, die als Maßstab für die Erkenntnis der konkreten Wirklichkeit dienen könnten, bestreitet. Ist gemäß der Lebensphilosophie der Lebendigkeit, so ist gemäß der Hermeneutik der Geschichtlichkeit nicht zu entkommen. • Wie die Lebensphilosophie ist auch die Hermeneutik anti-systematisch in dem Sinne, dass sie es als unmöglich ansieht, einen letzten, unbedingten Punkt zu erreichen, von dem aus sich einDilthey[1982] 345 Das hindert, wie die Beispiele Bergson und Heidegger zeigen, weder die Lebensphilosophie noch die Hermeneutik daran, Denkstile hervorzubringen, die sich als »Metaphysik« bezeichnen. Daraus folgt nicht, dass die These vom antimetaphysischen Charakter beider Denkrichtungen falsch wäre, sondern nur, dass man jeweils zu fragen hat, was die Idee einer Metaphysik unter den Bedingungen strikter Immanenz besagen soll. Für Bergson vgl. dazu Abschnitt 6.2.2, S. 726. 109 110

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für allemal das System der wahren Erkenntnisse deduzieren ließe. • Wie die Lebensphilosophie ist auch die Hermeneutik – zumindest in vielen ihrer Ausprägungen – ontologisch in dem Sinne, dass sie das einzelne Individuum in eine übergreifende Dynamik eingebettet sieht. Dieser dritte Aspekt ist in gewisser Weise die Umwertung des ersten: Leben und/oder Geschichte werden nicht mehr nur als Erkenntnishindernisse betrachtet, sondern auch als Prinzipien, d. h. als die Individuen umgreifende und tragende Wirklichkeiten begriffen. 111 • Wie die Hermeneutik ist auch die Lebensphilosophie hermeneutisch in dem Sinne, dass sie bewusste Erkenntnis (nur) als Auslegung des in den vorreflexiven Vollzügen immer schon Gewussten und Gemeinten für möglich hält. Der Mensch kann sich weder aus seiner Lebendigkeit noch aus seiner Geschichtlichkeit hinausreflektieren, aber er kann das in der konkreten Erfahrung Erfahrene – um ein zum jetzigen Zeitpunkt noch rätselhaftes Wort Bergsons zu gebrauchen – so »weiten« (étendre, dilater), dass nicht nur die Bedeutung der konkreten Erfahrung zum Vorschein kommt, sondern auch Leben und Geschichte als solche verständlich werden. Nun wäre eigentlich zu prüfen, ob und wie diese strukturelle Ähnlichkeit philosophiegeschichtlich konkret wirksam geworden ist. Haben die Lebensphilosophen die bestehende Hermeneutik adaptiert – sie also, um an die berühmte Formulierung Ricœurs zu erinnern, auf die Lebensphilosophie »aufgepfropft« –, oder haben sie sie – unabhängig von, vielleicht sogar in Unkenntnis der hermeneutischen Tradition – noch einmal und in anderer Form geschaffen? Offenkundig würde aber eine gründliche Beschäftigung mit dieser Frage den Rahmen der vorliegenden Untersuchung sprengen. Indessen deutet mancherlei darauf hin, dass die Antwort lauten würde: Es gibt auf diese Frage keine einfache, für alle Lebensphilosophen zutreffende Antwort. Da begegnet man Philosophen wie Dilthey und Nietzsche, die sich nicht nur explizit mit den Methoden der Texthermeneutik 111 Die Äquivalenz von Leben und Geschichte kommt nirgends deutlicher zum Ausdruck als in demjenigen Abschnitt von »Wahrheit und Methode«, in dem Gadamer den nun wahrlich aus der Philosophie des Lebens stammenden und mit dem Leben eng verbundenen Begriff der »Kraft« aus seinem ursprünglichen Zusammenhang herauslöst und in den Kontext des rein geschichtlichen Denkens verpflanzt. – Gadamer[1990] 209

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auseinandergesetzt, sondern von diesen auch entscheidende Anregungen empfangen haben. Man begegnet aber auch Philosophen wie Bergson, denen die Texthermeneutik zwar nicht fremd, aber doch nicht so wichtig ist, dass man von einer entscheidenden und prägenden Rolle sprechen könnte. Mehr noch: Bei nicht wenigen Denkern bemerkt man ein Interesse für Formen der Deutung in der Erfahrung anzutreffender Phänomene, die die offizielle Geschichte der Hermeneutik meist unberücksichtigt lässt. So hat sich Klages intensiv mit der physiognomischen Tradition, Freud mit derjenigen der Traumdeutung auseinandergesetzt. Schließlich: Es ist nicht ausgemacht, dass Ricœurs Formel von der Aufpfropfung der Hermeneutik auf eine bestehende Basisphilosophie (bei ihm die Phänomenologie) das, was man bei den Lebensphilosophen beobachten kann, zutreffend beschreiben würde. Bei Dilthey und Bergson – um nur zwei besonders deutliche Fälle herauszugreifen – hat man eher den Eindruck, dass die biologisch eingefärbte Philosophie des Lebens eine zuvor schon bestehende Philosophie des Geistes als Fundament untermauern und tragen soll. 112 Diese wenigen Impressionen vermitteln das Bild einer Lebensphilosophie, die einerseits von sich aus einen hermeneutischen Impuls entwickelt, weil sie erklären muss, was Wissen bedeuten soll, wenn es kein festes Fundament, sondern nur strömendes Leben gibt, die aber andererseits alle vorfindlichen Formen eines deutenden Weltverhältnisses durchmustert. Hinter diesem suchenden und prüfenden Durchmustern lässt sich die Frage erkennen, in welchen Bereichen der Wirklichkeit so etwas wie Sinn oder Bedeutung anzutreffen ist und wie Menschen (vielleicht sogar: Lebewesen überhaupt) damit umgehen. Rückt man diese Fragestellung in den Mittelpunkt des Interesses, weitet man sie – und nun zeichnet sich vielleicht schon etwas von der Bedeutung dieses gerade als »vorerst rätselhaft« eingeführten Ausdrucks ab –, dehnt man sie also so weit, dass sie einerseits auf die an Bewusstsein und Sprache gebundenen Gestalten menschlichen Sinnverstehens ausgerichtet ist, andererseits aber auch Kon112 Das ist bei Bergson ganz offenkundig: Am Anfang steht eine die individuelle Erfahrung beschreibende Psychologie (Essai sur les données immédiates de la conscience). Es folgt eine Konfrontation von Geist und Materie (Matière et mémoire). Und erst im dritten Schritt wird Bergson zu einem Lebensphilosophen in dem Sinne, dass »Leben« als zentraler Begriff erscheint (L’évolution créatrice). – Zu Dilthey vgl. Jungs Darstellung der »lebenswissenschaftlichen Grundlegung der Hermeneutik« (Jung(M)[2009] 129 ff.).

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takt hält zu den vorsprachlichen, selbst bei Tieren und Pflanzen anzutreffenden Formen des Erfassens von und des Reagierens auf Bedeutsamkeit, so wird ein Forschungsprogramm erkennbar, das sich vorläufig in vier Teilfragen formulieren lässt: 1.

Auf welche Weise kommt so etwas wie Sinn oder Bedeutung in die Welt? Und wo tritt es auf? Da klar ist, dass es Sinn im Bereich des sprachlich, oder allgemeiner: des symbolisch vermittelten Ausdrückens und Verstehens von Sinn gibt, zielt diese Frage offenkundig primär »nach unten«: Wie weit kann man in den tiefen und dunklen Schacht der Evolution des Lebendigen hinabsteigen, ohne feststellen zu müssen, dass nunmehr gleichsam der Nullpunkt des Sinnes, der Punkt absoluter Sinn- und Bedeutungslosigkeit erreicht sei?

2.

Wie erfassen Lebewesen Sinn bzw. Bedeutung und wie verhalten sie sich dazu? Schon das Subjekt »Lebewesen« zeigt an, dass es auch in dieser Frage eine starke Tendenz gibt, die auf die vorsprachlichen Formen des Umgangs mit Bedeutsamem zielt. Gewiss, die sprachlich/symbolisch vermittelten Gestalten des Umgangs mit Sinn dürfen nicht vernachlässigt werden, und wir haben sie im ersten Kapitel auch bereits thematisiert. Gleichwohl ist ein größeres Gewicht auf die primitiveren, anfänglichen Formen zu legen, und zwar nicht deshalb, weil wir hier Aufschluss über das »wahre Wesen« des Sinns zu erwarten hätten, sondern deshalb, weil die Verhältnisse in diesem Bereich sehr viel unklarer und umstrittener sind.

3.

Wie vollzieht sich der Übergang zur expliziten Aneignung von Sinn beim Menschen? Nachdem die ersten beiden Teilfragen vor allem darauf abzielten, das aufzuklären, was man als das »natürliche Fundament des Sinns« bezeichnen möchte, richtet sich nun der Blick verstärkt auf die durch Bewusstsein, Sprache und Kultur geprägten Verhältnisse beim Menschen – freilich wiederum, ohne den Kontakt zum Fundament zu verlieren. Das Stichwort »Übergang« zeigt an, dass es darum gehen soll, das Verhältnis zwischen den »niederen« und den »höheren« Formen zu bestimmen: Zeigt sich dieser Übergang primär als Bruch oder als Kontinuität? Darf mit Recht von einem »Fundament« und einer »Genesis des 185 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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Sinns« gesprochen werden? Wie wirkt sich das neue Element der Sprache auf das Verhältnis des Lebewesens zu Sinn und Bedeutung aus? 4.

Gibt es unter den Bedingungen von Lebendigkeit und Geschichtlichkeit einen »über die Tat hinausweisenden« Sinn? Diese letzte Teilfrage nimmt einerseits die Zweifel Mirjana Vrhuncs 113, andererseits die Überlegungen zum Wahrheitsproblem aus dem ersten Kapitel 114 auf. Denn darum geht es: Gibt es für Wesen, die von einer sie um- und ergreifenden Dynamik – sei es nun derjenigen des Lebens, derjenigen der Geschichte oder gar beider zusammen – gleichsam mitgerissen werden, einen über den Augenblick und die Individualität – des Verstehenden sowohl als auch des Verstandenen – hinausweisenden Sinn? Gibt es ohne die von Rickert geforderten »Leuchttürme« in der Flut so etwas wie Wahrheit? Und wenn es sie gibt: Gibt es sie nur im Medium der Sprache oder gibt es sie auch schon im vorsprachlichen Bereich?

Nun ist dieses Programm, das ich hier in einer ersten, sicher der Präzisierung, vermutlich auch der Korrektur bedürftigen Form skizziert habe, nicht – oder jedenfalls: nicht primär – unser Forschungsprogramm. Und die ihm zugrundeliegende Idee besagt auch nicht, dass wir den Lebensbegriff so lange zu »dehnen« oder zu »weiten« hätten, bis sich eine Polarität von Biologie und Hermeneutik abzeichnet. Sie besagt vielmehr, dass jede Lebensphilosophie, die sich ernsthaft über ihr Anliegen Rechenschaft zu geben versucht, früher oder später diese Polarität in ihrem Gegenstand entdecken und die dadurch erzeugte Spannung aushalten muss. Die Lebensphilosophie würde das Leben verleugnen, wenn sie sich – unter Vernachlässigung der geistigen Dimension – mit einer naturalistischen Biologie identifizierte oder – unter Vernachlässigung der körperlichen Dimension – auf eine Hermeneutik körper- und lebloser Symbolismen beschränkte. Die These besagt auch – und nun erst zeigen sich die Konsequenzen für uns –, dass wir zu kurz springen würden, wenn wir uns vornähmen, zu zeigen, wie der Lebensphilosophie eine Hermeneutik »aufgepfropft« oder der Hermeneutik eine Theorie des biologischen Lebens »untergeschoben« wurde. Zuerst steckt die Polarität von Biologie und Her113 114

Vgl. Abschnitt 2.1.4, S. 165. Vgl. Abschnitt 1.2.5, S. 90.

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meneutik in der Lebensphilosophie selbst, und nur wenn und weil Lebensphilosophen diese polaren Tendenzen erkennen oder zumindest ahnen, kann bei ihnen das Bedürfnis entstehen, sich mit bestimmten, von ihnen vorgefundenen Ausprägungen der Biologie oder der Hermeneutik auseinanderzusetzen. Sprechen wir es deutlich aus: Das Bild eines Spannungsfeldes, das durch die Polarität von Hermeneutik und Biologie konstituiert wird, ist das allgemeine Leitbild (image médiatrice), an dem sich unsere Interpretation einzelner Lebensphilosophen orientieren, die wesentliche Grundkonstellation, auf die hin wir die – zumindest teilweise kontingenten – individuellen Denkwege interpretieren wollen. Was schließlich das skizzierte Forschungsprogramm angeht, so handelt es sich dabei um dasjenige – selbstverständlich ebenfalls idealtypische – Programm, dem die Lebensphilosophen folgen müssten, wenn in dem uns leitenden Bild das Grundanliegen der Lebensphilosophie richtig erfasst ist. Wiederum handelt es sich also um ein Programm, das zunächst einmal als Programm der Lebensphilosophie selbst zu gelten hat und aus dem sich erst als Konsequenz ein Programm auch für uns ergibt, insofern wir zu zeigen hätten, dass die gesamte Lebensphilosophie, und insofern wir hier – der Aufgabe dieser Untersuchung gemäß – wirklich zu zeigen haben, dass Bergson diesem Programm folgt. Zu zeigen ist also, dass Bergsons Philosophie sich in dem Spannungsfeld von Biologie und Hermeneutik, von unbewusstem Lebensvollzug und bewusstem Sinn ansiedelt, und dass sie versucht, den Sinn im Leben sowie das Leben im Sinn zu finden, kurz: die Genesis des Sinns darzustellen.

2.2.2 Im Spannungsfeld von Sinn und Funktion Bevor wir das skizzierte Programm weiter präzisieren und prüfen, ob es sich wirklich bei Bergson als Forschungsprogramm nachweisen lässt, empfiehlt es sich, eine begriffliche Unschärfe zu beseitigen, die dazu führt, dass nicht wenige im Vorhergehenden verwendete Formulierungen ungewollt missverständlich oder gewollt unklar sind. Die Unschärfe betrifft das Verhältnis der Begriffe »Sinn« und »Bedeutung«. So habe ich etwa Mirjana Vrhuncs Behauptung, es gelinge Bergson nicht, die »Entstehung von Sinn« verständlich zu machen, einige Sätze George Herbert Meads entgegengehalten, in deren publizierter deutscher Übersetzung es u. a. heißt: »Die Natur hat Sinn«, 187 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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während Mead im Original schreibt: Nature has meaning. Und weil ich es zunächst vermeiden wollte, dem an dieser Stelle sich zeigenden Problem nachzugehen, war ich in mehreren Fällen genötigt, bewusst unscharfe Formulierungen – etwa: »so etwas wie Sinn oder Bedeutung« – zu wählen. Um auf Derartiges im weiteren Verlauf verzichten zu können, soll nun die Frage gestellt werden, wie wir es mit diesen beiden Begriffen halten wollen: Sollen sie als Synonyme betrachtet werden oder sollen sie Verschiedenes bezeichnen? Glücklicherweise müssen wir nicht lange nach Argumenten suchen, auf die sich eine Entscheidung für die eine oder andere Option stützen ließe, denn Bergson selbst verwendet in seinen Texten sowohl das Wort sens wie auch das Wort signification. Zwar gibt es, wenn ich nichts übersehe, keine Stelle, an der er die beiden Worte explizit definieren oder gar voneinander abgrenzen würde, aber sein Gebrauch dieser Worte lässt klare Regeln erkennen 115, und diese Regeln passen so gut zu dem uns gerade beschäftigenden Thema, dass ich vorschlage, bei unserem Wortgebrauch dem seinen weitgehend zu folgen.

Diese Aussage muss natürlich cum grano salis genommen werden. Man hat es allein in den publizierten Monographien und Aufsatzsammlungen mit mehr als 1000 Stellen zu tun, an denen Bergson sich der Worte sens oder signification/signifier bedient, und man hat es mit Texten zu tun, die im Verlauf von etwa fünf Jahrzehnten entstanden sind. Unter diesen Bedingungen wird man nicht erwarten, dass der Wortgebrauch einigen wenigen Regeln mechanisch folgt. Mit Verwunderung stellt man übrigens fest, wie wenig sich die Bergson-Forschung bisher um dieses Material bemüht hat, denn die damit verbundene Fragestellung ist geeignet, die Mär von Bergsons fehlendem Interesse an der Sprache als eine solche zu erweisen, und auf Passagen in Bergsons Texten aufmerksam zu machen, die jedem sprachanalytischen Philosophen zur Ehre gereichen würden. Bezeichnend für den »Stand« bzw. das Interesse der Forschung sind die Wortindizes von Mél. und Écr.: In beiden Indizes sucht man vergeblich nach Einträgen für signification und für sens du mot. Da eine systematische Beschäftigung mit dem Thema demnach mindestens ein eigenes Kapitel erfordern würde, muss ich mich darauf beschränken, hier einige Beobachtungen vorzustellen, die insbesondere den Wortgebrauch seit L’évolution créatrice – also seit jenem Werk, in dem Bergson erstmals die »beschreibende Psychologie« mit einer »Theorie des Lebens« verschränkt – betreffen, und dafür einige charakteristische Belege anzuführen. Auf Fragen wie die nach der eventuellen Andersartigkeit des Wortgebrauchs in früheren Werken oder nach der Interpretation von Belegen, die den von mir angegebenen Regeln zu widersprechen scheinen, kann ich dagegen nicht eingehen.

115

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2.2.2.1 Der Sinn Beginnen wir mit dem Wort sens. Wie im Allgemeinen, so hat dieses Wort auch bei Bergson mehrere Bedeutungen. Insbesondere lassen sich unterscheiden: • sens als »Sinnesorgan« (»Gesichtssinn«), • sens als Organ eines nicht nur wahrnehmenden, sondern zugleich beurteilenden, aber kein bewusstes Denken erfordernden Erfassens (sens commun, bon sens) 116, • sens als »Richtung« (»Uhrzeigersinn«), • sens als »gemeinter Gegenstand« (sens du mot). Für das, woran wir denken, wenn wir nach dem Verhältnis der Begriffe »Sinn« und »Bedeutung« fragen, ist zunächst einmal nur die hier zuletzt aufgeführte Bedeutung von Belang. Wir werden bald sehen, dass die übrigen Bedeutungen nicht gänzlich ohne Beziehung zu dieser sind, aber wenn man wissen will, was sens von signification unterscheidet, und wenn man mit einem möglichst einfachen und klaren Schema beginnen möchte, dann hat man sich an die vierte Bedeutung zu halten. Prüft man die Belege dafür, so ergibt sich: Der Begriff »Sinn« – sens in der vierten Bedeutung des Wortes – bezeichnet bei Bergson etwas, was es nur in Verbindung mit Sprache bzw. Symbolen überhaupt 117 gibt. Das bedeutet, da wir ja bereits vier verschiedenartige Bedeutungen aufgelistet haben, offenkundig nicht, dass sens nur sprachlichen Äußerungen zugeschrieben werden könnte. Aber nur dann, wenn es sich bei dem Phänomen, von dem die Rede ist, um eine sprachliche Äußerung handelt, wird ihm »Sinn«, ansonsten wird ihm etwas Anderes (z. B. eine »Richtung«) zugesprochen. Die sprachliche Äußerung, der Sinn zukommt, kann beliebig komplex sein. Es kann sich dabei um ein einzelnes Wort, einen Satz oder längere Texte handeln. Nun konnten wir uns in Kapitel 1 bereits einen Eindruck davon verschaffen, was Bergson unter dem Sinn komplexer sprachlicher Gebilde (Gedichte, Romane, philosophische Abhandlungen) versteht. Wir haben gesehen, dass der Sinn einerseits etwas »jenseits des Textes« ist, nämlich eine »Sache, um die es geht«, andererseits eine Eigenschaft der Rede oder des Textes, nämlich Zusammenhang: Nur dann, wenn eine Rede oder ein Text einen »roten Faden«, eine »Linie«, eine »Richtung« erkennen lässt, d. h. so auf die Zum bon sens vgl. Abschnitt 5.3.3.4, S. 674. Wenn Bergson nicht von Worten oder Sprache, sondern von Symbolen spricht, denkt er vor allem an die symbolische Darstellungsweise der Mathematik. 116 117

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Sache, um die es geht, ausgerichtet ist und bleibt, dass diese im Verlauf des Diskurses immer deutlicher vor Augen tritt, sind wir bereit, der Rede bzw. dem Text einen Sinn zuzusprechen. Dabei möchte ich es zunächst belassen, denn wir werden im Hinblick auf die Fragen der Texthermeneutik erst dann vorankommen, wenn wir die Dauer und die Intuition im Allgemeinen untersucht haben. 118 Dagegen lohnt es sich, zu prüfen, was Bergson über den Sinn einzelner Worte zu sagen hat, denn Worte sind uns ja bisher nur als Zerfallsprodukte des Sinnes begegnet: »Nun aber genügt es, dass meine Aufmerksamkeit nachlasse, dass, was gespannt in mir war, sich abspanne – und die bisher in den Sinn eingesenkten Töne erscheinen mir gesondert, in ihrer Materialität. […] Je mehr ich mich nun gehen lasse, desto mehr individualisiert sich das Nacheinander der Töne: wie die Sätze in Worte zergingen, so skandieren sich die Worte in Silben, die ich eine um die andere wahrnehme.« 119

Daraus, dass einem Zuhörer oder Leser der Gesamtsinn einer sprachlichen Äußerung entgehen kann, folgt nun freilich nicht, dass die einzelnen Teile keinerlei Sinn aufweisen. Bergsons Rede vom »Wortsinn« (sens du mot), die in keinem seiner Texte fehlt, macht das unmissverständlich klar. Allerdings ergibt sich dabei eine Schwierigkeit. Zunächst einmal fällt auf, dass Bergson dem Ausdruck »Wortsinn« oft ein Adjektiv hinzufügt. So spricht er vom sens étroit, vom sens précis, vom sens propre, vom sens étymologique oder vom sens courant du mot. 120 Welchen Sinn hätte nun aber die Rede von einem engen, genauen, eigentlichen, ursprünglichen oder geläufigen Sinn, wenn es nicht auch einen weiten, ungenauen, uneigentlichen, neuartigen oder ungeläufigen Sinn gäbe? In der Tat finden sich auch Ausdrücke wie au sens le plus vague, sens tout nouveau, sens radicalement différent. 121 Deutlicher zeigt sich das Problematische in Formulierungen, die einen Wortsinn als Spezialsinn kennzeichnen (sens métaphysique, sens scientifique, sens plus psychologique, au sens où le mathématicien prend ce mot, au sens où nous prenons aujourd’hui ces mots) 122, von einem mehrfachen Sinn sprechen (deux sens tout différents, ce triple sens, plusieurs des sens qu’on donne au 118 119 120 121 122

Vgl. dazu die Kapitel 4 und 6. Vgl. Kap. 1, Anm. 92. EC 489,495,776,632 | V,1,332,162 | 1,8,336,166; PM 1383 | 165 | 168 MM 169 | 11 | 1; EC 552 | 67 | 73; DS 1180 | 256 | 187 MM 331 | 218 | 192 f.; EC 664,561,511 | 200,78,19 | 203,83,26; DS 1027 | 60 | 49

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mot religion, parcourez la liste des sens du mot eidos) 123 oder auf die bewusste Verkehrung eines ursprünglichen Sinns hinweisen (sens fort peu kantien, en détournant de leur sens les expressions spinozistes) 124. Schließlich kommt die Tatsache, dass es hier ein Problem gibt, deutlich zur Sprache, und das geschieht in der Regel, wenn Bergson das Wort nicht mehr für sich allein, sondern im Kontext eines Satzes oder eines aus mehreren Sätzen bestehenden Textes betrachtet. Tritt das Wort, dessen Sinn offenkundig weder eindeutig noch unveränderlich ist, als Bestandteil in ein komplexeres sprachliches Gebilde ein, so können sich die vielfältigsten Inkonsistenzen ergeben: Es kann unklar bleiben, in welchem Sinne das Wort verwendet wird. Der Sinn eines Wortes kann sich, wenn es mehrfach vorkommt, im Verlauf der Darlegung ändern. Das Zeichensystem kann zu einem »Sprachspiel« werden, das nur noch seinen eigenen Regeln folgt, und dadurch können sinnlose Konstruktionen entstehen: »Das Verblüffendste dabei ist, dass die Mitglieder des Stammes behaupten, mit [ihrem Totem] eins zu sein: Sie sind Ratten, sie sind Kängurus. Allerdings bleibt die Frage, in welchem Sinne sie das sagen.« 125 »Als denkende Wesen können wir die Gesetze unserer Physik auf unsere eigene Welt anwenden und sie zweifellos auch auf jede der anderen, für sich betrachteten Welten übertragen. Nichts aber sagt uns, dass sie auch für das Universum als Ganzes gelten könnten, ja dass eine solche Behauptung auch nur einen Sinn habe, denn das Universum ist nicht ein fertig Entstandenes, sondern ein ohne Unterlass Entstehendes.« 126 »Aber schauen Sie näher hin, so werden Sie erkennen, dass ›Möglichkeit‹ zwei ganz unterschiedliche Dinge bedeutet, und dass man meistens zwischen dem einen und dem anderen hin und her schwankt, wobei man unwillkürlich mit dem Sinn des Wortes spielt.« 127 EC 543,761 | 58,314 | 64,318; DS 1123 | 182 | 136; PM 1275 | 30 | 46 DS 995,1024 | 19,56 | 20,46 125 Ce qu’il y a de plus frappant, c’est que les membres du clan déclarent ne faire qu’un avec lui; ils sont des rats, ils sont des kangourous. Reste à savoir, il est vrai, dans quel sens ils le disent. – DS 1131 | 192 f. | 143 126 En tant qu’êtres pensants, nous pouvons appliquer les lois de notre physique à notre monde à nous, et sans doute aussi les étendre à chacun des mondes pris isolément, mais rien ne dit qu’elles s’appliquent encore à l’univers entier, ni même qu’une telle affirmation ait un sens, car l’univers n’est pas fait, mais se fait sans cesse. – EC 700 | 242 | 245 f. 127 Mais regardez-y de près : vous verrez que « possibilité » signifie deux choses toutes différentes et que, la plupart du temps, on oscille de l’une à l’autre, jouant involontairement sur le sens du mot. – PM 1262 f. | 13 | 32 123 124

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»Wenn man vom Nichtvorhandensein jeglicher Ordnung oder aller Dinge spricht, d. h. von der absoluten Unordnung oder einem absoluten Nichts, so spricht man damit Worte aus, die bar jeden Sinnes sind, flatus vocis, da eine Aufhebung lediglich eine Substitution ist, von der nur eine ihrer beiden Seiten ins Auge gefasst wird, und da die Aufhebung jeder Ordnung oder aller Dinge eine nur einseitige Substitution wäre – eine Vorstellung, der gerade so viel Existenz zukommt wie einem runden Viereck. Wenn der Philosoph vom Chaos oder vom Nichts spricht, so überträgt er also nur – ins Absolute emporgehoben und dadurch jeden Sinnes, jedes wirklichen Inhalts entleert – in den Bereich der Spekulation zwei Ideen, die für die Praxis entwickelt wurden und die sich auf eine ganz bestimmte Art von Material oder Ordnung beziehen, nicht aber auf jede Ordnung, nicht auf jedes Material.« 128

Man könnte sich angesichts dieser Beispiele fragen, ob die Uneindeutigkeit der Worte und die daraus folgende Missverständlichkeit der Sätze nicht ein spezifisches Problem der Philosophie und der Wissenschaften, d. h. ob es nicht an abstrakte Begriffe gebunden sei. Indessen: Die Zweideutigkeiten der philosophischen Sprache zeigen nur (gleichsam in der Vergrößerung) die Zweideutigkeiten – man möchte sagen: der Sprache überhaupt, aber das wäre falsch oder jedenfalls unpräzise. Bergson setzt nämlich die philosophische Sprache nicht nur von der wissenschaftlichen oder der alltäglichen Umgangssprache ab. Er spannt den Bogen noch weiter, indem er die für das uns gegenwärtig beschäftigende Thema nicht unerhebliche Frage stellt, ob der Mensch das einzige Lebewesen ist, das über eine Sprache verfügt. Seine Antwort lautet: Nach allem, was wir wissen, verständigen sich auch Tiere durch Zeichen. Aber der Zeichengebrauch der Tiere unterscheidet sich wesentlich von der Sprache des Menschen: »Wenn die Ameisen Zeichen austauschen – was wahrscheinlich der Fall ist –, dann wird ihnen das Zeichen von demselben Instinkt geliefert, der es überhaupt bewirkt, dass sie sich miteinander verständigen. Eine Sprache 128 Dès lors, parler de l’absence de tout ordre et de toutes choses, c’est-à-dire du désordre absolu et de l’absolu néant, est prononcer des mots vides de sens, flatus vocis, puisqu’une suppression est simplement une substitution envisagée par une seule de ses deux faces, et que l’abolition de tout ordre ou de toutes choses serait une substitution à face unique, – idée qui a juste autant d’existence que celle d’un carré rond. Quand le philosophe parle de chaos et de néant, il ne fait donc que transporter dans l’ordre de la spéculation, – élevées à l’absolu et vidées par là de tout sens, de tout contenu effectif, – deux idées faites pour la pratique et qui se rapportaient alors à une espèce déterminée de matière ou d’ordre, mais non pas à tout ordre, non pas à toute matière. – PM 1305 | 68 | 81

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dagegen ist ein Produkt des Gebrauchs. Nichts, weder im Wortschatz noch in der Syntax, kommt von der Natur.« 129

Die Zeichen, durch die sich Tiere verständigen, gehören zu ihrer natürlichen Ausstattung, und zwar zur natürlichen Ausstattung sämtlicher Individuen, die der gleichen Art angehören. Es kann demnach angesichts eines bestimmten Zeichens keine Zweifel, es kann aber im Grunde auch keinen Unterschied zwischen Sinn und Bedeutung geben. Im Gegensatz dazu verfügt der Mensch als Naturwesen zwar über einen generellen Sprachtrieb – im Sinne eines Antriebs zum Sprechen, zur Kommunikation überhaupt –, doch ist die konkrete Ausgestaltung der Sprache ihm selbst überlassen. Der Mensch erfindet seine Zeichen und deren Verwendungsweise selbst. Demnach sind die Unschärfen, Mehrdeutigkeiten und Verwechslungen des Wortsinns sowie die daraus resultierenden Missverständnisse nicht Kennzeichen einer Spezialsprache (etwa der philosophischen), sondern Wesensmerkmale der menschlichen Sprache überhaupt. Für den Menschen gilt, dass er über den Sinn der Worte frei entscheiden kann: »Man kann den Worten einen beliebigen Sinn geben, sofern man Sorge trägt, ihn genau zu definieren.« 130

Die Kehrseite der Medaille zeigt dann freilich, dass diese Freiheit ihren Preis hat. Gewiss, das menschliche Sprechen kennt Floskeln und Formeln, deren Status sich kaum von demjenigen naturgegebener Zeichen unterscheidet. Aber sobald es interessant wird, kann der menschliche Sprecher sich nicht damit begnügen, einen Satz zu formulieren, sondern muss mehr oder weniger ausführlich erläutern, wie er diesen verstanden wissen möchte: »Wir zögern nicht, sie religiös, ja mystisch zu nennen. Aber man muss sich über den Sinn dieser Worte verständigen.« 131

129 Il est à remarquer que si les fourmis échangent des signes, comme cela paraît probable, le signe leur est fourni par l’instinct même qui les fait communiquer ensemble. Au contraire, une langue est un produit de l’usage. Rien, ni dans le vocabulaire ni même dans la syntaxe, ne vient de la nature. – DS 998 | 23 | 22 f. 130 On est libre de donner aux mots le sens qu’on veut, quand on prend soin de le définir. – Es handelt sich hier um einen Grundsatz, auf den Bergson sich häufig beruft. Der berühmteste Beleg findet sich PM 1392 | 177 | 180, Anm. 1. 131 Nous n’hésitons pas à l’appeler religieuse, et même mystique ; mais il faut s’entendre sur le sens des mots. – DS 1058 | 100 | 77

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»Hatte die Natur die ungeheure Entwicklung und die unendliche Kompliziertheit von Gesellschaften wie den unsrigen vorausgesehen? Verständigen wir uns zuerst über den Sinn dieser Frage. Wir behaupten nicht, die Natur habe buchstäblich irgend etwas gewollt oder vorausgesehen. Aber wir haben das Recht, so vorzugehen wie der Biologe, der von einer Absicht der Natur immer dann spricht, wenn er einem Organ eine Funktion zuerkennt […].« 132

Was also ist dieser Sinn? Die Schlüsselsätze, von denen aus man die vielen, über alle Texte verstreuten Hinweise erschließen und zusammenschließen kann, stehen im zweiten – der Sprache gewidmeten – Kapitel von Le rire: »Man könnte sagen, dass die meisten Worte einen sensus physicus und einen sensus moralis 133 aufweisen, je nachdem, ob man sie buchstäblich oder übertragen auffasst. Jedes Wort bezeichnet anfangs einen konkreten Gegenstand oder einen materiellen Vorgang; aber Schritt für Schritt hat sich sein Sinn dann zu einer abstrakten Beziehung oder einer reinen Idee vergeistigt.« 134

Sinn ist für Bergson ein mehrschichtiges Phänomen. Wie diese Mehrschichtigkeit zustande, oder vielmehr: wie sie den Sprechenden zu 132 La nature avait-elle prévu l’énorme développement et la complexité indéfinie de sociétés comme les nôtres ? Entendons-nous d’abord sur le sens de la question. Nous n’affirmons pas que la nature ait proprement voulu ou prévu quoi que ce soit. Mais nous avons le droit de procéder comme le biologiste, qui parle d’une intention de la nature toutes les fois qu’il assigne une fonction à un organe […]. – DS 1022 | 54 | 44 133 Ich habe diese Übersetzung bewusst mit einer Prise Dekonstruktion gewürzt, indem ich die Ausdrücke sens physique und sens moral nicht ins Deutsche, sondern ins Lateinische übersetzt habe. Ich verkenne nicht, dass Franzosen diese Wortverbindungen zu Bergsons Lebzeiten als gängige französische Ausdrücke empfinden konnten und noch heute als solche empfinden können. Aber Bergson verwendet sie eben gerade nicht wie gängige Bezeichnungen. Er hebt sie vielmehr durch Kursivdruck hervor und erläutert sie durch Synonyme. Daher scheint mir eine Übersetzung angemessen, die darauf hinweist, dass diese Ausdrücke in gewisser Weise auch Fremdkörper sind, insofern sie letztlich auf vormoderne hermeneutische Konzepte der Mehrschichtigkeit des Sinns zurückgehen. Das heißt freilich nicht, dass es sich hier nur um ein hübsches ideengeschichtliches Ornament handeln würde. Der Sinn muss, wie sich im weiteren Verlauf der Untersuchung immer deutlicher zeigen wird, auch nach Bergsons Auffassung als ein mehrschichtiges Phänomen gedacht werden. – Zur Bedeutung von sensus physicus und sensus moralis als Sinnschichten allegorischer Darstellungen in Kunst und Literatur vgl. Mertens[1994] 12. 134 On pourrait dire que la plupart des mots présentent un sens physique et un sens moral, selon qu’on les prend au propre ou au figuré. Tout mot commence en effet par désigner un objet concret ou une action matérielle ; mais peu à peu le sens du mot a pu se spiritualiser en relation abstraite ou en idée pure. – R 441 | 87 | 78

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Bewusstsein kommt, lässt sich leicht anhand des Wortsinns erläutern. Ein neu eingeführtes Wort ist so eng mit einer Sache sowie einem bestimmten Bereich der Wirklichkeit verbunden, dass man denken kann, es stehe für diese Sache. Das ist freilich ein irreführender Eindruck. Das Wort steht von Anfang an für eine bestimmte Interpretation der Sache, nur fällt das in der Regel zunächst nicht auf. Aber nun geschieht es, dass sprechende Menschen das Wort auf andere Sachen und andere Wirklichkeitsbereiche übertragen. Dieses μεταφέρειν ist – neben dem freien Erfinden der Worte – das zweite Merkmal, durch das sich der Zeichengebrauch des Menschen radikal von demjenigen der Tiere unterscheidet: »Wenn also die Ameisen eine Sprache haben, so können die Zeichen, die diese Sprache ausmachen, nur von durchaus beschränkter Zahl sein, und jedes von ihnen muss […] einem bestimmten Gegenstand oder einem bestimmten Geschehen unwandelbar verhaftet bleiben. Das Zeichen ist verwachsen mit der bezeichneten Sache. In einer menschlichen Gesellschaft hingegen […] bedarf es einer Sprache, deren Zeichen, obgleich es nicht unendlich viele geben kann, dennoch auf unendlich viele Dinge ausdehnbar sind. Diese Tendenz des Zeichens, von einem Gegenstand zu einem anderen überzugehen, ist ein Charakteristikum der menschlichen Sprache.« 135

Wird ein Wort erstmals von einem Gegenstand oder Sachverhalt auf einen anderen übertragen, so verwirrt das freilich die Zuhörer. Der Sprecher sieht sich also genötigt, den neuartigen Wortgebrauch zu erläutern, und dabei stellt sich heraus, dass eine solche Erläuterung aus zwei, vielleicht sogar aus drei Schritten bestehen muss. Zunächst einmal ist die Frage zu beantworten, was den Sprecher zu der Übertragung veranlasst hat. Diese Frage zielt, so könnte man sagen, auf das, was der ursprünglich durch das Wort bezeichnete Gegenstand mit dem neuen gemeinsam hat. Man kann aber den Fokus auch auf das Zeichen verschieben und sagen: Diese Frage zielt auf diejenige Schicht des Wortsinns, die unverändert bleibt, obwohl das Wort auf einen neuen Gegenstand übertragen wurde. Überträgt etwa ein Sprecher das Wort sens von einem sich bewegenden Ding oder Lebewesen 135 Si donc les Fourmis, par exemple, ont un langage, les signes qui composent ce langage doivent être en nombre bien déterminé, et chacun d’eux rester invariablement attaché, une fois l’espèce constituée, à un certain objet ou à une certaine opération. Le signe est adhérent à la chose signifiée. Au contraire, dans une société humaine [… i]l faut un langage dont les signes – qui ne peuvent pas être en nombre infini – soient extensibles à une infinité de choses. Cette tendance du signe à se transporter d’un objet à un autre est caractéristique du langage humain. – EC 629 | 158 f. | 163

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auf einen Text, so kann er dies rechtfertigen, indem er auf das Bild oder Schema einer erkennbar zielorientierten Bewegung verweist. Je mehr Übertragungsschritte nun aufeinander folgen, desto deutlicher wird sich abzeichnen, dass der Sinn des Wortes in keinem der bezeichneten Gegenstände liegt, sondern in dem Interpretationsschema, und dass dieses Schema eine gewisse Ähnlichkeit mit dem »vermittelnden Bild« (image médiatrice) aufweist. Allerdings macht das mit fortschreitender Zahl der Übertragungen immer deutlicher sich abzeichnende allgemeine Schema nicht den vollständigen Sinn des von einem Sprecher benutzten Wortes aus. Der Sprecher wird nämlich im zweiten Schritt erläutern müssen, wie er das Wort auf den neuen Gegenstand, der einem ganz anderen Bereich der Wirklichkeit angehören kann, anwenden möchte. So wird der Sprecher, der erstmals das Wort sens auf einen Text anwendet, vermutlich nicht sagen wollen, dass der Text sich wie ein Ding oder ein Lebewesen durch den Raum bewegt. Er wird also auf eine Eigenschaft des Textes hinweisen müssen, auf die sich das Schema einer erkennbar zielorientierten Bewegung beziehen lässt. Er wird, mit anderen Worten, die Hinsicht angeben müssen, unter der er selbst den neuen Gegenstand betrachtet und unter der er ihn auch von seinen Zuhörern betrachtet wissen möchte. Der Sinn eines Wortes erweist sich demnach als ein zweidimensionales Phänomen, in dem ein generelles Interpretationsmuster mit einer bereichsspezifischen Hinsicht verschränkt wird. Das ist eine Einsicht, die auch Bergsons eigene Darlegungen auf Schritt und Tritt prägt: »In einem gewissen Sinne könnte man sagen, dass jeder Charakter komisch ist, wenn man nämlich unter Charakter den ganz fertigen, in seiner Entwicklung abgeschlossenen Teil unserer Persönlichkeit versteht, dasjenige in uns, was einem fertig montierten Mechanismus gleicht, der automatisch funktionieren kann.« 136 »Das formende Bearbeiten richtet sich ausschließlich auf anorganische Rohstoffe – in dem Sinne nämlich, dass es selbst dann, wenn es organische Materialien benutzt, diese wie leblose Dinge behandelt, ohne sich um das Leben, das sie geformt hat, zu kümmern.« 137

136 En un certain sens, on pourrait dire que tout caractère est comique, à la condition d’entendre par caractère ce qu’il y a de tout fait dans notre personne, ce qui est en nous à l’état de mécanisme une fois monté, capable de fonctionner automatiquement. – R 457 f. | 113 | 99 137 La fabrication s’exerce exclusivement sur la matière brute, en ce sens que, même si

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Diese Beispiele lassen bereits erkennen, dass sich den beiden erwähnten Schritten der Sinnklärung noch ein dritter Schritt hinzugesellen kann. Wenn ein Wort eine Hinsicht auf einen Gegenstand bezeichnet, wenn zudem deutlich wird, dass es eine Hinsicht bezeichnet, dann impliziert das, dass es sich um eine von mehreren möglichen Hinsichten handelt, und dann kann der Sprecher genötigt sein, dies auch explizit festzustellen und zu erläutern, in welchem Verhältnis die von ihm gemeinte Hinsicht zu anderen, gleichermaßen legitimen steht. Spätestens in diesem Moment nimmt das Wort sens eine Färbung an, die dazu führt, dass man bei der Übersetzung auch tatsächlich das deutsche Wort »Hinsicht« in Betracht zieht: »Ist nun das Bewusstsein Ursache oder Wirkung der Bewegung? In einem gewissen Sinne [= in einer gewissen Hinsicht] ist es Ursache, weil seine Rolle darin besteht, die Bewegung im Raum zu lenken. In einem anderen Sinne [= in anderer Hinsicht] aber ist es Wirkung, denn es wird von der motorischen Aktivität aufrechterhalten, und es verkümmert, oder vielmehr: es schläft ein, sobald diese Aktivität verschwindet.« 138

Nun muss die Übertragung eines Wortes aus einem Bereich der Wirklichkeit in einen andersartigen Bereich nicht gelingen. Sie kann scheitern, und das liegt meist daran, dass der Sprecher es versäumt, die Hinsicht, unter der das alte Wort auf den neuen Bereich angewendet werden kann, zu klären, gelegentlich aber auch daran, dass das alte Wort einen Sinn hat, der überhaupt nicht zur Verfasstheit des neuen Bereiches passt. Die oben bereits angeführten Passagen über Inkonsistenzen des Wortgebrauchs zeigen, dass die Gedanken, die wir hier erörtern, nicht ein Thema betreffen, über das sich Bergson gleichsam als unbeteiligter Beobachter äußert, sondern einen für seine eigene philosophische Methode zutiefst relevanten Aspekt darstellen. Denn das, was man als Bergsons Sprachfeindschaft glaubte interpretieren zu sollen, ist in Wahrheit einerseits ein allgemeines Nachdenken über Leistung und Grenzen der menschlichen Sprache – mithin eine »Kritik der Sprache« im kantischen Sinne –, andererseits eine sehr konkrete Arbeit an der Sprache, d. h. an Begriffen, elle emploie des matériaux organisés, elle les traite en objets inertes, sans se préoccuper de la vie qui les a informés. – EC 625 | 154 | 158 138 La conscience est-elle ici, par rapport au mouvement, l’effet ou la cause ? En un sens elle est cause, puisque son rôle est de diriger la locomotion. Mais, en un autre sens, elle est effet, car c’est l’activité motrice qui l’entretient, et, dès que cette activité disparaît, la conscience s’atrophie ou plutôt s’endort. – EC 589 | 112 | 116

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Aussagen und Fragen, die in Schwierigkeiten führen. Bergson zeigt dann in der Regel, dass der Sprecher es versäumt hat, die Hinsicht zu klären, unter der die verwendeten Worte auf den ins Auge gefassten Bereich der Wirklichkeit angewendet werden können, und dass dieses Versäumnis Probleme und Scheinprobleme zur Folge hat. 139 Für unsere Betrachtung der Lebensphilosophie im Spannungsfeld von Hermeneutik (sprachlicher Äußerungen) und Biologie (als Untersuchung vorsprachlicher Lebensformen und Lebensvollzüge) ist es nun von entscheidender Bedeutung, die Mehrschichtigkeit des Sinnbegriffs nicht voreilig dadurch zu entwerten oder gar zu beseitigen, dass man die Verbundenheit mit einem bestimmten, und insbesondere die Verbundenheit mit dem ursprünglichen Gegenstand als ein unvollkommenes Anfangsstadium, die Ablösung davon, das Hervortreten des allgemeinen Schemas oder gar die Ausbildung einer strengen Begrifflichkeit dagegen als das Zu-sich-selbst-Kommen des Sinns auffasst. Gewiss, Bergson spricht gelegentlich so – z. B. in dem angeführten Zitat aus Le rire –, und wir werden im Verlauf der Untersuchung zu klären haben, wie derartige Äußerungen zu verstehen sind. Es trifft auch zu, dass die Frage nach dem Sinn von Worten, Sätzen und Texten eine starke Affinität zum texthermeneutischen Pol des lebensphilosophischen Spannungsfeldes aufweist. Es ist aber nicht weniger richtig und nicht weniger wichtig, dass der Sinn seinerseits eine interne Spannung aufweist, eine Spannung zwischen Gegenstandsbindung und abstraktem Schema, zwischen Bildlichkeit und Begrifflichkeit. Aus dem anfänglichen, noch undifferenzierten Wortsinn gehen im Zuge des mehrfachen Übertragens nicht nur ein allgemeines Schema und mehr oder weniger viele bereichsspezifische Hinsichten hervor, sondern es bleibt dem Wort auch stets etwas von jener Bildlichkeit, Anschaulichkeit, Konkretheit erhalten, die es der engen Verbindung mit seinem ersten Gegenstand verdankt. Diese Sinnschicht im Auge zu behalten, empfiehlt sich nicht einfach nur deshalb, weil gerade lebensphilosophische und von der Lebensphilosophie beeinflusste Denker Wert auf sie gelegt haben; es empfiehlt sich deshalb und die Lebensphilosophen haben deshalb Wert auf sie

139 In diesen Zusammenhang gehört auch Bergsons Forderung nach größerer Präzision in der philosophischen Terminologie. Berücksichtigt man lediglich die Sinnschicht des allgemeinen Interpretationsschemas, so schlottern die Begriffe um die konkreten Sachverhalte der Erfahrung wie »zu große Kleidungsstücke« (PM 1253 | 1 | 21).

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gelegt, weil sie von hoher hermeneutischer Relevanz ist. Man weiß, dass Klages sich intensiv mit Worten wie »Zuneigung«, »Zurückhaltung«, »gefesselt« oder »beflügelt« beschäftigt hat, weil sie nicht eine abstrakte Begrifflichkeit, sondern die sinnlich wahrnehmbaren »Bewegungsbilder« darbieten, die es einem Menschen ermöglichen, bei Anderen das Vorhandensein einer »inneren« Haltung an »äußeren« Merkmalen zu erkennen. Man weiß, dass Heidegger die deutsche Sprache malträtiert hat, um den Worten eine ursprünglich-bildliche Sinndimension zu entlocken, die beim gedankenlosen Gebrauch nicht mehr bemerkt wird. Und wir haben bereits in Kapitel 1 festgestellt, dass Bergson das begriffliche Sprechen von einem anderen, bildlichen, suggerierenden Sprechen unterscheidet. 140 Belassen wir es also dabei, dass der Sinn mehrdimensional bzw. durch eine Spannung charakterisiert ist. 2.2.2.2 Die Bedeutung Man muss nicht lange in den Texten suchen, um festzustellen, dass Bergson das Wort signification anders verwendet als das Wort sens, dass die beiden Worte also vermutlich Verschiedenes bezeichnen. »Sinn«, so hatten wir festgestellt, wird ausschließlich sprachlichen Äußerungen zugeschrieben. »Bedeutung« aber kann ausgesagt, oder nach »Bedeutung« kann doch zumindest gefragt werden im Hinblick auf den Schmerz oder das Lachen, auf Yoga-Übungen oder die Industrialisierung, ja sogar auf die Evolution. 141 Das heißt freilich nicht, dass ausschließlich nicht-sprachlichen Phänomenen eine Bedeutung zugesprochen werden könnte. Auch Worte, Sätze oder umfangreichere sprachliche Darlegungen können eine Bedeutung haben. 142 Der Versuch, die Frage nach dem Sinn des Wortes signification und die Frage nach dem Verhältnis von sens und signification gleichsam auf einen Streich zu erledigen, indem man sagt, dass sprachliche ÄußeVgl. Abschnitt 1.3.2, S. 107. signification réelle de la douleur – MM 203 | 55 | 42; Que signifie le rire ? – R 387 | 1 | 5; la signification des exercices qui finirent par s’organiser en « yoga » – DS 1165 | 236 | 174 ; l’effort industriel, serrons-en de plus près la signification – DS 1223 | 311 | 227 ; signification de l’évolution – EC 709 ff. | 253 ff. | 257 ff. (Abschnittsüberschrift/ Kopfzeile) 142 Le mot « ordre » ne signifie-t-il pas […] ? – DS 1080 | 129 | 97 – […] une pareille affirmation signifiera de deux choses l’une […] – DI 132 | 151 | 150 – Vous avez cherché la signification du poème […] – PM 1414 | 204 | 205 140 141

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rungen einen Sinn, nicht-sprachliche Phänomene dagegen eine Bedeutung haben, würde also in der Konfrontation mit Bergsons Texten sehr schnell scheitern. Nicht-sprachliche Phänomene haben eine Bedeutung oder sind bedeutungslos; sprachliche Äußerungen können einen Sinn und eine Bedeutung aufweisen, einen Sinn, aber keine Bedeutung haben, schließlich auch sinn- und bedeutungslos sein. Im Gegensatz zum Wort sens bezeichnet das Wort signification also bei Bergson etwas, was sprachlichen Äußerungen ebenso wie nicht-sprachlichen Phänomenen zukommen kann, was im Bereich der Kultur ebenso anzutreffen ist wie im Bereich der Natur. Oder vielmehr: Während das Wort sens zwar auf verschiedenartigste Phänomene angewandt werden kann, in den unterschiedlichen Bereichen der Wirklichkeit aber so Verschiedenartiges bezeichnet, dass bei der Übersetzung verschiedene deutsche Worte (Sinn, Richtung, Wahrnehmungsorgan) gewählt werden müssen, verändert sich das, was das Wort signification meint, beim Übergang vom Nicht-Sprachlichen zum Sprachlichen, von der Kultur zur Natur kaum oder gar nicht, so dass in allen Fällen das deutsche Wort »Bedeutung« angemessen ist. Will man Bergsons Bedeutungsbegriff mit wenigen Worten auf den Punkt bringen, so kann man sagen, dass es derjenige des Pragmatismus ist. Den Kern dieses Bedeutungsbegriffes hat William James – in Anlehnung an Charles Sanders Peirce – in die Worte gefasst: »Um die Bedeutung eines Gedankens zu ermitteln, brauchen wir nur festzustellen, welches Verhalten er hervorzurufen geeignet ist; dieses Verhalten allein macht für uns seine Bedeutsamkeit aus.« 143

Dieser von Peirce stammende Kern erwies sich als der Erweiterung und Modifikation bedürftig, der Erweiterung und Modifikation aber auch fähig. So wollte etwa James nicht nur dann von einer Bedeutung sprechen, wenn etwas in der Erfahrung Gegebenes unmittelbar zu einer bestimmten Handlung führt, sondern auch dann, wenn ein gegenwärtiger Erfahrungsinhalt auf eine zukünftige Gegebenheit (im 143 Thus to develope a thought’s meaning we need only determine what conduct it is fitted to produce; that conduct is for us its sole significance. – James[1978] 124 – In diesem Essay mit dem Titel The Pragmatic Method hat James 1898 erstmals versucht, den Ansatz des Pragmatismus auf einen kurzen Nenner zu bringen. Zehn Jahre später (1907) greift er das Thema im zweiten Kapitel (What Pragmatism means) von Pragmatism wieder auf (James[1991]). Für die französische Übersetzung von Pragmatism schrieb Bergson eigens ein Vorwort.

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Sinne einer Konsequenz) vorausdeutet und diese Konsequenz den Menschen – sei es, weil er sie erstrebt, sei es, weil er sie vermeiden möchte – mittelbar zu einem bestimmten Verhalten veranlasst. Der pragmatistische Bedeutungsbegriff ist nun auch prägend für die Lebensphilosophie. Ich lasse die Frage, in welchem Maße das auf Parallelentwicklung und in welchem Maße auf Gedankenaustausch beruht, hier unerörtert und beschränke mich darauf, die Verwandtschaft zu konstatieren. Wenn Nietzsche in der zweiten unzeitgemäßen Betrachtung die historische Denkweise auf ihren »Nutzen und Nachteil für das Leben« befragt, dann fragt er nach ihrer Bedeutung im Sinne des Pragmatismus. Und in genau diesem Sinne müssen wir auch Bergsons Rede von der signification verstehen, wobei allerdings, wie sich bereits gezeigt hat, Bergson nicht nur Gedanken (thoughts) eine Bedeutung zuspricht, sondern den vielfältigsten Elementen der menschlichen Erfahrung. Die »Bedeutung« von etwas ist für Bergson »vitale Bedeutung« (signification vitale) 144, d. h. seine Bedeutsamkeit für das Verhältnis zu und das Verhalten gegenüber der Wirklichkeit. Betrachten wir einige Beispiele dafür: »Glaube bedeutet wesentlich Vertrauen. Sein erster Ursprung ist nicht die Furcht, sondern eine Versicherung gegen die Furcht.« 145 »Wir haben bereits einige Züge der natürlichen Gesellschaft aufgezeigt. Sie schließen sich zusammen und verleihen ihr eine Physiognomie, die man mühelos interpretieren kann. Konzentration, Zusammenhalt, Hierarchie, absolute Autorität des Oberhaupts – das alles bedeutet Disziplin, Kriegsgeist.« 146 »Vertiefte man sich in diesen Punkt, so würde man das Bewusstsein als das immanente Licht jener Zone möglicher Handlungen oder virtueller Aktivität erkennen, die die tatsächliche vollzogene Handlung des Lebewesens umgibt. Bewusstsein bedeutet Schwanken oder Wahl.« 147 Vgl. Kap. 6, Anm. 284. Croyance signifie donc essentiellement confiance ; l’origine première n’est pas la crainte, mais une assurance contre la crainte. – DS 1104 | 159 | 119 146 De la société naturelle nous venons en effet d’indiquer quelques traits. Ils se rejoignent, et lui composent une physionomie qu’on interprétera sans peine. Repliement sur soi, cohésion, hiérarchie, autorité absolue du chef, tout cela signifie discipline, esprit de guerre. – DS 1216 | 302 | 221 147 En approfondissant ce point, on trouverait que la conscience est la lumière immanente à la zone d’actions possibles ou d’activité virtuelle qui entoure l’action effectivement accomplie par l’être vivant. Elle signifie hésitation ou choix. – EC 617 | 145 | 149 144 145

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»Aber was sollte sein Urteil anderes bedeuten als dass er keine Notwendigkeit mehr sieht, weiterzusuchen […]?« 148

Man sieht, dass sich die Zusammenhänge im Detail unterscheiden, dass aber in allen Fällen von einem Zusammenhang mit dem Handeln die Rede ist. Im ersten Beispiel geht es um eine Grundbedingung menschlichen Handelns. Bergson bestreitet die alte These, Religion sei ein Ausdruck von Weltangst, und setzt ihr den Gedanken entgegen, der Glaube sei gerade Ausdruck eines Weltvertrauens, das handelnde Menschen von der Befürchtung, ihr Handeln sei ohnehin vergeblich, befreit. Die Bedeutung des Glaubens – wenn auch nicht der Sinn des Wortes – ist also die von ihm bewirkte Ermutigung zum Handeln. Das zweite Beispiel führt eine Verkettung von Handlungsmustern als Konsequenz – in dem von William James gemeinten Sinne – vor: Eine Moral, die damit beginnt, Gehorsam und Unterordnung zu fordern, wird damit enden, dass sie zum Krieg aufruft. Insofern bedeutet eine Moral, für die der Zusammenhalt einer einzelnen Gruppe den höchsten Wert darstellt, letztlich Krieg. Die Bedeutung eines Sachverhalts kann freilich – man denke noch einmal an Nietzsche – nicht nur in einem Nutzen, sondern auch in einem Nachteil für die Lebensvollzüge bestehen. Dies kommt in den beiden letzten Zitaten zum Ausdruck. Im dritten Beispiel weist Bergson darauf hin, dass Bewusstsein – und noch einmal: dies ist nicht der Sinn des Wortes Bewusstsein, sondern die Bedeutung des faktisch vorhandenen Bewusstseins – aus der Perspektive der vorreflexiven Lebensvollzüge eine Behinderung darstellt. Das ins gedankenlose Handeln sich einmischende Bewusstsein bedeutet, dass man zögert, die verschiedenen Optionen abwägt und schließlich wählt. Eine bestimmte Erfahrung kann schließlich auch bedeuten, dass eine Handlung – sei es nun erfolgreich oder erfolglos – an ihr Ende gekommen ist. Freilich können – und darauf weist das vierte Beispiel hin – Erfahrungen auch mutwillig so interpretiert werden, dass sie eine Fortsetzung des Handelns als unnötig oder aussichtslos erscheinen lassen. Eine solche Interpretation bedeutet dann – was immer der Sinn der geäußerten Worte sein mag –, dass der Sprecher nicht gewillt ist, das Handeln fortzusetzen. Bergson fügt dem Wort signification in einigen Fällen ergänzende Formulierungen hinzu, die geeignet sind, den Sinn dieses Wortes 148 Et que signifiera son jugement, sinon qu’on n’a plus besoin de chercher […]. – PM 1324 | 90 | 101

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weiter zu klären. Dabei lassen sich zwei verschiedene Konstruktionen unterscheiden. Bei der ersten wird dem Substantiv signification ein weiteres Substantiv zur Seite gestellt, das präzisiert, wie man sich die Bedeutung näherhin vorzustellen hat, wenn man so will: wie sie »funktioniert«. Diese erläuternden Substantive geben – ähnlich wie die angeführten Zitate – einen Überblick über den Facettenreichtum des Bedeutungsbegriffs. So verwendet Bergson in einem Fall das Wort »Wichtigkeit« (importance) als Synonym für »Bedeutung« 149, in einem anderen erläutert er »Bedeutung« als die »Rolle« (rôle), die ein Phänomen spielt 150, in einem dritten schließlich nähert er sie dem »Wert« (valeur) eines Phänomens an 151. Das Wort »Bedeutung« kann aber – und zwar insbesondere, wenn von sprachlichen Äußerungen oder theoretischen Ideen die Rede ist – auch mit Substantiven assoziiert werden, die ausdrücken, dass ein bedeutsames Phänomen direkt eine gewisse Macht in der Wirklichkeit ausübt. So rückt Bergson die »Bedeutung«, die einem Gebet nach der Auffassung der traditionellen Religionen zukommt, in die Nähe seiner »Wirksamkeit« (efficacité) 152. An anderer Stelle bemerkt er, die Idee der Wahrheit habe bei William James »eine neue Kraft und eine neue Bedeutung« erhalten 153. Kurz: Die erläuternden Substantive markieren ein Spektrum, von dem man sagen könnte, dass es sich zwischen den Polen »Bedeutsamkeit« und »Kraft« erstreckt. Bei der zweiten Konstruktion wird dem Substantiv signification eine Einschränkung hinzugefügt. In den meisten Fällen ist das lediglich ein Adjektiv: »vitale Bedeutung«, »menschliche Bedeutung«, »soziale Bedeutung«. 154 Ergiebiger für eine Analyse, wie wir sie hier durchführen, sind allerdings die wenigen Fälle, in denen das Adjektiv durch eine Verbindung von Präposition und Substantiv ersetzt wird. Das wichtigste Beispiel habe ich bereits angeführt: »Das ist seine

[…] c’est sa signification humaine, c’est son importance pour l’homme […]. – DS 1098 | 151 | 113 150 Tel est donc le rôle, telle est la signification […]. – DS 1154 | 223 | 164 151 […] de sa signification et de sa valeur. – DS 1156 | 226 | 166 152 […] que ce n’est pas seulement la signification de la phrase, mais aussi bien la consécution des mots avec l’ensemble des gestes concomitants qui lui donnera son efficacité. – DS 1147 | 213 | 157 153 […] cette idée prend une force et une signification nouvelles. – PM 1444 | 244 | 238 f. 154 signification vitale – PM 1294 | 54 | 68; signification humaine – DS 1098 | 151 | 113; signification sociale – R 390 | 6 | 9 149

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menschliche Bedeutung, seine Wichtigkeit für den Menschen«. 155 Eine derartige Formulierung sagt uns, dass Bedeutung nach Bergsons Auffassung ein »Für« erfordert. Bedeutung gibt es nicht wie Steine oder Bäume, sondern Bedeutung hat ein Sachverhalt für jemanden: für einen einzelnen Menschen, für eine Menschengruppe, für die ganze Menschheit. Kann das Für einer Bedeutung auch ein Tier oder eine Pflanze sein? Man sollte meinen, dass es sich so verhält: Wenn Bedeutung beliebigen Sachverhalten (nicht nur sprachlichen Äußerungen) zukommen kann, wenn die Bedeutung wesentlich im Handeln (nicht notwendigerweise im Denken oder Sprechen) zum Ausdruck kommt, wenn schließlich »Bedeutung« besagt, dass manche Sachverhalte bedeutsam sind, andere dagegen nicht – dann wäre zu erwarten, dass Bergson auch die Lebensvollzüge von Tieren und Pflanzen mit dem Erfassen von Bedeutung verknüpft sieht. Indessen: Die Texte sprechen eine andere Sprache. Gewiss, es gibt Sätze, aus denen man nach Anwendung von allerlei interpretatorischen Zauberkunststückchen so etwas wie eine Bedeutung für Lebewesen überhaupt herauslesen könnte. Wer aber Bergsons Texte liest, ohne auf die Frage nach den Kandidaten für das Für von Bedeutung eine bestimmte Antwort zu erwarten oder gar zu wünschen, der wird zu dem Schluss kommen, dass es nach Bergsons Auffassung Bedeutung nur für Menschen gibt und dass er sich nur deshalb in vielen Fällen nicht die Mühe macht, dies eigens zu betonen, weil er es für selbstverständlich hält. Dieses Ergebnis irritiert, und zwar vor allem aus zwei Gründen. Zum einen mögen wir noch so viel über Leser ohne Erwartungen oder Wünsche zu sagen haben – letztlich müssen wir zugeben, dass wir selbst, sollten wir es je gewesen sein, inzwischen keine solchen Leser mehr sind. Wir haben im ersten Kapitel Hermeneutik als Texthermeneutik (Hermeneutik sprachlicher Äußerungen) gefasst und diese für sich allein betrachtet. Einen solchen für die Lebensphilosophie (und deshalb auch für Bergson) zu engen Begriff von Hermeneutik wollen wir, ausgehend vom Begriff des Unbewussten und vom Konzept einer Handlungshermeneutik, in diesem zweiten Kapitel ausweiten. Dabei hat sich abgezeichnet, dass der Gegenstandsbereich der Hermeneutik immer noch zu eng gefasst ist, wenn man nur bewusste menschliche Handlungen zulässt; dass es auch nicht genügt, die durch unbewusste Impulse gesteuerten menschlichen Handlungen hinzuzunehmen; 155

Vgl. Anm. 149.

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dass vielmehr ein philosophiehistorisch wie auch systematisch überzeugender Ansatz die Vollzüge der Pflanzen und Tiere berücksichtigen, d. h. sich auf die Ebene der Biologie hinabbegeben muss. Damit unterstellen wir, dass es das Anliegen der Lebensphilosophie ist, Phänomene wie Sinn und Bedeutung an ihre natürliche Basis zurückzubinden, und deshalb versuchen wir, die Lebensphilosophie so in einem Spannungsfeld aus Theorie des Sinns (Hermeneutik) und Theorie des Lebens (Biologie) zu verorten, oder vielmehr: sie als dieses Spannungsfeld zu rekonstruieren, dass das, was Mirjana Vrhunc in Bergsons Philosophie partout nicht zu finden vermag, also das, was wir – wenn auch inzwischen mit Vorbehalt – erst einmal weiter als »Genealogie des Sinns« bezeichnen wollen, sich gerade als das Zentrum ihres Forschens entpuppt. Eine Genealogie von Sinn und/oder Bedeutung aber muss, wenn man dem lebensphilosophischen Ansatz konsequent folgen will, bis auf ihre ersten Anfänge zurückverfolgt werden, damit sich der »Sitz im Leben« (Bultmann) wirklich erkennen lässt – und eben deshalb kann uns das Ergebnis, dass Bergson Bedeutung nur im Leben des Menschen, nicht aber in demjenigen der Tiere und Pflanzen findet, nicht gleichgültig sein. Der Umstand, dass Bedeutung für Bergsons pragmatistisch geprägte Philosophie nicht an Sprache gebunden ist, sondern sich im Handeln zeigt, schien den Weg freizumachen zu einer Schicht von bedeutsamer Wirklichkeit, die auch die lebendigen Vollzüge von Pflanzen und Tieren prägt. Wenn Bergson die Dinge nicht so sieht, ist das also kein Ergebnis, das wir als neutrale Beobachter zur Kenntnis nehmen können, sondern eines, das wir für ein Hindernis auf unserem Wege halten müssen. In solchen Situationen ist es angebracht, die Frage zu stellen, ob man nicht den falschen Weg eingeschlagen hat, ob man nicht besser die Richtung ändern sollte. Sind wir vielleicht ein wenig übers Ziel hinausgeschossen, als wir der Lebensphilosophie unterstellten, sie sei bestrebt, Bedeutung noch in den tiefsten Schichten des Lebens aufzuweisen? Indessen vermittelt – und dies ist der zweite Grund für die Irritation – ein Blick auf Autoren, denen man eine gewisse geistige Verwandtschaft mit Bergson unterstellen darf, keineswegs den Eindruck, der Gedanke, dass es Bedeutung bzw. Bedeutsames auch für Pflanzen und Tiere gebe, müsse als absurd betrachtet werden. George Herbert Mead, dessen Formel Nature has meaning ich bereits zitiert habe 156, betont 1927/30, dass das Vorhandensein von Be156

Vgl. Anm. 104.

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deutung nicht an Bewusstsein (awareness or consciousness) gebunden sei, und führt als Beispiel ein Hühnerküken an, das auf das – Futter oder Gefahr signalisierende – Gackern seiner Mutter reagiert. 157 Jakob von Uexküll zeigt in seiner erstmals 1940 erschienenen »Bedeutungslehre«, dass die Umwelt von Pflanzen und Tieren nicht aus neutralen Fakten, sondern aus mehr oder weniger bedeutsamen Sachverhalten besteht. An eine derartige Auffassung konnten dann Konzepte einer Biosemiotik 158, einer Naturästhetik 159 oder einer Naturhermeneutik 160 anknüpfen. Kurz: Die Auffassung, dass es jenseits des menschlichen Lebens Tiefenschichten der Bedeutung gibt, lässt sich durchaus überzeugend vertreten und ist auch vertreten worden. Das jedenfalls kann nicht der Grund für Bergsons Schweigen sein. Betrachten wir also Bergsons Position etwas differenzierter. Zunächst einmal sollten wir nicht übersehen, dass – wie man zu sagen pflegt – »das Glas halb voll« ist: Wenn Bergson der Meinung ist, dass natürliche Phänomene eine Bedeutung für den Menschen haben können, dann ist das jedenfalls gegenüber einer Position, die ausschließlich vom Menschen Hervorgebrachtes oder gar nur sprachliche Äußerungen als mögliche Gegenstände der Hermeneutik zulassen will, ein Fortschritt in der von uns angestrebten Richtung. Man darf sogar behaupten, dass die Erforschung dieses Bereichs für Bergson eine wesentliche Rolle spielt. So kritisiert er in Le rire – um nur ein Beispiel herauszugreifen – alle Theorien, die das Lächerliche auf einen Widerspruch zurückführen wollen, als zu intellektualistisch und weist darauf hin, dass es sich beim Lachen um eine naturhafte, nicht sprachlich artikulierte Äußerung handelt, die zudem nicht durch einen bewussten Entschluss in Gang gebracht wird, sondern unwillkürlich erfolgt. Andererseits ergibt dann aber seine Analyse, dass das Lachen gesellschaftliche Bedeutung hat, insofern es Automatismen kritisiert, die aufgrund ihrer Starrheit geeignet sind, den Zusammenhalt der Gesellschaft zu bedrohen. Einerseits also macht er die natürliche Verankerung des Phänomens stark, andererseits zeigt er, welche Bedeutung ihm für Menschen zukommt und wie es diese erlangen kann.

Mead[1967] 77 Andreas Weber hat eine »semiotische Theorie des Lebendigen« vorgelegt, die er zugleich als »Hermeneutik des Lebendigen« betrachtet. – Weber(A)[2003] 13, 15. 159 Böhme[1989], Böhme[1992]. 160 Behnke[1999] interpretiert Ludwig Klages’ Philosophie als Naturhermeneutik. 157 158

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Durch die Verschränkung der beiden Aspekte wird demnach am Phänomen des Lachens genau diejenige Spannung zwischen Naturhaftigkeit und Bedeutung erkennbar, die wir in Bergsons Philosophie insgesamt sowie in der Lebensphilosophie überhaupt vermuten. 161 Freilich haben wir es auch mit einem Glas zu tun, das »halb leer« ist, insofern Bergson zwar anerkennt, dass Lebewesen und natürliche Phänomene Bedeutung haben können – nämlich für den Menschen –, aber keine Neigung zeigt, anderen Lebewesen als dem Menschen ein Erfassen von Bedeutung zuzusprechen. Aber wie soll man das verstehen? Auf diese Frage bieten sich drei mögliche Antworten an: (1) Bergson leugnet, dass Pflanzen und Tiere Bedeutung erfassen. (2) Bergson interessiert sich nicht für die Frage, ob auch Pflanzen und Tiere als das Für der Bedeutung in Betracht kommen. (3) Bergson unterstellt zwar ein Erfassen von so etwas wie Bedeutung bei Pflanzen und Tieren, möchte es aber von dem aus der menschlichen Erfahrung bekannten Phänomen unterscheiden und nennt es deshalb anders. Merkwürdigerweise stellt sich heraus, dass alle drei Antworten einen wahren Kern enthalten. Es gibt, wenn ich recht sehe, keinen Text, in dem Bergson das Vorkommen von Bedeutung in der Erfahrung nicht-menschlicher Lebewesen explizit bestreiten oder in dem er »Bedeutung« so definieren würde, dass ihre Unmöglichkeit bei Pflanzen und Tieren daraus unmittelbar folgt. Es gibt aber einige Passagen, bei deren Lektüre man den Eindruck gewinnen kann, dass das Wort »Bedeutung« für Bergson eine Färbung annimmt, die es bei anderen Autoren nicht hat und die erklären kann, warum es nicht im Zusammenhang mit Tieren oder Pflanzen auftritt. So schreibt Bergson anlässlich der Unterschei-

Unschwer erkennt man, dass die fonction fabulatrice (Les deux sources de la morale et de la religion, Kapitel 2), die den intelligenzgesteuerten Menschen vom Egoismus abbringen soll, das gleiche Spannungsverhältnis aufweist. Generell geht es bei der Betrachtung solcher Phänomene um die Frage, inwieweit der Mensch von Natur aus ein gesellschaftliches Wesen ist und in welcher Weise seine natürliche Basis die Gestaltung der Gesellschaften prägt. Das ist freilich keineswegs der einzige Aspekt, unter dem die Verschränkung von naturhaft-unbewusstem Vollzug und menschlicher Bedeutung relevant werden kann. So beschreibt Bergson etwa seit Matière et mémoire die zunehmende Zahl sowie die (im Verlauf der Evolution) zunehmende Differenzierung von Nerven und Muskeln im einzelnen Lebewesen als den körperlichnaturhaften Aspekt einer Entwicklung, dessen geistig-seelischer Aspekt die zunehmende Möglichkeit einer bewussten Wahl zwischen verschiedenen Handlungsoptionen darstellt.

161

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dung zwischen einem »Oberflächen-Ich« und einem »Tiefen-Ich« 162 über die Handlungen des ersteren: »Diese zwar sehr zahlreichen, doch mehrheitlich unbedeutenden Handlungen sind es, auf die sich die Assoziationstheorie anwenden lässt. […] Man könnte leicht zeigen, dass diese unbedeutenden Handlungen an irgendein bestimmendes Motiv geknüpft sind. Aber in den wirklich ernsten Situationen, in denen es darum geht, Anderen, vor allem aber uns selbst ein Bild von uns zu vermitteln, wählen wir ohne Rücksicht auf das, was man ein Motiv zu nennen übereingekommen ist.« 163

Bergson teilt hier die menschlichen Handlungen auf in diejenigen, die zwar die überwiegende Mehrheit bilden, aber aus seiner Sicht dennoch »unbedeutend« sind, und diejenigen, die nur selten und »unter ganz besonderen Umständen« vorkommen und von denen wir – obwohl es unausgesprochen bleibt – annehmen müssen, dass sie die eigentlich bedeutenden darstellen. Auf eine ganz ähnliche, wenn auch nicht in die gleichen Worte gekleidete Unterscheidung stößt man am Anfang von Le rire: »Das Komische scheint seine durchschlagende Wirkung nur äußern zu können, wenn es eine völlig unbewegte, ausgeglichene Seelenoberfläche vorfindet. Gleichgültigkeit ist sein natürliches Milieu. Das Lachen hat keinen größeren Feind als die Emotion.« 164

Das Lachen macht auf menschliches Fehlverhalten in Gestalt von unbedacht-gewohnheitsmäßigem Handeln aufmerksam. Aber es richtet sich nur auf die kleinen, die unbedeutenden Fehler. Ist der Bestand der Gruppe oder das Leben einzelner Mitglieder durch das Fehlverhalten ernsthaft bedroht, geht es um den »Ernst der Existenz« und »das Wesentliche des Lebens« 165, dann stellt das Lachen eine zu schwache Gegenmaßnahme dar. Wir erfahren auch, wie die beiden Bereiche Vgl. dazu Abschnitt 2.3.2.3, S. 281. C’est à ces actions très nombreuses, mais insignifiantes pour la plupart, que la théorie associationniste s’applique. […] On montrerait sans peine que ces actions insignifiantes sont liées à quelque motif déterminant. C’est dans les circonstances solennelles, lorsqu’il s’agit de l’opinion que nous donnerons de nous aux autres et surtout à nous-mêmes, que nous choisissons en dépit de ce qu’on est convenu d’appeler un motif […]. – DI 111 f. | 127 f. | 127 f. – Hervorhebungen von mir [C. K.]. 164 Il semble que le comique ne puisse produire son ébranlement qu’à la condition de tomber sur une surface d’âme bien calme, bien unie. L’indifférence est son milieu naturel. Le rire n’a pas de plus grand ennemi que l’émotion. – R 388 | 3 | 7 – Hervorhebungen von mir [C. K.]. 165 le sérieux de l’existence – l’essentiel de la vie – R 395 | 14 | 16 162 163

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unterschieden werden: Die Gleichgültigkeit stellt den gemeinsamen Nenner des gewohnheitsmäßigen Handelns und des darauf reagierenden Lachens dar. Die bedeutenden Herausforderungen erkennt man dagegen an der emotionalen Beteiligung. In die gleiche Richtung weist Bergsons Gebrauch des Adjektivs significatif, das vor allem in Verbindung mit dem Substantiv fait auftritt: »Da noch kein Beobachter sich diese Frage gestellt hat, so wäre es für uns sehr schwierig, eine Antwort darauf zu geben, wenn wir nicht in den Berichten hier und da gewisse Tatsachen gefunden hätten, welche uns bedeutsam erscheinen.« 166 »Diese Notwendigkeit, zu warten, ist die bedeutsame Tatsache. Sie drückt aus, dass, wenn man auch aus dem Universum Systeme herauslösen kann, für die die Zeit nur eine Abstraktion, eine Relation, eine Zahl ist, das Universum selbst doch etwas ganz anderes ist.« 167

Von der großen Zahl beobachtbarer und beobachteter Tatsachen heben sich die bedeutsamen demnach dadurch ab, dass sie dazu anregen, die Dinge anders zu sehen, als man sie gewöhnlich sieht, und andere Fragen zu stellen als die, die man gewöhnlich stellt. Kurz: Das Wort »Bedeutung« tendiert – um es mit der gebotenen Behutsamkeit zu formulieren – bei Bergson dazu, den darin ja auch enthaltenen Aspekt des Bedeutsamen im Sinne des Besonderen, des Ungewöhnlichen, des Außerordentlichen zu betonen. Dabei korreliert der Charakter des Unüblichen und Unvertrauten auf der Seite des Sachverhalts mit einem Handeln, das nicht auf Gleichgültigkeit und gedankenloser Routine, sondern auf innerer Anteilnahme sowie bewusster Überlegung und Entscheidung beruht. Nun kann man aber sagen, dass Bergson in dem Maße, in dem »Bedeutung« und »Bedeutsamkeit« diesen speziellen Sinn annehmen, in der Tat zu der Auffassung kommen muss, dass es sich dabei um ein spezifisch menschliches, bei Tieren und Pflanzen nicht anzutreffendes Phänomen Aucun observateur ne s’étant posé une question de ce genre, nous serions fort en peine d’y répondre si nous n’avions relevé çà et là, dans leurs descriptions, certains faits qui nous paraissent significatifs. – MM 242 | 105 | 87 f. – Hervorhebungen von mir [C. K.]. 167 Cette nécessité d’attendre est le fait significatif. Elle exprime que, si l’on peut découper dans l’univers des systèmes pour lesquels le temps n’est qu’une abstraction, une relation, un nombre, l’univers lui-même est autre chose. – PM 1262 | 12 | 31 f. – Hervorhebung von mir [C. K.]. 166

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handelt. In diesem Sinne kann die erste mögliche Antwort als zutreffend bezeichnet werden. Man sieht aber auch, dass Bergson einen speziellen Sinn von »Bedeutung« in den Vordergrund rückt, der jedenfalls nicht seinen Gesamtsinn ausmacht, so dass man – wie in der zweiten möglichen Antwort vermutet – auch sagen kann, Bergson interessiere sich vor allem für eine spezifisch menschliche Form von Bedeutung. Damit aber wird auch die dritte mögliche Antwort relevant, denn wenn Bergson dazu tendiert, Bedeutung im strengen Sinne des Wortes mit »besonderen Umständen« in Verbindung zu bringen, dann wird gleichsam eine Stelle frei für etwas, was man provisorisch »Bedeutung light« oder »Bedeutung für den Alltagsgebrauch« nennen könnte. Dass das Vorhandensein und das Erfassen von Bedeutung in diesem weiteren Sinne prinzipiell beim gewohnheitsmäßigen menschlichen Handeln ebenso nachweisbar wäre wie bei den Vollzügen der Tiere und Pflanzen, haben wir bereits von Autoren wie Mead und Uexküll erfahren. Die Frage ist nur: Kommt diese »Bedeutung light« in Bergsons Texten vor? Und wenn sie vorkommt, wie nennt Bergson sie? 2.2.2.3 Die Funktion In gewissem Sinne setzt der Abschnitt, den wir gerade beginnen, die Erörterungen des vorhergehenden fort: Wir haben festgestellt, dass sich »Sinn« und »Bedeutung« in Bergsons Texten als Charakteristika der menschlichen Erfahrung nachweisen lassen, dass wir aber (mindestens) eine Schicht der Bildung von Sinn und/oder Bedeutung vermissen, die so eng mit den naturhaft-unbewussten Vollzügen und so wenig mit menschlichem Bewusstsein und menschlicher Kultur verbunden ist, dass sie auch im Sich-Verhalten der Tiere und Pflanzen zu ihrer Umwelt nachgewiesen werden kann. Diese Schicht suchen wir hier, weil wir prüfen wollen, ob sich Bergsons Philosophie als eine solche darstellen lässt, die das gesamte, zwischen Theorie des Sinns (Hermeneutik) und Theorie des Lebens (Biologie) sich erstreckende Spannungsfeld der Lebensphilosophie zur Sprache bringt. In einem anderen Sinne handelt es sich hier freilich um einen Rückgriff und ein nochmaliges Ansetzen. Zu Beginn von Abschnitt 2.2.1 hatten wir die Frage gestellt, wie Bedeutung und Verstehen aus dem Leben entspringen, und behauptet, der Versuch einer Antwort könne auf Diltheys Formel »Das Leben artikuliert sich« aufbauen. Wir hatten dann die für die Lebensphilosophie charakteristi210 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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sche Immanenz sowie das nicht minder charakteristische Spannungsfeld von Theorie des Sinns und Theorie des Lebens erörtert, und wir hatten uns veranlasst gesehen, Bergsons Verwendung der Worte »Sinn« und »Bedeutung« zu klären. Darüber aber haben wir die Frage ein wenig aus den Augen verloren, inwiefern der Begriff der Artikulation geeignet ist, das, was wir – an Mirjana Vrhunc anknüpfend – die Genesis des Sinns genannt haben, aufzuklären. Es gilt also nun, auf diese Frage zurückzukommen. Offenkundig besteht ein Zusammenhang zwischen der Fortsetzung und dem erneuten Ansetzen. Man könnte ihn so formulieren, dass unter den Bedingungen einer Lebensphilosophie, die ja den Sinn an das Leben als seine natürliche Basis zurückbinden will, die Genesis des Sinns nur dann vollständig dargestellt werden kann, wenn die Vorstufen des Sinns in den tiefer liegenden, vorsprachlichen Schichten ebenso betrachtet werden wie die ihnen zuzuordnenden Formen der Artikulation, die der sprachlichen Artikulation vorausgehen. Aber die Rede von der Genesis des Sinns ist inzwischen fragwürdig geworden. Denn wovon sollen wir eigentlich sprechen: Von der Genesis des Sinns, wie wir ihn in Abschnitt 2.2.2.1 betrachtet haben? Von der Genesis der Bedeutung, wie wir sie in Abschnitt 2.2.2.2 als etwas vom Sinn Verschiedenes kennengelernt haben? Von beiden Genesen in getrennten Geschichten? Oder von beiden Genesen in einer einzigen Geschichte, die dann aber im Grunde die Genesis von etwas Anderem, Sinn und Bedeutung Umgreifenden zu sein hätte? Nun rührt diese Schwierigkeit daher, dass die Frage nach der Genesis des Sinns eine Antwort fordert, die aus der Rückschau, d. h. vom erreichten Niveau des sprachlich vermittelten Sinns aus gegeben wird. Sie erwartet eine Geschichte, die sich zwar an irgendeinen Ausgangspunkt zurückversetzt, von dort aus aber klaren Kurs auf das stets vor Augen bleibende Ziel nimmt. Kurz: Sie erwartet eine vom Ende her gedachte, lineare Entwicklungsgeschichte. Ich möchte deshalb die Fragestellung so verändern, dass als Antwort eine vom Anfang her gedachte Geschichte in Betracht kommt, d. h. eine Darstellung, die ihren Standort am Ausgangspunkt der Entwicklung bezieht und für die die weitere Entwicklung durch Unbestimmtheit und Offenheit charakterisiert ist. Eine solche Darstellung muss damit rechnen, dass es viele mögliche Wege der Weiterentwicklung gibt und dass im Verlauf der Entwicklungsgeschichte mehrere dieser Wege erprobt werden. Kurz: Für eine solche Darstellung stellt sich die weitere Entwicklung als Abenteuer mit offenem Ausgang dar. 211 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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Als Ausgangspunkt möchte ich Diltheys Formel vorschlagen: Das Leben artikuliert sich. Damit diese Formel wirklich das leisten kann, was dann von ihr erwartet wird, muss – wie bereits im Abschnitt 2.2.1 betont – der Begriff der Artikulation zwar nicht völlig von der menschlichen Wortsprache losgelöst, wohl aber so weit gefasst werden, dass er es möglich macht, neben Formen der sprachlichen Artikulation auch solche nicht-sprachlicher Artikulation zu denken und nicht-sprachliche Artikulation noch in den tiefsten Schichten des Lebens zu erkennen. Artikulation muss so gedacht werden, dass man sagen kann: Wo und in welcher Gestalt immer Leben vorkommt – sei es nun auf den spätesten oder auf den frühesten Stufen der Evolution, sei es im Hinblick auf das einzelne Lebewesen oder auf das Leben als »Subjekt« der Evolution –, da artikuliert es sich in irgendeiner Weise. Leben ist Artikulation und ohne Artikulation nicht möglich. Auf dieser Basis lässt sich dann eine Alternative zum Konzept einer Genesis des Sinns entwickeln, die ich – in Anlehnung an einen von A. N. Whitehead stammenden Buchtitel 168 – als Abenteuer der Artikulation bezeichne. Dabei geht es um die Frage, in welchen Formen das Prinzip der Artikulation auf verschiedenen Stufen des Lebens auftritt, was es in jedem einzelnen Fall leistet und welche Beziehungen es zwischen den verschiedenen Formen gibt. Was Artikulation im Kontext menschlichen Sprechens – also am »oberen«, hermeneutischen Pol des lebensphilosophischen Spannungsfeldes – bedeutet, ist aus dem ersten Kapitel bekannt, obwohl wir dort noch nicht diese Bezeichnung verwendet haben. Sprachliche Artikulation ist ein Vorgang, bei dem nach Bergsons Auffassung ein Sprecher eine ganzheitlich, aber undifferenziert gegebene Sinnintention in Sätze und Worte zerlegt, wobei es darauf ankommt, dass die Sinnintention erhalten bleibt und durch die Summe der sprachlichen Mittel zum Ausdruck gebracht wird. Die Sinnintention darf also nicht nur nicht zerstört, sie muss sogar durch die Zerlegung – für die sprechende ebenso wie für die zuhörende Person – geklärt werden, d. h. an Deutlichkeit und Differenziertheit gewinnen. Es gilt nun herauszufinden, inwiefern von Artikulation auch am »unteren«, biologischen Pol des lebensphilosophischen Spannungsfeldes gesprochen werden kann. Zu diesem Zweck möchte ich das zweite Kapitel von L’évolution créatrice heranziehen, in dem Bergson die Evolution des Lebendigen 168

Whitehead[1967]

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als Entwicklung verschiedenartiger Formen der Handlungssteuerung darstellt. Details der Entwicklungsgeschichte sollen im Abschnitt 2.3.1 erörtert werden. Hier geht es mir zunächst einmal nur um das ihr zugrunde liegende Muster, auf das Bergson selbst folgendermaßen aufmerksam macht: »Der seit Aristoteles immer weiter tradierte Grundirrtum, der die meisten Philosophien über die Natur irregeführt hat, besteht in der Auffassung des pflanzlichen, des instinktiven, des verstandesmäßigen Lebens als dreier Stufen einer und derselben in Entwicklung begriffenen Tendenz; während sie doch die drei divergierenden Richtungen einer Aktivität sind, die sich im Gang ihres Wachstums gespalten hat.« 169

Es ist wohl offenkundig, dass diese Sätze im Hinblick auf die Evolution des Lebendigen eben jene Umkehrung der Perspektive vollziehen, die ich mit den diesen Abschnitt einleitenden Bemerkungen im Hinblick auf die Genesis des Sinns vorgeschlagen habe: Bergson kritisiert die seit Aristoteles herrschende Auffassung, die pflanzliche, die tierische sowie die menschliche Handlungssteuerung stellten drei Stufen einer einzigen, linearen Entwicklung dar, wobei die pflanzliche als die unvollkommenste und die menschliche als die vollkommenste zu bewerten sei. Die vom vermeintlichen End- und Gipfelpunkt her konstruierte Standarderzählung möchte er durch eine andere, vom Anfang her gedachte Erzählung ersetzen, deren Pointe darin besteht, dass pflanzliches Vegetieren, tierischer Instinkt und menschliche Intelligenz aufgefasst werden als drei in verschiedene Richtungen zielende Versuche, das Problem der Handlungssteuerung zu lösen. Die Konsequenz dieses andersartigen Ansatzes besteht darin, dass man es nicht mehr mit drei mehr oder minder vollkommenen Stufen, sondern mit prinzipiell gleichwertigen Alternativen zu tun hat. Im Moment aber interessieren wir uns für die elementaren Operationen, die die beiden Erzählungstypen ermöglichen. Im Fall der vom Ende her konstruierten Erzählung handelt es sich um einen Sprung auf eine höhere Stufe, mithin um eine »vertikale« Operation, die prinzipiell beliebig oft angewandt werden kann, um eine Geschichte der Höherentwicklung zu erzeugen. Im Fall der von Bergson vorgeschlagenen, 169 L’erreur capitale, celle qui, se transmettant depuis Aristote, a vicié la plupart des philosophies de la nature, est de voir dans la vie végétative, dans la vie instinctive et dans la vie raisonnable trois degrés successifs d’une même tendance qui se développe, alors que ce sont trois directions divergentes d’une activité qui s’est scindée en grandissant. – EC 609 | 136 | 140

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vom Anfang her konstruierten Erzählung handelt es sich um eine Aufspaltung, also um eine »horizontale« Operation, die bei einfacher Anwendung zwei oder mehr Teile hervorbringen, aber auch mehrmals nacheinander angewandt werden kann. Greifen wir, um möglichst weit in das Reich der Biologie hineinzukommen, gleich die erste große Spaltung, von der Bergsons Evolution des Lebendigen zu berichten weiß, heraus. 170 Ich hatte bereits darauf hingewiesen, dass Bergson unter Lebewesen »Systeme« versteht, die Energie aus ihrer Umwelt aufnehmen und speichern, um sie bei günstiger Gelegenheit auf eine für sie vorteilhafte Weise wieder zu verausgaben. Dabei gilt prinzipiell, dass die benötigte Energie nur aus den anorganischen Stoffen gewonnen werden kann, die die Lebewesen in ihrer Umwelt vorfinden. In einem frühen Stadium der Evolution erfolgte dann allerdings eine Aufspaltung der »Lebewesen überhaupt« in Pflanzen und Tiere. Dabei übernahmen die Pflanzen die Rolle der »Spezialisten für Energiegewinnung und -speicherung«, die selbst kaum noch Energie verbrauchen, weil sie die Bewegungsfähigkeit aufgegeben haben. Die Tiere wiederum gaben die Fähigkeit auf, Energie aus anorganischen Stoffen zu gewinnen, verlegten sich darauf, Pflanzen – und später sogar andere Tiere – zu fressen, mussten aber, da ihre Nahrung nun nicht mehr überall vorrätig war, ihre Bewegungsfähigkeit entwickeln und wurden so zu »Spezialisten für die Energieverausgabung«. So artikuliert sich das unartikulierte Leben, wenn es fern von Sprache und Bewusstsein, ja fern von jeglicher Individualität als Prozess der Evolution abläuft. Ein undifferenzierter Gesamtablauf (hier das Energie-Aufnehmen-Speichern-Verausgaben) differenziert sich und teilt sich in distinkte Gestalten (Gattungen, Arten, Organe usw.). Das Leben artikuliert sich, indem es sich differenziert und so erkennbar macht, was »in ihm steckt«. Denn im Grunde können wir das Leben nur deshalb als ursprüngliche Einheit von Energieaufnahme und Energieverausgabung beschreiben, weil sich die beiden Aspekte heute bei Pflanzen und Tieren getrennt beobachten lassen. Aber man würde zu kurz springen, wollte man die Artikulation lediglich als Teilung beschreiben. Das Leben teilt sich nicht so, wie man einen Käse zerteilt oder einen Holzblock spaltet. Das Eigentümliche von Aufspaltungen im Bereich des Lebens fasst Bergson gerne in die Formel, jeder Teil sei eben gerade keine klar begrenzte Gestalt, 170

EC 585–596 | 107–121 | 111–125

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sondern von einem »Hof« oder »Saum« (frange) umgeben, der auf die ursprüngliche Ganzheit und die anderen Teile verweist. 171 Das artikulierende Zerlegen, das im Bereich des Lebendigen zu beobachten ist, lässt sich also eher mit dem vergleichen, was man heute in der Industrie Outsourcing nennt: Innerhalb eines Gesamtablaufes werden Teilabläufe – im wahrsten Sinne des Wortes – definiert, und einzelne Teilabläufe, die traditionell in der eigenen Firma abgewickelt wurden, werden an andere, auf die jeweiligen Teilbereiche spezialisierte Firmen übertragen. Das bedeutet freilich nicht, dass ein ausgelagerter Teilablauf innerhalb des Gesamtablaufs nicht mehr benötigt würde. Die auslagernde Firma verfügt vielmehr weiterhin über einen Plan des Gesamtablaufs, aus dem hervorgeht, an welcher Stelle die Endergebnisse der ausgelagerten Teilabläufe in den Gesamtprozess einzubeziehen sind. Nach diesem Modell lässt sich auch die Aufspaltung der Lebewesen in Pflanzen und Tiere angemessener beschreiben. Die Tiere verzichten ja nicht auf die Aufnahme, ja sie verzichten, streng genommen, nicht einmal auf die Gewinnung von Energie aus anorganischen Stoffen – sie überlassen sie nur den Spezialisten und greifen auf deren Ergebnisse zurück. Auch die Pflanzen können nicht völlig auf Bewegung und die damit verbundene Verausgabung von Energie verzichten – sie überlassen diese aber (etwa in den Bereichen der Bestäubung oder der Ausbreitung der Art durch Verbreitung von Samenkörnern) ebenfalls den Experten für die Fortbewegung. Prinzipiell verfügt aber jede Pflanze und jedes Tier weiterhin über den aus Aufnahme, Speicherung und Verausgabung von Energie bestehenden Gesamtplan des Lebensprozesses. Anders formuliert: Eine im Bereich des Lebendigen sich vollziehende Artikulation lässt sich nicht auf einer einzigen Ebene beschreiben (dann wäre sie lediglich eine Zertrümmerung), sondern erfordert drei Beschreibungsebenen: diejenige der Teile, diejenige der Einheit, schließlich die vermittelnde Ebene des Gesamtplans, der jedem Teil seine Stelle und seine Aufgabe innerhalb des Ganzen zuweist. Diese Beschreibungsebenen spiegeln sich deutlich in Bergsons Terminologie wider. Die Ebenen der Einheit und der Teile können für sich allein betrachtet werden. Da das vor allem dann geschieht, wenn Bergson die philosophische Tradition kritisiert, verwendet er in diesem Fall auch die abstrakten Begriffe »Einheit« und »Viel171

EC 534–536,610 | 46–49,137 | 52–55,140–141

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heit« 172. Soll der Bezug zur jeweils anderen Ebene mitgedacht werden, kommt eine Fülle von Worten ins Spiel. Auf der Seite der Einheit seien »Totalität« und »Organismus« 173, auf der Seite der Vielheit der Teile sei »Komplexität« 174 als Beispiel genannt. Der beide Ebenen vermittelnde Gesamtplan heißt »Organisation« 175 oder auch »Struktur«, und die Rolle, die ein Teil innerhalb des Ganzen spielt, heißt »Funktion«. Einige dieser Begriffe verdienen eine nähere Betrachtung. Beginnen wir mit dem Begriff der »Funktion«, denn mit ihm haben wir das gefunden, was wir bisher unter der provisorischen Bezeichnung »Bedeutung light« gesucht haben. Die Funktion ist vergleichbar mit der Bedeutung, insofern sie (1) den Beitrag bezeichnet, den ein einzelnes Phänomen für die aktive Auseinandersetzung eines Lebewesens mit seiner Umwelt insgesamt leistet, und insofern sie (2) sowohl Produkten der menschlichen Kultur wie auch Produkten der Natur zugesprochen werden kann. Aber die Funktion unterscheidet sich auch von der Bedeutung, und Bergsons Gebrauch der Worte fonction sowie signification macht die Unterschiede sehr deutlich. Was die Hervorbringungen des Menschen angeht, so spricht Bergson etwa von einer »Funktion der Sprache« oder einer »Funktion der Religion«. Gemeint ist damit stets der naturhafte Ursprung, die natürliche Basis dieser Phänomene. Nirgends kommt das deutlicher zum Ausdruck als in den Kapiteln 2 und 3 von Les deux sources de la morale et de la religion: Im zweiten Kapitel, in dem die traditionellen (»statischen«) Religionen erörtert werden, häuft sich der Gebrauch des Wortes fonction. Diesen Religionen wird nicht nur eine Funktion für die Selbsterhaltung der menschlichen Individuen und Gruppen zugesprochen, sie entspringen überdies der Tätigkeit einer naturhaft-unbewussten Imagination, die als fonction fabulatrice bezeich172 Vgl. etwa die ausführliche Erörterung des Verhältnisses von Einheit und Vielheit in der Introduction à la métaphysique (PM 1402–1409 | 189–198 | 190–199). 173 […] c’est bien plutôt à la totalité de l’univers matériel que nous devrions assimiler l’organisme vivant. – EC 507 | 15 | 21 174 Deux points sont également frappants dans un organe tel que l’œil : la complexité de la structure et la simplicité du fonctionnement. […] C’est ce contraste entre la complexité de l’organe et l’unité de la fonction qui déconcerte l’esprit. – EC 570 | 89 | 93 f. 175 Das Wort organisation wird sowohl in einem aktiven wie auch in einem passiven Sinn gebraucht. Im aktiven Sinn – meist durch die ausführlichere Formulierung le travail d’organisation angezeigt – bezeichnet das Wort einen Vorgang, durch den Differenzierung entsteht, – also das, was wir hier »Artikulation« nennen. Im passiven Sinn bezeichnet es das Resultat des Differenzierungs- bzw. Artikulationsgeschehens.

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net wird. 176 Wie ein Spuk verschwinden diese Formulierungen aber – von wenigen Rückblenden abgesehen – im dritten, der mystischen (»dynamischen«) Religion gewidmeten Kapitel, um durch solche ersetzt zu werden, in denen das Wort signification vorkommt. Was die von der Natur hervorgebrachten Lebewesen und deren Organe angeht, so sei hier nur beispielhaft auf die lange Passage in L’évolution créatrice verwiesen, in der Bergson Struktur und Funktion des Auges untersucht. 177 Der für unser Thema entscheidende, weil die Funktion von der Bedeutung unterscheidende Punkt besteht darin, dass Bergson an dieser Stelle vom Auge überhaupt, also nicht nur vom menschlichen Auge, sondern vom Auge als einem bei vielen Lebewesen anzutreffenden Organ spricht. Funktion kann demnach nicht nur all das haben, was – ohne Zutun des Menschen – von der Natur hervorgebracht worden ist, sondern all dies kann eine Funktion auch für andere als menschliche Lebewesen (Tiere oder Pflanzen) haben. Das heißt freilich nicht, dass die Funktion bewusst – erkannt oder auch nur geahnt – sein müsste. Ganz im Gegenteil: Für die von Bergson angeführten Vorgänge – von der Tätigkeit der Körperorgane bis zu derjenigen der fonction fabulatrice – ist es charakteristisch, dass sie selbst beim Menschen noch unbewusst »funktionieren«. Die Funktion ist somit etwas objektiv Gegebenes, nicht etwas subjektiv Erfasstes. Die objektive Gegebenheit der Funktion bedeutet freilich nur, dass das bewusste Erfassen keine notwendige Voraussetzung des Funktionierens ist. Sie bedeutet nicht, dass die Funktion nicht bewusst erfasst, klar erkannt und ausgesprochen werden könnte. Wiederum ganz im Gegenteil: Die Funktion kann nicht nur erkannt werden, sondern sie wird sogar auf eine Weise erkannt, die bei jedem hermeneutischen Philosophen Aufmerksamkeit erregen muss: Wenn es zutrifft, dass das Verstehen sich auf Gegenstände richtet, »dessen Elemente nicht nur in äußerlicher Beziehung zueinander stehen«, sondern »eine bestimmte Funktion füreinander« und für das Ganze haben, und wenn im Verstehen das »Zusammenspiel zwischen Teilen und Ganzem« erfasst wird 178, dann haben wir es beim Erfassen der

176 […] l’homme vit naturellement en société, et, par l’effet d’une fonction naturelle, que nous avons appelée fabulatrice, il projette autour de lui des êtres fantasmatiques […]. – DS 1164 | 235 | 173 177 EC 546 ff. | 61 ff. | 67 ff. 178 Angehrn[2010] 22

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Funktion, die etwa ein einzelnes Organ für den gesamten Organismus ausübt, mit einer Operation zu tun, die, wenn nicht geradezu ein Verstehen, so doch jedenfalls dem Verstehen sehr ähnlich ist. Auf einen weiteren, in die gleiche Richtung weisenden Aspekt macht Bergson aufmerksam, wenn er betont, dass die Struktur eines Organismus und die Funktionen seiner Elemente nur in einer Zirkelbewegung erkannt werden können: »Was würde man von einem Gelehrten sagen, der die Anatomie der Organe und die Histologie der Gewebe untersuchen wollte, ohne sich mit ihrer Aufgabe zu befassen? Er würde Gefahr laufen, fehlerhaft zu teilen und fehlerhaft zu gruppieren. Wenn die Funktion nur aus der Struktur zu begreifen ist, so kann man auch die großen Linien der Struktur nicht entwirren ohne eine Vorstellung von der Funktion.« 179

Die Ähnlichkeit zwischen dem Verstehen einer sprachlichen Äußerung oder einer Handlung und dem Erfassen der Funktion eines Organs verweist auf die fundamentale Verwandtschaft zwischen dem Begriff des Textes und demjenigen des Organismus. Beide werden so gedacht, dass die Vielfalt der Teile auf die Einheit des Ganzen bezogen ist, dass die Einheit des Ganzen gleichwohl ohne die Vielfalt der Teile nicht zu haben ist und dass der jeweilige Gegenstand nur erkannt werden kann, wenn man sich gleichsam zwischen die Einheit und die Vielfalt stellt und die in beide Richtungen verlaufenden Bezüge herausarbeitet. Die hier sichtbar werdende Verzahnung von Hermeneutik und Biologie wird in vielen Darstellungen der Hermeneutik und ihrer Geschichte – wegen deren Fixierung auf die Texthermeneutik – nicht angemessen berücksichtigt. Klar herausgearbeitet hat sie Georges Gusdorf, der im letzten, den »Ursprüngen der Hermeneutik« gewidmeten Band seines monumentalen Werkes über die Geschichte der Geisteswissenschaften neben der vormoderne Hermeneutik und der »romantischen Texthermeneutik« auch das »biologische Modell« und die »organizistische Hermeneutik« der Romantik behandelt. 180 Verzichtet man freilich auf das explizite Erwähnen der Hermeneutik, sucht man lediglich Erörterungen einer in den Methoden zu suchenden Verwandtschaft zwischen den Geisteswissenschaften und der 179 Que dirait-on du savant qui ferait l’anatomie des organes et l’histologie des tissus, sans se préoccuper de leur destination ? Il risquerait de diviser à faux, de grouper à faux. Si la fonction ne se comprend que par la structure, on ne peut démêler les grandes lignes de la structure sans une idée de la fonction. – DS 1066 | 111 f. | 85 180 Gusdorf[1988] 341 ff.

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Biologie, dann kann man bei nicht wenigen Autoren fündig werden. 181 Nicht zuletzt sei an die uns schon bekannten Ausführungen Bergsons in L’intuition philosophique erinnert: Wenn es dem Leser gelingt, so hatte er dort geschrieben, sich von der Vorstellung zu befreien, der Text sei nur eine aus vorgefertigten Teilen bestehende Collage, so gelangt er zu der Auffassung, dass der Text ein Organismus ist, in dem jeder elementaren Idee ihre besondere Gestalt und ihre besondere Funktion innerhalb des Ganzen zukommt. 182 Das Spannungsfeld von Hermeneutik und Biologie, von dem wir hier sprechen, ist also zugleich ein Spannungsfeld von Text und Organismus, in dem Text und Organismus einerseits voneinander verschiedene Pole darstellen, andererseits aber auch miteinander verbunden sind. Beides leistet das Prinzip der Artikulation. Wir haben gesehen, dass Sinn, Bedeutung und Funktion sich aus verschiedenartigen Ausprägungen der Artikulation ergeben. Zugleich aber schließen sie sich zu einer Einheit zusammen, insofern es sich um verschiedenartige Ausprägungen der Artikulation handelt. Wir wissen noch nicht, wie das zu verstehen ist. So haben wir z. B. die Frage, ob Bergson Funktion, Bedeutung und Sinn als verschiedene Stufen oder als alternative Formen der Artikulation auffasst, noch gar nicht gestellt, und wir werden sie vorerst auch nicht stellen, weil uns in den folgenden Abschnitten und Kapiteln noch weitere Gestalten der Artikulation begegnen werden. Bevor wir uns weiter mit der Differen-

181 Genannt sei Ernst Troeltsch, der 1922 ein Kapitel seines Historismus-Buches der »Organologie der deutschen historischen Schule« widmet. – Troeltsch[1977] 277 ff. – Vgl. dazu auch Matala de Mazza[1999] – Michel Foucault diagnostiziert 40 Jahre später einen Übergang von einem »Zeitalter der Repräsentation« (17. und frühes 18. Jahrhundert) zu einem (um 1800 beginnenden) »Zeitalter der Geschichte« als Paradigmenwechsel der Wissenschaften überhaupt und führt als Beispiele Philologie, Biologie und Politische Ökonomie an. In all diesen neuen Wissenschaften findet er das Konzept einer nicht in Erscheinung tretenden, aber alles Erscheinende erst zur Erscheinung bringenden inneren Kraft (»Arbeitskraft«, »Lebenskraft«, »Sprachvermögen«), so dass jedes Erkennen die Erscheinungen auf die ihnen zugrundeliegende Kraft beziehen muss. – Foucault[1974] 269 ff. – Weitere 40 Jahre später untersucht Theodore Ziolkowski die Vergeschichtlichung des Denkens um 1800 und entdeckt dabei, dass diese nicht nur den Bereich der Kultur- und Geisteswissenschaften, sondern auch den der Naturwissenschaften betrifft. In diesem Zusammenhang weist er darauf hin, dass das Wort »Biologie« erst in der Zeit um 1800 – also in eben jener Zeit, in der für und mit Schleiermacher die Hermeneutik bedeutsam zu werden begann – entstanden ist. – Ziolkowski[2004], insbesondere 133 ff. 182 Vgl. Abschnitt 1.2.1, S. 54.

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zierung beschäftigen, scheinen jedoch noch einige Überlegungen zur Artikulation im Allgemeinen notwendig zu sein.

2.2.3 Artikulation als Struktur und Prozess Das Wort »Artikulation« gehört zu denjenigen, die sowohl in einem aktiven wie auch in einem passiven Sinn verwendet werden können. Artikulation ist einerseits ein Vorgang, in dessen Verlauf eine Teilung bzw. Differenzierung geschieht: Jemand oder etwas artikuliert sich. Artikulation ist andererseits eine – etwa an Texten oder Organismen – beobachtbare Eigenschaft, die als Resultat des Sich-Artikulierens zu gelten hat: Etwas – vielleicht auch jemand – ist artikuliert, begegnet uns nicht als diffuse Einheit, sondern als differenzierte Ganzheit. Die als Eigenschaft verstandene Artikuliertheit zeigt an dem Gegenstand, mit dem man es zu tun hat, eine Vielfalt zu einer Einheit zusammengeschlossener Momente, für die hier der Begriff Struktur verwendet werden soll – ein Begriff, dessen sich einerseits Bergson und andere lebensphilosophische Autoren 183 selbst bedienen und der sie andererseits mit den späteren Bewegungen des Strukturalismus und des Neostrukturalismus verbindet. Das als Vorgang verstandene Sich-Artikulieren erweist sich als ein Prozess, der im Mittelpunkt des lebensphilosophischen Ansatzes steht und durch den die Lebensphilosophie mit allen Philosophien des Werdens, Sich-Entfaltens und Zu-sichselbst-Kommens, insbesondere aber mit der Philosophie Hegels verbunden ist. Es geht mir nun in diesem Abschnitt nicht darum, die Verbindungen zum Strukturalismus bzw. Neostrukturalismus einerseits, zur Philosophie Hegels andererseits im Detail herauszuarbeiten, sondern vielmehr darum, auf eine Eigenschaft der lebensphilosophischen Artikulationslehre hinzuweisen, aus der sich ergibt, warum derartige Beziehungen bestehen. Man könnte auch sagen: Ich möchte zeigen, dass der Hinweis auf Verbindungen der Lebensphilosophie – und insbesondere der Philosophie Bergsons – zum Strukturalismus und zu Hegel keine nachträgliche und willkürliche Aktualisierung darstellt, sondern in der Sache selbst begründet ist. Die Lebensphilosophie lässt sich – wenn auch nicht vollständig – 183 Zu verweisen ist vor allem auf Dilthey, der nach Ansicht Manfred Riedels »dem Strukturalismus [nahe steht], dessen Grundbegriff und Interpretationsmethode er in gewisser Weise vorwegnimmt«. – Dilthey[1981] 9

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charakterisieren als Verschränkung des Entwicklungsgedankens mit dem Immanenzprinzip. Orientiert man sich an dem jedenfalls für derartige Positionsbestimmungen sehr nützlichen »Koordinatensystem«, das Heimsoeth 184 entwickelt hat, so kann man sagen, dass die Lebensphilosophie das Werden gegenüber dem Sein betont und die Transzendenz (als solche) beseitigt, indem sie sie in die Immanenz hineinnimmt 185. Aus dieser Verschränkung ergibt sich nun aber ein gewaltiges Problem: Während Platons Handwerker-Gott (δημιουργόϚ) sich beim Erschaffen der Welt an einem »Vorbild« orientieren konnte 186, muss die Lebensphilosophie die Existenz eines Vorbildes oder Zieles, das – wo und wie auch immer – jenseits der als Prozess aufgefassten empirischen Wirklichkeit gegeben wäre, aufgrund des Immanenzprinzips bestreiten. Andererseits will sie aber auch keine atomistische Philosophie sein, die die uns erscheinenden Gestalten nur aus – mehr oder minder zufälligen, und deshalb letztlich bedeutungslosen – Zusammenballungen irgendwelcher Partikeln hervorgehen lässt. Angesichts dieser Randbedingungen entschied sich die Lebensphilosophie für einen Ansatz, der sich in drei Punkten zusammenfassen lässt: • Den Ausgangspunkt der Betrachtung bildet stets eine undifferenzierte Totalität. 187 Damit wird der atomistische ebenso wie der teleologische Ansatz ausgeschlossen. • Die anfängliche Totalität wird nicht (nur) statisch, d. h. als Gegebenheit, sondern (auch und vor allem) dynamisch, d. h. als Impuls gedacht. Ein erstmalig aufscheinender Gedanke oder ein neugeborenes Kind sind solche unfertig-dynamischen TotalitäHeimsoeth[1981] Es genügt also nicht, zu sagen, dass die Lebensphilosophie die Transzendenz beseitigt. Das Resultat einer solchen Operation wäre ein Naturalismus oder ein Materialismus. Die Lebensphilosophie zieht vielmehr die Transzendenz so in die Immanenz hinein, dass eine zwei- oder mehrdimensionale Wirklichkeit entsteht. Das Resultat dieser Operation ist eine – Hermeneutik. 186 Platon, Timaios 29a–30b 187 Genau dies meint Vladimir Jankélévitch, wenn er Bergsons Philosophie als eine »Philosophie der Fülle« (philosophie de la plénitude, philosophie du Plein) bezeichnet (Jankélévitch[1999] 11, 225 et passim). Die Wirklichkeit ist nicht anfangs »wüst und leer«, um dann erst im weiteren Verlauf gefüllt und geordnet zu werden. Die Fülle ist im anfänglichen Stadium nicht weniger da als in späteren Stadien, sie ist nur weniger differenziert. – Jankélévitchs Bergson-Monographie fällt im gegenwärtigen Zusammenhang auch deshalb auf, weil ihr erstes Kapitel den Titel trägt: Totalités organiques. 184 185

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ten, die vor allem als Anfang einer Entwicklung begriffen werden müssen. • Die Entwicklung selbst ist dann weder eine Vervollkommnung (im Sinne einer Bewegung hin zu einem vorgegebenen Ziel) noch ein Hinzufügen von etwas Äußerlichem (im Sinne eines »Lernens«). Ihr Kern ist vielmehr Artikulation, d. h. Differenzierung. Ihre elementare Operation ist die Aufspaltung, d. h. die Ausbildung von Teilen. Und ihr Ergebnis ist die Auslegung (in älterem Deutsch: Auseinanderlegung), d. h. das SichtbarMachen der in der ursprünglichen Totalität undifferenziert gegebenen Momente als Elemente einer Gesamtstruktur. Der entscheidende Punkt ist hier dieser: Weil die Entwicklung – und vor allem: die beschreibende Rekonstruktion der Entwicklung – sich nicht an inhaltlichen Vorgaben orientieren kann, bleibt ihr nur übrig, sich auf eine formale Operation zurückzuziehen. Eben dies ist die Aufspaltung. Das heißt zunächst einmal, dass es keinerlei Vorgaben gibt, aus denen hervorginge, wo und wie die Aufspaltungen zu erfolgen haben. In diesem Sinne kann man sagen, dass die Teilungen an »zufälligen« Stellen erfolgen und dass das Ergebnis sämtlicher Differenzierungsvorgänge ein »zufälliges« ist. Wir haben aber bereits festgestellt, dass die Aufspaltung nicht einfach eine Zertrümmerung darstellt, weil sie als Differenzierung bzw. Artikulation im Kontext der ursprünglichen Totalität erfolgt, so dass sie nicht isolierte Trümmer erzeugt, sondern funktionale Momente eines übergreifenden Ganzen. An welchen konkreten »Grenzlinien« also die Aufteilungen auch immer erfolgen mögen – stets lässt sich sagen, dass jedem einzelnen Element eine Funktion oder Bedeutung zukommt, die sich aus seiner Relation zum Ganzen sowie den Relationen zu allen anderen Elementen ergibt. Nun gibt es eine berühmte Theorie, aus der man solche Thesen kennt. Es ist das die Sprachtheorie Ferdinand de Saussures. Wie Bergson, so akzeptiert auch Saussure das Immanenzprinzip. Daraus folgt für seine Theorie der Sprache (langue), dass Zeichen ihre Bedeutung nicht durch Bezug auf irgendetwas außerhalb der Sprache Liegendes erhalten, sondern durch ihre Position im Ganzen und ihre Relationen zu anderen Zeichen. Zeichen haben keine substanzielle, sondern eine relative oder funktionale Bedeutung. Das heißt – für Saussures Theorie des Sprachsystems ebenso wie für Bergsons Theorie des Lebendigen –, dass die Bedeutung (bzw. Funktion) eines Elements sich ändert, wenn neue Elemente zum Gesamtsystem hin222 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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zutreten oder existierende aus ihm verschwinden. Es heißt aber auch, dass es möglich ist, die Elemente durch andere, gleichwertige zu ersetzen, ohne dadurch die Gesamtstruktur zu verändern. 188 Dieser kurze Hinweis auf methodische Parallelen zwischen Bergson und Saussure, der hier nicht weiter vertieft werden soll, zeigt einmal mehr, dass wir den Bereich der sprachlichen Artikulation nicht aus den Augen verlieren, wenn wir Bergson bei seiner Erkundung der biologischen Artikulation begleiten. Er macht darüber hinaus das Interesse von Autoren, die dem Strukturalismus oder Neostrukturalismus zugerechnet werden, an Bergsons Philosophie verständlich. Es ist bekannt, wie intensiv Deleuze sich mit Bergson beschäftigt hat, und man hat inzwischen auch begonnen, Derridas Bergson-Rezeption näher zu untersuchen 189. Ich möchte deshalb ein Beispiel für den weniger bekannten Umstand anführen, dass bereits dem »klassischen« Strukturalismus zuzurechnende Autoren bei Bergson ein dem ihren verwandtes Denken bemerkten. Im zweiten Kapitel von Les deux sources de la morale et de la religion behandelt Bergson neben vielen anderen Aspekten der traditionellen Religionen auch den Totemismus. Bergson verschafft sich einen Überblick über die zahlreichen existierenden Theorien, die dieses Phänomen zu erklären versuchen, und stellt fest, dass sie sich in zwei Gruppen einteilen lassen. Die eine Gruppe geht davon aus, dass das (menschliche) Mitglied eines Clans sich mit seinem Totem (in der Regel ein Tier) identifiziert: Der Mensch glaubt – oder behauptet jedenfalls –, ein Känguru zu sein. Die andere Gruppe dagegen nimmt an, dass das Totem nichts als ein beliebiges, bedeutungs- und folgenloses Zeichen ist. Bergson referiert nun nicht nur die gängigen Theorien, sondern versucht, einen eigenen Beitrag zur Diskussion zu lie-

188 Es sei daran erinnert, dass die Theorie der Evolution hier nur als Beispiel für einen allgemeinen, überall in Bergsons Texten anzutreffenden Aspekt seines Denkens herangezogen wird. Insofern sollte es nicht überraschen, dass sich in Matière et mémoire eine Passage findet, in der Bergson ausführlich zeigt, wie sich das System der Erinnerungen durch jedes Hinzutreten einer neuen Erinnerung insgesamt verändert. – Vgl. Abschnitt 4.2.3.3, S. 526, insbesondere Abbildung 5. – Was das Austauschen der Elemente bei unveränderter Struktur angeht, so erinnere ich an Bergsons aus Kapitel 1 bekannte These, dass der gleiche Gedanke durch verschiedene, aus ganz unterschiedlichen Worten bestehende Sätze ausgedrückt werden kann, »vorausgesetzt, dass die Worte untereinander in derselben Beziehung stehen«. – Vgl. Kap. 1, Anm. 37. 189 Zu Bergson und Deleuze vgl. Douglass[1992], Guerlac[2006] 173 ff. – Zu Bergson und Derrida vgl. Guerlac[2006] 184–186, Alipraz[2011].

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fern. Dieser besteht aus zwei Schritten. Der erste ist – wenn man so will – der eigentlich strukturalistische: »Dass ein Clan dieses oder jenes Tier sein soll, daraus ist nichts zu entnehmen; dass aber zwei Clans desselben Stammes notwendigerweise zwei verschiedene Tiere sein müssen, das ist viel lehrreicher.« 190

Bergson kritisiert hier die seiner Ansicht nach für alle vorliegenden Theorien gleichermaßen charakteristische Perspektive, die sich darauf beschränkt, das Verhältnis eines einzelnen Menschen oder allenfalls der ganzen Gruppe zu ihrem Totemtier in den Blick zu nehmen und eine Frage zu stellen, die der Sache nach auf die uralte Frage hinausläuft, ob ein Zeichen einen substanziellen Bezug zu dem von ihm Bezeichneten aufweist oder nur auf einer willkürlichen Auswahl und Zuordnung beruht. Und dann tut Bergson genau das, was auch Saussure getan hat: Er stellt fest, dass die Frage nach der Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem unergiebig ist, und schlägt vor, stattdessen von dem Umstand auszugehen, dass verschiedene Clans desselben Stammes verschiedene Tiere als Totems wählen müssen, so dass ein Symbolsystem entsteht, bei dem die Bedeutung jedes einzelnen Totems sich aus seinen Differenzen gegenüber den anderen ergibt. Bergson formuliert das so: »Jeder dieser Namen wäre, für sich genommen, nur eine Bezeichnung. Zusammen sind sie das Äquivalent für eine Behauptung.« 191

Der zweite Schritt – der, in dem, wenn man so will, die Bedeutung dieser »Behauptung« ermittelt wird – ergänzt den »strukturalistischen« Neuansatz um eine pragmatistisch inspirierte Suche nach der Bedeutung. Der Schlüsselsatz lautet: »Um zu wissen, was sich im Geiste eines Primitiven und selbst eines Zivilisierten abspielt, muss man das, was er tut, zum mindesten ebenso sehr in Betracht ziehen wie das, was er sagt.« 192

Was meint also der »Primitive«, wenn er behauptet, er sei ein Känguru? Oder vielmehr: Wann eigentlich sagt er einen solchen Satz? Berg190 Qu’un clan soit dit être tel ou tel animal, il n’y a rien à tirer de là; mais que deux clans compris dans une même tribu doivent nécessairement être deux animaux différents, c’est beaucoup plus instructif. – DS 1131 | 193 f. | 144 191 Chacun de ces noms, pris isolément, n’était qu’une appellation : ensemble, ils équivalent à une affirmation. – DS 1132 | 194 | 144 192 […] pour savoir ce qui se passe dans l’esprit d’un primitif, et même d’un civilisé, il faut considérer ce qu’il fait, au moins autant que ce qu’il dit. – DS 1131 | 193 | 143

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Phänomenologie der Artikulation

son schaut sich um und entdeckt, dass ein Mann, der ein Känguru »ist«, dies ausspricht, wenn er begründen will, warum es ihm gestattet ist, eine bestimmte Frau zu heiraten: Diese nämlich »ist« eine Ratte. Die Heiratsregeln verbieten es, eine Frau zu heiraten, die das gleiche Tier »ist«, gestatten es dagegen, »andere Tiere« zu heiraten. Daraus ist zu schließen, dass die Bedeutung des totemistischen Symbolsystems im Bereich der Heiratsregeln liegt. Mithilfe dieses Symbolsystems kann der Stamm so in Teilgruppen zerlegt werden, dass die Formulierung von Ge- und Verboten im Hinblick auf die Heirat möglich ist. Bergson fasst zusammen: »Wenn sie also erklären, dass sie zwei Tiergattungen darstellen, dann liegt der Akzent nicht auf der Tierheit, sondern auf der Zweiheit.« 193

Man kann verstehen, dass Claude Lévi-Strauss in diesen Überlegungen mancherlei fand, was seiner eigenen Auffassung von der angemessenen Methode zur Lösung des Totemismus-Problems nahe stand. In Le totémisme aujourd’hui widmet er Bergson zwei Seiten, auf denen sich eine der eigenwilligsten Lobeshymnen findet, die je auf Bergson verfasst wurden. Lévi-Strauss schreibt nämlich nicht etwa, er betrachte Bergsons Denken aufgrund seiner Ähnlichkeit mit demjenigen Saussures als ein strukturalistisches und Bergsons Interpretation des Totemismus als eine Vorläuferin seiner eigenen. LéviStrauss schreibt vielmehr, Bergson habe »besser als die Ethnologen oder früher als sie gewisse Aspekte des Totemismus begriffen«, und das rühre daher, dass er, obgleich »Studierstubenphilosoph« – d. h. nie selbst zu außereuropäischen Völkern gereist –, »in mancherlei Hinsicht wie ein Wilder denkt«. 194 Die Artikulation, verstanden als Eigenschaft eines in der Erfahrung gegebenen Ganzen, führt uns also auf den Begriff und auf eine Theorie der Struktur, die Bergson mit Saussure und dem auf seinen Gedanken aufbauenden Strukturalismus verbindet, und diese Verwandtschaft ist keine zufällige, sondern eine Konsequenz des Immanenzprinzips, dem sich die hier relevanten Autoren unterwerfen. Das mag insofern überraschen, als manche Interpreten annehmen, dass Bergson gerade deshalb zur »verborgenen Quelle« 195 des Neo- oder 193 Lors donc qu’ils déclarent constituer deux espèces animales, ce n’est pas sur l’animalité, c’est sur la dualité qu’ils mettent l’accent. – DS 1132 f. | 195 | 145 194 Lévi-Strauss[1972] 126–128 195 Derrida answers the question by reviving Henri Bergson, whom we are beginning increasingly to identify as the »deep source« of postmodernism. – Raschke[2005] 3

225 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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Poststrukturalismus werden konnte, weil seine Philosophie der Dauer und der Dynamik Denkansätze bietet, die es möglich machen, den starren, unhistorischen »klassischen« Strukturalismus zu kritisieren und zu überwinden. Nur scheint mir an dieser Stelle überhaupt kein Problem zu bestehen. Bergsons Philosophie ist selbstverständlich eine, in deren Mittelpunkt die Dynamik steht. Es ist aber auch eine Philosophie, der die Idee der Struktur nicht fremd ist, eine Philosophie, die nicht einfach etwas ganz Anderes als der Strukturalismus ist, sondern eine Philosophie, die sich darum bemüht, Struktur und Dynamik zu verbinden. 196 Eben deshalb konnte sie zur Inspirationsquelle für Denker werden, deren Anliegen es war, sich von gewissen Beschränkungen des »klassischen« Strukturalismus zu befreien, dabei aber doch diejenigen Denkelemente zu bewahren, die sich als fruchtbar bzw. als unter den Bedingungen einer Immanenzphilosophie unvermeidlich erwiesen haben. Bergsons Philosophie ist eine, so hatte ich gerade formuliert, in deren Mittelpunkt die Dynamik steht. Gelegenheit, dies festzustellen, hatten wir bereits im ersten Kapitel, als wir dem Philosophen begegneten, dessen im Sinne eines schöpferischen Impulses zu verstehende Intuition ihn dazu trieb, sich in einer »absteigenden« Dynamik auf die Sprache einzulassen, um so seiner undifferenzierten Intuition zu sprachlicher Artikulation zu verhelfen, und als wir den Leser dabei beobachteten, wie er sich in einer »aufsteigenden« Dynamik vom Text zur Intuition bewegte, wodurch er in die Lage versetzt wurde, die bloße Abfolge sprachlicher und gedanklicher Materialien artikulierend auf eine Sinnhypothese hin zu erschließen. Die Dynamik begegnet uns aber in allen Texten Bergsons in irgendeiner Form und in den verschiedensten Regionen der erfahrenen Wirklichkeit – von der intellektuellen Anstrengung (effort intellectuel) beim einzelnen Menschen bis zur schöpferischen Kraft (élan vital), die in der Evolution des Lebendigen erkennbar wird. All diese Prozesse werden nach Bergsons Auffassung durch einen Impuls angestoßen, der eine artikulatorische Dynamik in Gang bringt, wobei aber die Schwierigkeit unter den Bedingungen der Immanenzforderung darin besteht, eine Entwicklung zu denken, die ohne immer schon vorgegebenes Ziel auskommt und dennoch nicht richtungslos ist. Das heißt insbesonde-

196 Fellmann spricht im Hinblick auf Dilthey von einer »Verschränkung von Struktur und Entwicklung«. – Fellmann[1994/95] 16.

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re: Die Entwicklung, die sich meist in mehreren Schritten vollzieht, muss so gedacht werden, dass die »Motivation« für jeden einzelnen Schritt weder aus einem vor ihr liegenden Ziel, noch aus einem hinter ihr liegenden Antrieb entspringt, sondern aus etwas, das Bestandteil des Prozesses selbst ist. Die Folge dieser Anforderung ist, dass sich die beschreibende und erklärende Theorie – wie schon im Falle der Struktur so auch im Falle der Dynamik – von inhaltlichen Vorgaben verabschieden und auf formale Operationen zurückziehen muss. Wenn das Leben sich von sich aus (ohne Anleitung von außen) artikulieren, wenn es aus ihm selbst (ohne externe Maßstäbe) verstanden werden soll, dann muss sich in dem – als Prozess verstandenen – Leben eine Operation aufweisen lassen, die eine Dynamik erzeugt, ohne dabei die Hilfe eines außerhalb des Lebensprozesses gelegenen »Bewegers« in Anspruch zu nehmen. Nun ist klar, dass wir die Operation, nach der wir hier suchen, eigentlich schon kennen. Da wir unterstellen, dass die passiv – d. h. als Struktur – verstandene Artikulation das Produkt der aktiv – d. h. als Prozess – verstandenen Artikulation ist, kann die Operation, die die Dynamik in Gang bringt und in Gang hält, schlechterdings keine andere sein als diejenige, die zur differenzierenden Teilung führt, keine andere also als die Aufspaltung. Das wiederum kann nur bedeuten, dass der von uns beschriebenen Operation – oder vielmehr: unserer bisherigen Beschreibung der Operation – etwas fehlt und dass sie deshalb das, was wir hier von ihr erwarten, nicht leisten kann. Was aber fehlt der Aufspaltung? Um es zunächst im Bild zu formulieren: Unsere bisherige Beschreibung der Aufspaltung kann zwar eine Entfaltung »in die Breite«, d. h. eine durch zunehmende Differenzierung bewirkte Vermehrung unterscheidbarer Phänomene verständlich machen, sie kann aber nicht erklären, wie es zu einer »nach vorn« gerichteten Dynamik kommt, und sie kann deshalb auch nicht wirklich erklären, warum die Aufspaltung zu einer Artikulation, d. h. zu mehr als einer bloßen Zertrümmerung führt. Formulieren wir das Problem nun noch einmal mit ganz anderen Worten, um es deutlicher in den Blick zu bekommen: Ich hatte zu Beginn dieses Abschnitts die Lebensphilosophie als eine solche charakterisiert, die sich zwar als reine Immanenzphilosophie konstituiert, dies aber nicht dadurch bewerkstelligt, dass sie die Transzendenz einfach ersatzlos streicht, sondern dadurch, dass sie sie in die Immanenz hineinzieht. Innerhalb der »absoluten Immanenz« – d. h. der uns in der Erfahrung gegebenen Wirklichkeit – ist dann also 227 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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einerseits eine »relative Immanenz« und andererseits eine »relative Transzendenz« anzutreffen. Diese Formulierung zeigt schon, dass wir es hier weder mit einem unmittelbar einleuchtenden Sachverhalt noch mit einem leicht lösbaren Problem zu tun haben. Die Erläuterung dieser Formel wird uns – gesetzt, dass es überhaupt gelingt, sie plausibel zu machen – über mehrere Kapitel hinweg beschäftigen. Aber auch ein langer Weg beginnt mit einem ersten Schritt, und dieser soll darin bestehen, dass wir hier dreierlei festhalten: • Zum einen wäre nichts gewonnen, wenn die Transzendenz zwar in die Immanenz hineingezogen würde, aber trotzdem den Charakter des immer schon feststehenden Zieles behielte. Wir würden damit von Platons transzendenten Ideen zu den immanenten Entelechien des Aristoteles gelangen, aber nie und nimmer zum modernen Entwicklungsdenken. Die relative Transzendenz muss also durch die jeweilige Entwicklung erst geschaffen, vielleicht sogar in jedem einzelnen Entwicklungsschritt immer wieder neu geschaffen werden. In einem gewissen Sinne kann man sagen, dass das Schöpferische an jeder schöpferischen Entwicklung nicht das Realisieren einer erfahrbaren Gestalt ist, sondern das Schaffen der jeweiligen relativen Transzendenz. • Sodann zeichnet sich schon jetzt ab, dass das Erzeugen der relativen Transzendenz sich – wie die differenzierende Teilung – als Aufspaltung vollziehen wird. Wenn das, was die relative Transzendenz ausmacht, nicht aus einer externen Quelle beschafft werden kann, dann lässt sich die Erzeugung nur so vorstellen, dass die Wirklichkeit sich in eine relative Immanenz und eine relative Transzendenz aufspaltet. • Schließlich muss sich auch diese Aufspaltung als rein formale Operation vollziehen, d. h. sie darf sich nicht an irgendwelchen inhaltlichen Vorgaben orientieren. Die Schwierigkeit des Problems führt dazu, dass Bergson es in den vielfältigsten Kontexten und unter Verwendung ganz verschiedener Begriffe erörtert. Ich greife – unter nochmaliger Betonung der Vorläufigkeit – hier zwei Beispiele heraus, die mir geeignet scheinen, die Fragestellung zu klären und der Suche nach der Lösung eine Richtung zu weisen. Mein erstes Beispiel ist im ersten Kapitel von Les deux sources de la morale et de la religion zu finden. Bergson kritisiert in diesem Kapitel Kants Auffassung der Pflicht. Eines seiner Argumente lautet, 228 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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dass das Erfüllen der Pflicht nicht, wie Kant meint, schwierig, sondern vielmehr die einfachste und deshalb gängigste Handlungsweise überhaupt ist – jedenfalls dann, wenn man sie (wie Bergson) als gesellschaftlich definierte Pflicht auffasst. Man muss ja einfach nur auf das Handlungsmuster zurückgreifen, von dem man weiß, dass es das von der Gesellschaft erwartete ist, und kann sich die Anstrengung, die mit dem Erfinden einer neuartigen Handlungsweise verbunden wäre, sparen. Wenn es sich aber so verhält, fragt Bergson dann, wieso konnte man auf den Einfall kommen, dass Pflichterfüllung etwas Schwieriges ist? Er antwortet: Das liegt daran, dass die Ausführung des konventionellen Handlungsmusters in wenigen, dann aber hervorstechenden, die Aufmerksamkeit auf sich ziehenden Fällen mit den Interessen des Individuums kollidiert. Diese Inkompatibilität von erwarteter Handlung und Eigeninteresse äußert sich als »Widerstand« (résistance). Warum aber ignoriert das Individuum dann nicht einfach die Konvention und tut das, was im Sinne seines Eigeninteresses wäre? Weil, so antwortet Bergson, das menschliche Individuum nicht nur spürt, dass es da etwas gibt, was der gedankenlosen Ausführung des konventionellen Handlungsmusters entgegensteht und sich als Widerstand oder Widerstreben bemerkbar macht, sondern weil sich, sobald es eine egoistische Handlungsweise in Betracht zieht, etwas Anderes meldet, was man als verinnerlichte Pflicht oder als Ahnung der Bedeutung von gesellschaftlichen Konventionen bezeichnen könnte und was – wie immer wir es auch nennen wollen – jedenfalls auftritt als »Widerstand gegen den Widerstand« (résistance à la résistance). 197 Es kommt mir – wie immer bei derartigen Beispielen – nicht darauf an, Bergsons Thesen inhaltlich zu erörtern. Was ich an diesem Beispiel als im gegenwärtigen Zusammenhang hilfreich empfinde, ist zum einen die prägnante Formulierung, die nicht nur die Grundoperation, um die es uns hier geht, treffend bezeichnet, sondern zudem auf den formalen Charakter dieser Operation hinweist, der seinerseits auf der Unschärfe der jeweiligen psychischen Äußerungen beruht. In keinem der beiden Fälle lässt sich die Konstellation so beschreiben, dass einem klar definierten Handlungsmuster ein anderes Hand-

197 Die Formulierung résistance à la résistance verwendet Bergson im Inhaltsverzeichnis des Buches (DS 1246 | 339 | ––). Im Text selbst erscheint – als laufender Titel – die Formulierung résistance aux résistances (DS 991,993 | 15,17 | ––).

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lungsmuster entgegengestellt wird. Vielmehr stößt die Absicht zur Ausführung des konventionellen Handlungsmusters auf etwas Vages, Unscharfes, Unklares und Ungeklärtes: auf ein Unbehagen, eine Abneigung, einen Widerwillen. Zum anderen aber fällt hier die Sequenz auf, die dadurch zustande kommt, dass die Elementaroperation (Widerstand) gleichsam auf sich selbst reagiert. Es ist dies genau der Punkt, den ich im Auge hatte, als ich eingangs schrieb, wie die lebensphilosophische Theorie der Artikulation als Struktur über Saussure mit dem Strukturalismus verbunden sei, so sei die lebensphilosophische Theorie der Artikulation als Prozess mit der Philosophie Hegels verbunden. Der Weg von Bergsons résistance zu Hegels »Negation« und von Bergsons résistance à la résistance zu Hegels »Negation der Negation« ist ja wahrlich nicht weit. Widerstand ist zumindest der Anfang der Negation, und wir werden gleich sehen, dass Bergson in anderen Kontexten selbst von Negation spricht. Das soll nicht heißen, dass es hier um die Frage einer eventuellen Hegel-Rezeption Bergsons geht. Es geht vielmehr darum, aus einem Vergleich Bergsons mit Hegel die Einsicht zu gewinnen, dass jede Theorie, die von einer unentwickelten Totalität, einem ungeklärten Impuls ausgeht und sich zudem der Immanenzforderung unterwirft, nur dadurch zu einer Theorie der Entwicklung, des artikulierenden Zu-sich-selbst-Kommens gelangen kann, dass sie eine formale Operation einführt, durch die interne Differenzen erzeugt werden können. Und diese Differenzen dürfen nicht nur zu einer Komplizierung der Struktur durch Differenzierung führen, sondern müssen auch so etwas wie Schichten innerhalb der Totalität erzeugen, um eine Vorwärtsentwicklung zu ermöglichen. Nun könnte man mir entgegenhalten, dass das angeführte Beispiel ein Randthema – nämlich gewisse Reaktionsweisen der Intelligenz – erörtere und nicht die Bergson eigentlich interessierende schöpferische Dynamik des Lebens betreffe. Das sei zugestanden. Aber ich hatte ja auch nur behauptet, dass dieses Beispiel durch die Prägnanz seiner Formulierung besticht, nicht, dass es durch seinen Inhalt herausragt. Ist man durch die angeführten Formulierungen erst einmal für das Muster sensibilisiert, so entdeckt man es leicht auch anderswo in Bergsons Texten: an Stellen, an denen er andere Worte verwendet, vor allem aber auch an Stellen, in denen es um die Dynamik des biologischen und des geistigen Lebens geht. Mein zweites Beispiel soll dies illustrieren, und hier drängen sich Bergsons Ausführungen über die philosophische Intuition geradezu von selbst auf, 230 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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da wir mit diesem Beispiel mittlerweile gut vertraut sind, so dass ich mir die Erläuterung des Hintergrunds sparen kann. Erinnern wir uns: Der Philosoph wird zu einem solchen durch eine Intuition, die ihn immer schon auszeichnet, von der er aber anfangs nichts weiß. Wenn die Intuition beginnt, sich bemerkbar zu machen, so tut sie dies durch »eine gewisse Macht der Negation« 198, nämlich durch eine Unzufriedenheit mit gängigen Lehren. Der Philosoph prüft seine Intuition genauer und versucht schließlich, sie sprachlich darzustellen. Das gelingt aber nur bis zu einem gewissen Punkt, und schließlich wendet sich die Macht der Negation gegen die eigene Lehre. Aus diesem Hin und Her zwischen einer Negation (Kritik der gängigen Lehren), die versucht, sich in eine positive eigene Lehre zu verwandeln, und der Negation der eigenen Lehre (somit: der Negation der Negation) entsteht »die Zickzacklinie einer Lehre, die ›sich entwickelt‹« 199. Besser als im ersten Beispiel lässt sich hier erkennen, dass die kritische Stellungnahme zwar eine formale und negative Operation des bloßen Sich-Distanzierens ist, insofern sich weder die Kritik des Fremden noch die Kritik des Eigenen auf irgendwelche Vorgaben, irgendwelche festen Positionen stützen kann, dass es sich aber weder im einen noch im anderen Fall um eine bloße Negation handelt. Das Hin und Her ist auch ein Phasenwechsel zwischen der Kritik des Gegebenen und der Ausarbeitung von etwas Anderem. Die Kritik am Gängigen, so hatte ich im ersten Kapitel formuliert, ist für den Philosophen nur eine Anfängerübung im selbständigen Denken. Sie beschränkt sich nicht darauf, Vorgefundenes abzulehnen, sondern dient dazu – und hier haben wir die Denkfigur des Negativismus vor uns –, im Negativ ein Anderes, das hier zugleich das Eigene ist, sichtbar zu machen. Das aber heißt: Die Kritik schafft, wenn sie konsequent vorangetrieben wird, eine Transzendenz, die eine konkrete und relative Transzendenz – nämlich das Andere des konkret Vorliegenden – ist, d. h. ein Leitbild, das die Richtung für den nächsten Entwicklungsschritt weist. Gelingt dieser Entwicklungsschritt, dann ist die ehemalige Transzendenz zur Immanenz geworden und die Ausarbeitung einer neuen Transzendenz erfordert eine neuerliche Anstrengung. 200 Vgl. Kap. 1, Anm. 51. Vgl. Kap. 1, Anm. 64. 200 Berücksichtigt man, dass der formal-negative Charakter nur die Anfangsphase der Operation beschreibt und dass diese Operation, wenn sie konsequent fortgesetzt wird, 198 199

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Noch einmal: Ich erhebe hier nicht den Anspruch, die elementare Operation, die die Artikulation als Prozess ermöglicht, vollständig aufgeklärt zu haben. Aber wir sind vielleicht so weit gekommen, dass »relative Immanenz«, »relative Transzendenz« sowie das »Hineinziehen der Transzendenz in die Immanenz« aufgehört haben, bloße Wortfolgen zu sein, dass sich mit ihnen zumindest eine vage Vorstellung, ein unscharfes Bild verbindet. Fügen wir nun dem Bild einige weitere Details hinzu, indem wir das Problem aus einer ganz anderen Perspektive betrachten.

2.2.4 Risse in der persönlichen Erfahrung Primum vivere, deinde philosophari: 201 Für Bergson ist der Mensch zunächst einmal ein Lebewesen, das durch praktische Auseinandersetzung mit seiner Umwelt, insbesondere durch das Bearbeiten materieller Dinge, für sein körperliches Überleben sorgen muss. Die menschliche Intelligenz ist aus dieser Notwendigkeit hervorgegangen, und die für sie typischen Denkstrukturen zeugen noch von diesem Ursprung. 202 Es ist zwar möglich, dass sich bestimmte Funktionen des Bewusstseins – wie eben das philosophari – von diesem Boden abheben, dass sie versuchen, ins Bewusstsein zu heben, was sich in der lebensweltlichen Praxis unreflektiert und unbewusst vollzieht, doch besteht dabei immer die Gefahr, dass der Mensch aufgrund seines Unvermögens zu einer falschen Vorstellung gelangt. in eine zweite Phase gelangt, in der sich die Konturen von etwas Positiv-Neuem abzeichnen, dann wird man m. E. auch der Kritik gerecht, die Bergson an vielen Stellen, vor allem aber im vierten Kapitel von L’évolution créatrice an der Negation und an der Idee des Nichts äußert. Die Negation, heißt es dort, ist nicht produktiv, sie schafft nichts Neues. Sie ist vielmehr nur eine uneigentliche Sprechweise, mit der man – angesichts von etwas Gegebenem – eine Alternative ins Spiel bringen möchte, ohne dieses Andere beim Namen zu nennen. Bergson bezieht sich in L’évolution créatrice auf den Fall, dass man sich der Negation bedient, weil man das Andere nicht aussprechen will. In L’intuition philosophique, so könnte man sagen, diskutiert er dagegen den Fall, dass man sich (vorerst) der Negation bedienen muss, weil man das Andere (noch) nicht aussprechen kann. Das Andere ist anfangs noch wahrhaft transzendent, d. h. unzugänglich. Der Prozess fortgesetzten Negierens ist dann genau das Verfahren, durch das man die Transzendenz in die Immanenz hineinholt, d. h. sie zu einer relativen Transzendenz macht. 201 Auf das häufige Vorkommen dieser antiken Formel bei Bergson hat bereits Bankov [2000] aufmerksam gemacht. 202 Vgl. dazu Abschnitt 2.3.1.4, S. 263, und Kapitel 3.

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Und wenn die unbewussten Motive gar in eine sprachliche Darstellung umgesetzt werden, so besteht noch zusätzlich die Gefahr, dass der Mensch aufgrund fehlenden Willens zur Wahrheit eine falsche Darstellung präsentiert. Die explizite Darstellung kann also – ungewollt oder gewollt, unbewusst oder bewusst – falsch sein. Daraus resultiert eine methodische Regel, die Bergson insbesondere für das Verstehen von Menschen einschärft und von der man sagen könnte, dass sie so etwas wie seine »Hermeneutik des Verdachts« darstellt: »Höre nicht auf das, was sie sagen, sondern schau auf das, was sie tun.« 203

Ruft man sich diese und weitere, ähnliche Thesen in Erinnerung, so kann es nicht erstaunen, dass Bergson dem amerikanischen Pragmatismus stets große Sympathien entgegengebracht hat – Sympathien, die in der engen und langjährigen Partnerschaft, ja Freundschaft zwischen Bergson und William James gipfelten 204 – und dass auch viele Pragmatisten Bergson als einen der Ihren betrachteten. Beiden Seiten gemeinsam ist die Auffassung, dass die Leistungen und Fehlleistungen, der Nutzen und der Nachteil menschlichen Bewusstseins aus dem Sein des ganzen Menschen in der Welt und der praktischen Auseinandersetzung mit dieser Welt begriffen werden müssen. Dagegen hat der amerikanische Pragmatist Addison Webster Moore in einem 1912 publizierten Aufsatz versucht, etwas Wasser in die flammende Bergson-Begeisterung seiner Mitstreiter zu gießen, indem er auf wesentliche Unterschiede zwischen den Grundgedanken Bergsons und denjenigen des Pragmatismus hinwies. Nun ist in der Tat zunächst einmal dies richtig, dass Bergsons Denken nicht mit einem naiven Pragmatismus verwechselt werden darf, für den jegliche geistige Be-

203 Or, qu’il s’agisse de sauvages ou de civilisés, si l’on veut savoir le fond de ce qu’un homme pense, il faut s’en rapporter à ce qu’il fait et non pas à ce qu’il dit. – Or nous en revenons toujours là : pour savoir ce qui se passe dans l’esprit d’un primitif, et même d’un civilisé, il faut considérer ce qu’il fait, au moins autant que ce qu’il dit. – DS 1096, 1131 | 149, 193 | 112, 143 – Diesen Grundsatz hat Bergson wohl aus der ethnologischen Literatur seiner Zeit übernommen (vgl. DS – | 430, Anm. 73 | ––). 204 William James widmet Bergson eine Vorlesung im Rahmen der 1909 unter dem Titel A Pluralistic Universe publizierten Vorlesungsreihe (James[1996] 223 ff.). Bergson revanchiert sich 1911 mit einem Vorwort zur französischen Übersetzung von James’ Buch Pragmatism, das er 1934 unter dem Titel Sur le pragmatisme de William James. Vérité et réalité in PM aufnahm. Der von 1902 bis 1910 (James’ Todesjahr) reichende, vergleichsweise gut erhaltene Briefwechsel zwischen beiden Philosophen ist in Mél. und Corr. dokumentiert.

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tätigung des Menschen nur gerechtfertigt ist, wenn und insofern sie dem dient, was Bergson die »gesicherte bürgerliche Existenz« nennt. Und richtig ist auch, dass es Unterschiede zwischen Bergsons Denken und dem Denken selbst derjenigen Pragmatisten gibt, die von einem derartigen naiven Pragmatismus weit entfernt sind. Wie Bergson mit Freud das Problem des Unbewussten teilt, sich aber trotzdem in wichtigen Punkten von ihm unterscheidet, so gibt es, bei aller Sympathie, auch Positionen, die Bergson in Gegensatz zu James, Dewey oder auch Moore selbst bringen. Aber dies ist nicht der Punkt, der uns hier beschäftigen soll. Interessant an Moores Aufsatz ist der Umstand, dass darin vom Unbewussten die Rede ist und dass Moore Stellung zu der Frage nimmt, welche Rolle das Unbewusste in Bergsons Denken spielt. Moore schreibt: »Wenn er versucht, Handlung und Widerstand so nahe wie möglich zusammenzuziehen, spricht Bergson von der Aktivität als einer unbewussten.« »Das führt uns zu Bergsons Versöhnung von Materie und Geist. Nun ist eine Versöhnung von zwei Vorstellungen, die in einem so scharfen metaphysischen Gegensatz stehen wie Materie und Geist, ein schwerwiegendes Unterfangen. […] Von Bergsons Standpunkt aus kann es nur eine Methode geben, diese Art von abstrakter Versöhnung zu bewerkstelligen. Sie besteht darin, einfach die streitenden Parteien davon zu überzeugen, dass sie sich doch bei genauer Betrachtung sehr stark ähneln, dass in der Tat zwischen ihnen nur eine Verschiedenheit des Grades, keine der Art besteht. Daher die Notwendigkeit für jene Operation, das Leben einzuschläfern, bis es unbewusst, die Materie dagegen wachzurütteln, bis sie lebendig wird.« 205

Diese Stellungnahme ist hier deshalb von Interesse, weil in ihr ein traditioneller, weit verbreiteter, aber dennoch unangemessener Ansatz der Bergson-Interpretation zum Ausdruck kommt, und weil sie

205 When he is trying to draw action and its resistance as closely together as possible, Bergson speaks of this activity as unconscious. – And this brings us to Bergson’s reconciliation of matter and spirit. Now a reconciliation of two conceptions which are in as sharp metaphysical opposition as matter and spirit or real duration, is a serious undertaking. […] From Bergson’s standpoint, there can be only one method of effecting this sort of abstract reconciliation. That is simply to persuade the parties to the opposition that they are, after all, very much alike; that there is, in fact, only a difference of degree, not of species, between them. Hence, the necessity for the operation of anaesthetizing life into unconsciousness, galvanizing matter into life. – Moore[1912] 399, 406 f.

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es mir erlaubt, in der Absetzung von diesem meinen eigenen Interpretationsansatz weiter zu präzisieren. Ich versuche zunächst, Moores Position zu erläutern. Man kann dies tun, indem man sagt: Es ist keineswegs selbstverständlich, ja im Grunde überraschend, dass wir bei Bergson eine dem Pragmatismus so verwandte Betonung der alltäglichen Praxis finden, denn Bergson hatte seinen Denkweg – im Essai sur les données immédiates de la conscience – mit einer beschreibenden Psychologie begonnen, deren Ziel darin bestand, die eigentümlichen Strukturen des Bewusstseins herauszuarbeiten. 206 Insofern kann man sich mühelos einen weiteren Verlauf des Denkwegs vorstellen, der demjenigen Husserls sehr ähnlich wäre, d. h. zu einer detaillierteren Ausarbeitung einer Phänomenologie des reinen Bewusstseins geführt hätte. Bergson hat aber schon mit seinem zweiten Hauptwerk – Matière et mémoire – einen ganz anderen Weg eingeschlagen, indem er die Frage stellte, wie sein Ergebnis, dass das Bewusstsein kein Ding ist und dass es Vorstellungen hat, die ebenfalls keine Dinge sind, zusammengedacht werden kann mit der Tatsache, dass dieses Bewusstsein in einer Welt existiert, die aus materiellen Dingen besteht, und zwar in Verbindung mit einem Körper, der – zumindest in einer seiner beiden Erscheinungsformen – ebenfalls ein materielles Ding ist. Die Frage, die Bergson in Matière et mémoire untersucht, lautet also: Wie ist eine Koexistenz – oder was immer sich am Ende als die für dieses Verhältnis geeignetste Bezeichnung herausstellen mag – von reinem Bewusstsein bzw. Geist und Materie möglich? Und weil das eine an Descartes Dualismus (res extensa vs. res cogitans) erinnernde Frage ist, wundert man sich nicht, gleich auf der ersten Seite von Matière et mémoire die Sätze zu finden: »Dieses Buch bejaht die Realität des Geistes und die Realität der Materie, und es versucht, die Beziehung zwischen beiden an dem speziellen Beispiel des Gedächtnisses klarzulegen. Es ist also ausgesprochen dualistisch.« 207

Ist man so weit gekommen, dann muss man Bergson nur noch zu einem dualistischen Metaphysiker erklären, der sich die Aufgabe stellt, den abstrakten Gegensatz von Materie und Geist aufzulösen,

Vgl. dazu Abschnitt 4.1, S. 432. Ce livre affirme la réalité de l’esprit, la réalité de la matière, et essaie de déterminer le rapport de l’un à l’autre sur un exemple précis, celui de la mémoire. Il est donc nettement dualiste. – MM 161 | 1 | I 206 207

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um unweigerlich zu dem Ergebnis zu gelangen, dass (a) dieser Gegensatz sich gar nicht in überzeugender Weise auflösen lässt und (b) Bergson deshalb seine Zuflucht zu Scheinlösungen wie unbewusstem Denken und Handeln oder einer unmittelbaren Intuition des Wirklichen nimmt. Der Gegensatz der Prinzipien wäre also nach dieser Auffassung, die auch Moore in seinem Artikel vertritt, das Primäre, das Unbewusste dagegen eine nachträgliche Konstruktion zum Zwecke der Lösung des Vermittlungsproblems. Dazu ist zunächst einmal zu sagen, dass Bergson der Erste gewesen wäre, der an dieser Stelle mit dem Kopf genickt hätte. Die Auffassung, dass es, wenn man aus der konkreten Wirklichkeit erst einmal einen abstrakten Gegensatz herausgelöst hat, nicht die geringste Chance gibt, aus den gegensätzlichen Elementen die konkrete Wirklichkeit als Einheit zu rekonstruieren, gehört geradezu zum Kern von Bergsons Philosophie. Sodann aber scheint mir, dass man, wenn man Bergsons Grundproblem so fasst, es falsch oder zumindest unvollständig fasst. Was man zur Kenntnis nimmt, ist nur die allgemeintheoretische Perspektive des Philosophen, genauer: der Gegensatz als Endresultat einer langen theoretischen Bemühung. Was man völlig übersieht, ist die individuell-praktische Perspektive des konkreten Menschen, dessen Bemühungen gerade mit einer – zumindest in gewissem Sinne – gegensatzfreien Erfahrung beginnen. Gewiss, Bergsons Denken ist geprägt durch Gegensätze. Gilles Deleuze hat das eindrucksvoll formuliert: »Bergsons Dualismen sind berühmt: Dauer – Raum, Qualität – Quantität, heterogen – homogen, kontinuierlich – diskontinuierlich, die zwei Vielheiten, Gedächtnis – Materie, Erinnerung – Wahrnehmung, Kontraktion – Abspannung, Instinkt – Intelligenz, die zwei Quellen, usw. Noch die Kopfzeilen, die Bergson über die einzelnen Seiten seiner Bücher setzt, zeugen von seiner Vorliebe für die Dualismen […]«

Aber wenn man genau liest, dann unterscheidet sich das, was Deleuze beobachtet, in einer vielleicht nicht unerheblichen Hinsicht von dem, was Moore vorschwebt. Während Moore bei Bergson nur einen einzigen Dualismus – den von Geist und Materie – findet, entdeckt Deleuze eine große Zahl verschiedener Dualismen. Das muss nicht heißen, dass eine der beiden Auffassungen falsch ist. Es könnte ja auch sein, dass die zahlreichen von Deleuze beobachteten Dualismen eine gemeinsame Wurzel aufweisen. Immerhin aber wäre ein Kerndualismus, der in verschiedensten konkreten Gestalten erscheint, schon we236 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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niger »abstrakt« als der von Moore präsentierte. Aber lassen wir diese Frage vorerst auf sich beruhen. Deleuze fährt nämlich fort: »[…] – die dennoch nicht das letzte Wort seiner Philosophie darstellen. Was ist also ihr Sinn? Bergson zufolge geht es dabei immer darum, ein Mixtum gemäß seiner natürlichen Einteilung, d. h. nach den wesensmäßig verschiedenen Elementen, zu gliedern.« 208

Und Paul Ricœur, der die von Deleuze formulierten Beobachtungen aufgreift, spricht von der »Teilungsmethode, die in einem Übergang zu den Extrempunkten besteht, bevor in einem aufgeschobenen Verstehen die zweideutigen und verworrenen Phänomene der alltäglichen Erfahrung als Mixta rekonstruiert werden.« 209

Der entscheidende Begriff, den Deleuze und Ricœur hier ins Spiel bringen, ist der der Mixta. Mixta sind Mischphänomene, und es geht – so sagen Deleuze und Ricœur – darum, diese Mischphänomene aus ihren Bestandteilen zu rekonstruieren. Genauer: Es geht Bergson darum, dies zu tun, und zwar ist das immer dann der Fall, wenn er Gegensatzpaare (Dualismen) konstruiert. Die Absicht, Mischphänomene aus ihren wesentlichen Bestandteilen zu rekonstruieren, ist also der Grund dafür, dass Bergson ständig Dualismen präsentiert. Die sich im Dualismus gegenüberstehenden Elemente sind zugleich die wesentlichen Bestandteile der Mischphänomene. Bei den Mischphänomenen aber handelt es sich, wie Ricœur ergänzt, um die »zweideutigen und verworrenen Phänomene der alltäglichen Erfahrung«. Das bedeutet: Bergson beginnt nicht mit irgendwelchen abstrakten Dualismen, die er aus der philosophischen Tradition oder von sonst woher aufgegriffen hat. Er beginnt vielmehr mit der alltäglichen Erfahrung, und er entwickelt verschiedenste, konkrete Dualismen zu dem Zweck, die Inhalte der Erfahrung als Mischphänomene verständlich zu machen. Die Dualismen sind keine erfahrungsfremden Raster, sondern aus der Erfahrung gewonnen. Wie hat man sich das vorzustellen? Greifen wir noch einmal auf den Philosophen aus L’intuition philosophique zurück: Gewiss, dieser Philosoph steht in gewisser Weise »immer schon« in einer Spannung zwischen traditionellen Denk- bzw. Sprechmustern und seiner persönlichen Intuition. Nur – so hatten wir schon in Kapitel 1 festgestellt 208 209

Deleuze[1989a] 34 Ricœur[2004] 659

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– weiß er davon erst einmal gar nichts. Man würde seine Situation völlig falsch beschreiben, wenn man unterstellte, dass der Philosoph zu Beginn seines Denkwegs gleichsam die traditionellen Elemente auf der einen und die Intuition auf der anderen Seite seines Schreibtisches aufbaut, um dann die Vermittlung in Angriff zu nehmen. Vielmehr beginnt er damit, dass er sich vorerst einmal auf den durch die Tradition gebahnten Wegen ganz wohl fühlt. Er beginnt – hier passt Kants Formulierung vorzüglich – mit einem »dogmatischen Schlummer«. Diese behagliche Situation wird erst in dem Moment gestört, in dem die innere Stimme der Intuition beginnt, ab und an ihr »Unmöglich!« zu rufen. Aber das sind nur erste, für den Philosophen noch undurchsichtige – »zweideutige und verworrene« – Lebenszeichen der Intuition, ein vages Unbehagen angesichts gewisser Elemente der Tradition, für das die innere Stimme ja keinerlei Begründung liefert. Und deshalb ist der Philosoph, wenn er auf die Rufe der inneren Stimme eingeht, ein ganzes Leben lang damit beschäftigt, herauszufinden, was genau an den beanstandeten Elementen der Tradition Anlass zur Kritik gibt und worauf die Intuition letztlich hinauswill. In dem Maße, in dem er dies tut, schafft er aber eigentlich erst den Gegensatz zwischen dem traditionellen Material und seiner persönlichen Intuition. Er verwirklicht ihn im Doppelsinn des englischen Verbs to realize: Er verwirklicht ihn, und er macht ihn sich bewusst. Er verwirklicht ihn, indem er ihn sich bewusst macht. Kurz: Der klare, scharfe Dualismus von Material und Intuition steht nicht am Anfang, sondern am Ende einer langen Bemühung, in der es um die Klärung der anfänglichen, unklaren Erfahrungen geht, zu denen insbesondere auch die rätselhaften Zwischenrufe der inneren Stimme selbst gehören. In dem Maße – aber auch nur in dem Maße –, in dem sich der Philosoph eine immer klarere Vorstellung von der Tradition einerseits und seiner Intuition andererseits erarbeitet, kann er das anfängliche Unbehagen als ein Mixtum rekonstruieren und dessen Bedeutung verstehen. Und es bedarf einer noch weiter gehenden Bemühung, bevor ein anderer Philosoph – in diesem Fall: Bergson – feststellen kann, dass jeder Philosoph nur von einer, nämlich von seiner Sache gesprochen und sich um einen modus vivendi zwischen Intuition und Tradition bemüht hat. Die Beobachtungen von Deleuze und Ricœur sowie das Beispiel des zu sich selbst kommenden Philosophen geben Anlass zu drei wichtigen und methodisch relevanten Feststellungen:

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Phänomenologie der Artikulation







210

Ein Dualismus ist für Bergson kein bestehender, in seiner Problemstruktur feststehender. Er ist weder ein ewiges Gesetz noch ein ewiges Problem. Ein Dualismus ist vielmehr ein werdender. Er kann und muss sich entwickeln, sich entfalten, sich klären, indem er sich radikalisiert. Oder vorsichtiger formuliert: Dass ein Dualismus in einer persönlichen Denkanstrengung ausgearbeitet werden muss, ist jedenfalls ein – und ein wesentlicher – Aspekt. Es ist nicht auszuschließen, dass es daneben noch einen weiteren Aspekt gibt, der auf irgendeine überpersönliche Bedeutung verweist. Das wäre vielleicht nicht einmal überraschend, nachdem wir in Kapitel 1 bereits festgestellt haben, dass die Intuition des Philosophen einerseits eine persönliche ist, andererseits aber einen Wahrheitsanspruch erheben darf. 210 Hier soll aber zunächst einmal der erste Aspekt hervorgehoben werden, um Missverständnisse wie dasjenige Moores aus dem Weg räumen zu können. Ein Dualismus ist für Bergson nicht abstrakt. Er wird der persönlichen Erfahrung nicht von außen aufgedrängt. Vielmehr ist ein Dualismus konkret, insofern er aus persönlichen Erfahrungen hervorgeht und mit diesen Erfahrungen verbunden bleibt. Merkwürdig daran ist gewiss, dass dieser aus der Erfahrung entsprungene Dualismus anschließend ein besseres Verständnis der Erfahrung – die »Rekonstruktion der zweideutigen und verworrenen Phänomene der alltäglichen Erfahrung« – ermöglichen soll. Daraus folgt aber nicht, dass der Ursprung des Dualismus aus der konkreten Erfahrung in Zweifel zu ziehen, sondern nur, dass hier die gesamte Entwicklungs- und Klärungsgeschichte des Dualismus zu untersuchen ist. Wenn man die konkret-persönliche Genesis des Dualismus sowie seine Funktion bei der Klärung der persönlichen Erfahrung in den Blick nimmt, so wird klar, dass die Frage, wie man ihn auflösen, wie man seine gegensätzlichen Pole miteinander versöhnen kann, nicht die erste und drängendste Frage ist. Vordringliches Anliegen muss es vielmehr sein, den Prozess, in dem sich ein Dualismus bildet, überhaupt erst einmal in Gang zu bringen. Um Heideggers berühmte Formel zu adaptieren: Es geht nicht darum, aus dem Dualismus möglichst schnell heraus-, sondern darum, überhaupt erst einmal in ihn hineinzukommen. Vgl. Abschnitt 1.2.5, S. 90.

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Bergson fasst diese Punkte in dem späten und wichtigen Aufsatz De la position des problèmes – nun wieder am Beispiel des Philosophen – so zusammen: Anzunehmen, dass die Aufgabe des Philosophen darin bestehe, fertig vorgegebene Probleme zu lösen, »hieße dasselbe, wie wenn man dem Philosophen die Rolle und Haltung des Schülers zuweist, der die Lösung sucht und sich sagt, dass ein indiskreter Blick auf das Aufgabenbuch des Lehrers sie ihm zeigen würde. Aber die Wahrheit ist, dass es sich in der Philosophie und selbst anderswo weit mehr darum handelt, das Problem zu finden und es infolgedessen richtig zu stellen, als es zu lösen.« 211

Wie also der konkrete Mensch dem gedankenlos-gewohnheitsmäßigen Handeln oder dem dogmatischen Schlummer entkommt, wie er ein Problem, d. h. einen Gegensatz bzw. Dualismus, findet und, von diesem Punkt ausgehend, sich um seine Aufklärung bemüht – das ist die Frage, die hier vorrangig untersucht werden muss. Antworten wir zunächst mit einem Bild: Die vorproblematische Phase kann man sich als etwas Gleichmäßiges, Glattes, Dichtes, in sich Stimmiges vorstellen. Der Einstieg in die problematisierende Phase wird dann markiert durch einen feinen Riss, eine fehlerhafte Stelle, eine Unstimmigkeit. Für diese ersten feinen Risse in einer Wirklichkeit, die bis dahin nahtlos und fest gefügt erschien, verwendet Bergson in seinen Texten eine Vielzahl von Worten, und es ist wichtig, auf sie aufmerksam zu werden. Beispiele sind der »Riss« (fissure), die »Lücke« (lacune) und – dies wohl das am häufigsten verwendete Wort – der »Abstand« (écart). Bleiben diese Risse unbemerkt, so ist die Chance zum Ausbruch aus dem gedankenlosen Vollzug des Gängigen vertan. Wird aber das Bewusstsein darauf aufmerksam, so setzt es sich darin fest, um sich dann – wie Wasser, das im Winter in einen kleinen Straßenschaden eindringt und gefriert – auszudehnen, eine zunehmende Zahl von Teilen aus dem gewohnten Bild der Wirklichkeit herauszusprengen und so den Riss zu einer Lücke, die Lücke zu einer Kluft zu erweitern.

211 Autant vaudrait assigner au philosophe le rôle et l’attitude de l’écolier, qui cherche la solution en se disant qu’un coup d’œil indiscret la lui montrerait, notée en regard de l’énoncé, dans le cahier du maître. Mais la vérité est qu’il s’agit, en philosophie et même ailleurs, de trouver le problème et par conséquent de le poser, plus encore que de le résoudre. – PM 1292 f. | 51 | 66

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Phänomenologie der Artikulation

2.2.5 Das Verstehen und die Hermeneutik Halten wir kurz inne, um zurückzublicken, so fällt auf, dass das Motiv der Spaltung, bei dem wir jetzt erst angelangt zu sein scheinen, uns eigentlich schon durch den ganzen bisherigen Verlauf der Untersuchung begleitet: • In großem Stil begegnete es uns erstmals, als wir die NichtÜbereinstimmung des Philosophen, die damals noch ein Problem zu sein schien, in ihren mannigfaltigen Facetten beleuchteten 212. • Seinen zweiten großen Auftritt hatte das Motiv im Rahmen der Unterscheidung von Unbewusstem und Bewusstsein. Bewusstsein ergibt sich nach Bergsons Auffassung aus der Inadäquatheit von Akt und Vorstellung, und dadurch gerät die Spaltung schon in ein sehr viel positiveres Licht: Mag die Inadäquatheit auch einen Riss oder einen Spalt innerhalb der erfahrenen Wirklichkeit offenbaren, so erweist sich dieser Spalt doch als Bedingung der Möglichkeit von Bewusstsein (Abschnitt 2.1.3). • Wiederum das gleiche Motiv, jedoch wiederum in leicht veränderter Gestalt fanden wir in den Darlegungen Otto Friedrich Bollnows über Störungen selbstvergessener, unreflektierter Handlungsabläufe. Störungen können zum Fehlschlagen der Handlung führen und – zumindest in bedeutenden Fällen – Reflexionen über den Sinn des Handlungsmusters, eventuelle Fehler bei der Interpretation der vorgefunden Situation und angemessenere Handlungsweisen, kurz: hermeneutisch relevante Reflexionen auslösen. Hier wurde also eine erste Verbindung des Spaltungsmotivs mit hermeneutischen Themen erkennbar (Abschnitt 2.1.4). • Die Aufspaltung als elementare, der Artikulation zugrunde liegende Operation erzeugt, wie wir gesehen haben, einerseits eine differenzierte Mannigfaltigkeit (sei es nun der Arten oder der Worte), andererseits eine »Schichtung« der Wirklichkeit in Gestalt einer Polarität von relativer Immanenz und relativer Transzendenz. Spätestens in dem Moment, in dem wir diese abstrakten Kategorien am Beispiel der philosophischen Intuition erläutern konnten, war klar, dass wir uns im Herzen der Hermeneutik befinden (Abschnitt 2.2.3). 212

Vgl. Abschnitt 1.2.2, S. 67.

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Schließlich haben wir bei der Diskussion von Moores These zum Unbewussten bei Bergson deutlich herausgearbeitet, dass Bergson Dualismen nicht als möglichst schnell zu beseitigende Probleme, sondern als unverzichtbare Werkzeuge des Verstehens und Philosophierens bewertet (Abschnitt 2.2.4). Es scheint also, als ob das Spaltungsmotiv bisher so etwas wie ein verborgener Leitfaden gewesen ist. Wenn aber unsere Verweise einerseits auf Bergsons Terminologie (fissure, écart, lacune), andererseits auf Bergsons »Teilungsmethode« (Abschnitt 2.2.4) kein zufälliges Nebeneinander, sondern in der Sache begründet sind, wenn dieses Nebeneinander auf einen Weg hindeuten sollte, der von ersten, feinen Rissen in der Wirklichkeit bis zur Teilung als Methode, vom zufällig Geschehenden zum bewusst Erzeugten führt, dann könnte dieser Weg sogar als offenkundiger Leitfaden für unsere weitere Analyse von Bergsons Philosophie dienen. Bevor ich skizzieren kann, welche nächsten Schritte aus diesem Leitfaden folgen würden, scheinen mir drei Klarstellungen notwendig. Erstens: Im Verlauf dieses Kapitels haben unsere Bemühungen sich immer stärker darauf gerichtet, den Bereich der hermeneutisch relevanten Phänomene möglichst weit in den Bereich des Lebendigen, d. h. des Biologischen hinein auszudehnen, das Prinzip der Artikulation als ein allgemeines zu fassen und so ein Kontinuum aufzuspannen, das sich vom Reden und Verstehen bis zur funktionalen Gliederung des Organismus sowie den unbewussten Vollzügen seiner Organe erstreckt. Ich hatte betont, dass es Funktion auch für Tiere und Pflanzen gibt, und sogar das Erfassen der Funktion als eine Art von Verstehen bezeichnet. Das heißt nun aber nicht, dass hier die Differenz zwischen Funktion/Bedeutung/Sinn und verstandener Funktion/Bedeutung/Sinn eingeebnet werden soll. Es gibt zwar gute Gründe, Aussagen wie etwa die, dass Tiere und Pflanzen nicht verstehen, zu vermeiden. Aber gerade dann muss man darauf bestehen, dass das Verstehen eines Menschen (oder jedenfalls: das dem Menschen mögliche Verstehen) etwas völlig anderes ist als das »Verstehen« des Tieres. Das Tier »versteht« die (Funktion der) Pflanze, indem es sie frisst. Der Mensch erfasst die Funktion der Pflanze für das Tier gedanklich und stellt sie sprachlich dar. Das Tier »spielt« sein Wissen, der Mensch stellt es vor. Zweitens: Es ist in vielfacher Hinsicht nützlich, mit einem einzigen und allgemeinen Prinzip der Artikulation zu arbeiten, das sich in der Evolution des Lebendigen genauso zeigt wie im Denken und



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Phänomenologie der Artikulation

Sprechen eines menschlichen Individuums. Aber auch hier dürfen Unterschiede nicht verwischt, Brüche nicht verdeckt werden, wenn man der Sache gerecht werden und Bergsons Philosophie verstehen will. Es gibt für Bergson eine fundamentale Kontinuität, die von den Anfängen des Lebens bis zu den geistigen Leistungen des Menschen führt, es gibt aber auch einen entscheidenden Bruch. Die Evolution ist eine Kraft, durch die sich das Leben artikuliert. Aber in der Evolution artikuliert sich das universale Leben, und es artikuliert sich hinter dem Rücken sämtlicher beteiligter Individuen, sofern man im Bereich der Pflanzen und Tiere überhaupt von Individualität sprechen will. Das ändert sich erst mit dem Auftreten des Menschen. Die Natur hat den Menschen in eine gewisse Freiheit entlassen, und deshalb muss jeder einzelne Mensch – obwohl er selbstverständlich ein Naturwesen bleibt und von der Gesellschaft geprägt wird – seine eigene Sicht der Wirklichkeit und seine eigenen Ziele entwerfen. 213 Insofern gibt es einen entscheidenden Bruch, der den Menschen von den übrigen Lebewesen trennt. Um diesen Bruch zu berücksichtigen und zugleich die Artikulation als allgemeines Prinzip zu bewahren, gilt es, zwischen der Allgemeinperspektive auf die Artikulation des Lebens und der Individualperspektive auf das Sich-Artikulieren des einzelnen Menschen zu unterscheiden. Drittens: Es gibt zwei Arten von hermeneutisch relevanten Leistungen. Die eine Art umfasst von menschlichen Individuen vollzogene Anstrengungen, in denen einzelne Konstellationen der Art, auf die die Worte »Funktion«, »Bedeutung« oder »Sinn« hinweisen, erfasst werden. Ich bezeichne diese Anstrengungen, die im Kontext der lebensweltlichen Praxis bleiben, als »Verstehen« oder »Interpretieren«. Die zweite Art umfasst Anstrengungen, die zwar ebenfalls von menschlichen Individuen vollzogen werden, die aber zumindest teilweise von der lebensweltlichen Praxis losgelöst sind und die weniger die in der Lebenswelt auftretenden Konstellationen als vielmehr die Leistungen des ersten Typs thematisieren. Ich bezeichne diese Anstrengungen als »hermeneutische Theorie«, »hermeneutische Philosophie« oder einfach als »Hermeneutik«. Mit dieser Unterscheidung zwischen Verstehen und Hermeneutik sollen gewisse terminologische Unschärfen beseitigt werden, die zu Missverständnissen führen könnten. Aus diesen Klarstellungen und den vorhergehenden Rückblicken 213

Vgl. Abschnitt 2.3.1.4, S. 263.

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ergibt sich: Bergsons Philosophie ist eine hermeneutische Theorie, dies Wort verstanden im Sinne einer Theorie der Verstehensleistungen. Beim gegenwärtigen Stand dieser Untersuchung lassen sich eine Phänomenologie der naturwüchsigen (d. h. vorphilosophischen) Verstehensleistungen und eine Philosophische Anthropologie als die beiden Hauptteile dieser Theorie unterscheiden. Im Mittelpunkt beider Teile steht die Spaltung als Bedingung der Möglichkeit von Verstehen. Hermeneutik hat es mit dem Verstehen zu tun. Aber sie erfindet das Verstehen nicht, um es als neuartige Erkenntnisweise anzupreisen, sondern sie findet es innerhalb der Lebenswelt bereits vor, und zumindest Bergsons hermeneutische Philosophie findet es sogar in zahlreichen unterschiedlichen Ausprägungen vor. Dass es diese unterschiedlichen Gestalten des Verstehens gibt, die ohne alle und vor aller Hermeneutik entstanden sind, ist eine Sache. Eine andere ist es, dass der Theoretiker der Hermeneutik diesen Reichtum als Material für seine Überlegungen aufgreifen und darstellen kann, so dass eine solche Darstellung, die ich als »Phänomenologie der naturwüchsigen Verstehensleistungen« bezeichne, zu einem Bestandteil der hermeneutischen Theorie wird. Bergson kann sicherlich als ein Meister in dieser Disziplin bezeichnet werden, insofern er wie nur wenige andere hermeneutische Philosophen die Fülle der vorgefundenen Verstehensleistungen vor dem Leser ausbreitet. Aber diese Fülle ist kein Selbstzweck. Es geht nicht primär um Vielfalt und Buntheit, sondern um die Klärung zentraler Fragen der Hermeneutik. Die wichtigste unter allen Fragen, von denen wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt wissen, ist nun diese: Wie kommt es zu Rissen in der von den Individuen erfahrenen Wirklichkeit und damit zu Auslösern für Verstehensbemühungen? Anlass für diese Frage ist die bereits erörterte Handlungstheorie der Lebensphilosophie, die besagt, dass Leben zuerst Vollzug – und das heißt: selbstvergessener, unreflektierter, unbewusster Vollzug –, erst später dagegen – und auch dann nur gelegentlich, nämlich unter dem Eindruck der Risse, Spalten, Störungen und Krisen – mit Bewusstsein verbunden ist. Wenn wir unterstellen, dass ein solches Bewusstsein hermeneutisches – das heißt: die Risse, Spalten, Störungen und Krisen aufklärendes – Bewusstsein ist, dass also Verstehens- und Interpretationsbemühungen nur aus den Rissen und Spalten entspringen können, von Störungen und Krisen ausgelöst werden, dann muss die Frage, wie die Risse und Spalten in der (individuellen) 244 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

Anfangsgründe der Hermeneutik Bergsons

menschlichen Erfahrung entstehen können, wenn nicht die einzige, vielleicht nicht einmal die wichtigste, so doch jedenfalls die erste Leitfrage einer Phänomenologie der Verstehensleistungen sein. Gleiches aber gilt für die hermeneutische Grundlagentheorie. Diese betrachtet nicht das individuelle, sondern das allgemeine, d. h. das biologisch verstandene Leben. Auch der Grundlagentheorie obliegt die Klärung der Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von Rissen und Spalten in der Erfahrung. Aber sie stellt, untersucht und beantwortet diese Frage auf andere Weise. Sie blickt auf die Evolution des Lebendigen, bestimmt die Stellung des Menschen im Kontext dieser Evolution und fragt, warum der Mensch (als Art) das einzige Lebewesen ist, in dessen Wirklichkeitserfahrung Risse und Brüche auftreten können. Vergleicht man diese Aufgabenstellung – die womöglich nicht die ganze, sondern nur der uns im Moment sichtbare Teil der Aufgabenstellung ist – mit den Bemühungen von Denkern wie Scheler oder Plessner, dann scheint mir die – von Bergson selbst nicht verwendete – Bezeichnung »Philosophische Anthropologie« angemessen. Im dritten Hauptteil dieses Kapitels wird es also darum gehen, einen Abriss dieser beiden Teile der hermeneutischen Theorie zu geben und so einen ersten Eindruck von derjenigen Form zu gewinnen, die Bergson der Handlungshermeneutik gibt.

2.3 Anfangsgründe der Hermeneutik Bergsons 2.3.1 Philosophische Anthropologie als Grundlegung der Hermeneutik 2.3.1.1 Das Leben als hermeneutischer Prozess Wenn die Philosophische Anthropologie als Grundlegung der Hermeneutik die Aufgabe hat, den Menschen als Lebewesen zu erfassen und seine Position innerhalb der Evolution des Lebendigen aufzuweisen, um zu zeigen, warum er ein Wesen ist, in dessen Erfahrung Risse und Brüche auftreten können, dann muss sie da anfangen, wo auch das Leben selbst anfing. Wenn sie gar die Aufgabe hat, die »Stellung des Menschen im Kosmos« zu bestimmen, dann hat sie sogar bei den unbelebten Dingen und bei der Materie zu beginnen. Bergson hat diese Konsequenz gezogen und Überlegungen zum Materiebegriff 245 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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formuliert, bei denen er teils von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen seiner Zeit, teils von der menschlichen Erfahrung der Materie ausging. 214 Im Kontext unserer gegenwärtigen Fragestellung genügt es aber, an dem Punkt zu beginnen, an dem – gleichsam als Ur-Teilung, als erster Riss und tiefste Kluft in der Wirklichkeit – das Leben sich konstituiert, indem es sich der starren Materie entgegensetzt. Wir sind auf diesen Punkt bereits mehrfach kurz eingegangen. 215 Dabei haben wir festgestellt, dass Bergson angesichts der Frage nach Ursprung und Wesen des Lebens zunächst der unbelebten Materie und der Physik (als der mit dieser Materie hauptsächlich befassten Wissenschaft) so weit wie irgend möglich entgegengeht und den Begriff der Energie ins Zentrum rückt, um dann auf der Basis dieses gemeinsamen Nenners die Unterscheidung zwischen beiden Bereichen formulieren zu können 216. Lebewesen zeichnen sich Bergsons Auffassung zufolge dadurch aus, dass sie Energie aus ihrer Umwelt aufnehmen, diese speichern und sie zu gegebener Zeit auf eine für sie vorteilhafte Weise wieder verausgaben. Diese Charakterisierung des Lebens macht zunächst einen recht harmlosen Eindruck, bei näherer Betrachtung entpuppt sie sich aber als wahres Minenfeld. Es zeigt sich nämlich, dass das Leben, das sich da konstituiert hat, voller Widersprüche steckt: • Auf den ersten Widerspruch hatte ich bereits an früherer Stelle hingewiesen. Einerseits bleiben die Lebewesen dem Bereich der unbelebten Materie und der anorganischen Dinge, aus dem sie hervorgegangen sind, verhaftet, weil Leben ohne die nur dort vorfindliche Energie (énergie de la radiation solaire, énergie chimique, énergie préexistante, énergie disponible, énergie utilisable) nicht möglich ist. Andererseits entreißen die Lebewesen aber diese Energie ihrem ursprünglichen Zusammenhang, verleiben sie sich ein und machen etwas ganz Neues (énergie accumulée, énergie à dépenser, énergie de puissance) daraus, indem sie sie ihren eigenen Gesetzen unterwerfen. Geht man von den Prinzipien der Thermodynamik und insbesondere vom Gesetz 214 Die beiden wichtigsten – freilich auch: umstrittensten – Texte sind wohl das vierte Kapitel von Matière et mémoire, in dem Bergson zu zeigen versucht, dass die Materie nicht als Ansammlung kleinster Kügelchen, sondern als Kontinuum gedacht werden muss, und das dritte Kapitel von L’évolution créatrice mit seinem berühmt-berüchtigten »Mythos« (Troeltsch) von der »ideellen Genesis der Materie«. 215 Vgl. S. 164 und S. 214. 216 EC 592–600 | 115–126 | 120–130

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Anfangsgründe der Hermeneutik Bergsons





der Entropie aus, dann kann man sagen, dass jedes Lebewesen, obwohl es weiterhin an der materiellen Welt partizipiert, sich als geschlossenes System von dieser abgrenzt, ja sich geradezu durch den Widerstand gegen die darin geltenden Gesetze definiert. Im Nachhinein kann man erkennen, was alles mit dieser anfänglichen Ent-Scheidung vorbereitet worden ist: die Differenzierung des Körpers in Wahrnehmungs-, Bewegungs- und Verdauungsorgane ebenso wie die Ausbildung einer geistigen Dimension, d. h. letztlich von Freiheit, Bewusstsein und Verständigung. Anfangs freilich konnte von all dem noch keine Rede sein. Wenn jemand, gerade von der Arbeit kommend, sich kurz entschlossen in ein Flugzeug setzt und für längere Zeit in ein Land reist, in dem er/sie noch nie zuvor gewesen ist, dann wird sich alsbald herausstellen, dass dies und jenes fehlt, dass mannigfaltige Schwierigkeiten weder bedacht noch auch nur vorhergesehen wurden. Von dieser Art ist die Reise, auf die sich das Leben begeben hat, als es sich gleichsam kurz entschlossen und abenteuerlustig von der Materie und ihren Gesetzen distanzierte. In einem gewissen Sinne kann man sagen, dass all das, was sich später entwickelt hat, am Anfang schon da war. In einem anderen Sinne muss man sagen, dass von all dem noch gar nichts da war. Dieser Widerspruch wird – insbesondere im Hinblick auf die geistige Dimension – verschärft, wenn Bergson die These aufstellt, dass Leben – jedes Leben – »de jure bewusst« 217 ist. Anfängliches Leben ist auch anfängliches Bewusstsein, denn Leben ist eine Konstellation, bei der Bewusstsein auf die bewusstlose Materie »aufgepfropft« wird. 218 Man sieht leicht, was mit dieser schwierigen These letztlich gemeint ist: Wenn das Lebewesen sua sponte über die Verausgabung der gespeicherten Energie entscheiden können soll, dann muss es auch ein Vermögen der Handlungssteuerung, d. h. ein Beurteilungs- und Entscheidungsvermögen besitzen. Wie man nicht sagen kann, dass Lebewesen, die nicht über einen Magen verfügen, sich nicht er-

Vgl. Anm. 66. Supposons […] qu’il y ait au fond de la vie un effort pour greffer, sur la nécessité des forces physiques, la plus grande somme possible d’indétermination. – EC 592 | 115 f. | 120 217 218

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2 · Handlungshermeneutik: Das Unbewusste und das Bewusstsein



nähren, 219 sondern vielmehr sagen muss, dass ein Wesen, das gezwungen ist, Energie aus seiner Umwelt aufzunehmen, in irgendeiner – und sei es noch so primitiver – Form über die Funktion der Ernährung verfügt, so muss man einem Wesen, das die aufgenommene Energie in für es vorteilhafter Weise wieder verausgabt, auch irgendein – und sei es noch so rudimentäres und undifferenziertes – Vermögen der Unterscheidung zwischen vorteilhaften und weniger vorteilhaften Weisen der Energieverausgabung zusprechen. Leben ist Wahl, und Wahl erfordert irgendeine Vorstellung von Optionen. 220 Blätter, Zweige und Steine lassen sich von Wind und Wellen treiben, Lebewesen aber wählen und handeln. Aber durch diese Überlegungen wird die Schwierigkeit, dass wir da, wo de jure Bewusstsein herrschen sollte, de facto mehrheitlich unbewusste Vollzüge antreffen, nicht beseitigt. Als letzter fundamentaler Widerspruch sei hier derjenige zwischen dem Leben als einer universalen Kraft und der Individualität der Lebewesen genannt. Man muss Bergsons Konzept des élan vital nicht akzeptieren, um zugestehen zu können, dass ein Blick auf die Evolution des Lebendigen einerseits Trennungen (Aufspaltungen) zeigt und andererseits Entwicklungslinien, die von Trennungspunkten aus in verschiedene Richtungen verlaufen. Das Leben differenziert sich und erprobt so gleichsam verschiedenartige Lösungen des Lebensproblems. Aber »das Leben«, das sich da differenziert, ist ein allgemeines, überindividuelles Leben, und der Differenzierungsvorgang geschieht hin-

219 […] il serait aussi absurde de refuser la conscience à un animal, parce qu’il n’a pas de cerveau, que de le déclarer incapable de se nourrir parce qu’il n’a pas d’estomac. – EC 588 f. | 111 | 116 220 Das Selbstverständnis existenzialistischer Bergson-Kritiker wie Sartre, die glaubten, mit dem Gedanken der Wahl über Bergson hinauszugehen, muss als verfehlt betrachtet werden. Man war schlicht so auf Intuition, Unmittelbarkeit und das kontinuierliche Fließen der Dauer fixiert, dass man die Rolle, die das Zögern und das Wählen in Bergsons Philosophie spielen, nicht bemerkt hat. Indessen: Quels sont […] les moments où notre conscience atteint le plus de vivacité ? Ne sont-ce pas les moments de crise intérieure, où nous hésitons entre deux ou plusieurs partis à prendre, où nous sentons que notre avenir sera ce que nous l’aurons fait ? Les variations d’intensité de notre conscience semblent donc bien correspondre à la somme plus ou moins considérable de choix ou, si vous voulez, de création, que nous distribuons sur notre conduite. Tout porte à croire qu’il en est ainsi de la conscience en général. Si conscience signifie mémoire et anticipation, c’est que conscience est synonyme de choix. – ES 823 | 11 | 11

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Anfangsgründe der Hermeneutik Bergsons

ter dem Rücken der einzelnen Lebewesen. Das einzelne Lebewesen – und das gilt auch noch für den Menschen – findet sich in die Welt »geworfen« (Heidegger) als Mitglied dieser oder jener Art, ohne dass es zuvor gefragt worden wäre, ob ihm diese Auswahl beliebt, und ohne dass ihm die Differenzierung »des Lebens« zu größerer Klarheit über sich selbst verhelfen würde. Den zunehmenden Reichtum »des Lebens« bezahlt in gewissem Sinne jedes einzelne Lebewesen durch eine Verarmung, d. h. eine Beschränkung seiner eigenen Möglichkeiten. Diese Widersprüche haben Folgen – für das Leben überhaupt ebenso wie für menschliches Leben. Um sie zu erläutern, geht Bergson vom zweiten Widerspruch aus und bringt die Nicht-Übereinstimmung innerhalb des Lebens überhaupt in Verbindung mit der Nicht-Übereinstimmung zwischen dichterischer Inspiration und dichterischem Werk: »Ist das Leben in seiner Berührung mit der Materie einem Impuls oder einer Schwungkraft vergleichbar, so ist es, an sich geschaut, ein Unermessliches von Möglichkeiten, ein Ineinandergreifen von tausend und abertausend Tendenzen, die indessen zu ›tausenden und abertausenden‹ erst werden, nachdem sie auseinander getreten, d. h. verräumlicht sind. Entscheidend für diese Zerlegung ist die Berührung mit der Materie. Sie erst zerlegt der Tatsache nach, was nur der Möglichkeit nach ein Vielfaches war, und in diesem Sinn ist die Individuation halb Werk der Materie, halb Wirkung dessen, was das Leben in sich trägt. So etwa, wie man von einem dichterischen, in gesonderten Strophen und Versen und Worten verdeutlichten Gefühl sagen könnte, es habe diese Vielfalt individualisierter Bestandteile in sich enthalten, und doch sei es die Materialität der Sprache, die sie erschaffe.« 221

Da ist er also wieder, der Dichter, dessen sprachlose Intuition (oder Inspiration oder Emotion) sich an der Sprache abarbeiten muss, um zu sich selbst zu kommen, und sich deshalb in Strophen, Verse und 221 Si, dans son contact avec la matière, la vie est comparable à une impulsion ou à un élan, envisagée en elle-même elle est une immensité de virtualité, un empiètement mutuel de mille et mille tendances qui ne seront pourtant « mille et mille » qu’une fois extériorisées les unes par rapport aux autres, c’est-à-dire spatialisées. Le contact avec la matière décide de cette dissociation. La matière divise effectivement ce qui n’était que virtuellement multiple, et, en ce sens, l’individuation est en partie l’œuvre de la matière, en partie l’effet de ce que la vie porte en elle. C’est ainsi que d’un sentiment poétique s’explicitant en strophes distinctes, en vers distincts, en mots distincts, on pourra dire qu’il contenait cette multiplicité d’éléments individués et que pourtant c’est la matérialité du langage qui la crée. – EC 714 | 259 | 262

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Worte teilt. Wir hatten diese Konstellation im ersten Kapitel 222 kennengelernt und untersucht. Wenn wir sie für einen Augenblick mit einer Insel vergleichen, die mitten in einem Fluss liegt, so können wir sagen: Wir haben sie im ersten Kapitel von dem einen, dem texthermeneutischen Ufer aus betrachtet und beschrieben. Freilich konnten wir damals schon sehen, dass es noch ein zweites Ufer gibt, aber wir waren doch vor allem an der Insel interessiert. Nun stehen wir also am anderen Ufer, und wir stellen zunächst einmal fest, dass das Thema, um das es hier geht, das Leben und die Evolution des Lebendigen ist. Das scheint mit Texthermeneutik nicht viel zu tun zu haben, und doch lenkt Bergson unseren Blick wiederum auf die Insel, fordert er uns auf, sie nun vom anderen Ufer aus zu betrachten. Man versteht, dass das deshalb geschieht, weil es sich beim Dichten und beim Leben um kreative Prozesse handelt, in denen Werke geschaffen werden. Aber man muss weiter gehen. Man zögert ein wenig, es auszusprechen, aber die Formulierung ist nicht zu vermeiden, wenn man dem hermeneutischen Charakter der Lebensphilosophie im Allgemeinen und der Philosophie Bergsons im Besonderen auf die Spur kommen will: Leben ist für Bergson nicht ein primär materieller Prozess, zu dem irgendwann noch Bewusstsein – gleichsam als weitere Zutat – hinzugefügt wird. Leben ist – für Bergson wie für die Lebensphilosophie überhaupt – ein hermeneutischer Prozess. Die Evolution des Lebendigen ist die Auslegung jener grundlegenden »Intuition«, die am Anfang allen Lebens steht. Und diese Auslegung geschieht, weil das Leben auf der Suche nach sich selbst ist. »Das Leben artikuliert sich«, und die schöpferische Entwicklung (évolution créatrice) ist jener Prozess, in dem das Leben sich artikuliert, sich auslegt. Die Anstrengung dieser sich artikulierenden Auslegung ist deshalb notwendig, weil das Leben – mir Ricœur gesprochen – eine Kraft auf der Suche nach ihrem Sinn ist. Wie der Philosoph, so wird auch das Leben sich seiner »Intuition« zunächst nur im Negativen bewusst: als Widerstand gegen die unpersönlichen Gesetze der Materie. Wie der Philosoph, so weiß auch das Leben nicht, was diese »Intuition« positiv besagen und worauf sie eigentlich hinaus will. Ist die Grundfrage derjenigen Hermeneutik, die Heidegger in »Sein und Zeit« entfaltet, die nach dem »Sinn von Sein«, so ist es in Bergsons Philosophie die nach dem »Sinn von Leben«. Weil aber die Grundstruktur des Lebendigen immer auch schon so etwas wie 222

Vgl. Abschnitt 1.3.2, S. 107.

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Anfangsgründe der Hermeneutik Bergsons

Bewusstsein, Individualität und Freiheit impliziert, beinhaltet die Frage nach dem Sinn von Leben immer schon die Fragen nach dem Sinn von Bewusstsein, von Individualität und von Freiheit. Man lese L’évolution créatrice einmal unter diesem Gesichtspunkt: Das dritte Kapitel etwa trägt den Titel »Die Bedeutung des Lebens« (De la signification de la vie). Es schließt mit einem Abschnitt über »Die Bedeutung der Evolution« (Signification de l’évolution). Und schon zu Beginn des ersten Kapitels schreibt Bergson, die Evolution des Lebendigen zeige eine »Suche nach der« – ganz gewiss nicht verlorenen, sondern schlicht noch nicht wirklich gefundenen – »Individualität« (recherche de l’individualité) 223, d. h. nach dem Gleichgewicht zwischen der Partizipation am Ganzen, aus dem das Lebewesen hervorgegangen ist, und andererseits der Entfaltung der eigenen Initiative. Dieser Charakter des allgemeinen Lebens hat Bedeutung für menschliches Leben, d. h. prägt menschliches Leben: Weil das allgemeine Leben ein hermeneutischer Prozess ist, kann auch der Mensch ein hermeneutisches Lebewesen sein. Gewiss, ein nach Sinn fragendes, nach Verstehen strebendes Lebewesen wie der Mensch wäre innerhalb einer selbst nicht hermeneutisch verfassten Welt vielleicht nicht gänzlich undenkbar. Aber es wäre eine seltsame, schwer verständliche und vermutlich – wie der strebende, aber auf den allgemeinen Determinismus stoßende Mensch des Lukrez – eine melancholisch stimmende Erscheinung. Leichter verständlich ist eine NichtÜbereinstimmung des Menschen mit sich selbst im Kontext eines allgemeinen, umgreifenden Lebens, das ebenfalls durch Nicht-Übereinstimmung charakterisiert ist. Indessen: Müssten dann nicht auch Pflanzen und Tiere, die ja Produkte des gleichen Evolutionsprozesses sind, hermeneutische Lebewesen sein? Und muss man denn nicht sagen, dass sie es nicht sind? Sie sind es in der Tat auch nach Bergsons Auffassung nicht. Aber das macht den Zusammenhang zwischen dem hermeneutischen Charakter des Lebens überhaupt und der hermeneutischen Verfassung des Menschen nicht bedeutungslos. Es macht ihn nur komplexer. In einer ersten, fundamentalen Schicht gilt, dass Pflanzen, Tiere und Menschen Produkte des gleichen Evolutionsprozesses und Vertreter des Lebendigen überhaupt sind. In einer zweiten, übergeordneten Schicht zeigen sich dann allerdings Unterschiede. Pflanzen, Tiere und Menschen unterscheiden sich durch verschiedenartige Bezüge zu ihrer 223

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Umwelt, verschiedenartige Formen der Handlungssteuerung und verschiedene Formen der Teilnahme am Evolutionsprozess. Kurz: Sie unterscheiden sich durch verschiedene Gestalten des Bewusstseins. 2.3.1.2 Die Pflanze: »Einschlafendes« Bewusstsein Die Geschichte der Evolution des Lebendigen, die Bergson in L’évolution créatrice erzählt, ist die Geschichte der Entfaltung des Bewusstseins, seiner Verwirklichung im Zusammenspiel mit sowohl wie in Abgrenzung von Materie und Unbewusstem. Dass sich Bergson dabei vom linearen Fortschrittsdenken der Tradition absetzt, haben wir bereits erörtert: Das unbewusst-vegetative Leben der Pflanze, der Instinkt des Tieres und die menschliche Intelligenz sind nicht Stufen eines einzigen, linearen Entwicklungsprozesses, so dass das vegetative Leben die unvollkommene Vorstufe des Instinkts und der Instinkt die unvollkommene Vorstufe der Intelligenz wäre. Man hat es vielmehr mit drei ausdifferenzierten Gestalten des im Leben virtuell angelegten Bewusstseins zu tun, die aus der Aufspaltung des Lebensprozesses in mehrere, unterschiedlich gerichtete Teilprozesse hervorgegangen sind. Diese Aufspaltung erfolgte allerdings nicht als einfache Dreiteilung, sondern als zweifache Zweiteilung. In einem ersten Schritt teilten sich die Lebewesen in Pflanzen und Tiere, in einem zweiten Schritt die Tiere in verschiedene Gattungen, von denen die Hautflügler (Hymenoptera) sowie die Säugetiere aus der Perspektive einer philosophischen Geschichte der Evolution als die bedeutendsten anzusehen sind. Zu den Hautflüglern zählen Bienen, Ameisen und andere Insekten, die ein äußerst differenziertes und hoch entwickeltes Gesellschaftsleben zeigen (Insektenstaaten). Bergson sieht in diesen Arten den Gipfel dessen, was bisher auf der Basis des Instinkts erreicht worden ist. Im Gegensatz dazu kann man sagen, dass die Entwicklung der Säugetiere immer stärker auf die Herausbildung der Intelligenz abzielt und dass diese Entwicklung im Menschen ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hat. Werfen wir zunächst noch einmal einen Blick auf die anfängliche Aufspaltung der Lebewesen in Pflanzen und Tiere. 224 Bergson geht davon aus, dass beide von einem »gemeinsamen Ahnen« abstammen, 224

EC 585–596 | 107–121 | 111–125

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der zwischen tierischer und pflanzlicher Form schwankt bzw. an beiden teilhat. Die Nachkommen dieser undifferenzierten Ursprungsform aber beginnen, sich zu spezialisieren und zu differenzieren. Das zeigt sich zunächst im Bereich der Ernährung: Da gibt es einerseits die Pflanzen, die alles, was sie zum Leben benötigen, der unbelebten Materie (Erde, Wasser, Luft) entnehmen, andererseits die Tiere, die sich von anderen Lebewesen (zunächst Pflanzen, später auch andere Tiere) ernähren. Die Entscheidung für verschiedene Nahrungsquellen aber hat Auswirkungen auf die gesamte Lebensform. Während nämlich die von den Pflanzen benötigte unbelebte Materie nahezu überall zu finden ist, gilt dies für Pflanzen oder gar Tiere, die anderen Tieren als Nahrung dienen können, nicht. Im Gegensatz zu Pflanzen müssen sich Tiere also auf die Suche nach Nahrung begeben bzw. durch Flucht oder Verteidigung verhindern, dass sie selbst zur Nahrung anderer Tiere werden. Kurz: Sie mussten die primitiven Formen der Bewegung, die bei dem gemeinsamen Ahnen vorhanden gewesen sein mögen, so stark ausbauen, dass die aus eigenem Antrieb entspringende Bewegung geradezu zum Kennzeichen tierischen Lebens wurde, während bei den Pflanzen selbst die geringen Ansätze der gemeinsamen Ursprungsform verkümmerten. Nun erfordert aber jede Bewegung, die nicht blinde Aktivität, sondern sachgemäßes und lebensdienliches Handeln sein soll, Wahrnehmung, Entscheidung und letztlich Bewusstsein. Bewegung und Bewusstsein bedingen sich gegenseitig: »Eine offenkundige Beziehung herrscht zwischen Beweglichkeit und Bewusstsein.« 225

Die Evolution der Tiere, die gekennzeichnet ist durch die Entfaltung der Bewegungs- und – damit verbunden – der Sinnesorgane, manifestiert demnach zugleich die Entfaltung des Bewusstseins. Die Pflanzen dagegen verzichten im Verlauf ihrer Evolution nicht nur darauf, die einfachen, vom gemeinsamen Ahnen übernommenen Bewegungsformen in ähnlicher Weise weiterzuentwickeln, sie geben sogar noch jene primitiven Bewegungsansätze preis. Da, wo Wind und Wellen das Samenkorn hintreiben, da wächst die Pflanze, und da bleibt sie, mag sich der Standort nun als vorteilhaft erweisen oder nicht. Mit dem Verzicht auf Bewegung ist aber der Verzicht auf Bewusstsein verbunden. Deshalb spricht Bergson davon, dass bei den Pflanzen 225

Entre la mobilité et la conscience il y a un rapport évident. – EC 588 | 111 | 115

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das Bewusstsein »eingeschlafen« sei, dass die Pflanzen in »Unbewusstheit« und »Dumpfheit« abgeglitten seien: »[Die lebende Materie] kann entweder die Richtung der Bewegung und des Handelns einschlagen – der immer wirksameren Bewegung und des immer freieren Handelns: Das bedeutet Wagnis und Abenteuer, das bedeutet aber auch Bewusstsein mit seinen wachsenden Graden von Tiefe und Stärke. Oder aber sie kann die Fähigkeit des Handelns und Wählens, die sie andeutungsweise, skizzenhaft in sich trägt, aufgeben und sich so einrichten, dass sie alles, was sie braucht, auf derselben Stelle findet und es nicht zu suchen braucht: das bedeutet eine gesicherte, ruhige, bürgerliche Existenz, das bedeutet aber auch Dumpfheit, als erste Wirkung der Unbewegtheit; und bald folgt das endgültige Entschlummern, bald die Bewusstlosigkeit.« 226

Diese Sätze lassen erkennen, dass die Vorgänge, auf die wir hier kurz eingegangen sind, einen Doppelcharakter aufweisen. Auf der einen Seite handelt es sich um eine einmalige Episode aus der Evolution des Lebendigen und des Bewusstseins. In ihr treten – wenn man so sprechen darf – ganz spezifische »Akteure« auf: die ersten Pflanzen und die ersten Tiere. Die Episode ist geprägt von einer spezifischen Form der Aufspaltung, die sich im Rückgriff auf die zu Beginn dieses Abschnitts vorgestellten Strukturelemente als eine Teilung charakterisieren lässt, die beim einen Teil – den Tieren – mit einem Fortschritt oder Aufschwung, beim anderen Teil – den Pflanzen – mit einem Rückschritt oder Verlust einhergeht. Aber nicht jede Aufspaltung vollzieht sich in dieser Weise, wie die Aufspaltung des nicht-pflanzlichen Bewusstseins in tierischen Instinkt und menschliche Intelligenz zeigen wird. 227 Schließlich erzeugt diese Aufspaltung auf der Seite der Pflanzen eine ganz spezifische Form des Unbewussten: die vegetative, 226 [La matière vivante] peut s’orienter dans le sens du mouvement et de l’action – mouvement de plus en plus efficace, action de plus en plus libre : cela, c’est le risque et l’aventure, mais c’est aussi la conscience, avec ses degrés croissants de profondeur et d’intensité. Elle peut, d’autre part, abandonner la faculté d’agir et de choisir dont elle porte en elle l’ébauche, s’arranger pour obtenir sur place tout ce qu’il lui faut au lieu de l’aller chercher: c’est alors l’existence assurée, tranquille, bourgeoise, mais c’est aussi la torpeur, premier effet de l’immobilité ; c’est bientôt l’assoupissement définitif, c’est l’inconscience. – ES 823 | 11 f. | 11 227 In diesem Umstand ist der Grund dafür zu sehen, dass Bergson zwar torpeur végétative, instinct und intelligence als drei Gestalten des Komplexes Leben/Bewusstsein begreift, diese aber nicht einer einmaligen Dreiteilung, sondern zwei Zweiteilungen entspringen lässt. Tierischer Instinkt und menschliche Intelligenz sind Resultate von zwei verschiedenen, aber doch wesensverwandten Anstrengungen, während die Pflanzen gerade auf eine analoge Anstrengung verzichtet haben.

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auf Eigenbewegung – damit aber auch auf Initiative und Entscheidung – verzichtende Starre (torpeur végétative). Es ist dies ein Unbewusstes, das der Trägheit entspringt. Wenn Bewusstsein in jenem Spalt gedeiht, der die Tat von der Idee trennt, – wie soll ein Lebewesen, das weder Ideen hervorbringt noch die Initiative zu Taten ergreift, Bewusstsein entwickeln? Dieses Unbewusste aber ist – auch wenn das Wort identisch bleibt – ein anderes als dasjenige, das sich unter den Bedingungen eines durch Eigenbewegung geprägten Lebens beim Tier oder unter den Bedingungen des durch die Intelligenz geprägten Lebens beim Menschen zeigt. Auf der anderen Seite handelt es sich bei den dargestellten Vorgängen aber auch um das Modell eines Geschehens, das im Laufe der Evolution des Lebendigen immer wieder zu beobachten ist, um die Grundstruktur einer Gefahr, von der Bewusstsein stets bedroht ist. Das wird deutlich, wenn Bergson in L’évolution créatrice auf Tierarten hinweist, die, um sich gegen Angreifer zu schützen, eine starre äußere Schale entwickelten oder, um das Leben einfacher zu gestalten, zu Parasiten wurden, die aber, indem sie in erheblichem Maße auf Bewegung und Initiative verzichteten, auch bereits erreichte Positionen des Bewusstseins wieder aufgaben und sich dem unbewussten Vegetieren der Pflanzen annäherten. Es wird auch deutlich, wenn Bergson in dem zuletzt angeführten Zitat von der »ruhigen, bürgerlichen Existenz« spricht und damit auf Formen menschlichen Lebens anspielt. Wie aber lässt sich dieser Typus eines Geschehens, diese stets lauernde Gefahr für das Bewusstsein – jegliches Bewusstsein – beschreiben? Wir hatten festgestellt, dass Leben für Bergson nicht ein materieller Prozess ist, zu dem möglicherweise irgendwann Bewusstsein hinzutritt. Leben und Bewusstsein sind vielmehr gleichursprünglich, insofern die Grundstruktur des Lebendigen so etwas wie Bewusstsein erfordert. Dieses Bewusstsein ist freilich zu Beginn ein bloß virtuelles, das erst noch erobert, d. h. entwickelt werden muss. Es gibt demnach ein Unbewusstes, das als noch ausstehendes Bewusstsein zu charakterisieren ist, und ihm entspricht eine Anstrengung, die Bergson mit den Worten »Wagnis und Abenteuer« charakterisiert, eine Anstrengung also, die aufbricht, um das Unbekannte zu erkunden, das Unbewusste in Bewusstsein zu verwandeln. Auf der anderen Seite hatten wir gesehen, dass Bergson allen Pflanzen sowie manchen Tieren und manchen Menschen ein »eingeschlafenes« Bewusstsein attestiert. Diese Formulierung ist offenkundig in Verbindung zu brin255 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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gen mit der zuvor zitierten Rede vom »vernichteten« Bewusstsein. Es gibt demnach auch ein Unbewusstes, das als verlorenes Bewusstsein charakterisiert werden muss. Ihm korrespondiert eine Anstrengung, die bereits erreichte Positionen und Inhalte im Bewusstsein lebendig hält oder sie wieder lebendig macht, eine Anstrengung also, die gegen das Versinken im Unbewussten ankämpft. Bewusstsein – auch dies hatten wir bereits festgestellt – ist für Bergson keine Gabe, sondern eine Aufgabe. Wie eine einmal erreichte Form des Bewusstseins nur eine partikulare Form darstellt, die der Erweiterung bedarf, so ist ein einmal erreichter Stand des Bewusstseins kein Besitz, den man »getrost nach Hause tragen« könnte, sondern eine ungesicherte Position, die jederzeit verlorengehen kann. Bewusstsein ist demnach ein eigenartiges Zwischenreich zwischen einem Unbewussten des Noch-Nicht und einem Unbewussten des Nicht-Mehr, dessen Grenzen nicht statisch, sondern in Bewegung sind. Die Chance dieser Konstellation besteht darin, dass Erweiterungen des Bewusstseins möglich sind. Die mit ihr verbundene Gefahr besteht – wie bei einer von Wind und Wellen umfluteten Insel – darin, dass bereits erreichte und vermeintlich gesicherte Positionen des Bewusstseins wieder verloren gehen, im Unbewussten versinken, weil die Bemühungen, die zu ihrer Erhaltung erforderlich sind, eingestellt wurden. Diese Gefahr aber entspringt letztlich aus dem Hang zur Übereinstimmung. Das träge Sich-zufrieden-Geben der Pflanzen, der als Parasiten lebenden Tiere oder der »ruhigen, bürgerlichen Existenzen« mit den Umständen und Lebensformen, die man vom Schicksal nun einmal zugeteilt bekam, bedeutet zugleich den Verzicht auf jene Nicht-Übereinstimmung, die den Nährboden für Bewusstsein darstellt. 2.3.1.3 Das Tier: Lebenskraft und Instinkt Daraus, dass Bergson die Evolution überhaupt und insbesondere die Entfaltung des Bewusstseins nicht als unilinearen Prozess konzipiert, bei dem jede höhere Stufe die niedrigeren Stufen überbietet, ergibt sich ein bedeutender methodischer Vorteil für seine Philosophie: Wenn die verschiedenen Formen des Bewusstseins durch Teilung und Differenzierung aus einem gemeinsamen Ursprung hervorgehen, dann lassen sich – wenn nicht alle, so doch mindestens einige – Defizite einer gegebenen Form ermitteln, indem man sie mit den anderen bekannten Formen vergleicht. Das betrifft insbesondere die 256 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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menschliche Intelligenz als die vermeintlich höchste und vollkommenste Gestalt des Bewusstseins. Folgt man dem Stufenmodell, dann muss man entweder – wie Kant – die menschliche Vernunft als weitgehend identisch mit der »Vernunft überhaupt« betrachten, oder man muss – wie die vorkritische Tradition – einen Gott oder zumindest Engel einführen, um einen Maßstab zu gewinnen, anhand dessen sich die Defizite der menschlichen Bewusstseinsform bestimmen lassen. Bergson muss weder zu der einen noch zu der anderen Strategie seine Zuflucht nehmen. Er kann die Intelligenz mit dem Instinkt des Tieres vergleichen, und er kann dies nicht nur tun, um die Stärken der Intelligenz und die Schwächen des Instinkts zu erkunden, sondern ebenso, um die Stärken des Instinkts und die Schwächen der Intelligenz zu bestimmen. Für unsere Untersuchung ergibt sich daraus allerdings an dem Punkt, an dem wir derzeit stehen, ein kleiner Nachteil. Es muss uns, nachdem wir das vegetative Leben der Pflanzen im Hinblick auf das Spannungsverhältnis von Unbewusstem und Bewusstsein betrachtet haben, im nächsten Schritt darum gehen, eine analoge Betrachtung für den Instinkt der Tiere durchzuführen. Nun lässt sich aber eine konkrete Gestalt des Bewusstseins nur im Rahmen des Vergleichs mit einer anderen Gestalt beschreiben, und da der Vergleich mit derjenigen Gestalt, die wir bei der Pflanze antreffen, bereits durchgeführt wurde, sind neue Aufschlüsse nur durch einen Vergleich mit der menschlichen Intelligenz zu erwarten. Wir werden also ein wenig vorgreifen und schon hier eine grobe Skizze der Intelligenz liefern müssen. Der für alles Weitere entscheidende Punkt, der es überhaupt erst möglich macht, die menschliche Intelligenz mit dem tierischen Instinkt und dem pflanzlichen Vegetieren zu vergleichen, ist dieser: Die menschliche Intelligenz dient, wenn man, wie es sich für einen Lebensphilosophen gehört, nach ihrem Nutzen und Nachteil für das Leben fragt, nicht der theoretischen Spekulation, sondern dem praktischen Handeln, das seinerseits das Überleben des menschlichen Lebewesens ermöglichen soll. Das praktische Handeln des Menschen vollzieht sich vor allem als ein Bearbeiten von Gegenständen, und die Intelligenz unterstützt solche bearbeitenden Tätigkeiten, indem sie Pläne entwirft, geeignete Materialien bestimmt und auffindet, vor allem aber, indem sie Werkzeuge erfindet, die das Bearbeiten erleichtern oder überhaupt erst ermöglichen. Bezieht man sich auf die von Hannah Arendt eingeführte, präzisere Terminologie, muss man 257 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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also sagen: Das, was die Vernunft unterstützen soll, ist gar kein »Handeln«, sondern »Arbeit« und »Herstellen«. 228 Entsprechend bezeichnet Bergson den in und mit der Lebenswelt beschäftigten Menschen auch nicht als homo sapiens, sondern als homo faber. 229 Wenn nun aber der Mensch sein Überleben sichert, indem er in der Welt vorgefundene Gegenstände mit selbst entworfenen und selbst hergestellten Werkzeugen bearbeitet – wie kann man dann die Überlebensstrategien der Tiere beschreiben? Soll man sagen, dass nur der Mensch über Werkzeuge verfügt, oder soll man auch dem Tier den Besitz von Werkzeugen zuschreiben? Bergson schafft sich die Möglichkeit einer Antwort, indem er auf das griechische Wort ὄργανον zurückgreift, das man sowohl mit »Werkzeug« wie auch mit »Organ« übersetzen kann: »Besitzt denn aber das intelligenzlose Tier nicht auch Werkzeuge oder Maschinen? Ohne allen Zweifel, nur dass hier das Werkzeug einen Teil des Körpers ausmacht, der sich seiner bedient, und dass als Korrelat dieses Instruments ein Instinkt existiert, der es zu benutzen versteht. […] Oft schon hat man darauf verwiesen, dass die meisten Instinkte eine bloße Fortsetzung, oder besser Vollendung der organschaffenden Energie selber seien. Wer wollte sagen, wo die Tätigkeit des Instinkts beginnt und wo die der Natur endet? Bei den Metamorphosen der Larve in Nymphe und fertiges Insekt, Metamorphosen, die oft zweckmäßige Maßnahmen und eine Art Initiative der Larve erfordern, ist zwischen dem Instinkt des Tieres und der organisierenden Energie der lebenden Materie überhaupt keine scharfe Grenzlinie zu ziehen. Man kann ebenso gut sagen, dass der Instinkt die Instrumente organisiert, deren er sich bedienen will, wie dass sich die Organisation bis in den Instinkt hinein fortsetzt, der das Organ benutzen soll. Die wunderbarsten Instinkte des Insekts sind nur die Entwicklung seiner besonderen Struktur zu Bewegungen; und dies in solchem Grade, dass dort, wo das soziale Leben die Arbeit auf die Individuen verteilt und ihnen dadurch verschiedene Instinkte auferlegt, auch eine entsprechende Verschiedenheit der Struktur zu beobachten ist: wie ja der Polymorphismus der Ameisen und Bienen, der Wespen und verschiedener Pseudoneuroptera bekannt ist.« 230 Arendt[1981] Vgl. Kapitel 3. 230 Maintenant, un animal inintelligent possède-t-il aussi des outils ou des machines ? Oui, certes, mais ici l’instrument fait partie du corps qui l’utilise. Et, correspondant à cet instrument, il y a un instinct qui sait s’en servir. […] On a bien souvent fait remarquer que la plupart des instincts sont le prolongement, ou mieux l’achèvement, du travail d’organisation lui-même. Où commence l’activité de l’instinc ? où finit celle de la nature ? On ne saurait le dire. Dans les métamorphoses de la larve en 228 229

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Eine Analyse dieses Textes zeigt, dass Bergson hier mit vier Elementen operiert: • Wir waren – wie Bergson – von der Frage ausgegangen, ob auch das Tier über Werkzeuge verfügt. Bergson bejaht diese Frage, indem er auf die Organe hinweist, die dem Tier als Teile seines Körpers zur Verfügung stehen. Im Grunde ist auch gar keine andere Antwort möglich, denn Tier und Mensch gleichen sich ja darin, dass sie sich nicht – wie die Pflanze – ins Gegebene schicken, sondern die Welt und ihre eigene Position in der Welt nach ihren Bedürfnissen einzurichten versuchen. Dazu aber sind Hilfsmittel – Organe oder Werkzeuge – erforderlich. Allerdings tritt hier – des gemeinsamen Ursprungswortes ungeachtet – auch ein gravierender Unterschied hervor: Während der Mensch seine Werkzeuge erst entwerfen und herstellen muss, verfügt das Tier immer schon über seine Körperorgane. Aber es gilt auch: Während das Tier keinen Einfluss auf Zahl, Art und Form seiner Organe hat, kann der Mensch prinzipiell beliebige Werkzeuge herstellen. • Dem herstellenden Vermögen des Menschen entspricht demnach beim Tier eine organisierende Kraft der Natur. Sie hat als Dynamik der Evolution jene allgemeinen Formen geprägt, auf die wir uns beziehen, wenn wir von Gattungen und Arten in der Tierwelt sprechen und wenn wir ein einzelnes Lebewesen einer Art zuordnen (Phylogenese). Und sie sorgt als Dynamik der Individualentwicklung (Ontogenese) dafür, dass jedes einzelne Lebewesen mit den seiner Art entsprechenden Organen und Instinkten ausgestattet wird. Freilich: Während das menschliche Herstellen von Werkzeugen bewusste Überlegung und bewusstes Handeln des Individuums erfordert, verrichtet die organisierende Kraft der Natur ihr Werk hinter dem Rücken des Indivinymphe et en insecte parfait, métamorphoses qui exigent souvent, de la part de la larve, des démarches appropriées et une espèce d’initiative, il n’y a pas de ligne de démarcation tranchée entre l’instinct de l’animal et le travail organisateur de la matière vivante. On pourra dire, à volonté, que l’instinct organise les instruments dont il va se servir, ou que l’organisation se prolonge dans l’instinct qui doit utiliser l’organe. Les plus merveilleux instincts de l’Insecte ne font que développer en mouvements sa structure spéciale, à tel point que, là où la vie sociale divise le travail entre les individus et leur impose ainsi des instincts différents, on observe une différence correspondante de structure : on connaît le polymorphisme des Fourmis, des Abeilles, des Guêpes et de certains Pseudonévroptères. – EC 613 | 140 | 144

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duums. Das organisierende Geschehen vollzieht sich im und am einzelnen Lebewesen, aber es tritt nicht in sein Bewusstsein und es kann nicht von ihm gesteuert werden. • Die Instinkte, über die ein Tier verfügt, stellen die Summe seines Wissens über den richtigen, d. h. den ihm nützlichsten Gebrauch seiner Organe dar. Näherhin ist dieses Wissen im Gegensatz zur Intelligenz als angeborenes inhaltliches Wissen zu charakterisieren. Während die menschliche Intelligenz anfänglich nur über bestimmte allgemeine Denkstrukturen verfügt, sämtliche Denkinhalte aber erst erwerben muss, ist das den Tieren in Gestalt der Instinkte angeborene Wissen ein Objektwissen, das sich auf die Körperorgane und deren Gebrauch bezieht. 231 Und natürlich: Während das Wissen der Intelligenz ein vorgestelltes Wissen ist, spielt die instinktgeleitete Handlung ihr Wissen. • Als viertes Element ist schließlich die Welt – in der Terminologie von Uexkülls: die Umwelt – des Tieres zu nennen. Man kann nicht davon sprechen, dass der Instinkt das Tier lehre, einen richtigen, angemessenen oder erfolgreichen Gebrauch von seinen Organen zu machen, wenn man nicht berücksichtigt, dass dieser Gebrauch das Verhältnis des tierischen Individuums zu seiner Umwelt betrifft, dass er die Situation des Individuums im Rahmen seiner Umwelt beeinflussen soll. Ich habe bei einzelnen Punkten – etwa bei der organisierenden Kraft der Natur – bereits Bezüge zur Frage des Verhältnisses von Unbewusstem und Bewusstsein angedeutet. Entscheidend für die Gesamtbewertung des Instinkts in dieser Hinsicht ist aber der Umstand, dass das Verhältnis des Tieres zu, das Verhalten in seiner Wirklichkeit durch ein Gleichgewicht zwischen allen vier Elementen gekennzeichnet ist. In der Terminologie, die wir uns hier angewöhnt haben, heißt das: Das Weltverhältnis des Tieres ist durch Übereinstimmung geprägt: Das Inhaltswissen der Instinkte harmoniert mit Form und Funktionalität der Körperorgane. Instinkte und Organe harmonieren mit der organisierenden Kraft der Natur, die ja beide hervorgebracht hat. Und schließlich sind die von den Instinkten gesteuerten und von den Organen ausgeführten Handlungen so nahtlos in die Umwelt des Tieres eingepasst, dass man sich bis heute immer wieder fragt, wie Tiere derartige Leistungen vollbringen können, ohne über ein Wissen im Sinne der Wissenschaft zu verfügen. 231

EC 619–621 | 147–150 | 151–153

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Aus diesem Gleichgewicht, dieser Übereinstimmung, dieser Angepasstheit ergeben sich eine Stärke und eine Schwäche des Instinkts. Seine Stärke werden wir erst untersuchen, wenn wir mit Bergson den Schwachpunkt der Intelligenz bestimmt und die Frage gestellt haben, ob die Intelligenz etwas vom Instinkt lernen oder mit ihm kooperieren kann. Seine Schwäche aber ist bereits hier von Interesse. Sie ist eigentlich in dem Moment schon geklärt, in dem wir das Wort »Übereinstimmung« gebrauchen, denn dieses Wort besagt ja, dass es keine Nicht-Übereinstimmung, mithin auch kein Bewusstsein gibt. Einerseits ist also das Verhältnis des Tieres zu seiner Umwelt ein ganz anderes als dasjenige der Pflanze, insofern es ein Verhalten, d. h. Initiative, Bewegung, Aktivität zeigt. Andererseits aber ist auch dieses Weltverhältnis ein weitestgehend unbewusstes, weil die dem Tier angeborenen Verhaltensweisen so präzise in den Gang der Dinge eingepasst sind, dass kaum je eine Differenz, eine Reibung, ein Fehlschlag vorkommt, wodurch allein bewusste Überlegung in Gang gebracht werden könnte. Kurz: Auch das instinktgeleitete Weltverhältnis der Tiere ist durch Unbewusstheit geprägt, wenngleich dieses Unbewusste anders geartet ist als dasjenige der Pflanzen. Dieses Unbewusste entspringt nicht aus der Trägheit, sondern aus der Angepasstheit. »Danach ist ohne weiteres zu mutmaßen, dass die Intelligenz mehr auf Bewusstsein, der Instinkt mehr auf Unbewusstheit eingestellt sein wird. Denn wo das gehandhabte Werkzeug von der Natur organisiert, sein Angriffspunkt von der Natur geboten, sein angestrebter Erfolg von der Natur gewollt ist, da bleibt für Wahl wenig Raum […].« 232

Im ersten Kapitel von Les deux sources de la morale et de la religion – in einer Passage, von der man nicht recht weiß, ob man sie als meisterhafte Philosophie oder als meisterhafte Satire charakterisieren soll – setzt Bergson sich kritisch mit Kants Idee eines kategorischen Imperativs auseinander. Wenn es eine solche zwingende Verpflichtung überhaupt gibt, so meint er, dann jedenfalls in einem ganz anderen als dem von Kant vermuteten Bereich und in seinem »sehr wenig kantischen Sinne«: »Denken wir uns also eine Ameise, die, von einer plötzlichen Reflexion durchblitzt, zu der Ansicht käme, es wäre Unsinn, unaufhörlich für die 232 On peut dès lors présumer que l’intelligence sera plutôt orientée vers la conscience, l’instinct vers l’inconscience. Car, là où l’instrument à manier est organisé par la nature, le point d’application fourni par la nature, le résultat à obtenir voulu par la nature, une faible part est laissée au choix […]. – EC 618 | 146 | 149 f.

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anderen zu arbeiten. Ihre Trägheitsgelüste würden freilich nur ein paar Augenblicke dauern, so lange eben der Blitz der Intelligenz leuchten würde. Im letzten dieser Augenblicke jedoch, wenn dann der Instinkt, der nun wieder die Oberhand bekommt, sie mit Gewalt zu ihrer Arbeit zurückführt, würde die Intelligenz, die dicht davor steht, vom Instinkt aufgesogen zu werden, als eine Art Abschiedsgruß verkünden: ›Es muss sein, weil es sein muss.‹« 233

Im Hinblick auf das Verhältnis von Instinkt und Intelligenz ist also festzustellen: Der Instinkt ist eine von zwei verschiedenartigen Antworten der Natur auf das Problem des Lebewesens im eigentlichen Sinne 234, d. h. auf die Frage, wie ein durch Eigeninitiative charakterisiertes Wesen innerhalb einer vorgegebenen Welt zu existieren, zu einem modus vivendi zu kommen vermag. Diese erste Antwort geht vom Vorrang des umgreifenden Zusammenhangs aus. Sie betrachtet es als gegeben, dass das zu entwerfende Individuum in einer ganz bestimmten materiellen Welt sowie in einer Gesellschaft gleichartiger Wesen leben muss, und sie folgert daraus, dass das Individuum körperlich und geistig so entworfen werden muss, dass es der ihm eigentümlichen Stelle in der Welt optimal angepasst ist. Wie weit das geht, zeigt Bergsons Hinweis auf den Polymorphismus der Insekten, d. h. auf den Umstand, dass Angehörige der gleichen Art körperlich verschieden gestaltet sein können, wenn sie verschiedene Aufgaben zu erfüllen haben. Gewiss, diese Vorgehensweise setzt auf eine unpersönliche Gestaltungskraft der Natur, und sie führt dazu, dass Bewusstsein bei den einzelnen Individuen nicht aufkommen kann. Blickt man aber auf die hochentwickelten Staaten verschiedener Insekten, so wird man gleichwohl sagen müssen, dass sich diese Strategie als erfolgreich erwiesen hat. Und so würde man sich darauf beschränken müssen, diese Lösung als eine gelungene zu bezeichnen, hielte die Natur nicht noch eine zweite Antwort bereit.

233 Pensons donc à une fourmi que traverserait une lueur de réflexion et qui jugerait alors qu’elle a bien tort de travailler sans relâche pour les autres. Ses velléités de paresse ne dureraient d’ailleurs que quelques instants, le temps que brillerait l’éclair d’intelligence. Au dernier de ces instants, alors que l’instinct, reprenant le dessus, la ramènerait de vive force à sa tâche, l’intelligence que va résorber l’instinct dirait en guise d’adieu : il faut parce qu’il faut. – DS 995 | 19 f. | 20 234 Streng genommen, repräsentiert die Pflanze eine dritte Option: Das Lebewesen kann auf Eigeninitiative verzichten. Nur ist das keine wirkliche Lösung, sondern das Vermeiden des Problems.

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2.3.1.4 Der Mensch: Intelligenz als Gestalt des Bewusstseins Diese zweite Antwort haben wir im Rahmen unserer Betrachtung des Instinkts schon grob umrissen. Dabei konnte man den Eindruck gewinnen, dass die Antwort, die in Gestalt der menschlichen Intelligenz vorliegt, in beinahe jeder Hinsicht das Gegenteil derjenigen Antwort ist, die der Instinkt der Tiere anbietet. Eine derartige Bewertung lässt sich auch durchaus vertreten, sofern Einigkeit darüber besteht, dass sie nicht den Menschen als ganzen betrifft, sondern nur die spezifisch menschliche Form des Bewusstseins. Selbstverständlich verfügt auch der Mensch – als ein aus Körper und Geist bestehendes Lebewesen – über Organe, die auf eine bestimmte Leistung spezialisiert sind: Man kann mit den Händen nicht sehen und mit den Ohren nicht gehen. Selbstverständlich werden auch menschliche Individuen durch die organisierende Kraft der Natur mit den ihrer Art entsprechenden Organen und geistigen Funktionen ausgestattet. Selbstverständlich wird auch das Weltverhältnis des Menschen noch durch Instinkte geprägt. Aber auf dieses Substrat, das der Mensch mit dem Tier und teilweise sogar mit der Pflanze teilt, wird nun eine Form des Bewusstseins und, damit verbunden, des Weltverhältnisses aufgepfropft 235, von der man nicht nur sagen kann, dass sie in der Tat in vielerlei Hinsicht das genaue Gegenteil des Instinkts darstellt, sondern dass sie darüber hinaus auch in einer Art Rückkoppelung modifizierend auf das Substrat einwirkt. Denn wenn auch die Körperorgane des Menschen an gewisse Aufgabenbereiche gekoppelt bleiben, so erreichen doch zumindest einige von ihnen ein Ausmaß an Unspezialisiertheit und genereller 235 Das Bild der Aufpfropfung (greffe), das durch Derrida populär wurde, ist in der französischen philosophischen Literatur weit verbreitet. Auch Bergson benutzt es gelegentlich, um eine Überlagerung, bei der sich die Komponenten zu einem neuartigen Ganzen verbinden, sprachlich von anderen Formen der Überlagerung (superposition) zu unterscheiden. Vgl. etwa: Supposons […] qu’il y ait au fond de la vie un effort pour greffer, sur la nécessité des forces physiques, la plus grande somme possible d’indétermination. – EC 592 | 115 f. | 120 – Mais nous espérons précisément montrer que les accidents individuels sont greffés sur cette perception impersonnelle […]. – MM 184 | 30 | 18 – Mais sur cette attitude générale viendront bien vite se greffer des mouvements plus subtils […]. – MM 246 | 110 | 93 – Man merkt, dass das Wort einen engen Bezug zu der Thematik aufweist, die uns hier beschäftigt: Bergson sieht das Leben als eine »Veredelung« der unlebendigen Materie und die Individualität als »Veredelung« eines naturhaft-unpersönlichen Weltverhältnisses. Leben und Individualität können aber nicht für sich allein bestehen, sondern nur als »Aufpfropfung« auf ihre jeweilige naturhafte Basis. So gesehen, vollzieht sich die Evolution des Lebendigen als eine Serie von »Aufpfropfungen«.

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Einsetzbarkeit, das deshalb neuartig ist, weil es nicht – wie bei den frühen Lebewesen – auf Undifferenziertheit beruht, sondern gerade mit höchster Differenziertheit einhergeht. Man hat in diesem Zusammenhang immer wieder auf die menschliche Hand hingewiesen, die nicht nur vielfältigste Bewegungen ausführen, sondern auch künstliche Werkzeuge benutzen und sogar herstellen kann. 236 Und wenn auch der Mensch weiterhin von Instinkten gesteuert wird, so sind doch zumindest einige besonders wichtige nur – wie Bergson sich ausdrückt – »virtuelle Instinkte«, d. h. solche, die zwar den allgemeinen Antrieb, aber nicht die konkrete Ausgestaltung liefern. So gibt es beim Menschen einen Sprachinstinkt oder einen Gesellschaftsinstinkt, aber diese Instinkte fordern nur zum Sprechen überhaupt, zum Zusammenleben in einer Gesellschaft überhaupt auf, ohne – wie die verschiedenartigen existierenden Sprachen und Gesellschaften zeigen – die konkrete Ausgestaltung der Sprache, die konkrete Ausgestaltung der menschlichen Gesellschaft oder gar die Position des einzelnen Individuums in dieser Gesellschaft zu determinieren. 237 Es sind dies instinktartige Antriebe unter den Bedingungen der Herrschaft der Intelligenz bzw. Reste des Instinktiven, die darauf hinweisen, dass Instinkt und Intelligenz durch Ausdifferenzierung aus einem gemeinsamen Ursprung hervorgegangen sind. 238 Gleichwohl: Das Neue, den Menschen Kennzeichnende und immer stärker Dominierende ist die Intelligenz. Beruht der Instinkt auf der vorgängigen, durch die organisierende Kraft der Natur garantierten Angepasstheit des Lebewesens an seine Umwelt, so müssen Unangepasstheit und Ungesichertheit geradezu als das Wesen der Intelligenz bezeichnet werden. »Danach ist ohne weiteres zu mutmaßen, dass die Intelligenz mehr auf Bewusstsein, der Instinkt mehr auf Unbewusstheit eingestellt sein wird. Denn wo das gehandhabte Werkzeug von der Natur organisiert, sein Angriffspunkt von der Natur geboten, sein angestrebter Erfolg von der Natur So auch Bergson: L’indépendance devient complète chez l’homme, dont la main peut exécuter n’importe quel travail. – EC 608 | 134 | 138 237 Et néanmoins on se tromperait grandement si l’on voulait rapporter à l’instinct une obligation particulière, quelle qu’elle fût. Ce qu’il faudra toujours se dire, c’est que, aucune obligation n’étant de nature instinctive, le tout de l’obligation eût été de l’instinct si les sociétés humaines n’étaient en quelque sorte lestées de variabilité et d’intelligence. C’est un instinct virtuel, comme celui qui est derrière l’habitude de parler. – DS 998 | 22 f. | 22 f. 238 DS – | 381, Anm. 53 | –– 236

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gewollt ist, da bleibt für Wahl wenig Raum […] Umgekehrt ist das Defizit der Normalzustand der Intelligenz. Widerstände erfahren ist ihr eigenstes Wesen. Denn da ihre Urfunktion darin besteht, anorganische Werkzeuge zu verfertigen, muss sie sich Ort und Zeit und Form und Stoff zu dieser Arbeit unter tausend Schwierigkeiten suchen, und kann sich niemals endgültig zufrieden geben, da jede neue Befriedigung neue Bedürfnisse schafft.« 239

Bergsons Charakterisierung der Intelligenz basiert auf der These der Ortlosigkeit, die von Pico della Mirandola bis zu Gehlen und Plessner zum Selbstverständnis des neuzeitlichen und modernen Menschen gehört: Der Mensch ist nicht durch eine feste Position innerhalb der Weltordnung definiert, sondern dadurch, dass er seine Position selbst wählen bzw. schaffen muss. Insofern steht er in einem gewissen Sinne außerhalb der Ordnung. Halten wir die für unser Thema wichtigen Aspekte fest: • Die Intelligenz ist die zweite Antwort, die der Natur auf die Frage, wie ein durch Eigeninitiative charakterisiertes Wesen innerhalb einer vorgegebenen Welt zu existieren vermag, eingefallen ist. Diese Antwort geht vom Vorrang des Individuums aus. Der Leitgedanke – wenn man so formulieren darf – ist hier nicht der eines durch eine überlegene Kraft entworfenen, sondern der eines sich selbst entwerfenden, mithin nicht der eines fremdbestimmten, sondern eines sich selbst bestimmenden Individuums. Die hinter dem Rücken der Individuen mütterlich sorgende Natur stellt nicht mehr jedes einzelne Hilfsmittel zur Verfügung, das das Lebewesen braucht, um sich in seine Umwelt einzufügen, sondern stattet den Menschen gleichsam nur noch mit einem minimalen Werkzeugkasten aus, der es ihm ermöglicht, das Notwendige zu erkennen und zu schaffen. • Damit steht erstmals in der Evolution des Lebendigen nicht mehr die Art, sondern das Individuum im Mittelpunkt. Jedes einzelne Individuum entscheidet prinzipiell selbständig und un239 On peut dès lors présumer que l’intelligence sera plutôt orientée vers la conscience, l’instinct vers l’inconscience. Car, là où l’instrument à manier est organisé par la nature, le point d’application fourni par la nature, le résultat à obtenir voulu par la nature, une faible part est laissée au choix […] Au contraire, le déficit est l’état normal de l’intelligence. Subir des contrariétés est son essence même. Ayant pour fonction primitive de fabriquer des instruments inorganisés, elle doit, à travers mille difficultés, choisir pour ce travail le lieu et le moment, la forme et la matière. Et elle ne peut se satisfaire entièrement, parce que toute satisfaction nouvelle crée de nouveaux besoins. – EC 618 | 146 | 149 f.

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abhängig von allen anderen darüber, wie es sein Verhältnis zur Umwelt organisieren will. Die Entscheidung, die ein Individuum trifft, betrifft nicht mehr die ganze Art, sondern nur es selbst. Mit dieser Feststellung soll die Bedeutung überindividueller Konventionen und Traditionen durchaus nicht geleugnet 240, es soll nur festgestellt werden: Dass es Sprachen, Kulturen, Lebensformen im Plural gibt, ist nur deshalb möglich, weil die Natur beim Menschen den Ansatzpunkt der Gestaltungskraft von der Art auf das Individuum verschoben hat. Menschen können sich auf bestimmte Denk-, Verhaltens- oder Sprechformen verständigen, d. h. sie gemeinsam benutzen, aber diese Option kommt überhaupt nur deshalb in den Blick und wird nur deshalb praktisch relevant, weil es die Möglichkeit abweichenden Verhaltens und individueller Lebensgestaltung gibt. Die Intelligenz als solche und der durch sie geprägte Mensch sind also zu charakterisieren durch eine wesenhafte Nicht-Übereinstimmung. Dabei hat das Wort Nicht-Übereinstimmung zunächst einmal nicht den Sinn von Gegensatz oder Widerspruch, so als würde die Intelligenz nicht zur Welt passen oder als wäre in der Welt für den Menschen kein Platz. Nicht-Übereinstimmung heißt hier: Nicht-Festgelegtheit, Unbestimmtheit, Offenheit. Der Mensch passt anfänglich nicht zur Welt, weil er ihr nicht an-, nicht in sie eingepasst isst. Aber er wird sich um diese Anpassung bemühen, und als Folge davon kann er dann in der Tat Widerspruch anmelden – so etwa bei der kritischen Prüfung von Denk- oder Lebensformen, die ihm als Optionen angeboten werden. Nicht-Übereinstimmung aber – das haben wir schon mehrfach betont – bedeutet: Bewusstsein. Dass der mit Intelligenz begabte Mensch wesenhaft durch Nicht-Übereinstimmung charakterisiert ist, heißt deshalb auch, dass die Intelligenz die erste Gestalt des Bewusstseins darstellt, bei der das Wort »Bewusstsein« so verstanden werden darf, wie wir es gemeinhin verstehen: Die Intelligenz spielt ihre Ideen nicht nur, sie stellt sie vor, d. h. sie denkt sie im eigentlichen Sinne.

240 Nous admettrons volontiers, quant à nous, l’existence de représentations collectives, déposées dans les institutions, le langage et les mœurs. Leur ensemble constitue l’intelligence sociale, complémentaire des intelligences individuelles. – DS 1063 | 107 f. | 82

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Hat die Entwicklung damit nicht doch in gewisser Weise einen Höheoder gar Endpunkt erreicht? Ist das Bewusstsein nicht doch zu sich selbst gekommen? Die Antwort auf diese Frage fällt ambivalent aus. Einerseits lautet sie: Keineswegs. Die Intelligenz ist eine partikulare Gestalt des Bewusstseins. Vergleicht man ihre Leistung mit derjenigen des Instinkts so zeigen sich Vorzüge, ebenso aber auch Schwächen. Ebenso wie das schlummernde Bewusstsein der Pflanze und der Instinkt des Tieres ist auch das menschliche, in Gestalt der Intelligenz realisierte Bewusstsein kein reines, sondern ein mit Unbewusstheit gemischtes. Insofern muss man darauf bestehen, dass die bei Pflanze, Tier und Mensch sich zeigenden Gestalten des Bewusstseins nicht als lineare Entwicklungsreihe, sondern als prinzipiell gleichwertige Alternativen zu deuten sind. Andererseits aber weist die Intelligenz doch eine Besonderheit auf, durch die sich die Behauptung eines gewissen Vorzugs rechtfertigen lässt. Und bemerkenswerterweise erweist sich genau das, was man als ihre größte Schwäche ansehen könnte, als ihre größte Stärke und als Grund ihrer Einzigartigkeit: ihre Nicht-Angepasstheit. Dass der mit Intelligenz begabte und von der Intelligenz geleitete Mensch in Nicht-Übereinstimmung mit der Welt ebenso wie mit sich selbst geraten kann, ja in solcher Nicht-Übereinstimmung immer schon ist, dass in seiner Erfahrung plötzlich Risse, Sprünge, Lücken sich auftun können, das macht nicht sein Elend, sondern seine Größe aus. Sehen wir uns also an, wie die Risse in der individuellen menschlichen Erfahrung entstehen.

2.3.2 Die Geburt des Verstehens aus dem Zwiespalt 2.3.2.1 Exkurs: Statisches vs. dynamisches Unbewusstes in der Psychologie der Bergson-Zeit Wir hatten den Begriff des Unbewussten im ersten Kapitel unvorbereitet eingeführt und ihn zu Beginn dieses zweiten Kapitels wieder aufgenommen in der Absicht, Bergsons Lehre »vom Unbewussten« sowie die Bedeutung »des Unbewussten« für eine hermeneutische Philosophie zu rekonstruieren. In der Tat kann man sich heute so etwas vornehmen, und das ist, wenn ich mich so provozierend ausdrücken darf, wohl die schädlichste Auswirkung, die Freuds großer Erfolg, das Eindringen seiner Hauptgedanken ins allgemeine Bewusstsein, gehabt hat: Man kann heute vom Unbewussten sprechen 267 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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wie vom Tisch oder vom Stuhl. Liest man, von dieser Basis ausgehend, die Texte der »Gründerzeit« – die Texte Eduard von Hartmanns, Sigmund Freuds, Pierre Janets, Henri Bergsons, George Dwelshauvers’ –, so stellt man mit Erstaunen fest, dass die klassischen Autoren ein ausgeprägtes Bewusstsein vom prekären Charakter des von ihnen verwendeten Begriffs hatten. Damit meine ich weniger ein Bewusstsein des hypothetischen Charakters (das Unbewusste lässt sich ja nicht als Objekt beobachten, sondern nur erschließen) als vielmehr ein Bewusstsein von der Vielzahl und Verschiedenartigkeit der Phänomene, auf die der Begriff des Unbewussten angewandt wird. Gewiss, all diese Autoren versuchen, den Allgemeinbegriff zu verteidigen und zu klären. Zugleich aber machen sie deutlich, wie riskant der in ihm sich aussprechende Versuch, Einheit zu stiften, ist, weil die Vielfalt der empirischen Phänomene die Einheit zu sprengen droht. Dieses Bewusstsein ist umso ausgeprägter, je größeren Wert der Autor auf empirische Forschung legt. Die empirischen Tatsachen, schreibt etwa Dwelshauvers, sind »außerordentlich zahlreich und – sagen wir es gleich – untereinander sehr verschieden«. 241 Nun geht es in der vorliegenden Untersuchung weder um eine empirische Erforschung noch um eine Bestandsaufnahme der Phänomene, in denen sich das Unbewusste zeigt. Das Unbewusste interessiert hier nicht um seiner selbst willen, sondern als Auslöser und Gegenstand hermeneutischer Bemühungen. Gleichwohl müssen wir uns die Frage stellen, ob es im Hinblick auf diese Aufgabenstellung genügt, schlicht von »dem Unbewussten« zu sprechen, oder ob wir den Differenzierungsversuchen der klassischen Autoren, wenn schon nicht bis in die feinsten Verästelungen der Empirie, so doch jedenfalls ein Stück weit folgen sollten. Insbesondere ist zu klären, welche Strategie Bergsons Texte nahelegen. Wir haben bereits festgestellt, dass Bergson zwischen dem negativ als Fehlen von Bewusstsein zu charakterisierenden Unbewussten der materiellen Dinge und dem durch positive, beobachtbare Phänomene (Leistungen) auf sich aufmerksam machenden psychischen Unbewussten der Lebewesen unterscheidet. 242 Aber ist damit alles gesagt? Reicht es, bei dieser Einteilung stehenzubleiben, oder empfiehlt es sich, sie noch weiterzutreiben?

241 Or, ces faits sont excessivement nombreux et, disons-le, très différents les uns des autres. – Dwelshauvers[1916] 14 242 Vgl. Abschnitt 2.1.3, S. 154.

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Zunächst lässt sich feststellen, dass es eine ganze Reihe von Einteilungsvorschlägen gibt, die man im Rahmen einer Bergson-Interpretation heranziehen könnte. So hat etwa Günter Gödde ein dreistufiges Modell vorgeschlagen, das es ermöglichen soll, die uns heute bekannten Theorien des Unbewussten im Hinblick auf ihre historische Entwicklung und auf inhaltliche Unterschiede zu erfassen. 243 Auf der ersten Stufe siedelt er Theorien eines kognitiven Unbewussten an. Als Beispiel dafür gilt Leibniz mit seiner Lehre von den petites perceptions. Weiter gehen dann Theorien eines vitalen Unbewussten. Sie sind eng verbunden mit dem – insbesondere im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert viel diskutierten – Begriff der Lebenskraft. Auf der dritten Stufe schließlich findet Gödde Theorien eines triebhaft-irrationalen Unbewussten, wie es insbesondere im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert konzipiert wurde. Nietzsche und Freud sind die bekanntesten Vertreter eines derartigen Ansatzes. Göddes Drei-Stufen-Modell stellt nicht einfach drei Konzepte nebeneinander, sondern weist auf eine Entwicklungstendenz hin. Die Idee eines kognitiven Unbewussten, die von philosophischen Rationalisten wie Leibniz erstmals ausgearbeitet wurde, beruht auf der Vorstellung, dass Vernunft (Bewusstsein, Rationalität) die einzig legitime Instanz menschlichen Denkens und Entscheidens ist. Wird Unbewusstes von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, so kann es nur negativ charakterisiert werden: Nicht-Bewusstsein bedeutet Nicht-Wissen. Das Unbewusste muss sich zwar auch nach diesen Theorien irgendwie bemerkbar machen, weil man sonst keinen Anlass hätte, überhaupt von ihm zu sprechen. Gleichwohl kommt diesem Aspekt nur geringe Bedeutung zu. Das ändert sich mit dem vitalen Unbewussten, insofern es positiv charakterisiert werden kann durch die Leistungen der – vornehmlich körpergebundenen – Organisationsprozesse, die es steuert. Die so heftig umstrittene »Lebenskraft« wird eingeführt als eine Instanz, die organisierende Leistungen erbringen kann, ohne der Vernunft zu bedürfen. Sie wird dennoch als mit der Vernunft kompatibel gedacht, gleichsam als deren Assistentin, die dafür sorgt, dass sich die Vernunft nicht um alles selbst kümmern muss. Die weitere Steigerung der Eigenständigkeit auf der dritten Stufe führt dann allerdings, wie die von Gödde vorgeschlagene Bezeichnung triebhaft-irrationales Unbewusstes andeutet, zu einem

243

Gödde[2009] 26 ff.

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Konflikt mit der Vernunft. Triebgesteuertes Handeln schert sich nicht um vernünftige Argumente. Es folgt seinen eigenen Impulsen. Obwohl Gödde nicht die Vielfalt der empirischen Phänomene, sondern die Vielzahl der sie interpretierenden Theorien ordnen will, lässt sich sein Schema mit Gewinn auf Bergsons Texte anwenden. Dabei ist bemerkenswert, dass eine derartige Betrachtung nicht etwa zur Einordnung von Bergsons Denken in eine der drei Stufen führt. Es zeigt sich vielmehr, dass in seinen Überlegungen zum Unbewussten alle drei Aspekte berücksichtigt werden: Unschwer findet man Beispiele für ein kognitives Unbewusstes – so etwa die schon in der Wahrnehmung enthaltenen Interpretationsleistungen oder die unbewusste Metaphysik, auf der sämtliche Leistungen der Intelligenz basieren. 244 Dass Bergson auch ein vitales Unbewusstes kennt, wird in jedem Überblick über die Lebenskraft-Diskussion bzw. den Vitalismus deutlich, denn der 1907 von ihm geprägte Begriff des élan vital taucht darin unweigerlich als prominentes Beispiel auf. Und Bergsons Schilderungen triebhaft-irrationaler Ausbrüche, die zugleich Einbrüche ins geregelte Leben und Denken darstellen, sind ebenfalls nicht unbemerkt geblieben. 245 Die Interpretation von Bergsons Überlegungen zum Unbewussten anhand des von Gödde vorgeschlagenen Rasters macht also deutlich, dass Bergson nicht nur das Nicht-Bewusstsein der materiellen Dinge vom psychischen Unbewussten absondert, sondern überdies innerhalb dieses letzteren noch einmal drei verschiedene Ebenen unterscheidet. Sie macht die Vielfalt der von Bergson berücksichtigten Phänomene deutlich und hilft, die Verwirrung, die aus dem Durcheinanderwerfen der zu verschiedenen Schichten gehörenden Phänomene resultieren würde, zu vermeiden. Nur: Eine solche Interpretation hilft uns nicht, die Klärung des Verhältnisses von Unbewusstem und Hermeneutik, auf die es doch hier abgesehen ist, voranzutreiben. Ich schlage deshalb vor, einem anderen, zu einer anderen Einteilung des Unbewussten führenden Gedankengang zu folgen, der sich – wenn auch nur langsam 246 – als fruchtbar für die Rekonstruktion von Bergsons hermeneutischer Philosophie erweisen wird. In der Dwelshauvers-Diskussion sagt Bergson:

244 245 246

Vgl. Kapitel 3, Abschnitte 3.3.1.1, S. 341, und 3.2.4, S. 329. Vgl. Abschnitt 2.3.2.3, S. 281. Vollständig erkennbar wird der Zusammenhang erst in Abschnitt 4.3, S. 543.

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»Man gelangt zum Unbewussten, so wie ich es mir vorstelle, nicht durch eine fortschreitende Verringerung des Bewusstseins oder der Aufmerksamkeit; dieses Unbewusste besteht in einer gewissen Lückenhaftigkeit des gerade bewussten psychologischen Zustands, in einer Lückenhaftigkeit aber, die einen positiven Charakter aufweist und die etwas ganz anderes ist als einfach nur Leere […].« 247

Bergson denkt also die Entstehung des Unbewussten nicht als zunehmendes Verblassen eines Bildes, das im Zustand vollständigen Bewusstseins deutlich und in leuchtender Farbigkeit vor Augen steht. Er fasst das Unbewusste vielmehr als ein Gemisch, das einem Bild gliche, auf dem einige Bereiche mit farbigen Figuren bedeckt – also bewusst – sind, andere Bereiche dagegen nur als weiße Flecken (»Lücken«) in Erscheinung treten. Entscheidend ist aber nun, dass der Betrachter nicht etwa meint, das Bild müsse so aussehen. Bewusst sind ihm nicht nur die erkennbar mit farbigen Figuren gefüllten Bereiche, bewusst ist ihm vielmehr auch, dass da etwas fehlt. Er nimmt die weißen Flecken nicht als »Leere«, sondern als »Lücke« wahr, und diese Wahrnehmung von Lücken weist einen »positiven«, d. h. einen Aufforderungscharakter auf: Der Betrachter fühlt sich aufgefordert, das als fehlend Empfundene – in welcher Weise auch immer – zu ergänzen. Wie kommt es zu den Lücken, die das Bild aufweist? Pauschal gesagt, sind zwei verschiedenartige Gründe denkbar: Das Bild kann entweder so alt und so schlecht gepflegt sein, dass Teile der Farbschicht abgeblättert sind. Das Bild kann aber auch schlicht noch nicht fertig sein. Eine hermeneutische Bemühung um das Bild hätte demnach im ersten Fall das Verlorene zu rekonstruieren, im zweiten Fall dagegen eine begründete Vermutung über das Aussehen des fertigen Bildes zu entwickeln. Orientiert man sich an diesem Vergleich, so wird vielleicht erkennbar, warum ich hier auf die in der Psychologie der Bergson-Zeit weit verbreitete Unterscheidung zwischen einem »statischen Unbewussten« (inconscient statique) und einem »dynamischen Unbewussten« (inconscient dynamique) zurückgreifen möchte und warum ich mir von ihr einen Gewinn für die Klärung des Zusammenhanges von Unbewusstem und Hermeneutik bei Berg247 Mais ce n’est pas par une diminution progressive de la conscience, ni de l’attention, que s’obtiendrait l’inconscient tel que je me le représente ; cet inconscient consiste dans une certaine lacune de l’état psychologique actuellement conscient, mais dans une lacune qui a un caractère positif et qui est toute autre chose qu’un simple vide […]. – Mél. 809

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son verspreche: Beim statischen Unbewussten ist das »Nicht« (die »Lücke«) ein »Nicht mehr«, beim dynamischen Unbewussten ein »Noch nicht«. Dass Bergson diese Unterscheidung gekannt und akzeptiert hat, haben wir bereits festgestellt. 248 Théodule Ribot definiert das statische Unbewusste folgendermaßen: »Als statisches Unbewusstes bezeichne ich dasjenige, das die Bestandteile unserer Erfahrung aufbewahrt, oder doch zumindest diejenigen, die sich abgelagert haben, denn viele hinterlassen entweder gar keine oder nur ungeformte Spuren ihrer Anwesenheit.« 249

Das statische Unbewusste umfasst also abgelagerte, d. h. im Gedächtnis aufbewahrte Bestandteile unserer Erfahrung. Von besonderem Interesse sind hier Handlungsmuster, die in früherer Zeit erworben und dann durch vielfache Wiederholung zu Gewohnheiten oder Automatismen wurden. 250 Man darf das Adjektiv »statisch« in diesem Ausdruck demnach nicht so verstehen, als bezeichne es etwas Untätiges, sich überhaupt nicht bemerkbar Machendes. Ganz im Gegenteil: Gewohnte Verhaltensmuster werden automatisch – d. h. ohne Kontrolle des Bewusstseins – aktiviert und ausgeführt. Solche Gewohnheiten können sich als störend, in Extremfällen sogar als bedrohlich erweisen. Man denke daran, wie schwer es fallen kann, zur Gewohnheit gewordenes Rauchen zu unterlassen. Man denke daran, dass Freuds Patienten in der Regel durch »zwanghafte« Verhaltensmuster

Vgl. Anm. 56. J’appelle inconscient statique celui qui conserve les éléments de notre expérience, ceux du moins qui se sont fixés, car beaucoup ne laissent aucune trace de leur passage, ou ne sont pas organisés. – Ribot[2005] 55. 250 Der verlorene Sinn als Resultat von Gewöhnungs- und Erstarrungsprozessen stellt für die Tradition, der Bergson angehört, ein bedeutendes Thema dar. Neben Bergsons Matière et mémoire seien hier nur Ravaissons Abhandlung De l’habitude (1838) und Pierre Janets umfangreiche Untersuchung L’automatisme psychologique (1889) als Beispiele genannt. Ein derartiger Stellenwert des Themas muss nicht verwundern in einem Jahrhundert, das sich vor die Aufgabe gestellt sah, das neue Entwicklungsdenken (biologische Evolution, geschichtliche Entwicklung) mit dem überkommenen, auf der Annahme von weitgehend stabilen Dingen und unveränderlichen Gesetzen beruhenden Denken der Natur-, aber auch der Sozialwissenschaften in Einklang zu bringen. Die Idee des Erstarrens von etwas ursprünglich Flüssigem, des fixierenden Formens von etwas anfänglich Ungeformtem musste als ideale Vermittlungsmöglichkeit zwischen den beiden zunächst völlig inkompatiblen Denkweisen erscheinen. 248 249

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veranlasst wurden, sich in psychoanalytische Behandlung zu begeben. Oder man denke daran, dass Bergson der Ansicht war, Automatismen könnten, Parasiten vergleichbar, als anderes Selbst ein eigenes, von unserem wahren Selbst abgespaltenes Leben führen. 251 Der Ausdruck »statisches Unbewusstes« soll vielmehr das charakterisieren, was man in der hermeneutischen Sprechweise freundlicher als »sedimentierten Sinn« bezeichnet. Im Blick ist dabei der Umstand, dass etwas, was einstmals Gegenstand bewusster Bemühung und Gestaltung war, nunmehr eine feste Form gefunden hat, erstarrt und deshalb zum unbewussten Mechanismus abgesunken ist, wo es gleichsam sein eigenes Leben lebt. Im Blick ist die Erinnerung, dass der inzwischen unbewusst ablaufende Automatismus nicht immer unbewusst, sondern früher einmal Bestandteil des Bewusstseins war. Das heißt zugleich, dass sein Sinn, der inzwischen abhanden gekommen ist, früher einmal präsent war. Mit anderen Worten: Jene Lücke, auf die Bergson anspielt, das »Nicht« ist im Falle der Gewohnheit ein »Nicht mehr«. Früher einmal wusste man, warum so gehandelt wird, heute weiß man es nicht mehr. Haben wir es beim statischen Unbewussten mit den Phänomenen des gewohnheitsmäßigen, vorreflexiven Handelns zu tun, auf die wir im bisherigen Verlauf dieses Kapitels bereits mehrfach eingegangen sind 252 und die wir stillschweigend als die einzigen Äußerungen des Unbewussten betrachtet haben, so kommen mit dem dynamischen Unbewussten ganz anders geartete Phänomene in den Blick. Erteilen wir noch einmal Théodule Ribot das Wort: »Als dynamisches Unbewusstes bezeichne ich dasjenige, das arbeitet, das im Dunkeln inkohärente oder aneinander angepasste Kombinationen, absurde oder geniale Einfälle hervorbringt. Diese Form unterscheidet sich von der ersten, von der sie das Material übernimmt, nur durch die Hinzufügung einer schöpferischen Aktivität, deren Ursachen Empfindungen, Bilder und Gefühlszustände sind.« 253

[…] une personne n’est jamais ridicule que […] par quelque chose qui vit sur elle sans s’organiser avec elle, à la manière d’un parasite […]. – R 468 | 130 | 114 252 Vgl. insbesondere Abschnitt 2.1.4, S. 166, Punkt (1). 253 J’appelle inconscient dynamique celui qui travaille, qui élabore dans l’ombre des combinaisons incohérentes ou adaptées, des inventions absurdes ou géniales. Cette forme ne diffère de l’autre à qui elle emprunte des matériaux, que par l’addition d’une activité créatrice dont les causes sont des sensations, des images, des états affectifs. – a. a. O. 251

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Das dynamische Unbewusste ist demnach eine schöpferische Aktivität, aber eben – da unbewusst – eine im Dunkeln arbeitende, nicht durch das Bewusstsein zu kontrollierende und daher – jedenfalls aus der Sicht des Bewusstseins – bald geniale, bald absurde Schöpfungen hervorbringende. Wir müssen nicht lange nach einem Beispiel für diesen Typus suchen. Es lässt sich kaum ein besseres denken als die von Bergson in L’intuition philosophique beschriebene Intuition des Philosophen. Diese »arbeitet« nicht nur, wie von Ribot gefordert, »im Dunkeln«, sie spukt, wie wir gehört haben, unentwegt im Geist des Philosophen herum. Sie ist nicht nur eine »schöpferische Aktivität«, sondern sie ist geradezu der Antrieb zu jeder schöpferischen Anstrengung des Philosophen. Dennoch ist sie unbewusst im Sinne Bergsons, also lückenhaft, denn sie zeigt sich anfangs nur als Kraft, die einen Sinn verspricht, ihn aber nicht deutlich präsentiert. Man kann auch an Ernst Bloch 254 denken: Der »Vorschein« anderer, die Utopie besserer Zustände markiert, insofern nicht nur die Verwirklichung, sondern auch die Klärung des Gemeinten noch aussteht, eben jenes lückenhafte Bild, das nicht nur schattenhaft und vage, sondern zugleich Aufruf zur Aktivität ist. Man kann und muss aber auch an Freud denken. Es ist kein Zufall, dass diejenige Forschungs- und Behandlungsrichtung, in die Freuds Psychoanalyse eingeordnet werden muss, als »dynamische Psychiatrie« bezeichnet wird. 255 Die Geschichten, mit denen Freud sich befasst hat, endeten ja nicht, sondern begannen gerade erst in dem Moment, in dem ein Impuls, der ins Bewusstsein und nach Realisierung drängte, verdrängt wurde, weil dieser Impuls sich als »im Dunkeln« weiter tätig erwies. In all diesen Fällen gilt: Das »Nicht« ist ein »Noch nicht«. Man sieht: Das statische und das dynamische Unbewusste weisen so beträchtliche Verschiedenheiten auf, dass der Versuch, Art und Ursprung der »Lücken« in einer gemeinsamen Charakterisierung zu erfassen, zu wenig konkreten Aussagen führen würde. Man bemerkt aber auch, dass beiden Konstellationen trotz ihrer VerschiedenartigZumindest in jungen Jahren hat Bloch durchaus Sympathien für Bergson gehabt. Vgl. Bloch[1985] 249 ff. – Schon hier (nicht erst bei Sartre und Merleau-Ponty) wird Bergson mit Husserl verglichen und gegen ihn ausgespielt. Noch aber geht Bergson als Sieger aus dem Vergleich hervor, denn nach Bloch wenden zwar beide die »gleiche Methode« an, gelangen aber trotzdem zu ganz verschiedenen Resultaten, weil Husserl zu früh »zur Ruhe gelangt«, während Bergson »den thrakischen Taumel des Lebens erblickt«. 255 Vgl. Ellenberger[2005]. 254

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keit ein deutlicher Bezug zur Hermeneutik gemeinsam ist. Das bedarf im Hinblick auf das »Nicht mehr« keiner ausführlichen Begründung: Seit Jahrhunderten, ja seit Jahrtausenden 256 prägt die Aufgabe, aufgrund langen, gedankenlosen Gebrauchs starr und leer gewordene oder aufgrund neuer Lebens- und Denkweisen überholt erscheinende Traditionen durch die Neuaneignung ihres Sinns lebendig zu erhalten, das Selbstverständnis der Hermeneutik. Bultmann und Gadamer, aber auch Schleiermacher und Chateaubriand 257 können als wichtige Vertreter dieses traditionsbezogenen Typs von Hermeneutik gelten. Die Hermeneutik des »Noch nicht« tritt weniger häufig in Erscheinung, kann aber durchaus auch prominente Vertreter aufweisen. Erinnert sei an Ricœurs Idee einer »Eschatologie des Sinns«, aber auch an Hogrebes Ausführungen über die »Ahnung« als hermeneutisch relevantes Phänomen. Nachfolgend sollen nun einige Beispiele sowohl für das statische wie auch für das dynamische Unbewusste aus Bergsons Texten vorgestellt werden. Dabei geht es allerdings weniger um die Schilderung der unbewussten Vollzüge als solcher, als vielmehr um das Aufbrechen der Unbewusstheit. Nachdem in Abschnitt 2.3.1.4 geklärt wurde, warum der Mensch (als Art) ein Wesen ist, in dessen Erfahrung Risse und Brüche auftreten können, soll nun untersucht werden, wie es dazu kommt, dass sie in der Erfahrung (menschlicher Individuen) 256 Man hat vom »goldene Zeitalter der Hermeneutik« im antiken Alexandria gesprochen: Les lettrés d’Alexandrie interviennent en un moment tardif d’une longue histoire, afin de sauver un sens qui risque de disparaître, héritiers lointains d’un patrimoine en perdition. – Gusdorf[1988] 23 – Ebenso kann man, um die Rede von Jahrtausenden zu rechtfertigen, auf die Hermeneutik der jüdischen Rechtsgelehrten verweisen, von der Levinson[1998] gezeigt hat, dass sie nicht nur Kasuistik, sondern schöpferische Auslegungskunst war. Diese Thematik ist deshalb von Interesse, weil Bergson in Les deux sources de la morale et de la religion die Frage diskutiert, in welchem Maße die traditionellen, »geschlossenen« Moral- und Religionslehren Neuerungen zulassen, und weil er, der selbst Jude war, aber mit dem Christentum sympathisierte, dabei sicher auch an die jüdische Tradition gedacht hat. 257 Ich habe hier auf der deutschen Seite weniger den Autor der Vorlesungen über Hermeneutik als den Autor der »Reden über die Religion« (1799) im Auge, auf der französischen Seite den Autor des Génie du christianisme (1802). Man beachte bei aller Verschiedenheit im Detail die Gleichartigkeit der Problemstellung. Beide Bücher bemühen sich nach den durch Aufklärung und Revolution verursachten Umwälzungen um eine Neuaneignung des Sinnes der christlichen Religion. Eine genauere Untersuchung derartiger Parallelen wäre meines Erachtens fruchtbarer als das ständige Wiederholen des Topos von der Verschiedenheit der geistigen Situation in beiden Ländern und der französischen Hermeneutik-Feindschaft.

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auch wirklich auftreten. Zudem soll gezeigt werden, wie wenig einheitlich die hier in Betracht kommenden Phänomene sind. Es gibt nicht ein einziges statisches Unbewusstes. Es gibt nicht ein einziges dynamisches Unbewusstes. Und es gibt schon gar nicht eine einzige Weise des Einbrechens von Bewusstsein. Das geht soweit, dass zunächst verschiedene Ausprägungen des statischen Unbewussten, sodann statisches und dynamisches Unbewusstes, schließlich sogar unterschiedliche Gestalten des dynamischen Unbewussten miteinander in Konflikt geraten werden. Aber gerade die Möglichkeit solcher Konflikte ist auch die Möglichkeit von Bewusstsein. 2.3.2.2 Das statische Unbewusste als Gewohnheit Grundsätzlich gilt, dass das Unbewusste sich durch Handlungen zeigt, die nicht etwa sinnlos sind, sondern ein implizites, »gespieltes«, eben unbewusstes Wissen erkennen lassen. Das wäre nicht weiter auffällig, wenn diese unbewussten Handlungsimpulse und die durch sie veranlassten Vollzüge nicht mit anderen, entweder ebenfalls auf unbewusste Impulse oder auf bewusste Entschlüsse zurückgehenden Handlungsweisen in Konflikt geraten könnten. Da dies aber geschehen kann und geschieht, kommt zu der Vorstellung eines bloßen Repertoires verfügbarer Handlungsweisen ein wertendes Element hinzu: Verhalten kann als Fehlverhalten erscheinen. Und dies ist der Ursprung jener Risse in der Erfahrung der Wirklichkeit, um deren Erhellung es hier geht. Im menschlichen Leben – d. h. unter den Bedingungen der Herrschaft der Intelligenz – zeigt sich das statische Unbewusste vor allem als Gewohnheit. Weil Menschen in ihren Denk- und Verhaltensweisen nicht festgelegt sind, können sie auf spezifische Herausforderungen neuartige Antworten entwickeln. Aber das Analysieren der Situation und das Entwerfen einer angemessenen Reaktion kann Stunden, Tage, in besonders komplexen Fällen auch Monate oder Jahre dauern, während in vielen Fällen eine schnelle Reaktion erforderlich ist. Zudem kann das bewusste Denken sich immer nur mit einer kleinen Zahl von Problemen beschäftigen, während die Umwelt das menschliche Lebewesen unaufhörlich mit einer großen Zahl von Fragen konfrontiert. Die Macht der menschlichen Intelligenz ist also begrenzt. Andererseits hat nun aber der Mensch herausgefunden, dass der größte Teil der Fragen, mit denen er sich konfrontiert sieht, sich auf einige wenige Typen reduzieren lässt und dass nur wenige unter 276 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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ihnen den Aufwand bewusster Überlegung wirklich rechtfertigen. Oder vielmehr: »Entdeckt« hatten dies eigentlich schon die Pflanzen und die Tiere, denn dass diese Lebewesen mit einer beschränkten Zahl von Reflexen und Instinkten überleben können, beruht darauf, dass auch sie die möglichen Herausforderungen zu einigen wenigen Typen zusammengefasst und in Gestalt der einzelnen Instinkte ebenso typische Antworten darauf »formuliert« haben. Die Gewohnheit stellt demnach innerhalb der menschlichen Lebensform das Äquivalent zur instinktgesteuerten Handlung des Tieres dar: »Ist es dann aber nicht klar, dass ein Imperativ bei einem vernünftigen Wesen um so mehr die kategorische Form annehmen wird, je mehr die entfaltete Aktivität, obwohl intelligent, dazu neigt, die instinktive Form anzunehmen? Eine Aktivität aber, die, zunächst intelligent, auf eine Imitation des Instinkts zusteuert – das ist eben das, was man beim Menschen eine Gewohnheit nennt.« 258

Betrachtet man die Dinge aus der Perspektive des einzelnen menschlichen Individuums, so lassen sich zwei Hauptformen der Entstehung von Gewohnheiten unterscheiden. Im ersten Fall übernimmt das Individuum als gängig und erfolgreich anerkannte Denk- oder Verhaltensmuster fertig von anderen Mitgliedern der Gesellschaft. Eine derartige Übernahme erfordert zwar in der Regel eine bewusste Anstrengung des Lernens oder Einübens, kann aber doch in dem Sinne ohne Bewusstsein erfolgen, dass das Muster nur nachgeahmt wird, ohne dabei nach dessen Bedeutung zu fragen. Werden nur einzelne Verhaltensweisen übernommen, so zeichnen sich diese durch eine gewisse Isoliertheit aus. Sie mögen sich schlecht oder recht ins Repertoire der einer einzelnen Person zur Verfügung stehenden Verhaltensmuster fügen – dieses Repertoire bleibt doch ein buntes Sammelsurium. Es gibt aber auch Fälle, in denen sich gesellschaftliche Institutionen bemühen, dem Individuum umfangreiche Komplexe auf das gleiche Ziel hin ausgerichteter Verhaltensmuster aufzudrängen. Das ändert freilich nichts an der Tatsache, dass sich auch die Übernahme dieser Komplexe in der Regel nur als gedankenlose Nach-

258 Mais alors, n’est-il pas évident que, chez un être raisonnable, un impératif tendra d’autant plus à prendre la forme catégorique que l’activité déployée, encore qu’intelligente, tendra davantage à prendre la forme instinctive ? Mais une activité qui, d’abord intelligente, s’achemine à une imitation de l’instinct est précisément ce qu’on appelle chez l’homme une habitude. – DS 996 | 20 | 20 f.

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ahmung vollzieht. Bergson, der langjährige Lehrer, weiß das nur zu gut: »Hierher gehört der Komplex von Gefühlen und Vorstellungen, die uns von einer übel verstandenen Erziehung herkommen, von einer Erziehung, die sich mehr an das Gedächtnis wendet als an das Urteil. Hier bildet sich im Schoß des fundamentalen Ich ein parasitäres Ich, das fortwährend auf das Gebiet des andern übergreift.« 259

Im zweiten Fall entwickelt das Individuum selbst neuartige Verhaltensweisen, belässt es aber nicht bei einer einmaligen Ausführung, sondern wiederholt sie anschließend in ähnlich gelagerten Fällen. Geschieht dies, so steht am Anfang nicht nur eine bewusste Anstrengung, sondern auch eine Einsicht in die Bedeutung des neuen Musters. Je häufiger dieses Muster aber wiederholt wird, desto geringer wird die Anstrengung und desto mehr verwandelt sich das ausdrückliche Bewusstsein der Bedeutung in eine vage Erinnerung. Kurz: Einst bewusst gesuchte und mit Mühe gefundene Denk- und Verhaltensmuster können ins Unbewusste absinken, indem sie zunächst zu Gewohnheiten werden, bei denen man sich kaum noch an die Bedeutung erinnert, und schließlich zu Automatismen verkommen, die, der Kontrolle durch das Bewusstsein sich entziehend, aus gegebenem Anlass – d. h. aus ihnen gegeben erscheinendem Anlass – so selbsttätig in Aktion treten wie Instinkte. »Beim Erlernen irgendeiner Fertigkeit ist uns zuerst jede dabei ausgeführte Bewegung bewusst, weil sie von uns herstammt, weil sie aus einer Entscheidung resultiert und eine Wahl voraussetzt; aber je mehr sich diese Bewegungen dann miteinander verketten und einander mechanisch bestimmen – wodurch wir der Entscheidung und der Wahl überhoben werden –, desto mehr vermindert sich unser Bewusstsein davon, um schließlich ganz zu verschwinden.« 260

259 Tel est cet ensemble de sentiments et d’idées qui nous viennent d’une éducation mal comprise, celle qui s’adresse à la mémoire plutôt qu’au jugement. Il se forme ici, au sein même du moi fondamental, un moi parasite qui empiétera continuellement sur l’autre. – DI 110 | 125 | 125 260 Dans l’apprentissage d’un exercice, par exemple, nous commençons par être conscients de chacun des mouvements que nous exécutons, parce qu’il vient de nous, parce qu’il résulte d’une décision et implique un choix; puis, à mesure que ces mouvements s’enchaînent davantage entre eux et se déterminent plus mécaniquement les uns les autres, nous dispensant ainsi de nous décider et de choisir, la conscience que nous en avons diminue et disparaît. – ES 822 f. | 11 |10 f.

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Nun könnte man denken, dass dieses Absinken frisch erlernter oder frisch gestalteter Verhaltensmuster zwar Anlass zu sentimentalen Betrachtungen geben mag – man hört das Fin de siècle, wenn Bergson davon spricht, dass die Gewohnheiten auf der Oberfläche des Ich treiben »wie welke Blätter auf dem Wasser eines Teichs« 261 –, dass aber andererseits die steigende Zahl verfügbarer Verhaltensmuster auch zu einer gewissen Ruhe und Sicherheit führen müsste, insofern diese Gewohnheiten beim Menschen die Aufgabe der Instinkte übernehmen und die Instinkte des Tieres ihm ein weitgehend unproblematisches, an seine Umwelt angepasstes Leben ermöglichen. Das ist auch in der Tat in solchem Umfang möglich, dass Menschen sogar eine »ruhige, bürgerliche Existenz« nach dem Vorbild der Pflanzen gelingt. Allerdings setzt das ein erhebliches Maß an Unaufmerksamkeit voraus. Dem aufmerksamen Menschen nämlich zeigen sich immer wieder Risse in der auf die verfügbaren Verhaltensmuster hin interpretierten Wirklichkeit. Das hat hauptsächlich zwei Ursachen: Einerseits bildet die Menge der verfügbaren Handlungsmuster ein Raster, während die Wirklichkeit ein Kontinuum darstellt. Deshalb kann man in Situationen geraten, auf die keine der verfügbaren Handlungsoptionen wirklich zu passen scheint. Andererseits kann es geschehen, dass die Wirklichkeit sich geändert hat, während die Handlungsmuster unverändert geblieben sind. Bergsons Le rire ist ein veritabler Katalog derartiger Situationen. Ich möchte an dieser Stelle trotzdem zuerst auf eine Geschichte verweisen, die Pierre Janet in einer Vorlesung erzählt. 262 Einst habe er, so berichtet Janet, eine höhergestellte Dame behandelt, die nicht mehr gänzlich Herrin ihrer Worte und Taten war. Er suchte deshalb nach einer Betreuerin und erklärte jeder Bewerberin, dass die Aufgabe darin bestehe, das Reden und Handeln der Patientin auf eine Weise zu lenken, die dieser keinen Anlass gebe, sich über mangelnden Respekt zu beklagen. Schließlich entschied sich Janet für eine Bewerberin, die erklärt hatte, sie habe das verstanden. Wenige Tage später aber erschien die Betreuerin wieder bei ihm und beklagte sich bitterlich über ihren Auftrag, der ihr undurchführbar zu sein schien. Entweder nämlich sei der Patientin Respekt entgegenzubringen – dann befehle die

261 Beaucoup flottent à la surface, comme des feuilles mortes sur l’eau d’un étang. – DI 90 | 101 | 102 262 Janet[1935] 17 ff.

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Patientin, und die Betreuerin habe zu gehorchen. Oder aber es sei das Handeln der Patientin zu leiten und zu lenken – dann aber befehle die Betreuerin, und die Patientin habe zu gehorchen. Sie sei, so die Betreuerin, bereit, sowohl die eine wie auch die andere Rolle zu übernehmen, aber beides zugleich von ihr zu verlangen, das sei ein absurder Auftrag. Janet schließt seine Erzählung mit der Schlussfolgerung, dass diese Frau der Aufgabe offenkundig nicht gewachsen war, obwohl doch die meisten Frauen durchaus in der Lage seien, zu befehlen, sich dabei aber den Anschein zu geben, als gehorchten sie. Diese Schlussbemerkung mag süffisant, ja politisch unkorrekt klingen. Nehmen wir sie gleichwohl so hin, wie sie ist. Was Janet sagen will, ist ja dies: Wenn diese Betreuerin scheiterte, dann liegt das offenkundig nicht daran, dass ihr Auftrag prinzipiell undurchführbar gewesen wäre, sondern daran, dass das durch die ihr zu Gebote stehenden Handlungsmuster gebildete Raster zu grob und sie nicht in der Lage war, eine neuartige Synthese von Befehlen und Gehorchen zu entwickeln. Immerhin erzählt Janets Geschichte von einer Person, die, wenn auch unfähig zur Gestaltung eines neuartigen Verhaltens, sich des Risses, des Abstands, der Kluft zwischen dem ihr möglichen und dem von der Situation geforderten Verhalten bewusst war. Den Personen, von denen Bergson in Le rire berichtet, aber fehlt selbst dieses Bewusstsein. Sie repetieren einfach mechanisch die eingeübten Denkund Verhaltensweisen. Die Wirklichkeit passt nicht in ihr Raster? Um so schlimmer für die Wirklichkeit! »Vor einigen Jahren strandete ein großer Postdampfer in der Nähe von Dieppe. Einige Passagiere retteten sich mit großer Mühe in ein Boot. Kaum war die Rettung gelungen, stellten einige Zollbeamte, die sich dabei tapfer beteiligt hatten, ihnen die Amtsfrage, ›ob sie nichts zu verzollen hätten‹.« 263

Aber dieser glückliche Stumpfsinn wird empfindlich gestört, denn einige Leute stehen dabei, beobachten das Verhalten der Zollbeamten und – lachen. Der Riss, den diese Beamten – im Gegensatz zu der Betreuerin von Janets Patientin – nicht bemerkten, verschafft sich Gehör:

263 Il y a déjà un certain nombre d’années, un paquebot fit naufrage dans les environs de Dieppe. Quelques passagers se sauvaient à grand-peine dans une embarcation. Des douaniers, qui s’étaient bravement portés à leur secours, commencèrent par leur demander « s’ils n’avaient rien à déclarer ». – R 409 | 35 f. | 34 f.

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»Man höre nur genau hin: [das Lachen] ist kein artikulierter, scharfer, deutlich begrenzter Laut; sondern etwas, was, indem es überall widerhallt, immer weiter gehen möchte, etwas, was wie mit einer Explosion einsetzt, um dann, dem Donner in den Bergen gleich, langsam weiter zu rollen.« 264

Das Lachen, das als wilder, undomestizierter Lautausbruch an sich schon die säuberlich geordnete Welt der Verhaltensmuster und Sprachformeln zerreißt, hat nach Bergsons Ansicht die Aufgabe, den Riss in ihrer Wirklichkeit, den die ausgelachte Person nicht bemerken wollte, ins grelle Licht zu rücken. Gedankenlos vollzog sie das gewohnte Verhaltensmuster, blind war sie für die Diskrepanz zwischen ihrer eigenen und einer der Situation angemessenen Handlungsweise. Blind waren aber nicht die Anderen. Deren Lachen soll die ausgelachte Person aus ihrer Unbewusstheit reißen und ihr den Riss bewusst machen. Denn das Bemerken des Risses ist der Anfang des Verstehens. 2.3.2.3 Das dynamische Unbewusste als Tiefen-Ich Wenn wir nun zu einigen Beispielen für das dynamische Unbewusste übergehen, so bleibt das statische Unbewusste gleichwohl im Blick. Sowohl das in diesem wie auch das im nächsten Abschnitt kurz zu betrachtende Beispiel nimmt seinen Ausgang von einer durch das statische Unbewusste, d. h. durch gesellschaftliche Konventionen geprägten Person. Das ist kein Zufall. Das dynamische Unbewusste ist das Andere des statischen Unbewussten, aber in der Weise, dass es das durch gedankenlose Übernahme von Konventionen und Traditionen verdrängte Eigene der Person am Leben erhält oder wieder zum Leben erweckt. Wir haben es also auch hier mit einer Person zu tun, die sich durch Übernahme konventioneller Denk- und Verhaltensmuster zu einer sozialen Person gemacht hat bzw. die zu einer solchen Person gemacht wurde. Damit hat sie ein Repertoire von Verhaltensmustern erworben, das es ihr ermöglicht, einen Teil ihrer Intentionen – und damit: einen Teil ihres Ich – in die Tat umzusetzen. Ein anderer Teil des Ich aber bleibt unberücksichtigt. Dieser vernachlässigte, nicht lebbare Teil ist nun zwar das Andere des durch die Intelligenz geprägten 264 Écoutez-le bien : ce n’est pas un son articulé, net, terminé ; c’est quelque chose qui voudrait se prolonger en se répercutant de proche en proche, quelque chose qui commence par un éclat pour se continuer par des roulements, ainsi que le tonnerre dans la montagne. – R 389 | 4 f. | 8

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Ich, aber es ist nicht einfach ein unsichtbarer, dem Bewusstsein völlig verborgener Bereich. Das liegt – wie bei Freud – daran, dass auch dieser Teil des Selbst Impuls, Wunsch, Wille, kurz: Handlungsantrieb ist. Und wie bei Freud ergibt sich aus dieser Konstellation ein Zwiespalt, der zu einem Konflikt wird: Das bewusste, soziale Ich ist bestrebt, die nicht gewollten Handlungstendenzen ins Dunkel des Unbewussten abzudrängen, das so zur Untätigkeit verbannte, unbewusste Ich aber sucht nach einem Ausweg aus seinem Gefängnis. In Les données immédiates de la conscience beschreibt Bergson diesen Konflikt zwischen einem verdrängten, unbewussten und einem bewussten, verdrängenden Ich-Bereich sowie die Ereignisse, die eintreten, wenn die bewussten Ich-Tendenzen sich als nicht mächtig genug erweisen, um die lebendig gebliebenen unbewussten IchTendenzen vollständig zu unterdrücken: »Es kommt […] vor, dass sich in dem Augenblick, in dem die Handlung ausgeführt werden soll, eine Revolte ereignet. Nun steigt das untere Ich an die Oberfläche empor. Nun bricht die äußere Kruste und weicht einem unwiderstehlichen Drucke. In den Tiefen dieses Ich und unterhalb jener sehr verständig nebeneinandergereihten Argumente begann es zu sieden, und dadurch entstand eine wachsende Spannung von Gefühlen und Vorstellungen, die zwar gewiss nicht unbewusst waren, die wir aber nicht beachten wollten. Wenn wir gründlich auf uns reflektieren und sorgfältig unsere Erinnerungen einsammeln, werden wir uns überzeugen, dass wir diese Vorstellungen selbst gebildet, diese Gefühle selbst erlebt haben, dass wir sie aber infolge eines unerklärlichen Widerstrebens des Willens jedes Mal in die dunklen Tiefen unseres Wesens zurückstießen, wenn sie an die Oberfläche auftauchen wollten. Aus diesem Grunde suchen wir uns vergeblich die plötzliche Wandlung unseres Entschlusses aus den ihr vorangegangenen, offen vor Augen liegenden Umständen zu erklären. Wir wollen wissen, aus welchem Grunde wir uns so entschieden haben, und wir finden, dass wir uns ohne Gründe entschieden haben, vielleicht sogar gegen alle Gründe. In gewissen Fällen ist aber gerade das der beste aller Gründe. Denn die vollzogene Handlung drückt dann nicht mehr eine oberflächliche, uns beinahe äußerliche, wohl unterschiedene und sprachlich leicht formulierbare Vorstellung aus: sie entspricht vielmehr dem ganzen unsrer innigsten Gefühle, Gedanken und Aspirationen, jener besonderen Lebensauffassung, die das Äquivalent unserer gesamten vergangenen Erfahrung ist, kurz, unserer persönlichen Vorstellung von Glück und Ehre.« 265 265 Mais aussi, au moment où l’acte va s’accomplir, il n’est pas rare qu’une révolte se produise. C’est le moi d’en bas qui remonte à la surface. C’est la croûte extérieure qui éclate, cédant à une irrésistible poussée. Il s’opérait donc, dans les profondeurs de ce

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Greifen wir – auf eine vorläufige Weise und ohne den Anspruch einer gründlichen Interpretation – einige Aspekte dieses Textes auf. Wie die Lebensform des Tieres durch die Instinktsteuerung geprägt ist, so breitet sich beim Menschen die Steuerung durch die Intelligenz immer weiter aus, bis sie ebenfalls nahezu die gesamte Lebensform bestimmt. Da aber die von der Intelligenz geschaffenen Verhaltensmuster im Laufe der Zeit zu Gewohnheiten erstarren, bilden die übernommenen und selbst entwickelten Gewohnheiten beim Menschen eine im Laufe der Zeit immer dichter und immer dicker werdende Schicht, die sich über eine andere, ursprünglichere Schicht legt. Bergson bezeichnet die Schicht des erworbenen und konventionellen Verhaltens als »Oberflächen-Ich« (moi superficiel), die ursprünglichere, von ihr überlagerte Schicht dagegen als »Tiefen-Ich« (moi fondamental). Ich hatte an früherer Stelle 266 darauf hingewiesen, dass Bergson das Wort »Aufpfropfung« für eine Art der Überlagerung verwendet, bei der eine alte und eine neue Schicht zu einem neuartigen Ganzen zusammenwachsen. Hier handelt es sich um eine ganz andere Art der Überlagerung, bei der von einem Zusammenwachsen nicht die Rede sein kann. Vielmehr strebt die obere Schicht danach, die untere zu verdecken. 267 Aber die untere Schicht – weit davon entfernt, sich unmoi, et au-dessous de ces arguments très raisonnablement juxtaposés, un bouillonnement et par là même une tension croissante de sentiments et d’idées, non point inconscients sans doute, mais auxquels nous ne voulions pas prendre garde. En y réfléchissant bien, en recueillant avec soin nos souvenirs, nous verrons que nous avons formé nous-mêmes ces idées, nous-mêmes vécu ces sentiments, mais que, par une inexplicable répugnance à vouloir, nous les avions repoussés dans les profondeurs obscures de notre être chaque fois qu’ils émergeaient à la surface. Et c’est pourquoi nous cherchons en vain à expliquer notre brusque changement de résolution par les circonstances apparentes qui le précédèrent. Nous voulons savoir en vertu de quelle raison nous nous sommes décidés, et nous trouvons que nous nous sommes décidés sans raison, peut-être même contre toute raison. Mais c’est là précisément, dans certains cas, la meilleure des raisons. Car l’action accomplie n’exprime plus alors telle idée superficielle, presque extérieure à nous, distincte et facile à exprimer: elle répond à l’ensemble de nos sentiments, de nos pensées et de nos aspirations les plus intimes, à cette conception particulière de la vie qui est l’équivalent de toute notre expérience passée, bref, à notre idée personnelle du bonheur et de l’honneur. – DI 112 | 127 f. | 127 f. 266 Vgl. Anm. 235 267 Es ist leicht zu erkennen, warum das so sein muss. Leben, so hatten wir festgestellt, ist die Aufpfropfung von Dynamik (Geist, Bewusstsein, Entwicklung) auf das Starre und Mechanische (Materie). Daraus kann ein Organismus als modus vivendi beider Kräfte entstehen. Die Ausbildung eines von Gewohnheiten und Konventionen regierten Ich ist dagegen die Überlagerung der lebendigen Dynamik durch eine

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tätig in das Verdeckt-Werden zu schicken und so zu einem bloßen Boden oder Fundament zu werden – wehrt sich. Und deshalb ist die intelligenzbestimmte Lebensform des Menschen durch einen ursprünglichen Konflikt zwischen Oberflächen-Ich und Tiefen-Ich charakterisiert. Bergson macht in dem angeführten Text deutlich, dass das Tiefen-Ich kein unserem Bewusstsein immer schon und für immer unzugänglicher Bereich ist. Die »Gefühle und Vorstellungen«, die in ihm versammelt sind, sind als solche durchaus nicht unbewusst, aber »wir wollten sie nicht beachten«, wir haben sie vielmehr, wann immer sie sich an der Oberfläche zeigten, »in die dunklen Tiefen unseres Wesens zurückgestoßen«. Es handelt sich demnach um einen klassischen Fall von Verdrängung. Gefühle, Antriebe und Triebziele werden als inkompatibel mit dem durch Konventionen geformten Oberflächen-Ich empfunden und deshalb abgedrängt in einen Bereich, der sich so allererst als ein Unbewusstes und als ein Anderes des Bewusstseins konstituiert. Ein seines Namens würdiger Philosoph, so hatten wir im ersten Kapitel gehört, wird angetrieben von einer vorgegenständlichen und vorsprachlichen Intuition, die ihm selbst zuerst in Gestalt eines Bildes fassbar wird. Wir haben hier Gelegenheit, vielleicht nicht das, vielleicht nicht das endgültige, aber doch ein Bild kennenzulernen, das kein bloßes Stilmittel (Vergleich), sondern Ausdruck des Bergson vorschwebenden Leitbildes ist: »Wenn der Mensch sich dem Trieb seines Gefühls überließe, wenn es kein soziales oder sittliches Gesetz gäbe, würden die Entladungen dieser heftigen Gefühle zum Alltag des Lebens gehören. Doch der Nutzen verlangt, dass diese Explosionen abgewendet werden. Es ist nötig, dass der Mensch in Gemeinschaft lebt, also muss er sich einer Regel fügen. Und was das Interesse rät, befiehlt auch die Vernunft: es gibt eine Pflicht, und unsere Bestimmung ist, ihr zu gehorchen. Unter diesem doppelten Einfluss hat sich für das menschliche Geschlecht eine oberflächliche Schicht von Gefühlen und Ideen gebildet, die eine Tendenz zur Unveränderlichkeit haben, die wenigstens allen Menschen gemeinsam sein möchten und die das Feuer der Schicht des Starren und Mechanischen (vgl. Bergsons Definition des Lächerlichen: du mécanique plaqué sur du vivant). Man hat es hier also mit einer verkehrten Schichtenfolge zu tun: Was »oben« sein sollte, ist »unten«, und was »unten« sein sollte, ist »oben«. Und weil der Automatismus die herrschende Position nur usurpiert hat, ist er gezwungen, die lebendige Dynamik, die den ihr eigentlich zukommenden Platz wieder einnehmen will, zu unterdrücken.

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individuellen Leidenschaften, wo nicht zu ersticken, so doch zu überdecken vermögen. Der langsame Fortschritt der Menschheit zu einem immer friedlicheren Gemeinschaftsleben hat diese Schicht allmählich befestigt, ähnlich wie das Leben unseres Planeten darin bestanden hat, in langer Arbeit die feurige Masse siedender Metalle mit einer festen kalten Haut zu überziehen. Aber es gibt vulkanische Ausbrüche. Und wenn die Erde ein lebendes Wesen wäre, wie die Mythologie will, ich glaube, sie würde in ihrer jetzigen Ruhe gern von jenen plötzlichen Ausbrüchen träumen, in denen sie sich von Zeit zu Zeit wieder einmal in ihrem Tiefsten erfasst.« 268

Wie die Erde, die einst – der Sonne gleich – ein glühender Ball war, im Laufe der Zeit zumindest äußerlich erkaltete und sich mit einer starren Kruste überzog, so umschließt auch das »kalte« Oberflächen-Ich ein »heißes« Tiefen-Ich, verdeckt es und verdrängt es. Aber eben weil nur die äußere Hülle starr, der Kern aber heiß und beweglich ist, entsteht im Inneren ein immer größer werdender Druck, der sich von Zeit zu Zeit entladen muss: »Aber es gibt vulkanische Ausbrüche«. Es gibt – oder das Magma schafft sich – Lücken, durch die es nach außen dringen kann. Und so sind auch manche Handlungen des Menschen als vulkanische Ausbrüche, als Einbrüche einer verdrängten Macht in die geregelte Welt des Oberflächen-Ich zu deuten. Nicht alle Bergson-Leser fanden dieses Bild überzeugend. Bergson habe, schreibt etwa der junge Paul Ricœur zu dieser Stelle, lediglich jene überkommenen »Werte, die uns entwertet erscheinen wie alte Briefmarken«, ersetzt durch »unbestimmte Motive von vitaler Färbung«, die »Tyrannei der toten Gründe« durch eine »gänzlich vitale und leidenschaftliche Notwendigkeit«, und sei so zu einer Posi-

268 Si l’homme s’abandonnait au mouvement de sa nature sensible, s’il n’y avait ni loi sociale ni loi morale, ces explosions de sentiments violents seraient l’ordinaire de la vie. Mais il est utile que ces explosions soient conjurées. Il est nécessaire que l’homme vive en société, et s’astreigne par conséquent à une règle. Et ce que l’intérêt conseille, la raison l’ordonne : il y a un devoir, et notre destination est d’y obéir. Sous cette double influence a dû se former pour le genre humain une couche superficielle de sentiments et d’idées qui tendent à l’immutabilité, qui voudraient du moins être communs à tous les hommes, et qui recouvrent, quand ils n’ont pas la force de l’étouffer, le feu intérieur des passions individuelles. Le lent progrès de l’humanité vers une vie sociale de plus en plus pacifiée a consolidé cette couche peu à peu, comme la vie de notre planète elle-même a été un long effort pour recouvrir d’une pellicule solide et froide la masse ignée des métaux en ébullition. Mais il y a des éruptions volcaniques. Et si la terre était un être vivant, comme le voulait la mythologie, elle aimerait peut-être, tout en se reposant, rêver à ces explosions brusques où tout à coup elle se ressaisit dans ce qu’elle a de plus profond. – R 463 | 121 f. | 107

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tion des »Anti-Intellektualismus« und »Irrationalismus« gelangt. 269 Und muss man nicht in der Tat den Eindruck gewinnen, dass die Einbrüche des Tiefen-Ich in die geregelte Welt des Oberflächen-Ich als Ausbrüche einer urwüchsigen und ungebändigten individuellen Vitalität zu begreifen sind? Muss man nicht den Eindruck gewinnen, dass Bergson diese Eruptionen mit großer Sympathie betrachtet? Zugegeben: Wenn man das dritte Kapitel von Les données immédiates de la conscience interpretieren will, in dem Bergson seine Verteidigung der menschlichen Freiheit auf diesen – wie es jedenfalls scheinen kann – Ausbrüchen einer undomestizierten Vitalität aufbaut, so ist eine Untersuchung der Frage, ob Bergson nicht einfach das eine Extrem durch das andere ersetzt und ob man Freiheit so verstehen möchte, wie Bergson das zu tun scheint, unvermeidlich. Zugegeben auch: Les données immédiates de la conscience ist das Werk eines Anfängers, der erst einmal nur als Konflikt zu sehen vermag, was ihm später auch das Potential einer Kooperation zu bieten scheint. Insofern müssten, wenn man ein realistisches Bild gewinnen will, auch die späteren Werke berücksichtigt werden. Nur: All diese Aufgaben haben wir uns hier gar nicht gestellt. Wir sind auf der Suche nach ersten Rissen in der menschlichen Erfahrung und nach den Ursachen für das Auftreten solcher Risse. Und was dies angeht, so ist die Analyse, die Bergson in Les données immédiates de la conscience vorträgt, plausibel, mit vergleichbaren Analysen – etwa derjenigen Freuds – kompatibel und für unsere Untersuchung brauchbar: Das sozial geformte, konventionelle Teil-Ich drängt Tendenzen, die es nicht integrieren kann oder will, ins Unbewusste ab. Diese so zu einem anderen Teil-Ich gewordenen Tendenzen leisten Widerstand, und wenn es ihnen gelingt, die Sperren zu überwinden, brechen sie in die bewusste Erfahrung ein, wo sie als fremde, wenn nicht gar bedrohliche Elemente erscheinen. Damit wird aber die ganze Erfahrung zerrissen in einen Teil, der durch »jene sehr verständig nebeneinandergereihten Argumente« seine Konsistenz erhält, und einen anderen Teil, der zunächst und aus der Perspektive des sozialen Teil-Ich nur als inkonsistente Ansammlung unverständlicher Ausbrüche erscheinen muss. Freilich deutet Bergson an, dass die verdrängten Tendenzen ein Teil-Ich bilden, das seine eigene Konsistenz, seinen eigenen Zusammenhang, seine eigene Logik aufweist. Oder vielmehr: Die in die Tie269

Ricœur[2009] 207 f.

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fe des Unbewussten abgedrängten Tendenzen bilden das eigentliche, das ursprüngliche und konsistente Ich, auf das sich das Pseudo-Ich der Gewohnheiten und Konventionen wie ein Parasit legt: »Hierher gehört der Komplex von Gefühlen und Vorstellungen, die uns von einer übel verstandenen Erziehung herkommen, von einer Erziehung, die sich mehr an das Gedächtnis wendet als an das Urteil. Hier bildet sich im Schoß des fundamentalen Ich ein parasitäres Ich, das fortwährend auf das Gebiet des andern übergreift.« 270

Die so unerwartet sich vollziehende, so »unlogisch« erscheinende Handlung entspricht dem Ganzen unserer Person, dem Ganzen unsrer eigenen Lebensauffassung, »unserer persönlichen Vorstellung von Glück und Ehre«. Das ist, wie nun selbst Ricœur zugesteht, eine »schöne Formulierung«. 271 Nur: Wie leben, wenn unsere persönliche Vorstellung von einem gelungenen Leben und die gängigen Formen des gemeinsamen Lebens so inkompatibel sind wie – die lebendige Intuition des Philosophen und die toten Formeln der Sprache? 2.3.2.4 Das dynamische Unbewusste als Phantasie und Appell Ich habe in den vorhergehenden Abschnitten Konstellationen beschrieben, die durch einen einzigen Riss, einen einzigen Gegensatz gekennzeichnet sind: Das statische Unbewusste in Gestalt der Gewohnheit erweist sich als unfähig, angemessene Reaktionen auf konkrete, neuartige Situationen zu erschaffen. Das dynamische Unbewusste in Gestalt des Tiefen-Ich stört durch seine Ausbrüche empfindlich die geordnete Welt des Oberflächen-Ich. Nun wäre es gewiss schon schwierig genug, mit einer Erfahrung, durch die ein derartiger Riss hindurchgeht, zurechtzukommen. Aber die Erfahrung, mit der jeder Mensch zurechtkommen muss, ist noch deutlich schwieriger, weil komplexer. Sie wird nicht nur von einem Gegensatz, sondern von zahlreichen Gegensätzen beherrscht. Sie ist nicht nur in zwei, sondern in mehrere Teilbereiche gespalten, bei denen man nicht weiß, ob und wie sie miteinander zu vereinbaren sind. Auf einer anderen Ebene – nämlich nicht derjenigen der persönlichen Erfahrung des Menschen, sondern derjenigen der Evolution des Lebendigen – haben wir den Vorgang einer Mehrfachteilung be-

270 271

Vgl. Anm. 259. – Hervorhebungen von mir [C. K.]. Ricœur[2002a] 86

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reits kennengelernt: Das Leben bringt im Verlauf der Evolution des Lebendigen drei verschiedene Gestalten hervor, in denen es unterschiedliche Antworten auf die Frage nach der möglichen Koexistenz von individuellem Bewusstsein und allgemeinen Strukturen der Umwelt gibt. Bergson begreift, wie wir gesehen haben, diese drei Gestalten nicht als sukzessive Phasen einer linearen Entwicklung, sondern als prinzipiell gleichwertige Alternativen, aber er lässt diese Alternativen auch nicht aus einer einzigen (Drei-)Teilung hervorgehen. Dies ist ein Punkt, den es festzuhalten gilt: Die Realität – sei es nun diejenige der »äußeren« oder diejenige der »inneren« Erfahrung – kann sich als äußerst komplex erweisen, aber diese Komplexität ist dann stets zu rekonstruieren als Kombination mehrerer einfacher Gegensätze (Dualismen). In Bezug auf die Evolution des Lebendigen hieß das: Zuerst teilen sich die Lebewesen in Pflanzen und Tiere, dann teilen sich die Tiere in instinktgesteuerte (Paradigma: Insekt) und intelligenzgesteuerte (Paradigma: Mensch). Dass sich im Bereich der persönlichen Erfahrung Ähnliches vollzieht, möchte ich nun zeigen, indem ich den – drastisch vereinfachten – Verlauf der Argumentation in Les deux sources de la morale et de la religion rekapituliere. Statisches Unbewusstes: Einmal mehr beginnt die Entwicklung in der ruhigen und geordneten Welt der sozialen Konventionen. Virtuelle Instinkte, traditionelle Verhaltensmuster und intelligentes Problemlösen befinden sich in dem von der Natur beabsichtigten Einklang und wirken gemeinsam auf ein Verhalten hin, das das Überleben des Einzelnen, aber auch – und das ist der spezielle Punkt, auf den es in diesem Beispiel ankommt – den Zusammenhalt und die Kontinuität der Gruppe sicherstellt. Wie die Ameise, indem sie ihren Instinkten folgt, für das Wohl des ganzen Ameisenstaates arbeitet, so fördert auch der Mensch, der sich den geltenden Konventionen unterwirft, das Gedeihen der Gruppe, der er angehört. Dies ist die fundamentale Ambivalenz der »ruhigen bürgerlichen Existenz« und des »dogmatischen Schlummers«: Sie mögen gedankenlos und eintönig sein, aber sie befinden sich im Einklang mit der Allgemeinheit. Erster Riss: Nun hat freilich die Natur die Intelligenz als konkrete, d. h. nur in Verbindung mit einem konkreten menschlichen Individuum auftretende geschaffen. Kants Philosophie beschreibt einen Riss, der deshalb durch die menschliche Erfahrung geht, weil der konkrete Mensch ein vereinzelter und egoistischer, die Vernunft dagegen Repräsentantin allgemeingültiger Gedanken und Regeln ist. Deshalb kann der kategorische Imperativ vom einzelnen Menschen 288 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

Anfangsgründe der Hermeneutik Bergsons

fordern, er solle sich so verhalten, dass seine Handlungsweise als allgemeine Regel tauglich sei. Die menschliche Intelligenz, die Bergson beschreibt, hat nun aber von Kants Philosophie und vom kategorischen Imperativ noch nie etwas gehört. Sie sieht ihre Aufgabe darin, dem konkreten, einzelnen Menschen, an den sie gebunden ist, zu größtmöglichem Erfolg im Leben zu verhelfen. Indem sie darüber nachdenkt, was das genau bedeutet, stößt sie auf die Frage: Warum eigentlich soll der Einzelne für das Wohl der Allgemeinheit arbeiten? Warum soll er seinen Nutzen, seinen Vorteil, sein Wohlergehen zum Vorteil Anderer opfern? Mehr noch: Der Mensch wurde von der Natur mit Intelligenz versehen, damit er sich nicht mit dem Vorhandenen zufriedengebe, sondern immer neue Dinge und Werkzeuge erfinde. Aber sind nicht auch die sozialen Regeln nur Werkzeuge? Und wenn es sich so verhält, gilt es dann nicht, auch die überkommenen Denk- und Verhaltensweisen durch neue, bessere zu ersetzen? Man sieht, dass in dem Moment, in dem diese beiden Fragen kombiniert werden, ein gefährliches Gemisch entsteht: Als bessere Denk- und Verhaltensweisen erscheinen dann diejenigen, die dem Einzelnen einen größeren Vorteil versprechen. Kurz: Die Intelligenz wird auf den Weg des Egoismus geführt, und sie führt auch den handelnden Menschen auf diesen Weg. »Erfindung bedeutet Initiative, und ein Appell an die individuelle Initiative läuft schon Gefahr, die soziale Disziplin aufs Spiel zu setzen. Was aber wird erst geschehen, wenn das Individuum seine Reflexion von dem Objekt, für das sie da ist, das heißt von der zu erfüllenden, zu verbessernden, zu erneuernden Aufgabe abwendet, um sie auf sich selbst zu richten, auf den Zwang, den das soziale Leben ihm auferlegt, auf das Opfer, das er der Gemeinschaft bringt? Dem Instinkt ausgeliefert, wie die Ameise oder die Biene, wäre er ganz auf das äußere Ziel gerichtet geblieben, das zu erreichen ist; er hätte für die Gattung gearbeitet, automatisch, somnambul. Dagegen mit Intelligenz begabt, zur Reflexion erwacht, wird er sich zu sich selbst wenden und nur darauf bedacht sein, wie er angenehm leben könne. Sicher würde eine regelrechte logische Überlegung ihm beweisen, dass es in seinem Interesse liegt, das Glück Anderer zu fördern; aber es bedarf jahrhundertelanger Kultur, um einen Utilitaristen wie Stuart Mill hervorzubringen, und Stuart Mill hat nicht alle Philosophen überzeugt und noch viel weniger die Laien. In Wirklichkeit wird die Intelligenz zunächst den Egoismus anraten.« 272 272 Invention signifie initiative, et un appel à l’initiative individuelle risque déjà de compromettre la discipline sociale. Que sera-ce, si l’individu détourne sa réflexion de l’objet pour lequel elle est faite, je veux dire de la tâche à accomplir, à perfectionner, à rénover, pour la diriger sur lui-même, sur la gêne que la vie sociale lui impose, sur le

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Von da an geht ein erster Riss durch die persönliche Erfahrung: Das Handeln in Übereinstimmung mit Tradition und Gemeinwohl gerät in Gegensatz zum Handeln gemäß den eigenen Interessen. Das statische Unbewusste in Gestalt der Gewohnheiten gerät in Widerspruch mit dem Bewusstsein in Gestalt der egoistischen Ratschläge der Intelligenz. Es tut sich ein Bruch auf zwischen dem, was die Natur beabsichtigt hatte, als sie dem Menschen die Intelligenz gab, und dem Gebrauch, den der Mensch nun von dieser Gabe macht. Erstes dynamisches Unbewusstes: Es liegt auf der Hand, dass die meisten Menschen, vor eine derartige Alternative gestellt, den eigenen Interessen den Vorrang geben werden. Damit ist der Zusammenhalt der Gruppe, ist menschliches Zusammenleben überhaupt bedroht. Aber die Natur gibt nicht auf. Zwar kann sie den sozialen Instinkt nicht mehr stärken, nachdem sie den Menschen von der Steuerung durch Instinkte weitestgehend befreit hat, aber sie kann die Intelligenz – im wahrsten Sinne des Wortes – auf andere Gedanken bringen. Zu diesem Zweck kooperiert sie mit einer Form der bilderschaffenden Phantasie, die Bergson als fonction fabulatrice bezeichnet. 273 Die »fabulatorische Funktion« gaukelt der Intelligenz Bilder vor, die wie wahrgenommene Wirklichkeit aussehen, in Wahrheit aber nur Illusionen sind: die Bilder von Geistern und Dämonen, von belohnenden und strafenden Göttern. Sie schafft die traditionellen, vor allem auf den Erhalt und den Zusammenhalt von Gesellschaften hin ausgerichteten Religionen. Kurz: Sie setzt dem Bewusstsein (Intelligenz), das sich gegen das statische Unbewusste (Konvention) gestellt hatte, nun ein dynamisches Unbewusstes (Phantasie) entgegen. »Da nun der Instinkt nur mehr als Spur oder Virtualität existiert, da er nicht mehr stark genug ist, um Handlungen hervorzurufen oder zu verhindern, muss er eine illusorische Wahrnehmung erzeugen, oder wenigstens eine so genaue, so eindrucksvolle Nachahmung einer Erinnerung, dass die

sacrifice qu’il fait à la communauté ? Livré à l’instinct, comme la fourmi ou l’abeille, il fût resté tendu sur la fin extérieure à atteindre ; il eût travaillé pour l’espèce, automatiquement, somnambuliquement. Doté d’intelligence, éveillé à la réflexion, il se tournera vers lui-même et ne pensera qu’à vivre agréablement. Sans doute un raisonnement en forme lui démontrerait qu’il est de son intérêt de promouvoir le bonheur d’autrui ; mais il faut des siècles de culture pour produire un utilitaire comme Stuart Mill, et Stuart Mill n’a pas convaincu tous les philosophes, encore moins le commun des hommes. La vérité est que l’intelligence conseillera d’abord l’égoïsme. – DS 1077 f. | 126 | 95 273 DS 1066–1068 | 111–113 | 84–86 et passim.

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Intelligenz sich davon bestimmen lässt. Unter diesem ersten Gesichtspunkt erscheint also die Religion als eine Verteidigungsmaßnahme der Natur gegen die zersetzende Macht der Intelligenz.« 274

Was hier interessiert, ist nicht Bergsons Religionstheorie, sondern die Struktur des Vorgangs. Auf der einen Seite steht die Intelligenz. Sie bezieht sich auf Wahrnehmungen von Teilen der Wirklichkeit, denkt über diese nach und kommt so zu einer immer deutlicheren und immer mehr sich verfestigenden, gegen die Konvention gerichteten egoistischen Position, die sie denn auch immer lauter und immer radikaler empfiehlt. Auf der anderen Seite stehen jene Tendenzen, die die naturhafte Basis des Menschen und die damit verbundenen sozialen Instinkte darstellen. In dem Maße nun, in dem sich auf der Seite der Intelligenz die egoistische Position immer deutlicher ausbildet, formt sich auf der Seite der Natur ein Widerstand: als vages Unbehagen zuerst, dann als deutliches Gefühl, dass sich hier etwas in die falsche Richtung entwickelt, schließlich als Ausbildung einer Gegenposition. 275 Nur eben: Weil die Intelligenz längst eine beherrschende Position gewonnen hat, bleibt der Natur lediglich der Versuch, den Kampf ins Reich der Intelligenz hineinzutragen und ihn mit den Mitteln der Intelligenz zu führen. Sie setzt Pseudowahrnehmung gegen Wahrnehmung, Bild gegen Gedanke, zwingt die Intelligenz, sich mit den Phantasmen zu beschäftigen und bringt diese schließlich in Widerstreit mit sich selbst. 276 Die Bezeichnung für diese Figur kennen wir bereits: »Widerstand gegen den Widerstand«. 277 Wir hatten seine Bedeutung im Hin274 Puisque l’instinct n’existe plus qu’à l’état de trace ou de virtualité, puisqu’il n’est pas assez fort pour provoquer des actes ou pour les empêcher, il devra susciter une perception illusoire ou tout au moins une contrefaçon de souvenir assez précise, assez frappante, pour que l’intelligence se détermine par elle. Envisagée de ce premier point de vue, la religion est donc une réaction défensive de la nature contre le pouvoir dissolvant de l’intelligence. – DS 1078 | 126 f. | 95 275 Un examen attentif de ce qui se passe dans notre conscience nous montre qu’une résistance intentionnelle, et même une vengeance, nous apparaissent d’abord comme des entités qui se suffisent; s’entourer d’un corps défini, comme celui d’une divinité vigilante et vengeresse, est déjà pour elles un luxe ; la fonction fabulatrice de l’esprit ne s’exerce sans doute avec un plaisir d’art que sur des représentations ainsi vêtues, mais elle ne les forme pas du premier coup; elle les prend d’abord toutes nues. – DS 1081 | 130 | 98 276 neutralisation de l’idée par l’image – opposer l’intelligence à l’intelligence – DS 1086, 1084 | 134, 137 | 103, 101 277 Vgl. Anm. 197.

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blick auf die Evolution des Lebendigen geklärt: Die Evolution des Lebendigen ist die Artikulation des Lebens. Aber das Leben kann sich nicht mit einem Schlag in die drei Formen Pflanze, Tier und Mensch zerlegen, weil es kein Autohersteller ist, der seinem Kunden einen Katalog der verfügbaren Modelle zeigt. Das Leben verfügt anfangs über keine Modelle. Es kann nicht wissen und nicht vorhersehen, was in ihm steckt. Es kann nur dies: Wenn ein Teil der Lebewesen immer stärker die Sesshaftigkeit ausbildet, kann es andere Lebewesen dazu bringen, ihre Bewegungsmöglichkeiten auszubauen. Und wenn ein Teil der Lebewesen auf Angepasstheit setzt, kann es andere dazu bringen, es mit Unangepasstheit zu versuchen. Gleiches gilt für die innere Erfahrung: Das Leben weiß anfangs nichts davon, dass so etwas wie eine fabulatorische Funktion möglich ist. Diese Möglichkeit zeigt sich erst in dem Moment, in dem das Leben nach einem Mittel sucht, die Negation des sozialen Instinkts durch die Intelligenz ihrerseits zu negieren. Zweiter Riss: Aber damit ist die Geschichte des Widerstreits zwischen sozialem Instinkt und egoistischer Intelligenz noch nicht zu Ende. Indem die Natur (Pseudo-)Wahrnehmungen gegen Wahrnehmungen und (Phantasie-)Bilder gegen Gedanken setzt, bringt sie, so hatten wir formuliert, die Intelligenz in Widerstreit mit sich selbst. Sie bewirkt einen Riss, der mitten durch die Intelligenz geht, der aber wiederum im Handeln sichtbar wird: »Hält man sich vor Augen, was die Religionen waren und was gewisse Religionen heute noch sind, so ist das sehr demütigend für die menschliche Intelligenz. Welch ein Gestrüpp von Verirrungen! Mag die Erfahrung auch sagen: ›Das ist falsch‹, und die Vernunft: ›Das ist absurd‹ – die Menschheit klammert sich darum nur noch mehr an die Absurdität und den Irrtum. Und wenn es noch dabei bliebe! Aber man hat die Religion die Unmoral vorschreiben und Verbrechen gebieten sehen. Je roher sie ist, einen desto größeren Raum nimmt sie materiell im Leben eines Volkes ein. […] Das muss einen wohl überraschen, da man den Menschen ja zunächst als ein intelligentes Wesen definiert hat.« 278 Le spectacle de ce que furent les religions, et de ce que certaines sont encore, est bien humiliant pour l’intelligence humaine. Quel tissu d’aberrations ! L’expérience a beau dire « c’est faux » et le raisonnement « c’est absurde », l’humanité ne s’en cramponne que davantage à l’absurdité et à l’erreur. Encore si elle s’en tenait là ! Mais on a vu la religion prescrire l’immoralité, imposer des crimes. Plus elle est grossière, plus elle tient matériellement de place dans la vie d’un peuple. […] Il y a là de quoi surprendre, quand on a commencé par définir l’homme un être intelligent. – DS 1061 | 105 | 80 278

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Damit scheint die Intelligenz besiegt am Boden zu liegen. Wie ein Kuckucksei hat ihr die Natur jene Phantasmen ins Nest gelegt, durch die sie sich hat irritieren und von denen der Mensch sich prompt in seinem Handeln hat leiten lassen. Und nun steht die Natur dabei, um das Resultat zu betrachten und höhnisch zu kommentieren: Ein intelligentes Wesen soll dieser Mensch sein? Von der Intelligenz geleitet bei allen seinen Handlungen? Nun denn, man sehe ihn sich an! Körperliche und geistige Verstümmelungen fügt er sich zu! Vor absurdesten Praktiken bis hin zu Menschenopfern schreckt er nicht zurück! Und führt er nicht sogar Krieg im Namen der Religion? Nur: Spätestens in dem Moment, in dem dies Äußerste geschieht, trifft die spöttische Anklage auch die Natur selbst. Hatte sie denn nicht die religiösen Phantasmen geschaffen, um den Zusammenhalt der Individuen zu stärken? Und kann man behaupten, dass die Erfindung der fabulatorischen Funktion eine Erfolgsgeschichte ist, wenn man nun feststellen muss, dass Menschen im Namen der Religion Krieg führen? Gewiss, von einem ebenso bornierten wie zynischen Standpunkt aus könnte man argumentieren, auf diese Weise sei immerhin aus dem Kampf innerhalb der Gruppe ein Kampf mit anderen Gruppen geworden. Aber war das das angestrebte Ziel? Und was wird nun aus dem Menschen, wenn Natur und Intelligenz, jeweils in sich und untereinander zerstritten, unfähig sind, das Handeln zu leiten? Zweites dynamisches Unbewusstes: Die Ressourcen, über die der Mensch verfügt, sind damit nicht erschöpft. In der Gegenreaktion gegen die erste Gegenreaktion wird eine weitere Kraft sichtbar, die als handlungsleitende Instanz in Betracht kommt. Wenn der Versuch, den einzelnen Menschen an das soziale Leben zu binden, indem man ihm »Geschichten erzählt«, Geschichten »ähnlich denen, womit man die Kinder einschläfert« 279, – wenn also dieser Versuch zu ganz anderen als den gewünschten Ergebnissen führt, warum dann nicht versuchen, den Menschen aufzuwecken und ihm zu zeigen, was es bedeutet, ein wahrhaft menschliches Leben zu leben? Aber auf welche Weise ist das möglich? Die Analysen in Les deux sources de la morale et de la religion laufen darauf hinaus, dass einige wenige außergewöhnliche Persön279 La religion statique attache l’homme à la vie, et par conséquent l’individu à la société, en lui racontant des histoires comparables à celles dont on berce les enfants. – DS 1154 | 223 | 164

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lichkeiten die dem Menschen vertrauten Lebensformen hinter sich lassen und wie Abenteurer aufbrechen, um unbekannte Bereiche des Lebens zu erkunden. Nun betrifft dies freilich nur eine verschwindend geringe Minderheit der Menschen. Überdies kann man nach Bergsons Ansicht nicht beschließen, ein solcher Mensch zu sein. Man ist es oder man ist es nicht. Und so wäre denn diese Möglichkeit, gleichsam mit dem »Leben an sich« in Kontakt zu treten, für unsere gegenwärtigen Überlegungen, die ja um Risse in der gewöhnlichen Erfahrung kreisen, unerheblich, verhielte es sich nicht so, dass die wenigen Menschen, denen das gelingt, für die vielen anderen, denen es nicht möglich ist, zu Vermittlern werden können. Der Kontakt mit neuen, zuvor unbekannten Aspekten des Lebens verändert die Persönlichkeit dieser Abenteurer, und zwar in dem Sinne, dass zuvor unbewusste Bereiche dem Bewusstsein zugänglich werden und der Mensch dadurch dem Ideal des ganzen, nicht fragmentierten Menschen näher kommt. Und die Ausstrahlung einer solchen Persönlichkeit kann als Beeindruckt-Sein, als Bewunderung, als Sich-angesprochen-Fühlen, als Wunsch, dieser Persönlichkeit nachzueifern, in die gewöhnliche Erfahrung gewöhnlicher Menschen einbrechen. 280 Damit wird eine ganz neue Dimension sichtbar, bei der allerdings vorerst völlig unklar ist, in welchem Verhältnis sie zu jenen Instanzen steht, an denen sich das Handeln und das Denken zuvor orientiert hatten. Die »großen moralischen Persönlichkeiten«, die Abenteurer im Reich des Lebens, lehren nicht. Oder wenn sie Lehren aussprechen, dann ist das jedenfalls nicht das Entscheidende. Sie beeindrucken und wirken durch ihre Gesamtpersönlichkeit: »Ihre Existenz ist ein Appell« 281 Dadurch treten sie zwar in Gegensatz zu den herrschenden Gewohnheiten, Konventionen und Traditionen, aber nicht in der Weise, dass sie die üblichen Handlungsweisen durch neue ersetzten, sondern dadurch, dass sie eine ganz andere Seite des Lebens als die wesentliche erscheinen lassen: Was bedeutet es, ein ganzer Mensch zu sein? Was bedeutet es, ein gelungenes menschliches Leben zu leben? Nur: Wenn diese persönliche Dimension in der Tat die entscheidende ist, welche Konsequenzen hat das dann für die Dimension der allgemeinen Denk- und Handlungsmuster? Soll es gar keine mehr geben, oder sind sie beliebig? Die großen Persönlichkeiten schaffen auch keine Phantasie280 281

Vgl. dazu Abschnitt 6.2.4.3, S. 810. […] leur existence est un appel. – DS 1003 | 30 | 27

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bilder. Oder wenn sie es tun, dann ist auch dies nicht das Entscheidende. Das Entscheidende ist, dass sie durch ihre Lebensform und ihr konkretes Handeln Beispiele liefern, an denen sich ablesen lässt, was es bedeutet, ein gelungenes menschliches Leben zu führen. Nur: Was bedeutet das für die Phantasiebilder? Muss man sich – wie die Aufklärung empfahl – mit aller Kraft um ihre Ausrottung bemühen? Oder gehören sie – wie die Romantik meinte – in gewissem Sinn und innerhalb gewisser Grenzen zum menschlichen Leben? Man sieht: Der auf das Ideal des ganzen, nicht fragmentierten Menschen gerichtete Appell ist weder eine »Lösung« in dem Sinne, dass die alten Mächte entmachtet und die alten Kämpfe ausgekämpft wären, noch ist er eine »Synthese« in dem Sinne, dass den verschiedenartigen, ja widersprüchlichen Dimensionen der menschlichen Welt- und Selbsterfahrung schon ihre Stelle in fertigen, alles umfassenden Ganzen zugewiesen wäre. Festhalten können wir vorerst lediglich: Dass die Begegnung mit einer außergewöhnlichen Persönlichkeit als Appell erlebt wird, ist nicht nur der Ausstrahlung der Persönlichkeit zu verdanken, sondern dem Zusammentreffen dieser Ausstrahlung mit einem menschlichen Unbewussten, d. h. mit nicht realisierten Lebenstendenzen, die sich angesprochen fühlen, insofern sie bei jener Persönlichkeit nicht ausgegrenzt sind, und die nun ihre Chance wittern. Wenn es jenem Menschen gelungen ist, derartige Tendenzen in die lebbare Persönlichkeit zu integrieren, warum sollte es nicht auch anderen Menschen gelingen? Und weil das keine bloß theoretische Frage ist, sondern die vernachlässigten oder verdrängten Tendenzen diese Erfahrung als reale Gelegenheit zum Auf- und Ausbruch auffassen, werden sie aktiv. Angespornt durch das Vorbild, setzen sie sich gemeinsam in Bewegung und bilden so das zweite dynamische Unbewusste. Anders als das erste dynamische Unbewusste – die fabulatorische Funktion – arbeitet es nicht darauf hin, den Menschen zu täuschen, sondern darauf, ihn über sich selbst aufzuklären. Anders als jenes dynamische Unbewusste, das sich in den Ausbrüchen des Tiefen-Ich zeigt, wirkt es eher integrativ als destruktiv. Gleichwohl: Vorerst hat die Zahl der Risse in der menschlichen Welt- und Selbsterfahrung nicht ab-, sondern zugenommen.

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Jeder seines Namens würdige, d. h. jeder produktive Philosoph, so hatten wir von Bergson gehört 1, hat sich sein ganzes Leben lang nur um eine einzige Sache bemüht. Nun hat es gewiss Philosophen gegeben, die dieser Beschreibung mit Skepsis begegneten, weil sie aus ihr das Versprechen einer Konsistenz heraushörten, die sie in der Erfahrung ihres eigenen, von Umwegen und Sackgassen, vom Erproben bald dieser, bald jener Methode geprägten Denkens nicht zu entdecken vermochten. 2 Ich bin der Ansicht, dass diese Skepsis unbegründet ist, weil Bergson die Konsistenz eines Denkwegs nicht so naiv denkt, wie man unterstellt hat, und ich habe genau deshalb im ersten Kapitel das wiederholte Scheitern und Neu-Ansetzen des Philosophen beim Versuch der sprachlichen Formulierung seiner Intention, im zweiten Kapitel dann die Brüche und Einbrüche innerhalb der Erfahrung hervorgehoben. Aber nicht diese Frage soll hier im Mittelpunkt stehen. Wie immer sie nämlich zu beantworten sein mag – man wird annehmen dürfen, dass es jedenfalls einen Philosophen gibt, der seinen eigenen Denkweg als permanente Bemühung um eine einzige Sache verstanden hat. Denn es wäre doch zu merkwürdig, wenn Bergson dieses Muster als hilfreich für das Verständnis

Vgl. Kap. 1, Anm. 81. So etwa der junge Paul Ricœur: »Damit das Leben die Einheit einer Melodie haben könnte, müsste wirklich jede Note die vorhergehenden aufbewahren und die nachfolgenden hervorbringen. Nun ist es freilich häufiger Kakophonie als Melodie, und zwar mangels einer einheitlichen Intention, die es – wie das Thema einer Improvisation – von Anfang bis Ende belebte.« – Ricœur[2009] 566 – Ähnlich äußert sich Gérard Namer im Nachwort zu Maurice Halbwachs’ Les cadres sociaux de la mémoire: »Wenn man Bergson glaubt, dann hat ein großer Philosoph in seinem Leben immer nur eine einzige Sache sagen wollen. Wir halten das Gegenteil für richtig, und wir glauben, dass Halbwachs ein Klassiker für unsere Zeit ist, weil er seinen Weg nur durch vielfache Umwege findet.« – Halbwachs[1994] 299 f.

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anderer Philosophen empfohlen, seinen eigenen Denkweg aber ganz anders gesehen hätte. Welches also ist die Sache, um die Bergson sich ein ganzes Leben lang bemüht hat? In welche Richtung weist die Intuition, der er sein ganzes Leben lang gefolgt ist? In der Tat ist es an der Zeit, diese Frage zu stellen. Wir haben gleichsam das Anwesen Bergsons durch einen Seiteneingang betreten. Das hatte Vorteile, insofern wir auf diese Weise Bereiche gesehen haben, die andere Besucher nur selten entdecken. Aber wenn wir mit dem Hausherrn selbst sprechen und uns mit anderen Besuchern über ihre Erfahrungen unterhalten wollen, dann werden wir den Haupteingang benutzen müssen. Wir sind von der These ausgegangen, Bergsons Philosophie weise einen hermeneutischen Charakter auf. Wir haben zunächst das Konzept der Text-, dann das der Handlungshermeneutik erprobt, und wir haben in beiden Fällen die Erfahrung gemacht, dass Bergsons Texte antworten, wenn wir sie auf entsprechende Elemente befragen. Dieses Verfahren war geeignet, das Vertrauen in unsere These zu stärken und zumindest einige Grundlagen zu schaffen für die Beantwortung der Frage, was der Begriff »Hermeneutik« im Zusammenhang mit Bergsons Denken bedeuten soll. Dieses Verfahren hat aber den Nachteil, dass es sich auf den Standpunkt der Hermeneutik stellt, auf ihm stehen bleibt und von diesem Standpunkt aus Fragen an Bergson richtet. Es ist ein wenig so, als ob Freud seine Patienten immer nur gefragt hätte, ob sie denn nicht dieses oder jenes geträumt haben, statt sie einfach erzählen zu lassen. Man bekommt auf diese Weise oft interessante Antworten, aber die Antworten sind immer isolierte Fragmente. Wir könnten noch beliebig viele andere Formen der Hermeneutik betrachten, aber selbst wenn Bergsons Texte weiterhin auf alle Anfragen antworten, wenn wir das Gesuchte stets wirklich finden würden, so könnten wir doch nie die Frage beantworten, ob alle diese Aspekte des Hermeneutischen nur Randphänomene innerhalb von Bergsons Philosophie sind oder ob seine Philosophie in ihrem Kern hermeneutisch ist. Um diese Frage in Angriff nehmen zu können, müssen wir, ohne das bisher Geklärte aus den Augen zu verlieren, unseren Standort aus dem Bereich der Hermeneutik in denjenigen von Bergsons Philosophie verlegen. Genauer – denn wie Bergsons Philosophie zu verstehen ist, wissen wir ja noch nicht –: Wir müssen uns auf das Selbstverständnis Bergsons und auf das Bergson-Verständnis der wichtigsten Interpreten einlassen. 298 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

Bergsons Intuition

Die Leitfrage dieses sowie – aus gleich zu erläuternden Gründen – des folgenden Kapitels lautet also: Wie ergeht es unserer These vom hermeneutischen Charakter der Philosophie Bergsons, wenn wir sie mit der Sache konfrontieren, um die es Bergson nach seinem eigenen sowie nach dem Verständnis der meisten Interpreten ging? Was geschieht, wenn wir unsere Intuition auf Bergsons eigene Intuition treffen lassen?

3.1 Bergsons Intuition Wer sich auf die Suche nach Bergsons Intuition macht, der wird sehr schnell fündig. Man kann eine beliebige Publikation über Bergson aufschlagen, und man wird unweigerlich alsbald die folgenden Sätze aus einem Brief an den dänischen Philosophen Harald Høffding zitiert finden: »Meiner Meinung nach wird jede Zusammenfassung meiner Ansichten sie in ihrer Gesamtheit verunstalten und sie – eben deshalb – einer Vielzahl von Einwänden aussetzen, wenn sie nicht anfängt bei und unentwegt zurückkehrt zu dem Punkt, den ich als den Mittelpunkt meiner Lehre betrachte: die Intuition der Dauer. Die Vorstellung einer durch ›gegenseitige Durchdringung‹ gekennzeichneten Mannigfaltigkeit – gänzlich verschieden von der numerischen Mannigfaltigkeit –, die Vorstellung einer heterogenen, qualitativen und schöpferischen Dauer, ist der Punkt, von dem ich ausgegangen und zu dem ich immer wieder zurückgekehrt bin.« 3

Komfortabler kann man es als Interpret nicht mehr haben. Bergson spricht hier von der Sache, um die es ihm geht, er benennt sie (als »Dauer«), und er beschreibt sein Verhältnis zu dieser Sache in genau der Weise, die wir erwarten: Er sei von diesem Punkt ausgegangen und immer wieder zu ihm zurückgekehrt. Allerdings erscheint die Situation nur so lange als komfortabel, die Aufgabe nur so lange als leicht lösbar, bis man sich daran erinnert, dass Bergson der Bemerkung, jeder Philosoph habe sein ganzes Leben A mon avis, tout résumé de mes vues les déformera dans leur ensemble et les exposera, par là même, à une foule d’objections, s’il ne se place pas de prime abord et s’il ne revient pas sans cesse à ce que je considère comme le centre même de la doctrine : l’intuition de la durée. La représentation d’une multiplicité de « pénétration réciproque », toute différente de la multiplicité numérique, – la représentation d’une durée hétérogène, qualitative, créatrice, – est le point d’où je suis parti et où je suis constamment revenu. – Høffding[1916] 160 = Mél. 1148

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lang nur über eine einzige Sache gesprochen, noch einige weitere, ergänzende Bemerkungen hinzugefügt hatte. Da gab es zunächst ein teils präzisierendes, teils einschränkendes »oder vielmehr«: Der Philosoph habe eher versucht, die Sache auszusprechen, als dass er sie wirklich ausgesprochen habe. Das verweist auf den Rhythmus von Versuch, Scheitern und Neubeginn, der den Denkweg des Philosophen prägt, sowie auf die Bilanz, dass es dem Philosophen niemals gelungen ist, seine Intuition abschließend zu formulieren. 4 Und dann hatte Bergson hinzugefügt, wenn es schon dem Philosophen selbst nicht gelungen sei, eine adäquate Formulierung für seine Intuition zu finden, dann dürften wir – die Leser und Interpreten – erst recht nicht hoffen, dass es uns gelinge. 5 Was folgt aus diesen Einschränkungen für unseren Versuch, Bergsons Intuition zu erfassen? Es folgt wohl nicht, dass wir diesen Versuch als illusorisch aufzugeben haben. Nichts von dem, was wir in Kapitel 1 erörtert haben, deutet darauf hin, dass dies Bergsons Empfehlung wäre. Es folgt daraus aber doch wohl, dass wir uns nicht wundern müssen, wenn wir – beim Philosophen selbst und bei seinen Interpreten – verschiedene, konkurrierende Formulierungen finden, die gleichermaßen den Anspruch erheben, den Gehalt der Intuition auszusprechen, und es folgt doch wohl auch, dass wir gut daran tun, diese Formulierungen – und zwar die des Philosophen selbst nicht minder als die seiner Interpreten – mit einem gewissen Vorbehalt zu betrachten, statt sie einfach für bare Münze zu nehmen. Ich möchte an einem Beispiel erläutern, warum mir dieser Punkt wichtig zu sein scheint. Für Frédéric Worms besteht Bergsons Intuition im Erfassen des fundamentalen Unterschieds zwischen dem Raum (espace) und der Dauer (durée). Dieses Erfassen ist gewiss zunächst einmal eine »ursprüngliche Einsicht« – wenn man will: so etwas wie eine »Erleuchtung« –, aber weit davon entfernt, die Antwort auf alle Fragen zu liefern, markiert es vielmehr den Anfang aller Probleme: »Noch kaum in seiner ganzen Tragweite formuliert, erscheint die Unterscheidung zwischen Raum und Dauer auch schon als Problem, als das zentrale Problem des gesamten Werkes Bergsons, oder auch als ein Abstand, ein Abstand, sozusagen, zwischen dieser Unterscheidung oder dieser Intui-

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Vgl. Kap. 1, Anm. 81 und 52. Vgl. Kap. 1, Anm. 45.

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Bergsons Intuition

tion (dieser Intuition-Unterscheidung), und ihrem eigentlichen Sinn, ein Abstand, in dem sich das gesamte Werk Bergsons ansiedeln wird.« 6

Man sieht, was hier anders ist als in der zitierten Passage aus Bergsons Brief an Harald Høffding: Wie Bergson, so spricht auch Worms von der Dauer, aber er spricht nicht nur von ihr, sondern auch vom Raum. Das tut er nicht gegen, sondern durchaus mit Bergson, denn auch dieser spricht in seinen Werken vom Raum mindestens so oft wie von der Dauer. Nur eben: Wenn Bergson sich veranlasst sah, den Kern seiner Philosophie in zwei oder drei Sätzen zusammenzufassen, dann neigte er dazu, den Raum auszuklammern und die Entdeckung der Dauer als seine wichtigste Errungenschaft darzustellen. Worms dagegen verschiebt den Akzent von der Dauer – also einem Glied des Gegensatzes – auf die Unterscheidung von Dauer und Raum – also auf den Gegensatz als solchen. Damit steht der Raum der Dauer gleichwertig gegenüber, und das Gegensatzverhältnis wird zum eigentlichen Gehalt der Intuition: Aus der bloßen intuition wird eine intuition-distinction. Wenn Worms einige Seiten später auf dieses Konzept zurückkommt und erläutert, der Gegensatz von Raum und Dauer führe dazu, dass unsere Erfahrung der Welt und des Selbst eine Mischung (mélange), die darin gegebenen Phänomene gemischte (mixtes) seien 7, dann wird deutlich, dass er mit seinem Ansatz nicht allein steht. Gilles Deleuze hatte schon 40 Jahre vor Worms die Ansicht vertreten, für Bergson stellten sich alle Erfahrungsphänomene als gemischte Phänomene (mixtes) dar und seine »Teilungsmethode« bestehe darin, die Mischungen in ihre natürlichen Bestandteile zu zerlegen und von diesen her verständlich zu machen. 8 Ich möchte noch weiter gehen: Die ganze neuere Bergson-Forschung basiert auf dem Grundsatz, dass Bergson nicht den Raum verabschieden und die Dauer propagieren, sondern den Unterschied, aber auch den Zusammenhang zwischen beiden klären will. Sie unterscheidet sich dadurch wesentlich von der traditionellen Bergson-Forschung, die annahm, man könne Bergsons Philosophie allein vom Begriff der Dauer her verstehen. Die traditionelle – sagen wir pauschal: in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts anzusiedelnde – Bergson-Forschung konzentrierte sich einseitig auf den Begriff der Dauer sowie das von Bergson pro6 7 8

Worms[2004a] 13 Worms[2004a] 49 Vgl. Kap. 2, Anm. 208.

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pagierte intuitive Erfassen der Dauer, und sie geriet damit unweigerlich auf eine schiefe Bahn, die letztlich immer bei irgendeinem Intuitivismus und Irrationalismus endete. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dagegen ging man davon aus, dass es nur dann gelingen kann, Bergsons Denken für die eigene Zeit fruchtbar zu machen, wenn man sein Denken des Gegensatzes, d. h. einer Unterscheidung, durch die etwas getrennt wird, was gleichwohl in Verbindung bleiben muss, in den Mittelpunkt stellt: sein Denken des Gegensatzes von Raum und Dauer, von Wissenschaft und Kunst, von Tradition und Innovation, von Sprache und Intuition. 9 Als ich im ersten Kapitel schrieb, meine These vom hermeneutischen Charakter der Philosophie Bergsons sei nur für Leser plausibel, die davon überzeugt sind, dass Bergson Sprache und Tradition nicht abwertet, sondern für die – wenn auch schwierigen – Partner der Intuition hält 10, da habe ich im Grunde nur gesagt: Auch diese Untersuchung steht auf dem Boden der These, dass Bergsons Denken sich nicht auf die eine oder die andere Seite schlägt, sondern sich im Zwischen (im écart) ansiedelt, dass es nicht auf das Gegeneinander, sondern auf das Miteinander abzielt. Der problematische Status der Formulierungen, in denen der Gehalt einer philosophischen Intuition vom Philosophen selbst oder von seinen Interpreten ausgedrückt wird, ist also deshalb wichtig, weil es nicht gleichgültig ist, mit welchen Worten man eine Intuition formuliert. Mit der Entscheidung für diese oder jene Formulierung entscheidet man bereits über das ganze weitere Schicksal der Interpretation und oft auch über dasjenige der Philosophie, die man interpretiert. Nun ist es freilich eine Sache, im Allgemeinen auf einen derartigen Zusammenhang hinzuweisen, und eine ganz andere Sache, im konkreten Fall die Wahl, die man getroffen hat, überzeugend zu begründen. Im Falle Bergsons etwa könnte man argwöhnen, dass die neueren Interpreten eine von Bergson nicht gewollte Akzentverschiebung vorgenommen haben, um diesen Philosophen in ein günstigeres Licht zu rücken. Und im Hinblick auf die gegenwärtige Untersuchung könnte man befürchten, dass Bergsons Intuition gezielt in einer Weise formuliert wird, die es später möglich macht, sie mit der

Vgl. dazu Abschnitt 3.2.2, S. 315, wo ich zeigen werde, dass »Raum« bei Bergson nicht nur den Raum im mathematischen oder physikalischen Sinne bezeichnet, sondern eine allgemeine symbolische Form, gemäß der auch die Welt der menschlichen Sprache oder der menschlichen Verhaltensmuster strukturiert ist. 10 Vgl. S. 89. 9

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Bergsons Intuition

These vom hermeneutischen Charakter seiner Philosophie in Einklang zu bringen. Gegen solchen Argwohn hilft nur die Lektüre der Texte. Frédéric Worms hat gezeigt, wie Bergsons Denkweg verständlich wird, wenn man ihn als eine Folge von Versuchen auffasst, das Problem des Verhältnisses von Raum und Dauer zuerst einmal richtig zu stellen und dann zu lösen. Ich selbst habe im ersten Kapitel von Worms nicht berücksichtigte Texte vorgestellt, deren Lektüre zu dem Ergebnis führte, dass Bergson das sprachliche bzw. gedankliche Material und die persönliche Intuition zwar als inkommensurabel, die sprachliche Arbeit an der Intuition aber gleichwohl als unverzichtbar betrachtet. Das ist deshalb bemerkenswert, weil Worms auch nicht von ferne daran denkt, Bergsons Philosophie einen hermeneutischen Charakter zuzuschreiben. Gleichwohl führen seine und unsere, von einer ganz anderen Frage ausgehende und – jedenfalls bisher – auf ganz anderen Texten basierende Analysen zu dem gleichen Ergebnis: Bergsons zentrales Problem ist die Unterscheidung, aber auch die trotz der Trennung notwendige Verschränkung von Raum und Dauer, Tradition und Innovation, Sprache und Intuition. Das ist kein Beweis, wohl aber ein bedeutsames Indiz. Gehen wir noch auf eine letzte Vorfrage ein. Bergson, so könnte man meine Argumentation vom Anfang dieses Abschnitts aufnehmen und fortsetzen, hat nicht nur den Philosophen charakterisiert als jemanden, der sein ganzes Leben lang – wenn auch ohne abschließenden Erfolg – über eine einzige Sache spricht, und den interpretierenden Leser als jemanden, der – ebenfalls ohne endgültige Klarheit – der Intuition des Philosophen folgt. Er hat noch eine weitere Bemerkung hinzugefügt, nämlich diese: Die Intuition sei »etwas Einfaches, etwas unendlich Einfaches, etwas außerordentlich Einfaches«. 11 Ist nun der Gedanke einer intuition-distinction, einer Intuition, die zugleich Unterscheidung ist, mit dieser von Bergson betonten Einfachheit zu vereinbaren? Darauf ist zunächst allgemein zu sagen, dass Bergson zwar stets die Einfachheit und Unteilbarkeit der Intuition oder des Sinns betont hat, und zwar gegenüber allen Versuchen, diese als aus Teilen sukzessive sich zusammensetzend zu denken, dass er aber andererseits auch immer wieder auf deren interne Vielfalt hingewiesen hat. Eine Intuition, ein Sinn, ein Gedanke bietet »ein wechselseitiges Ineinander von Elementen dar, von denen man nicht sagen 11

Vgl. Kap. 1, Anm. 52.

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kann, ob sie eine Einheit oder eine Mehrheit seien«. Es handelt sich dabei um »eine Kontinuität, und in jeder Kontinuität ist Verwirrung«. 12 Man darf also Einfachheit nicht mit Einförmigkeit oder Eintönigkeit verwechseln. Die Einfachheit der Intuition lässt durchaus von Anfang an gegebene interne Spannungen zu. Wie und warum sollte sie sich sonst entfalten? Sodann aber gibt mir die Frage Gelegenheit, noch einmal auf einige Bilder hinzuweisen, die nicht nur diesen Umstand illustrieren, sondern überhaupt eine starke Stütze für die These bilden, dass Bergsons Intuition als intuition-distinction zu deuten sei. Sie zeigen nämlich, dass Bergson selbst solche komplexen Gebilde kannte und mit ihnen hantierte. Erinnern wir uns: Die idée directrice, die conception poétique de l’univers, die Bergson bei Lukrez findet, ist geprägt durch den Gegensatz von strengem Determinismus und menschlichem Streben – einem unvereinbaren, gleichwohl in der menschlichen Erfahrung vereinten Gegensatz. 13 Das vermittelnde Bild, das er aus Berkeleys Philosophie herausliest, ist charakterisiert durch die Ambivalenz der Dinge, die einerseits als materielle Dinge im Raum, andererseits aber gleichsam als Worte einer Sprache Gottes aufzufassen sind. 14 Und solche komplexen, spannungsgeladenen Leitbilder entdeckt Bergson nicht nur bei anderen Philosophen. Er verwendet sie auch selbst. Man lese etwa die Charakterisierung des Lächerlichen: du mécanique plaqué sur du vivant, »Mechanisches als Kruste über Lebendigem« 15, und zwar so, dass Mechanisches und Lebendiges in einem konkreten Menschen gemeinsam auftreten, aber doch als Widerspruch erscheinen. Indem ich mich vom Konzept der intuition-distinction leiten lasse, werde ich nachfolgend die beiden Elemente des Gegensatzes näher betrachten. Zunächst werde ich den Raum untersuchen (Kapitel 3), danach die Dauer (Kapitel 4). Trotz der Aufteilung auf zwei Kapitel wird der Zusammenhang beider Elemente ebenso im Blick bleiben wie die Leitfrage: Wie ergeht es der These vom hermeneutischen Charakter der Philosophie Bergsons, wenn wir uns auf sein Nachdenken über Raum, Dauer und das durch den Abstand wie durch den Zusammenhang beider Pole geschaffene Zwischen einlassen? 12 13 14 15

Vgl. Kap. 1, Anm. 55. Vgl. Kap. 1, Anm. 40. Vgl. Kap. 1, Anm. 108. R 405 | 29 | 29

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Bergsons Raumbegriff und seine Wandlungen

3.2 Bergsons Raumbegriff und seine Wandlungen Bergsons Denken hat sich im Verlauf mehrerer Jahrzehnte entwickelt. Diese Entwicklung hat nicht nur zu immer größerer Präzision und Detailliertheit geführt, sondern war auch mit Akzentverschiebungen und Korrekturen verbunden. Wenn wir nun – wie im vorigen Abschnitt unter Rückgriff auf Frédéric Worms formuliert – davon ausgehen, dass das Verhältnis von Raum und Dauer Bergsons Kernproblem darstellt und dass sein gesamtes Werk aus immer neuen Versuchen, dieses Verhältnis angemessen zu beschreiben, besteht, dann haben wir Grund zu der Annahme, dass die Begriffe des Raumes und der Dauer in besonderem Maße von Akzentverschiebungen und Korrekturen betroffen waren. In der Tat besteht nicht nur über das Dass, sondern auch über das Wie der Entwicklung dieser Konzepte so weitgehende Einigkeit unter den Bergson-Interpreten, dass wir uns hier große interpretatorische Anstrengungen ersparen können. Im Hinblick auf den in diesem Kapitel interessierenden Begriff des Raumes lässt sich der Konsens in einem ersten, schematischen Überblick so zusammenfassen: • Bergson führt den Begriff des Raumes im zweiten Kapitel des Essai sur les données immédiates de la conscience (1889) ein. Dieses Kapitel entfaltet eine Mannigfaltigkeitslehre, genauer: eine Theorie der Mannigfaltigkeiten. Der Raum ist nach seiner Auffassung die Form eines Typs, die Dauer die Form eines anderen Typs von Mannigfaltigkeit. In diesem Text wird der Raum weitgehend als – gleichsam frei schwebende – Form von Mannigfaltigkeit betrachtet. Bergsons Interesse ist in erster Linie darauf gerichtet, die formalen Strukturen einer derartigen Mannigfaltigkeit herauszuarbeiten. • Das ändert sich mit Matière et mémoire (1896), wo der Raum seinen »Sitz im Leben« erhält. Der Raum ist die Form, in der die Intelligenz Wirklichkeit erfasst, und die Intelligenz ist diejenige Gestalt des Bewusstseins, deren Aufgabe darin besteht, dem Menschen das Handeln innerhalb der Wirklichkeit, und insbesondere das Bearbeiten der materiellen Dinge mithilfe selbstgeschaffener Werkzeuge zu ermöglichen. 16 Der Raum ist demnach diejenige symbolische Form, in der der handelnde und herstellende Mensch (homo faber) die Wirklichkeit repräsentiert 16

Vgl. Abschnitt 2.3.1.4, S. 263.

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und manipuliert. Die Strukturen des Raumes sind geprägt durch die Notwendigkeiten des Hantierens mit materiellen Dingen. • Die Weiterentwicklung dieses Ansatzes in L’évolution créatrice (1907) führt zu einer – mindestens teilweisen – Rehabilitation des Raumes. Tendierte Bergson 1889 noch dazu, die Projektion der erfahrenen Wirklichkeit in den Raum als eine Verformung und Verfälschung aufzufassen, so kommt er nun zu dem Schluss: Die Vorstellung einer räumlichen Welt muss etwas Wahres enthalten, weil im gegenteiligen Fall unverständlich wäre, wie erfolgreiches Handeln in der Welt möglich ist. Ich möchte nun auf einige Aspekte dieser Entwicklung etwas näher eingehen (Abschnitte 3.2.1 bis 3.2.4). Dabei werden schon einige Indizien zum Vorschein kommen, die auf eine hermeneutischen Relevanz des Raumkonzepts hindeuten. Deshalb sollen anschließend einige Figuren des Hermeneutischen untersucht werden, die dem Raum zuzuordnen sind (Abschnitt 3.3).

3.2.1 Der Raum und die Welt der Dinge Beginnen wir also – wie Bergson selbst – mit dem Gesichtspunkt einer Mannigfaltigkeitslehre. Im zweiten Kapitel des Essai sur les données immédiates de la conscience besteht Bergsons Ziel darin, zwei Formen der Mannigfaltigkeit zu unterscheiden, deren eine auf dem Raum, die andere auf der Dauer basiert. Nun ist die Erörterung der auf dem Raum basierenden Mannigfaltigkeit einerseits vergleichsweise einfach. Während nämlich – wie man jedenfalls gemeinhin annimmt 17 – Bergson beim zweiten Mannigfaltigkeitstypus von Kant ausgeht, Kants Konzept der Zeit verwirft und eben deshalb genötigt ist, das Gegenkonzept der Dauer auszuarbeiten, bleibt Bergson im Hinblick auf den Raum sehr viel näher bei Kant. Andererseits aber sind Bruchlinien und Absetzbewegungen auch hier deutlich erkennbar, und es ist notwendig, diese zunächst zu markieren, um deutlich zu machen, was für ein Raum das ist, der die Vorstellung einer diskreten Mannigfaltigkeit ermöglicht. Rückblickend kann man sagen, dass Kant zwei verschiedene Raumvorstellungen miteinander vermengt hat. Ausgangspunkt war für ihn das – oder jedenfalls: ein – Raumkonzept der Mathematik, das 17

Vgl. dazu meine Bemerkungen S. 437–439.

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Bergsons Raumbegriff und seine Wandlungen

zugleich mathematisch geprägten Naturwissenschaften wie der Physik oder der Astronomie zugrunde liegt. Diese Raumvorstellung aber machte er in der transzendentalen Ästhetik seiner Kritik der reinen Vernunft zur »Form aller Erscheinungen äußerer Sinne« 18, obwohl nicht nur seinen Kritikern, sondern auch ihm selbst bekannt war, dass es noch eine anders geartete Raumerfahrung gibt 19. Die Folge dieses Vorgehens war eine bei seinen Nachfolgern aufbrechende und über lange Zeit sich hinziehende Kontroverse über die Frage, ob der Raum wahrgenommen oder von der menschlichen Vernunft geschaffen wird. Bergson nimmt im Essai sur les données immédiates de la conscience Bezug auf diese Diskussion 20, und er entscheidet die Frage, indem er zwischen zwei Formen der Raumerfahrung unterscheidet. Der Mensch verfügt einerseits über eine ursprüngliche, ihm mit den Tieren gemeinsame »Wahrnehmung der Ausgedehntheit« (perception de l’étendue). Sie äußert sich als eine vom Körper ausgehende und auf ihn sich beziehende Differenzierung – oder, wie wir hinzufügen können, Artikulation –, die Orientierung durch Unterscheidung ermöglicht: oben – unten, vorne – hinten, rechts – links. Dieser Raum ist durch unterschiedliche Qualitäten strukturiert, folglich ein heterogener Raum. Der Mensch – und vermutlich nur der Mensch – verfügt aber außerdem über eine »Vorstellung des Raumes« (conception de l’espace). Diese Vorstellung ist auf eine »Leistung der Intelligenz« zurückzuführen, von der Bergson andeutet, dass sie geradezu »eine Art Reaktion gegen die Heterogenität« der Raumwahrnehmung sein könnte, und die jedenfalls einen homogenen Raum entwirft. Die beiden Raumerfahrungen sind durchaus nicht als Stufen einer Entwicklung aufzufassen. Es handelt sich vielmehr um zwei verschiedene Erfahrungsweisen. Ist dies geklärt, dann lässt sich feststellen: Der Raum, der die Basis für die diskrete Mannigfaltigkeit liefert, ist der von der Intelligenz entworfene homogene Raum. Das bedeutet, dass Bergsons Ansatz demjenigen von Kants transzendentaler Ästhetik so unähnlich nicht ist. Auch Bergsons Raum ist der Raum der Mathematik und KrV A 26 = B 42 Vgl. Kants Aufsatz »Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume« (Weischedel II, 991 ff., AA II, 375 ff.). 20 Die folgenden Ausführungen stützen sich auf DI 62–66 | 69–73 | 72–75 – Eine ausführliche Rekonstruktion der Kontroverse um den Status des Raumes liefert Pflug[1959] 52 ff. Eine Zusammenfassung der wichtigsten Aspekte von Bergsons Raumkonzept ist bei Worms[1994] und François[2008b] 17 ff. zu finden. 18 19

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der mathematisch verfahrenden Naturwissenschaften: leer, gleichförmig, bar jeglicher Qualitäten oder gar Qualitätsunterschiede, ein bloßes receptaculum für die Mannigfaltigkeit der Gegenstände. Und wie bei Kant ist dieser Raum zugleich derjenige, in dem sich die alltägliche menschliche Praxis bewegt. Gleichwohl deuten sich schon zu Beginn leichte Akzentverschiebungen an, die sich zu ernsthaften Differenzen auswachsen werden: Nicht die menschliche Praxis bewegt sich im mathematischen Raum, weil dieser nun einmal der einzig vernunftgemäße ist, sondern Mathematik und Naturwissenschaften basieren auf der Raumvorstellung des homo faber, weil sie aus dem Hantieren mit materiellen Dingen hervorgegangen und systematische Fortsetzungen des zunächst unsystematischen Herstellens von Dingen und Werkzeugen sind. Und die Erfahrung, die sich in diesem Raum abspielt, ist die Erfahrung des homo faber, die vielleicht nicht identisch ist mit der Erfahrung des ganzen Menschen. Wenn nun aber dieser mathematische Raum auch leer und qualitätslos ist, so heißt das doch nicht, dass er gänzlich strukturlos wäre. Der homogene Raum wird ja gerade nicht als simples Kontinuum gedacht, sondern als aus Punkten zusammengesetzt bzw. in Punkte zerlegbar. Daraus ergibt sich, dass Gegenstände im Raum bestimmte Bedingungen erfüllen müssen und dass die Mannigfaltigkeit der Dinge im Raum gewisse formale Strukturen aufweist. Regel 1: Ein bestimmter Raumpunkt kann zu einer bestimmten Zeit immer nur von einem Ding belegt werden. Es ist nicht möglich, dass sich zwei Dinge einen Punkt teilen. Daraus folgt, dass Dinge im Raum distinkt sein, d. h. klare Grenzen aufweisen und durch diese von anderen Dingen geschieden sein müssen. Dinge können als Teile größerer Einheiten oder eines umfassenden Ganzen – der materiellen Welt – gesehen werden, aber sie bleiben gleichwohl scharf voneinander getrennt: »Im Raum – und nur im Raum – gibt es eine klare Unterscheidung von Teilen, die einander äußerlich sind.« 21

Diese mathematische Herleitung lässt sich – wie durch Bergsons pragmatistischen Ansatz gefordert – durch eine andere, auf den Erfordernissen des Herstellens basierende ergänzen. Der Mensch, selbst ein eher kleines Lebewesen, kann nur überschaubare, und das heißt […] dans l’espace, et dans l’espace seulement, il y a distinction nette de parties extérieures les unes aux autres. – PM 1384 | 166 | 170

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eben auch: klar begrenzte Dinge handhaben. Mit Dingen, von denen man nicht wüsste, wo sie beginnen und wo sie enden, könnte er nicht umgehen. Solche Dinge gibt es also entweder gar nicht oder aber es gibt sie zwar, aber die Natur hat keinen Anlass gesehen, den Menschen mit Werkzeugen auszustatten, mit denen er diese für ihn völlig unnützen Dinge erfassen kann. Sollte ihm etwas begegnen, was den Eindruck erweckte, als könnten sich zwei Dinge im Raum doch so miteinander verbinden, dass man nicht mehr angeben kann, ob ein bestimmter Punkt diesem oder jenem Ding zuzuordnen ist – etwa eine Gaswolke, die sich mit der Luft vermischt –, dann greift das raumgebundene Denken sofort auf Regel 2 zurück, d. h. es zerlegt das fragwürdige Gebilde in kleinere Teile, die sich Regel 1 fügen. Regel 2: Die Punkte, aus denen der Raum »besteht«, weisen – im Gegensatz etwa zu den Teilen eines Mosaiks – keine Ausdehnung auf. Daraus folgt, dass zwischen zwei beliebigen Punkten immer noch ein weiterer eingeschoben werden kann. Jede beliebige Strecke, und demnach auch jedes Ding im Raum ist also beliebig oft teilbar: »Der Raum ist übrigens im Grunde nichts weiter als das Schema der unbegrenzten Teilbarkeit.« 22

Auch diese Regel lässt sich von den Anforderungen der menschlichen Praxis her verständlich machen: Der Mensch war von Anfang an – man denke an das Herstellen von Faustkeilen und vergleichbaren Werkzeugen – ein zerschlagendes Lebewesen, und das Zertrümmern ist bis heute eine seiner Hauptbeschäftigungen geblieben. Regel 3: Der Raum als solcher ist ein Nebeneinander von Punkten. Ein Nacheinander ist in ihm nicht vorgesehen, und genau deshalb ist Kant gezwungen, dem Raum die Zeit als zweite Form der Anschauung hinzuzugesellen. Daraus folgt, dass Dinge im Raum als unveränderlich aufgefasst werden: »Aus dieser Analyse ergibt sich, dass allein der Raum homogen ist, dass die im Raum befindlichen Dinge eine distinkte Mannigfaltigkeit konstituieren und dass jede distinkte Mannigfaltigkeit durch eine Entfaltung in den Raum entsteht. Daraus ist ferner abzuleiten, dass es im Raum weder Dauer noch Sukzession gibt in dem Sinne, in dem das Bewusstsein diese Ausdrücke auffasst: jeder der sukzessiv genannten Zustände der äußeren Welt existiert für sich, und ihre Mannigfaltigkeit hat nur Realität für ein Bewusstsein, das

L’espace n’est d’ailleurs, au fond, que le schème de la divisibilité indéfinie. – MM 341 | 232 | 205

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sie zunächst aufzubewahren und alsdann nebeneinanderzustellen imstande ist.« 23

Man sieht, dass diese Regel auf die Zeit (bzw. die Dauer) verweist und ohne zumindest die Ahnung, dass noch eine zweite Form der Anordnung von Mannigfaltigem aussteht, kaum plausibel ist. Nur so wird auch Bergsons radikale Unterscheidung begreiflich: Es gibt einerseits eine »Exteriorität ohne Sukzession« (den Raum), andererseits eine »Sukzession ohne Exteriorität« (die Dauer). Nun ist die Dauer, wie sich im nächsten Kapitel zeigen wird, der Intelligenz fremd, und so stellt sich die Frage: Wie geht die Intelligenz mit den in der menschlichen Erfahrung gegebenen und kaum zu leugnenden Veränderungen um? In dieser Hinsicht lassen sich grob drei Strategien unterscheiden: • Die Intelligenz kann die Veränderungen leugnen oder zumindest als unwesentliche Störungen des Normalzustandes deklarieren. Diese Strategie scheint, wenn man sie aus einer theoretischen Perspektive betrachtet, absurd und unhaltbar zu sein. Schaut man aber auf die Praxis, so stellt sich heraus, dass in der Tat ein erheblicher Teil des menschlichen Handelns – man möchte beinahe sagen: der Teil, der nicht mit dem Zertrümmern beschäftigt ist – der Erhaltung eines bedrohten, aber als wünschenswert betrachteten Zustands (von Werkzeugen, Häusern, Autos, Straßen usw.), und das heißt im Grunde: der tätigen Leugnung von Veränderung dient. • Die Intelligenz kann – einmal mehr – auf Regel 2 zurückgreifen, ein sich veränderndes Ding in unveränderliche Teile zerlegen und die Veränderung als bloße Umordnung der Teile begreifen. • Was nun aber diese Umordnung angeht, so muss die Intelligenz noch eine dritte Strategie zu Hilfe nehmen. Der Raum ist bloße Gleichzeitigkeit (simultanéité). Gestützt auf den Raum allein, kann die Intelligenz also nicht einmal eine Umordnung denken. Ergänzt sie den Raum durch die Zeit, kann sie zwar zwei Simul-

Il résulte de cette analyse que l’espace seul est homogène, que les choses situées dans l’espace constituent une multiplicité distincte, et que toute multiplicité distincte s’obtient par un déroulement dans l’espace. Il en résulte également qu’il n’y a dans l’espace ni durée ni même succession, au sens où la conscience prend ces mots : chacun des états dits successifs du monde extérieur existe seul, et leur multiplicité n’a de réalité que pour une conscience capable de les conserver d’abord, de les juxtaposer ensuite […]. – DI 80 | 89 | 91

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taneitäten – nämlich einen Ausgangszustand und einen Endzustand – nebeneinanderstellen, aber mehr kann sie auch nicht tun. Aus Gründen, die erst in Kapitel 4 zu untersuchen sind, kann die Intelligenz Veränderung als solche nicht erfassen, und deshalb – blendet sie sie einfach aus. Sie vergleicht den Ausgangszustand mit dem Endzustand, kümmert sich aber nicht um das, was dazwischen liegt. Das ist der Hintergrund des von Bergson immer wieder eingesetzten Arguments, aus der Sicht der Intelligenz – und somit auch aus derjenigen der mathematischen Naturwissenschaften – sei die Länge der zwischen dem Beginn und dem Ende einer Veränderung verfließenden Zeit unerheblich: »Zum Beweis, dass das Intervall der Dauer selbst vom Standpunkt der Wissenschaft aus nicht in Anschlag gebracht wird, mag dienen, dass, wenn alle Bewegungen des Weltalls zwei- oder dreimal so schnell erfolgten, weder an unseren Formeln noch an den Zahlen, die wir in sie einsetzen, irgend etwas abzuändern sein würde. Das Bewusstsein hätte zwar einen undefinierbaren und gewissermaßen qualitativen Eindruck von dieser Veränderung, doch würde diese nicht außerhalb seiner zur Erscheinung gelangen, weil sich im Raume noch ebenso dieselbe Anzahl Simultaneitäten darstellen würde. Wir werden später sehen, dass, wenn der Astronom z. B. eine Finsternis vorhersagt, er gerade eine derartige Operation vornimmt: Er reduziert ins Unbegrenzte die Intervalle der Dauer, die in der Wissenschaft nicht zählen, und gewahrt auf diese Weise in einer sehr kurzen Zeit – höchstens einigen Sekunden – eine Folge von Simultaneitäten, für die das konkrete Bewusstsein mehrere Jahrhunderte braucht, da es ja genötigt ist, die Intervalle zwischen ihnen zu durchleben.« 24

Die Forderung der weitgehenden Unveränderlichkeit von Dingen im Raum entspringt, wie ich bereits angedeutet habe, ebenfalls den Ei-

Ce qui prouve bien que l’intervalle de durée lui-même ne compte pas au point de vue de la science, c’est que, si tous les mouvements de l’univers se produisaient deux ou trois fois plus vite, il n’y aurait rien à modifier ni à nos formules, ni aux nombres que nous y faisons entrer. La conscience aurait une impression indéfinissable et en quelque sorte qualitative de ce changement, mais il n’y paraîtrait pas en dehors d’elle, puisque le même nombre de simultanéités se produirait encore dans l’espace. Nous verrons plus loin que lorsque l’astronome prédit une éclipse, par exemple, il se livre précisément à une opération de ce genre : il réduit infiniment les intervalles de durée, lesquels ne comptent pas pour la science, et aperçoit ainsi dans un temps très court – quelques secondes tout au plus – une succession de simultanéités qui occupera plusieurs siècles pour la conscience concrète, obligée d’en vivre les intervalles. – DI 77 f. | 86 f. | 88 f.

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gentümlichkeiten menschlichen Hantierens mit materiellen Dingen: Da das Benutzen und Herstellen von Gegenständen sich über eine gewisse Zeit hinzieht, wäre es äußerst misslich, wenn die benutzten oder bearbeiteten Dinge während dieser Zeit ihre Beschaffenheit grundlegend veränderten. Und es wäre völlig unnütz, Verhaltensmuster, die das Benutzen oder Bearbeiten betreffen, im Gedächtnis zu bewahren oder gar an Andere weiterzugeben, wenn man nicht damit rechnen könnte, dass auch die Eigenschaften der Dinge unverändert bleiben. Das hat schon Kant eindrucksvoll beschrieben: »Würde der Zinnober bald rot, bald schwarz, bald leicht, bald schwer sein, ein Mensch bald in diese, bald in jene tierische Gestalt verändert werden, am längsten Tage bald das Land mit Früchten, bald mit Eis und Schnee bedeckt sein, so könnte meine empirische Einbildungskraft nicht einmal Gelegenheit bekommen, bei der Vorstellung der roten Farbe den schweren Zinnober in die Gedanken zu bekommen, oder würde ein gewisses Wort bald diesem, bald jenem Dinge beigeleget, oder auch eben dasselbe Ding bald so, bald anders benannt, ohne dass hierin eine gewisse Regel, der die Erscheinungen schon von selbst unterworfen sind, herrschete, so könnte keine empirische Synthesis der Reproduktion statt finden.« 25

Halten wir einen Augenblick inne, um zur Kenntnis zu nehmen, dass wir hier auf einen ersten, vagen Berührungspunkt zwischen Bergsons Raum-Dauer-Lehre und den Zielsetzungen der Hermeneutik gestoßen sind. Der homo faber verlangt Stabilität in der Welt, damit er Denk- und Verhaltensmuster weitergeben, d. h. tradieren kann. Stabilität der Verhältnisse in der Welt ermöglicht Tradition, Instabilität dagegen erfordert Innovation. Hermeneutik aber hat sich stets in diesem Spannungsfeld angesiedelt, insofern sie es sich – und zwar gerade auch in Gestalt der Texthermeneutik – zur Aufgabe gemacht hat, fragwürdig gewordene Traditionen auf ihren möglichen Sinn in einer veränderten Welt zu befragen und so zwischen Tradition und Innovation, Stabilität und Veränderung zu vermitteln. Man weiß, dass Bergson mit der Dauer Dynamik in die statische Welt des Raumes bringen und damit auch den Konflikt zwischen Tradition und Innovation heraufbeschwören wird. Seltener dagegen wird zur Kenntnis genommen, dass Bergson schon in der Raumerfahrung selbst eine Spannung angelegt sieht. Dabei handelt es sich um diejenige Spannung, die ich zu Beginn dieses Abschnitts als Unterschei-

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KrV A 100 f.

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Bergsons Raumbegriff und seine Wandlungen

dung von Wahrnehmung einer qualitativen Ausgedehntheit und Vorstellung bzw. Entwurf eines homogenen Raumes skizziert habe. Es verhält sich nämlich keineswegs so, als ob Bergson den phänomenalen Raum gleichsam pflichtgemäß in einer kurzen Präambel erwähnen und dann zum geometrischen Raum als seinem eigentlichen Thema übergehen würde. Der phänomenale Raum bleibt im Blick, und zwar nicht nur im Essai sur les données immédiates de la conscience. Er macht zwar in den nachfolgenden Werken eine gewisse terminologische Wandlung durch – so spricht Bergson etwa in Matière et mémoire von der »konkreten Ausdehnung« 26, in La pensée et le mouvant sogar vom »konkreten Raum« 27 –, bleibt aber vom Anfang bis zum Ende eine in der Wahrnehmung gegebene Gleichzeitigkeit, die sich zwar als qualitative Vielfalt, dennoch aber als Kontinuum präsentiert. Der homogene Raum und die durch Grenzziehung bzw. Trennung entstehende diskrete Mannigfaltigkeit der darin enthaltenen Dinge sind das Produkt einer von der Intelligenz ausgehenden Verformung, die zugleich als Verfremdung und Verfälschung begriffen werden muss. Für den Vorgang der Transformation von wahrgenommener Qualitätsvielfalt in diskrete Dingmannigfaltigkeit verwendet Bergson verschiedene Bilder. Eines davon ist das Bild eines »Netzes«, das entweder – man denke an ein Sieb – unter der Wirklichkeit ausgespannt oder – man denke an das Fangen von Tieren – über die Wirklichkeit geworfen wird. Da man die Maschen des Netzes nach Bedarf vergrößern oder verkleinern kann, bleiben bald größere, bald kleinere Brocken im Netz hängen, womit dieses Bild recht gut die unendliche Teilbarkeit des Raumes widergeben kann. 28 Seine Schwäche besteht darin, dass es die Zertrümmerung der Realität schon voraussetzt: Die ausgeblendeten Bereiche der erfahrenen Wirklichkeit müssen ja noch feiner zermahlen sein als alles Übrige, um durch die Maschen des Vgl. Anm. 28. PM 1336 | 105 | 115 28 Nous devons par conséquent tendre au-dessous de la continuité des qualités sensibles, qui est l’étendue concrète, un filet aux mailles indéfiniment déformables et indéfiniment décroissantes : ce substrat simplement conçu, ce schème tout idéal de la divisibilité arbitraire et indéfinie, est l’espace homogène. – MM 344 | 235 f. | 208 f. – Une fois en possession de la forme d’espace, [l’esprit] s’en sert comme d’un filet aux mailles faisables et défaisables à volonté, lequel, jeté sur la matière, la divise comme les besoins de notre action l’exigent. – EC 667 | 203 | 207 – Die Hervorhebungen stammen von mir [C. K.]. 26 27

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Netzes schlüpfen zu können. Ein zweites wichtiges Bild ist das – Bild, genauer: das »Tafelbild«, das einen durch den Rahmen definierten Ausschnitt aus einem umfassenderen Ganzen darstellt. Um die Transformation der Qualitätsvielfalt in eine diskrete Mannigfaltigkeit bewusst wahrgenommener Dinge vollziehen zu können, schreibt Bergson, muss das Bewusstsein die vielfältigen Zusammenhänge, durch die ein Ding in das umgreifende Ganze eingebunden ist, ausblenden, so dass es sich »wie ein Gemälde« von seiner Umgebung »abhebt«. Auf diese Weise liefert uns die von der Intelligenz geleitete Wahrnehmung »eine Reihe bunter, aber getrennter Gemälde«. 29 Es klingt wie eine Fortsetzung dieses Gedankens, wenn man liest, dass »das neuzeitliche Tafelbild, das an keinen festen Ort gebunden ist und durch den Rahmen, der es umschließt, sich ganz für sich darbietet – eben damit ein beliebiges Nebeneinander, wie es die moderne Galerie zeigt, ermöglich[t]«, nur stammt dieser Satz nicht von Bergson, sondern von Hans-Georg Gadamer. 30 Damit sind wir auf ein zweites Indiz dafür gestoßen, dass Bergsons Überlegungen zu Raum und Dauer einen Bezug zum Anliegen der Hermeneutik haben. Wie auch immer dieser Bezug im Detail zu formulieren sein mag – dass zwischen den Thesen Gadamers über Spiel vs. Gebilde sowie Eingebundenheit vs. Isoliertheit des Kunstwerks einerseits und andererseits Bergsons Thesen über Vollzug in der Dauer vs. Ding im Raum sowie ausgedehntes Kontinuum vs. diskrete Mannigfaltigkeit ein Zusammenhang oder jedenfalls eine strukturelle Ähnlichkeit besteht, ist mit Händen zu greifen. Dieser

Ce qu’il faut pour obtenir cette conversion, ce n’est pas éclairer l’objet, mais au contraire en obscurcir certains côtés, le diminuer de la plus grande partie de lui-même, de manière que le résidu, au lieu de demeurer emboîté dans l’entourage comme une chose, s’en détache comme un tableau. – Notre perception nous livre de l’univers une série de tableaux pittoresques, mais discontinus […]. – MM 186, 217 | 33, 72 f. | 21, 58 – Ich versuche in meiner Paraphrase, eine Schwierigkeit zu vermeiden, die durch die Art, wie Bergson hier das Wort perception verwendet, entstehen könnte. Dieses Wort dient – erstens – zur Bezeichnung der ursprünglichen, vor-intellektuellen Erfahrung der kontinuierlichen Ausgedehntheit (perception de l’étendue). Der homogene Raum ist zwar eine von der Erfahrung völlig unabhängige Konstruktion der Intelligenz, gleichwohl gibt es aber – zweitens – eine gleichsam mit dem Raum kontaminierte bewusste Wahrnehmung (perception consciente), die in das ursprüngliche Kontinuum die Linien bzw. Grenzen möglichen Handelns einträgt und deshalb Dingwahrnehmung ist. 30 Gadamer[1990] 139 29

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Bergsons Raumbegriff und seine Wandlungen

Zusammenhang wird plausibler werden, wenn wir uns klarmachen, dass das Wort »Raum« bei Bergson nicht nur einen Behälter für materielle Dinge, sondern eine allgemeine symbolische Form bezeichnet.

3.2.2 Der Raum als allgemeine symbolische Form Ähnlichkeiten wie die zwischen Gadamers Ontologie des Kunstwerks und Bergsons Raum-Dauer-Lehre habe ich schon häufiger in Anspruch genommen. Das war etwa der Fall, als ich im Abschnitt 3.1 die Gegensätzlichkeit von Raum und Dauer, von Wissenschaft und Kunst, von Tradition und Innovation, von Sprache und Intuition umstandslos in eine Reihe stellte und Bergsons Nachdenken über diese Gegensätze wie das Nachdenken über einen einzigen Gegensatz behandelte. Es ist nun an der Zeit, diese Vorgehensweise zu rechtfertigen. Die allgemein formulierte Rechtfertigung ist in einem Satz Bergsons zu finden, den ich im vorigen Abschnitt bereits zitiert habe: »Aus dieser Analyse ergibt sich, dass allein der Raum homogen ist, dass die im Raum befindlichen Dinge eine distinkte Mannigfaltigkeit konstituieren und dass jede distinkte Mannigfaltigkeit durch eine Entfaltung in den Raum entsteht.« 31

Wenn die Formulierung, dass jede diskrete Mannigfaltigkeit durch eine Entfaltung in den Raum entsteht, einen Sinn haben soll, dann muss sie bedeuten, dass es nicht nur eine diskrete Mannigfaltigkeit, sondern deren mehrere gibt. Dann wäre die Welt der materiellen Dinge, auf die wir uns im vorigen Abschnitt ausschließlich bezogen haben, nicht die einzige diskrete Mannigfaltigkeit, sondern nur ein Beispiel für einen Mannigfaltigkeitstypus, und die Bezeichnung »Mannigfaltigkeitslehre« für Bergsons Lehre vom Raum und von der Dauer würde nicht auf eine Lehre von zwei verschiedenen Mannigfaltigkeiten verweisen, sondern auf eine Lehre von zwei strukturell verschiedenen Mannigfaltigkeitstypen, von denen jeder in einer prinzipiell unbegrenzten Zahl von Ausprägungen auftreten kann. 32 Wir müssten dann auch annehmen, dass es verschiedene kontinuier31 32

Vgl. Anm. 23. – Hervorhebung von mir [C. K.]. Deleuze[1989a] 54 ff., Deleuze[o. J.]

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liche Gleichzeitigkeiten gibt und dass sich deren Ent-wicklung, Entfaltung, Aus- oder Auseinander-legung auf analoge Weise, aber in verschiedene Räume, wenngleich den selben Strukturgesetzen unterworfene Räume vollzieht. Kurz: Wir müssten annehmen, dass das Wort »Raum« bei Bergson eine allgemeine symbolische Form bezeichnet. Der leichteste Weg, zu zeigen, dass dies wirklich Bergsons Meinung ist, besteht darin, einige diskrete Mannigfaltigkeiten zu betrachten, die in seinen Texten eine wichtige Rolle spielen. Und da Bergson die These, dass jede diskrete Mannigfaltigkeit durch eine Entfaltung in den Raum entsteht, im zweiten Kapitel des Essai sur les données immédiates de la conscience vorträgt, liegt es nahe, mit dem Beispiel zu beginnen, das Bergson selbst in diesem Text benutzt, um die Struktur einer derartigen Mannigfaltigkeit zu erläutern. Es ist dies die Welt der Zahlen, d. h. der Gegenstandsbereich der Mathematik. Die Zahlen lassen sich in der Tat als eine eigene Welt betrachten. Jeder Mathematiker betrachtet sie so. Insbesondere zeigen sie alle Merkmale einer diskreten Mannigfaltigkeit: Sie sind, wenn man zunächst einmal nur die ganzen Zahlen berücksichtigt, deutlich voneinander unterschieden. Sie zeigen keinerlei Tendenz zur Veränderung. Und sie erlauben, wenn man nun die gebrochenen Zahlen einbezieht, eine unbegrenzte Teilbarkeit. Viele Sprachen haben dem durch Wortprägungen wie »Zahlenraum« Rechnung getragen. Aber das ist nur ein erster Aspekt. Ein zweiter – der den ersten ergänzt, nicht aufhebt – besagt, dass die Welt der Zahlen aus der Welt der materiellen Dingen hervorgegangen ist und mit ihr in einer gewissen Verbindung bleibt. Um sich dies bewusstzumachen, »braucht jeder nur die verschiedenen Formen in der Erinnerung an sich vorüberziehen zu lassen, die die Zahlvorstellung seit seiner Kindheit für ihn angenommen hat. Man wird sich überzeugen, dass wir uns anfänglich z. B. eine Reihe Kugeln vorgestellt haben, dass diese Kugeln dann zu Punkten geworden sind, zuletzt auch dies Bild verschwunden ist und hinter sich nur, wie wir sagen, die abstrakte Zahl übriggelassen hat. In diesem Augenblick hat aber auch die Zahl aufgehört, Gegenstand der Einbildung und sogar Gegenstand des Denkens zu sein. Nur ihr für das Rechnen erforderliches Zeichen haben wir beibehalten, durch das sie auszudrücken man übereingekommen ist. Denn man kann sehr wohl behaupten, dass 12 die Hälfte von 24 ist, und dabei weder die Zahl 12 noch die Zahl 24 denken. Man tut sogar im Interesse der Beschleunigung der Operationen gut daran,

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dies zu unterlassen. Sobald man sich aber die Zahl vorstellen will und nicht bloß Ziffern und Worte, muss man wohl oder übel auf ein ausgedehntes Bild zurückgreifen.« 33

Aber – und dies ist der dritte Aspekt – die »Solidarität der Begriffe von Zahl und Raum« 34 ergibt sich nicht nur daraus, dass die Welt der Zahlen aus der Welt der Dinge hervorgegangen ist. Obwohl, oder vielmehr: gerade weil und indem jene sich von dieser löst und zu einem sich selbst genügenden »Spiel« wird, bleibt sie in Verbindung mit der Praxis des Bearbeitens und Herstellens, insofern das Hantieren mit Zahlen dem Menschen neuartige Handlungsmöglichkeiten verschafft. Die wohl wichtigste dieser Möglichkeiten ist das Messen, das, nachdem es einmal etabliert ist, geradezu zu einem weiteren essentiellen Merkmal der diskreten Mannigfaltigkeit wird: Dinge im Raum sind messbar. 35 Eine zweite, für menschliches Leben nicht minder wichtige Möglichkeit stellt das Vorausberechnen dar, das zwar auf einer symbolischen Manipulation höchst artifizieller Dingrepräsentanten beruht, aber gerade deshalb die Vorhersage praktisch relevanter Konstellationen ermöglicht. Eine ganz andere, und doch mit den bisher erörterten eng verwandte diskrete Mannigfaltigkeit findet man in der Sprache, d. h. der Welt der Worte. Noch bevor Bergson seine These vom Ursprung des Raumes aus der Praxis des homo faber ausgearbeitet hatte, stand ihm die Verwandtschaft der Dinge und der Worte so deutlich vor Augen, dass er sie zum Thema der ersten Sätze des Vorworts zum Essai sur les données immédiates de la conscience machte, d. h. zum Thema derjenigen Sätze, mit denen er gleichsam die philosophische Bühne betrat:

[…] il suffira à chacun de passer en revue les diverses formes que l’idée de nombre a prises pour lui depuis son enfance. On verra que nous avons commencé par imaginer une rangée de boules, par exemple, puis que ces boules sont devenues des points, puis enfin que cette image elle-même s’est évanouie pour ne plus laisser derrière elle, disons-nous, que le nombre abstrait. Mais à ce moment aussi le nombre a cessé d’être imaginé et même d’être pensé ; nous n’avons conservé de lui que le signe, nécessaire au calcul, par lequel on est convenu de l’exprimer. Car on peut fort bien affirmer que 12 est la moitié de 24 sans penser ni le nombre 12 ni le nombre 24 : même, pour la rapidité des opérations, on a tout intérêt à n’en rien faire. Mais, dès qu’on désire se représenter le nombre, et non plus seulement des chiffres ou des mots, force est bien de revenir à une image étendue. – DI 53 | 58 | 62 34 la solidarité des notions de nombre et d’espace – DI 51 | 56 | 60, Anm. 1. 35 Or, cette cause est extensive et par conséquent mesurable […]. – DI 31 | 31 | 37 33

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»Wir drücken uns notwendigerweise durch Worte aus, und wir denken fast immer räumlich. Mit anderen Worten: Die Sprache zwingt uns, unter unseren Vorstellungen die selben scharfen und genauen Unterscheidungen, die selbe Diskontinuität herzustellen wie zwischen den materiellen Gegenständen. Diese Assimilation ist im praktischen Leben von Nutzen und in der Mehrzahl der Wissenschaften notwendig.« 36

Das sind die Sätze, auf die man sich immer wieder berufen hat, um die These von Bergsons Sprachfeindschaft zu belegen, und das sind die Sätze, an die auch ich gedacht habe, als ich anmerkte, richtig an dieser These sei immerhin, dass nach Bergsons Auffassung Worte materiellen Dingen gleichen. In der Tat nämlich bilden sie eine diskrete Mannigfaltigkeit. 37 Verschiedene Worte bezeichnen verschiedene, deutlich voneinander getrennte Dinge: Ein Hammer ist etwas anderes als eine Säge. Das gilt selbst dann, wenn es sich bei diesen »Dingen« um Lebewesen handelt: Eine Pflanze ist etwas anderes als ein Tier. Und es gilt – um hier gleich der Vermutung entgegenzutreten, Bergsons Sprachauffassung leide an einer Fixierung auf Substantive – auch für Tätigkeiten: Stillstehen ist etwas anderes als Sich-Bewegen. Sodann herrscht auch im Bereich der Worte das Prinzip der unbegrenzten Teilbarkeit, wobei es im gegenwärtigen Zusammenhang völlig unerheblich ist, ob die differenzierende Teilung durch die Bildung neuer Worte (Baum – Strauch – Staude bzw. laufen – rennen – marschieren – schwimmen) oder durch Wortkombinationen (rote Rose – weiße Rose bzw. wilde Rose – veredelte Rose) realisiert wird. Schließlich sind Wortbedeutungen unveränderlich. Nun kann man zumindest im Hinblick auf einige dieser Punkte Zweifel haben. Sind Wortbedeutungen wirklich scharf begrenzt? Nous nous exprimons nécessairement par des mots, et nous pensons le plus souvent dans l’espace. En d’autres termes, le langage exige que nous établissions entre nos idées les mêmes distinctions nettes et précises, la même discontinuité qu’entre les objets matériels. Cette assimilation est utile dans la vie pratique, et nécessaire dans la plupart des sciences. – DI 3 | VII | 7 37 Das ist offenkundig, wenn man unter der »Welt der Worte« das versteht, was Saussure langue nannte. Aber selbst die gesprochene Sprache (parole) erscheint nur so lange als Kontinuum, wie man beim bloßen Geräusch (Klangstrom) stehenbleibt. Eine Äußerung als sprachliche zu verstehen, heißt gerade, sie in Worte zu zerteilen. Wobei freilich hinzugefügt werden muss, dass dies Zerteilen ein Verstehen erster Stufe (Schleiermachers »grammatisches Verstehen«) konstituiert, welches – jedenfalls nach Auffassung der Hermeneutik – durch ein Verstehen zweiter Stufe (Schleiermachers »psychologisches Verstehen«) ergänzt, in gewissem Sinne aber auch rückgängig gemacht werden muss. 36

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Wandeln sie sich wirklich nicht? Aber derartige Fragen würden, obgleich sie an sich berechtigt und später aufzugreifen sind, an dem gegenwärtig entscheidenden Punkt vorbeigehen, der darin besteht, dass Bergson hier nicht von der Sprache überhaupt, sondern von einer verräumlichten Sprache spricht. 38 Es geht hier um eine Sprache, die vielleicht gar nicht so starr ist, die aber so starr sein will, die unscharfe Grenzen oder Bedeutungsverschiebungen als Mängel und auszumerzende Unregelmäßigkeiten betrachtet. Es geht um das Sprachideal der Naturwissenschaften und der Logik, aber auch einiger sprachwissenschaftlicher oder philosophischer Theorien. Dieses Sprachideal zielt letztlich darauf ab, die Welt der Worte der Welt der Zahlen anzunähern – ein Umstand, auf den Bergson reagiert, indem er vom »Symbol« und vom »Symbolismus« spricht und entweder die Sprache dem mathematischen Symbolismus annähert oder sie selbst als Symbolismus auffasst: »Derartige Vorstellungen liegen bewusst oder unbewusst dem Denken der Mehrzahl der Philosophen zugrunde, in Übereinstimmung übrigens mit den Forderungen des Verstandes, mit den Notwendigkeiten der Sprache, mit dem Symbolismus der Wissenschaft.« 39 »Aber was wir erfassen und festlegen können, ist ein gewisses vermittelndes Bild […], das, wenn es auch nicht die Intuition selbst ist, sich ihr sehr viel mehr annähert als der – notwendigerweise symbolische – begriffliche Ausdruck, auf den die Intuition zurückgreifen muss, um ›Erklärungen‹ zu liefern.« 40 »Aber noch einmal: Buchstaben sind keine Teile der Sache, es sind Elemente des Symbols.« 41

Auch hier haben wir es mit einer ambivalenten Entwicklung zu tun: Auf der einen Seite tendiert die Sprache dazu, sich von der menschlichen Praxis abzulösen, sich zu einem selbständigen »Sprachspiel« zu Vgl. die vorläufigen Betrachtungen zu einer »zweiten Dimension« des Sprechens in Abschnitt 1.3.2, S. 107. 39 Telle est, consciemment ou inconsciemment, la pensée de la plupart des philosophes, en conformité d’ailleurs avec les exigences de l’entendement, avec les nécessités du langage, avec le symbolisme de la science. – PM 1260 | 10 | 29 40 Mais ce que nous arriverons à ressaisir et à fixer, c’est une certaine image intermédiaire […], et qui, si elle n’est pas l’intuition même, s’en rapproche beaucoup plus que l’expression conceptuelle, nécessairement symbolique, à laquelle l’intuition doit recourir pour fournir des « explications ». – PM 1347 | 119 f. | 128 41 Mais les lettres, encore une fois, ne sont pas des parties de la chose, ce sont des éléments du symbole. – PM 1414 | 204 | 205 38

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verfestigen, das eigenen Regeln folgt und für sich betrachtet werden kann. Auf der anderen Seite aber eröffnet auch sie einen eigentümlichen Aspekt der Praxis, der als der soziale zu bezeichnen ist. Sprache macht es möglich, anderen Menschen gemeinsame Aktionen vorzuschlagen, mit ihnen solche Aktionen zu diskutieren und zu vereinbaren. Sprache macht dies möglich, indem sie die erfahrene Wirklichkeit in der gleichen Weise in einen Sprachraum hinein entfaltet, in der das Handeln sie in den physikalischen Raum hinein entfaltet. Mag sie die Wirklichkeit auch verformen und verfremden, so stiftet sie doch die den Menschen gemeinsame Welt – oder jedenfalls: die gemeinsame Welt des homo faber. 42 Eine dritte diskrete Mannigfaltigkeit ist schließlich die Welt der Handlungsmuster. Wir hatten bereits festgestellt, dass die Praxis des homo faber eine Mannigfaltigkeit begrenzter Dinge voraussetzt und dass sich die Mannigfaltigkeit diskreter materieller Dinge in den diskreten Mannigfaltigkeiten der Zahldinge und der Wortdinge spiegelt. Aber ein Hammer ist nur dann ein Hammer, wenn es die Tätigkeit des Hämmerns gibt. Der Bohrer ist nur dann ein davon verschiedenes Ding, das Wort »Bohrer« hat nur dann eine vom Wort »Hammer« verschiedene Bedeutung, wenn es die Tätigkeit des Bohrens gibt. Wie die wahrgenommene Ausdehnung, so muss zwar auch das Spektrum möglicher Handlungsweisen als Kontinuum betrachtet werden. Aber der weitaus größte Teil der menschlichen Handlungen basiert auf gewohnheitsmäßigen – standardisierten und wiederholbaren – Handlungsmustern, und diese bilden eine diskrete Mannigfaltigkeit, wie der von Pierre Janet berichtete Fall der überforderten Betreuerin zeigt, den ich im zweiten Kapitel vorgestellt habe 43: Der klaren, übergangslosen Unterscheidung zwischen den Worten »Herrin« und »Dienerin« entspricht die klare und keine Zwischenstufen zulassende Unterscheidung zwischen den Verhaltensmustern, die eine Herrin gegenüber ihrer Dienerin, und solchen, die eine Dienerin gegenüber ihrer Herrin zeigt. Die unlösbare Schwierigkeit, vor der sich die Betreuerin sieht, zeigt zwar ihre persönliche Unfähigkeit, in der »Mitte« angesiedelte Verhaltensmuster zu finden, der ganze Kontext sowie Janets Schlussbemerkung, es gelinge vielen Frauen, zu befehlen, indem sie sich den Anschein geben, zu gehorchen, verweisen Diese Einschränkung weist darauf hin, dass es nach Bergsons Auffassung noch eine ganz anders geartete gemeinsame Wirklichkeit gibt. Vgl. dazu Kapitel 5. 43 Vgl. Abschnitt 2.3.2.2, S. 276. 42

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aber zugleich auf die stillschweigende Voraussetzung, dass dies prinzipiell möglich ist. Auch die diskreten Mannigfaltigkeiten von Verhaltensmustern, deren es – von Kochbüchern bis zu Moralsystemen – sehr viele gibt, weisen eine Tendenz zur Systembildung auf. Bergson hat dazu in Les deux sources de la morale et de la religion einige Überlegungen angestellt. 44 Verhaltensmuster sind hier oder dort, zu diesem oder zu jenem Zeitpunkt aufgrund spezieller Erfordernisse entstanden. Somit ist jedes einzelne Verhaltensmuster als kontingent, ihre Gesamtheit als »aufgeraffte« (Kant) Mannigfaltigkeit zu betrachten. Es kann also keine Rede davon sein, dass eine solche Mannigfaltigkeit systematisch aus einem einheitlichen Ursprung entwickelt worden wäre und deshalb auch im entfalteten Zustand eine Einheit bildete. Wohl aber bemüht sich die Intelligenz nachträglich darum, »mehr logischen Zusammenhalt«, eine »rationale Ordnung« in diese bunte Mischung zu bringen, indem sie aus den bestehenden Verhaltensmustern einige Grundprinzipien ableitet, das, was sich diesen Prinzipien leidlich fügt, zu einem System ordnet und das, was mit ihnen überhaupt nicht kompatibel zu sein scheint, verwirft. Die Systematisierung der bestehenden Verhaltensnormen ist demnach »ein später Erwerb der menschlichen Gesellschaften«, und in dieser Hinsicht »ist die Moral einer menschlichen Gesellschaft ihrer Sprache vergleichbar«, denn auch Sprachen sind zunächst Ansammlungen vereinzelter, kontingenter Sprechmuster und bleiben es teilweise auch – man denke an die zahlreichen Ausnahmen, die das Erlernen der Grammatik einer fremden Sprache so mühsam machen – trotz aller nachträglichen Bemühungen um Systematisierung. Wie die sich verselbständigenden Bereiche der Zahlen und der Worte, so verweist auch der sich verselbständigende Bereich der Handlungsmuster auf einen besonderen Aspekt der menschlichen Praxis. Es ist dies der Aspekt der Konvention und der Tradition. Die Menge gesellschaftlich anerkannter Verhaltensmuster ist die Menge derjenigen Handlungsweisen, auf die man sich mit anderen Menschen verständigen und die man gegebenenfalls gemeinsam mit ihnen ausführen kann. Sie ist zugleich die Menge derjenigen Verhaltensmuster, die man an folgende Generationen weitergeben kann. Insofern erweist sich einmal mehr die enge Verbindung zwischen der

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DS 993–998 | 16–23 | 18–22

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diskreten Mannigfaltigkeit der Sprechmuster und derjenigen der Handlungsmuster. Blickt man noch einmal auf die als Beispiele angeführten Mannigfaltigkeiten zurück, so zeigt sich, dass sie alle diskrete, d. h. räumlich strukturierte Mannigfaltigkeiten darstellen und dass ihre gleichartige Struktur letztlich darauf beruht, dass sie sich alle aus dem umfassenden Zusammenhang der Praxis des homo faber, d. h. des Hantierens mit materiellen Dingen herausgelöst haben. Unter dem Raum, in den hinein eine solche Mannigfaltigkeit projiziert wird, ist demnach eine symbolische Form zu verstehen, die prinzipiell beliebig viele Mannigfaltigkeiten erzeugen kann, diese jedoch stets zu diskreten, d. h. aus klar begrenzten, unendlich teilbaren und unveränderlichen Elementen bestehenden Mannigfaltigkeiten formt. Hervorgegangen aus dem Gegensatz von Handeln in der gegebenen Wirklichkeit und freiem Entwurf der Raumstruktur durch die Intelligenz, verbleiben alle diese Mannigfaltigkeiten im Spannungsfeld von Verselbständigung (eine »Welt«, ein »Spiel« für sich) und Eingebundenheit in die Praxis. Noch sehr viel deutlicher als im vorigen Abschnitt zeigt sich aber auch, dass Bergsons Theorie des Raumes einen Bezug zu den Fragestellungen der Hermeneutik aufweist. Die konventionellen Muster des Denkens, Sprechens und Handelns, das Verhältnis von Symbolismus und Sinn beschäftigen uns seit dem ersten Kapitel dieser Untersuchung. Der – in der hier entwickelten Allgemeinheit verstandene – Raum ist, so scheint es mehr und mehr, das Medium, in das hinein ein Sinn entfaltet werden kann. Wie eng die Beziehung der Raumtheorie zur Hermeneutik – und zwar nicht nur zu einer verallgemeinerten, sondern sogar zur Texthermeneutik – sind, zeigt sich, wenn man systematisch die Worte untersucht, die Bergson für den Vorgang der Projektion in den Raum hinein verwendet: Eines der häufigsten und wichtigsten ist das Wort »Übersetzung«. 45

L’intuition nous donne la chose dont l’intelligence ne saisit que la transposition spatiale, la traduction métaphorique. – S’il existe un moyen de posséder une réalité absolument au lieu de la connaître relativement, de se placer en elle au lieu d’adopter des points de vue sur elle, d’en avoir l’intuition au lieu d’en faire l’analyse, enfin de la saisir en dehors de toute expression, traduction ou représentation symbolique, la métaphysique est cela même. – PM 1312, 1396 | 76, 181 f. | 89, 184

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3.2.3 Die Raumvorstellung und das Handeln Im vorigen Abschnitt hatte sich gezeigt, dass die diskreten Mannigfaltigkeiten einerseits Entwürfe der Intelligenz, andererseits Bestandteile der menschlichen Praxis sind. Dieser Doppelaspekt erklärt die Umwertung, die ich in der Einführung zu Abschnitt 3.2 skizziert habe: Betrachtet Bergson die diskrete Mannigfaltigkeit im Essai sur les données immédiates de la conscience vor allem als symbolische Form, so geht er in Matière et mémoire und L’évolution créatrice immer stärker dazu über, sie ins Handeln einzubinden. Erscheint sie anfangs nur als Formung durch die Intelligenz, die freilich Verformung der Erfahrung und deshalb negativ zu bewerten ist, so stellt sich in der Folge immer dringlicher die Frage, wie denn das Handeln des Menschen in der Welt erfolgreich sein kann, wenn dieses Handeln von der Intelligenz geleitet, das Bild, das die Intelligenz sich von der Welt macht, aber eine Verfälschung ist. Das Nachdenken über diesen Punkt führt Bergson letztlich zur Rehabilitation des dem homo faber eigenen Weltbezugs sowie der damit verbundenen Raumkonzeption: »Die Tat kann sich nicht im Irrealen bewegen. Von einem zum Spekulieren und Träumen geborenen Geist mag ich zugeben, dass er außerhalb der Realität bleibe, dass er sie umforme und verforme, ja sie so erschaffe, wie wir die Gestalten von Menschen und Tieren schaffen, die unsere Phantasie in hingleitenden Wolken umreißt. Eine Intelligenz aber, die auf die Tat zielt, welche sich vollziehen, und auf die Reaktion, die sie auslösen soll, die ihren Gegenstand betastet, um jeden Augenblick seinen bewegten Eindruck zu empfangen, das ist eine Intelligenz, die an irgendetwas Absolutes rührt.« 46

Man sieht: Bergson zahlt nicht mit Kleingeld. Er hält sich nicht auf mit Betrachtungen darüber, unter welchen Bedingungen eine verzerrte Vorstellung von der Wirklichkeit mit erfolgreichem Handeln vereinbar sein oder ob möglicherweise ein – sei es nun individueller oder kollektiver – Lernprozess die Kluft zwischen Vorstellung und Wirklichkeit verringern könnte. Bergson stellt schlicht fest: Der handelnde Mensch »rührt an etwas Absolutes«. L’action ne saurait se mouvoir dans l’irréel. D’un esprit né pour spéculer ou pour rêver je pourrais admettre qu’il reste extérieur à la réalité, qu’il la déforme et qu’il la transforme, peut-être même qu’il la crée, comme nous créons les figures d’hommes et d’animaux que notre imagination découpe dans le nuage qui passe. Mais une intelligence tendue vers l’action qui s’accomplira et vers la réaction qui s’ensuivra, palpant son objet pour en recevoir à chaque instant l’impression mobile, est une intelligence qui touche quelque chose de l’absolu. – EC 491 | VII | 3

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Es ist klar, dass hier nicht einzelne Erkenntnisse zur Debatte stehen. Keine theoretische Methode, kein praktisches Verfahren vermag lückenlos vor Irrtum im Einzelnen zu schützen. Zur Debatte stehen vielmehr die Annahmen über die Struktur der Wirklichkeit im Ganzen, auf denen das Handeln des homo faber beruht. Von diesen Annahmen sagt Bergson: Sie können nicht gänzlich falsch sein. Wie weitreichend die Neubewertung der räumlich strukturierten Welt als Welt des homo faber ist und welch gravierende Konsequenzen sie hat, ahnt man, wenn man sich daran erinnert, wie Bergson in L’intuition philosophique die Intuition charakterisiert hatte: Die Intuition des Philosophen äußere sich als Bewegung, diese Bewegung sei aus einem ursprünglichen Impuls hervorgegangen, und der Impuls seinerseits verdanke sich einem »Kontakt«. 47 Dass die Parallele von »Kontakt« dort und »Berühren« hier mehr ist als nur eine zufällige Übereinstimmung, lässt sich daran erkennen, dass sie bis in die Details der Charakterisierung hinein verfolgt werden kann. So bezeichnet Bergson etwa in Introduction à la métaphysique die Intuition des Selbst als »Abhorchen« 48, und dieses aus dem medizinischen Bereich entnommene Bild entspricht offenkundig dem »Abtasten« aus dem gerade zitierten Text. Nun wissen wir bisher so wenig über das Wesen der Intuition, dass wir nicht versuchen werden, von der Intuition auf die Handlung zurückzuschließen – eher ließe sich denken, dass uns später einmal der umgekehrte Weg helfen könnte, mehr Klarheit über die Intuition zu gewinnen. Aber es genügt ja im Moment auch, durch die Parallele darauf hingewiesen zu werden, dass der entscheidende Punkt der Argumentation im »Berühren« und »Abtasten« zu suchen ist. Ist nämlich dies klar, so versteht man auch ohne weitere Bezugnahme auf den Vergleich, worauf Bergson abzielt: Das Handeln ist ein direkter Kontakt mit der Wirklichkeit. Gewiss, die räumliche Welt ist Vorstellung in genau dem Sinne, den Schopenhauer mit diesem Wort verband. Aber das Weltverhältnis des homo faber ist kein ausschließlich betrachtendes. Hat er die Sache überlegt, berechnet und besprochen, dann schreitet er zur Tat. Würde er bei einem rein theoretischen Weltverhältnis stehenbleiben, so könnte er bis ans Ende seiner Tage die Frage nach der Wahrheit (im Sinne der Adäquation) seiner Vorstellung untersuchen, ohne der Antwort näherzukommen, weil er »außerhalb der Wirklich47 48

Vgl. Kap. 1, Anm. 49. PM 1408 | 196 | 197

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keit« bleibt. Durch das Handeln aber setzt er sich und sein Weltbild der Wirklichkeit aus, tritt er in die Wirklichkeit ein. Führt das Handeln zu dem gewünschten Erfolg – und es ist nicht zu leugnen, dass das bei den von der Intelligenz entworfenen Handlungsanweisungen sehr häufig der Fall ist –, so muss man schließen, dass die Vorstellung einer räumlich strukturierten Welt der Dinge jedenfalls mit einem Aspekt der Wirklichkeit harmoniert. Wäre es anders – gäbe es in der Wirklichkeit gar nichts, was der Vorstellung von einem begrenzten, unveränderlichen und teilbaren Ding entspricht; wäre die Mathematik nur ein Selbstgespräch des Geistes, die Wortsprache nur leeres Geschwätz –, so würde die Wirklichkeit es den Handelnden spüren lassen. »Übel zugerichtet« würde er »übers Feld hinkugeln« wie Don Quijote nach seinem Kampf mit den »Riesen«. Wenn nun das Handeln rehabilitiert ist, weil es, wie man in früheren Zeiten zu sagen pflegte, sich mit der Wirklichkeit »gemein macht«, – muss dann nicht auch die Intelligenz, d. h. die Erzeugerin der Vorstellung eines homogenen Raumes als rehabilitiert gelten? Mit gewissen Einschränkungen ist das tatsächlich der Fall, und Bergson formuliert das in dem zitierten Text auch ausdrücklich: Eine Intelligenz, die auf die Tat gerichtet ist, ist eine Intelligenz, die etwas Absolutes berührt. Und doch gilt die Rehabilitation des Handelns uneingeschränkt, diejenige der Intelligenz dagegen nur mit Einschränkungen, wie die Fortsetzung des zitierten Textes zeigt: »Wäre uns jemals der Gedanke gekommen, diesen absoluten Wert unserer Erkenntnis anzuzweifeln, wenn die Philosophie uns nicht gezeigt hätte, auf welche Widersprüche unsere Spekulation stößt, in welche Sackgassen sie sich verläuft? Aber diese Schwierigkeiten, diese Widersprüche stammen daher, dass wir unsere gewohnten Denkformen auf Gegenstände anwenden, für die unsere Praxis nicht zuständig ist und für die daher unsere Rahmen nicht gemacht sind. Sofern sie sich auf einen bestimmten Aspekt der toten Materie bezieht, muss uns dagegen die intellektuelle Erkenntnis den getreuen Abdruck liefern.« 49

L’idée nous serait-elle jamais venue de mettre en doute cette valeur absolue de notre connaissance, si la philosophie ne nous avait montré à quelles contradictions notre spéculation se heurte, à quelles impasses elle abouti ? Mais ces difficultés, ces contradictions naissent de ce que nous appliquons les formes habituelles de notre pensée à des objets sur lesquels notre industrie n’a pas à s’exercer et pour lesquels, par conséquent, nos cadres ne sont pas faits. La connaissance intellectuelle, en tant qu’elle se rapporte à un certain aspect de la matière inerte, doit au contraire nous en présenter l’empreinte fidèle […]. – EC 491 | VII f. | 3

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Worin besteht also der Unterschied zwischen dem Handeln und der Intelligenz? Die Antwort auf diese Frage ist leicht zu formulieren und scheinbar auch leicht zu verstehen. Sie lautet: Der Unterschied besteht darin, dass das Handeln den Bereich des Hantierens mit materiellen Dingen nicht verlässt, während die Intelligenz dazu tendiert, dessen Grenzen zu überschreiten. Aber in dieser Antwort ist ein Sprengsatz versteckt. Verhältnismäßig leicht ist der erste Teil der Antwort zu verstehen. Er besagt, dass das Handeln des homo faber den Bereich des Hantierens mit – wie Sartre später formuliert – praktisch-inerten Dingen nicht verlassen kann, aber auch gar nicht verlassen will. Das gilt offenkundig überall da, wo das Hantieren ganz wörtlich zu verstehen ist: Die Hand des Gärtners greift die Frucht, die Hand des Handwerkers den Hammer. Es gilt auch da, wo das Hantieren durch ein Werkzeug vermittelt wird: Die durch den Hammer verlängerte Hand des Handwerkers trifft – wie man jedenfalls hoffen möchte – den Nagel. Es gilt weiterhin da, wo der bearbeitete Gegenstand kein lebloser Gegenstand mehr ist: Die – gegebenenfalls wieder durch ein Gerät ergänzte – Hand des Chirurgen trifft auf Knochen oder Körperorgane. Die vom Arzt verschriebene Tablette trifft auf chemische Vorgänge im menschlichen Körper. Und es gilt selbst da, wo der homo faber sich mit seinesgleichen verständigt: Sie können nicht wissen, sagt Bergson in einem Vortrag zu seinen Zuhörern, dass ich ein bewusstes Wesen bin. Ich könnte auch ein sprechender Automat sein. 50 Aber der homo faber weiß nicht nur nicht, ob sein Gegenüber nicht etwa ein Automat ist, er tendiert sogar dazu, in ihm einen Automaten zu sehen bzw. – die Geschichte der Technik zeigt dies nur zu deutlich – das Gegenüber, mit dem man sich mühsam verständigen muss, durch einen zumindest in der Regel funktionierenden Automaten zu ersetzen. Kurz: Das Handeln zeigt keinerlei Neigung, aus dem Bereich der räumlich verfassten und mit materiellen Dingen angefüllten Welt auszubrechen, ja es tendiert, wie wir gesehen haben, dazu, seine eigenen Vollzugsmöglichkeiten als Handlungsraum, d. h. als diskrete Mannigfaltigkeit gewohnheitsmäßiger Handlungsmuster zu organisieren. Anders nun aber die Intelligenz. Im Gegensatz zur trägen Pflanze und zum angepassten Tier ist der Mensch, wie sich in Kapitel 2

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ES 819 | 6 | 6

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gezeigt hatte 51, ein unruhiges, nicht angepasstes Wesen, und der Ursprung seiner Unruhe ist die Nicht-Übereinstimmung seiner Intelligenz mit seiner Umwelt. Da die Aufgabe der Intelligenz darin besteht, neue Werkzeuge und neue Handlungsweisen zu ersinnen, kann sie sich nicht mit dem Bestehenden zufrieden geben, muss sie danach streben, die Grenzen des Bekannten zu überschreiten. Allerdings sind solche Neuerungen, mögen sie auch Unruhe ins Leben des Individuums oder der Gesellschaft bringen, aus der Perspektive der Philosophie unbedenklich, solange sie sich darauf beschränken, neue Formen des Hantierens mit materiellen Dingen zur Verfügung zu stellen. Bedenklich werden sie erst in dem Moment, in dem die Intelligenz die Grenzen der räumlich-dinghaften Welt durchbricht und versucht, ihre Herrschaft auf andere Bereiche der Wirklichkeit auszudehnen. So jedenfalls formuliert es Bergson – aber genau an dieser Stelle steckt das Problem: Was berechtigt den Menschen – und sei es auch den philosophierenden – von einem Durchbrechen der Grenzen zu sprechen, das wesensverschieden ist vom bloßen Transformieren des Gegebenen? Von welchem Standort aus kann er sagen, dass es in der Wirklichkeit Bereiche gibt, für die die Intelligenz nicht zuständig ist? Auf welche Basis könnte er die Behauptung stützen, dass die Wirklichkeit noch Anderes enthält als materielle Dinge? Was wir von Bergson zunächst erfahren, ist dies: Es gibt »Gegenstände, für die unsere Praxis nicht zuständig ist«. 52 Es gibt »Phänomene, die keinen Raum einnehmen«. 53 Aber das sind Versicherungen. Das sind ontologische Thesen. Es sind keine Begründungen. Man könnte nun versuchen, die Schwierigkeiten zu umgehen, indem man erklärt, Bergsons These sei doch im Grunde Kants These: Die Kategorien des Verstandes können mit Recht nur auf Gegenstände der Erfahrung angewandt werden. Überschreitet der Verstand diese Grenze, verstrickt er sich in Widersprüche. Aber diese Strategie würde nicht zum Ziel führen. Für Kant nämlich ist die Erfahrung homogen. Was wir von der Welt wissen können, das erfahren wir durch die sinnliche Wahrnehmung, und diese kann sich nur in den Formen des Raumes und der Zeit abspielen. Das Problem, das wir bei Bergson auftauchen sehen, ist bei Kant schon vorab durch die Bestimmung des Raumes als Form der Wahrnehmung neutralisiert. Was 51 52 53

Vgl. insbesondere Abschnitt 2.3.1.4, S. 263. Vgl. Anm. 49. phénomènes qui n’occupent point d’espace – DI 3 | VII | 7

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nicht räumliches Ding ist, was es aber möglicherweise trotzdem »gibt«, stammt aus einer anderen Quelle (die Hauptbegriffe der Moral und der Religion aus der Vernunft, die Hauptbegriffe der Biologie und der Ästhetik aus der Urteilskraft). Bei Bergson ist das Problem insofern ein völlig anderes, als die »Rahmen« der Intelligenz gerade nur für einen Teil der Erfahrung Gültigkeit haben sollen, für einen anderen Teil dagegen nicht. Die Erfahrung ist also nicht homogen, sondern in Teile, Bereiche, Schichten oder was auch immer zu zerlegen. Und damit kehren wir zu unserem Problem zurück: Von welchem Standort aus kann man so sprechen? Wer zieht denn die Grenzen zwischen diesen verschiedenen Bereichen der Wirklichkeit? Und wie könnte der Mensch, der nun einmal mit der Intelligenz als der ihm eigentümlichen Gestalt des Bewusstseins ausgestattet ist, etwas über irgendeinen Bereich der Wirklichkeit wissen, für den die Intelligenz nicht zuständig ist? Wir dürfen auf diese Fragen keine schnellen Antworten erwarten. Es sind dies nicht nur Fragen, die den Kern unserer Auffassung von Wirklichkeit betreffen, Fragen, die in die Ontologie, die Erkenntnistheorie und die praktische Philosophie hineinreichen – es sind dies auch die Fragen, die Bergson ein Leben lang beschäftigt haben. Insofern dürfen wir uns nicht wundern, wenn sie auch uns bis zum Ende dieser Untersuchung begleiten. Freilich: Man könnte sagen, dass ich diese Formel schon mehrfach verwendet habe. Und man könnte verlangen, dass nun endlich Klarheit darüber geschaffen wird, welches Bergsons Kernproblem gewesen ist und auf welches Problem sich deshalb diese Untersuchung zu konzentrieren hat. Andererseits: Ist denn ausgemacht, dass die mehrfache Verwendung der Formel eine Unklarheit anzeigt? Könnte es nicht sein, dass wir, indem wir in verschiedenen Kapiteln Verschiedenes als Grunderfahrung oder Grundproblem bezeichnen, dieses Problem gerade langsam einkreisen? Zeichnet sich denn nicht schon ab, dass zwischen der Grunderfahrung der Nicht-Übereinstimmung 54 und den soeben aufgeworfenen Fragen ein Zusammenhang besteht? Könnte es nicht sein, dass die texthermeneutische Erfahrung der Zweidimensionalität des Sprechens 55 deshalb so wichtig ist, weil sie uns hilft, das Problem einer möglichen Mehrdimensionalität der Wirklichkeit zu klären? Und könnte sich nicht herausstellen, dass 54 55

Vgl. S. 60. Vgl. S. 115.

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Bergsons Raumbegriff und seine Wandlungen

die Frage nach einem Verstehen, das mehr ist als Übernahme erstarrter Denkmuster 56, der Frage, wie uns nicht-räumlich verfasste Bereiche unserer Wirklichkeit zugänglich sind, näher steht als es zunächst scheinen mag?

3.2.4 Die unbewusste Metaphysik der Intelligenz Von welchem Standort aus kann man behaupten, dass die Intelligenz die Grenzen des Bereichs, mit dem sie sich legitimerweise beschäftigt, durchbricht und versucht, ihre Herrschaft auf Bereiche der Wirklichkeit auszudehnen, für die sie nicht zuständig ist? Das ist die Frage, vor der wir stehen. Sie ist schwierig und komplex, aber im Grunde verfügen wir bereits seit Kapitel 2 über eine grobe Vorstellung der einzig möglichen Antwort: Die Lebensphilosophie, so hatten wir dort 57 festgestellt, ist eine Philosophie, die bestreitet, dass es unveränderliche, transzendente oder transzendentale Maßstäbe gibt, an denen sich das Denken orientieren kann. Sie versetzt sich mitten hinein in das Leben – dies also ist ihr Standort! –, macht das Leben zum Gegenstand und zum Prinzip zugleich, arbeitet daran, »das Leben aus dem Leben zu verstehen«. Das aber ist nur möglich unter der Bedingung, dass das Leben »sich artikuliert«, sich differenziert, partikulare Gestalten ausbildet, die sich aneinander reiben, in Gegensatz und Widerspruch zueinander treten können. Daraus folgt: Es gibt keinen Standort außerhalb unserer Erfahrung der Wirklichkeit, auf den wir uns stellen könnten, um deren verschiedene Bereiche zu überblicken und der Intelligenz ihre Parzelle zuzuweisen. Ist die Intelligenz die dem Menschen eigentümliche Gestalt des Bewusstseins, dann müssen wir annehmen, dass die Wirklichkeit der Intelligenz mit der menschlichen Wirklichkeit überhaupt identisch und die Intelligenz für das Erschließen der gesamten Wirklichkeit zuständig ist, es sei denn, dass die Intelligenz selbst uns Anlass zu Zweifeln gibt, indem sie bei dem Versuch, die Wirklichkeit in ihre »Rahmen« einzupassen, in Schwierigkeiten gerät oder gar scheitert. Nun ist es aber eben dies, was Bergson diagnostiziert. Wären wir je auf den Gedanken gekommen, so fragt er, daran zu zweifeln, dass das Handeln des homo faber die Wirklichkeit berührt und etwas 56 57

Vgl. S. 99. Vgl. Abschnitt 2.2.1, S. 179.

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Wahres an ihr trifft, »wenn die Philosophie uns nicht gezeigt hätte, auf welche Widersprüche unsere Spekulation stößt, in welche Sackgassen sie sich verläuft«? 58 Das Handeln verlässt weder den Bereich der materiellen Dinge, noch zweifelt es an sich. Die Intelligenz dagegen löst sich vom Handlungsbezug, wird »Spekulation«, gerät dabei in Schwierigkeiten, bemerkt diese Schwierigkeiten aber – hier in Gestalt der Philosophie – auch selbst und deckt sie auf. Spekulation. Dies also ist der Ursprung der Schwierigkeiten, in die die Intelligenz gerät. An deren Anfang steht weniger der vorwitzige Entschluss, einmal nachzusehen, was sich auf der anderen Seite der Mauer befinden mag, als vielmehr eine Verselbständigung des Denkvollzugs. Die Intelligenz, von der Natur damit beauftragt, das Handeln des homo faber zu leiten, bleibt, solange sie sich dieser Aufgabe widmet, über das Handeln mit der Wirklichkeit in Verbindung. Löst sie sich aber aus diesem Zusammenhang, betreibt sie das Denken um des Denkens willen, dann verliert sie Halt und Orientierung. Wie und warum dies geschehen kann, erläutert Bergson im zweiten Kapitel von L’évolution créatrice 59. Er führt dort zwei Ursachen an, die zusammentreffen müssen, um die Hinwendung der Intelligenz zur Spekulation zu erklären. Zunächst einmal stellt Bergson fest, dass man das Verhältnis von Intelligenz und Handeln nicht nur im Hinblick auf ein einzelnes Individuum erörtern darf, sondern berücksichtigen muss, dass das Individuum in einer Gesellschaft lebt und das Handeln sich häufig in einem größeren gesellschaftlichen Zusammenhang abspielt. Gemeinsam handelnde Menschen nun müssen sich verständigen, und dieser Notwendigkeit verdankt die Sprache ihre Entstehung und ihre wesentlichen strukturellen Merkmale. Nun ist aber Sprache nicht gleich Sprache. Bergson unterscheidet, wie wir wissen 60, zwischen den Zeichen und dem Zeichengebrauch der Tiere einerseits sowie andererseits den Zeichen und dem Zeichengebrauch des Menschen. Da die Intelligenz des Menschen seiner Umwelt nicht angepasst ist, da sie stets Neues entdeckt und Neues schafft, müssen die Zeichen der menschlichen Sprache flexibel sein. Und da die menschliche Sprache mit einer begrenzten Vgl. Anm. 49. Ich beziehe mich hier auf den Abschnitt Fonction naturelle de l’intelligence. In dessen erstem Teil (EC 623–628 | 152–158 | 156–162) erörtert Bergson die in das Handeln eingebundene Intelligenz. Mein Referat fasst die Hauptpunkte des zweiten Teils (EC 628–635 | 158–166 | 162–170) zusammen. 60 Vgl. Abschnitt 2.2.2.1, S. 189. 58 59

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Bergsons Raumbegriff und seine Wandlungen

Anzahl von Zeichen auskommen muss, müssen diese Zeichen »von einem Objekt auf ein anderes übertragbar«, muss ihr Sinn »unter Ausnutzung der zufälligsten Verwandtschaft und entferntesten Analogie« erweiterbar sein. »Was die Zeichen der menschlichen Sprache charakterisiert, ist nicht sowohl ihre Allgemeinheit, wie ihre Beweglichkeit.« Da aber die Beweglichkeit der Sprachzeichen unbegrenzt ist, ermöglicht sie nicht nur ein »Schweifen von Ding zu Ding«, sondern auch eine »Ausdehnung von Dingen auf Ideen«. Und so überträgt die Intelligenz ein Zeichen vom wahrgenommenen Ding auf ein erinnertes Ding, von einer deutlichen auf eine vage Erinnerung, schließlich von der Vorstellung eines Dinges auf den Vollzug des Vorstellens und damit auf einen geistigen Vorgang. Zu diesem Schweifen und Ausschweifen, das die menschliche Sprache aufgrund der rein konventionellen Zeichenbedeutungen ermöglicht, gesellt sich als zweite Ursache die der menschlichen Intelligenz eigentümliche Möglichkeit zur Rückwendung auf sich selbst, d. h. zur Reflexion. Mag die Intelligenz auch dafür bestimmt sein, »nach außen« zu blicken und das Handeln des Menschen in der Welt zu lenken, so verfügt sie doch ebenso über die Fähigkeit, »nach innen«, nämlich auf sich selbst zu blicken und ihre eigenen Vollzüge thematisch werden zu lassen. Im Naturzustand verloren in der Welt der Dinge, hat sie doch auch die Möglichkeit, sich auf sich selbst zu besinnen. Dass diese Möglichkeit Wirklichkeit werden kann und wird, verdankt die Intelligenz der Sprache – und damit sind die beiden Ursachen verknüpft: »Ohne die Sprache wäre die Intelligenz vermutlich an die materiellen Dinge geschmiedet geblieben, deren Betrachtung für sie von Nutzen war. Sie hätte in einem somnambulen Zustand gelebt, sich selbst äußerlich und hypnotisiert von ihrem Tun. Die Sprache hat viel zu ihrer Befreiung beigetragen. […] Von dem Tage an, an dem die Intelligenz, auf ihre Vollzüge reflektierend, sich selbst als Schöpferin von Ideen, als Vorstellungsvermögen überhaupt erfasst, gibt es keinen Gegenstand mehr, über dessen Idee sie nicht zu verfügen wünscht, und sei er auch ohne direkten Bezug zum praktischen Handeln.« 61

Il est présumable que, sans le langage, l’intelligence aurait été rivée aux objets matériels qu’elle avait intérêt à considérer. Elle eût vécu dans un état de somnambulisme, extérieurement à elle-même, hypnotisée sur son travail. Le langage a beaucoup contribué à la libérer. […] Du jour où l’intelligence, réfléchissant sur ses démarches, s’aperçoit elle-même comme créatrice d’idées, comme faculté de représentation

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Wie verwickelt dieser Weg der Intelligenz zur Spekulation ist, bemerkt man, wenn man versucht, ihn zu bewerten. Auf der einen Seite steht die in das Handeln eingebundene Intelligenz: Sie verfügt über einen durch das Handeln vermittelten Wirklichkeitsbezug, ist aber, weil nur auf die äußerlichen Handlungsziele fixiert, selbstvergessen. Auf der anderen Seite die spekulative Intelligenz: Sie hat die Dimension der Reflexion und der Selbsterkenntnis entdeckt, dafür aber den Kontakt zur Wirklichkeit verloren. Schlimmer noch: Die Intelligenz unternimmt den Versuch der Selbsterkenntnis – sowie, im weiteren Verlauf, der Erkenntnis des Lebendigen, des Seelischen, des Geistigen überhaupt – mit inadäquaten Mitteln. Die Wortsprache, mag sie auch geholfen haben, die Intelligenz aus der Benommenheit durch die Welt der materiellen Dinge zu befreien, ist und bleibt eine durch die Struktur und die möglichen Manipulationen der Dinge zutiefst geprägte Sprache. Und deshalb geschieht es, dass das Wort, angewandt »auf einen Gegenstand, der kein Ding ist und der, lange verborgen, nur des Wortes harrte, um aus dem Schatten ins Licht zu treten«, den Gegenstand eben gerade nicht ins Licht rückt, sondern ihn zu- bzw. verdeckt und ihn schließlich in ein Ding verwandelt. Indessen fragen wir hier weder nach den Details dieser Verdinglichung noch gar nach einem adäquateren Weg zur Selbsterkenntnis. Immer noch fragen wir: Wie kann die Verfehlung diagnostiziert werden? Wie kann die Intelligenz ohne einen von außen kommenden Maßstab darauf aufmerksam werden, dass sie sich verlaufen hat? Bergson gibt darauf zwei Antworten: eine vor allem für Philosophen und eine für alle Menschen relevante. Wenn man Bergsons Texte systematisch auf Formulierungen untersucht, die dem deutschen Wort »unbewusst« entsprechen, dann fällt auf, dass darin das Adverb inconsciemment anders gebraucht wird als das Adjektiv inconscient oder das Substantiv l’inconscient. Während Adjektiv und Substantiv sich auf eine breite Palette von Phänomenen – von geistlosen Automatismen bis zum Hervorbringen oder Rezipieren von Kunstwerken – beziehen können, ist das Einsatzgebiet des Adverbs verhältnismäßig eng begrenzt und folgt in fast allen Fällen einem Muster, das schon durch den Vergleich weniger Beispiele erkennbar wird:

en général, il n’y a pas d’objet dont elle ne veuille avoir l’idée, fût-il sans rapport direct avec l’action pratique. – EC 630 | 160 | 164

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»Dies vergaß mein Gesprächspartner, als er mich über das Theater von morgen befragte. Vielleicht spielte er auch unbewusst mit dem Sinn des Wortes ›möglich‹. Hamlet war zweifellos möglich, bevor das Stück geschrieben wurde, wenn man darunter versteht, dass es für seine Verwirklichung kein unübersteigbares Hindernis gab. […] Dennoch geht man vom rein negativen Sinn des Wortes ›möglich‹ insgeheim und unbewusst zum positiven Sinn über. Möglichkeit bedeutete eben noch ›Fehlen von Hindernissen‹; jetzt macht man daraus eine ›Präexistenz in Gestalt einer Idee‹, was etwas ganz Anderes ist.« 62 »Tatsächlich aber steckt in den Ideen der Unordnung und des Nichts, wenn sie überhaupt etwas bedeuten, mehr als in denen der Ordnung und der Existenz, weil sie mehrere Ordnungen und mehrere Existenzen und außerdem ein Spiel des Geistes enthalten, der unbewusst mit ihnen jongliert.« 63

Das diesen Beispielen gemeinsame Muster lässt sich folgendermaßen beschreiben: Einerseits zeigt sich, dass Bergson das Adverb inconsciemment ausschließlich im Zusammenhang mit rationalen, d. h. für die Intelligenz charakteristischen Vollzügen, in der Regel sprachlich vermittelten Denkvollzügen verwendet. Andererseits fällt auf, dass er es einsetzt, um diese Denkvollzüge zu kritisieren. In den Vollzug, der eigentlich bewusst ablaufen sollte, mischt sich nämlich eine unbewusste Komponente, und diese führt zu einer Verwechselung, einer Vertauschung oder einer unzulässigen Übertragung: Das, wovon man zu sprechen vorgibt, wird stillschweigend durch etwas Anderes ersetzt, aber man spricht dennoch einfach weiter, als wäre nichts geschehen. Verbindet man diese Beobachtung mit Bergsons Ausführungen über die Hinwendung der Intelligenz zur Spekulation und die Rolle,

C’est ce qu’oubliait mon interlocuteur quand il me questionnait sur le théâtre de demain. Peut-être aussi jouait-il inconsciemment sur le sens du mot « possible ». Hamlet était sans doute possible avant d’être réalisé, si l’on entend par là qu’il n’y avait pas d’obstacle insurmontable à sa réalisation. […] Pourtant du sens tout négatif du terme « possible » vous passez subrepticement, inconsciemment, au sens positif. Possibilité signifiait tout à l’heure « absence d’empêchement » ; vous en faites maintenant une « préexistence sous forme d’idée », ce qui est tout autre chose. – PM 1341 f. | 112 f. | 121 f. [Hervorhebung von mir (C. K.)] 63 En réalité, il y a plus de contenu intellectuel dans les idées de désordre et de néant, quand elles représentent quelque chose, que dans celles d’ordre et d’existence, parce qu’elles impliquent plusieurs ordres, plusieurs existences et, en outre, un jeu de l’esprit qui jongle inconsciemment avec eux. – PM 1339 | 109 | 119 – [Hervorhebung von mir (C. K.)] 62

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die die Sprache in diesem Vorgang spielt, so ergibt sich, dass die Sprache offensichtlich unbestimmt genug ist, um Bedeutungsverschiebungen zu ermöglichen, die den Schwenk von materiellen zu nichtmateriellen Gegenständen abbilden, dass aber die beim Umgang mit praktisch-inerten Dingen geformte Wortsprache nicht elastisch genug ist, um sich den nicht-materiellen Dingen anzuschmiegen. Dafür wäre eine andere Sprache oder zumindest ein anderer Gebrauch der Sprache notwendig, wie ein weiterer Satz zeigt, in dem Bergson das Adverb inconsciemment verwendet: »Es gibt Fälle, in denen die bildhafte Sprache bewusst den eigentlichen Sinn, die abstrakte Sprache dagegen unbewusst nur den übertragenen Sinn ausspricht.« 64

Den Gegensatz zwischen der starren Begrifflichkeit der Sprache und der Ungegenständlichkeit jener Vorgänge, die Gegenstand der Spekulation sind, kann die Sprache zwar zunächst noch dadurch ausgleichen, dass sie mehrere Worte oder mehrere Bedeutungen eines einzigen Wortes schafft, die unterschiedliche Aspekte des Vorgangs bezeichnen. Aber dann muss sie kapitulieren: Das Ineinander der unterschiedlichen Aspekte in einem einzigen Vorgang kann sie nur noch durch ein Nacheinander der Worte bzw. Bedeutungen darstellen, das den Wechsel der Gesichtspunkte verschweigt. Auf diese Weise verstrickt sich die Intelligenz in logische Fehler, die der Philosoph aufdecken und auf ihre Ursachen befragen kann. Damit liegt eine erste Antwort auf unsere Frage vor: Der Philosoph kann die durch regelwidrigen Sprachgebrauch verursachten Fehler in Argumentationen bemerken und sich veranlasst sehen, nach deren Grund zu fragen, ohne dafür einen anderen Maßstab zu benötigen als die Logik gegenstandsbezogenen Sprechens. Es gibt übrigens außer der gängigen Ansicht, dass die Logik des Sprechens zu den von der Philosophie untersuchten Themen gehört, noch einen zweiten Grund dafür, dass insbesondere der Philosoph aufgefordert ist, sich um diesen fehlerhaften Sprachgebrauch zu kümmern: »Wenn die Wissenschaft den Zusammenhang, der eine Tatsache ist, im Sinne des Parallelismus erklärt, der eine Hypothese ist […], so geschieht das –

[…] il y a des cas où c’est le langage imagé qui parle sciemment au propre, et le langage abstrait qui parle inconsciemment au figuré. – PM 1285 | 42 | 58

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bewusst oder unbewusst – aus Gründen, die in den Bereich der Philosophie gehören.« 65 »Der mechanistische Instinkt des Geistes ist stärker als die Reflexion, stärker als die unmittelbare Beobachtung. Der Metaphysiker, den wir unbewusst in uns tragen und dessen Gegenwart sich […] aus der Stellung des Menschen unter den Lebewesen erklärt, hat seine festen Forderungen, seine fertigen Erklärungen, seine unverrückbaren Thesen.« 66

Das Schema des homogenen Raumes und die Axiome über die darin enthaltenen Dinge bilden zusammen eine Beschreibung der Wirklichkeit. Sie legen fest, wie die Wirklichkeit beschaffen ist. Sie legen fest, was wirklich und was nicht wirklich ist. In der Terminologie der Philosophie heißt das: Sie bilden zusammen eine Ontologie bzw. eine Metaphysik. Nur: Sie bilden eine unbewusste Metaphysik, d. h. eine solche, auf die sich die Intelligenz zwar immer stützt, wenn sie denkt, rechnet oder spricht, deren Existenz, Gehalt und Beschränktheit ihr aber nicht bewusst ist. Wie sollen wir dieses Unbewusste einordnen? Wie sollen wir es mit den Ausführungen des zweiten Kapitels in Verbindung bringen? Man könnte sagen, es handele sich hier um ein kognitives Unbewusstes – zwar nicht im Sinne von Vorstellungen, die zu schwach sind, um bis ins Bewusstsein vorzudringen, aber doch von allgemeinsten Annahmen, auf denen alle Erkenntnisprozesse basieren. Man hätte dann das Unbewusste inhaltlich bzw. seiner Funktion nach bestimmt, und man würde dann so vorgehen wie Bergsons Zeitgenosse Georges Dwelshauvers, der vor allem diesen Aspekt des Unbewussten untersucht hat: »Unbewusst nennt man diejenigen psychischen Tatsachen, die unser geistiges Leben beeinflussen, ohne jedoch Bestandteil dessen zu sein, das wir in uns selbst, in unserem Bewusstsein, bemerken.« 67 […] si la science interprète la solidarité, qui est un fait, dans le sens du parallélisme, qui est une hypothèse […], c’est, consciemment ou inconsciemment, pour des raisons d’ordre philosophique. – MM 164 | 5 | IV 66 L’instinct mécanistique de l’esprit est plus fort que le raisonnement, plus fort que l’observation immédiate. Le métaphysicien que nous portons inconsciemment en nous, et dont la présence s’explique, comme on le verra plus loin, par la place même que l’homme occupe dans l’ensemble des êtres vivants, a ses exigences arrêtées, ses explications faites, ses thèses irréductibles […]. – EC 508 | 17 | 23 67 On appelle en effet inconscients […] les faits psychiques qui influencent notre vie mentale sans faire partie de ce dont nous nous rendons compte en nous-mêmes, dans notre conscience. – Dwelshauvers[1916] 13 65

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Wenn ich vorschlage, die unbewusste Metaphysik der Intelligenz anders einzuordnen, so nicht deshalb, weil ich diese Einordnung für falsch hielte, sondern deshalb, weil es mir für die Interpretation von Bergsons Philosophie wesentlich fruchtbarer zu sein scheint, sie als eine Form des statischen Unbewussten aufzufassen. Diese Bezeichnung hatten wir bisher auf zur Gewohnheit gewordene und dadurch sinnentleerte Verhaltens- und Denkmuster angewandt 68, und so stellt sich angesichts meines Vorschlags die Frage, ob die Bedeutung des Begriffs erweitert oder auch die unbewusste Metaphysik der Intelligenz als gewohnheitsmäßiges Denkmuster interpretiert werden soll. Die Antwort lautet: Unabhängig davon, ob bzw. wie die Bedeutung des Begriffs »statisches Unbewusstes« noch zu modifizieren sein mag, ist doch jedenfalls die Möglichkeit, die allgemeinsten Strukturen der Intelligenz den Gewohnheiten und Automatismen anzunähern, gerade der Grund für meinen Vorschlag. Anders als Kant betrachtet Bergson die Strukturen, die die Leistung der Intelligenz ermöglichen, gestalten, aber auch beschränken, nicht als unveränderlich. Diese Strukturen sind, wie wir in Kapitel 2 69 hinlänglich erfahren – gegen den Evolutionsgedanken nicht immun. Die Intelligenz als Gestalt des menschlichen Bewusstseins ist nach Bergsons Auffassung nicht nur eingebettet in einen übergreifenden Entwicklungsprozess, durch den sie als eine unter mehreren Gestalten des Bewusstseins in Erscheinung tritt, sondern sie weist auch eine interne, mit der Entfaltung der menschlichen Fähigkeit zur Bearbeitung der Materie aufs Engste verbundene Entwicklung auf. Ist die Geschichte der menschlichen Technik die Entwicklungsgeschichte jener Verhaltensmuster, die es dem Menschen ermöglichen, materielle Dinge zu bearbeiten, so ist die Geschichte der menschlichen Intelligenz die Entwicklungsgeschichte jener Denkmuster, die es dem Menschen ermöglichen, über materielle Dinge in für die Praxis nützlicher Weise nachzudenken. Die unbewussten Strukturen, gemäß denen sich menschliches Denken vollzieht, haben sich zusammen mit den praktischen Fähigkeiten des homo faber herausgebildet, und deshalb sind sie Gewohnheiten wie andere Gewohnheiten auch. Aber wenn es sich so verhält, dann sind wir nicht genötigt, ihre Mängel – von denen die beschriebenen sprachlichen Zweideutigkeiten erst den Anfang darstellen – als gegeben und unabänderlich hinzunehmen, sondern können ver68 69

Vgl. Abschnitt 2.3.2.2, S. 276. Vgl. Abschnitt 2.3.1, S. 245.

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Bergsons Raumbegriff und seine Wandlungen

suchen, die erstarrten Denkmuster zu verflüssigen und nach geeigneteren Formen zu suchen. Eben darum bemüht sich Bergson, und seine diesbezüglichen Bemühungen können wir leichter mitvollziehen, wenn wir die unbewusste Metaphysik der Intelligenz als statisches Unbewusstes fassen. Bergsons Anliegen, die unbewusste Dingontologie nicht als unabänderlich erscheinen zu lassen, wird bereits an einer bisher noch nicht erwähnten Besonderheit der Belege für das Adverb inconsciemment erkennbar. Bergson kombiniert es nicht nur gelegentlich mit einem »mehr oder weniger« 70, er verwendet zudem auffallend häufig die Kombination »bewusst oder unbewusst« 71. Damit zeigt er an, dass die Grundlagen der menschlichen Intelligenz sowie die aus ihnen entspringenden Kategorienfehler nicht notwendigerweise unbewusst sein und bleiben müssen. Mehr noch: Er zeigt an, dass die Fehlgriffe der Intelligenz nicht nur nachträglich und nicht nur von Philosophen bemerkt werden, sondern den Sprechenden und Handelnden selbst auffallen können. Die Schwierigkeiten, in die die Intelligenz gerät, äußern sich nicht nur als logische Fehler in Argumentationen, und das ist deshalb so, weil die Intelligenz Gegenstände, die keine unbelebten Dinge sind, nicht nur dann in den Blick nehmen kann, wenn es ihr selbst beliebt, sondern mit ihnen auch dann konfrontiert wird und sich ihnen stellen muss, wenn sie gerade nicht willkommen sind. Phänomene, die in die Bereiche des Lebendigen, des Seelischen, des Geistigen gehören, drängen sich auch in der alltäglichen Erfahrung auf und können als Störungen in der räumlich-dinghaft verfassten Welt des homo faber erscheinen. In dieser Situation kann die Intelligenz zweierlei tun: Fühlt sie sich den störenden Phänomenen gewachsen, kann sie versuchen, diese in ihre Wirklichkeit zu integrieren, indem sie behauptet, sie seien im Grunde auf Konstellationen materieller Dinge reduzierbar. Fühlt sie sich den Phänomenen nicht gewachsen, kann sie sie leugnen. In beiden Fällen aber gerät sie in Widerspruch mit dem, was die Erfahrung zeigt: »Aber es wäre gar nicht nötig gewesen, so ausführlich auf den Mechanismus der intellektuellen Arbeit einzugehen – es hätte genügt, ihre Resultate zu betrachten. Da nämlich würde man sehen, dass die bei der Handhabung Mais on passe plus ou moins inconsciemment du second sens au premier […]. – EC 50 | 71 | 76 71 Vgl. Anm. 65. 70

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des Leblosen so geschickte Intelligenz ihre Unzulänglichkeit aufdeckt, sobald sie an das Lebendige rührt. Denn ob es nun darum geht, das Leben des Körpers oder dasjenige des Geistes zu behandeln, immer verfährt sie mit der Schärfe, der Starrheit, der Brutalität eines Werkzeugs, das zu solchem Gebrauch nicht geschaffen ist. Die Geschichte der Hygiene und der Pädagogik wüsste davon viel zu berichten. Denkt man an das entscheidende, dringliche und beständige Interesse, das wir an der Erhaltung unseres Leibes und der Erhebung unserer Seele haben, an die speziellen, jedem Menschen gegebenen Möglichkeiten, an sich selbst sowohl wie an Anderen unablässig zu experimentieren, an den fühlbaren Schaden, durch den wir die Mangelhaftigkeit einer medizinischen oder pädagogischen Praxis erfahren und büßen, so steht man überwältigt vor der Grobheit, vor allem aber vor der Beharrlichkeit der Irrtümer. Als deren Ursprung aber lässt sich mühelos die Verranntheit erkennen, mit der wir darauf bestehen, das Lebendige wie Lebloses zu behandeln, und alle Wirklichkeit, so fließend sie auch sein mag, in Form fester und starrer Körper zu denken.« 72

Hier sieht man, wie die unbewusste Dingontologie der Intelligenz, obgleich durchaus unbewusst bleibend, ihre Wirkungen bis in das gesellschaftliche Handeln der Menschen hinein entfaltet. Menschliches Handeln (dieses Wort zunächst in einem sehr weiten Sinne genommen), das (nunmehr unter Verwendung der präziseren, von Hannah Arendt vorgeschlagenen Begrifflichkeit) teils Herstellen von Dingen, teils Handeln gegenüber anderen Menschen sein sollte, gerät in eben jene Widersprüchlichkeit, die ich hier sprachlich nachzubilden versuche, wenn Menschen wie Dinge behandelt werden. Wenn die Intelligenz der Meinung ist, dass Gesundheit und Bildung hergestellt werden müssen, und auf diesem Weg immer weiter fortschreitet, dann wird irgendwann ein Punkt erreicht sein, an dem nicht Mais point n’était besoin d’entrer dans d’aussi longs détails sur le mécanisme du travail intellectuel : il suffirait d’en considérer les résultats. On verrait que l’intelligence, si habile à manipuler l’inerte, étale sa maladresse dès qu’elle touche au vivant. Qu’il s’agisse de traiter la vie du corps ou celle de l’esprit, elle procède avec la rigueur, la raideur et la brutalité d’un instrument qui n’était pas destiné à un pareil usage. L’histoire de l’hygiène et de la pédagogie en dirait long à cet égard. Quand on songe à l’intérêt capital, pressant et constant, que nous avons à conserver nos corps et à élever nos âmes, aux facilités spéciales qui sont données ici à chacun pour expérimenter sans cesse sur lui-même et sur autrui, au dommage palpable par lequel se manifeste et se paie la défectuosité d’une pratique médicale ou pédagogique, on demeure confondu de la grossièreté et surtout de la persistance des erreurs. Aisément on en découvrirait l’origine dans notre obstination à traiter le vivant comme l’inerte et à penser toute réalité, si fluide soit-elle, sous forme de solide définitivement arrêté. – EC 635 | 165 f. | 169 f.

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mehr nur die innere Stimme einiger Philosophen ruft: »Unmöglich!«. Das also ist die eine Strategie: Die Intelligenz behauptet, dass gewisse Phänomene, mögen sie auch als nicht-materielle erscheinen, im Kern doch materielle sind. Die andere Strategie besteht im Leugnen. Ein Phänomen, das Bergson mehrfach unter diesem Gesichtspunkt erörtert, ist die Telepathie. Nun geht es mir hier nicht darum, die sich hinter diesem Begriff bezeichnende Problematik zu erörtern. Von Interesse ist einzig Bergsons Argument, dass die Möglichkeit der Telepathie in aller Regel nicht aufgrund von Sachargumenten, sondern aufgrund ontologischer Prämissen geleugnet wird: »Doch es handelt sich hier um etwas ganz anderes als um Widerlegen oder Kritisieren. Hinter den Einwendungen der einen, hinter dem Spott der andern steckt nämlich, wie ich zeigen will, unsichtbar und gegenwärtig, eine gewisse Metaphysik, die ihrer selbst unbewusst ist – unbewusst und deshalb inkonsistent, unbewusst und deshalb unfähig, sich, wie eine diesen Namen verdienende Philosophie es tun muss, unaufhörlich durch Erfahrung und Beobachtung zu wandeln – eine Metaphysik, die übrigens etwas Natürliches ist, die jedenfalls in einer Neigung wurzelt, die der menschliche Geist seit langer Zeit angenommen hat, woraus sich ihre Beharrlichkeit und ihre Beliebtheit erklären.« 73

Was immer auch geschehen mag, wenn die Intelligenz ihrer unbewussten Metaphysik bewusst wird, diese formuliert und sie mit den Aussagen jener Menschen konfrontiert, die behaupten, telepathische Erfahrungen gemacht zu haben – solange die Dingontologie unbewusst bleibt und sich lediglich als zwanghaftes Leugnen äußert, verstrickt sie sich in Widersprüche, die leicht bemerkt werden können. Denn wenn Aussagen von Zeugen einfach mit einer Handbewegung vom Tisch gewischt werden können – »was wird dann aus der Geschichte werden« 74? Mais il s’agit de bien autre chose ici que de réfuter ou de critiquer. Je voudrais montrer que derrière des objections des uns, les railleries des autres, il y a, invisible et présente, une certaine métaphysique inconsciente d’elle-même – inconsciente et par conséquent inconsistante, inconsciente et par conséquent incapable de se remodeler sans cesse, comme doit le faire une philosophie digne de ce nom, sur l’observation et l’expérience –, que d’ailleurs cette métaphysique est naturelle, qu’elle tient en tout cas à un pli contracté depuis longtemps par l’esprit humain, qu’ainsi s’expliquent sa persistance et sa popularité. – ES 862 | 63 | 56 f. 74 Bornons-nous à dire, pour ne parler que de ce qui nous semble le mieux établi, que si l’on met en doute la réalité des « manifestations télépathiques » par exemple, après les milliers de dépositions concordantes recueillies sur elles, c’est le témoignage hu73

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3.3 Hermeneutische Aspekte der Welt des homo faber Wir haben im Abschnitt 3.2 festgestellt, dass Bergsons Theorie des Raumes nicht lediglich vom physikalischen Raum, sondern vom Raum als einer allgemeinen symbolischen Form handelt, und wir sind auf einige Indizien gestoßen, die darauf hindeuten, dass die so verstandene Theorie des Raumes, weit davon entfernt, sich unserer These vom hermeneutischen Charakter der Philosophie Bergsons als Hindernis in den Weg zu stellen, vielmehr als Raum der vorgegebenen Sprechmuster deutliche Bezüge zur Texthermeneutik und als Raum der gewohnheitsmäßigen Handlungsmuster deutliche Bezüge zur Handlungshermeneutik aufweist. Als mit »Dingen« angefüllten Raum versteht Bergson offenbar eine diskrete Mannigfaltigkeit, in die hinein ein geistiger Gehalt entfaltet werden kann. Außerdem haben wir festgestellt, dass die Intelligenz über die symbolische Form der diskreten Mannigfaltigkeit nicht bewusst verfügt, sondern vielmehr auf ihr als einer unbewussten Ontologie basiert und dass die Intelligenz, weil sie sich – teils freiwillig, teils unfreiwillig – mit Gegenständen befasst, die sich in die »Rahmen« der diskreten Mannigfaltigkeit nur widerstrebend oder gar nicht einfügen, in Schwierigkeiten gerät, die auch ohne einen von außen kommenden Maßstab als solche erkannt und zum Anlass weiteren Nachfragens werden können. Von außen – d. h. vom Standpunkt unseres Vorwissens in Bezug auf Bergsons Intuition – betrachtet, hat das in den Raum verstrickte menschliche Bewusstsein damit den ersten Schritt hin zur Entdeckung der Dauer getan. Nur eben: Das ist unser Vorwissen. Das Bewusstsein, das wir hier betrachten, weiß von alldem noch nichts. Insofern stellt sich nun die Frage, wie dieses Bewusstsein, das bisher ja lediglich bemerkt hat, dass da irgendetwas nicht stimmen kann, nun konkret auf den Weg gelenkt wird, der zur Dauer führt. Dieser Frage möchte ich im hier beginnenden letzten Abschnitt dieses Kapitels nachgehen, indem ich einige von Bergson erörterte Phänomene vorstelle, die innerhalb der räumlichen Welt des homo faber bleiben, aber doch schon etwas Dynamisches am Werk zeigen, das gleichsam zu Rissen in seiner starren Wirklichkeit führt. Die hier zu betrachtenden Phänomene verweisen aber nicht nur auf die Dauer, main en général qu’il faudra déclarer inexistant aux yeux de la science : que deviendra l’histoire ? – DS 1244 | 337 | 246

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sondern auch auf eine Hermeneutik. Sie haben einen unverkennbar hermeneutischen Charakter, freilich in der Weise, dass sie gleichsam vorzeitig erschlaffte Impulse, vorzeitig vertrocknete Keime des Verstehens zeigen, so dass sich anhand einer Betrachtung ihres Misslingens erschließt, wie gelingendes Verstehen auszusehen hätte. Ich ordne die Phänomene teils der allen Menschen gemeinsamen Lebenswelt (Abschnitt 3.3.1), teils der nur für die Spezialisten relevanten Wissenschaft (Abschnitt 3.3.2) zu. Dabei handelt es sich freilich nur um ein grobes Ordnungsschema. Dass sich beide Aspekte verschränken können, wird bereits im Abschnitt 3.3.1.1 deutlich werden.

3.3.1 Lebenswelt 3.3.1.1 Die sinnliche Wahrnehmung als Interpretation Kant hatte die Aktivität des Verstandes als Synthese einer sinnlichen Mannigfaltigkeit gefasst und so den Sensualismus (Locke, Hume) mit dem Rationalismus (Descartes, Leibniz) versöhnt. Bergson ist, wie wir gesehen haben 75, in dieser Hinsicht völlig anderer Meinung. Seiner Ansicht nach vermittelt uns die sinnliche Wahrnehmung ursprünglich eine ganzheitliche Erfahrung der Wirklichkeit, und diese wird unter dem Einfluss der Intelligenz, die Kants Verstand entspricht 76, gerade erst in eine diskrete Mannigfaltigkeit zerlegt. Dies Ergebnis liefert jedenfalls die Untersuchung der Dinge im Raum. Gleichwohl kennt auch Bergson eine Synthese des Mannigfaltigen. Sie vollzieht sich allerdings nicht erst – als Synthese einer gegebenen Mannigfaltigkeit des Sinnlichen – in der Intelligenz, sondern bereits in der Wahrnehmung selbst. Auf eigenartige Weise verbindet sich hier die Synthese mit der Erzeugung sinnlicher Mannigfaltigkeit:

Vgl. Abschnitt 3.2.1, S. 306. In vielen Texten benutzt Bergson intelligence und entendement als Synonyme. Vgl. etwa: Une théorie de la vie qui ne s’accompagne pas d’une critique de la connaissance est obligée d’accepter, tels quels, les concepts que l’entendement met à sa disposition […]. D’autre part, une théorie de la connaissance, qui ne replace pas l’intelligence dans l’évolution générale de la vie, ne nous apprendra ni comment les cadres de la connaissance se sont constitués, ni comment nous pouvons les élargir ou les dépasser. – EC 492 f. | IX | 5 – [Hervorhebungen von mir (C. K.)]

75 76

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»Vom ersten Blick an, den wir auf die Welt werfen, und sogar noch, bevor wir aus ihr Körper herauslösen, unterscheiden wir darin Qualitäten. Farbe folgt auf Farbe, Ton auf Ton, Widerstand auf Widerstand usw. Jede dieser Qualitäten ist, für sich genommen, ein Zustand, der reglos in seinem Sosein zu beharren scheint, wartend, bis ein anderer Zustand ihn ablöse. Dennoch zerfällt jede dieser Qualitäten vor der Analyse in eine Unzahl elementarer Bewegungen. […] Trillionen von Schwingungen können es sein, die sich im kleinsten wahrnehmbaren Bruchteil einer Sekunde, in der fast momentanen Wahrnehmung einer Sinnesqualität wiederholen. Die Permanenz einer Sinnesqualität besteht in dieser Wiederholung von Bewegungen, wie das Leben aus der Folge von Herzschlägen besteht.« 77

Die Wirklichkeit, die wir bisher kennengelernt haben, wird hier in zweifacher Weise erweitert. Zum einen bekommt sie gleichsam Farbe. Bisher haben wir Räume beschrieben, die Dinge überhaupt, Worte überhaupt, Handlungsmuster überhaupt, kurz: eigentümlich blasse Gestalten beherbergten. Nun kommen Eigenschaften ins Spiel. Die Dinge, die wir wahrnehmen, haben diese oder jene Farbe, tönen auf diese oder jene Weise, sind weich oder hart usw. Bergson sagt sogar: Qualitäten unterscheiden wir, bevor wir die wahrgenommene Wirklichkeit in Dinge zerlegen. 78 Das kann man so verstehen, dass uns die Qualitätsunterschiede – z. B. zwischen benachbarten Farben – Hinweise darauf geben, wo sich Grenzen zwischen verschiedenen Dingen ziehen lassen. Und das wiederum ist deshalb möglich, weil wahrgenommene Sinnesqualitäten diskrete und stabile Zustände sind, sich also mühelos unterscheiden lassen. So gesehen, stellen die diskreten Mannigfaltigkeiten 79 der Sinnesqualitäten zwar eine Erweiterung der Dès le premier coup d’œil jeté sur le monde, avant même que nous y délimitions des corps, nous y distinguons des qualités. Une couleur succède à une couleur, un son à un son, une résistance à une résistance, etc. Chacune de ces qualités, prise à part, est un état qui semble persister tel quel, immobile, en attendant qu’un autre le remplace. Pourtant chacune de ces qualités se résout, à l’analyse, en un nombre énorme de mouvements élémentaires. […] En la plus petite fraction perceptible de seconde, dans la perception quasi instantanée d’une qualité sensible, ce peuvent être des trillions d’oscillations qui se répèten : la permanence d’une qualité sensible consiste en cette répétition de mouvements, comme de palpitations successives est faite la persistance de la vie. – EC 749 | 300 | 304 78 Vgl. die analogen Auffassungen in der Kunst der Bergson-Zeit, insbesondere bei Cézanne. 79 Ein Farbspektrum oder ein Kontinuum von Tönen verschiedener Höhe wird – in Analogie zum Zahlenraum – als unendliche Menge von Positionen gedacht, spricht also nicht gegen die Auffassung der Sinnesqualitäten als diskreter Mannigfaltigkeiten. 77

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schematischen räumlichen Welt dar, fügen sich aber problemlos in sie ein. Anders verhält es sich mit der zweiten Erweiterung. Es stellt sich nämlich heraus, dass die als stabil erscheinenden Qualitäten in Wahrheit mehr oder weniger schnelle Schwingungen sind. Das heißt zunächst einmal, dass sich die scheinbare Ruhe als innere Vibration entpuppt. Vor allem aber heißt es, dass sich in das scheinbare Beharren eines Zustands der ganz neuartige Aspekt eines Verlaufs hineinschiebt, der nicht außer Acht gelassen werden kann, ohne das Phänomen zu vernichten, weil die wahrgenommene Farb- oder Tonqualität von der Schwingungsfrequenz abhängig ist. Woher wissen wir, dass es sich so »in Wahrheit« verhält? In erster Linie sind es natürlich die Erkenntnisse der Wissenschaft, auf die Bergson sich hier stützt. Zudem beruft er sich auf besondere Situationen – wie etwa das Hören sehr tiefer Töne –, in denen wir den Übergang einer Empfindungsqualität zu einer Schwingung auch mit unseren Sinnesorganen wahrnehmen können. 80 Dieser Ursprung des Wissens ist wichtig: Es handelt sich hier nicht darum, dass irgendeine Metaphysik dem in der Wahrnehmung von Sinnesqualitäten befangenen Alltagsmenschen erklären würde, wie sich die Dinge in Wahrheit verhalten. Vielmehr ist es teils die Wahrnehmung der in der Lebenswelt agierenden Menschen selbst, teils die als Fortsetzung, Verfeinerung und Systematisierung der menschlichen Wahrnehmungs- und Handlungsweise zu begreifende Naturwissenschaft 81, die den neuartigen Verlaufsaspekt in der Wirklichkeit aufdeckt und so Unruhe in die bisher ruhige Welt der Dinge und Qualitäten bringt. Nun ist es freilich nicht damit getan, auf diesen Gegensatz zwischen phänomenaler Erfahrung und wissenschaftlicher Erklärung hinzuweisen, und schon gar nicht würden wir Bergsons Auffassungen gerecht werden, wenn wir bei der Bemerkung stehenblieben, die erfahrene Qualität sei »in Wahrheit« eine Schwingung, würde dies MM 338, 342 | 228, 232 | 201, 205 – Man könnte die Frage stellen, warum Bergson sich die Sache so schwer macht. Genügt nicht der Umgang mit einem Streichinstrument, ja mit einem gespannten Gummifaden, um den Zusammenhang von Tonqualität und Schwingung zu erfahren? Aber Bergson zielt darauf ab, die Ontologie der unveränderlichen Dinge durch eine Ontologie der Bewegung, die Substanzmetaphysik durch eine Prozessmetaphysik zu ersetzen. Unter diesem Gesichtspunkt wäre es nicht günstig, sich auf die genannten Phänomene zu berufen, weil sie suggerieren, dass Schwingungen stets an materielle Träger gebunden sind. 81 Vgl. Abschnitt 3.3.2.1, S. 370. 80

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doch suggerieren, dass Bergson den Standpunkt der Naturwissenschaft als Wahrheit, die Qualitätswahrnehmung dagegen als Verfälschung betrachtet. In Wahrheit – und hier ist diese Formulierung am Platze – geht es Bergson aber gerade um das Verhältnis von naturwissenschaftlicher Beschreibung und subjektiver Erfahrung. Wie also ist die Wahrnehmung von qualitativen Zuständen unter diesem Gesichtspunkt zu bewerten? Es lassen sich vier Gesichtspunkte anführen, von denen zwei für eine negative, zwei für eine positive Bewertung sprechen. Als negativ ist zunächst einmal der Umstand zu bewerten, dass die Transformation der Schwingung in eine Qualität unbewusst erfolgt. Das gilt jedenfalls für den hier besprochenen Bereich der Wahrnehmung. Wenn der Mensch nicht auf Grenzphänomene achtet oder wissenschaftliche Untersuchungen durchführt, weiß er nichts von Schwingungen, sondern sieht sich einzig und allein mit Qualitätserfahrungen konfrontiert. Folglich entzieht sich der Transformationsvorgang auch der Kontrolle durch das Bewusstsein. Philosophische Überlegungen mögen zu dem Ergebnis führen, dass die Transformationen als förderlich oder als störend zu bewerten sind – sie werden nicht die geringste Veränderung des Wahrnehmungsverhaltens zur Folge haben. Als negativ muss sodann das Stillstellen der Dynamik bewertet werden. Die von der Wahrnehmung vorgenommene Transformation der Schwingung in eine Qualität führt dazu, dass ein Verlauf dem menschlichen Bewusstsein als Zustand präsentiert und damit verfälscht wird. Und dies geschieht nicht ab und an, sondern beinahe ausnahmslos: »Die erste Funktion der Wahrnehmung ist es gerade, eine Folge elementarer Veränderungen durch eine Verdichtungsarbeit als Qualität oder als einfachen Zustand zu erfassen.« 82 »Wahrnehmen bedeutet unbeweglich machen.« 83

Die starre Wirklichkeit im Raum ergibt sich also nicht nur infolge des Herausschneidens von isolierten Dingen aus einem gegebenen Ganzen. Es ist auch eine Folge der Transformation von Dynamik in ZuLa première fonction de la perception est précisément de saisir une série de changements élémentaires sous forme de qualité ou d’état simple, par un travail de condensation. – EC 749 | 300 | 304 83 Percevoir signifie immobiliser. – MM 342 | 233 | 206 82

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ständlichkeit. Erst die Kombination dieser beiden Operationen ergibt die diskrete und unbewegte Mannigfaltigkeit der Dinge, die den homo faber interessiert: »Während nun unsere gegenwärtige und sozusagen momentane Wahrnehmung diese Zerteilung der Materie in selbständige Gegenstände vornimmt, verdichtet unser Gedächtnis den kontinuierlichen Ablauf der Dinge zu Empfindungsqualitäten.« 84

An diesem Punkt aber erfolgt die Wendung zu einer positiveren Bewertung. Die Transformation einer Vielzahl von Bewegungen in einen einheitlichen Zustand kann nicht nur als Verfälschung aufgefasst werden, sondern auch als Interpretation. Sie beruht nicht einfach auf einem Weglassen, sondern auf einem Zusammenfassen. Die einzelnen Schwingungen werden nicht ignoriert oder dem Bewusstsein unterschlagen, sondern durch eine Art von Gedächtnis zu einer Einheit zusammengefasst und dem Bewusstsein als einheitlicher Gesamteindruck, gleichsam als Zusammenfassung des Diskurses präsentiert. Gehen wir zu weit, wenn wir die Wahrnehmung so deuten? Schieben wir Bergson klammheimlich auf ein Gleis, das am Ende zur Hermeneutik führt, aber weit von Bergsons eigener Route abweicht? Keineswegs. Auch für Bergson ist das Verfahren der Wahrnehmung nur ein Fall eines interpretierenden Zusammenfassens, und er selbst führt, wo immer er auf die Wahrnehmung zu sprechen kommt, andere und auf anderen Erkenntnisebenen sich abspielende Vorgänge an: »Woran erkennen wir gewöhnlich den Mann der Tat, den Mann, der den Ereignissen, mit denen das Geschick ihn in Berührung bringt, sein Zeichen aufdrückt? Nicht etwa daran, dass er imstande ist, eine mehr oder weniger lange Folgereihe in einer augenblicklichen Vision zu umfassen?« 85 »So ziehen sich die tausend aufeinanderfolgenden Stellungen eines Läufers in eine einzige symbolische Haltung zusammen, welche unser Auge wahrnimmt, die Kunst darstellt und welche für jedermann das Bild eines laufenden Mannes wird.« 86

Maintenant, en même temps que notre perception actuelle et pour ainsi dire instantanée effectue cette division de la matière en objets indépendants, notre mémoire solidifie en qualités sensibles l’écoulement continu des choses. – MM 344 | 236 | 209 85 A quel signe reconnaissons-nous d’ordinaire l’homme d’action, celui qui laisse sa marque sur les événements auxquels la fortune le mêle ? N’est-ce pas à ce qu’il embrasse une succession plus ou moins longue dans une vision instantanée ? – ES 826 | 15 | 14 86 C’est ainsi que les mille positions successives d’un coureur se contractent en une 84

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»Und würde nicht die ganze Weltgeschichte für ein gespannteres Bewusstsein als es das unsrige ist, ein Bewusstsein, das der Entwicklung der Menschheit beiwohnen könnte, indem es sie sozusagen in große Phasen zusammenzöge, in einer sehr kurzen Zeitspanne enthalten sein?« 87

Bergson greift hier auf den Begriff der Spannung oder Spannkraft (tension) des Bewusstseins zurück. Er bezeichnet damit die Kraft, eine Vielzahl von Einzelheiten in einem Gesamteindruck zusammenzufassen. Die Stärke dieser Spannkraft (degré de tension) bestimmt die interpretatorische Fähigkeit verschiedener Lebewesen, insbesondere aber verschiedener Menschen. Das gilt, wie wir gesehen haben, keineswegs nur für den theoretischen, sondern auch für den praktischen Menschen, der Gelegenheiten und Strategien für sein Handeln um so besser erkennt, je besser ihm das Zusammenschauen vereinzelter Tatsachen gelingt. Gleichwohl handelt es sich um eben jene uns bereits aus dem ersten Kapitel bekannte Kraft, deren Zunahme dazu führt, dass man, mit einer Wortfolge konfrontiert, zunächst den Sinn eines Satzes, dann den eines Kapitels, schließlich den eines ganzen Buches erfassen kann, und bei dessen Abnahme die sprachliche Äußerung zunächst in Sätze, dann in Worte, schließlich in einzelne Laute zerfällt. 88 Bergsons Sätze über den »Mann der Tat« verweisen bereits auf den letzten Gesichtspunkt bei der Bewertung des durch die Wahrnehmung exemplifizierten Zusammenfassens einer Folge zu einem Gesamteindruck: Diese verschafft Freiheit durch Distanzierung. Noch deutlicher kommt das in einer Textvariante zum Ausdruck: »›Mann der Tat‹ ist man umso mehr, eine je größere Menge von Ereignissen man mit einem Blick zu umspannen weiß. Und derselbe Grund ist es, der bewirkt, dass man entweder das Nacheinander der Ereignisse Stück für Stück wahrnimmt und von ihnen geführt wird oder aber sie als Ganzes packt und beherrscht.« 89

seule attitude symbolique, que notre œil perçoit, que l’art reproduit, et qui devient, pour tout le monde, l’image d’un homme qui court. – MM 343 | 234 | 207 87 Et l’histoire tout entière ne tiendrait-elle pas en un temps très court pour une conscience plus tendue que la nôtre, qui assisterait au développement de l’humanité en le contractant, pour ainsi dire, dans les grandes phases de son évolution ? – MM 342 | 233 | 206 88 Vgl. Abschnitt 1.3.1, S. 101. 89 On est d’autant plus « homme d’action » qu’on sait embrasser d’un coup d’œil un plus grand nombre d’événements : c’est la même raison qui fait qu’on perçoit des

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Jetzt erst wird deutlich, warum die Einsicht, dass die Zusammenschau eine Interpretation darstellt, eine Wendung zu einer positiven Bewertung der Operation zur Folge hatte. Die Zusammenschau wird zu einer Überschau und damit zu einer Befreiung vom Druck der Einzelheiten. Auch dies gilt im Bereich der Texte ebenso wie im Bereich der Handlungen. Dem Leser, der immer nur an den Worten klebt, mag zu jeder Situation ein Zitat seines Lieblingsphilosophen einfallen, aber damit sind die Möglichkeiten der Auseinandersetzung auch erschöpft. Erst der Aufstieg zum Sinn erlaubt es, das Werk eines Philosophen mit anderen Werken zu vergleichen, Kritik zu üben, Verbesserungen anzubringen. Und wenn es, wie Marx meinte, darauf ankommt, die Welt zu verändern, so setzt das doch jedenfalls voraus, dass man sie erst einmal interpretiert und sich dadurch von den Gegebenheiten distanziert, statt sich von ihnen herumschubsen zu lassen. 3.3.1.2 Automatisches Wiedererkennen als Form des Verstehens Das zweite hier zu erörternde Phänomen ist die Erinnerung, genauer: das Wiedererkennen. Dass Gedächtnis und Erinnerung einen Bezug zur Dauer haben, ist evident, solange man auf dieser allgemeinen Ebene der Betrachtung stehenbleibt, und so gilt denn auch das Gedächtnis seit Matière et mémoire als dasjenige Merkmal, das Lebendiges gegenüber der Materie und den unbelebten Dingen, Bewusstsein gegenüber Unbewusstem auszeichnet: »Ein Bewusstsein, das nichts von der Vergangenheit behielte, das dauernd sich selbst vergäße, würde in jedem Augenblick vergehen und wieder neu erstehen: wie anders könnte man das Unbewusste definieren? Als Leibniz von der Materie sagte, sie sei ein ›esprit instantané‹, hat er sie da nicht nolens volens für unempfindlich erklärt? Alles Bewusstsein ist also Gedächtnis – Aufbewahrung und Anhäufung der Vergangenheit in der Gegenwart.« 90

événements successifs un à un et qu’on se laisse conduire par eux, ou qu’on les saisit en bloc et qu’on les domine. – EC 750 | 301 | 305 90 Une conscience qui ne conserverait rien de son passé, qui s’oublierait sans cesse elle-même, périrait et renaîtrait à chaque instan : comment définir autrement l’inconscience ? Quand Leibniz disait de la matière que c’est « un esprit instantané », ne la déclarait-il pas, bon gré, mal gré, insensible ? Toute conscience est donc mémoire – conservation et accumulation du passé dans le présent. – ES 818 | 5 | 5

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Die Schwierigkeiten beginnen, wenn man versucht, den Zusammenhang von Erinnerung und Dauer, dann aber auch den Zusammenhang von Erinnerung und Hermeneutik konkreter zu beschreiben, und das ist vor allem deshalb so, weil Bergson zwei verschiedene Formen des Gedächtnisses, der Erinnerung und des Wiedererkennens unterscheidet. Beide Formen müssen demnach getrennt betrachtet werden. Bergson benutzt in beiden Fällen mehrere Bezeichnungen, aber es hat sich eingebürgert, die erste Form als »automatisches Wiedererkennen« (reconnaissance automatique), die zweite als »aufmerksames Wiedererkennen« (reconnaissance attentive) zu bezeichnen. Demnach lässt sich feststellen, dass ich hier das automatische Wiedererkennen betrachten, die Untersuchung des aufmerksamen Wiedererkennens dagegen auf das nächste Kapitel 91 verschieben möchte. Ganz fremd ist uns das Thema des gegenwärtigen Abschnitts nicht. Wir hatten in Kapitel 2 den Begriff des statischen Unbewussten eingeführt, ihn durch Verweis auf Gewohnheiten und Automatismen erläutert und festgestellt, dass, wenn Verhaltensmuster nach einer mehr oder weniger langen Phase bewusster Gestaltung zu Gewohnheiten werden, bei den handelnden Personen zwar das Bewusstsein des Sinnes abhanden kommt, die sinnleeren Verhaltensmuster aber gleichwohl noch zur Verfügung stehen, ja oft sogar unkontrolliert ausgeführt werden. 92 Demnach gibt es zwei Möglichkeiten, auf die erstarrten Verhaltensmuster zurückzukommen. Die eine, für die Hermeneutik so typische, besteht darin, nach dem verlorenen Sinn zu fragen, die starr gewordene Form wieder zu verflüssigen und gegebenenfalls weiterzuentwickeln. Die andere ist die Ausführung der Gewohnheit als Gewohnheit. Diese zweite Möglichkeit haben wir zwar bisher stillschweigend als hermeneutisch unergiebig betrachtet und sie deshalb beiseite gelassen, aber das war voreilig, denn Bergson entdeckt in der gewohnheitsmäßigen Ausführung das automatische Wiedererkennen als eine hermeneutisch relevante Leistung: Wenn ich – achtlos und automatisch – jeden Morgen den gleichen Weg gehe, so muss ich – was auch immer »ich« in diesem Fall bedeuten mag – ihn doch irgendwie als diesen Weg wiedererkennen. Wenn ich gewohnheitsmäßig nach einem Hammer greife, so muss ich ihn als Hammer von den anderen verfügbaren Werkzeugen unterscheiden. Bergson erörtert das automatische Wiedererkennen erstmals – 91 92

Vgl. Abschnitt 4.2.3, S. 506. Vgl. Kapitel 2, Abschnitte 2.3.2.1, S. 267, und 2.3.2.2, S. 276.

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im Rahmen der Gedächtnisproblematik – in Matière et mémoire 93, wenig später – im umfassenderen Kontext »intellektueller Anstrengungen« – noch einmal in dem wichtigen Aufsatz L’effort intellectuel 94. In diesem Aufsatz untersucht er als erste Art von intellektueller Anstrengung das in die Vergangenheit gerichtete Erinnern (als aktive Suche nach einer bestimmten Erinnerung), als dritte und letzte das auf die Zukunft verweisende Erfinden von Neuem, und bei der zweiten, mittleren ist zwar klar, dass sie sich mit Gegenwärtigem befasst, jedoch ist eine passende Bezeichnung für sie offenbar nicht leicht zu finden. Bergson spricht zunächst von einer intellection en général, was freilich Vieles heißen kann, und wohl deshalb fügt er hinzu, es handele sich um jene Anstrengung, die »wir leisten müssen, um zu verstehen und zu interpretieren« (pour comprendre et pour interpréter). Die nachfolgenden Beispiele – das Erfassen eines mathematischen Beweises, das Erfassen des Sinns einer sprachlichen Äußerung – bestätigen, dass unter der intellection eine Leistung zu verstehen ist, die in den Bereich der Hermeneutik fällt und als »Verstehen« bzw. »Erfassen von Bedeutung« übersetzt werden darf. Freilich fallen die genannten Beispiele in den Bereich der intellection vraie, die als Synonym für »aufmerksames Wiedererkennen« zu verstehen ist, und von dieser unterscheidet Bergson die intellection tout automatique, die offenkundig dem »automatischen Wiedererkennen« entspricht. Darf man, wenn es sich so verhält, auch das automatische Wiedererkennen »Verstehen« nennen? Man darf es, wie mir scheint, wenn man berücksichtigt, dass wir uns für dieses Kapitel nicht die Betrachtung der höchstentwickelten hermeneutischen Formen vorgenommen haben, sondern nach frühzeitig erschlafften hermeneutischen Impulsen Ausschau halten wollen. Überdies kann uns hier ein Vergleich ermutigen. Heidegger spricht zu Beginn des in »Sein und Zeit« dem Verstehen gewidmeten Paragraphen 31 davon, dass wir »zuweilen in ontischer Rede den Ausdruck ›etwas verstehen‹ in der Bedeutung von ›einer Sache vorstehen können‹, ›ihr gewachsen sein‹, ›etwas können‹ [gebrauchen]« 95. Heidegger nimmt also in diesem Paragraphen »eine sehr weitreichende Ausweitung des Verstehensbegriffs« vor, durch die er »Aspekte des Könnens und […] des Möglichseins« ins Spiel bringt: 93 94 95

MM 238–244 | 100–107 | 83–89 ES 941 f. | 168 f. | 150 f. Heidegger[2006] 143

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»Sich auf einen Hammer, auf das Radfahren oder Zigarettendrehen zu verstehen, heißt mit den fraglichen Dingen umgehen zu können; es heißt auch, um die Möglichkeiten zu wissen, die uns der Hammer, das Rad, Tabak und Zigarettenpapier bieten.« 96 Eben dies ist nun aber auch Bergsons Thema, wenn er von der intellection tout automatique bzw. vom automatischen Wiedererkennen handelt: »Die erste Art des Erfassens von Bedeutung besteht darin, dass man, wenn eine mehr oder weniger komplexe Wahrnehmung vorliegt, darauf automatisch mit der jeweils passenden Tat antwortet. Einen alltäglichen Gegenstand wiedererkennen – was heißt das anderes als: ihn zu benutzen wissen? Und was heißt ›ihn zu benutzen wissen‹ anderes als: sobald man ihn wahrnimmt, mechanisch die durch Gewohnheit mit dieser Wahrnehmung assoziierte Handlung andeuten?« 97

Dass das automatische Wiedererkennen auch intellection heißen darf, besagt offensichtlich nicht, dass es sich um eine Leistung der intelligence im Sinne eines bewussten Nachdenkens, eines bewussten Suchens nach der Bedeutung handeln würde. Dadurch unterscheidet es sich gerade von der intellection vraie. Zunächst einmal ist das, was dieses automatische Verstehen erfasst, eine praktische Bedeutung: eine Relevanz, eine Möglichkeit, eine Aufforderung, die mit dem wahrgenommenen Ding verbunden ist. Sodann ist diese Bedeutung eine bekannte, vertraute: Man weiß, was es mit diesem Ding auf sich hat. Zur Debatte stehen ja hier nicht irgendwelche einmaligen und eindrucksvollen Erlebnisse, sondern die Gewohnheiten des Alltags, die üblichen Verrichtungen des homo faber. Die Gewohnheiten sind Handlungsvollzüge, die gründlich geübt und erprobt wurden und die dem Handelnden, wie man sagt, »in Fleisch und Blut übergegangen« sind. Eben deshalb ist keine Intervention der Intelligenz mehr erforderlich. Der Körper weiß schon allein, was zu tun ist, es gibt gleichsam einen direkten Draht zwischen den Organen, die den Gegenstand wahrnehmen, und denen, die die passende Handlung ausführen. Kurz: Das Erfassen der Bedeutung vollzieht sich im Falle des automatischen Wiedererkennens als Handlung. Demmerling[2007] 102 L’intellection du premier genre est celle qui consiste, étant donné une perception plus ou moins complexe, à y répondre automatiquement par un acte approprié. Qu’est-ce que reconnaître un objet usuel sinon savoir s’en servir ? et qu’est-ce que « savoir s’en servir » sinon esquisser machinalement, quand on le perçoit, l’action que l’habitude a associée à cette perception ? – ES 941 f. | 168 | 150

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Verifizieren wir das anhand der Formulierungen, die Bergson in Matière et mémoire verwendet. Das automatische Wiederkennen ist, so schreibt Bergson dort, (1) ein »augenblickliches Wiedererkennen«. Es vollzieht sich reflexhaft, ohne zwischengeschaltete Überlegungen der Intelligenz. Es ist (2) ein Wiedererkennen, das »der Körper ganz allein zuwege bringt«. Es vollzieht sich, obgleich es ein Wieder-Erkennen ist, (3) »ohne ausdrückliche Erinnerung«, also ohne dass man sich etwa frühere Fälle des Hantierens mit diesem Gegenstand explizit ins Gedächtnis ruft. Und es vollzieht sich (4) überhaupt ohne irgendeine Vorstellung. Das Wiedererkennen setzt sich unmittelbar in den Handlungsimpuls um. 98 Die zusammenfassende Schlussfolgerung kann nur lauten – und dies ist die Stelle, an der Bergson die Sprechweise einführt, auf die wir schon mehrfach Bezug genommen haben –: »dass wir gemeinhin unser Wiedererkennen erst spielen, ehe wir es denken. Unser tägliches Leben vollzieht sich zwischen Gegenständen, deren bloße Gegenwart für uns die Aufforderung enthält, in Aktion zu treten. Eben darin besteht der mit ihnen verbundene Eindruck von Vertrautheit. Die Bewegungsantriebe würden also schon genügen, um uns das Gefühl des Wiedererkennens zu vermitteln.« 99

Würden genügen? Was soll der Konjunktiv an dieser Stelle bedeuten? Genügen die Bewegungsantriebe nun, um das Ding wiederzuerkennen und uns das Gefühl der Vertrautheit zu vermitteln, oder genügen sie nicht? Nun, sie genügen ohne Frage. Der Konjunktiv drückt keinen Zweifel aus, sondern verweist auf einen Überschuss im zu beobachtenden Phänomen: Die Bewegungsantriebe allein würden schon ausreichen, aber es gibt da noch mehr, es gibt in dem uneigentlichen Verstehen, das das automatische Wiedererkennen ist, so etwas wie den Vorschein eines anderen Verstehens. Und dieser Vorschein muss uns interessieren, denn wir sind ja auf der Suche nach vorzeitig zum Stillstand gekommenen hermeneutischen Impulsen und Hinweisen

Il y a d’abord, à la limite, une reconnaissance dans l’instantané, une reconnaissance dont le corps tout seul est capable, sans qu’aucun souvenir explicite intervienne. Elle consiste dans une action, et non dans une représentation. – MM 238 | 100 | 83 99 C’est dire que nous jouons d’ordinaire notre reconnaissance avant de la penser. Notre vie journalière se déroule parmi des objets dont la seule présence nous invite à jouer un rôle : en cela consiste leur aspect de familiarité. Les tendances motrices suffiraient donc déjà à nous donner le sentiment de la reconnaissance. – MM 240 | 103 | 85 98

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auf besser gelingende Bemühungen. In der Tat gibt es mehrere interessante Hinweise. Zum einen erfahren wir in L’effort intellectuel, dass das nur »gespielte« Verstehen sich nicht auf den Bereich des Hantierens mit materiellen Gegenständen beschränkt: »Dieses ganz automatische Verstehen erstreckt sich übrigens viel weiter als man denkt. Die übliche Unterhaltung besteht zum großen Teil aus fertigen Antworten auf banale Fragen, wobei die Antwort sofort auf die Frage folgt, ohne dass die Intelligenz sich für den Sinn der einen oder der anderen interessiert.« 100

Nun ist das gewiss noch kein Vorschein eines anderen Verstehens, aber Bergsons Bemerkung ist es dennoch wert, registriert zu werden, weil sie einen Bezug zum Verstehen sprachlicher Äußerungen herstellt. Man hat sich die Sache also nicht so vorzustellen, als gäbe es im Bereich des Handelns ein »uneigentliches« und im Bereich sprachlicher Äußerungen ein »eigentliches« Verstehen. Vielmehr gibt es im Bereich der sprachlichen Äußerungen etwas, was man als Hantieren mit Wortdingen bezeichnen könnte, als gewohnheitsmäßiges Verketten jener vorgefertigten Denk- und Sprechmuster, von denen bereits in L’intuition philosophique die Rede war. Und dieser Sachverhalt lässt es dann im Umkehrschluss als möglich erscheinen, dass es auch im Bereich des Handelns eine intellection vraie gibt. Der zweite interessante Hinweis – jener Hinweis, der den eigentlichen Anlass für das »würde genügen« bildet – besagt, dass das uneigentliche, nur gespielte Wiedererkennen, das aus der Wahrnehmung die praktische Bedeutung extrahiert und diese in einen Bewegungsantrieb umsetzt, durch ein hinzutretendes Erinnerungsbild ergänzt werden kann (aber nicht muss). Wir werden erst im nächsten Kapitel der Frage nachgehen, inwiefern das »regelmäßige« Auftreten von Erinnerungsbildern ein eigentlicheres Verstehen konstituiert, doch lässt sich an den von Bergson benutzten Formulierungen jetzt schon ablesen, warum das »zufällige« Hinzutreten 101 von Erinnerungsbildern zu den Bewegungsantrieben aus der Sicht des in 100 Cette intellection tout automatique s’étend d’ailleurs beaucoup plus loin qu’on ne se l’imagine. La conversation courante se compose en grande partie de réponses toutes faites à des questions banales, la réponse succédant à la question sans que l’intelligence s’intéresse au sens de l’une ou de l’autre. – ES 942 | 168 | 150 101 […] alors les images analogues à la perception présente […] viendront régulièrement et non plus accidentellement se couler dans ce moule […]. – MM 244 | 107 | 90

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die Praxis verstrickten Menschen auf eine andere Dimension des Wiedererkennens verweist. Während nämlich der handelnde Mensch nur daran interessiert ist, die gegenwärtige Wahrnehmung mit einer gegenwärtigen Handlung zu beantworten, macht ihn das Erinnerungsbild darauf aufmerksam, dass seine Vergangenheit »auch noch da«, nämlich im Gedächtnis aufbewahrt ist: »Durch das praktische, aufs Nützliche gerichtete Bewusstsein des gegenwärtigen Augenblickes – d. h. durch das sensorisch-motorische Gleichgewicht des zwischen Wahrnehmung und Handlung gespannten Nervensystems – fortwährend gehemmt, wartet dieses Gedächtnis nur darauf, dass sich zwischen aktuellem Eindruck und begleitender Bewegung ein Riss zeige, durch den es seine Bilder eindringen lassen kann.« 102

Die gewohnheitsmäßige Handlung erfolgt nicht ohne Bewusstsein, aber das Bewusstsein, das sie begleitet, ist »aufs Nützliche gerichtet«. Ausdrücklich im Bewusstsein ist nur die gegenwärtige Handlungsintention, während die Vergangenheit (le cours de notre passé) und damit die Geschichte des Erwerbs des Handlungsmusters unausdrücklich bleibt. Bergson formuliert sogar noch stärker: Die Erinnerung an das Vergangene wird von dem mit der Gegenwart beschäftigten Menschen unterdrückt, ja verdrängt – denn so muss man das Wort inhibée übersetzen angesichts der Tatsache, dass Bergson in Matière et mémoire das persönliche Gedächtnis zum Unbewussten schlechthin erklärt. 103 Gleichwohl bleibt die Vergangenheit lebendig. Sie will sich wieder in Erinnerung bringen, und sie nutzt den kleinsten »Riss«, den kleinsten Spalt zwischen Wahrnehmung und Handlung, das kleinste Zögern angesichts des vorgeschlagenen Handlungsmusters, um ein Erinnerungsbild ins Bewusstsein eindringen zu lassen. Nach den in Kapitel 2 durchgeführten Überlegungen zu Bergsons Bewusstseinsbegriff ist klar, dass es kein Zufall ist, wenn Bergson hier das Bild des Risses ins Spiel bringt. Ein unbedeutend erscheinender Zweifel, ein kurzes Zögern erzeugen einen Riss, durch den innerhalb des zwar nicht völlig fehlenden, aber doch eindimensionalen, der scheinbar zeitlosen Verkettung von Wahrnehmungen 102 Sans cesse inhibée par la conscience pratique et utile du moment présent, c’est-àdire par l’équilibre sensori-moteur d’un système nerveux tendu entre la perception et l’action, cette mémoire attend simplement qu’une fissure se déclare entre l’impression actuelle et le mouvement concomitant pour y faire passer ses images. – MM 241 | 103 | 86 103 Vgl. Abschnitt 4.3, S. 543.

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und Handlungsmustern verhafteten Bewusstseins eine zweite Dimension sichtbar wird. Das durch diesen Riss sich zeigende Bewusstsein wäre demnach das Bewusstsein von der Gewordenheit der Handlungsmuster und/oder das Bewusstsein von Handlungsalternativen. Das Verhältnis von gewohnheitsmäßigem Handeln und Erinnerung ist somit ein ambivalentes. Einerseits wird die Erinnerung an die Vergangenheit durch die Befangenheit in der Gegenwart verhindert. Bergson verwendet eine Fülle von Formulierungen, um dies Verhältnis zu charakterisieren: Die Gegenwart schiebt die Vergangenheit zur Seite (déplace), hält sie auf Abstand (écarterait), verdeckt die Erinnerungen (rester couvertes) und leistet Widerstand gegen ihr Erscheinen im Bewusstsein (empêchent, suppression, inhibition). Andererseits aber führt der Handlungsantrieb dazu, dass man eine bestimmte Haltung (attitude) gegenüber dem wahrgenommenen Gegenstand einnimmt, und diese Haltung erleichtert es Erinnerungen, die zu ihr passen, mehr oder weniger unbehelligt ins Bewusstsein zu treten. Insofern muss man andererseits sagen, dass der Handlungsantrieb und die mit ihm verbundene Haltung das zufällige Eindringen bestimmter Erinnerungsbilder ins Bewusstsein begünstigt, ihre Auswahl vorbereitet und zur Ent-deckung der verdeckten Erinnerungen beiträgt. 104 Der Begriff der »Haltung« führt uns schließlich auf den dritten interessanten Hinweis. Wir kennen diesen Begriff bereits seit dem ersten Kapitel, aber wir kennen ihn bisher lediglich als Titel für ein Problem. In L’intuition philosophique hatte Bergson geschrieben: »Sehen wir uns den Schatten einmal näher an: Wir werden aus ihm die Haltung des Körpers, der ihn wirft, erraten, und wenn wir uns sehr bemühen, diese Haltung nachzuahmen oder besser noch: uns in sie hineinzuversetzen, so werden wir, so weit das möglich ist, das sehen, was der Philosoph gesehen hat.« 105

Das Problem, das sich daraus ergeben hatte, war dasjenige eines Verstehens, dem es gelingt, die Oberfläche des Textes – Zersplitterung in eine Vielzahl konventioneller sprachlicher Elemente – zu durchdringen und zum lebendigen Impuls – der Intuition – vorzudringen. In diesem Zusammenhang waren wir auf die Begriffe Suggestion und

104 105

MM 241 f. | 104 | 87 Vgl. Kap. 1, Anm. 89.

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Divination gestoßen. 106 Die suggestive Rede, die wir vor allem am Beispiel des Dichters betrachtet hatten, ist eine Rede, die nicht Gegenständliches (Informationen über Dinge), sondern Zuständliches (Atmosphären, Stimmungen, Emotionen) vermitteln will. Die Divination ist das Entwerfen einer Sinnhypothese durch den Rezipienten. Aber es war auch klar geworden, dass alle Versuche, den Vorgang zu erhellen und sich dabei auf den Bereich des Sprachlichen zu beschränken, vorläufig und unvollständig bleiben müssen. Das angeführte Zitat aus L’intuition philosophique bringt das – jedenfalls, wenn man es beim Wort nimmt – deutlich zum Ausdruck: Es geht darum, die »Haltung des Körpers« zu erraten und nachzuahmen. Nur: Was hat man sich unter dieser Haltung vorzustellen? Und auf welche Weise sollte uns das Nachahmen einer körperlichen Haltung auf die Spur der Intuition führen? Diese Frage wird auch hier nicht endgültig beantwortet. Bergson rückt sogar noch einmal das Problematische in den Vordergrund, indem er darauf hinweist, dass der Begriff der Haltung, insbesondere, wenn er auf den Bereich des Geistigen angewendet werden soll, »kein klarer Begriff« ist. 107 Aber wir bekommen doch einen wichtigen, wenn auch überraschenden Hinweis. Was man sich unter der Haltung vorzustellen hat, ist ja vergleichsweise klar, solange man sich im Bereich des automatischen Wiedererkennens und Verstehens bewegt: Der Körper nimmt eine bestimmte Haltung ein, die seine Ausführung oder zumindest seine Bereitschaft zur Ausführung des Handlungsantriebes zum Ausdruck bringt. Und gerade im Einnehmen dieser Haltung zeigt sich das Verstehen der Situation – ein Verstehen, das keiner Worte bedarf, das ohne sprachliche Vermittlung weiß, was zu tun ist. Dieses Einnehmen einer Haltung nun lässt sich auch als Übernehmen vorstellen. So könnte ein Meister seinem Lehrling eine bestimmte Tätigkeit vorführen und ihn dadurch wortlos zur Nachahmung auffordern. Er könnte freilich auch versuchen, die richtige Vorgehensweise sprachlich zu erläutern. Das Ziel wäre aber in beiden Fällen das gleiche: Es ginge darum, den Lehrling eine bestimmte, dem Herstellen eines Gegenstandes oder dem Umgang mit einem Werkzeug angemessene Haltung einnehmen zu lassen. Die Haltung – als Bereitschaft zur Ausführung einer Handlung – ist die ein- und ganzVgl. S. 116 und S. 129. Mais ici commence précisément l’obscurité, car l’idée d’une attitude intellectuelle n’est pas une idée claire. – MM 245 | 109 | 91 f. 106 107

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heitliche Antwort auf die Aufforderung, und zwar auch dann, wenn die Aufforderung aus einer Vielzahl von Worten besteht. Das Einnehmen der Haltung ist das Erfassen des Sinns der Aufforderung. Nun könnte man denken, das sei eben die dem homo faber eigentümliche, beschränkte Weise des Verstehens. In gewisser Hinsicht ist das auch tatsächlich so, denn das Beantworten einer unsprachlich oder sprachlich verfassten Aufforderung mit einem konventionellen Handlungsmuster kann gewiss nicht als Bergsons endgültige Antwort auf die Frage nach dem Verstehen gelten. In anderer Hinsicht freilich hat das Modell, das eine sprachliche Äußerung als Ausdruck eines Handlungsantriebs und das basale Verstehen als aktives Übernehmen dieses Handlungsantriebes deutet, ein Potential, das über das bisher betrachtete automatische Wiedererkennen hinausreicht und noch längst nicht ausgeschöpft ist. »Betrachten Sie das Denken selbst. […] Sie werden sehen, dass es wesentlich ein ständiger, ununterbrochener Richtungswechsel ist, der unablässig danach trachtet, sich in äußere Richtungsänderungen umzusetzen, das heißt in Handlungen und Gesten, die geeignet sind, das Hin und Her des Geistes in den Raum zu zeichnen und gewissermaßen metaphorisch auszudrücken. Von diesen skizzierten oder auch nur vorbereiteten Bewegungen merken wir meistens nichts, weil wir kein Interesse daran haben, sie zu erkennen. Wohl aber sind wir genötigt, sie zu bemerken, wenn wir unser Denken scharf konzentrieren, um es ganz lebendig zu ergreifen und es, noch lebendig, in die Seele eines Anderen hineingleiten zu lassen. Dann hülfe es uns nichts, die Worte gut zu wählen – sie würden nichts von dem sagen, was wir sie sagen lassen wollen, wofern es uns nicht gelingt, durch Rhythmus, durch Interpunktion, durch die ganze Choreographie der Rede zu bewirken, dass der Geist des Lesers, von einer Reihe beginnender Bewegungen geleitet, eine Gedanken- und Gefühlskurve beschreibt, die derjenigen analog ist, die wir selbst durchlaufen. Darin liegt die ganze Kunst des Schreibens.« 108 108 […] considérez la pensée même ; […] et vous verrez qu’elle est essentiellement un changement continuel et continu de direction intérieure, lequel tend sans cesse à se traduire par des changements de direction extérieure, je veux dire par des actions et des gestes capables de dessiner dans l’espace et d’exprimer métaphoriquement, en quelque sorte, les allées et venues de l’esprit. De ces mouvements esquissés, ou même simplement préparés, nous ne nous apercevons pas, le plus souvent, parce que nous n’avons aucun intérêt à les connaître ; mais force nous est bien de les remarquer quand nous serrons de près notre pensée pour la saisir toute vivante et pour la faire passer, vivante encore, dans l’âme d’autrui. Les mots auront beau alors être choisis comme il faut, ils ne diront pas ce que nous voulons leur faire dire si le rythme, la ponctuation et toute la chorégraphie du discours ne les aident pas à obtenir du lecteur,

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Man sieht, dass die Verhältnisse komplexer werden, wenn wir den Bereich des automatischen Wiedererkennens verlassen. Statt von einem vereinzelten Handlungsimpuls ist nun von ganzen Ketten solcher Impulse die Rede, und das ist möglicherweise nicht die einzige Komplizierung des Sachverhalts. Man sieht aber auch, dass der Handlungsantrieb beim Übergang in den Bereich des Sprachlichen gleichsam als zweiter, ergänzender Kommunikationskanal erhalten bleibt. Und Bergson lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass dies der wichtigere, der eigentliche Kommunikationskanal ist: Es hilft uns nichts, die Worte gut zu wählen, wenn es uns nicht gelingt, die wesentlichen Handlungsimpulse zu vermitteln. Das aber heißt: Das, was man mit Fug und Recht als die Übermittlung des Sinnes vom Sprecher auf den Rezipienten bezeichnen darf, vollzieht sich nicht auf der Ebene der Wortsprache, sondern auf der Ebene der Handlungsantriebe. Die vom Autor ausgehende Suggestion ist dann konkret als Suggestion eines Handlungsimpulses, die vom Rezipienten zu leistende Divination als auf- und übernehmendes »Erraten« des Handlungsimpulses zu verstehen. Und das Neuschaffen des Textes durch den Rezipienten besagt dann, dass der Rezipient den empfangenen Handlungsimpuls für sich sprachlich auslegt, wobei er – und erst jetzt wird der Kontakt auf sprachlicher Ebene bedeutsam – seine Auslegung regelmäßig mit der sprachlichen Äußerung des Urhebers vergleicht. Sollte sich dieser dritte Hinweis im Fortgang der Untersuchung als tragfähig erweisen, sollte sich zeigen, dass wir es hier mit einem Modell zu tun haben, das – mutatis mutandis – auch für anspruchsvollere, eigentlichere Formen des Verstehens relevant ist, dann würde das heißen, dass wir erst jetzt zu verstehen beginnen, warum der in Kapitel 1 behandelten Texthermeneutik in Kapitel 2 eine Handlungshermeneutik zur Seite gestellt werden musste. 3.3.1.3 Der geschlossene Zirkel Der Zirkel gehört – terminologisch seit Heidegger, der Sache nach schon länger – zur Grundausstattung der Hermeneutik. Ich hatte in Kapitel 1 109 zu zeigen versucht, dass diese Figur Bestandteil der von guidé alors par une série de mouvements naissants, qu’il décrive une courbe de pensée et de sentiment analogue à celle que nous décrivons nous-mêmes. Tout l’art d’écrire est là. – ES 849 | 45 f. | 41 f. 109 Vgl. Abschnitt 1.2.4, S. 81.

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Bergson in L’intuition philosophique entworfenen Texthermeneutik ist. Allerdings ruhen die dort ermittelten Ergebnisse vorerst auf einem wenig tragfähigen Fundament, und das nicht in erster Linie deshalb, weil Bergson andere Bezeichnungen (va-et-vient, zigzag) verwendet und sich an einem anderen Bild (der Kurve) orientiert, sondern weil das Fundament nur aus einem einzigen Text besteht und die These, dass Bergson mit einem hermeneutischen Zirkel operiert, im Hinblick auf andere Texte Widerspruch hervorrufen könnte. Ich möchte deshalb den gegenwärtigen Abschnitt nutzen, um mich mit wirklichen oder scheinbaren Gegenargumenten auseinanderzusetzen, bevor ich in Kapitel 4 110 zeige, dass Bergson den hermeneutischen Zirkel auch außerhalb der texthermeneutischen Passagen in Anspruch nimmt. Das Argument, das wirklich als Gegenargument gemeint ist, behauptet, Zirkelstrukturen kämen in Bergsons Texten gar nicht vor. Zu den Vertretern dieser Ansicht gehört Günter Pflug. Pflug war bekanntlich der Auffassung, dass sich die Lebensphilosophie in eine biologisch und eine historisch orientierte Spielart geteilt habe. Diese Auffassung verbindet sich bei ihm mit der in der Einleitung bereits erörterten These von der völligen Verschiedenheit der geistigen Situationen in Frankreich und in Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts, und die Verknüpfung beider Thesen führt zwar zu einer Bergson-Interpretation, die insbesondere für deutschsprachige Leser, die Bergson in seinen französischen Kontext einordnen wollen, auch heute noch äußerst lesenswert ist, die aber andererseits sehenden Auges an den offenkundigsten Zeichen der Gemeinsamkeit vorbeiläuft: »Bergson hat seine philosophischen Aspekte immer nur von den Naturwissenschaften her gewonnen. […] Selbst an den Punkten, an denen Bergson bis zu einer Sozialphilosophie vorstößt – wie z. B. in den Deux Sources –, bleibt die naturwissenschaftliche Haltung zum Objekt – wesentlich durch die positivistische Soziologenschule von Espinas und Durkheim bestimmt – erhalten. Der Zirkel des Verstehens, die Aporie der historischen Wissenschaften, die in Deutschland mindestens seit Schleiermacher ein lebendiges Problem der philosophischen Forschung ist und die für Dilthey ungefähr in gleicher Zeit mit Bergsons Leistung ein Hauptanliegen wurde, liegt für Bergson völlig außerhalb seines Horizonts.« 111

110 111

Vgl. Abschnitt 4.2.3.1, S. 506. Pflug[1959] 125

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Ich kann es mir schon deshalb ersparen, auf Pflugs Position im Einzelnen einzugehen, weil neuere Untersuchungen ein ganz anderes Bild zeichnen. Um deren Relevanz für unsere Untersuchung zu bestimmen, muss zwischen der Figur und der Idee des hermeneutischen Zirkels unterschieden werden. Ich bin – wie in Kapitel 1 bereits gezeigt – der Ansicht, dass die Idee des hermeneutischen Zirkels in Bergsons Texten durch mehrere, ganz verschiedenartige Figuren dargestellt wird und dass man gut daran tut, alle Figuren zu berücksichtigen. Davon zu unterscheiden ist der Ansatz David Lapoujades, auf den ich hier vor allem eingehen möchte. Lapoujade nämlich ist nicht primär an der Idee des hermeneutischen Zirkels, sondern an der Figur des Zirkels bei Bergson interessiert. Das Resultat seiner Untersuchungen lässt sich in zwei Punkten zusammenfassen: • In Bergsons Texten treten zwei verschiedene Zirkelfiguren auf, deren eine mit dem Wort cercle, die andere dagegen mit dem Wort circuit bezeichnet wird. 112 • Der cercle wird in der Regel negativ, der circuit dagegen positiv bewertet. Hier sollen zunächst einmal nur der cercle und dessen negative Bewertung betrachtet werden. Lapoujade zeigt, dass das Wort cercle bei Bergson »äußerst häufig« auftritt, dass diese Zirkelfigur die »Arbeitsweise der Intelligenz« bezeichnet und dass schließlich Bergson dieser zirkulären Arbeitsweise der Intelligenz kritisch gegenübersteht: »Wenn es etwas gibt, was Bergson unentwegt bekämpft hat, dann sind es diese Zirkel.« 113

Was also ist der cercle für ein Zirkel? Besteht ein Bezug zwischen ihm und dem hermeneutischen Zirkel? Und wenn ja: Warum wird er so negativ bewertet? Man kann sagen, dass Bergson das Wort cercle einerseits zur Bezeichnung von Kreisflächen, andererseits zur Bezeichnung von Kreisbewegungen verwendet. Was die Kreisfläche angeht, so ist da-

112 Comment ne pas voir dans le raisonnement analogique l’instauration, non pas d’un cercle, mais d’un « circuit », comparable à celui du travail intellectuel décrit dans Matière et mémoire puis dans L’Énergie spirituelle ? On peut même dire que le saut de l’intuition et l’élan de la sympathie brisent d’autant plus les cercles qu’elles affirment la profondeur de leurs circuits. – Lapoujade[2007] 443 = Lapoujade[2010] 69 f. 113 Or, s’il y a quelque chose que Bergson n’a cessé de combattre, ce sont ces cercles […]. – Lapoujade[2010] 101

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mit natürlich nicht eine Fläche im mathematischen Sinne gemeint. Vielmehr dient die Kreisfläche als Bild für einen umgrenzten Bereich: »Das Wesen des schlussfolgernden Denkens ist es, uns in den Kreis des Gegebenen einzusperren. Die Tat aber durchbricht den Kreis. Wer nie einen Menschen schwimmen sah, würde vielleicht erklären, Schwimmen sei eine Unmöglichkeit, indem nämlich zum Schwimmenlernen bereits gehöre, sich über Wasser halten, d. h. also schwimmen zu können. Das schlussfolgernde Denken würde mich demnach ewig an die feste Erde ketten.« 114

Man sieht, dass das Wort »Kreis« hier für das steht, was wir als diskrete Mannigfaltigkeit – im vorliegenden Fall: die diskrete Mannigfaltigkeit der verfügbaren Handlungsmuster – kennengelernt haben, wobei aber die Betonung auf der Begrenztheit der Mannigfaltigkeit liegt. Die Kreislinie bezeichnet eine Grenze, über die man nicht hinauskommt. Der Kreis als Fläche und die ihn – im eigentlichen Sinne des Wortes – definierende Kreislinie repräsentieren demnach die unbewusste Metaphysik der Intelligenz, die festlegt, was Wirklichkeit ist und was nicht, was möglich ist und was nicht. Der Kreis als Fläche steht für Abgeschlossenheit und Unüberschreitbarkeit. Er erweist sich – zumindest in diesem Beispiel – als zu eng für die Dynamik und Kreativität des Lebens, und deshalb kritisiert Bergson ihn. Der Kreis muss aber nicht unbedingt zu eng, er kann auch zu weit sein. Das ist etwa dann der Fall, wenn man das Bedeutungsspektrum eines Begriffs als Kreisfläche symbolisiert. 115 Schon der konkreten Wahrnehmung so nahe Worte wie »rot« oder »hart« bezeichnen eine Fülle zwar ähnlicher, aber doch verschiedener Eindrücke, weshalb sie sich, wenn man sie einsetzt, um eine konkrete Wahrnehmung zu beschreiben, als zu weit erweisen. In noch stärkerem Maße gilt das für abstrakte Begriffe wie »Einheit« oder »Vielheit«. Begriffe sind, wie Bergson an einer berühmten Stelle formuliert, zu unpräzise, sie gleichen »Konfektionskleidern, die dem Peter genauso gut wie dem Paul passen, weil sie weder dem einen noch dem anderen auf den Leib geschnitten sind« 116.

114 Il est de l’essence du raisonnement de nous enfermer dans le cercle du donné. Mais l’action brise le cercle. Si vous n’aviez jamais vu un homme nager, vous me diriez peut-être que nager est chose impossible, attendu que, pour apprendre à nager, il faudrait commencer par se tenir sur l’eau, et par conséquent savoir nager déjà. Le raisonnement me clouera toujours, en effet, à la terre ferme. – EC 658 | 193 | 197 115 PM 1401 | 188 | 189 116 PM 1408 | 196 | 197

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Der als Fläche verstandene Kreis mag also zu groß oder zu klein sein – in jedem Fall ist er von einer unbeweglichen Linie begrenzt. Bergson kritisiert solche Kreise, weil sie zu unflexibel sind, d. h. sich den Gegebenheiten der Erfahrung nicht anzupassen vermögen. Vom cercle im Sinne einer Kreisfläche ist der cercle im Sinne einer Kreisbewegung zu unterscheiden. Aber auch in dieser Hinsicht zieht er Bergsons Kritik auf sich: »Die Verpflichtung […] impliziert ursprünglich eine Sachlage, bei der das Individuelle und das Allgemeine sich nicht voneinander unterscheiden. Deshalb können wir sagen, die ihr entsprechende Haltung sei die eines Individuums und einer Gesellschaft, die ganz mit sich selbst beschäftigt sind. Gleichzeitig individuell und sozial, bewegt sich die Seele hier in einem Zirkel. Sie ist geschlossen.« 117

Das, was hier »Verpflichtung« heißt, entspricht dem automatischen Wiedererkennen. Eine konkrete Situation wird ihrer Individualität beraubt, indem sie als Fall eines konventionellen Musters interpretiert wird, und dieser erste Teil der Operation ermöglicht es dann, eine individuelle Antwort zu vermeiden und stattdessen auf ein konventionelles Verhaltensmuster zurückzugreifen. Nun entstammt aber sowohl das Interpretations- wie das Verhaltensschema der gesellschaftlichen Konvention, und deshalb kann Bergson sagen, dass hier so etwas wie ein Kurzschluss vorliegt: Nicht das Individuum antwortet auf eine Situation, sondern eine fertige Konvention folgt auf eine fertige Konvention. Die Zirkelbewegung kann sich beliebig oft wiederholen, aber dadurch wird sich weder am Interpretations- noch am Verhaltensmuster etwas ändern. Dieser Zirkel ist also unproduktiv. Die noch so oft wiederholte Kreisbewegung schafft nichts Neues, sondern bewegt sich stets nur auf dem bekannten, ausgetretenen Pfad. Das ist der Grund für Bergsons Kritik. Das zuletzt angeführte Zitat lässt erkennen, dass zwischen dem cercle im Sinne einer Kreisfläche und dem cercle im Sinne einer Kreisbewegung ein Zusammenhang besteht: Der unproduktive Zirkel (Kreisbewegung) kann nur deshalb geschlossen sein, weil er stets auf Elemente aus dem Vorrat der fertigen Interpretations- und Verhal117 […] l’obligation […] implique, à l’origine, un état de choses où l’individuel et le social ne se distinguent pas l’un de l’autre. C’est pourquoi nous pouvons dire que l’attitude à laquelle elle correspond est celle d’un individu et d’une société recourbés sur eux-mêmes. Individuelle et sociale tout a la fois, l’âme tourne ici dans un cercle. Elle est close. – DS 1006 | 34 | 30

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tensmuster (Kreisflächen) zurückgreift. Die Starre der Konvention und der unproduktive Weltbezug des Einzelnen stützen sich gegenseitig. Die Grenze der konventionellen Muster kann nicht durchbrochen werden, solange sich das Individuum mit dem Verfügbaren zufriedengibt. Dieser unproduktive »Kurzschluss« ist die Grundform des »schlechten«, d. h. des von Bergson negativ bewerteten Zirkels. Er bildet die Grundlage für komplexere Formen, zu denen etwa das »Schwanken« gehört. Dieses tritt auf, wenn ein Mensch in eine Situation gerät, für die kein genau passendes Reaktionsmuster zur Verfügung steht und das Fehlen einer konventionellen Antwort nicht – wie etwa bei dem Zöllner, der die Schiffbrüchigen mit der Frage begrüßt, ob sie etwas zu verzollen haben – verdrängt wird. Indem der Mensch nun die verfügbaren Reaktionsmuster sichtet, findet er zwei (oder mehr), die zwar leidlich auf die Situation passen, aber miteinander nicht vereinbar sind. Somit stellt sich die Frage, welches Reaktionsmuster verwendet werden soll. Wenn nun beide Muster gleich gut – bzw. gleich schlecht – zur Situation passen, so wird die Person sich nicht entscheiden können, sondern – wie Buridans Esel – bald zu dieser, bald zu jener Option tendieren, aber zu keinem endgültigen Entschluss gelangen. Eben dies ist das Schwanken, das uns bereits in der von Pierre Janet erzählten Geschichte der zwischen Herrinnen-Rolle und Dienerinnen-Rolle schwankenden Betreuerin begegnet ist. 118 Bergson benutzt, um solche Fälle zu charakterisieren, die Worte osciller bzw. oscillation, gelegentlich aber auch die Wendung va-etvient, bei der man demnach aus dem Kontext zu ermitteln hat, ob sie ein unfruchtbares oder ein fruchtbares Hin-und-Her bezeichnet. Man kann das Schwanken also als Kombination von »Kurzschluss« und Unentschlossenheit verstehen, und zwar in der Weise, dass der »Kurzschluss« zwar beabsichtigt ist, durch die Unentschlossenheit aber verhindert wird. Man muss es aber auch (und vor allem) verstehen als Kombination von – nun, man wird nicht geradezu von einem »Problembewusstsein« sprechen wollen, aber doch von einem Gefühl oder einer Ahnung des Nicht-Passens einerseits und andererseits der Unfähigkeit oder Unwilligkeit, sich das Ungenügen der konventionellen Muster einzugestehen und kreativ nach einer eigenen, neuen und angemessenen Antwort auf die Situation zu suchen. Auch das Schwanken ist unproduktiv, aber gerade durch seine Ratlosigkeit 118

Vgl. Abschnitt 2.3.2.2, S. 276.

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verweist es auf eine andere, produktive Form des Reagierens auf eine Situation. Indessen ist der Gedanke, die verfügbaren Formen des Denkens und Handelns zu durchbrechen, von einem Einwand bedroht, dessen praxisbezogene Variante im ersten Zitat bereits in Erscheinung getreten ist: Man muss sich bereits über Wasser halten können, wenn man schwimmen lernen will. Die theorie-, genauer: die auf Bergsons philosophische Intentionen bezogene Variante dieses Einwands lautet: Um die Strukturen der Intelligenz kritisieren oder gar überwinden zu können, muss man sich der Intelligenz und damit dieser Strukturen selbst bedienen. Vor allem weil Bergson mit einem derartigen Einwand rechnet, erörtert er den circulus vitiosus als eine weitere Form des »schlechten« Zirkels. 119 Dabei bewertet selbstverständlich auch er den circulus vitiosus als fehlerhaft, bemüht sich aber, klarzumachen, dass seine eigene Methode auf einer ganz anderen Art von Zirkel basiert. In Bergsons Texten findet man also eine »schlechte« Kreisfläche, und man findet eine »schlechte« Kreisbewegung. Der geschlossene, unproduktive Zirkel ist derjenige des automatischen Wiedererkennens. Man findet freilich auch die Aufforderung, sich mit diesem Kurzschluss, ja sogar mit der Kritik an ihm nicht zufriedenzugeben. Sie lautet: Rompre oder briser le cercle. Das heißt nicht: »aus dem Zirkel ausbrechen«, »den Zirkel verlassen« und das Denken auf irgendeine andere Figur (auf welche denn?) stützen. Es heißt vielmehr: »den Zirkel aufbrechen«, die immer gleiche, unproduktive Kreisbahn verlassen bzw. so modifizieren, dass ein produktiver, ein hermeneutischer Zirkel entsteht. Bergsons »Aufbrechen« des (geschlossenen) Zirkels entspricht Heideggers »Hineinkommen« in den (hermeneutischen) Zirkel. Davon wird im nächsten Kapitel die Rede sein. 3.3.1.4 Das Herstellen und seine Folgen Das von der Intelligenz geprägte menschliche Verhalten und Denken kann nicht nur – worauf wir bereits mehrfach gestoßen sind – gelegentlich in Widersprüche geraten, es wohnt ihm vielmehr ein 119 Mais cette méthode a contre elle les habitudes les plus invétérées de l’esprit. Elle suggère tout de suite l’idée d’un cercle vicieux. En vain, nous dira-t-on, vous prétendez aller plus loin que l’intelligence: comment le ferez-vous, sinon avec l’intelligence même? – EC 658 | 193 | 197

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grundlegender und nicht zu beseitigender Widerspruch inne, der sich kaum besser illustrieren lässt als dadurch, dass man das Thema des vorigen und dasjenige des gegenwärtigen Abschnitts im Zusammenhang sieht. Auf der einen Seite betrachtet die Intelligenz es – zu Recht – als ihre Aufgabe, Verhaltensmuster zur Verfügung zu stellen, die die beim Menschen fehlenden Instinkte ersetzen, und sieht ihre Aufgabe als umso besser erfüllt an, je umfassender und stabiler das von ihr geschaffene Repertoire konventioneller Verhaltensmuster ist. So gesehen, bestünde das zu erreichende Ideal in der vollständigen Ausstattung des Menschen mit Denk- und Verhaltensgewohnheiten, in der Ausdehnung des automatischen Wiedererkennens auf alle möglichen Situationen. Auf der anderen Seite aber muss die Intelligenz diese Gewohnheiten erst einmal schaffen, da die Natur dem Menschen keine bzw. nur wenige fertige Verhaltensmuster mitgegeben hat. So gesehen, zeigt sich das Wesen der Intelligenz als Schaffenskraft, und das Ideal bestünde gerade darin, die Produktivität und Kreativität in stetem Gang zu erhalten, stets neue Werkzeuge sowie die mit ihnen verbundenen Handlungsweisen hervorzubringen, und das heißt letztlich: die Möglichkeiten des menschlichen Verhaltens zur Welt kontinuierlich zu verändern. Es ist also kein Widerspruch in seiner Philosophie, sondern das Aufnehmen eines in der Sache selbst gelegenen Widerspruchs, wenn Bergson das Verhalten des Menschen zur Wirklichkeit an vielen Stellen als Gewohnheit, Automatismus, automatisches Wiedererkennen beschreibt, an anderen Stellen dagegen das menschliche Erfinden, seine Fähigkeit, Neues zu schaffen, hervorhebt. Dieses letztere ist besonders ausgeprägt als »mechanisches Erfinden«. Gewiss, auch in der Kunst, der Moral, der Religion 120 wird Neues hervorgebracht, aber dies bedarf – aus noch zu klärenden Gründen – einer besonderen Begabung und ist deshalb nur wenigen Menschen möglich. Im Gegensatz dazu gilt, dass das »mechanische Erfinden eine natürliche Begabung« ist 121, d. h. eine Begabung, über die jeder Mensch verfügt, weil sie sich im Bereich der Intelligenz, im Bereich des homo faber, im Bereich des Erfindens von und Hantierens mit Werkzeugen abspielt. Bergson ergänzt diese Formel deshalb auch gern durch den Hinweis, dass wichtige Erfindungen einfachen Arbeitern oder von 120 Wissenschaft und Philosophie werden hier ausgespart, weil ich sie an anderer Stelle (nämlich im Abschnitt 3.3.2, S. 370, bzw. in Kapitel 6) behandele. 121 L’invention mécanique est un don naturel. – DS 1234 | 325 | 237

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ihrer mechanischen Tätigkeit gelangweilten Kindern zu verdanken sind. 122 Man könnte nun geneigt sein, aus dem Gegenstandsbereich und der weiten Verbreitung des mechanischen Erfindens zu schließen, dass es sich dabei um eine untergeordnete, unvollkommene Form des Erfindens handelt – etwa in der Weise, wie das automatische Wiedererkennen als eine unvollkommene, das aufmerksame Wiedererkennen als eine vollkommenere Form des Verstehens betrachtet werden kann. Das jedem Menschen mögliche mechanische Erfinden würde dann nur die »niederen Regionen« des Lebens betreffen, während die wenigen Auserwählten vorbehaltene Kreativität in Kunst, Moral oder Religion die »höheren Regionen« des Lebens beträfe. Genau das aber will Bergson nicht sagen. Was ihn beschäftigt, ist ein Umstand, den er als »Missverhältnis zwischen den Folgen einer Erfindung und dieser Erfindung selbst« bezeichnet. 123 Während die meisten Menschen, wenn sie glauben, im Bereich der Kunst oder der Moral kreativ zu sein, lediglich Denkelemente rekonfigurieren oder Denkweisen schematisch von einem Bereich auf einen anderen übertragen, können sie durch eine mechanische Erfindung – mit Marx gesprochen: die Erfindung eines neuen »Produktionsmittels« – nicht nur die Möglichkeiten des menschlichen Hantierens mit materiellen Dingen erweitern, sondern sein Weltverhältnis insgesamt – das, was Marx den »Überbau« nannte – verändern: »Was endlich die menschliche Intelligenz betrifft, so ist nicht genügend beachtet worden, dass erstens die mechanische Erfindung ihr Grundvorgehen gewesen ist, dass heute noch unser soziales Leben den Schwerpunkt auf die Verfertigung und Ausnutzung künstlicher Werkzeuge legt, und dass endlich die Erfindungen, die die Wahrzeichen am Wege des Fortschritts sind, diesem Weg auch die Richtung vorgezeichnet haben. Dies einzusehen fällt uns nur deshalb schwer, weil die Wandlungen der Menschheit den Umbildungen ihrer Werkzeuge nachzuhinken pflegen. Unsere individuellen, ja unsere sozialen Gewohnheiten überleben die Umstände, für die sie geschaffen sind, noch längere Zeit, so dass die tiefen Wirkungen einer Erfindung erst merkbar werden, nachdem wir ihre Neuartigkeit aus den Augen verloren haben. Ein Jahrhundert ist seit Erfindung der Dampfmaschine vergangen, und wir beginnen nur erst die tiefe Erschütterung zu spüren, die sie uns gebracht hat. Die Umwälzung, die sie in der Industrie hervorrief, hat nicht weniger die Beziehungen der Menschen umgewühlt. Neue Ideen ste122 123

DS 1234 | 325 | 237, EC 651 | 185 | 189 Vgl. Anm. 125.

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hen auf. Neue Empfindungen wollen ans Licht. In tausenden von Jahren, wenn die zurückgesunkene Vergangenheit nur mehr die Hauptlinien wahrnehmen lässt, werden unsere Kriege und unsere Revolutionen – vorausgesetzt, man erinnert sich ihrer überhaupt noch – kaum mitgezählt werden; von der Dampfmaschine aber und all den Erfindungen, die ihr Gefolge bilden, wird man vielleicht so sprechen, wie wir Heutigen von Bronze und behauenem Stein; sie wird ein Zeitalter bestimmen.« 124

Betrachten wir einige Aspekte dieses Missverhältnisses. Was zunächst den Erfinder eines neuen Werkzeugs oder einer entscheidenden Verbesserung betrifft, so ist von ihm zu sagen, dass sein Interesse sich auf einen einzelnen Punkt beschränkt. Er mag von einer neuen Idee fasziniert, mit einem seit längerer Zeit bestehenden Problem beschäftigt oder auch nur von seiner üblichen Arbeit gelangweilt sein – thematisch ist für ihn dieses eine Problem und seine mögliche Lösung. Und diese Lösung strebt er an, weil sie ein ganz konkretes Unbehagen zu beseitigen verspricht. Ist die Erfindung eine bedeutende, so liegt das zunächst einmal daran, dass das Ausgangsproblem nicht nur das des Erfinders war und die Lösung nicht nur dem Erfinder Vorteile verspricht. Man kann also die Perspektive erweitern und auf die materielle Kultur einer Gesellschaft blicken. Im Grunde ist durch die Erfindung das, was wir im vorigen Abschnitt als Kreisfläche bezeichnet haben, erweitert, die ursprüngliche Begrenzungslinie durchbrochen worden. Das Raumden-

124 En ce qui concerne l’intelligence humaine, on n’a pas assez remarqué que l’invention mécanique a d’abord été sa démarche essentielle, qu’aujourd’hui encore notre vie sociale gravite autour de la fabrication et de l’utilisation d’instruments artificiels, que les inventions qui jalonnent la route du progrès en ont aussi tracé la direction. Nous avons de la peine à nous en apercevoir, parce que les modifications de l’humanité retardent d’ordinaire sur les transformations de son outillage. Nos habitudes individuelles et même sociales survivent assez longtemps aux circonstances pour lesquelles elles étaient faites, de sorte que les effets profonds d’une invention se font remarquer lorsque nous en avons déjà perdu de vue la nouveauté. Un siècle a passé depuis l’invention de la machine à vapeur, et nous commençons seulement à ressentir la secousse profonde qu’elle nous a donnée. La révolution qu’elle a opérée dans l’industrie n’en a pas moins bouleversé les relations entre les hommes. Des idées nouvelles se lèvent. Des sentiments nouveaux sont en voie d’éclore. Dans des milliers d’années, quand le recul du passé n’en laissera plus apercevoir que les grandes lignes, nos guerres et nos révolutions compteront pour peu de chose, à supposer qu’on s’en souvienne encore ; mais de la machine à vapeur, avec les inventions de tout genre qui lui font cortège, on parlera peut-être comme nous parlons du bronze ou de la pierre taillée; elle servira à définir un âge. – EC 612 f. | 139 f. | 143

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Hermeneutische Aspekte der Welt des homo faber

ken des homo faber wird allerdings bestrebt sein, so schnell wie möglich zur Tagesordnung überzugehen, und feststellen: Das neue Werkzeug ist einfach ein Ding mehr, die damit verbundenen Verhaltensweisen sind einfach einige zusätzliche Elemente im Katalog der verfügbaren Handlungsmuster. Indessen: Wenn es sich um eine wirklich bedeutende Erfindung handelt, so zieht sie sehr wahrscheinlich immer weitere Kreise. Entwickelt, um einen bestimmten Arbeitsvorgang zu optimieren, wird sie vielleicht eine ganze Industrie oder die Welt der Arbeit insgesamt verändern. Sie kann aber auch auf andere Bereiche übergreifen: Sie kann wissenschaftliche Theorien umstürzen, das Leben der Menschen außerhalb der Arbeit sowie die Formen ihres Zusammenlebens verändern, sie kann moralische und religiöse Vorstellungen entwerten, aber auch mit neuen Idealen verknüpft sein. Kurz: Sie kann sich als das erweisen, was man heute – wenn auch in etwas begrenzterem Rahmen – als disruptive technology oder disruptive innovation bezeichnet. Sie beschränkt sich eben gerade nicht darauf, nur ein Ding mehr zu sein, sondern wirkt sich – mehr oder weniger stark, zerstörerisch oder kreativ – auf einige, viele oder alle Bereiche des Lebens aus. Für Bergson war die Dampfmaschine das bedeutendste Beispiel einer derartigen Erfindung in der neueren Zeit. Angesichts von Auto und Flugzeug, Telefon, Radio und Fernseher, Kernspaltung und Internet haben wir heute keine Mühe, sein Argument nachzuvollziehen und zu erkennen, was er meint, wenn er vom Missverhältnis zwischen einer Erfindung und ihren Folgen spricht: Die Auswirkungen der Erfindung eines neuen Werkzeugs beschränken sich nicht auf den Bereich des mit Werkzeugen hantierenden Herstellens. Sie tendieren dazu, auf andere Bereiche überzugreifen und das gesamte Weltverhältnis des Menschen – sein Verhältnis zur gegenständlichen Wirklichkeit, zu den Mitmenschen, zu sich selbst – umzugestalten. Anders formuliert: Die Bedeutung der Erfindung ergibt sich nicht nur aus ihrem Nutzen für das Herstellen. Sie wird erst sichtbar, wenn man auch ihre Auswirkungen auf alle anderen Bereiche des Lebens betrachtet. Nun werden aber diese Auswirkungen nicht sofort oder auch nur innerhalb einer kurzen Zeitspanne sichtbar. In den anderen Lebensbereichen glaubt man zunächst einmal, es sei nichts geschehen, und orientiert sein Handeln weiterhin an den alten Mustern. Erst nach und nach erzwingt das Neue, das im Bereich des Herstellens begonnen hat, auch in den anderen Bereichen Veränderungen. Ver367 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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änderung braucht Zeit. Das Neue, das durch die Erfindung in die Welt gekommen ist, ist – so hatten wir bereits festgestellt – nicht einfach ein weiteres Ding. So mag es dem Erfinder selbst und anderen mit dem anfänglichen Problem beschäftigten Personen erscheinen. Aus einer umfassenderen Sicht aber stellt sich das Neue als ein Impuls dar, und ein Impuls braucht Zeit, um die in ihm verborgene Wirkung zu entfalten. Damit gilt aber auch: Veränderung konstituiert Geschichte. Zwei Möglichkeiten einer geschichtlichen Betrachtung sind hier unmittelbar zu erkennen. Zum einen nämlich kann für jeden einzelnen Impuls (jede einzelne Neuerung) die Geschichte seiner schrittweisen Entfaltung erzählt werden. Zum anderen kann, wie Bergson in der zitierten Passage andeutet, die Geschichte der Menschheit als die Geschichte des homo faber erzählt werden, die durch die Abfolge der bedeutsamsten Veränderungen – d. h. der Erfindungen, die das Weltverhältnis des Menschen am meisten verändert haben – strukturiert wird. Voraussetzung für beide Varianten aber ist, dass eine Abfolge mehrerer Ereignisse als zusammengehörig begriffen und auf den ursprünglichen Impuls bezogen wird. Schließlich gilt: Bedeutung braucht Zeit. Die Geschichte der Entfaltung eines neuen Impulses ist zugleich die schrittweise Klärung seiner Bedeutung für das Weltverhältnis des Menschen, d. h. für das menschliche Leben insgesamt. Einmal mehr erweisen sich also die Vorzeichen der Dauer – denn das Wort »Zeit« ist natürlich in den voranstehenden Sätzen durch das Wort »Dauer« (durée) zu ersetzen – zugleich als Vorzeichen des Hermeneutischen (hier: des Verstehens als des Erfassens von Bedeutung). Bergson geht – wenn auch nur hypothetisch – noch einen Schritt weiter. Wenn der Erfinder eines einzelnen neuen Werkzeugs auf ein partikulares Problem fixiert ist, durch dessen Lösung aber ungewollt und unbewusst etwas schafft, was eine weit umfassendere Bedeutung, nämlich Folgen für die ganze Gesellschaft, vielleicht sogar für die gesamte Menschheit hat, könnte es dann nicht sein, dass das ganze Erfinden und Herstellen eine Bedeutung hat, die über das bloße Lösen praktischer Probleme hinausgeht, dass – wenn man so formulieren darf – das ganze homo-faber-tum ungewollt und unbewusst an der Realisierung eines es selbst übersteigenden Zieles arbeitet? Nun sind das Herstellen von Gegenständen und das Erfinden von Werkzeugen Vorgänge, bei denen die vorgefundenen materiellen Dinge geschmeidig gemacht, verformt und so den Absichten und dem Willen des Menschen unterworfen werden. Wie aber ein Pianist, indem er zu368 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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nächst ein Stück, dann ein anderes, schließlich noch weitere übt, nicht nur die diskrete Mannigfaltigkeit seines Repertoires vermehrt, sondern dadurch zugleich die Fähigkeit des Klavierspielens (einerseits die technische Beherrschung des Instruments, andererseits die interpretatorische Gestaltungskraft) überhaupt erweitert, d. h. sich selbst weiterentwickelt, so kann man annehmen, dass auch die Geschichte der technischen Erfindungen mehr ist als nur eine Vermehrung der verfügbaren Technologien, nämlich eine Horizonterweiterung, ein SichÜbersteigen, kurz: eine Weiterentwicklung des Menschen selbst. 125 Wenn es sich so verhält, dann darf man vielleicht auch annehmen, dass die zunehmende Beherrschung der Materie letztlich auf eine Loslösung vom Beherrscht-Werden durch die Materie und ihre Gesetze, auf eine Befreiung von der Materie, genauer: auf eine Befreiung des Geistes von der Materie abzielt, dass der homo faber – noch einmal: ungewollt und unbewusst – darauf hinarbeitet, sich zum homo sapiens weiterzuentwickeln. Nur: Dies ist – die Formel tout se passe comme si zeigt es deutlich an – vorerst nicht mehr als eine weit vorausgreifende Hypothese. Es ist deshalb angezeigt, dass wir uns wieder den Phänomenen zuwenden, die sich in der Welt des homo faber beobachten lassen, wobei wir nun der Frage nachgehen wollen, welche Rolle die Wissenschaft in dieser Welt spielt.

125 C’est un fait digne de remarque que l’extraordinaire disproportion des conséquences d’une invention à l’invention elle-même. Nous disions que l’intelligence est modelée sur la matière et qu’elle vise d’abord à la fabrication. Mais fabrique-t-elle pour fabriquer, ou ne poursuivrait-elle pas, involontairement et même inconsciemment, tout autre chose ? Fabriquer consiste à informer la matière, à l’assouplir et à la plier, à la convertir en instrument afin de s’en rendre maître. C’est cette maîtrise qui profite à l’humanité, bien plus encore que le résultat matériel de l’invention même. Si nous retirons un avantage immédiat de l’objet fabriqué, comme pourrait le faire un animal intelligent, si même cet avantage est tout ce que l’inventeur recherchait, il est peu de chose en comparaison des idées nouvelles, des sentiments nouveaux que l’invention peut faire surgir de tous côtés, comme si elle avait pour effet essentiel de nous hausser au-dessus de nous-mêmes et, par là, d’élargir notre horizon. Entre l’effet et la cause la disproportion, ici, est si grande qu’il est difficile de tenir la cause pour productrice de son effet. Elle le déclenche, en lui assignant, il est vrai, sa direction. Tout se passe enfin comme si la mainmise de l’intelligence sur la matière avait pour principal objet de laisser passer quelque chose que la matière arrête. – EC 650 | 183 f. | 187 f. – Hervorhebung von mir [C. K.].

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3.3.2 Wissenschaft 3.3.2.1 Die Naturwissenschaften als Auslegung des handelnden Weltverhältnisses Wir haben im Abschnitt 3.2.4 Bergsons Gedanken einer unbewussten Metaphysik der Intelligenz erörtert. Die Denkform einer diskreten Mannigfaltigkeit von Dingen im Raum muss als unbewusst bezeichnet werden, weil sie so tief in der Struktur der Intelligenz verankert ist, dass sie zwar ständig in Anspruch genommen, aber normalerweise nicht thematisiert wird. Und sie muss als Metaphysik (oder Ontologie) bezeichnet werden, weil sie die Vorstellung von Wirklichkeit überhaupt prägt: Die Intelligenz kann sich zwar vorstellen, dass es Dinge gibt, die ihr (noch) unbekannt sind; sie kann sich aber nicht vorstellen, dass es Elemente der Wirklichkeit gibt, die keine Dinge sind. Wir haben freilich auch festgestellt, dass die Unbewusstheit dieser Metaphysik für Bergson offenbar kein unabänderliches Fatum darstellt: Formulierungen wie »mehr oder weniger unbewusst« bzw. »bewusst oder unbewusst« deuten darauf hin, dass die metaphysischen Voraussetzungen der Intelligenz zumindest teilweise bewusstseinsfähig sind. Verhält es sich aber so, dann liegt es nahe, sich nicht mit der allgemeinen Formel »unbewusste Metaphysik der Intelligenz« zufrieden zu geben, sondern der Frage nachzugehen, ob es verschiedene Arten oder Stufen intelligenter Betätigung gibt, die sich im Hinblick auf das Ausmaß des Bewusstseins ihrer Voraussetzungen unterscheiden. Nun muss man die Frage aber nur so stellen, um darauf aufmerksam zu werden, dass Bergson zunächst einen Bereich implizit intelligenter Vollzüge sowie einen Bereich explizit intelligenten Denkens unterscheidet, sodann in diesem letzteren vom vorwissenschaftlichen »gesunden Menschenverstand« (sens commun) 126 die methodisch betriebene Wissenschaft abhebt. Damit eine derartige Unterscheidung möglich und relevant ist, muss zweierlei gelten. Zum einen müssen die angeführten Formen intelligenter Aktivität ein Kontinuum darstellen. Sie müssen letztlich dem gleichen Bereich von Erkenntnisvollzügen angehören. Das ist in der Tat der Fall, denn die Wissenschaft geht – wie schon der AlltagsDer sens commun ist nicht zu verwechseln mit dem bon sens. Der erste Ausdruck bezeichnet den verdinglichenden »gemeinen Menschenverstand« des homo faber, der zweite eine Form der nicht verdinglichenden Einfühlung (vgl. Abschnitt 5.3.3.4, S. 674).

126

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verstand und das gewohnheitsmäßige Handeln – aus dem Weltbezug des homo faber hervor: »Lange bevor es eine Philosophie und eine Naturwissenschaft gab, war es schon die Rolle unserer Intelligenz, Werkzeuge herzustellen und das auf die umgebenden Körper gerichtete Handeln unseres eigenen Körpers zu leiten. Die Naturwissenschaft hat diese Arbeit der Intelligenz viel weiter vorangetrieben, aber sie hat deren Richtung nicht verändert. Sie ist vor allem bestrebt, uns zu Beherrschern der Materie zu machen. Selbst in der reinen Theorie noch hat sie das Handeln im Blick, insofern der Wert wissenschaftlicher Theorien sich stets an der Zuverlässigkeit der von ihnen gewährten Einwirkungsmöglichkeiten auf die Realität bemisst.« 127 »[Die Wissenschaft] bewegt sich so nur nachdrücklicher in der Richtung des gesunden Menschenverstandes, der seinerseits ein Anfang der Wissenschaft ist.« 128

Zum anderen aber muss sich die Wissenschaft von den übrigen Äußerungen der Intelligenz abheben, sie muss Merkmale aufweisen, die nur ihr zukommen: »Gewiss, es ist nicht notwendig, als Mathematiker, ja nicht einmal nötig, überhaupt zu denken, um angesichts gleicher Bedingungen die Wiederholung des gleichen Sachverhalts zu erwarten. Schon das Bewusstsein des Tieres arbeitet so, und der lebendige Körper als solcher ist – unabhängig von allem Bewusstsein – darauf eingerichtet, aus den wechselnden Situationen, in denen er sich befindet, die ihn interessierenden Gleichförmigkeiten herauszulösen und so auf die Reize mit angemessenen Reaktionen zu antworten. Aber es ist ein weiter Weg von einer mechanischen Erwartung und Reaktion des Körpers bis zur Induktion im strengen Sinne, die eine intellektuelle Operation ist. Diese beruht auf dem Glauben, dass es Ursachen und Wirkungen gibt und dass auf gleiche Ursachen gleiche Wirkungen folgen« 129 127 Bien avant qu’il y eût une philosophie et une science, le rôle de l’intelligence était déjà de fabriquer des instruments, et de guider l’action de notre corps sur les corps environnants. La science a poussé ce travail de l’intelligence beaucoup plus loin, mais elle n’en a pas changé la direction. Elle vise, avant tout, à nous rendre maîtres de la matière. Même quand elle spécule, elle se préoccupe encore d’agir, la valeur des théories scientifiques se mesurant toujours à la solidité de la prise qu’elles nous donnent sur la réalité. – PM 1278 f. | 34 f. | 50 f. 128 [La science] ne fait ainsi qu’appuyer dans la direction du sens commun, lequel est un commencement de science […]. – PM 1255 | 4 | 22 129 Certes, il n’est pas nécessaire de penser en géomètre, ni même de penser du tout, pour attendre des mêmes conditions la répétition du même fait. La conscience de l’animal fait déjà ce travail, et, indépendamment de toute conscience, le corps vivant lui-même est déjà construit pour extraire des situations successives où il se trouve les

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Was also leistet die Wissenschaft? Wodurch unterscheidet sie sich vom Alltagsverstand? Und inwiefern darf der Alltagsverstand gleichwohl als beginnende Wissenschaft gelten? Nun sind dies immer noch sehr pauschale Fragen. Sie unterscheiden zwar zwischen Alltagsverstand und Wissenschaft, unterstellen aber, »die Wissenschaft« sei so etwas wie ein einheitlicher Block. Gewiss, Bergson spricht in den angeführten Passagen lediglich von den Naturwissenschaften (science). 130 Gleichwohl wird man selbst in diesem Teilbereich der Wissenschaft verschiedene Aspekte unterscheiden müssen, um kein gar zu simples Bild zu zeichnen. Die Naturwissenschaften weisen zunächst einmal einen empirischen Aspekt auf: Sie durchsuchen die Mannigfaltigkeit der Dinge nach konstanten, d. h. sich wiederholenden Relationen. Sie weisen einen praktischen Aspekt auf, insofern sie dies tun, um das vom homo faber angestrebte Bearbeiten von Dingen und Herstellen von Werkzeugen zu unterstützen. Von Bedeutung ist weiterhin ein methodischer Aspekt: Die Naturwissenschaften wollen nicht nur gelegentlich und zufällig über Neues stolpern, sondern eine permanente und konsequente Erweiterung des Wissens betreiben. Damit hängt der systematische Aspekt zusammen: Das erworbene Wissen soll nicht irgendwie gesammelt und angehäuft, sondern in eine rationale Ordnung gebracht werden. Daraus ergibt sich als weiterer Aspekt, dass symbolische Sprachen geschaffen werden, die es ermöglichen, Relationen zwischen Dingen darzustellen und zu manipulieren. Um die Angemessenheit der vorgeschlagenen Methoden und Ordnungsmuster plausibel zu machen, müssen die Naturwissenschaften schließlich ihre Grundlagen, d. h. die fundamentalen Axiome, Gesetze und Prinzipien, klären. Man könnte leicht zeigen, dass sich die Wissenschaft in jeder dieser Hinsichten deutlich vom Alltagsverstand abhebt. Für unsere Fragestellung ergiebiger ist aber eine andere Betrachtungsweise: Wenn man die angeführten Aspekte nicht nur in ihrer Vielzahl betrachtet, sondern die Reihenfolge ihrer Aufzählung berücksichtigt, so zeigt sich deutlich eine Bewegung, die von einem Pol der wissensimilitudes qui l’intéressent, et pour répondre ainsi aux excitations par des réactions appropriées. Mais il y a loin d’une attente et d’une réaction machinales du corps à l’induction proprement dite, qui est une opération intellectuelle. Celle-ci repose sur la croyance qu’il y a des causes et des effets, et que les mêmes effets suivent les mêmes causes. – EC 676 | 214 f. | 218 f. 130 Bergsons Verhältnis zu den Geisteswissenschaften wird in Abschnitt 3.3.2.4.2, S. 404, sowie in Abschnitt 4.2.1, S. 468, untersucht.

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schaftlichen Aktivität zu einem zweiten, anders gearteten Pol führt, so dass die wissenschaftliche Betätigung insgesamt in ein Spannungsfeld eingeschrieben wird. Den einen Pol bildet die Empirie bzw. der Kontakt mit der Wirklichkeit. Er zeigt sich im Beobachten, Experimentieren und Registrieren von Relationen zwischen konkreten Dingen ebenso wie in der praktischen Anwendung der von der Wissenschaft vorgeschlagenen oder verbesserten Technologien. Mit Bergson kann man auch vom Pol der »nach außen gerichteten Intelligenz« (intelligence extériorisée) sprechen. Den Gegenpol bildet dann die »auf sich selbst zurückgewandte«, d. h. reflektierende Intelligenz (intelligence réfléchie) 131, die die Grundlagen der wissenschaftlichen Vorgehensweise untersucht. Man wird wohl behaupten dürfen, dass es dieser Pol des Fragens nach den eigenen Voraussetzungen ist, an dem sich die Wissenschaft besonders deutlich vom Alltagsverstand unterscheidet. In jedem Fall ist es aber der Pol, dem wir zunächst unsere Aufmerksamkeit zuwenden wollen. Wie hat man sich die Bemühung, durch die die Wissenschaft ihre Grundlagen klärt, näherhin vorzustellen? Handelt es sich um ein Suchen und Finden, ein Ablesen der Prinzipien aus der Erfahrung der Wirklichkeit, oder handelt es sich um ein ungebundenes Schaffen, ein freies Definieren und Konstruieren? Bekannt ist, dass gerade in der Zeit um 1900 die Frage nach den Grundprinzipien der Wissenschaft(en) – nach ihrem Status und ihrer Erkennbarkeit – intensiv diskutiert wurde (man denke etwa an den Streit zwischen Konstruktivismus und Intuitivismus). Welche Position nahm Bergson in diesem Streit ein? Fasste er die grundlegenden Prinzipien und Begriffe der Naturwissenschaften als in der Natur der Dinge begründet oder als willkürliche Setzung auf? Man könnte sagen, Bergsons Position liege in der Mitte zwischen den beiden Extremen. Aber das wäre eine sehr unpräzise und deshalb wenig ertragreiche Antwort. Präziser und für unsere Untersuchung wesentlich fruchtbarer ist diese Antwort: Die Wissenschaft gewinnt ihre Prinzipien durch die Auslegung desjenigen Weltverhältnisses, das der homo faber immer schon selbstvergessen praktiziert. Die Prinzipien sind weder das Ergebnis einer mirakulösen Einsicht in die Wirklichkeit an sich noch das einer willkürlichen und daher letztlich bedeutungslosen Setzung. Sie müssen überhaupt nicht von irgendwo erst herbeigeschafft werden, weil sie im handeln131

EC 675 | 212 f. | 216

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den Weltverhältnis des homo faber immer schon da sind. Sie können also aus ihm gewonnen werden. Mithin sind sie das Ergebnis einer hermeneutisch relevanten Anstrengung, in der die Intelligenz theoretisch expliziert, was sie praktisch immer schon voraussetzt. Die Grundbegriffe und die daraus sich ergebenden Verfahrensweisen werden also nicht an der Wirklichkeit – am Gegenstand der Wissenschaft – abgelesen. Eine solche Antwort könnte auch kaum überzeugen, denn sie müsste, um nicht gegen ihre eigene Absicht zur These von der willkürlichen Setzung zu mutieren, sich auf einen vorkantischen Standpunkt stellen und behaupten, wir besäßen irgendeinen Zugang zur Wirklichkeit an sich. Begriffe und Verfahrensweisen der Wissenschaft werden aber auch nicht willkürlich erdacht, so dass man es mit Sprach- oder Glasperlenspielen ohne jeden Bezug zur Wirklichkeit zu tun hätte. Auch eine solche Antwort kann letztlich nicht überzeugen, denn auf dieser Basis müsste jede Übereinstimmung mit der Wirklichkeit als Zufall und große Überraschung erscheinen. Bergsons entscheidender Schachzug ist nun – einmal mehr – die Verschiebung der Fragestellung aus dem Bereich der Theorie in denjenigen der Praxis. Wir wissen nichts darüber, wie man die Übereinstimmung theoretischer Prinzipien mit der Realität be- oder widerlegen kann, solange wir im Bereich der Theorie bleiben. Aber wir wissen, dass die seit vielen Jahrtausenden im Grunde auf den gleichen Voraussetzungen beruhende Praxis des homo faber in der überwiegenden Zahl der Fälle ihr Ziel erreicht, also erfolgreich ist, also doch wohl der Wirklichkeit irgendwie angemessen sein muss. Wir haben auf diese Einsicht, die das Denken Bergsons mindestens seit L’évolution créatrice prägt, bereits hingewiesen: »Die Tat kann sich nicht im Irrealen bewegen. Von einem zum Spekulieren und Träumen geborenen Geist mag ich zugeben, dass er außerhalb der Realität bleibe, dass er sie umforme und verforme, ja sie so erschaffe, wie wir die Gestalten von Menschen und Tieren schaffen, die unsere Phantasie in hingleitenden Wolken umreißt. Eine Intelligenz aber, die auf die Tat zielt, welche sich vollziehen, und auf die Reaktion, die sie auslösen soll, die ihren Gegenstand betastet, um jeden Augenblick seinen bewegten Eindruck zu empfangen, das ist eine Intelligenz, die an irgendetwas Absolutes rührt.« 132

Die Praxis des homo faber ist zumeist erfolgreich, wie immer es um die damit verbundenen theoretischen Vorstellungen stehen mag. Diese Vorstellungen können falsch sein und trotzdem zum Erfolg führen. 132

Vgl. Anm. 46.

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Sie können aber auch vollständig oder weitgehend fehlen. Der erste Mensch, der zwei Steine vom Boden auflas und sie aufeinander schlug, um den einen von ihnen zu einem Werkzeug umzugestalten, wäre schwerlich in der Lage gewesen, uns seine Auffassungen vom Raum und den Gesetzmäßigkeiten der darin anzutreffenden Dinge zu erläutern. Dessen ungeachtet besaß er solche Auffassungen in Gestalt jener Voraussetzungen, auf denen sein Handeln basierte. Gewiss, er stellte sie sich nicht bewusst vor, aber er »spielte« sie. Wenn wir so handeln oder denken, dass wir dabei den Raum voraussetzen – dass wir also »im Raum« handeln oder denken –, dann beziehen wir uns dabei in der Regel nicht auf eine bewusste und geklärte Vorstellung, sondern greifen auf etwas zurück, was Bergson im Essai sur les données immédiates de la conscience als »Intuition des Raumes« bezeichnet 133. Nun ist angesichts dieser Formulierung gewiss Vorsicht geboten: Erstens nimmt Bergson mit dem Wort intuition – jedenfalls auch – auf Kants »Anschauung« Bezug. Zweitens spricht er nicht nur von intuition, sondern auch von conception. Drittens führte Bergson den Begriff »Intuition« als zentrales Element seiner philosophischen Sprache erst 1901 (in der Introduction à la métaphysique) ein, und der Essai sur les données immédiates de la conscience wurde 12 Jahre vor dieser entscheidenden begrifflichen Klärung publiziert, der Vortrag L’intuition philosophique dagegen 10 Jahre danach gehalten. Viertens schließlich spricht auch die Beobachtung, dass der Ausdruck intuition de l’espace in den späteren, auf den Essai folgenden Werken nicht mehr auftaucht 134, für einen Wandel, der vermutlich nicht nur ein sprachlicher ist. Dennoch darf man wohl davon ausgehen, dass die Intuition des Raumes der philosophischen Intuition in mehrfacher Hinsicht ähnelt: Beide sind zunächst unbewusst. Beide sind, obwohl unbewusst, wirksam. Beide können durch eine hermeneutische Anstrengung geklärt werden. Eine klarere Sprache sprechen Bergsons Ausführungen über die Zweischichtigkeit unserer Wahrnehmung. Menschliche Wahrnehintuition de l’espace: DI 53 | 58 | 62 – dans l’intuition ou plutôt dans la conception d’un milieu vide homogène: DI 64 | 70 | 73 – l’intuition d’un espace homogène – DI 91 | 102 | 104 – cette intuition d’un milieu homogène, intuition propre à l’homme – DI 154 | 177 | 174 134 Eine intuition de l’espace passt nach 1901 nicht mehr in Bergsons Terminologie, da die terminologisch geklärte Intuition als intuition de la durée definiert ist (vgl. Kapitel 6). Immerhin tritt in L’évolution créatrice noch zweimal eine intuition spatiale auf. – EC 675,676 | 213,214 | 225,226 133

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mung der Wirklichkeit ist einerseits qualitative Wahrnehmung. Es ist dies, so könnte man sagen, die Wahrnehmung eines impressionistischen Malers, für den die Kathedrale von Rouen an einem trüben Herbsttag eine ganz andere ist als an einem sonnigen Sommertag. Es ist dies, nach allem, was wir wissen, wohl eine Form der Wahrnehmung, über die auch andere Lebewesen verfügen. Es ist dies nicht zuletzt eine Wahrnehmung, bei der wir uns in einer qualitativ mannigfaltigen, heterogenen Ausgedehntheit bewegen. Andererseits aber ist menschliche Wahrnehmung quantitative Wahrnehmung. Das ist die Wahrnehmung eines Mathematikers, für den zwei Quadrate mit gleicher Seitenlänge deckungsgleich sind. Es ist dies, nach allem, was wir wissen, eine dem Menschen eigentümliche, weil mit der Intelligenz verknüpfte Form der Wahrnehmung. Und es ist dies eine Wahrnehmung, die sich in einem homogenen, eigenschaftslosen Raum abspielt. Diese Unterscheidung ist uns bereits bekannt. 135 Neu und bemerkenswert ist nun aber, dass Bergson die beiden Formen der Wahrnehmung nicht säuberlich trennt, um sie verschiedenen Gruppen von Menschen – etwa die eine den »Primitiven« und den Künstlern, die andere den Mathematikern und den Philosophen – zuzuordnen. Typisch für menschliche Wahrnehmung – und das heißt: für die Wahrnehmung eines jeden Menschen – ist vielmehr nach Bergsons Auffassung, dass sie sich in einem Spannungsfeld zwischen den beiden, als Polen fungierenden Formen der Wahrnehmung abspielt. Lässt man Extremformen – etwa einen begabten Mathematiker, der gerade über ein mathematisches Problem nachdenkt, oder einen impressionistischen Maler, der den qualitativen Pol bewusst kultiviert und den quantitativen nach Möglichkeit ausblendet – einmal beiseite, so gilt, dass eine qualitativ geprägte Wahrnehmung stets den »Vordergrund« bildet, während eine quantitativ strukturierte Wahrnehmung sich im »Hintergrund« ausbreitet. Bergson erläutert diese Konstellation am Beispiel einer Person, die Wasser in einem Topf zum Kochen bringen will und dabei stillschweigend davon ausgeht, dass sich dieser Prozess genauso abspielen wird wie er sich am Tag zuvor abgespielt hat: »Versetze ich den Wärmapparat von heute ideell auf den von gestern, so konstatiere ich zweifellos, dass die Form dieselbe geblieben ist; hierfür genügt, dass die Flächen und Kanten koinzidieren. Was aber ist Koinzidenz zweier Qualitäten, und wie sie übereinanderlegen, um sich ihrer Identität 135

Vgl. Abschnitt 3.2.1, S. 306.

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zu vergewissern? Nichtsdestoweniger übertrage ich auf diese zweite Ordnung von Dingen alles das, was für die erste galt. Später wird dann der Physiker dieses Verfahren legitimieren, indem er die Qualitätsunterschiede so weit als möglich auf Größenunterschiede zurückführt; schon vor aller Wissenschaft aber neige ich dazu, die Qualität der Quantität anzugleichen, gleichsam als gewahrte ich hinter ihr, wie durchscheinend einen geometrischen Mechanismus. Und je vollkommener dies Durchscheinen, um so notwendiger dünkt mich die Wiederkehr gleicher Tatsachen unter gleichen Bedingungen.« 136

Es gibt in dieser Konstellation Elemente – etwa die Form des Topfes –, die eine starke Affinität zur mathematischen bzw. – wie Bergson hier formuliert – zur geometrischen Form der Wahrnehmung aufweisen. Es gibt freilich auch Elemente – etwa das Kalt- oder Heiß-Sein des Wassers –, die qualitativ wahrgenommen werden. Diese beiden Schichten der Wahrnehmung müssen nun zu einem einheitlichen Bild verbunden werden, und das geschieht hier, weil das Interesse ein praktisches, d. h. nicht auf die atmosphärischen Besonderheiten, sondern auf die Wiederholbarkeit gerichtetes ist, in der Weise, dass das geometrische Moment die Überhand über das qualitative gewinnt. Bergson beschreibt also einen Entwicklungsprozess, den man – in Anlehnung an Habermas – als »Kolonialisierung« der qualitativen durch die geometrische Wahrnehmung bezeichnen könnte. Dabei lassen sich zwei Phasen unterscheiden. Schon in der vorwissenschaftlichen Praxis des Menschen setzt sich die Mathematisierung gegenüber der qualitativ orientierten Wahrnehmung in dem Maße durch, in dem der Mensch seiner Umwelt als homo faber gegenübertritt. »Wir werden als Handwerker geboren wie wir als Mathematiker geboren werden, ja wir sind Mathematiker nur, weil wir Handwerker sind.« 137 136 Si je transporte idéalement le réchaud allumé d’aujourd’hui sur celui d’hier, je constate sans doute que la forme est restée la même ; il suffit, pour cela, que les surfaces et les arêtes coïncident; mais qu’est-ce que la coïncidence de deux qualités, et comment les superposer l’une à l’autre pour s’assurer qu’elles sont identiques? Pourtant, j’étends au second ordre de réalité tout ce qui s’applique au premier. Le physicien légitimera plus tard cette opération en ramenant, autant que possible, les différences de qualité à des différences de grandeur; mais, avant toute science, j’incline à assimiler les qualités aux quantités, comme si j’apercevais derrière celles-là, par transparence, un mécanisme géométrique. Plus cette transparence est complète, plus, dans les mêmes conditions, la répétition du même fait me paraît nécessaire. – EC 678 | 217 | 220 f. 137 […] nous naissons artisans comme nous naissons géomètres, et même nous ne sommes géomètres que parce que nous sommes artisans. – EC 532 | 44 f. | 50 f.

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Die Tendenz zur Geometrisierung der Umwelt ist nicht eine Folge der Entwicklung der Mathematik und der Naturwissenschaften. Der in der Lebenswelt agierende homo faber erlernt und übernimmt diese Interpretation des Wahrgenommenen nicht von der Wissenschaft. Sie ist ihm vielmehr von Natur aus zu eigen, nämlich eine Konsequenz seines intelligenzgesteuerten Verhaltens gegenüber der Umwelt. Bergson spricht deshalb von einer »natürlichen Mathematik« 138, die bereits das vorwissenschaftliche Handeln des homo faber – und zwar in zunehmendem Maße – prägt. Die zweite Phase erst ist dann diejenige der mathematisch geprägten Wissenschaft. Deren Weltzugang ist also gar nichts Neues. Die Wissenschaft »bewegt sich nur nachdrücklicher in der Richtung des gesunden Menschenverstandes«, setzt also dessen Bewegung fort. Neu ist nur die reflexive Einstellung, die bewusste und konsequente Formulierung derjenigen Grundbegriffe und Grundprinzipien, die implizit schon das Handeln des vorwissenschaftlichen Menschen leiten: »Später wird dann der Physiker dieses Verfahren legitimieren …«. Nun mag man sagen, es sei gewiss leicht Einverständnis darüber zu erzielen, dass die Wissenschaft das »Projekt« des homo faber fortsetzt und dass diese Fortsetzung mit einer Steigerung der Reflexivität verbunden sei, dass daraus aber noch nicht der hermeneutische Charakter der Wissenschaft folge. Liegt es nicht näher, das, was die Wissenschaft in ihren abstraktesten Bemühungen und die Philosophie in ihren auf die Wissenschaft gerichteten Bemühungen treiben, als »Erkenntnistheorie« oder »Wissenschaftstheorie« zu begreifen und zu bezeichnen? Dazu ist zu sagen: (1) Zunächst einmal liegt es wohl auf der Hand, dass der Weltzugang des homo faber jedenfalls in der Form, in der Bergson ihn beschreibt, geradezu ein Lehrbuchbeispiel für die lebensphilosophische Handlungstheorie 139 darstellt: Die »natürliche Mathematik« ist implizites Wissen, das der Mensch in seinem Handeln voraus- und einsetzt, das er »spielt«, ohne es »vorzustellen«. Noch einmal sei betont: Der handelnde Mensch übernimmt die geometrische Interpretation der Wirklichkeit nicht von der Wissenschaft. Er bringt sie als natürliche Ausstattung mit. Und die Wissenschaft macht es sich zur 138 mathématique naturelle: EC 532 | 44 | 50 – géométrie naturelle: EC 533 | 45 | 51 – géométrisme latent: EC 661 | 197 | 200 139 Vgl. Abschnitt 2.1.4, S. 165.

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Aufgabe, den jedenfalls in dieser Hinsicht selbstvergessenen, seiner Voraussetzungen nicht bewussten Vollzug aufzuklären. (2) Sodann ist die Beziehung zwischen der unbewusst-natürlichen und der bewusst-methodischen Mathematik durch eine Zirkelstruktur gekennzeichnet, bei der es sich im Grunde um die hermeneutische handelt. Einerseits nämlich prägt die geometrische, mit Dingen in einem homogenen Raum operierende Weltsicht immer schon sämtliche Vollzüge der Intelligenz, so dass die Antwort auf die Frage, was genau das mathematische Verfahren ausmacht, aus diesen Vollzügen zu gewinnen wäre. Andererseits klärt erst die wissenschaftliche Mathematik, worauf die »natürliche Mathematik« eigentlich hinauswill, d. h. erst sie klärt den Sinn von Geometrie, Raum, Ding im Raum usw., und so können denn die vorwissenschaftlichen Vollzüge der geometrisierenden Intelligenz erst im Licht dieser geklärten Prinzipien und Verfahren verstanden werden. »Alle Operationen unserer Intelligenz zielen, wie auf den Punkt ihrer restlosen Vollendung, auf die Geometrie. Da aber die Geometrie notwendig früher ist als diese Operationen (denn niemals können diese dahin gelangen, den Raum aufzubauen, können also nicht anders als ihn vorauszusetzen), so ist evident, dass eine unserer Raumvorstellung immanente, latente Geometrie die große Triebfeder unserer Intelligenz ist und sie in Bewegung setzt.« 140 »Eben deshalb brauchen wir nur dem natürlichen Hang unseres Geistes zu folgen, um Mathematiker zu werden. Wiederum aber ist diese natürliche Mathematik nur die unbewusste Stütze unserer bewussten Gewohnheit, gleiche Ursachen mit gleichen Wirkungen zu verketten.« 141

(3) Es gibt gleichwohl Anlass, ein gewisses Unbehagen angesichts der These vom hermeneutischen Charakter der wissenschaftliche Prinzipienklärung nicht einfach beiseite zu schieben, sondern ernst zu nehmen. Dass das Bemühen um Aufklärung und Auslegung des im Han140 Toutes les opérations de notre intelligence tendent à la géométrie, comme au terme où elles trouvent leur parfait achèvement. Mais, comme la géométrie leur est nécessairement antérieure (puisque ces opérations n’aboutiront jamais à reconstruire l’espace et ne peuvent faire autrement que de se le donner), il est évident que c’est une géométrie latente, immanente à notre représentation de l’espace, qui est le grand ressort de notre intelligence et qui la fait marcher. – EC 674 | 211 f. | 215 141 C’est pourquoi nous n’avons qu’à suivre la pente de notre esprit pour devenir mathématiciens. Mais, d’autre part, cette mathématique naturelle n’est que le soutien inconscient de notre habitude consciente d’enchaîner les mêmes causes aux mêmes effets […]. – EC 532 | 44 | 50

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deln des homo faber immer schon wirksamen Weltverhältnisses seinen Elan verliert und zu einem bloßen Formalismus verkommt – dies kann nicht nur geschehen, dies geschieht sogar häufig. Die Theorie beschränkt sich dann darauf, eine gegebene Gestalt des – sei es nun wissenschaftlichen oder vorwissenschaftlichen – Bewusstseins zu beschreiben und die Konvention zur Norm zu erheben. Wir verfügen noch nicht über die begrifflichen Mittel, um präzise anzugeben, worin für Bergson der Fehlschlag dieser Unternehmungen besteht. Feststellen können wir aber, dass diese Unternehmungen, die man lieber als Erkenntnis- oder Wissenschaftstheorie bezeichnen möchte, für Bergson Fehlschläge, nämlich nicht zur Entfaltung gelangte hermeneutische Impulse darstellen. Wenn Bergson von Erkenntnistheorie (théorie de la connaissance) spricht und die Erkenntnistheorie kritisiert, dann meint er immer eine Theorie, die glaubt, dass die Verfahren der Intelligenz sowie die Grundbegriffe und die Methoden der Wissenschaft dem Wandel nicht unterworfen sind und dass man deshalb ein- für allemal sagen könne, wie Erkenntnis und Wissenschaft sich vollziehen. Wie immer nun eine Theorie der Erkenntnis und der Wissenschaft aussehen mag, die den hermeneutischen Impuls der aufklärenden Auslegung zur Entfaltung kommen lässt, – zunächst einmal ist festzuhalten, dass jede Theorie, die zeitlos gültige Begriffe und Methoden der Wissenschaft unterstellt, in Gegensatz gerät zu den Erfahrungen derjenigen, die Wissenschaft wirklich betreiben. 3.3.2.2 Relativität und Historizität der Wissenschaft Seit langer Zeit schon sind die Interpreten sich der Tatsache bewusst, dass Bergson zu einer durch Positivismus, Naturalismus und Historismus geprägten Generation gehörte und dass nicht wenige Angehörige dieser Generation ihre Aufgabe darin sahen, den aus diesen Denkweisen entspringenden Relativismus durch eine »Erneuerung der Metaphysik« zu überwinden. So schreibt etwa Ernst Troeltsch im Jahre 1922: Das »Bedürfnis den Positivismus zugleich anzuerkennen und zu überwinden […] war um so brennender, als sich bei den Führern der 60er und 70er Jahre, bei Renan und vor allem bei Taine, dieser mit dem deutschen Historismus eng verbunden und den letzteren damit zugleich hoffnungslos relativiert und naturalisiert hatte. Ein derartig in sich gemischter Positivismus hat in Frankreich, dem Experimentierfeld des europäischen Gedankens,

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sehr rasch zu allen Folgen des Determinismus, Psychologismus und Relativismus, des Ichkultes, des Ästhetentums und des Pessimismus geführt. Das war nun der psychologisierende Historismus im vollsten Sinne der üblen Bedeutung des Wortes, ohne logische Begründung und ohne ethische Begrenzung. Es ist vollkommen begreiflich, dass sich dagegen eine neue Generation seit den 90er Jahren leidenschaftlich empörte. Sie wollte das Recht des Lebens, die Ursprünglichkeit, die Freiheit, den Zugang zum inneren Wesen der Dinge wieder gewinnen.« 142

Gegen eine derartige Bergson-Deutung ist wenig einzuwenden, solange sie das berücksichtigt, was Troeltsch gleich zu Beginn der zitierten Passage formuliert: Es konnte nur darum gehen, Positivismus, Naturalismus und Historismus »zugleich anzuerkennen und zu überwinden«. Wie immer es sich in dieser Hinsicht mit seinen Zeitgenossen verhalten mag – Bergson selbst jedenfalls marschiert nicht schnurstracks auf eine Überwindung des Relativismus durch eine erneuerte Metaphysik zu, sondern greift die These von der Relativität menschlichen Wissens erst einmal auf, ja überbietet sie geradezu, indem er sie vertieft: »Nie genug kann die Künstlichkeit der mathematischen Form eines physikalischen Gesetzes, und also unserer wissenschaftlichen Erkenntnis der Dinge betont werden. So sind unsere Maßeinheiten konventionell, sind – wenn der Ausdruck erlaubt ist – den Absichten der Natur fremd: denn wie z. B. annehmen, dass die Natur alle Beschaffenheiten der Wärme in Beziehung zur Ausdehnung einer gleichbleibenden Quecksilbermenge oder zur Druckverschiedenheit einer im konstanten Volumen erhaltenen Luftmenge gesetzt habe? Und mehr als dies! Ganz allgemein ist Messen ein rein menschliches Verfahren, darin bestehend, dass zwei Gegenstände eine bestimmte Anzahl von Malen real oder ideell übereinander gelegt werden. Die Natur hat an solche Übereinanderlegung nicht gedacht. Sie misst nicht, sie zählt nicht. Dennoch zählt und misst die Physik und bezieht »quantitative Veränderungen« aufeinander, um Gesetze zu finden […].« 143 Troeltsch[1977] 632 f. On n’insistera jamais assez sur ce qu’il y a d’artificiel dans la forme mathématique d’une loi physique, et par conséquent dans notre connaissance scientifique des choses. Nos unités de mesure sont conventionnelles et, si l’on peut parler ainsi, étrangères aux intentions de la nature : comment supposer que celle-ci ait rapporté toutes les modalités de la chaleur aux dilatations d’une même masse de mercure ou aux changements de pression d’une même masse d’air maintenue à un volume constan ? Mais ce n’est pas assez dire. D’une manière générale, mesurer est une opération tout humaine, qui implique qu’on superpose réellement ou idéalement deux objets l’un à l’autre un certain nombre de fois. La nature n’a pas songé à cette superposition. Elle ne mesure pas, elle ne compte pas davantage. Pourtant la physique compte, mesure, 142 143

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Unsere Maßeinheiten sind willkürlich gewählt. Unsere Messverfahren stellen willkürlich Beziehungen zwischen Phänomenen her, zwischen denen in der Natur keine – oder jedenfalls: keine direkten – Beziehungen bestehen. Das Messen an sich ist eine willkürliche, vom Menschen erdachte Operation. Willkürlich konstruiert sind schließlich die Symbolismen, derer sich die Wissenschaft bedient, um die Ergebnisse des Messens darzustellen. Wir haben am Ende des vorhergehenden Abschnitts bereits angedeutet, worauf Bergson abzielt: Jeder Versuch, durch bestimmte wissenschaftliche Prinzipien oder Methoden ein der Relativität und der Wandelbarkeit nicht unterworfenes Wissen zu erreichen, ist zum Scheitern verurteilt. Unser Wissen ist relativ, d. h. abhängig von der Wahl der Verfahren und der Symbolismen, abhängig auch von den menschlichen Bedürfnissen und Möglichkeiten. Nun verändern sich aber die jeweils als besonders aussichtsreich geltenden Verfahren und Darstellungsweisen der Wissenschaft im Verlauf ihrer Geschichte, und Bergson ist noch nicht einmal bereit, im Verlauf der Wissenschaftsgeschichte etwas der Kontingenz Entzogenes zu sehen: »Zweifellos hätte die mathematische Wissenschaft zu Anfang nicht die Form anzunehmen brauchen, die die Griechen ihr gegeben haben.« 144

Aber dieses Insistieren auf der Relativität der wissenschaftlichen Form überhaupt und der Kontingenz ihrer aufeinander folgenden konkreten Gestalten ist nur die eine Seite dessen, was Bergson zur Geschichte der Wissenschaft(en) zu sagen hat. Die andere Seite ist uns grundsätzlich bereits bekannt, wie die Fortsetzungen der beiden zitierten Textpassagen zeigen. Der letzte Satz des ersten Zitats endet mit den Worten: »und es gelingt ihr« (et elle réussit). Die messende Wissenschaft nähert sich der Natur zwar auf eine »unnatürliche« Weise, aber ihr Unternehmen ist gleichwohl erfolgreich. Diese Bemerkung verweist letztlich auf die These, dass das praktische Weltverhältnis des homo faber, mag es noch so artifiziell und theoretisch ungesichert sein, in irgendeiner Hinsicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen muss. Das zweite Zitat, aus dem ich nur den Hinweis auf

rapporte les unes aux autres des variations « quantitatives » pour obtenir des lois […]. – EC 680 | 219 f. | 223 144 Sans doute la science mathématique aurait pu ne pas prendre, à l’origine, la forme que les Grecs lui ont donnée. – PM 1279 | 36 | 51

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die kontingente Form der antiken Mathematik angeführt hatte, setzt Bergson folgendermaßen fort: »Zweifellos ist [die Mathematik], welche Form sie auch immer annimmt, auf den Gebrauch künstlicher Zeichen angewiesen. Aber dieser in Formeln gefassten Mathematik, die zu einem großen Teil auf Konvention beruht, geht virtuell oder implizit eine andere voraus, die dem menschlichen Geist natürlich ist.« 145

Auch diese These ist uns bereits vertraut: Die wissenschaftlich betriebene Mathematik stellt die Auslegung einer »natürlichen Mathematik« dar, die zur naturgegebenen Ausstattung des Menschen gehört. Im gegenwärtigen Zusammenhang wird nun aber ein Umstand wichtig, auf den wir bisher noch nicht eingegangen sind. Man könnte ja meinen, dass die natürliche Mathematik in ihrer ursprünglichen Form eine unvollkommene Mathematik sei, der erst die Transformation in einen Symbolismus zu Klarheit und Deutlichkeit verhelfe. In einer gewissen Hinsicht ist das auch durchaus der Fall, denn der Symbolismus kommt dem vom homo faber betriebenen Hantieren mit materiellen Dingen mehr entgegen als die mit qualitativen Eindrücken operierende natürliche Mathematik. Stellt man aber die uns hier beschäftigende Frage nach der Übereinstimmung mit der Wirklichkeit, dann gilt nach Bergsons Auffassung, dass die formalisierte Mathematik weiter von der Wirklichkeit entfernt und stärker der Relativität der Symbolismen unterworfen ist als die vorreflexive natürliche Mathematik, die sich durch Anschaulichkeit und direkten Kontakt mit der Realität auszeichnet: »Vor aller wissenschaftlichen Geometrie existiert eine natürliche, deren Klarheit und Evidenz die aller übrigen Deduktionen übersteigt.« 146

Wenn ich zunächst die Grundlinie eines Dreiecks in den Sand zeichne und dann darauf achte, dass die Winkel, die den Verlauf der beiden übrigen Seiten festlegen, gleich sind, dann weiß ich unmittelbar und uneingeschränkt 147, dass die beiden von der Grundlinie ausgehenden

145 Sans doute aussi elle doit s’astreindre, quelque forme qu’elle adopte, à l’emploi de signes artificiels. Mais antérieurement à cette mathématique formulée, qui renferme une grande part de convention, il y en a une autre, virtuelle ou implicite, qui est naturelle à l’esprit humain. – PM 1279 | 36 | 51 146 Ainsi, antérieurement à la géométrie savante, il y a une géométrie naturelle dont la clarté et l’évidence dépassent celles des autres déductions. – EC 674 | 212 | 216 147 je sais d’une manière certaine et je comprends absolument – EC 674 | 212 | 216

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Seiten gleich lang sind. Und der »Wilde«, der nur über die natürliche, anschauliche Geometrie verfügt, versteht sich besser als der Zivilisierte darauf, Entfernungen zu schätzen und Richtungen zu bestimmen. 148 Einerseits also finden wir bei Bergson den Gedanken einer formalisierten Mathematik (und Naturwissenschaft), die zwar der Verständigung und dem Handeln angemessen, aber hoffnungslos in die Relativität alles Symbolischen verstrickt ist; andererseits den Gedanken einer natürlichen Mathematik (und Naturerfassung), die in engem Kontakt mit der Wirklichkeit steht, aber an die persönliche Anschauung gebunden ist und die Grenzen der persönlichen Erfahrung nicht überschreiten kann. Was geschieht, wenn diese beiden Gedanken sich begegnen? Nun, es geschieht genau das, was man erwarten sollte, wenn man Bergsons Philosophie als eine hermeneutische liest: Die beiden Gestalten der Mathematik bzw. der Wirklichkeitserfahrung treten in ein Spannungsverhältnis, das demjenigen von persönlicher Intuition und konventionellen Sprachmustern nicht unähnlich ist. Keiner der beiden Gestalten gelingt es, die andere endgültig zu überwinden. Beide erhellen sich vielmehr gegenseitig, indem sie ihre jeweiligen Stärken ausspielen und ihre Schwächen kompensieren. Das lässt sich an vielen Texten zeigen. Derjenige, den ich als Beispiel heranziehen möchte 149, befasst sich mit dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik – also mit jenem Gesetz zunehmender Entropie, gegen das nach Bergsons Ansicht das Leben Widerstand leistet. 150 Bergson skizziert zunächst kurz die wichtigsten Etappen der Ausarbeitung dieses Gesetzes als Etappen zunehmender Formalisierung: »Das Gesetz der Entwertung der Energie bezieht sich nicht wesensmäßig auf Größen. Kein Zweifel zwar, dass seine erste Idee im Geiste Carnots auf Grund gewisser quantitativer Erwägungen über die Leistung von Wärmemaschinen aufgetaucht ist. Kein Zweifel auch, dass es mathematische Begriffe waren, in denen Clausius es verallgemeinerte, und dass es der Be-

Die These von der Überlegenheit der anschaulichen gegenüber der formalen Geometrie ist keine Spezialität Bergsons, sondern geradezu ein Lieblingsthema der Lebensphilosophie. Sie findet sich bereits bei Schopenhauer. Vgl. insbesondere WWV I.1, § 15 (Schopenhauer[1977] 108 ff.), wo Schopenhauer sogar – in dieser wie in mancherlei anderer Hinsicht ein Geistesverwandter Bergsons – eine Reform des Mathematikunterrichts anregt. 149 EC 701 | 243 | 246 f. 150 Vgl. S. 164. 148

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griff einer berechenbaren Größe, der »Entropie«, ist, worin es mündete. Diese Exaktheit ist für die Anwendung notwendig.« 151

Aber dann folgt eine merkwürdige Fortsetzung: »Ungefähr formulierbar jedoch würde das Gesetz bleiben, ja es hätte sich zur Not auch dann noch im Groben formulieren lassen, wenn kein Mensch auf den Gedanken gekommen wäre, die verschiedenen Energien der physikalischen Welt zu messen, dann noch sogar, wenn der Begriff der Energie niemals geschaffen worden wäre. Denn tatsächlich drückt es im wesentlichen nur aus, dass alle physikalischen Veränderungen die Tendenz haben, sich schließlich in Wärme zu verwandeln, und dass die Wärme selber dahin tendiert, sich auf gleichförmige Art unter die Körper zu verteilen.« 152

Ausgerechnet der Philosoph, der in seiner letzten Publikation der philosophischen Tradition mangelnde Präzision vorwirft 153, erweckt hier den Eindruck, als stelle die von der mathematische Physik geleistete zunehmende Präzisierung des Gesetzes von der Entwertung der Energie durch die mathematische Physik eher einen Verlust als einen Gewinn dar und als sei der Umstand, dass dieses Gesetz »vage formulierbar« ist und bleibt, gleichsam der letzte Hoffnungsschimmer. Aber was heißt es denn, einen physikalischen Zusammenhang »vage« zu formulieren? Der Text gibt – und zwar in der zitierten Passage ebenso wie wenige Zeilen zuvor bereits in einer Passage über den ersten Hauptsatz der Thermodynamik – bereitwillig Auskunft: Es heißt, anzugeben, was das formalisierte und quantifizierte Gesetz »ausdrückt« (exprime). 154 Es heißt, auf eine Erfahrung zurückzugehen, die jeder macht oder zumindest machen kann. 151 La loi de dégradation de l’énergie, en effet, ne porte pas essentiellement sur des grandeurs. Sans doute l’idée première en naquit, dans la pensée de Carnot, de certaines considérations quantitatives sur le rendement des machines thermiques. Sans doute aussi, c’est en termes mathématiques que Clausius la généralisa, et c’est à la conception d’une grandeur calculable, l’« entropie », qu’il aboutit. Ces précisions sont nécessaires aux applications. 152 Mais la loi resterait vaguement formulable et aurait pu, à la rigueur, être formulée en gros, lors même qu’on n’eût jamais songé à mesurer les diverses énergies du monde physique, lors même qu’on n’eût pas créé le concept d’énergie. Elle exprime essentiellement, en effet, que tous les changements physiques ont une tendance à se dégrader en chaleur, et que la chaleur elle-même tend à se répartir d’une manière uniforme entre les corps. 153 PM 1253 | 1 | 21 154 Die entsprechende Formulierung im Hinblick auf den ersten Hauptsatz der Thermodynamik (das Gesetz von der Erhaltung der Energie) lautet: La loi de conservation de l’énergie ne pourra plus exprimer ici la permanence objective d’une certaine quan-

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Es ist dies keine »Erfahrungstatsache« im Sinne eines wissenschaftlichen Empirismus. Bergson deutet das an, indem er das für die Naturwissenschaften konstitutive Messen – im Sinne Husserls – einklammert: Die ursprüngliche Erfahrung, die durch ein naturwissenschaftliches Gesetz – hier: durch den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik – ausgedrückt wird, wäre auch dann möglich, »wenn kein Mensch auf den Gedanken gekommen wäre, die verschiedenen Energien der physikalischen Welt zu messen«. Bergson geht noch weiter. In einem zweiten Schritt klammert er – stellvertretend für die ganze wissenschaftliche Begrifflichkeit – den Begriff der Energie ein. Selbst wenn dieser »niemals geschaffen worden wäre«, wäre die Erfahrung, um die es letztlich geht, nicht unmöglich. Bergson macht also in diesem zweiten Teil des Textes die Geschichte der Ausarbeitung des Gesetzes, die eine Geschichte zunehmender Formalisierung ist, gleichsam rückgängig, um festzustellen: Dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik liegt – wie jedem anderen naturwissenschaftlichen Gesetz auch – ein lebensweltlicher Sachverhalt zugrunde, der durch Messen quantifiziert und durch symbolische Darstellung formalisiert werden kann, der dem Menschen aber auch ohne Messen und symbolische Darstellung zugänglich ist. Aber handelt es sich dabei nicht um eine stumme, auf den einzelnen Menschen beschränkte, nicht kommunizierbare Erfahrung? Bemerkenswerterweise ist das nicht der Fall, und zwar deshalb, weil es neben der wissenschaftlichen Begriffssprache noch andere Modi des Sprechens gibt. Die Erfahrung würde auch ohne Messergebnisse, wissenschaftliche Begrifflichkeit und formalen Symbolismus »formulierbar bleiben«, weil man auf die Alltagssprache, an die Bergson hier wohl vor allem denkt, oder auch – man denke an Lukrez – auf die poetische Sprache zurückgreifen kann, um Anderen die gemeinte Erfahrung vor Augen zu stellen. Kurz: Man kann eine »evozierende« (Misch) 155 oder »präsentative« (Langer) 156 Sprache einsetzen, um den ursprünglichen Erfahrungsgehalt des Gesetzes heraufzubeschwören, und »in dieser weniger präzisen Form wird das Gesetz unabhängig von jeglicher Konvention.« 157 tité d’une certaine chose, mais plutôt la nécessité pour tout changement qui se produit d’être contrebalancé, quelque part, par un changement de sens contraire. 155 Misch[1994] 499 ff. 156 Langer[1996] 79 ff. 157 Sous cette forme moins précise, elle devient indépendante de toute convention […].

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Das also ist der Sinn dieser Operation. Aber man muss sich nun angesichts eines derartigen Lobs des Evozierens vor dem Fehler jener Interpreten hüten, die meinten und meinen, Bergson wolle den formalisierenden Zugang der Naturwissenschaften durch das Evozieren einer vorwissenschaftlich-unmittelbaren Erfahrung, die der Relativität unterworfenen Symbolismen durch ein raunend-naturnahes Sprechen ersetzen. Im Grunde ist dieser Text nicht so sehr ein Lob des Evozierens als vielmehr ein neuerliches Lob der Differenz. Konventionalität, Kontingenz und Relativität greifen nicht von den Symbolismen auf unser gesamtes Wissen von der Wirklichkeit über, weil uns der praktische Kontakt mit der Wirklichkeit gleichsam harte Erfahrungskerne (Evidenzen) verschafft, die die Kritik ihrer symbolischen Hüllen überstehen. Andererseits werden die vagen vorwissenschaftlichen Erfahrungen durch Formalisierung so transformiert, dass daraus ein Nutzen für die Praxis des homo faber entspringt. Bergsons Pointe entdeckt man nicht, wenn man fragt, ob der Symbolismus oder das Evozieren die »eigentlich« angemessene und richtige Ausdrucksform darstelle. Die Pointe entdeckt man, wenn man die Beziehung zu den Philosophen, Dichtern und Lesern herstellt, die sich im Spannungsfeld von Intuition und Sprache abmühen, entweder der Intuition eine geeignete sprachliche Form zu verleihen oder die einen Text leitende Intuition zu erfassen. Die Pointe entdeckt man, wenn man sich an Bergsons frühe These über den engen Zusammenhang von Mathematik und Literatur 158 erinnert. Die formalen Symbolismen der Mathematik und der mathematisch geprägten Naturwissenschaften einerseits sowie andererseits das evozierende Sprechen unter Verwendung der Alltags- oder einer dichterischen Sprache schaffen, wenn sie beide als gleichrangige Ausdrucksformen anerkannt werden, eine Differenz, konstituieren ein Spannungsfeld, das Präzisierungen, Korrekturen und Fortschritte ermöglicht. Dem verträumten Sich-Verlieren in der Betrachtung der Phänomene wirkt die Tendenz zur Formalisierung und praktischen Nutzbarmachung in der gleichen Weise entgegen wie die Notwendigkeit sprachlicher Gestaltung den Philosophen oder den Dichter daran hindert, sich in der gestaltlosen Unmittelbarkeit seiner Intuition oder Emotion einzurichten. Den von der Relativität der Begriffe und Methoden ausgehenden radikalen Zweifel aber stoppt die Beschwörung des präsymbolischen Erfahrungskernes wie die Frage nach dem Sinn 158

Vgl. Kap. 1, Anm. 18 und die Erläuterungen dazu.

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bzw. der Intuition den Leser von der Meinung abbringt, der vor ihm liegende Text sei nichts als eine Zusammenstellung konventioneller Teile. Die Tendenz zum Symbolismus gleicht dem Sprechen, die Suche nach dem lebendigen Erfahrungskern dem Verstehen. Wissenschaft wird in diesem Spannungsfeld betrieben, und deshalb zeigt sich in der Erfahrung derjenigen, die sie betreiben, jene »Zickzacklinie«, jenes Hin und Her zwischen Formalismus und Evidenz, das schon den in L’intuition philosophique geschilderten Philosophen nicht zur Ruhe kommen ließ. Aber wenn es sich so verhält, müsste dann die Geschichte der Wissenschaften nicht doch eine gewisse Logik aufweisen? Müsste man ihr nicht doch eine zunehmende Annäherung an die Wirklichkeit zusprechen? 3.3.2.3 Der Zwiespalt der Bewegungswissenschaft Mir ist kein Text bekannt, in dem Bergson behaupten würde, dass die Geschichte der Wissenschaft als stetige Annäherung an die Wirklichkeit zu begreifen ist. Derlei Versicherungen über einen unabhängig von den Bemühungen der Beteiligten sich vollziehenden Verlauf passen auch nicht zu einer Philosophie, in deren Mittelpunkt die kreative Anstrengung steht. Es gibt gleichwohl zahlreiche Äußerungen Bergsons, die in diesem Zusammenhang von Interesse sind. Ich fasse sie zu zwei Gruppen zusammen. Für die erste Gruppe mögen hier einige Sätze aus der Introduction à la métaphysique stehen. Bergson schreibt dort: »Wir glauben, dass mehrere der großen Entdeckungen, wenigstens von denen, die eine Umwälzung in den Wissenschaften hervorgebracht oder neue ins Leben gerufen haben, ebenso viele Tiefenlotungen in der reinen Dauer gewesen sind. Je lebendiger die betreffende Realität war, um so tiefer war die Lotung gewesen. Aber das in die Tiefen des Meeres geworfene Senkblei holt eine flüssige Masse heraus, die die Sonne sehr rasch zu festen und auseinanderfallenden Sandkörnern austrocknet. Und so erstarrt auch die Intuition der Dauer, wenn man sie den Strahlen des Verstandes aussetzt, sehr rasch zu festen, distinkten und unbeweglichen Begriffen.« 159 159 Nous estimons que plusieurs des grandes découvertes, de celles au moins qui ont transformé les sciences positives ou qui en ont créé de nouvelles, ont été autant de coups de sonde donnés dans la durée pure. Plus vivante était la réalité touchée, plus profond avait été le coup de sonde. Mais la sonde jetée au fond de la mer ramène une masse fluide que le soleil dessèche bien vite en grains de sable solides et discontinus.

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Die Geschichte der Wissenschaften erweist sich bei näherer Betrachtung als rhythmischer Wechsel von Routine und Neuerungen. Darin gleicht sie dem Leben des einzelnen Menschen und der menschlichen Gruppen, in dessen Verlauf ab und an neue Verhaltensmuster entwickelt, dann aber dem Fundus der Gewohnheiten einverleibt werden. Beachtet man das, stellt sich die Frage, was eigentlich »zunehmende Annäherung an die Wirklichkeit« bedeuten könnte. Aus Bergsons Perspektive hat die Konsolidierung und Anwendung eines – wie wir heute sagen – wissenschaftlichen Paradigmas viel mit der Vermehrung nützlicher Kenntnisse, aber nichts mit einer zunehmenden Annäherung an die Wirklichkeit zu tun. Schon eher könnte man vermuten, dass sich eine solche im Zusammenhang mit denjenigen Anstrengungen und Entdeckungen ereignet, die zu Paradigmenwechseln führen. Die Unzufriedenheit mit den gängigen Begriffen und Methoden führt Wissenschaftler in seltenen Fällen dazu, eine »Tiefenlotung« vorzunehmen, aus der ganz neue Ansätze, Begriffe und Methoden erwachsen können. Dieses neue Bild sollte uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass Bergson hier ein Muster beschreibt, das uns seit Kapitel 1 vertraut ist: Der Wissenschaftler, eingebunden in den Wissenschaftsbetrieb seiner Zeit, hat plötzlich das Gefühl: Unmöglich! Deshalb sieht er sich genötigt, die gerade Bahn der vertrauten Interpretationen, die Tangente des »Immer weiter so« zu verlassen und einen neuen Kontakt mit der Wirklichkeit herzustellen. Da diese Wirklichkeit aber auch ihrerseits beweglich ist, zeigt in der Tat auch die Wissenschaftsgeschichte jene Zickzackbewegung, von der Bergson im Hinblick auf den Philosophen und seine Bemühung um die Intuition gesprochen hatte. Nur eben: Solche Annäherungen an die Wirklichkeit ergeben sich nicht von selbst. Sie ergeben sich nur aufgrund persönlicher Anstrengung und eines Bruchs mit dem geltenden Paradigma. Vor allem aber: Wenig spricht dafür, dass sich die Ergebnisse der »Tiefenlotungen« und der aus ihnen folgenden wissenschaftlichen Revolutionen aufsummieren lassen, was doch erforderlich wäre, damit man von einer »zunehmenden Annäherung an die Wirklichkeit« sprechen dürfte. Bergson drückt sich in diesen Erörterungen nicht ganz eindeutig aus, aber mir scheint, dass die wis-

Et l’intuition de la durée, quand on l’expose aux rayons de l’entendement, se prend bien vite aussi en concepts figés, distincts, immobiles. – PM 1425 | 217 f. | 217

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senschaftlichen Revolutionen bei Bergson im Grunde – wie auch bei Thomas Kuhn – nur Paradigmenwechsel darstellen. 160 Die zweite Gruppe der hier interessierenden Äußerungen betrifft nicht den Verlauf der Wissenschaftsgeschichte insgesamt, sondern nur die Bewertung der modernen Wissenschaft als der uns am nächsten stehenden Phase. Man könnte auch sagen: Sie betrifft die nach Bergsons Auffassung wichtigste Tiefenlotung und den daraus resultierenden Paradigmenwechsel. Sie betrifft die Schaffung einer Bewegungswissenschaft zu Beginn der Neuzeit, durch die nach Bergsons Auffassung die neuzeitliche und moderne Wissenschaft 161 der Wirklichkeit in der Tat näher gekommen sind als es etwa die antike jemals vermocht hat. Es lohnt sich, an dieser Stelle einen Augenblick zu verweilen. Man pflegt ja die Lebensphilosophie als eine der rückwärtsgewandten, modernitätsfeindlichen Denkbewegungen zu deuten. Und in der Tat: Gehen nicht Nietzsche und Heidegger bei ihrem Versuch, die Irrwege der metaphysischen Tradition zu vermeiden, bis auf die Vorsokratiker zurück? Nimmt nicht Klages sogar zu den sagenhaften »Pelasgern« seine Zuflucht? Und finden wir nicht auch im Frankreich der Bergson-Zeit die vielfältigsten Archaismen, Primitivismen und Exotismen? Es kann hier nicht darum gehen, diese vielfältigen Formen der Rückwärtsgewandtheit zu beschreiben und zu bewerten. Halten wir deshalb zunächst einmal nur das fest, was bei der Lektüre der Texte ins Auge springt, was man freilich oft genug nicht sehen 160 Die Ursache der Interpretationsschwierigkeiten lässt sich leicht an dem Beispiel erläutern, das wir hier gleich genauer betrachten werden: Bergson grenzt die moderne Bewegungswissenschaft von der antiken ab. Aus einer solchen Gegenüberstellung von zwei Paradigmen lässt sich aber nun nicht mit Sicherheit ablesen, ob Bergson einen Entwicklungsfortschritt oder zwei gleichwertige Paradigmen meint. Wenn ich mich für die zweite Interpretation entscheide, so hat das weniger mit Thomas Kuhn zu tun als vielmehr mit dem generellen Duktus von Bergsons Denken, wie wir ihn in Kapitel 2 im Zusammenhang mit der Evolution des Lebendigen erörtert haben: Entwicklung ist für Bergson nicht lineare Höherentwicklung, sondern aus sukzessiven Aufspaltungen sich ergebende Ausbildung prinzipiell gleichwertiger Alternativen. Dieser Duktus von Bergsons Denken steht zudem im Einklang mit dem Duktus lebensphilosophischen Denkens überhaupt, wie sich zeigt, wenn man einen Blick auf Diltheys Typologie der Weltbilder oder Spenglers Lehre vom Monadencharakter der Kulturen wirft. 161 Wie weithin üblich, unterscheide ich hier zwischen der »Neuzeit«, die spätestens mit Galilei und Descartes beginnt, und der »Moderne«, die man mit Zügen wie Industrialisierung, Demokratisierung und antimetaphysischer Philosophie in Verbindung bringen und nicht vor dem 19. Jahrhundert beginnen lassen wird.

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wollte: Bergson steht mit beiden Beinen in der Moderne. Es gibt bei ihm keine Träumereien vom glücklichen Naturzustand. Die moderne Wissenschaft ist für ihn der Wahrheit so nahe wie keine andere Wissenschaft zuvor, und sie ist insbesondere der antiken Wissenschaft überlegen. Gleiches gilt für die Philosophie, obwohl Bergson sich intensiv mit der antiken Philosophie beschäftigt hat. Wenn Bergson über Kunst spricht, dann meint er die Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts. 162 Und selbst wenn er sich mit Mystik beschäftigt, wendet er sich nicht etwa an das von den Romantikern so geliebte Mittelalter, sondern greift – fast möchte man sagen: instinktiv – zu den Werken solcher Autoren, die der Neuzeit näher stehen. 163 Diese Feststellung möchte ich nun nicht so verstanden wissen, als stünde Bergson der Moderne unkritisch gegenüber. So verdreht ist das herkömmliche Bergson-Verständnis auch wieder nicht, dass es uns statt eines glühenden Verfechters aller modernen Errungenschaften das Zerrbild eines Kritikers der Moderne zeigte. Bergson kritisiert in der Tat zentrale Aspekte des Weltverhältnisses und des Denkens der Moderne. Ich möchte meine Feststellung auch nicht so verstanden wissen, als ob ich Bergson gleichsam für einen Musterschüler hielte, dem es – man weiß nicht, warum – gelungen ist, die Dummheiten seiner Zeitgenossen zu vermeiden. Es gibt keinerlei Anlass, Bergson zur isolierten Lichtgestalt zu machen. Auf der einen Seite nämlich propagiert auch Bergson die Notwendigkeit, aus den gängigen Interpretationsrastern auszubrechen und einen Blick auf die unverstellte 162 Vgl. etwa: Un Corot, un Turner, pour ne citer que ceux-là, ont aperçu dans la nature bien des aspects que nous ne remarquions pas. – PM 1371 | 150 | 155 163 Eine nicht von Bergson stammende Gesprächsnotiz aus dem Jahre 1911 nennt (neben Franz von Assisi) bezeichnenderweise an erster Stelle Madame Guyon (1648–1717), danach Johannes vom Kreuz (1542–1591) und Teresa von Avila (1515– 1582). – Mél. 881 – In ähnlichem Zusammenhang schreibt Bergson selbst in einem Brief aus dem Jahre 1916: Je ne connais que très incomplètement la Philosophie du Moyen Âge. – Corr. 675. – Mit dieser Haltung steht Bergson nicht allein. Um dies nur an zwei Autoren aus seinem Umfeld zu illustrieren: Henri Delacroix stützt sich 1938 auf Teresa von Avila, Madame Guyon, Johannes vom Kreuz sowie Franz von Sales (1567–1622) und erinnert sich nur in einem einzigen Kapitel kurz an das Thema seiner Dissertation (die deutsche Mystik des 14. Jahrhunderts). Zuvor hatte schon William James das vielfältige religiöse Leben seines Heimatlandes herangezogen, um seine Thesen zu erläutern. – Delacroix[1938], James[2002] – Der Grund für diese Vorlieben dürfte allerdings weniger in irgendeinem Nationalismus zu suchen sein als in dem Umstand, dass die religiösen Autoren mit zunehmender Modernität ihre Erfahrungen als persönliche Erlebnisse beschreiben, so dass ein psychologisch-hermeneutischer Zugang möglich wird.

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Wirklichkeit zu werfen. Exakt dies sind ja die »Tiefenlotungen«. Auf der anderen Seite ist auch bei Bergsons Zeitgenossen nicht jeder rückwärts gewandte Blick auch schon ein Indiz für die Sehnsucht nach Rückkehr in irgendeine heile, aber vergangene Welt. Von Renaissance und Reformation über die Suche nach dem jungen Marx und dem jungen Hegel bis hin zu Hans Blumenbergs Leitfrage: »Was war es, was wir wissen wollten?« 164 ist der Rückgriff auf die Anfänge, der Rückgang zu den Quellen vielmehr immer wieder als Mittel benutzt worden, um einem verknöcherten Dogmatismus zu entkommen. Was Bergson aber in der Tat von manchen seiner Zeitgenossen unterscheidet, ist die These, dass der Anfang immer und überall gegenwärtig ist. Am deutlichsten wird dies wohl, wenn er in Les deux sources de la morale et de la religion einerseits Lévy-Bruhls Gedanken einer mentalité primitive akzeptiert, andererseits aber bestreitet, dass wir diese vorlogische Denkweise bei fremden Völkern oder in vergangenen Epochen zu suchen haben, und stattdessen die Ansicht vertritt, dass es sich dabei um eine Schicht des Bewusstseins handelt, die in jedem, mithin auch in jedem modernen Bewusstsein anzutreffen ist. 165 Ebenso sieht Bergson hier keinen Anlass, die Fähigkeit zu einem frischen, unverstellten und in diesem Sinne unmittelbaren Blick auf die Wirklichkeit nur längst vergangenen Epochen zuzugestehen. Jede wissenschaftliche Revolution ist ein Beleg dafür, dass diese Fähigkeit – mag sie auch verschüttet sein und deshalb nur selten in Erscheinung treten – bis heute existiert. Wenden wir uns nun aber jenem Paradigmenwechsel zu, der den Anfang der modernen Wissenschaft markiert und ihren Vorzug gegenüber der antiken Wissenschaft ausmacht: »Die moderne Wissenschaft entstand an dem Tage, an dem man die Bewegung als unabhängige Wirklichkeit anerkannte. Sie entstand an dem Tage, an dem Galilei, während er eine Kugel eine schiefe Ebene hinabrollen ließ, den festen Entschluss fasste, diese Bewegung von oben nach unten für sich 164 Blumenberg[1989] 9 – Vgl. auch: »Wenn wir schon einsehen müssen, dass wir nicht die Wahrheit von der Wissenschaft erwarten dürfen, so wollen wir doch wenigstens wissen, weshalb wir wissen wollten, was zu wissen nun mit Enttäuschung verbunden ist.« – Blumenberg[1979] 77 165 D’une manière générale, nous hésitons à considérer comme primitive, nous voulons dire comme naturelle, une représentation que nous ne formerions pas, aujourd’hui encore, naturellement. Nous estimons que ce qui fut primitif n’a pas cessé de l’être, bien qu’un effort d’approfondissement interne puisse être nécessaire pour le retrouver. – DS 1089 | 140 | 105

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und an sich selbst zu studieren, statt ihren Grund in den Begriffen des Oben und Unten zu suchen, durch welche statischen Begriffe Aristoteles zur Genüge die Bewegung glaubte erklärt zu haben.« 166

Die moderne Wissenschaft ist also zu charakterisieren als eine Wissenschaft, die sich mit der Bewegung beschäftigt. Nun wird man nicht sagen können, dass antike Denker – wie etwa Aristoteles – sich mit diesem Phänomen nicht befasst hätten. Was also macht die moderne Wissenschaft so grundsätzlich anders, dass Bergson sie anders bewerten kann? Ein erster Anlauf zu einer Antwort ist in der eben zitierten Textpassage zu finden: Die antike Wissenschaft ist eine Begriffswissenschaft in dem Sinne, dass sie danach strebt, die beobachteten Phänomene aus vorgegebenen Begriffen zu erklären. Ist etwa die Bewegung eines fallenden Steins zu erklären, so werden dafür die Begriffe »oben« und »unten« herangezogen. Die moderne Wissenschaft dagegen verfährt empirisch in dem Sinne, dass sie vorgegebene Begriffe vermeidet und stattdessen den Vorgang als solchen beobachtet, misst und beschreibt. Einen zweiten Anlauf unternimmt Bergson in dem für unser gegenwärtiges Thema wichtigen vierten Kapitel von L’évolution créatrice: Die antike Wissenschaft beobachtet selbstverständlich auch Bewegungsverläufe, aber sie entdeckt darin »privilegierte Momente«, während für die moderne Wissenschaft alle Momente gleichwertig sind 167. Diese beiden Anläufe konkurrieren nicht miteinander, sie liefern lediglich verschiedene Ansichten des gleichen Sachverhalts, denn die zur Erklärung herangezogenen Begriffe bezeichnen gerade die privilegierten Momente der Bewegung: Das »Oben« und das »Unten« sind solche privilegierten Momente, insbesondere aber ist es das »Unten«, insofern es nach der von Aristoteles vorgetragenen Auffassung den »natürlichen Ort« des Steins markiert. Das Entscheidende an dieser Form der Erklärung besteht nicht darin, dass »unten« – aus der Perspektive der modernen, messenden 166 La science moderne date du jour où l’on érigea la mobilité en réalité indépendante. Elle date du jour où Galilée, faisant rouler une bille sur un plan incliné, prit la ferme résolution d’étudier ce mouvement de haut en bas pour lui-même, en lui-même, au lieu d’en chercher le principe dans les concepts du haut et du bas, deux immobilités par lesquelles Aristote croyait en expliquer suffisamment la mobilité. – PM 1425 | 217 | 217 167 En quoi consiste la différence d’attitude de ces deux sciences vis-à-vis du changemen ? Nous la formulerions en disant que la science antique croit connaître suffisamment son objet quand elle en a noté des moments privilégiés, au lieu que la science moderne le considère à n’importe quel moment. – EC 774 | 329 f. | 333

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Wissenschaft – eine unpräzise Bestimmung ist, sondern darin, dass die Angabe des Orts mit einer Bewertung verknüpft wird. Das »Unten« ist nicht nur der Ort, an dem der Stein möglicherweise irgendwann einmal ist, sondern der Ort, an dem er sein soll. Nur an diesem Ort ist der Stein wirklich Stein, d. h. in Übereinstimmung mit seinem Wesen. Bewegung ist im schlimmsten Falle eine Abweichung von, im besten Falle eine Rückkehr zu seinem Wesen, in jedem Falle aber Ausdruck eines Defizits. Mit einer solchen Konzentration auf privilegierte Momente, d. h. einer Verknüpfung von Positionsbestimmung und Bewertung hat die antike Wissenschaft aber einen Weg betreten, der nach Bergsons Auffassung letztlich zu so etwas wie Platons Ideenlehre und zur Entwertung der Bewegung führen muss. Das entscheidend Neue der modernen Wissenschaft von der Bewegung besteht also darin, dass sie sich der Bewertung enthält, d. h. sämtliche Punkte ihres Verlaufs als gleichwertig betrachtet. »Die moderne Naturwissenschaft ist die Tochter der Astronomie. Auf der schiefen Ebene Galileis ist sie vom Himmel zur Erde herabgeglitten; denn Galilei ist es, durch den Newton und seine Nachfolger sich mit Kepler verknüpften. Wie also hatte sich für Kepler das astronomische Problem gestellt? Ihm handelte es sich darum, aus der Kenntnis des gegenseitigen Standes der Planeten in einem gegebenen Moment ihre Stellung für jeden beliebigen anderen Moment zu berechnen. Von nun ab stellte sich dieses Problem für jedes materielle System. Jeder materielle Punkt wurde zum rudimentären Planeten, und die Hauptfrage, das Idealproblem, dessen Lösung die Lösung aller übrigen liefern sollte, bestand darin, die gegenseitige Stellung dieser Elemente, wenn einmal für einen gegebenen Moment erkannt, für jeden beliebigen Moment zu berechnen.« 168

Dieser neuartige Ansatz verlangt, dass man sich jener an privilegierten Punkten festgemachten Begriffe, auf die sich die antike Wissenschaft gestützt hatte, entledigt und sie durch etwas ersetzt, was den Anforderungen des neuen Paradigmas besser entspricht. Es ist dies 168 La science moderne est fille de l’astronomie ; elle est descendue du ciel sur la terre le long du plan incliné de Galilée, car c’est par Galilée que Newton et ses successeurs se relient à Kepler. Or, comment se posait pour Kepler le problème astronomique ? Il s’agissait, connaissant les positions respectives des planètes à un moment donné, de calculer leurs positions à n’importe quel autre moment. La même question se posa, désormais, pour tout système matériel. Chaque point matériel devint une planète rudimentaire, et la question par excellence, le problème idéal dont la solution devait livrer la clef de tous les autres, fut de déterminer les positions relatives de ces éléments en un moment quelconque, une fois qu’on en connaissait les positions à un moment donné. – EC 778 | 334 f. | 338

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das Gesetz bzw. – da Gesetze in mathematischer Form ausgedrückt zu werden pflegen – die Funktion. Ein Gesetz bzw. eine Funktion formuliert eine Regel, die es erlaubt, die Position eines einzelnen Elements oder die Positionen der Elemente eines Systems zu jedem beliebigen Zeitpunkt zu ermitteln. Das verweist auf die zweite wesentliche Veränderung: Für die moderne Wissenschaft wird die Zeit, die in der Antike nur den Abfall vom eigentlichen, stabilen Sein anzeigte, zu einem unverzichtbaren Element der Betrachtung. Um den weiteren Verlauf von Bergsons Argumentation zu verstehen, ist es hilfreich, noch einmal kurz an Aristoteles zu erinnern. Aristoteles hat bekanntlich dem Begriff »Bewegung« (κίνησιϚ) eine weit umfassendere Bedeutung verliehen als es die ist, mit der wir bisher operiert haben. Das Wort κίνησιϚ bezeichnet bei ihm etwa das, was das deutsche Wort »Veränderung« meint. In unseren bisherigen Überlegungen haben wir uns stillschweigend darauf beschränkt, Bewegung als Veränderung des Orts zu thematisieren. Das hatte seinen guten Grund, denn wir haben hier – zusammen mit Bergson – die Astronomie Keplers und die Physik Galileis betrachtet – Wissenschaften also, die in der Tat primär an Ortsveränderungen interessiert sind. Aristoteles dagegen unterscheidet die Veränderung (a) der Substanz, (b) der Qualität, (c) der Quantität, (d) des Ortes. Mit anderen Worten: »Bewegung« im Sinne von »Veränderung« gibt es für Aristoteles im Hinblick auf fast jede Kategorie. 169 Vor diesem Hintergrund wird es möglich, den Zwiespalt zu verstehen, in den die moderne Wissenschaft nach Bergsons Auffassung gerät. Man könnte ihn so formulieren: Einerseits strebt die moderne Wissenschaft, die als bloße Wissenschaft der Ortsveränderung begann, danach, sich auszudehnen, letztlich den gesamten von Aristoteles umgrenzten Bereich in Anspruch zu nehmen und alle darin begegnenden Phänomene gemäß dem neuen Ansatz zu behandeln. Andererseits aber kann sie sich von bestimmten, aus der Antike übernommenen Vorgaben nicht lösen und weicht deshalb immer wieder von dem einmal eingeschlagenen Weg ab. Beginnen wir mit dem der modernen Wissenschaft eigentümlichen Impuls. Das neue Paradigma, das am Anfang der modernen Wissenschaft steht, ist – wie jedes andere Paradigma auch – ein Impuls, der danach strebt, sich auszudehnen und einen wachsenden Be169 Bodnar[2012]. Zum Bewegungsbegriff: http://plato.stanford.edu/entries/aristotle-natphil/#2.

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reich von Phänomenen seiner Deutungshoheit zu unterwerfen. Und in der Tat lässt die Geschichte der modernen Wissenschaft nach Bergsons Auffassung eine derartige Ausdehnung erkennen. Auf der einen Seite erobert das am Funktionsbegriff 170 orientierte neue Paradigma die Geometrie. Das beginnt mit der Algebraisierung der Geometrie durch Descartes und setzt sich fort mit der Entwicklung der Infinitesimalrechnung durch Leibniz und Newton. Das Ergebnis dieser Umwandlung ist die Ersetzung der antiken, anschaulichen Geometrie, die von der Existenz distinkter geometrischer Formen (Dreieck, Quadrat, Kreis) ausging, durch eine analytische Geometrie, für die Formen nur Bahnen beweglicher Punkte darstellen und selbst beweglich, d. h. in einander transformierbar sind. Auf der anderen Seite steigt die neuartige Auffassung der Bewegung – wie Bergson formuliert – vom Himmel auf die Erde herab, d. h. sie nähert sich, bei den Planetenbahnen beginnend, immer mehr der irdischen, lebensweltlichen Erfahrung des Menschen. Sie ergreift die Physik, die Chemie und die Biologie, schließlich die Wissenschaften vom Menschen. Aber im Grunde ist es nicht angemessen, dieses Geschehen so zu beschreiben, als hätte die moderne Wissenschaft den bereits von Aristoteles gerodeten Boden nur noch einmal umgepflügt. Die Entstehung der modernen Wissenschaft verdankt sich einer der gewaltigsten »Tiefenlotungen«, die je stattgefunden haben, und der aus ihr hervorgegangene Impuls hat denn auch nicht nur »eine Umwälzung in den Wissenschaften« – d. h. in den bereits bestehenden Wissenschaften – hervorgebracht, sondern auch »neue ins Leben gerufen«. Im Kontext einer Lektüre, die Bergsons Philosophie als eine hermeneutische verstehen und sie zwar nicht einem aus Dilthey und Gadamer entwickelten Raster unterwerfen, wohl aber deren leitende Intentionen an diejenigen Diltheys und Gadamers anschließen möchte, ist es von erheblicher Bedeutung, dass der so oft als Naturphilosoph eingeordnete Bergson in Biologie, Psychologie und Sozialwissenschaften den Gipfel dessen sieht, was die moderne Wissenschaft bisher erreicht hat, und somit das, was sie am deutlichsten von der antiken Wissenschaft unterscheidet: »Sicher, wir haben etwas Neues zu schaffen, und der Augenblick ist vielleicht gekommen, sich darüber vollständig Rechenschaft abzulegen; aber 170 Ich verwende diesen Ausdruck hier bewusst, um auf die Nähe von Bergsons Überlegungen zu den etwa gleichzeitigen Untersuchungen Ernst Cassirers über Substanzbegriff und Funktionsbegriff (Cassirer[1910]) aufmerksam zu machen.

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um neu zu sein, muss es nicht notwendig revolutionär sein. Studieren wir vielmehr die Alten, lassen wir uns von ihrem Geiste durchdringen und versuchen wir, nach Maßgabe unserer Kräfte das zu schaffen, was sie selbst geschaffen hätten, wenn sie noch unter uns lebten. Eingeweiht in unsere Wissenschaft – ich sage nicht allein in unsere Mathematik und unsere Logik, die die Art ihres Denkens vielleicht nicht grundlegend ändern würden, sondern vor allem in unsere Biologie und Psychologie –, würden sie zu Ergebnissen gelangen, die sehr verschieden wären von denjenigen, zu denen sie einst gelangt waren.« 171 »Dass nun das Denken des 19. Jahrhunderts eine solche, der Willkür entzogene, zum Hinabsteigen ins Detail der einzelnen Tatsachen fähige Philosophie gefordert habe, duldet keinen Zweifel. Unleugbar auch hat es empfunden, dass diese Philosophie sich in dem niederlassen müsse, was wir die konkrete Dauer nennen. Das Aufkommen der Sozialwissenschaften, der Fortschritt der Psychologie, die wachsende Bedeutung der Embryologie in den biologischen Wissenschaften – all dies musste die Idee einer Realität heraufbeschwören, die innerlich dauert, die die Dauer selbst ist.« 172

In dem Maße, in dem die moderne Wissenschaft sich dem Leben und dem Bewusstsein nähert, verändert sich nun aber – und das ist es, worauf Bergson in dem zuletzt angeführten Zitat hinweist – das, was wir mit dem Wort »Zeit« verbinden. Solange man sich im Bereich der Mathematik oder der Astronomie bewegt, kann man unter »Zeit« eine Abfolge von Zeit-Punkten verstehen, die eine im Voraus durch die Funktion festgelegte Kurve oder gar eine zyklisch sich wiederholende Bahn beschreiben. Überraschungen sind dabei nicht zu befürchten. Schon die Evolution des Lebendigen aber, und noch viel 171 Certes, nous avons quelque chose de nouveau à faire, et le moment est peut-être venu de s’en rendre pleinement compte ; mais, pour être du nouveau, ce ne sera pas nécessairement du révolutionnaire. Étudions plutôt les anciens, imprégnons-nous de leur esprit, et tâchons de faire, dans la mesure de nos forces, ce qu’ils feraient euxmêmes s’ils vivaient parmi nous. Initiés à notre science (je ne dis pas seulement à notre mathématique et à notre physique, qui ne changeraient peut-être pas radicalement leur manière de penser, mais surtout à notre biologie et à notre psychologie), ils arriveraient à des résultats très différents de ceux qu’ils ont obtenus. – PM 1366 | 144 | 149 f. 172 Que la pensée du XIXe siècle ait réclamé une philosophie de ce genre, soustraite à l’arbitraire, capable de descendre au détail des faits particuliers, cela n’est pas douteux. Incontestablement aussi, elle a senti que cette philosophie devait s’installer dans ce que nous appelons la durée concrète. L’avènement des sciences morales, le progrès de la psychologie, l’importance croissante de l’embryologie parmi les sciences biologiques, tout cela devait suggérer l’idée d’une réalité qui dure intérieurement, qui est la durée même. – EC 802 | 362 | 365

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mehr die menschliche Geschichte oder die menschliche Psyche steckt voller Überraschungen. »Zeit« bezeichnet hier etwas, in dessen Verlauf Neues, Unvorhersehbares entsteht. Damit ist – wenn man so sagen darf – die »Sollbruchstelle« der modernen Wissenschaft markiert. Die moderne Wissenschaft müsste die Verwandlung der Zeit, die als bloße Länge (temps-longueur) erscheint, in eine Zeit, die die Entstehung von Neuem ermöglicht (temps-invention), als Chance begreifen und diesem neuen Phänomen nachgehen, weil dadurch offenkundig das Neue am neuen Paradigma deutlicher herausgearbeitet würde. Aber dazu kann sie sich nicht entschließen, denn wenn temps-invention besagt, dass im Verlauf der Zeit Neues, Überraschendes, Unvorhersehbares entstehen kann, dass also nicht alles von Anfang an gegeben ist, dann begreift sie nicht, wie sie noch mit ihrem Funktionsbegriff operieren kann, der zu besagen scheint, dass der ganze Verlauf einer Kurve oder einer Bahn »eingefangen« ist, sobald es gelingt, ihn in eine mathematische Formel zu fassen, dass also, wenn man erst einmal im Besitz dieser Formel ist, man, von einem beliebigen Stand-Punkt aus betrachtet, leicht jeden vorhergehenden oder nachfolgenden Punkt berechnen kann. Mag also der ursprüngliche Impuls des neuen Paradigmas auch als Erschließung immer neuer Bereiche der Wirklichkeit weiter wirksam sein – im Hinblick auf die Ontologie, die Erkenntnistheorie und die daraus sich ergebenden Methoden ist festzustellen, dass die Wissenschaft der Neuzeit und der Moderne nach jeder neuen Eroberung alsbald den Elan verliert und sich mit den in der Antike formulierten Lösungen zufriedengibt. Wir befinden uns also immer noch im dritten Kapitel unserer Untersuchung: Wir haben es immer noch mit vorzeitig erschlaffenden, ihr Ziel nicht erreichenden Impulsen zu tun. Das Versagen der neuzeitlichen Wissenschaft im Hinblick auf Ontologie und Erkenntnistheorie ist nach Bergsons Auffassung bei den Philosophen, die die halbherzige Umgestaltung der Wissenschaft begleiten, deutlich zu erkennen. Descartes, Spinoza und Leibniz operieren gleichermaßen mit den Konzepten einer Einheitswissenschaft, die die gesamte Wirklichkeit mit der gleichen Methode erfasst und nach den gleichen Prinzipien strukturiert, und eines allwissenden Gottes, der das von dieser Wissenschaft zu erarbeitende Wissen immer schon vollständig besitzt, so dass er – gleichsam als Übermathematiker – zu jedem beliebigen Zeitpunkt vergangene und zukünftige Zustände der Wirklichkeit zu errechnen vermag. Der einzelne menschliche Wissenschaftler ist diesem allwissenden Gott gewiss 398 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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unterlegen – vor allem im Hinblick auf den Umfang seines Wissens –, gleichwohl stellt der als allmächtiger Mathematiker gedachte Gott das Ideal dar, dem sich die einzelnen Wissenschaftler, aber auch die Wissenschaft als ganze anzunähern trachten. Insofern ist es auch nicht verwunderlich, dass die moderne Wissenschaft zwar im Verlauf ihrer Geschichte die theologisch-metaphysische Grundlegung immer mehr für entbehrlich hält und sich schließlich davon löst, dass sie sich dadurch aber nicht vom Widerstreit zwischen neuartigem Leitbild und traditionsverhafteter Realisierung zu befreien vermag. Dadurch, dass sie die metaphysischen Fragen als unwesentlich betrachtet, erreicht sie lediglich, dass aus der Metaphysik, die bei Descartes, Spinoza und Leibniz immerhin noch bewusst war, nunmehr eine unbewusste Metaphysik wird. Deren nun nicht mehr diskutierte Grundannahmen wirken freilich unvermindert fort: »Dass übrigens die Schlussfolgerungen dieser aus der Wissenschaft hervorgegangenen Metaphysik sich wie durch einen Rückprall wieder bis ins Innere der Wissenschaft hinein ausgewirkt haben, – dies ließe sich mühelos zeigen. All unser vorgeblicher Empirismus ist noch von ihnen durchdrungen. Die Physik und die Chemie erforschen lediglich die unbelebte Materie, und wenn die Biologie das Lebewesen physikalisch oder chemisch behandelt, betrachtet sie lediglich seine unbelebte Seite. Die mechanistischen Erklärungen umfassen also – trotz ihrer Entwicklung – nur einen kleinen Teil des Wirklichen. A priori anzunehmen, dass die Gesamtheit des Wirklichen sich in derartige Elemente zerlegen lässt, oder zumindest, dass der Mechanismus eine vollständige Übersetzung dessen, was in der Welt geschieht, zu geben vermöchte, heißt sich für eine gewisse Metaphysik zu entscheiden, nämlich genau jene, deren Prinzipien Spinoza und Leibniz festgesetzt, deren Konsequenzen sie gezogen haben.« 173

Wir haben die Merkmale dieser unbewussten Metaphysik der Intelligenz zu Beginn dieses Kapitels erörtert. Die Intelligenz – nunmehr 173 Que d’ailleurs les conclusions de cette métaphysique, issue de la science, aient rebondi jusque dans l’intérieur de la science par une espèce de ricochet, c’est ce qu’on montrerait sans peine. Tout notre prétendu empirisme en est encore pénétré. La physique et la chimie n’étudient que la matière inerte ; la biologie, quand elle traite physiquement et chimiquement l’être vivant, n’en considère que le côté inertie. Les explications mécanistiques n’englobent donc, en dépit de leur développement, qu’une petite partie du réel. Supposer a priori que la totalité du réel est résoluble en éléments de ce genre, ou du moins que le mécanisme pourrait donner une traduction intégrale de ce qui se passe dans le monde, c’est opter pour une certaine métaphysique, celle même dont un Spinoza et un Leibniz ont posé les principes, tiré les conséquences. – EC 794 | 353 f. | 356

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in ihrer Ausprägung als Wissenschaft – glaubt immer schon zu wissen, wie die Wirklichkeit beschaffen ist und wie deshalb ihre Erkenntnis beschaffen sein muss. Dass die Wirklichkeit und die Erkenntnis radikal in Bewegung sein könnten, dass die Stabilität selbst ihrer allgemeinsten Strukturen nicht gesichert ist, dass man mithin das Geschehen in der Wirklichkeit nicht auf eine permanente Rekombination kleinster Teile reduzieren darf, die sich, wenn man nur genug wüsste, vorausberechnen ließe – vor dieser Konsequenz schreckt selbst die moderne Bewegungswissenschaft zurück, weil sie ihr zu riskant erscheint. Die Geschichte der modernen Wissenschaft ist deshalb aus Bergsons Sicht, mag sie auch eine Geschichte der Neuentdeckungen und Neuschöpfungen sein, zugleich eine Geschichte der verpassten Gelegenheiten. Das ist das Thema, mit dem Bergson im vierten Kapitel von L’évolution créatrice seine Geschichte der modernen Wissenschaft und Philosophie einleitet: »Dass die moderne Philosophie zu wiederholten Malen, insbesondere aber in ihren Anfängen, Ansätze gezeigt hat, mit [den Ansichten der antiken Philosophie über Veränderung und Dauer] zu brechen, scheint uns unbestreitbar. Eine unwiderstehliche Anziehungskraft jedoch lenkt die Intelligenz zurück zu ihrer naturgegebenen Bahn und die Metaphysik der Modernen zu den allgemeinen Schlussfolgerungen der griechischen Metaphysik.« 174

Dieses Thema bearbeitet Bergson dann in zahlreichen, durch die Jahrhunderte führenden Variationen, um schließlich bei dem Denker zu enden, von dem er mehrfach berichtet hat, dass er den Anstoß zu seinen eigenen Überlegungen und Entdeckungen gegeben habe: Herbert Spencer schien der Wissenschaftler-Philosoph zu sein, auf den das 19. Jahrhundert gewartet hatte, der Philosoph der Evolution. So dachten Viele, und so dachte auch Bergson. Aber dann meldete sich seine innere Stimme: »So fern von Kant auch Spencer erscheinen möge, ja so unbekannt ihm der Kantianismus gewesen zu sein scheint, so hat er doch bei der ersten Berührung mit den biologischen Wissenschaften nicht weniger gespürt, in welche Richtung die Philosophie unter Berücksichtigung der kantischen Kritik voranschreiten könnte. Kaum aber, dass er den Weg eingeschlagen hatte, machte er kehrt. Verheißen hatte er, eine Genesis nachzuzeichnen – aber 174 Que la philosophie moderne ait eu, à maintes reprises, mais surtout à ses débuts la velléité d’en changer, cela ne nous paraît pas contestable. Mais un irrésistible attrait ramène l’intelligence à son mouvement naturel, et la métaphysique des modernes aux conclusions générales de la métaphysique grecque. – EC 773 | 328 | 331

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siehe, er tat etwas ganz anderes. Den Namen des Evolutionismus trug seine Lehre; sie gab vor, den Weg des allgemeinen Werdens zunächst zurück und dann noch einmal neu zu gehen. In Wahrheit aber stand in ihr weder Werden noch Entwicklung zur Debatte.« 175

Bei genauerer Betrachtung stellte sich heraus, dass auch Spencer die heutige Wirklichkeit nur in kleinste Partikel zerlegt hatte, um sie aus diesen wieder aufzubauen. Das aber konnte Bergson weder als konkrete Beschreibung noch als allgemeine Theorie der Entwicklung akzeptieren. Die Philosophie der Entwicklung war auch nach Spencer noch ein Desiderat. 3.3.2.4 Mathematische Wissenschaft und Hermeneutik Wir sind, so hatte ich im vorigen Abschnitt formuliert, immer noch im dritten Kapitel dieser Untersuchung. Wir sind immer noch bei den vorzeitig gescheiterten, nicht zur Reife gelangten Ansätzen. Aber, so könnte man mir entgegenhalten, sollten denn nicht gescheiterte hermeneutische Ansätze das Thema der zweiten Hälfte dieses Kapitels sein? Und was hat die Geschichte der modernen Naturwissenschaft als Geschichte der verpassten Gelegenheiten mit Hermeneutik zu tun? War denn im vorigen Abschnitt von Hermeneutik auch nur am Rande die Rede? Nun, es war nicht – oder fast nicht – die Rede davon, und zwar deshalb, weil zunächst einmal Bergsons Argumentation nachvollzogen werden sollte. Ich möchte aber zum Abschluss dieses Kapitels auf drei Aspekte des Vorgetragenen hinweisen, die mir hermeneutisch relevant zu sein scheinen. 3.3.2.4.1 Das Leitbild der Wissenschaft Bergson entwirft das Bild einer in sich gespaltenen Wissenschaft. Einerseits tendiert sie, getreu dem neuen Paradigma, dazu, ihre Gegenstände als dynamische aufzufassen, andererseits kann sie sich weder

Si éloigné que Spencer paraisse être de Kant, si ignorant qu’il ait d’ailleurs été du Kantisme, il n’en a pas moins senti, au premier contact qu’il prit avec les sciences biologiques, dans quelle direction la philosophie pourrait continuer à marcher en tenant compte de la critique kantienne. Mais il ne s’était pas plutôt engagé sur la voie qu’il tournait court. Il avait promis de retracer une genèse, et voici qu’il faisait tout autre chose. Sa doctrine portait bien le nom d’évolutionnisme; elle prétendait remonter et redescendre le cours de l’universel devenir. En réalité, il n’y était question ni de devenir ni d’évolution. – EC 802 | 363 | 365 f. 175

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von der statischen antiken Ontologie noch von der damit verbundenen Erkenntnislehre lösen. Verschieben wir nun den Akzent dieser Bemerkung von der Wissenschaft auf das Bild. Wir können dann auch sagen, dass Bergson uns ein in sich gespaltenes, ein aus widerstreitenden Elementen zusammengefügtes Bild präsentiert. Diesen Satz braucht man aber nur zu formulieren, um sich daran zu erinnern, dass wir nicht zum ersten Mal mit einem derartigen Bild konfrontiert werden. Bergson hatte bei Lukrez ein derartiges Bild entdeckt (Determinismus vs. persönliches Streben) 176, Frédéric Worms hat bei Bergson ein derartiges Bild entdeckt (Raum vs. Dauer) 177, und stets handelte es sich nicht nur um ein beliebiges, veranschaulichendes Bild, sondern um ein Bild im eminenten Sinne: eine idée directrice oder ein image médiatrice. Ein solches Leitbild dient, wie wir aus L’intuition philosophique wissen, entweder einem Sprecher (allgemein: einem Produzenten) als erster Schritt auf dem Weg von der ungegenständlichen Intuition zum symbolischen Ausdruck oder einem Hörer (allgemein: einem Rezipienten) als höchste erkennbare Stufe des Sinns. Hier haben wir es mit dem zweiten Fall zu tun. Im vierten Kapitel von L’évolution créatrice führt Bergson eine doppelte Bewegung vor: Einerseits zeigt er, wie sich bei fortgesetzter Betrachtung der wichtigsten Wissenschaftler und Philosophen mit zunehmender Deutlichkeit das Bild der gegenstrebigen Tendenzen innerhalb der modernen Wissenschaft abzeichnet. Andererseits demonstriert er, dass sich das vielfältige, ja disparate Material, wenn man es gleichsam durch die Brille dieses Bildes betrachtet, zu einer einheitlichen, wenn auch nicht kontinuierlich fortschreitenden, so doch durch einen Rhythmus von Anlauf, Scheitern und Neuanlauf strukturierten Geschichte zusammenschließt. Kurz: Das zwiespältige Bild, in dem die »nach oben« strebende, moderne Dynamik und die »nach unten« ziehende, antike Statik zusammengespannt sind, ermöglicht es Bergson, den Verlauf der Geschichte der modernen Wissenschaft zu verstehen. Aber wir können noch einen Schritt weiter gehen: Wir hatten im Abschnitt 3.3.2.1 die Wissenschaft – oder zumindest deren auf die Ausarbeitung der Grundprinzipien und Grundbegriffe gerichteten Teil – als hermeneutische Anstrengung bezeichnet, insofern sie als Auslegung der vom homo faber immer schon implizit in Anspruch 176 177

Vgl. Abschnitt 1.2.1, S. 54. Vgl. Abschnitt 3.1, S. 299.

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genommenen allgemeinsten Strukturen räumlicher Wirklichkeit gelten kann. Zugleich aber hatten wir im Hinblick auf diese Charakterisierung der Wissenschaft ein gewisses Unbehagen zu Protokoll gegeben, dieses mit der unvollständigen Entfaltung eines hermeneutischen Impulses in Zusammenhang gebracht, aber doch letztlich weder den Ursprung des Unbehagens klären noch angeben können, in welcher Richtung sich denn der in der Wissenschaft nur unvollständig entfaltete Impuls weiter zu entfalten hätte. Genau dies ist nun möglich oder jedenfalls – denn vielleicht ist auch das, was wir jetzt sagen, noch nicht unser letztes Wort – besser möglich. Wenn die Wissenschaft eine hermeneutische Anstrengung ist, dann eine solche, die sich um die Auslegung dessen bemüht, was in der unausdrücklichen Anschauung des Raumes (intuition de l’espace) implizit enthalten ist. Diese Auslegung verlässt aber den Bereich des Raumes und der durch ihn ermöglichten Gegenständlichkeit nicht. Das Bild, auf das sie sich richtet, ist das in sich nicht widersprüchliche Bild des Raumes. Angemessener, reichhaltiger und fruchtbarer wäre allerdings eine hermeneutische Anstrengung, in deren Mittelpunkt das in sich widersprüchliche Bild stünde, das den inneren Zwiespalt der modernen Bewegungswissenschaft darstellt. Eine Auslegung dieses Bildes wäre mehr als eine Erkenntnis- oder Wissenschaftstheorie im Sinne einer Systematisierung der Konventionen. Sie wäre auch mehr als nur eine rückblickende Geschichte der modernen Wissenschaft. Sie würde die Grenzen des in der Praxis des homo faber und im Wissenschaftsbetrieb immer schon Vollzogenen überschreiten, diese Praxis und diesen Betrieb aus einer umfassenderen Perspektive betrachten können, und sie würde dies tun können, ohne neben die vorfindlichen Vollzüge der veräußerlichten und der reflexiven Intelligenz willkürlich etwas ganz Anderes zu stellen, weil die Nichtübereinstimmung der Intelligenz mit sich selbst in der modernen Wissenschaft gegeben und aus ihr ablesbar ist. Neben dem Aufweis der bis in die Gegenwart bestehenden Nichtübereinstimmung und der Rekonstruktion der Wissenschaftsgeschichte, d. h. der Vergangenheit der modernen Wissenschaft, hätte eine Auslegung des zwiespältigen Bildes sich auch mit einer in die Zukunft gerichteten Frage zu beschäftigen. Das wäre nicht die Frage, wie sich die Wissenschaft in Zukunft entwickeln wird, sondern die Frage, in welche Richtung sie sich entwickeln müsste, wenn sie sich selbst – und das heißt: ihrem initialen Impuls – treu bleiben will. 403 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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Bergson macht das sehr deutlich, wenn er das vierte Kapitel von L’évolution créatrice mit einer Diskussion Spencers abschließt und dabei zeigt, dass die Enttäuschung der Erwartung auf eine Lücke in seinem Werk aufmerksam macht, die ihrerseits auf ein Desiderat, d. h. auf etwas noch Ausstehendes verweist. In der Erwartung ebenso wie in der Enttäuschung meldet sich ein – wenn auch vages – Wissen über die einzuschlagende Richtung. Es meldet sich ein Wissen vom Sinn des neuen Paradigmas, von einem Sinn, der im bisher von der modernen Wissenschaft Geleisteten nicht eingeholt wurde. Die Nichtübereinstimmung der Wissenschaft mit sich selbst ist also zu verstehen als die Nichtübereinstimmung zwischen dem Sinn (des Paradigmas) und der (vorliegenden) Gestalt. Wenn wir so vom Sinn der modernen Wissenschaft sprechen, dann bedeutet »Sinn« offenkundig etwas anderes als in all den Fällen, die wir in Kapitel 2 178 untersucht haben. Gefragt wird ja hier nicht nach dem Sinn des Wortes »Wissenschaft«. Gefragt wird nach einer Richtung. Das heißt einerseits, dass wir im weiteren Verlauf dieser Untersuchung die Erörterung des Sinnbegriffs noch einmal aufnehmen müssen, um zu klären, ob, in welchem Umfang und in welcher Weise die in Kapitel 2 zunächst beiseite gelassenen Verwendungsweisen des Wortes sens – und hier insbesondere die, die auf eine Richtung hinweisen will – hermeneutisch relevant sind. Andererseits aber haben wir Anlass, bei dieser Klärung an Kapitel 1 anzuknüpfen, wo sich bereits gezeigt hatte, dass der Sinn eines Textes etwas mit seiner Verlaufsform zu tun hat. 3.3.2.4.2 Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften Die neuzeitlich-moderne Naturwissenschaft versteht sich als Universalwissenschaft, d. h. sie behauptet, mit ihren Begriffen und Methoden die gesamte Wirklichkeit erfassen zu können. Wenn Bergson nun zeigt, dass dies in Wahrheit eine Illusion ist und dass die Naturwissenschaft diese Illusion nur aufrechterhalten kann, indem sie den »störenden« Erfahrungen, auf die ihr eigenes Paradigma sie führen würde, ausweicht – was bedeutet das im Hinblick auf eine mögliche Weiterentwicklung der Wissenschaft? Drei Szenarien sind denkbar. (1) Bergson könnte die Auffassung vertreten, dass es von dem, was sich permanent verändert, kein Wissen geben kann, dass die Wissenschaft also bleiben muss, wie sie ist, 178

Vgl. Abschnitt 2.2.2.1, S. 189.

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und sich darauf beschränken muss, das zu erkunden, was dem homo faber zuhanden ist. Dies ist nicht Bergsons Ansicht. (2) Bergson könnte eine Reform der Wissenschaft vorschlagen, durch die alle Reste der antiken Metaphysik und Erkenntnistheorie aus ihr entfernt würden, so dass die Naturwissenschaft endlich ihren eigenen Sinn verstehen und die gesamte Wirklichkeit als eine dynamische akzeptieren würde. Das scheint auf den ersten Blick die überzeugendste Lösung zu sein, gleichwohl ist auch dies nicht der Weg, den Bergson einschlägt. Das liegt einerseits daran, dass eine Wissenschaft, die sich wirklich auf die Dynamik und die Unvorhersehbarkeit des Wirklichen einlassen würde, ohne Nutzen für den homo faber wäre, der nur mit stabilen Dingen umgehen kann. Andererseits aber war Bergson ja auch zu der Einsicht gelangt, dass das Weltverhältnis des homo faber, dessen Auslegung die moderne Naturwissenschaft betreibt, sich zumindest mit einem Teilaspekt der Wirklichkeit in Übereinstimmung befinden muss, weil das menschliche Hantieren mit den Dingen sonst nicht erfolgreich sein könnte. Die rein statische Sicht auf die Wirklichkeit zu opfern zugunsten einer rein dynamischen würde also bedeuten, eine Einseitigkeit durch eine andere zu ersetzen. (3) Bergson könnte behaupten, dass es zwei Formen des Wissens gibt, und vorschlagen, diese unabhängig voneinander zu entwickeln. In der Tat ist das Bergsons Strategie. Immer wieder kritisiert er das Beharren auf einer Einheitswissenschaft als Fehler und die fehlende Bereitschaft, eine zweite Form des Wissens zu akzeptieren und zu realisieren, als Versäumnis. »Es scheint, als hätte sich parallel zu dieser Physik eine zweite Art von Erkenntnis ausbilden müssen, die das aufgegriffen hätte, was die Physik sich entgehen ließ. Zum Fließen der Dauer wollte und konnte die Wissenschaft keinen Zugang finden, da sie nun einmal der kinematographischen Methode 179 verhaftet war. Man hätte sich also von dieser Methode gelöst. 179 Die kinematographische Methode erläutert Bergson im Mittelteil des vierten Kapitels von L’évolution créatrice. Es ist das die Methode, auf der der damals gerade populär werdende Film basiert. Bergson verweist dort nicht nur auf das Offensichtliche – dass nämlich das kontinuierliche Geschehen in viele statische Bilder zerlegt wird –, sondern auch auf den Umstand, dass bei der Vorführung eines Films die Illusion des Verlaufs nur erzeugt werden kann, indem die in der Realität zahlreichen Quellen von Eigenbewegung (die auftretenden Personen, gleichsam aufgefasst als Monaden) durch eine einzige Bewegungsquelle (den Projektionsapparat) ersetzt werden. – EC 752 ff. | 304 ff. | 308 ff. – Auffallend ist in diesem Zusammenhang einerseits, wie früh Bergson den Film als eine philosophisch relevante Erscheinung betrachtet, andererseits, dass er von allen Künsten ausgerechnet diejenige, die »bewegte Bilder«

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Man hätte vom Geist verlangt, dass er auf die ihm teuersten Gewohnheiten verzichte. Mitten hinein ins Werden hätte man sich durch eine Anstrengung der Sympathie versetzt.« 180 »Es trifft zu, dass wir uns darauf beschränken, Momentbilder der fließenden Wirklichkeit aufzunehmen. Aber gerade deswegen müsste die naturwissenschaftliche Erkenntnis eine andere hervorrufen, die sie ergänzte.« 181 »Damit bahnte [Kant] den Weg zu einer neuen Philosophie, die sich im außerintellektuellen Stoff der Erkenntnis durch eine höchste Anstrengung der Intuition niedergelassen hätte. Denn wenn das Bewusstsein nun mit dieser Materie zusammenfiele, wenn es den gleichen Rhythmus und die gleiche Bewegtheit annähme, könnte es dann nicht, durch zwei Anstrengungen in entgegengesetzter Richtung, bald sich aufschwingend und bald sich sinken lassend, die beiden Formen der Wirklichkeit, Körper und Geist, von innen her erfassen, statt sie nur von außen zu betrachten? […] Und da man im Verlauf dieses Projektes die Intelligenz von selbst auftauchen und vom Ganzen des Geistes sich abheben sähe, so würde die intellektuelle Erkenntnis als das erscheinen, was sie ist: als begrenzt, aber nicht mehr als relativ. Das war die Richtung, die der Kantianismus einem wiederbelebten Cartesianismus weisen konnte. Kant selbst hat sie nicht eingeschlagen.« 182

liefern will, am negativsten bewertet. – Eine intensive Auseinandersetzung mit diesem Aspekt von Bergsons Philosophie verdanken wir – einmal mehr – Gilles Deleuze (Deleuze[1989b], Deleuze[1997]). 180 Il semble donc que, parallèlement à cette physique, eût dû se constituer un second genre de connaissance, lequel aurait retenu ce que la physique laissait échapper. Sur le flux même de la durée la science ne voulait ni ne pouvait avoir prise, attachée qu’elle était à la méthode cinématographique. On se serait dégagé de cette méthode. On eût exigé de l’esprit qu’il renonçât à ses habitudes les plus chères. C’est à l’intérieur du devenir qu’on se serait transporté par un effort de sympathie. – EC 784 | 341 f. | 345 181 Il est vrai que sur la réalité qui coule on se borne à prendre des instantanés. Mais, justement pour cette raison, la connaissance scientifique devrait en appeler une autre, qui la complétât. – EC 786 | 343 | 347 182 Par là il frayait la voie à une philosophie nouvelle, qui se fût installée dans la matière extra-intellectuelle de la connaissance par un effort supérieur d’intuition. Coïncidant avec cette matière, adoptant le même rythme et le même mouvement, la conscience ne pourrait-elle pas, par deux efforts de direction inverse, se haussant et s’abaissant tour à tour, saisir du dedans et non plus apercevoir du dehors les deux formes de la réalité, corps et espri ? […] Comme d’ailleurs, au cours de cette opération, on verrait l’intelligence surgir d’elle-même, se découper dans le tout de l’esprit, la connaissance intellectuelle apparaîtrait alors telle qu’elle est, limitée, mais non plus relative. Telle était la direction que le kantisme pouvait montrer à un cartésianisme revivifié. Mais dans cette direction Kant lui-même ne s’engagea pas. – EC 797 f. | 357 | 360

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Dass Bergson das letzte Drittel des vierten Kapitels von L’évolution créatrice als – wenn ich mich so respektlos ausdrücken darf – Etüde über den Gebrauch der schwierigsten und gedanklich komplexesten Verbformen, die die französische Sprache zu bieten hat, schreibt, hat etwas damit zu tun, dass es sich bei diesem Text zugleich um eine Studie über das dynamische Unbewusste handelt: über jenen die moderne Naturwissenschaft prägenden Impuls, dessen Richtung und dessen Konsequenzen nicht erst heute – d. h. in der Rückschau – erkennbar sind, sondern schon in früheren Jahrhunderten erkennbar gewesen wären. Bemerkt indessen wurde nur eine Lücke, weil man die neuen Möglichkeiten nicht sehen konnte oder nicht sehen wollte. Von dieser Studie über latente Chancen, Verdrängung und verpasste Gelegenheiten führt ein deutlich erkennbarer Weg zu Les deux sources de la morale et de la religion: »Das ist unserer Psychologie nicht eingefallen, als sie vor gewissen Unterteilungen zurückgeschreckt ist. Zum Beispiel nimmt sie allgemeine Fähigkeiten des Wahrnehmens, des Interpretierens, des Verstehens an, ohne sich zu fragen, ob nicht verschiedene Mechanismen im Spiele sind, je nachdem ob diese Fähigkeiten auf Personen oder auf Sachen angewendet werden, je nachdem die Intelligenz in das soziale Milieu eingetaucht ist oder nicht.« 183

Eine von vielen Etappen dieses Weges von L’évolution créatrice zu Les deux sources de la morale et de la religion ist eine gut dokumentierte 184 Meinungsverschiedenheit zwischen Bergson und der Zeitung Le Temps, die uns helfen kann, die Frage zu beantworten, was Bergson denn eigentlich vorschwebt, wenn er über die zweite, andersartige Form der Erkenntnis spricht. Im Januar 1915 übergab Bergson den Vorsitz der Académie des sciences morales et politiques an Alexandre Ribot und hielt aus diesem Anlass eine kurze Rede. Seit einigen Monaten herrschte Krieg, ein Krieg, in dem Wissenschaft, Technik und Industrie eine Rolle spielten wie nie zuvor, und so fragte Bergson einerseits nach dem Wert von Naturwissenschaft und Technik, andererseits nach der Kraft der Moral. In diesem Zusammenhang sagte er:

183 C’est de quoi notre psychologie ne s’est pas avisée quand elle a reculé devant certaines subdivisions. Par exemple, elle pose des facultés générales de percevoir, d’interpréter, de comprendre, sans se demander si ce ne seraient pas des mécanismes différents qui entreraient en jeu selon que ces facultés s’appliquent à des personnes ou à des choses, selon que l’intelligence est immergée ou non dans le milieu social. – DS 1064 | 109 | 83 184 Mél. 1131–1145

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»Wie das neunzehnte Jahrhundert seine ganze Kraft den Naturwissenschaften gewidmet hat, so wird das zwanzigste Jahrhundert dasjenige der Geisteswissenschaften sein.« 185

Sind wir befugt, sciences morales als »Geisteswissenschaften« zu übersetzen und dadurch eine Nähe Bergsons zu Dilthey zu suggerieren? Jeder, der so fragt, wird es als einen glücklichen Umstand betrachten, dass drei Tage später in Le Temps ein Bericht erschien, dessen Autor den eben zitierten Satz in den Mittelpunkt stellte, ihn allerdings so interpretierte, als hätte Bergson dazu aufgerufen, Forschungsressourcen von den Naturwissenschaften abzuziehen und sie den Geisteswissenschaften zukommen zu lassen, und deshalb glaubte, Bergsons Rede kritisch kommentieren zu müssen. Bergson nämlich fühlte sich so missverstanden, dass er einen Brief an den Herausgeber der Zeitung schrieb, in dem er nicht nur seinen Unmut äußerte (»Wenn man sagt, dass das 17. Jahrhundert das Jahrhundert Ludwigs XIV. ist, meint man damit, dass Ludwig XIV. der einzige Mensch war, der im 17. Jahrhundert gelebt hat?« 186), sondern auch seine These noch einmal erläuterte. Weil es – im Sinne des primum vivere – dringlicher war, sich mit den materiellen Dingen zu beschäftigen, und weil – eben deshalb – die menschliche Intelligenz von Natur aus auf dieses Ziel gerichtet ist, sind die Geisteswissenschaften gleichsam unterentwickelt: »Die psychologischen, pädagogischen, moralischen und sozialen Wissenschaften sind weit davon entfernt, so bedeutende, vor allem aber auch so gesicherte Ergebnisse vorweisen zu können wie die Naturwissenschaften. Sie warten noch auf ihren Galilei, ihren Descartes, ihren Newton.« 187

Bergson führt hier genauer aus, an welche Wissenschaften er denkt: Psychologie, Pädagogik, Ethik, Soziologie. Sieht man einmal davon ab, dass die Diskussion im 19. Jahrhundert ohnehin zu dem Minimalkonsens neigte, sciences morales schlicht als Oberbegriff für alle 185 Comme le dix-neuvième siècle avait donné leur plein essor aux sciences physiques, le vingtième siècle sera celui des sciences morales. – Mél. 1132 186 Quand on dit que le dix-septième siècle est le siècle de Louis XIV, entend-on, parlà, que Louis XIV soit le seul homme qui ait vécu aux dix-septième siècle? – Mél. 1137 187 Précisément parce qu’il était urgent de s’occuper de la matière et parce que l’intelligence humaine est naturellement orientée dans cette direction, les sciences psychologiques, pédagogiques, morales et sociales sont loin d’avoir obtenue des résultats aussi importants, aussi définitifs surtout que ceux des sciences physiques. Elles attendent encore leur Galilée, leur Descartes, leur Newton. – Mél. 1138

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Nicht-Naturwissenschaften zu verstehen, so kann man sagen, dass Bergson hier im Großen und Ganzen diejenigen Wissenschaften aufführt, die in Frankreich üblicherweise mit dieser Bezeichnung verbunden wurden 188, dass das aber zugleich auch diejenigen Wissenschaften waren, an die Dilthey dachte, als er seine »Einleitung in die Geisteswissenschaften« schrieb. Dilthey kannte und erwog andere Bezeichnungen (darunter auch »moralische Wissenschaften«) 189, Bergson seinerseits schreibt, die zukünftige Aufmerksamkeit werde sich auf die »psychologischen, moralischen, sozialen Angelegenheiten, allgemeiner: auf den Geist« richten 190. Kurz: Alles deutet darauf hin, dass Bergson bei seiner These von der Aufteilung des Wissens in zwei verschiedene Gegenstandsbereiche, für deren Erforschung unterschiedliche Methoden anzuwenden sind, auf genau das hinauswollte, was Dilthey mit seinen Gegenüberstellungen von Naturund Geisteswissenschaften einerseits, Erklären und Verstehen andererseits anstrebte. Nun erheben sich angesichts einer derartigen These zahlreiche Fragen, Bedenken und Zweifel. Es sind sogar so viele und so schwerwiegende, dass ich nur versuchen kann, sie in den folgenden Kapiteln Schritt für Schritt auszuräumen. Auf zwei von ihnen aber möchte ich schon an dieser Stelle kurz eingehen. Das ist einerseits die Frage, ob wir hier nicht eine Gelegenheitsrede überinterpretieren. Immerhin sprach Bergson vor der Académie des sciences morales et politiques, so dass seine These vielleicht nicht viel mehr als eine Verbeugung vor den Interessen der Versammelten war, die durch die Erfahrung des Krieges eine größere Bedeutung gewann, als das in normalen Zeiten der Fall gewesen wäre. Aber ganz abgesehen von der Frage, warum eigentlich Bergson Mitglied dieser Akademie war, wenn er sich doch angeblich nur für die Philosophie der Naturwissenschaften interessierte, stellt Bergson im Brief an den Herausgeber von Le Temps seine Position mit aller wünschenswerten Deutlichkeit dar: Zwar habe die Menschheit die Erforschung und Nutzung der materiellen Wirklichkeit viele Jahrhunderte lang als eine so »drückende Notwendigkeit« empfunden, dass ihr die wissenschaftliche Erforschung der mora-

Vgl. dazu Vincent[2007]. Dilthey[1922] 5 f. 190 Alors, sans doute, se portera sur les choses psychologiques, morales, sociales, et plus généralement sur l’esprit, une attention qui s’était concentrée davantage sur les phénomènes de la matière. – Mél. 1132,1139 – Hervorhebung von mir [C. K.]. 188 189

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lischen Angelegenheiten allenfalls als – wie man heute sagt – nice to have erschien, weil man mit den gängigen Handlungsweisen ganz gut zurechtkam. Das aber hätte sich seit einigen Jahren schon in so bemerkenswerter Weise geändert, dass »ich nicht erst auf die jüngsten Ereignisse warten musste, um zu sagen, dass das zwanzigste Jahrhundert wahrscheinlich das Zeitalter der Geisteswissenschaften sein wird«. 191 Und das trifft zu. Ich habe im zweiten Kapitel Bergsons bereits 1901 ausgesprochene Formel zitiert, die Erforschung des Unbewussten werde im 20. Jahrhundert die Hauptaufgabe der Psychologie sein. 192 Jene Formel – auch sie übrigens eine Verbeugung vor den Interessen seiner Zuhörer und doch Bergsons eigener Überzeugung entsprechend – kann man als Keimzelle der viel komplexeren verstehen, mit der wir es hier zu tun haben. Und ich hatte ganz zu Beginn dieser Untersuchung schon auf »Bergson als Erzieher« hingewiesen 193, auf den Pädagogen zunächst, dann aber auch auf den Philosophen, der die Verdrängung – die Abdrängung des wirklichen Ich in die Tiefe – auf eine »schlecht verstandene Erziehung« 194 zurückführt und sein ganzes Leben lang über die »pädagogischen Angelegenheiten« nachdenkt 195. Schon zu Beginn hatte ich deshalb die Idee eines »anderen Bergson« ins Spiel gebracht, der sich sein ganzes Leben lang mit den Geisteswissenschaften auseinandergesetzt hat. Schwerer wiegt der zweite Zweifel, von dem ich meine, dass er schon hier angesprochen werden sollte. Insbesondere in der Philosophie verwurzelte Bergson-Leser werden möglicherweise einwenden, Bergson habe sich doch nur ganz am Rande mit den Geisteswissenschaften auseinandergesetzt, habe sich auch nie als Geisteswissenschaftler verstanden; vielmehr habe für ihn immer die Philosophie im Zentrum gestanden, und mit der zweiten Art des Wissens, von 191 Or il n’est pas douteux que pendant des siècles l’humanité ait senti la pressante nécessité de connaître et d’utiliser la matière, tandis que dans le domaine des choses morales un approfondissement méthodique et scientifique paraissait tout au plus souhaitable, comme si la coutume pouvait à la rigueur suffire. Que d’ailleurs les choses aient singulièrement changé à cet égard depuis un certain nombre d’années, je suis le premier à le reconnaître, et c’est pourquoi je n’avais pas attendu les derniers événements pour dire que le vingtième siècle serait probablement celui des sciences morales. – Mél. 1138 192 Vgl. Kap. 2, Anm. 16. 193 Vgl. Abschnitt 1.1.1, S. 41. 194 Vgl. Kap. 2, Anm. 259. 195 Vgl. dazu Abschnitt 5.3.3.2, S. 660.

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der er in L’évolution créatrice spricht, meine er in Wahrheit eine neue Philosophie, eine Philosophie zudem, die er – nicht eben im Geiste Diltheys – stets als »Metaphysik« bezeichnet habe. In diesem Einwand steckt meiner Ansicht nach sehr viel Wahres. So trifft es ja – um nur (noch einmal) diesen einen Text herauszugreifen – durchaus zu, dass Bergson im vierten Kapitel von L’évolution créatrice nur selten direkt auf die Entwicklung der Naturwissenschaften blickt, sie vielmehr fast immer im Spiegel der auf sie antwortenden Philosophien betrachtet; es trifft zu, dass er die Entstehung der Sozialwissenschaften und der Evolutionstheorien nur in einem kurzen Nebensatz erwähnt, dann aber ausführlich darüber spricht, wie sehr das 19. Jahrhundert auf einen Philosophen gewartet habe, dessen Philosophie in der Lage wäre, diese Neuerungen produktiv aufzunehmen; und es trifft auch zu, dass die zunehmende Klärung des Desiderats, die sich sprachlich als Weg vom komplexen »es hätte geschehen müssen« (eût dû se constituer) zum einfachen »es ist« (est) darstellt, in den letzten Sätzen dieses Kapitels zu einer Aussage über die Philosophie führt. Nur: Was ist denn das für eine Philosophie, auf die Bergson abzielt? Wird man nicht sagen müssen, dass Philosophie für Bergson eine Theorie des Geistes ist: zunächst eine »Rückwendung des menschlichen Geistes auf sich selbst« 196, eine »direkte Schau des Geistes durch den Geist« 197, dann aber – und daraus entspringend – eine »Erkenntnis« 198 bzw. »Wissenschaft des Geistes« 199, die keine »Physik des Geistes« 200 ist, aber doch »den Geist positiv definiert und nicht durch Negationen in Bezug auf das, was wir von der Materie wissen« 201? Sind sich die Interpreten nicht einig, dass diese Erforschung des Geistes für Bergson als individuelle Reflexion auf das eigene Geistesleben beginnt und dass sie dann »alle individuellen und sozialen Betätigungen des Geistes« 202 betrachtet, um schließlich das menschliche Bewusstsein zurückzubinden an »das lebendige Prinzip, dem es entspringt« 203? Und was sollte denn schließlich jener Philoretour de l’esprit à lui-même – EC 807 | 368 | 371 vision directe de l’esprit par l’esprit – PM 1285 | 42 | 57 198 connaissance de l’esprit – PM 1284 | 41 | 57 199 science de l’esprit – PM 1320 | 85 | 97 200 physique de l’esprit – PM 1283 | 40 | 54 201 qui définira l’esprit positivement au lieu de nier simplement de lui tout ce que nous savons de la matière – PM 1320 | 85 | 97 202 toutes les activités individuelles ou sociales de l’esprit – PM 1311 | 75 | 87 203 le principe vivant d’où elle émane – EC 807 | 368 f. | 371 196 197

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soph, von dem das ganze 19. Jahrhundert erwartete, dass er die in der Wissenschaft aufgetretenen Neuerungen produktiv aufnähme, leisten, wenn nicht genau das, was Dilthey eine »Grundlegung der Geisteswissenschaften« nennt, oder doch jedenfalls – wenn man dies im Hinblick auf die Einbeziehung der Biologie vorzieht – eine Grundlegung der Wissenschaften vom Menschen? Matthias Jung hat darauf hingewiesen, dass der Ausdruck »Grundlegung der Geisteswissenschaften« nicht eindeutig ist. Er kann zum einen – in einem engeren Sinne – als eine regionale Theorie begriffen werden, die sich nur mit der einen »Hälfte des globus intellectualis« (Dilthey) beschäftigt, die andere dagegen ihrem Schicksal überlässt. Man kann darunter freilich auch – in einem weiteren Sinne – eine Theorie verstehen, die »begriffliche Vorgaben bereit[stellt], durch welche die Disjunktion Naturwissenschaften/Geisteswissenschaften überhaupt erst möglich wird«. Jung fügt hinzu: »Zwischen diesen beiden Positionen hat Dilthey immer geschwankt, was im Verlauf seiner Wirkungsgeschichte eine Reihe von Verständnisschwierigkeiten zur Folge gehabt hat.« 204 Ich bin der Ansicht, dass es sich – mutatis mutandis – bei Bergson nicht anders verhält. Könnte es nun nicht sein, dass die Widerstände, die man spürt, wenn man den Versuch unternimmt, Bergson und Dilthey als um eine Grundlegung der Geisteswissenschaften bemühte Philosophen zusammenzudenken, daher rühren, dass man sich bei Dilthey in der Regel auf die enger gefasste Theorie konzentriert, bei Bergson dagegen nur die allgemeinere Theorie bemerkt? Und könnte es nicht sein, dass viele Bedenken verschwinden würden, wenn man einerseits Diltheys Bemerkung ernst nähme, dass »die Tatsachen des geistigen Lebens nicht von der psycho-physischen Lebenseinheit der Menschennatur getrennt« werden können 205, und andererseits so vorurteilsfrei, wie dies eben möglich ist, Bergsons Verhältnis zu den Geisteswissenschaften untersuchte? Ich habe alle diese Bemerkungen in Frageform gekleidet, weil zugestanden werden muss, dass es sich hier noch nicht um gut belegte Ergebnisse, ja noch nicht einmal um vollständig geklärte Behauptungen handelt. Gleichwohl scheint mir, dass sich, wenn man die angeführten Indizien gemeinsam betrachtet, darin ein Muster oder eine Richtung abzeichnet, die es gestatten, dass wir uns nun von der Fra204 205

Jung(M)[1996] 52 Dilthey[1922] 5 f.

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geform lösen und die folgenden Sätze zumindest als These und als Fluchtpunkt für die weiteren Untersuchungen formulieren: Bergson zieht aus dem Zwiespalt der modernen Bewegungswissenschaft die Konsequenz, dass den Naturwissenschaften bzw. dem durch sie verwirklichten Modell einer Erforschung der statischen, materiellen Seite der Wirklichkeit ein anderes, konsequent um die dynamische, geistige Seite der Wirklichkeit bemühtes Wissen zur Seite zu stellen ist, das sich in den Geisteswissenschaften sowie einer als Grundlegung dieser Wissenschaften verstandenen Philosophie verwirklicht. Dieses andersartige Wissen – und insbesondere die Philosophie – muss sich von allen vergegenständlichenden Elementen der naturwissenschaftlichen Praxis distanzieren, zugleich aber den an ihrem Ursprung liegenden Impuls aufnehmen und weiterentwickeln. 3.3.2.4.3 Infinitesimalrechnung und Hermeneutik Nun ist es leicht, solche Sätze im Allgemeinen zu formulieren. Deren Umsetzung in eine konkrete Bergson-Interpretation kann dagegen, wie sich unverzüglich zeigt, erhebliche Mühe bereiten. Die Aufgabe, die wir als nächste in Angriff zu nehmen haben, lautet nämlich, die Hermeneutik mit der Infinitesimalrechnung zusammenzudenken, und das ist eine Aufgabe, die nicht nur viele Philosophen, sondern auch so manchen Mathematiker in Verlegenheit bringen dürfte. Beginnen wir damit, zu erklären, wie es zu dieser seltsamen Aufgabe kommt. Dabei können und müssen wir uns auf den vorigen Abschnitt zurückbeziehen. Wir haben dort festgestellt, dass die Geisteswissenschaften sich einerseits von den Naturwissenschaften distanzieren, andererseits aber deren »ursprüngliche Einsicht« in den Bewegungscharakter der Wirklichkeit aufnehmen und weiterentwickeln sollen. Wir haben unter dem Stichwort »Geist« einen Gegenstandsbereich der Geisteswissenschaften ausgemacht, der diesen Wissenschaften eigentümlich ist, zugleich aber – wenn auch in vorerst noch ungeklärter Weise – als dynamischer Aspekt der Wirklichkeit aufgefasst wird und so an die von den Naturwissenschaften thematisierte Bewegung angeschlossen werden kann. Sodann zeichnet sich ab, dass die Philosophie bei Bergson eine Grundlegung leisten soll, die allerdings nicht ausschließlich Grundlegung der Geisteswissenschaften sein, sondern diese in den Kontext der Wissenschaften insgesamt, ja der möglichen Weltverhältnisse des Menschen überhaupt stellen soll. Wie aber verhält es sich mit der von den Geisteswissenschaften anzuwendenden und von der Philosophie zu begrün413 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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denden Methode? Bricht sie vollständig mit der mathematischen Methode der Naturwissenschaften, oder findet auch in diesem Fall eine Absetzbewegung statt, die zugleich Anschlussbewegung ist? Geht man dieser Frage nach, dann drängen sich einige Textpassagen auf, in denen Bergson zur Infinitesimalrechnung Stellung nimmt. Zunächst einmal sind es zwei Punkte, die an diesen Stellungnahmen bedeutsam erscheinen. • Bergson bewertet die Infinitesimalrechnung als die bedeutendste methodische Leistung, die das neuzeitliche Bündnis von Mathematik und Naturwissenschaften hervorgebracht hat. Sie sei, schreibt er in der Introduction à la métaphysique, »die mächtigste Untersuchungsmethode, über die der menschliche Geist verfügt« 206. Damit ist nicht nur gemeint, dass sie dem homo faber Macht verschafft, sondern auch, dass an keiner anderen Stelle innerhalb der modernen Naturwissenschaft der Impuls zum Studium der Bewegung sich so weit entfalten, dass nirgends sonst Bewegung als Schöpfung von Neuem so deutlich in den Blick kommen konnte: »Die moderne Mathematik ist eine Anstrengung, an die Stelle des Fertigen das Werdende zu setzen, die Erzeugung der Größen zu verfolgen, die Bewegung zu erfassen, und zwar nicht nur von außen und in ihrem fertigen Resultat, sondern von innen und in ihrer Tendenz zur Veränderung, schließlich sich den Bewegungsverlauf des Umrisses der Dinge anzueignen.« 207



Zwar verfängt sich auch in diesem Fall der Schwung des Gedankens in den Maschen des mathematischen Symbolismus, gleichwohl bleibt er noch deutlich erkennbar. Die moderne Philosophie ist aufgefordert, sich an der Infinitesimalrechnung zu orientieren, da auch ihr die Aufgabe gestellt ist, Bewegung als Schöpfung von Neuem zu erfassen: »Wenn die Mathematik auch nur die Wissenschaft der Größen ist, wenn auch die mathematischen Verfahren sich nur auf Quantitäten beziehen, so darf man doch nicht vergessen, dass die Quantität immer

206 La plus puissante des méthodes d’investigation dont l’esprit humain dispose, l’analyse infinitésimale […]. – PM 1422 | 214 | 214 207 La mathématique moderne est précisément un effort pour substituer au tout fait ce qui se fait, pour suivre la génération des grandeurs, pour saisir le mouvement, non plus du dehors et dans son résultat étalé, mais du dedans et dans sa tendance à changer, enfin pour adopter la continuité mobile du dessin des choses. – a. a. O.

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eine Qualität in statu nascendi ist: Sie ist, könnte man sagen, der Grenzfall. Es ist demnach natürlich, dass die Metaphysik die Leitidee unserer Mathematik aufnimmt, um sie auf alle Qualitäten, d. h. auf die Wirklichkeit überhaupt auszudehnen.« 208

Sofort freilich fügt Bergson, um ein naheliegendes Missverständnis abzuwehren, hinzu, damit sei auf gar keinen Fall eine Universalmathematik, »diese Chimäre der Philosophie« 209, gemeint. Es geht nicht darum, die mathematischen Verfahren auf die gesamte Wirklichkeit auszudehnen – das versuchen ja bereits die Naturwissenschaften –, oder darum, diese Verfahren zu kopieren. Es geht vielmehr darum, die Leitidee aufzugreifen (adopter l’idée génératrice), sie dann aber im Hinblick auf eine anders geartete Wirklichkeit anders auszugestalten. Äußerungen wie die hier teilweise zitierte haben einige Interpreten dazu veranlasst, in der Infinitesimalrechnung den Schlüssel zu Bergsons Philosophie zu sehen. 210 Bergsons Denken, behauptet etwa Jean Milet, wird angetrieben und gesteuert von einer Intuition mathematischen Ursprungs. 211 Damit aber gesellt sich unserer derzeitigen Hauptfrage nach der im Bereich von Geisteswissenschaften und Philosophie anzuwendenden Methode die Nebenfrage hinzu, wie wir mit dieser These umgehen sollen. Zwei Wege scheinen möglich: (1) Wenn Milet und Gunter Bergsons Denken von der Infinitesimalrechnung, wir es aber von der Hermeneutik her erschließen wollen, dann sind das konkurrierende Hypothesen, und wir müssen uns da-

208 Si la mathématique n’est que la science des grandeurs, si les procédés mathématiques ne s’appliquent qu’à des quantités, il ne faut pas oublier que la quantité est toujours de la qualité à l’état naissan : c’en est, pourrait-on dire, le cas limite. Il est donc naturel que la métaphysique adopte, pour l’étendre à toutes les qualités, c’est-àdire à la réalité en général, l’idée génératrice de notre mathématique. – PM 1422 f. | 214 f. | 214 f. 209 Elle ne s’acheminera nullement par là à la mathématique universelle, cette chimère de la philosophie moderne. – PM 1423 | 215 | 215 – Die »Chimäre« ist ein naher Verwandter des »Bastards«. Wie Bergson im zweiten Kapitel von Les données immédiates de la conscience die Zeit als »Bastard« bezeichnet, weil sie eine Mischung aus Dauer und Raum darstellt (vgl. Abschnitt 4.1.2, S. 448, insbesondere Anm. 28), so verweist das Wort »Chimäre« hier auf eine Mischung von Wissenschaft (bzw. Mathematik) und Philosophie, die nicht als gedankliche Synthese, sondern als unbedachte Vermischung und Verwirrung zu bewerten ist. 210 Milet[1974], Gunter[1999]. 211 […] le bergsonisme pourrait découler d’une intuition première d’inspiration mathématique. – Milet[1974] 13

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rum bemühen, die uns behindernde These zurück- oder doch zumindest in die Schranken zu weisen. (2) Die These vom Ursprung der Philosophie Bergsons aus dem Geist der Infinitesimalrechnung ist gar keine konkurrierende, sondern eine ergänzende Hypothese, und wir müssen nur zeigen, worin der Zusammenhang beider Hypothesen besteht, bzw. in welcher Weise jene Hypothese unsere eigene ergänzt. Nun zeigen die Sätze, mit denen ich diesen Abschnitt eingeleitet habe, schon, dass ich die zweite Ansicht vertreten möchte. Das heißt freilich, dass ich mich nicht darauf beschränken kann, einen irgendwie gearteten Zusammenhang zwischen der modernen Mathematik und einer irgendwie gearteten modernen Philosophie herzustellen. Da das Ziel dieser Untersuchung darin besteht, Bergsons Philosophie als eine hermeneutische darzustellen, ist vielmehr präzise zu zeigen, dass die Übernahme des mathematischen Leitbildes in die Philosophie zu einer hermeneutischen Philosophie führt. Ich möchte deshalb zunächst erläutern, warum ich diese Ansicht vertrete, und danach vorläufig darlegen, wie man sich den Zusammenhang von Infinitesimalrechnung und Hermeneutik vorzustellen hat. Dafür, dass der infinitesimalmathematische und der hermeneutische Denkstrang in Bergsons Texten nicht miteinander konkurrieren, sondern miteinander verschränkt werden, gibt es zahlreiche Belege, und einen der bedeutenderen haben wir sogar schon ausführlich diskutiert. 212 Erinnern wir uns: Wir hatten festgestellt, dass jene Figur, die man als hermeneutischen Zirkel zu bezeichnen pflegt, der Sache nach in L’intuition philosophique auftritt, dass Bergson sie aber nicht so nennt, sondern von einer Kurve und allerlei geraden Linien (insbesondere: Tangenten) spricht. Nun braucht man aber nur eine beliebige Einführung in die Infinitesimalrechnung aufzuschlagen und eine der die Anfänge illustrierenden Abbildungen neben diejenige Abbildung zu legen, in der ich versucht habe, Bergsons zunächst etwas schwer verständliche Konstruktion zu veranschaulichen, um sofort eine weitgehende Übereinstimmung zu erkennen. Bergson verschränkt also das mathematische Verfahren der Infinitesimalrechnung und das hermeneutische Verfahren des Verstehens von Texten, um einerseits klarzumachen, was das Ziel hermeneutischer Anstrengungen ist, und andererseits die dabei anzuwendende Methode zu veranschaulichen. Ich hatte schon darauf hingewiesen, dass Bergson die Kurve – verstanden als Bahn eines sich bewegenden Punktes – 212

Vgl. Abschnitt 1.2.4, S. 81.

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dem Kreis vorzieht, weil er die Assoziation eines Im-Kreis-Gehens vermeiden möchte. Während das Modell des hermeneutischen Zirkels zwar die Bewegung des Erkennens thematisiert, über deren Gegenstand aber schweigt, möchte Bergsons auf eine »Zickzackbewegung« hinauslaufendes Modell klarmachen, dass man es mit einer in Bewegung befindlichen Erkenntnis zu tun hat, die sich auf einen selbst in Bewegung befindlichen Gegenstand richtet. Wie ist diese Verschränkung zu verstehen? Geht es um eine Methode der Philosophie, oder geht es um eine Vorgehensweise, die auch außerhalb der Philosophie zum Einsatz kommt? Auch für die Beantwortung dieser Frage stehen zahlreiche Textstellen zur Verfügung. 213 Ich wähle eine, die etwas verschachtelt – Bergson spricht über Ravaisson, der seinerseits Leonardo zitiert –, auch gar nicht leicht zu übersetzen, aber dennoch in ihrer Aussage völlig klar ist: »In der Abhandlung über die Malerei von Leonardo da Vinci findet sich eine Stelle, die Ravaisson gern zitierte. Das ist diejenige, an der es heißt, dass das lebendige Wesen durch eine Wellen- oder Schlangenlinie charakterisiert wird, dass jedes Wesen seine ihm eigentümliche Weise des Schlängelns habe und dass das Ziel der Kunst darin besteht, diese individuelle Schlängelung widerzugeben. […] Diese Linie kann übrigens keine der sichtbaren Linien der Gestalt sein. Sie ist weder hier noch dort, aber sie liefert den Schlüssel zum Ganzen. Sie wird weniger vom Auge wahrgenommen als vom Geiste gedacht. […] Betrachten wir das Porträt der Mona Lisa, oder sogar das der Lucrezia Crivelli: Scheint es uns nicht, dass die sichtbaren Linien der Gestalt zu einem virtuellen, hinter der Leinwand befindlichen Zentrum hinlaufen, wo sich mit einem Schlag – gleichsam in einem einzigen Wort zusammengefasst – das Geheimnis dieser rätselhaften Physiognomie offenbaren würde, das Satz für Satz zu lesen wir niemals zu Ende kommen? In diesen Punkt hat sich der Maler versetzt. Und indem er eine einfache geistige, in diesem Punkt konzentrierte Vision entfaltete, hat er Zug für Zug das Modell wiedergefunden, das er vor Augen hatte, und so auf seine Weise den schöpferischen Akt der Natur wiederholt.« 214 213 Eine Sammlung derartiger Textstellen bietet bereits Lydie Adolphe[1955] im Kapitel über »Die Kurve«. Vgl. insbesondere S. 225–227. 214 Il y a, dans le Traité de peinture de Léonard de Vinci, une page que M. Ravaisson aimait à citer. C’est celle où il est dit que l’être vivant se caractérise par la ligne onduleuse ou serpentine, que chaque être a sa manière propre de serpenter, et que l’objet de l’art est de rendre ce serpentement individuel. […] Cette ligne peut d’ailleurs n’être aucune des lignes visibles de la figure. Elle n’est pas plus ici que là, mais elle donne la clef de tout. Elle est moins perçue par l’œil que pensée par l’esprit. […] Arrêtons-nous devant le portrait de Mona Lisa ou même devant celui de Lucrezia Crivelli : ne nous semble-t-il pas que les lignes visibles de la figure remontent vers

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Das ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Text, d. h. ein aus zahlreichen Fäden bestehendes Gewebe! Wie Bergson in L’évolution créatrice auf Galilei als den Begründer der neuzeitlichen Naturwissenschaft und Descartes als den Begründer der modernen Philosophie ebenso wie der modernen Mathematik zurückgeht, so bezieht er sich hier – vermittelt durch Ravaisson – auf Leonardo als Begründer der neuzeitlichen Malerei. Zugleich erfahren wir, warum Bergson die neuzeitliche europäische Malerei für die maßgebliche, oder jedenfalls für die philosophisch relevanteste hält: Wenn die neuzeitliche Mathematik und Naturwissenschaft der philosophischen Wahrheit am nächsten kommen und die neuzeitliche Malerei sich vom gleichen Paradigma leiten lässt, dann muss auch sie von besonderer philosophischer Bedeutung sein. Sodann sieht man, dass Bergson hier gleich drei Bereiche verschränkt: den Bereich der Kunst (Malerei), den Bereich der Sprache (»in einem Wort«, »Satz für Satz) und den Bereich der Mathematik (Wellen- oder Schlangenlinie, d. h. Kurve). Schließlich fällt auf, dass diese miteinander verschränkten Bereiche noch einmal eingetragen werden in das uns bereits bekannte Spannungsfeld von einfacher Intuition und komplexer Darstellung. Was uns hier aber ausschließlich interessiert, ist das Gesamtergebnis: Die unregelmäßige mathematische Kurve wird zum Sinnbild für das, was verstanden wird, wenn man das »Wesen« einer Person versteht, und solches, vom mathematischen Erfassen einer Kurve inspiriertes Verstehen wird hier nicht dem Philosophen, nicht einmal dem Geisteswissenschaftler, sondern dem Künstler und dem Betrachter eines Kunstwerks zugesprochen. Es ist also davon auszugehen, dass das mit der mathematischen Analysis verwandte Verstehen in zahlreichen und ganz verschiedenen Formen der geistigen Betätigung auftritt, und dass die Philosophie ergänzend dazu das »Verstehen des Verstehens«, die Theorie des Verstehens, kurz: die Hermeneutik bereitstellt. Insbesondere aus dem zuletzt angeführten Zitat wird auch schon ansatzweise deutlich, wie man sich den Zusammenhang von Infinitesimalrechnung und Hermeneutik näherhin vorzustellen hat. Ich verun centre virtuel, situé derrière la toile, où se découvrirait tout d’un coup, ramassé en un seul mot, le secret que nous n’aurons jamais fini de lire phrase par phrase dans l’énigmatique physionomie ? C’est là que le peintre s’est placé. C’est en développant une vision mentale simple, concentrée en ce point, qu’il a retrouvé, trait pour trait, le modèle qu’il avait sous les yeux, reproduisant à sa manière l’effort générateur de la nature. – PM 1459 f. | 264 f. | 256 f.

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suche nun, ihn »so einfach wie möglich, aber nicht einfacher« (Einstein) darzustellen, und gehe zu diesem Zweck noch einmal auf den Gegensatz zwischen antiker und moderner Wissenschaft zurück. Schritt 1: Die antike Naturwissenschaft kennt zwar Bewegung, bewertet diese aber als Defizit und bemüht sich deshalb darum, die ausgezeichneten Punkte, Phasen oder Zustände zu bestimmen, an denen ein Ding oder Wesen wirklich es selbst ist. Auf Lebewesen, und insbesondere auf Menschen übertragen, heißt das: Diese Person ist Sklave, jene Person ist Frau. Diese Person ist Grieche, jene ist Barbar. Damit ist alles Wesentliche gesagt. Schritt 2: Die moderne Wissenschaft interessiert sich nicht für privilegierte Punkte oder Momente. Für sie sind alle Punkte gleichwertig. Das ist so, weil sie – anders als die antike Wissenschaft – nicht die Ruhe, sondern die Bewegung für primär hält. Folglich will sie Bewegungsverläufe untersuchen und deren Eigenschaften beschreiben. Um das zu können, muss sie einerseits die Zeit aufwerten, denn Bewegungen vollziehen sich in der Zeit, andererseits ein Bündnis mit der modernen Mathematik eingehen, denn nur diese kann ihr die Mittel zur Verfügung stellen, die sie braucht, um ihre Forschungsergebnisse symbolisch darzustellen. Das Streben der modernen Wissenschaft richtet sich auf die Formulierung von Gesetzen, d. h. von Regeln, die angeben, welche Folgen die Änderung eines Parameters – im einfachsten Fall, nämlich demjenigen einer ins Koordinatensystem eingetragenen Kurve: die Änderung des x-Wertes – für einen anderen Parameter (im Fall der Kurve: den y-Wert), mehrere andere Parameter und/oder für das Gesamtsystem hat. Das Gesetz lässt sich mathematisch als Funktion formulieren, und diese lässt sich anschaulich als Kurve darstellen. Die erste für das Verständnis des Zusammenhangs zwischen Infinitesimalrechnung und Hermeneutik grundlegende Operation besteht nun darin, eine Verbindung zwischen der naturwissenschaftlichen Betrachtung von Bewegungen und der philosophischen oder geisteswissenschaftlichen Betrachtung von Verläufen bzw. Entwicklungen im menschlichen Bereich herzustellen. Zu diesem Zweck können wir z. B. Georg Simmels Text über das »individuelle Gesetz« 215 in unsere Betrachtung einbeziehen. Das »individuelle Gesetz« ist für Simmel etwas, was die unverwechselbare Individualität eines menschlichen Wesens definiert. Wie immer man sich nun das »Sein« 215

GSG[16] 346 ff.

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eines derartigen Gesetzes vorstellen mag – klar ist, dass es sich jedenfalls im Verlauf eines Lebens, in einem Lebens- oder Denkweg äußert. Oder vielmehr: Dieses individuelle Gesetz dient dazu, zu klären, welche Handlungen und Gedanken als in einem eminenten Sinne eigene, d. h. als konsequente oder authentische aufgefasst werden können. Und nun kann man sagen: Wie die mathematische Funktion es erlaubt, im Hinblick auf einen beliebigen Punkt zu prüfen, ob er zur Kurve gehört, so lässt sich anhand des individuellen Gesetzes – sofern es denn erkannt ist – prüfen, ob eine Denkweise oder eine Handlung in der Konsequenz der eigenen Lebensbahn liegt. Eine solche Bahn meint Bergson, wenn er von der jedem Menschen eigentümlichen »Linie« oder »Kurve« spricht, und ein solches Gesetz meint er, wenn er von dem unsichtbaren Zentrum spricht, aus dem die Bewegung entspringt. Im Hinblick auf die Hermeneutik bedeutet das: Verstehen ist das Erfassen der »Kurve« eines Lebewesens, d. h. seiner eigenen Dynamik, und jenes individuellen Gesetzes, das der Dynamik eine Richtung gibt. Insofern liefern der naturwissenschaftliche Begriff des Gesetzes und der mathematische Begriff der Funktion der hermeneutischen Praxis ebenso wie der hermeneutischen Theorie das Vorbild, an dem sie sich zu orientieren haben: Verstehen heißt nicht, den betrachteten Gegenstand auf einen bestimmten Punkt festzulegen, sondern heißt, die besonderen Eigenschaften einer individuellen Bahn – aber eben: der gesamten Bahn – zu erfassen. Einerseits. Andererseits müssen sich hermeneutische Praxis und hermeneutische Theorie vollständig vom mathematisch-naturwissenschaftlichen Vorbild lösen, denn die Pointe der mathematischen Funktion besteht ja darin, dass man in dem Moment, in dem man über die einem bestimmten Typ von Bewegung entsprechende Funktion verfügt, prinzipiell sämtliche auf der Kurve liegenden Punkte kennt, und dass jemand, der die Kurve »durchläuft«, jederzeit jeden beliebigen zukünftigen Punkt vorhersagen kann. Dass man im Bereich des menschlichen Denkens und Handelns nicht von dieser Voraussetzung ausgehen darf, ist aber schon 1889 die Botschaft des dritten, dem Begriff der Freiheit gewidmeten Kapitels in Les données immédiates de la conscience, und im vierten Kapitel von L’évolution créatrice nennt Bergson den Versuch, zukünftige Zustände von Lebewesen oder den Verlauf ihrer Entwicklung vorherzusagen, eine »wahrhafte Absurdität« 216. 216

C’est pourquoi l’idée de lire dans un état présent de l’univers matériel l’avenir des

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Und was heißt das für die Analogie zwischen dem durch eine mathematische Funktion definierten Kurvenverlauf und der jedem Menschen eigentümlichen »Kurve«? Bergson antwortet: Die Kurve, die ein Lebewesen beschreibt, zeichnet sich dadurch aus, dass sie an jedem Punkt ihre Richtung ändert. 217 Schritt 3: Nun kann die Tatsache, dass eine Kurve an jedem Punkt ihre Richtung (mathematisch gesprochen: ihre »Steigung«) ändert, als solche den Mathematiker nicht aus der Ruhe bringen. Es gibt nämlich nicht wenige Kurven, auf die diese Beschreibung zwar zutrifft, bei denen aber zumindest die Richtungsänderung einer erkennbaren und angebbaren Regel folgt (Parabeln oder Sinus-Kurven sind von dieser Art). Es genügt demnach, dass der Mathematiker die Betrachtungsebene um eine Stufe nach oben verlegt, nicht den ursprünglich gemeinten Sachverhalt (z. B. das Fallen eines Steins mit zunehmender Geschwindigkeit), sondern das Änderungsverhalten der Kurve untersucht und es in einer neuen Funktion (der sogenannten »Ableitung«) »einfängt«, um die Irritation zu beseitigen. Etwas Ähnliches gibt es auch außerhalb der Mathematik. So beschreibt Bergson etwa in Les données immédiates de la conscience die »Anmut« (grâce) als eine kontinuierliche (mathematisch: »stetige«) Kurve und vertritt die Ansicht, die psychologische Wirkung der Stetigkeit, die wir mit dem Wort »Anmut« bezeichnen, beruhe darauf, dass der Beobachter den weiteren Verlauf der Bewegung vorausahnen kann, während das im Falle gebrochener, zackiger, kurz: nicht stetiger Bewegungen unmöglich ist: »Wenn ruckweise Bewegungen der Anmut entbehren, so erklärt sich dies daraus, dass jede sich hier selbst genügt und die folgenden nicht ankündigt. Wenn die Anmut die Kurven den gebrochenen Linien vorzieht, so kommt dies daher, dass die gekrümmte Linie jeden Augenblick die Richtung ändert, wobei aber jede neue Richtung in der vorangehenden bereits angekündigt wird.« 218

formes vivantes, et de déplier tout d’un coup leur histoire future, doit renfermer une véritable absurdité. – EC 783 | 340 | 344 217 Um Bewegung und Veränderung des Wirklichen zu erfassen, muss der Geist dessen »unentwegt wechselnde Richtung« (la direction sans cesse changeante) aufnehmen und Begriffe bilden, die »fähig sind, der Realität in all ihren Windungen zu folgen« (capables de suivre la réalité dans toutes ses sinuosités). – PM 1421 | 213 | 213 218 Si les mouvements saccadés manquent de grâce, c’est parce que chacun d’eux se suffit à lui-même et n’annonce pas ceux qui vont le suivre. Si la grâce préfère les

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Ein solches Vorausahnen muss allerdings von dem auf Berechnung beruhenden Vorhersagen unterschieden werden, das nur im Bereich der Mathematik und der Naturwissenschaften möglich ist. Schritt 4: Dieses intuitive Erfassen des Bewegungsverlaufs genügt nun einerseits nicht für alle Aufgaben (insbesondere nicht die, die sich der homo faber stellt), andererseits gibt es Kurvenverläufe – man denke etwa an die graphische Darstellung eines Aktienkurses über einen längeren Zeitraum hinweg –, die so unregelmäßig sind, dass ihr Änderungsverhalten nicht ohne Weiteres in einer Ableitung »eingefangen« werden kann. Die Infinitesimalrechnung befasst sich zwar nicht nur mit unregelmäßigen Kurven, aber die Ideen, auf denen sie beruht, lassen sich am leichtesten nachvollziehen, wenn man derartige Kurven und die mit ihnen verbundenen Schwierigkeiten betrachtet. Die für unseren gegenwärtigen Zusammenhang relevanten Aspekte der Infinitesimalrechnung lassen sich in folgenden drei Punkten zusammenfassen: • Die Infinitesimalrechnung beruht auf dem Prinzip »Teile und herrsche«. Wenn der Verlauf einer Kurve sich für eine ganzheitliche Betrachtung als zu unregelmäßig erweist, dann kann man die Kurve in mehrere Teilbereiche zerlegen und jeden Teilbereich für sich untersuchen. Die Anzahl der Teilbereiche hängt von der gewünschten Genauigkeit ab. Prinzipiell kann man die Teilbereiche unendlich klein werden lassen, so dass unendlich viele Teilbereiche entstehen. Genauer gesagt: Man kann untersuchen, was geschieht, wenn man die Teilbereiche unendlich klein werden lässt (das Moderne an diesem Verfahren besteht darin, dass der Fokus nicht auf den einzelnen Teilbereichen, sondern auf dem Vorgang, der Bewegung des Verkleinerns liegt). Dieser Bewegung zu unendlich kleinen Teilen bzw. einer unendlich großen Zahl von Teilen verdankt die Infinitesimalrechnung ihren Namen. • Die Bezeichnung Infinitesimalrechnung ist ein Oberbegriff für zwei Methoden (bzw. Gruppen von Methoden), die sich mit verschiedenen Aufgaben befassen. Die erste Gruppe, die als Differentialrechnung bezeichnet wird, vollzieht, vom gesamten Kurvenverlauf ausgehend, eine schrittweise Verkleinerung des courbes aux lignes brisées, c’est que la ligne courbe change de direction à tout moment, mais que chaque direction nouvelle était indiquée dans celle qui la précédait. – DI 12 | 9 | 16

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betrachteten Bereichs, um letztlich die Eigenschaften eines einzelnen Punktes zu untersuchen. Insbesondere befasst sich die Differentialrechnung damit, die Tangente (genauer: deren Steigung) an jedem beliebigen Punkt der Kurve zu bestimmen – eine Aufgabe, von der man jetzt sieht, dass sie Bergsons Version des hermeneutischen Zirkels zugrunde liegt. • Die zweite, als Integralrechnung bezeichnete Gruppe von Methoden nimmt in gewissem Sinne gerade den umgekehrten Verlauf. Ihr Standardproblem besteht darin, die Fläche zu berechnen, die von einem Kurvenabschnitt, einem entsprechenden Abschnitt der x-Achse und zwei senkrecht zur x-Achse stehenden Linien begrenzt wird (vgl. Abbildung 2). Da diese Fläche als solche nicht berechenbar ist, wird sie zunächst – nach einem Verfahren, das der »Quadratur des Kreises« ähnelt – in mehrere berechenbare Rechtecke zerlegt, und dann, da das so erreichte Ergebnis nur ein Näherungswert ist, die Genauigkeit durch zunehmende Verkleinerung der Rechtecke gesteigert. Da man aber an der gesamten Fläche interessiert ist, muss stets auch – gleichsam in einer Gegenbewegung zur zunehmenden Zersplitterung – die Integration der Teilflächen zu einem Gesamtergebnis durchgeführt werden. Wie die Mathematik all dies im Einzelnen bewerkstelligt, muss uns hier nicht beschäftigen. Der philosophisch – und das heißt insbesondere: für unsere Bergson-Interpretation – relevante Punkt lässt sich durch ein Begriffspaar bezeichnen, das ich von Claude Lévi-Strauss übernehme. Lévi-Strauss hatte bekanntlich 219 Bergson dafür gelobt, dass er wie ein Wilder denke. Die Frage, was das denn genau bedeuten solle, beantwortet er folgendermaßen: »Es scheint, dass die Verwandtschaft sich ergibt aus einem gleichen Wunsch umfassenden Verstehens jener beiden Aspekte des Wirklichen, die der Philosoph als kontinuierlich und diskontinuierlich bezeichnet; sich ergibt aus einer gleichen Weigerung, eine Wahl zu treffen zwischen den beiden; und aus einer gleichen Bemühung, daraus zwei komplementäre Perspektiven zu machen, die auf die selbe Wahrheit hinauslaufen.« 220

219 220

Vgl. Abschnitt 2.2.3, S. 220. Lévi-Strauss[1972] 128

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Abbildung 2: Prinzip der Integralrechnung

Dass es um eine derartige Verschränkung geht, leuchtet bei der Integralrechnung unmittelbar ein: Die – zumindest an einer Seite – gekrümmte und deshalb nicht berechenbare Fläche wird in eine mehr oder weniger große Menge von Rechtecken zerlegt und damit der kontinuierlich gekrümmte Kurvenverlauf durch eine diskontinuierliche, in »Stufen« zerteilte Linie ersetzt, was die Berechnung der Fläche(n) ermöglicht. Noch deutlicher wird die Konstellation, wenn Bergson den Bereich der Mathematik verlässt: »Ein genialer Künstler hat eine Gestalt auf die Leinwand gemalt. Wir könnten sein Gemälde mit verschiedenfarbigen Mosaikwürfeln nachbilden. Und wir würden die Kurven und Nuancen der Vorlage umso besser wiedergeben, je kleiner, zahlreicher und vielfarbiger unsere Würfel wären. Aber man würde eine unendliche Anzahl unendlich kleiner Elemente in unendlich vielen Farbtönen benötigen, um das genaue Gegenstück zu derjenigen Gestalt, die der Künstler als etwas Einfaches geschaut hat, zu erhalten.« 221 »Das Verständnis [eines Textes] kann nur frei und sicher sein, wenn wir von dem vermuteten, hypothetisch rekonstruierten Sinn ausgehen, wenn wir von dort zu den Bruchstücken der wirklich wahrgenommenen Worte herabsteigen, wenn wir uns unaufhörlich an ihnen orientieren und wenn wir uns ihrer als einfacher Pflöcke bedienen, um an allen ihren Wendepunkten 221 Un artiste de génie a peint une figure sur la toile. Nous pourrons imiter son tableau avec des carreaux de mosaïque multicolores. Et nous reproduirons d’autant mieux les courbes et les nuances du modèle que nos carreaux seront plus petits, plus nombreux, plus variés de ton. Mais il faudrait une infinité d’éléments infiniment petits, présentant une infinité de nuances, pour obtenir l’exact équivalent de cette figure que l’artiste à conçue comme une chose simple […]. – EC 571 f. | 90 f. | 95 f.

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die spezielle Kurve jenes Weges zu markieren, dem die Intelligenz dann folgen wird.« 222

Aber im Bereich der Differentialrechnung findet eine ganz ähnliche Verschränkung statt. Die für verschiedene Punkte der Kurve ermittelten Tangenten beschreiben die verschiedenen Steigungen der Kurve an all diesen Punkten. Nun ist zwar eine Tangente, für sich allein betrachtet, eine stetige Kurve, d. h. etwas Kontinuierliches, aber in ihrer Funktion als Darstellung der Steigung an einem einzigen Punkt einer gekrümmten Kurve stellt sie nur so etwas wie eine »Momentaufnahme« dar, und mehrere, an verschiedenen Punkten einer Kurve konstruierte Tangenten sind dann den diskontinuierlichen Einzelbildern vergleichbar, in die die »kinematographische Methode« Bewegungsabläufe zerlegt. Es ist eben dies, was Bergson meint, wenn er in L’intuition philosophique davon spricht, dass die verschiedenen, aufeinanderfolgenden Werke eines Philosophen als »Tangenten«, d. h. als mehrere Momentaufnahmen eines Denkwegs aufzufassen sind, der, an sich betrachtet, ein kontinuierlicher Verlauf ist. Die gleiche, nur eine Ebene »nach oben« verlegte Denkweise liegt vor, wenn Bergsons Schüler Éduard Le Roy in einer Rede die verschiedenen philosophischen Systeme als Tangenten an einer Kurve auffasst, die die Bewegung der Wirklichkeit beschreibt. 223 In der Infinitesimalrechnung werden also nach Bergson Kontinuierliches und Diskontinuierliches miteinander verschränkt, um

222 L’intellection ne peut être franche et sûre que si nous partons du sens supposé, reconstruit hypothétiquement, si nous descendons de là aux fragments de mots réellement perçus, si nous nous repérons sur eux sans cesse, et si nous nous servons d’eux comme de simples jalons pour dessiner dans toutes ses sinuosités la courbe spéciale de la route que suivra l’intelligence. – ES 945 | 172 | 154 223 Adolphe[1955] 226 – Es sei hier noch einmal betont, dass man, um diese Überlegungen verstehen zu können, nicht nur das Denken als eine Bewegung auffassen darf, die sich mit zunehmender Genauigkeit einem unveränderlichen Gegenstand anschmiegt, sondern die Bewegung, d. h. die Veränderungen des Gegenstandes im Verlauf der in Anspruch genommenen Zeit ebenfalls berücksichtigen muss. Gesellschaftstheorien, die im Laufe mehrerer Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte entstanden sind, stellen nicht verschiedene bzw. verschieden genaue Beschreibungen der gleichen Gesellschaft dar, sondern beziehen sich auf eine selbst im Wandel befindliche Gesellschaft. So sind auch die zahlreichen philosophischen Systeme nicht verschiedene Bilder einer statischen Wirklichkeit. Sie begleiten vielmehr den Wandel der Wirklichkeit, so dass die unterschiedlichen Bezugspunkte und die unterschiedlichen Gesichtspunkte gemeinsam für die Unterschiede zwischen den Systemen verantwortlich sind.

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durch Arbeit am Diskontinuierlichen Erkenntnisse – wenn auch keine hundertprozentig genauen Erkenntnisse – über das als solches nicht zugängliche Kontinuierliche zu gewinnen. Die von Bergson angeführten Beispiele für ähnliche Verhältnisse außerhalb der Mathematik führen uns in die Bereiche der Kunst, des Sprechens und des Verstehens, des Denkens und des Handelns – kurz: in diejenigen Bereiche, in denen von hermeneutischen Bemühungen die Rede sein kann. 224 Die Steine des Mosaikkünstlers, die Worte des Dichters oder die philosophischen Denkmuster sind die diskontinuierlichen »Rechtecke« oder »Tangenten«, durch die einzig und allein ein kontinuierlicher Sinn dargestellt werden kann. Das Sprechen – d. h. das Zerlegen des Sinns in Sätze und Worte – entspricht dem Differenzieren, während das Verstehen – das Ermitteln des einheitlichen Sinns aus dem komplexen sprachlichen Gebilde – dem Integrieren gleicht. Kurz: Die These, Bergsons Denken habe seinen Ausgangspunkt in der Infinitesimalrechnung, und die These, Bergsons Philosophie sei eine hermeneutische, widersprechen sich nicht. Diese beiden Interpretationen sind keine Gegner, sondern Partner, denn die Infinitesimalrechnung leistet für den Bereich der Mathematik und der Naturwissenschaften das, was die Hermeneutik für den Bereich der Geisteswissenschaften und der Philosophie leistet. Dieses Ergebnis bestätigt in neuer Form eine These, die bereits im ersten Kapitel zur Sprache kam. Ich hatte dort darauf hingewiesen, dass sich Bergsons Philosophie nur dann als eine hermeneutische interpretieren lässt, wenn man annimmt, dass Intuition und Sprache für ihn gleichwertig sind und einander ergänzen. Ich hatte zu Beginn dieses Kapitels auf Frédéric Worms Bezug genommen, der, statt Bergsons Denken aus einer simplen Intuition entspringen zu lassen, von einer intuition-distinction ausgeht. Und nun erweist sich die Infinitesimalrechnung, an der sich Bergson zufolge die Philosophie des Geistes orientieren soll, als ein Verfahren, in dem das Diskontinuierliche, obwohl mit der Kontinuität nicht kompatibel, genutzt wird, um Erkenntnisse über diese letztere zu gewinnen. Dies also ist das Thema, mit dem sich die hermeneutische Philosophie zu befassen hat.

224 In L’évolution créatrice versucht Bergson, das Verhältnis des Lebens zur unbelebten Materie zu erhellen, indem er das Leben als Kurve und die Vorgänge im Bereich der Materie als Tangenten darstellt (EC 521 | 31 | 37 f.). Diese Passage widerspricht meiner These nicht, denn wir haben in Kapitel 2 bereits festgestellt, dass die lebensphilosophische Hermeneutik bis in die Biologie hineinreicht.

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Aber diese Philosophie entspringt nicht aus dem Nichts. Sie konstituiert sich als hermeneutische Theorie durch eine hermeneutische Praxis. Sprechen wir es noch einmal deutlich aus, denn dies ist ein Satz, den ein hermeneutischer Philosoph nicht jeden Tag zu hören bekommt 225: Die Hermeneutik konstituiert sich unmittelbar durch eine Auslegung des Sinns der Infinitesimalrechnung und mittelbar durch die Auslegung des in diesem Sinn zum Ausdruck kommenden Sinnes von Wirklichkeit. »[Die Metaphysik] ist damit keineswegs auf dem Weg zur Universalmathematik, dieser Chimäre der modernen Philosophie. Ganz im Gegenteil wird sie, je weiter sie auf diesem Wege kommt, Objekte antreffen, die nicht in Symbole übersetzbar sind. Aber sie hat damit wenigstens eine erste Fühlungnahme mit der Kontinuität und Beweglichkeit des Wirklichen aufgenommen an einer Stelle, wo diese Fühlungnahme von wunderbarster praktischer Bedeutung ist. Sie hat in einen Spiegel gesehen, der ihr zweifellos ein etwas zusammengeschrumpftes, aber auch sehr leuchtendes Bild ihrer selbst zurückwirft. Sie hat dann mit überlegener Klarheit erkannt, was die mathematischen Verfahren aus der konkreten Wirklichkeit entlehnen, und sie schreitet im Sinne der konkreten Wirklichkeit und nicht im Sinne der mathematischen Verfahren fort. Sagen wir also, nachdem wir im Voraus schon abgeschwächt haben, was an der Formel zu bescheiden oder zu kühn erscheinen könnte, dass eine der Aufgaben der Metaphysik darin besteht, qualitative Differenziationen und Integrationen zu vollziehen.« 226

225 Es ist dies freilich auch kein Satz, den man einzig und allein bei Bergson zu hören bekommen kann. Wolfgang Iser entwickelt unter Bezugnahme auf Franz Rosenzweig (der sich seinerseits auf Hermann Cohen stützt) das Konzept eines auf dem »wandernden Differential« basierenden Interpretationsmodus, mit dem sich »Unermessliches« darstellen lässt. – Iser[2000] 113 ff. 226 Elle ne s’acheminera nullement par là à la mathématique universelle, cette chimère de la philosophie moderne. Bien au contraire, à mesure qu’elle fera plus de chemin, elle rencontrera des objets plus intraduisibles en symboles. Mais elle aura du moins commencé par prendre contact avec la continuité et la mobilité du réel là où ce contact est le plus merveilleusement utilisable. Elle se sera contemplée dans un miroir qui lui renvoie une image très rétrécie sans doute, mais très lumineuse aussi, d’elle-même. Elle aura vu avec une clarté supérieure ce que les procédés mathématiques empruntent à la réalité concrète, et elle continuera dans le sens de la réalité concrète, non dans celui des procédés mathématiques. Disons donc, ayant atténué par avance ce que la formule aurait à la fois de trop modeste et de trop ambitieux, qu’un des objets de la métaphysique est d’opérer des différenciations et des intégrations qualitatives. – PM 1423 | 215 | 215

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4 Die Dauer und das Leben des homo historicus

Ich unterstelle, dass das, was nun zur Sprache kommen soll, in groben Zügen bekannt ist. Noch die schmalste Philosophiegeschichte geht ja, sofern die Jahre um 1900 zu ihrem Thema gehören, wenigstens kurz darauf ein, dass Bergson – anders als Kant, ähnlich wie Schopenhauer – bereits in jungen Jahren den Leitbegriff seiner Philosophie fand, dass es sich dabei um den Begriff der »Dauer« (durée) handelt und dass diese Dauer nicht nur in beinahe jeder Hinsicht das genaue Gegenteil des Raumes darstellt, sondern sich auch wesentlich von der »Zeit« unterscheidet, die ansonsten – wie etwa bei Kant – das Gegenstück des Raumes zu bilden pflegt. Daraus folgt freilich nicht, dass wir mit dem Begriff der Dauer wenig Mühe haben werden und sie hier vergleichsweise rasch abhandeln können. Ganz im Gegenteil: Die Dauer wird uns in den folgenden drei Kapiteln – und das heißt: im ganzen noch verbleibenden Teil dieser Untersuchung – beschäftigen. Das liegt zunächst einmal daran, dass die Dauer, mag sie nun in anderen Darstellungen mehr oder weniger ausführlich zur Sprache kommen, dort jedenfalls unter anderen als den für die vorliegende Untersuchung maßgeblichen Gesichtspunkten betrachtet wird, so dass wir sie uns aus unserer eigenen Perspektive neu aneignen, d. h. die Frage stellen müssen: Welche Rolle spielt die Dauer, wenn Bergsons Philosophie als eine hermeneutische gelesen wird? Das liegt zweitens daran, dass Bergsons Begriff der Dauer – und zwar unabhängig davon, ob seine Philosophie als eine hermeneutische gelesen wird oder nicht – einige schwierige Fragen aufwirft: • Bergson versteht die Dauer im Essai sur les données immédiates de la conscience als einen Bewusstseinsstrom, in dem es – anders als im Raum – keine scharfen Grenzen und Trennungen, sondern nur fließende Übergänge gibt. Wenn es sich aber so verhält, wird dann nicht jegliches Selbstverhältnis des Menschen reduziert auf ein passives Hinnehmen, ein gedankenloses Betrachten, 429 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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»wie ein Schäfer traumverloren in das fließende Wasser schaut« 1? Oder weist die Dauer irgendeine Form von Artikulation auf, auf die sich eine – wie auch immer geartete – Erkenntnis beziehen könnte? • Bergson gewinnt das Konzept der Dauer im Essai sur les données immédiates de la conscience durch eine Untersuchung des individuellen Bewusstseins. Aber heißt das, dass sich menschliches Bewusstsein durch die Form der Dauer von allem, was sonst noch in der Wirklichkeit vorkommt, unterscheidet? Ist alles, was nicht individuelles Bewusstsein ist, ein Ding im Raum? Oder gibt es außerhalb des individuellen Bewusstseins Phänomene, die ebenfalls die Form der Dauer aufweisen? • Bergson schildert das Dauern im Essai sur les données immédiates de la conscience als einen Prozess, der sich unbemerkt, ja unbewusst vollzieht. Indessen möchte er auf dem Konzept der Dauer eine Philosophie, ja sogar eine philosophische Methode aufbauen. Wie aber gelangt man von einem unbewusst sich vollziehenden Geschehen zu einer bewusst anzuwendenden Methode? Diese drei Fragen werden in den Kapiteln 4, 5 und 6 nacheinander untersucht. Dass jede Frage ein ganzes Kapitel erfordert, hat in jedem Fall einen anderen Grund. Im Hinblick auf die in diesem Kapitel zu erörternde erste Frage ist es dieser: Sobald man sich der Dauer zuwendet und die Frage nach deren Artikulation stellt, bemerkt man, dass die wichtigsten unter denjenigen Interpreten, die bisher ernsthaft die These vom hermeneutischen Charakter der Philosophie Bergsons vertreten haben, von genau dieser Frage ausgehen. Die Überlegungen von Jean Hyppolite, Rocco Ronchi und Kristian Bankov klinken sich also an dieser Stelle gleichsam von selbst in den Gang unserer eigenen Überlegungen ein, und da es keinen guten Grund gibt, diese Chance ungenutzt vorübergehen zu lassen, werde ich in diesem Kapitel die Erörterung des Begriffs der Dauer mit dem Referat und der Diskussion der von jenen Interpreten publizierten Gedanken verbinden. Mehr noch als beim Begriff des Raumes ist es bei demjenigen der Dauer notwendig, dessen Wandlungen – oder, wenn man das vorLa philosophie ne va-t-elle pas consister à se regarder simplement vivre, « comme un pâtre assoupi regarde l’eau couler » ? – PM 1416 | 206 | 207 – Bergson zitiert aus dem zweiten Gesang von Alfred de Mussets Verserzählung Rolla.

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zieht: dessen schrittweise Erweiterungen – nicht zu unterschlagen. Ich werde deshalb zunächst den Essai sur les données immédiates de la conscience (1889) als dasjenige Werk vorstellen, in dem Bergson den Begriff der Dauer erstmals eingeführt und erläutert hat (Abschnitt 4.1), und in diesem Zusammenhang auf Laurent Fedi eingehen, der eine Verbindung zwischen dem Essai und Diltheys Projekt einer Begründung der Geisteswissenschaften hergestellt hat (Abschnitt 4.2.1). Danach werde ich mich Matière et mémoire (1896) sowie dessen Interpretation durch Jean Hyppolite zuwenden (Abschnitt 4.2.2) sowie die auf Hyppolite aufbauende Bergson-Interpretation Rocco Ronchis diskutieren (Abschnitt 4.2.3). 2 Schließlich werde ich der Frage nachgehen, wie wir mit der Tatsache umgehen wollen, dass der für unsere bisherigen Analysen so zentrale Begriff des Unbewussten bei Hyppolite und Ronchi keine Rolle spielt (Abschnitt 4.3). Wenn ich die Darstellung an diesem Punkt abbreche, so deshalb, weil Ronchi, Bankov und einige weitere Autoren der Ansicht sind, dass Bergsons spätere – auf Matière et mémoire folgende – Werke den Bereich dessen, was legitimerweise als hermeneutische Philosophie bezeichnet werden kann, verlassen. Ich schlage vor, diese Begrenzung einstweilen zu akzeptieren, weil auch so schon genug Stoff für dieses Kapitel zur Verfügung steht, sie aber an späterer Stelle einer Prüfung zu unterziehen. Eine letzte Vorbemerkung mag helfen, die Überschrift dieses Kapitels richtig einzuordnen und falsche Erwartungen zu vermeiden. Während Bergson den Ausdruck homo faber selbst häufig und mit Nachdruck benutzt, ist das bei dem Ausdruck homo historicus nicht der Fall. Ich verwende ihn hier, um anzudeuten, dass der von der Dauer geprägte Mensch ein anderer ist als der mit Dingen im Raum hantierende. Eine derartige Bezeichnung sollte aber nicht zu der Erwartung verleiten, dass in diesem Kapitel von der Geschichte (im Sinne der Weltgeschichte, der Geschichte der Menschheit) die Rede ist. Von der Möglichkeit, nach so etwas wie Geschichte zu fragen, sind wir noch weit entfernt. Zunächst einmal ist für Bergson wichtig, dass die Dauer dem Leben jedes einzelnen Menschen einen Zusammen-

Nachdem ich in der Einleitung bereits von der Hyppolite-Ronchi-Bankov-Hypothese gesprochen habe, mag man sich fragen, warum ich den drei genannten Lektüren nicht noch eine Bankov-Lektüre hinzufüge. Das hängt damit zusammen, dass Bankov zwar Ronchis Konzept aufnimmt und nach seiner Relevanz für die moderne Semiotik fragt, es aber als solches nicht weiterentwickelt.

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hang verleiht, der ihn berechtigt, von »seiner Geschichte« 3 zu sprechen. Der homo historicus wird hier also verstanden als der sich erinnernde Mensch 4, als der Mensch, der ein Gedächtnis und deshalb auch eine Lebensgeschichte hat.

4.1 Die Entdeckung der Dauer 4.1.1 Die Frage nach der Dauer Wenn es einen Text gibt, für den die insbesondere von Frédéric Worms und seinen Schülern immer wieder eingeschärfte Regel, Bergsons Texte seien von der Mitte her zu lesen, ganz offenkundig gilt, dann ist das der Essai sur les données immédiates de la conscience. Bergson selbst hat gelegentlich darauf hingewiesen, dass seine ursprüngliche, nicht nur für dieses Werk, sondern letztlich für seinen gesamten Denkweg entscheidende Einsicht in einer etwa vier Seiten langen Passage formuliert ist, die sich im zweiten – mittleren – Kapitel, und dort fast exakt an der Grenze zwischen den ersten beiden Dritteln und dem letzten Drittel des Textes befindet. 5 Und Verfasser von Philosophiegeschichten verfahren instinktiv in der geforderten Weise, wenn sie, eine Passage aus der Mitte des zweiten Kapitels paraphrasierend, berichten, Bergson habe im Essai sur les données immédiates de la conscience die Konzepte des Raumes und der Zeit untersucht; er habe sich im Hinblick auf den Raum nicht weit von den Ansichten Kants entfernt; jedoch habe seine Analyse der Zeit ergeben, dass diese kein einfaches und ursprüngliches Phänomen, sondern ein aus Räumlichkeit und einer eigentlichen Verlaufsform – der Dauer – zusammengesetztes Gemisch darstelle. mon histoire: MM 225 f. | 84 f. | 68 f. – son histoire: MM 295 | 172 | 150 – notre histoire: MM 176 | 148 | 127 4 »Homo historicus – eine Annäherung an den sich erinnernden Menschen« war der Titel einer Veranstaltung, die im Jahre 2004 in der Katholischen Akademie in Berlin stattfand (vgl. http://www.katholische-akademie-berlin.de/1:4109/Veranstaltungen/ 2004/02/20824_Homo-historicus-eine-Annaeherung-an-den.html bzw. http://www. katholische-akademie-berlin.de/_pdf/2004/Feb/120224Homo.pdf). 5 Vgl. die Briefe an Harald Høffding von 1906 (Corr. 145–146) und an William James von 1908 (Mél. 765–766). – In beiden Briefen weist Bergson eigentlich auf zwei Textpassagen hin, deren eine sich im zweiten, die andere im dritten Kapitel befindet. Da aber meine Ausführungen hier sich vor allem auf das zweite Kapitel beziehen, berücksichtige ich nur die erste dieser beiden Passagen (DI 77–80 | 86–89 | 88–91). 3

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Wenn man nun aber nicht vor der Aufgabe steht, eine möglichst kompakte Textpassage zu finden, die sich in möglichst wenigen Sätzen zusammenfassen lässt; wenn man vielmehr eine Lektüre des ganzen Buches oder zumindest eines ganzen Kapitels beabsichtigt, dann wird man sich die Frage stellen, was es denn bedeuten soll, den Text von der Mitte her zu lesen. Hat man das wörtlich zu nehmen? Aber abgesehen davon, dass dem Versuch, einen Text von der Mitte zu den Rändern zu lesen, einige lesetechnische Schwierigkeiten entgegenstehen, kann man zweifeln, ob ein solches Unternehmen im Sinne Bergsons wäre. Denn schließlich: Wenn er das wirklich gewollt hätte, dann hätte er seinen Text ja auch »von der Mitte her schreiben«, d. h. das, was jetzt in der Mitte steht, an den Anfang stellen können. Und wenn er das nicht getan hat, dann doch vermutlich deshalb, weil er annahm, dass, wie er selbst erst nach einem längeren Denkweg zu seiner zentralen Einsicht gelangt war, auch der Leser einer Hinführung bedarf, um Gehalt und Relevanz dieser Einsicht richtig einschätzen zu können. Was es heißt, einen Text Bergsons von der Mitte, d. h. von seiner zentralen Einsicht her zu lesen, lässt sich an einem merkwürdigen Satz aus Le rire verdeutlichen. Bergson schreibt dort zu Beginn des dritten Kapitels, er habe in den beiden vorausgehenden Kapiteln das Komische im Bereich von Äußerlichkeiten wie Körperhaltungen oder Sprechweisen untersucht; nunmehr gehe es darum, die Komik des Charakters zu betrachten; und dieser Übergang vom Äußeren zum Inneren könnte sich als große Schwierigkeit erweisen, hätte nicht seine Untersuchung »von Anfang an […] den Charakter anvisiert«. Man wird annehmen dürfen, dass die meisten Leser, gefesselt von den vielen hübschen Anekdoten, die Bergson vorträgt, zumindest bei der ersten Lektüre davon nichts bemerkt haben, deshalb Bergsons Behauptung mit einigem Staunen zur Kenntnis nehmen und sich gezwungen sehen, an den Anfang des Textes zurückzugehen, um zu prüfen, wo und auf welche Weise Bergson, obwohl mit Äußerlichkeiten befasst, den Bereich des Innerlichen so ins Spiel bringt, dass er behaupten darf, seine Untersuchung hätte sich gar nicht, wie man meinen könnte, von den niedrigsten zu den höchsten Phänomenen des Komischen erhoben, sondern von Anfang an »das Licht von oben nach unten gelenkt«. 6 Mit anderen Worten: Bergson behauptet, dass der Leitgedanke der Untersuchung – bzw. das spätere Ergebnis – im6

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plizit bereits in ihrem Anfang enthalten ist, dass er von dort aus Schritt für Schritt entfaltet wird, und dass folglich der Leser gut daran tut, die Ausgangskonstellation sehr bewusst zur Kenntnis zu nehmen. Ein derartiger Aufbau stellt keine Spezialität von Le rire dar. Ob man so weit gehen soll, zu behaupten, dass er in allen Texten Bergsons zu finden ist, kann uns hier gleichgültig sein. Jedenfalls aber ist er im zweiten Kapitel des Essai sur les données immédiates de la conscience zu finden, und das bedeutet, dass wir zu Beginn unserer Lektüre fragen sollten: Wie prägt die Mitte den Anfang? Wie setzt Bergson ein? Auf welche Weise ist in diesem Einsatz bereits die Zweideutigkeit der Zeit gegeben? Und wie führt Bergson den Leser von der impliziten zur expliziten Zweideutigkeit? Diese Fragen müssen uns umso mehr interessieren, als wir ja behauptet haben, dass Erkenntnis für Bergson mit einem Riss in der Erfahrung anfängt 7 und von da aus zum Bewusstsein der Zwei- oder Mehrschichtigkeit von Erfahrung fortschreitet. Insofern ist hier nicht nur die These der Zweideutigkeit als solche von Interesse, sondern auch der Weg, auf dem Bergson den Leser zum Bewusstsein dieser Zweideutigkeit führt. Nun ist der Beginn eines zweiten Kapitels kein isolierter Punkt. Die Ausgangskonstellation wird vielmehr einerseits durch den Abschluss des ersten, andererseits durch den Neueinsatz am Anfang des zweiten geprägt. Was den ersten Aspekt angeht, so macht Bergson es uns dadurch vergleichsweise leicht, dass er den Erörterungen, die eigentlich das erste Kapitel bilden, eine kurze Überleitung anfügt, in der er den Zusammenhang zwischen der Fragestellung des ersten und derjenigen des zweiten Kapitels darlegt. »Im folgenden Kapitel werden wir die Bewusstseinszustände nicht mehr voneinander isoliert betrachten, sondern in ihrer konkreten Mannigfaltigkeit, wie sie in der reinen Dauer ablaufen. Und wie wir uns die Frage vorlegten, was aus der Intensität einer vorstellungsmäßigen Empfindung würde, wenn wir die Vorstellung der äußeren Ursache nicht hineintrügen, so werden wir nun zu untersuchen haben, was aus der Mannigfaltigkeit unserer inneren Zustände wird, welche Form die Dauer annimmt, wenn vom Raum, in dem sie sich entfaltet, abstrahiert wird. Diese Frage ist weit wichtiger als die erste. Wenn sich nämlich die Vermengung von Quantität und Qualität auf jede Bewusstseinstatsache für sich genommen beschränkte, würde sie, wie wir gesehen haben, eher Dunkelheiten erzeugen als eigentliche Probleme schaffen. Wenn sie aber auf die ganze Reihe unserer psycho7

Vgl. vor allem Abschnitt 2.2.4, S. 232.

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logischen Zustände übergreift, indem sie in unsere Auffassung von der Dauer den Raum einführt, dann vergiftet sie unsere Begriffe von der äußeren und inneren Veränderung, von der Bewegung und der Freiheit an der Quelle.« 8

Der Essai sur les données immédiates de la conscience präsentiert sich in seiner endgültigen, uns heute vorliegenden Gestalt als eine Auseinandersetzung Bergsons mit der Psychologie seiner Zeit, näherhin mit denjenigen Formen der Psychologie, die aus der Orientierung an den Verfahren der Naturwissenschaft hervorgegangen waren und deshalb glaubten, das menschliche Seelenleben zählend und messend erfassen zu können. Im ersten Kapitel untersucht Bergson die Frage, ob es gerechtfertigt ist, jedem Bewusstseinszustand eine messbare Stärke (Intensität) zuzuschreiben. Diese Betrachtung einzelner Bewusstseinszustände erklärt er in der Überleitung für abgeschlossen, und er skizziert die notwendige Fortsetzung der Untersuchung, indem er daran erinnert, dass Menschen nicht nur über einen einzigen, unveränderlichen Bewusstseinszustand verfügen, sondern ihr Bewusstsein als eine Vielzahl von in beständigem Wechsel begriffenen Zuständen erleben. Das zweite Kapitel setzt dann mit einer Erörterung des Zahlbegriffs ein: »Man definiert die Zahl im Allgemeinen als eine Kollektion von Einheiten oder, präziser ausgedrückt, als die Synthese des Einen und des Mannigfaltigen. Jede Zahl ist nämlich eine Einheit, da man sie sich durch eine einfache Intuition des Geistes vorstellt und ihr einen Namen gibt; doch diese Einheit ist die einer Summe; sie umfasst eine Mannigfaltigkeit von Teilen, die sich getrennt betrachten lassen.« 9

Dans le chapitre qui va suivre, nous ne considérerons plus les états de conscience isolément les uns des autres, mais dans leur multiplicité concrète, en tant qu’ils se déroulent dans la pure durée. Et de même que nous nous sommes demandé ce que serait l’intensité d’une sensation représentative si nous n’y introduisions l’idée de sa cause, ainsi nous devrons rechercher maintenant ce que devient la multiplicité de nos états internes, quelle forme affecte la durée, quand on fait abstraction de l’espace où elle se développe. Cette seconde question est autrement importante que la première. Car si la confusion de la qualité avec la quantité se limitait à chacun des faits de conscience pris isolément, elle créerait des obscurités, comme nous venons de le voir, plutôt que des problèmes. Mais en envahissant la série de nos états psychologiques, en introduisant l’espace dans notre conception de la durée, elle corrompt, à leur source même, nos représentations du changement extérieur et du changement interne, du mouvement et de la liberté. – DI 54 f. | 50 f. | 59 9 On définit généralement le nombre une collection d’unités ou, pour parler avec plus de précision, la synthèse de l’un et du multiple. Tout nombre est un, en effet, puis8

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Man sieht die Verbindung zwischen beiden Themen: Die Frage nach den nicht mehr isoliert betrachteten Bewusstseinszuständen ist die Frage nach der Mannigfaltigkeit der Bewusstseinszustände. Die Zahl wird ins Gespräch gebracht, weil jede Zahl dazu dient, eine gewisse Mannigfaltigkeit zu repräsentieren. Und so trägt denn das zweite Kapitel auch den Titel: »Von der Mannigfaltigkeit der Bewusstseinszustände« (De la multiplicité des états de conscience). Man erkennt aber auch einen thematischen Bruch: Führt uns die Frage nach einer angemessenen Konzeptualisierung der Mannigfaltigkeit von Bewusstseinszuständen in den Bereich der Psychologie, so finden wir uns zu Beginn des zweiten Kapitels in den Bereich der Mathematik sowie – wie sich bald zeigen wird – der mathematischen Naturwissenschaften versetzt. Soll man also sagen, dass sich Bergson im Essai sur les données immédiates de la conscience eigentlich für die Mannigfaltigkeit psychischer Zustände interessiert, dass er aber dann – veranlasst durch die Konzeptionen von Psychologie, mit denen er sich auseinandersetzt – in den Bereich der Mathematik springt und so bereits am Anfang des Kapitels die spätere Entdeckung der Zweideutigkeit vorbereitet? Eine derartige Sicht ist vertretbar, wenn man sich an den Verlauf des Textes hält. Aber man weiß – teils aus den bereits angeführten Briefen, teils aus Hinweisen in späteren Werken Bergsons –, dass der Denkweg, der zu diesem Text geführt hat, ein ganz anderer war. 10 Bergson begann als Anhänger Herbert Spencers. Spencers Philosophie wollte eine evolutionistische sein, aber die Evolution mit den Mitteln der mechanistischen Naturwissenschaft rekonstruieren. Das störte Bergson damals nicht. Wenn er dieser Philosophie überhaupt etwas vorzuwerfen hatte, so schrieb er an Høffding 11, dann nur, dass sie nicht konsequent genug mechanistisch war. Deshalb nahm er sich vor, in seiner Dissertation einige Grundbegriffe, die ihm bei Spencer nicht ausreichend geklärt schienen, näher zu untersuchen. Aber bei der Arbeit an diesem Projekt entdeckte er zu seiner großen Überraschung, dass der Begriff der Zeit mit den Mitteln jener »Philosophie der Wissenschaft« (philosophie des sciences), die ihm vorschwebte,

qu’on se le représente par une intuition simple de l’esprit et qu’on lui donne un nom ; mais cette unité est celle d’une somme ; elle embrasse une multiplicité de parties qu’on peut considérer isolément. – DI 51 f. | 56 | 60 10 Vgl. die sehr übersichtliche Darstellung bei Riquier[2009] 271 ff. 11 Corr. 145

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allein nicht zu klären war. Je weiter er der Sache nachging, desto tiefer verschlug es ihn ins Reich der Psychologie, »für das wir uns bis dahin nicht interessiert hatten« 12. Kurz: Betrachtet man die gedankliche Entwicklung, die Bergson zu dem geführt hat, was er im Essai sur les données immédiates de la conscience darlegt, dann muss man feststellen, dass sein Hauptinteresse einem mathematisch-naturwissenschaftlichen Weltbild 13 galt und dass er gegen seine ursprüngliche Intention zur Beschäftigung mit der Psychologie getrieben wurde. Man hat keinen Anlass, sich für eine (und damit gegen die andere) dieser beiden Perspektiven zu entscheiden. Beide zusammen prägen die Konstellation, die wir gesucht haben, als wir nach der »Mitte im Anfang« fragten. Die anfängliche Konfrontation einer Mathematik, die den für die Naturwissenschaften maßgeblichen Zeitbegriff erarbeitet, mit einer Psychologie, deren Aufgabe – auch wenn sie selbst das gelegentlich anders sieht – die Klärung der inneren Zeiterfahrung sein sollte, ermöglicht Bergson im weiteren Verlauf des Textes die Ausarbeitung eines Begriffs mehrschichtiger Erfahrung, der sich in Formulierungen wie »Doppelaspekt« (double aspect) oder »zwei verschiedenartige Wirklichkeiten« (deux réalités d’ordre différent) zeigen wird. Davon auszugehen, dass Bergsons Abhandlung sich im Spannungsfeld von wissenschaftlicher Zeitmessung und persönlicher Zeiterfahrung ansiedelt, heißt auch, die Frage nach dem Verhältnis Bergsons zu Kant in den Hintergrund zu rücken. Gewiss, wenn Bergson im zweiten Kapitel des Essai sur les données immédiates de la conscience eine Theorie des Raumes und der verschiedenen Formen von Zeit entfaltet, dann ist die Frage, wie sich Bergsons Formen der Mannigfaltigkeit zu Kants Formen der Anschauung verhalten, legitim. Aber schon der Umstand, dass sich Bergson im »Schluss« (Conclusion) seiner Abhandlung nur deshalb zu Kant äußert, weil seine Prüfer das so gewünscht hatten, sollte zu denken geben. 14 Mag die Frage Telle était la question. Nous pénétrions avec elle dans le domaine de la vie intérieure, dont nous nous étions jusque-là désintéressé. – PM 1255 | 4 | 24 13 Si, à la fin de mes études, j’avais eu à opter pour quelque « Weltanschauung », je me serais sans doute tourné du côté de Spencer […]. – Corr. 145 14 Bergson steht damit nicht allein. Als Alfred Fouillée 1890 die von Bergson gelesene und ausführlich rezensierte (Mél. 349 ff.) Abhandlung La genèse de l’idée de temps von Jean-Marie Guyau herausgab, fand er es ebenfalls nötig, in einer Einleitung – pour déblayer en quelque sorte le terrain – erst einmal den Bezug zu Kant herzustellen. – Guyau[1902] XIII 12

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auch legitim sein, so ist doch nicht ausgemacht, dass Bergsons Intuitionen sowie der philosophische Ertrag seines Textes besonders gut sichtbar sind, wenn man von Kants Standpunkt aus auf diesen Text blickt. Aber wenden wir uns, nachdem wir die Ausgangskonstellation geklärt haben, nunmehr dem weiteren Verlauf des zweiten Kapitels zu. Wir werden den Gang der Argumentation zunächst (Abschnitt 4.1.2) in den ersten zwei Dritteln, dann (Abschnitt 4.1.3) im letzten Drittel des Textes untersuchen.

4.1.2 Im Reich der Mathematik: Zahl und Zeit Schritt 1: Bergson beginnt – wir haben es bereits erwähnt – mit einer Betrachtung der Zahl, d. h. desjenigen Mittels, das in der Welt des homo faber und der Wissenschaft dazu dient, die Mannigfaltigkeit von Dingen zu erfassen. Präziser: Die Zahl dient dazu, das zu erfassen, was wir – Bergson folgend – diskrete Mannigfaltigkeit genannt und in Kapitel 3 genauer untersucht haben. Da diskrete Mannigfaltigkeiten solche sind, die durch Projektion in den Raum entstehen, kann die These, die Bergson im ersten Schritt 15 seiner Darlegungen zu beweisen versucht, nicht überraschen: Der Gebrauch der Zahl setzt die Vorstellung vom Raum voraus. Klärung und Beleg der These vollziehen sich in zwei Anläufen. (1a) Die Zahl ebenso wie die Mannigfaltigkeit, die sie repräsentiert, lässt sich als Verbindung von Vielheit und Einheit auffassen. 16 Deshalb kann man jede Mannigfaltigkeit auf zwei Weisen betrachten: Man kann, die Einheit betonend, daran interessiert sein, die gesamte Mannigfaltigkeit mit einem Blick zu überschauen. Damit dies möglich ist, müssen aber sämtliche Elemente zugleich (simultan) in einem wirklichen oder idealen Raum gegeben sein. 17 Man kann aber auch, die Vielheit betonend, die einzelnen Elemente nacheinander durchlaufen, und es scheint, als hätten wir mit dieser Sukzession bereits DI 51–58 | 56–63 | 60–67 Vgl. Anm. 9. 17 Bergson ist sich der Tatsache bewusst, dass sich die Zahlen mit fortschreitender Routine immer mehr zu bloßen Symbolen entwickeln. Ursprünglich erlernt aber wurde das Zählen anhand konkreter Dingmannigfaltigkeiten im Raum, und auch der im Zählen und Rechnen Geübte kann es hin und wieder nötig finden, Zahlen räumlich zu veranschaulichen. 15 16

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gefunden, was wir unter dem Titel der Mannigfaltigkeit psychischer Zustände suchen. Bergson lässt, um seine Überlegungen zu veranschaulichen, eine aus fünfzig Hammeln bestehende Herde aufmarschieren: »Entweder fassen wir [die Hammel] alle im selben Bild zusammen, und dann müssen wir sie in einem idealen Raum nebeneinander aufstellen; oder wir wiederholen fünfzig mal nacheinander das Bild eines einzigen von ihnen, und es scheint in diesem Fall, als wenn die Reihe eher in der Dauer als im Raum ihren Platz habe.« 18

An diesem Text – wie übrigens bereits an der Überleitung vom ersten zum zweiten Kapitel 19 – fällt auf, dass Bergson von Anfang an das Wort »Dauer« (durée) benutzt. Orientiert man sich an den gängigen Darstellungen, würde man erwarten, dass Bergson mit der Erörterung des traditionellen Zeitbegriffs beginnt, die Zeit als Mischphänomen entlarvt, die Merkmale der nach seiner Auffassung wahren Verlaufsform herausarbeitet und für diese schließlich die Bezeichnung »Dauer« vorschlägt. Dass er so nicht vorgeht, heißt: Bergson erhebt nicht den Anspruch, etwas bisher gänzlich Unbekanntes einzuführen. Die Worte »Zeit« und »Dauer« kommen in der Alltagssprache des homo faber ebenso vor wie in der Sprache der Wissenschaft. Dort greift Bergson sie auf 20, stellt allerdings fest, dass ihr Sinn teilweise ungeklärt ist. Damit hängt ein zweites, nicht nur für die zitierte Passage, sondern für das gesamte Kapitel charakteristisches Merkmal zusammen: Bergson stellt alle angeführten Meinungen und Thesen erst einmal unter Vorbehalt. Das betrifft verständlicherweise die Meinungen über Zeit und Dauer, die er aus dem alltäglichen bzw. wissenschaftOu nous les comprenons tous dans la même image, et il faut bien par conséquent que nous les juxtaposions dans un espace idéal ; ou nous répétons cinquante fois de suite l’image d’un seul d’entre eux, et il semble alors que la série prenne place dans la durée plutôt que dans l’espace. – DI 53 | 57 | 61 19 Vgl. Anm. 8. 20 Vgl. etwa DI 77 | 86 | 88: Les traités de mécanique ont soin d’annoncer qu’ils ne définiront pas la durée elle-même, mais l’égalité de deux durées […]. – Vor allem aber wird man anzunehmen haben, dass Bergson – wie Heidegger – Newtons berühmte Definition kannte, in der »Dauer« als Synonym von »Zeit« deklariert wird: »Die absolute, wahre und mathematische Zeit fließt in sich und ihrer Natur gemäß ohne Beziehung auf irgend etwas Äußeres gleichmäßig. Sie wird mit einem anderen Namen Dauer genannt.« (Tempus absolutum, verum et mathematicum in se et natura sua absque relatione ad externum quodvis aequabiliter fluit, alioque nomine dicitur duratio.) – Zitiert nach Heidegger[1995] 109 18

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lichen Denken und Sprechen aufnimmt. Deren erstes Auftreten im Text ist zumeist von einem »es scheint«, »man glaubt« oder »sie bilden sich ein« begleitet. Dadurch werden die betreffenden Ansichten nicht schon als falsch bewertet. Bergson weist lediglich auf den labilen Charakter dieser vermeintlich selbstverständlichen Überzeugungen hin. Von diesem Vorbehalt betroffen sind aber ebenso die Thesen des prüfenden Philosophen. Auch sie werden in der Regel nicht ohne ein hinzugefügtes »es scheint« oder »so ist zu vermuten« eingeführt. Bergson betont dadurch, dass es sich zunächst um eine bloße Idee handelt, die noch der Überprüfung bedarf. Fordert schon dieses Wechselspiel von unter Vorbehalt aufgenommenen Meinungen und mit Vorbehalt ausgesprochenen Thesen einen sehr aufmerksamen Leser, so wird das Geflecht der Argumentation dadurch noch komplexer und subtiler, dass Bergson zur Entscheidung der jeweiligen Geltungsansprüche nicht einfach Sachverhalte anführt. Weil er sich des Umstands bewusst ist, dass es keine reinen, sondern nur bereits interpretierte Sachverhalte gibt, werden selbst diese noch mit einem kleinen Fragezeichen versehen. Eine bestimmte Beobachtung erweist eine gängige Meinung nicht einfach als falsch, sondern sie »müsste in uns Zweifel wecken«. Eine Beobachtung, die den Philosophen dazu zwingt, seine anfängliche These einzuschränken oder zu modifizieren, kann als Aussage (»Und doch ist […].«), ebenso aber auch als Frage (»Und doch ist […]?«) formuliert sein. Kurz: Der Text erweist sich als Jonglieren mit einer zunehmenden Zahl von Kugeln, nicht als Deduktion der Wahrheit über die Dauer aus einem feststehenden Prinzip. »Es scheint« also, als erfolge das Betrachten der Gesamtzahl im Raum, das Durchlaufen der einzelnen Elemente dagegen in der Dauer, und als hätten wir auf diese einfache Weise bereits den Zugang zur Dauer gefunden. Indessen ist in diesem Fall kein langes Abwägen erforderlich. Bergson weist eine derartige Auffassung sofort zurück: Das sukzessive Betrachten der einzelnen Elemente bietet zu jedem beliebigen Zeitpunkt nur ein einziges, isoliertes Element dar, ermöglicht also für sich allein kein Zählen. Damit man über das Repetieren der Eins hinaus- und zum Erfassen einer Summe gelangt, muss man die bereits betrachteten Elemente irgendwo nebeneinanderstellen, und dieses Irgendwo kann wiederum nur ein wirklicher oder idealer Raum sein. Folglich spielt sich nicht nur das Betrachten der Gesamtmenge, sondern auch das Zählen der einzelnen Elemente im Raum ab. (1b) In einem zweiten Anlauf klärt Bergson das Verhältnis von 440 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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Zahl und Raum weiter, indem er die Begriffe der Einheit und der Vielheit näher untersucht, auf die man zurückgreift, wenn man das Wesen der Zahl beschreiben will. Jede Zahl n lässt sich als eine aus n elementaren Einheiten bestehende Menge auffassen, die ihrerseits als Einheit betrachtet wird. »Es scheint demnach«, dass wir das Wort »Einheit« in zweierlei Sinn verwenden. Einerseits nämlich kann es die »definitive« Einheit der nicht zusammengesetzten und daher auch nicht teilbaren Elemente bezeichnen, andererseits die »provisorische« Einheit der Summe, die aus einer Vielheit zusammengesetzt und somit auch wieder teilbar ist. Nun trifft es zwar zu, dass wir im Hinblick auf die elementaren Einheiten »an Unteilbares zu denken glauben«, aber eine einfache Überlegung zeigt, dass jedes Element – wie Bergson sich ausdrückt – »objektiviert«, d. h. als selbständiges Ding im Raum betrachtet werden kann und dass es als solches auch seinerseits beliebig teilbar ist. Damit kehrt sich die anfängliche Charakterisierung um, insofern gerade die vermeintlich definitive Einheit des Elements sich nun als provisorisch erweist, und es zeigt sich einmal mehr, dass die Zahlvorstellung in all ihren Aspekten mit dem Raum verbunden ist. Aber dieser zweite Anlauf liefert nicht nur eine Bestätigung des bereits zuvor ermittelten Resultats, sondern auch neue Aspekte. Genauer: Er präsentiert zwei Risse. Zum einen tut sich nun ein Riss zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven auf. Bisher konnte man ja glauben, die Zahl sei einfach die Repräsentation einer in der Wirklichkeit gegebenen Mannigfaltigkeit. Findet man zwanzig Hammel vor, dann schreibt man »20«, findet man fünfzig vor, dann schreibt man »50«. Indem nun aber deutlich wird, dass das Zählen nur möglich ist, wenn man (a) bestimmte Gegebenheiten durch einen geistigen Akt als provisorische Elementareinheiten auffasst und (b) durch einen weiteren geistigen Akt die einzelnen Elementareinheiten zu einer Summe zusammenfasst, erweist sich diese naive Auffassung als nicht haltbar, und es ergibt sich die Notwendigkeit, »den Anteil des Subjektiven und Objektiven genau zu bestimmen«. Die Behauptung, die elementaren Einheiten seien unteilbar, ist ja nur dann falsch, wenn man sie auf den Bereich des Objektiven – die Dinge im Raum – bezieht. Sie hat dagegen einen plausiblen Sinn, wenn man sie auf den Bereich des Subjektiven – in diesem Fall: den Akt, durch den der Geist die elementaren Einheiten konstituiert – bezieht. Sodann zeigt sich ein Riss zwischen der Mathematik (arithmétique) und dem gesunden Menschenverstand (sens commun), wie er 441 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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gemeinhin im lebensweltlichen Alltag auftritt. Es ist dieser gesunde Menschenverstand, der »ziemlich geneigt« ist, die Zahl aus unteilbaren Einheiten zu konstruieren, und es ist die Mathematik, die ihm widerspricht, indem sie zeigt, dass es sich auch bei den elementaren Einheiten um Gegebenheiten im Raum handelt. Diese Differenz führt Bergson – was erstaunlich genug ist – darauf zurück, dass der gesunde Menschenverstand »seine Aufmerksamkeit mehr auf seine Akte als auf das Material richtet«, während die Mathematik »unsere Aufmerksamkeit auf dieses Material« im Raum hinüberlenkt und sich auf die Betrachtung des räumlichen Materials beschränkt. Freilich gilt auch, dass die Mathematik dies nicht zuwege bringen könnte, wenn nicht das Alltagsdenken, aller Beachtung des geistigen Aktes zum Trotz, auch seinerseits die Zahl immer schon im Raum konstruieren würde. Die Mathematik schafft keine neue Sicht, sondern betont nur – ebenso konsequent wie vereinseitigend – einen Aspekt dessen, was im Alltagsdenken als ungeklärte Mischung vorliegt. Kurz: Was sich hier vorbereitet, ist die These vom gemischten Charakter der lebensweltlichen Zeit. Schritt 2: Wenn man will, kann man sagen, dass Bergson im zweiten Kapitel des Essai sur les données immédiates de la conscience ein Gespräch zwischen drei Personen 21 beschreibt, dass aber im bisher beschriebenen Verlauf des Gesprächs nur zwei von ihnen zu Wort gekommen sind: Ein Vertreter der vorwissenschaftlichen Lebenswelt hat einige Positionen des gesunden Menschenverstandes vorgetragen, und ein Mathematiker hat diese Meinungen aus seiner Sicht korrigiert. Und wenn man will, kann man weiterhin sagen, dass nun 22 ein Philosoph in das Gespräch eingreift. Er erhebt gegen das bisher Diskutierte keine direkten Einwände, weist aber auf eine Beschränkung hin bzw. vollzieht eine für den weiteren Verlauf der Erörterung entscheidende Erweiterung des Blickfelds. Wenn man nämlich zuIch folge in diesem Abschnitt der Ansicht Camille Riquiers, dass Bergson nicht nur zwei (temps und durée), sondern drei Zeitvorstellungen unterscheidet: [1] die mathematische Zeit, die eigentlich nur Raum ist (le temps mathématique comme espace pur), [2] die lebensweltliche, aus Raum und Dauer gemischte Zeit (le temps homogène comme mixte d’espace et de durée) sowie [3] die wirkliche Zeit als reine Dauer (le temps réel comme durée pure). – Vgl. Riquier[2009] 276–295 – Man hat es demnach in Bergsons Text mit drei verschiedenen Positionen im Hinblick auf den Zeitbegriff zu tun. Die Fiktion dreier Personen als deren Repräsentanten stammt dagegen von mir [C. K.]. 22 DI 58–62 | 63–68 | 67–71 21

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gesteht, dass sich jedes Zählen im Raum abspielt, dann wird man auch zu der Einsicht kommen, dass – und nun folgen zwei verschiedene Fassungen seiner These: Die erste, schwächere Fassung der These besagt, dass »sich nicht alle Dinge auf die gleiche Weise zählen lassen«. Die zweite, stärkere Fassung lautet dann, dass es Dinge gibt, die man zählen kann, und solche, die man nicht zählen kann, wobei freilich hinter diese stärkere These sofort ein Fragezeichen gesetzt wird: »so scheint es a priori«. Was sind das nun für »Dinge«, die sich nicht zählen lassen? Die extreme Antwort lautet, dass es sich dabei um »rein affektive Seelenzustände« handelt, d. h. um solche, die sich nicht als Repräsentation von Dingen im Raum begreifen lassen. Aber man muss gar nicht so weit gehen. Es genügt, Wahrnehmungen zu betrachten, die nicht auf dem Sehen oder Tasten beruhen, also etwa solche des Gehörs. Man wird nicht sagen wollen, dass Gehörswahrnehmungen ganz und gar ungegenständlich sind, und doch ist klar, dass Gehörtes nicht im gleichen Sinne räumlich ist wie Gesehenes, so dass die Möglichkeit des Zählens in diesem Bereich zumindest nicht evident ist. Verweilen wir einen Moment an dieser Stelle, an der Bergson einen veritablen Paradigmenwechsel vollzieht. Die gesehenen Hammel, Soldaten oder Kugeln rücken in den Hintergrund. Ihre Rolle übernimmt der Gehörseindruck einer in der Ferne schlagenden Kirchturmuhr. Dieses Beispiel aus dem Bereich des Hörens durchzieht das ganze zweite Kapitel. Mehr noch: Das Hören bleibt auch in den späteren Werken Bergsons prägend, ja es ersetzt in der gesamten Lebensphilosophie das Sehen als den philosophisch relevantesten Sinn. 23 Der Grund dafür ist nicht schwer zu erkennen, wenn man all das überblickt, was wir in früheren Kapiteln angedeutet und im bisherigen Verlauf dieses Kapitels mit der uns im Moment möglichen Deutlichkeit ausgesprochen haben: Eine Philosophie, die sich primär auf das Sehen mit seiner engen Bindung an den homogenen dreidimensionalen Raum stützt, kann nur zu einer Philosophie der Gegenständlichkeit werden. Eine Philosophie, die die Gegenständlichkeit – oder jedenfalls: die Beschränkung auf die reine Gegenständlichkeit – überwinden will, wird deshalb daran interessiert sein, nach einem anderen Leitbild zu suchen, und dafür bietet sich das Gehör als ein ungegenständlicher, dennoch äußerst differenzierter und sogar kultuVgl. Abschnitt 5.3.3.1, S. 655, über die Bedeutung der Musik in Bergsons Philosophie.

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rell zu verfeinernder Sinn an. Kurz: Der Paradigmenwechsel vom Sehen zum Hören kann als erster entscheidender Schritt auf dem Weg zu einer Philosophie gelten, die eine mehrschichtige Erfahrung zulässt und der – nach all den im Ansatz steckengebliebenen Bemühungen, die wir in Kapitel 3 untersucht haben – endlich der Durchbruch zu einer wahrhaft hermeneutischen Philosophie gelingt. Nun bemerkt man freilich sofort, dass der Philosoph, der darauf hinweist, dass es neben dem Räumlichen, ohne Zweifel Zählbaren in unserer Erfahrung noch andere, nicht-räumliche Elemente gibt, den Gesprächsfaden nicht abschneiden will, denn er schlägt als Beispiel, auf das sich die weitere Betrachtung stützen soll, nicht irgendwelche diffusen Geräusche vor, sondern »Schritte auf der Straße« oder »die sukzessiven Schläge einer entfernten Glocke«. Mit der Wahl dieser rhythmisch strukturierten Geräusche nimmt er auf das unmittelbar zur Diskussion stehende Thema des Zählens ebenso Rücksicht wie auf die leitende Frage nach einer angemessenen Beschreibung der zeitlichen Folge verschiedener psychischer Zustände. Dadurch ermutigt er einen seiner Gesprächspartner – sagen wir: den Vertreter des gesunden Menschenverstandes – zu einem Einwurf, dessen Formulierung bemerkenswert ist: »Und dennoch zählt man Gefühle, Empfindungen und Vorstellungen?« Das ist eigentlich eine Aussage, die denn auch an späterer Stelle mit ganz ähnlichen Worten noch einmal als Aussage formuliert, hier aber mit einem Fragezeichen abgeschlossen wird. 24 Es handelt sich also um eine Mischung aus einem Hinweis auf etwas, das faktisch geschieht, und einer so allgemeinen Frage, dass sie sich nicht recht in Worte kleiden lassen will: Was sollen wir denn nun mit diesem Befund anfangen? Sollen wir leugnen, dass psychische Zustände gezählt werden? Sollen wir es zwar nicht leugnen, aber als verfehlt zurückweisen? Oder ist ein derartiges Vorgehen am Ende sogar berechtigt? Der Philosoph bestreitet im Hinblick auf sein Beispiel nicht, dass Menschen die Schläge der Turmuhr zählen: »Sie reihen die sukzessiven Töne in einem Idealraum aneinander und bilden sich ein, sie zählten dann die Töne in der reinen Dauer.« Diese Feststellung geht

Pourtant on compte des sentiments, des sensations, des idées, toutes choses qui se pénètrent les unes les autres et qui, chacune de son côté, occupent l’âme tout entière ? – DI 60 | 66 | 70 – Il est vrai que nous comptons les moments successifs de la durée, et que, par ses rapports avec le nombre, le temps nous apparaît d’abord comme une grandeur mesurable, tout à fait analogue à l’espace. – DI 70 | 78 | 80

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noch nicht über das in Schritt 1a Gesagte hinaus, aber das neue Paradigma erlaubt eine Weiterentwicklung, weil wir solche rhythmischen Höreindrücke auf zwei Weisen wahrnehmen können: Man kann die sukzessiven Glockenschläge entweder als Einheit aufnehmen, und dann werden sie dem Hörer wie ein Rhythmus, wie eine Melodie, wie eine (akustische) Gestalt, kurz: wie Musik erscheinen – aber dann zählt man nicht, sondern erfasst einen qualitativen Gesamteindruck. Oder aber man nimmt sich bewusst vor, sie zu zählen, – aber dann zerstört man den qualitativen Gesamteindruck, projiziert das Wahrgenommene in ein homogenes Medium und stellt die mathematische Frage nach der Anzahl distinkter Schläge. Bezogen auf das Beispiel, ist also dies die Alternative: Melodie oder Zahl, Musik oder Mathematik. Versucht man nun, die Alternative von dem konkreten Beispiel abzulösen, sie allgemeiner zu formulieren, dann gelangt man zu der entscheidenden Einsicht, mit der Bergson das Raumdenken des homo faber überschreitet: »Daraus ergibt sich zuletzt, dass es zweierlei Mannigfaltigkeiten gibt: die der materiellen Gegenstände, die unmittelbar eine Zahl bildet, und die der Bewusstseinsvorgänge, die den Zahlenaspekt nur durch Vermittlung einer symbolischen Vorstellungsweise erlangen kann, bei der notwendigerweise der Raum eine Rolle spielt.« 25

Hier werden gleich zwei Thesen miteinander verschränkt. Die erste besagt, dass es neben der distinkten Mannigfaltigkeit, die der Vertreter des gesunden Menschenverstands und der Mathematiker als Repräsentant der Naturwissenschaften ausschließlich betrachtet und die ja auch wir im dritten Kapitel in den Mittelpunkt gestellt hatten, noch eine andere Mannigfaltigkeit gibt, von der wir bisher nicht sehr viel mehr wissen, als dass sie sich durch eine Melodie – oder vielmehr: durch unser Erfassen einer Melodie als Melodie – besonders gut veranschaulichen lässt. Die zweite These beantwortet die Frage nach der Zählbarkeit und klärt zugleich, was es mit der zu Beginn dieses Schrittes ins Gespräch gebrachten stärkeren bzw. schwächeren Fassung der These des Philosophen auf sich hat. Die stärkere Fassung nämlich gilt, insofern man sagen muss, dass Melodien oder Bewusstseinsverläufe zwar Mannigfaltigkeiten, dass deren Elemente aber als D’où résulte enfin qu’il y a deux espèces de multiplicité : celle des objets matériels, qui forme un nombre immédiatement, et celle des faits de conscience, qui ne saurait prendre l’aspect d’un nombre sans l’intermédiaire de quelque représentation symbolique, où intervient nécessairement l’espace. – DI 59 | 65 | 68

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solche nicht zählbar sind, weil es zwischen ihnen keine klaren Grenzen gibt. Gleichwohl trifft auch die schwächere Fassung zu, die ja besagte, dass die Elemente der unterschiedlichen Mannigfaltigkeiten nicht auf die gleiche Weise gezählt werden, weil wir distinkte Mannigfaltigkeiten unmittelbar, nicht-distinkte Mannigfaltigkeiten dagegen mittelbar zählen können. Wir können uns nämlich von jeder nicht-distinkten Mannigfaltigkeit eine symbolische Vorstellung im Raum bilden. Wir legen dann gleichsam, wann immer ein neuer Ton der Melodie erklingt, eine Murmel oder ein Holzstäbchen auf den Tisch. Was wir am Ende vor uns haben, hat zwar – qualitativ betrachtet – mit der Melodie nicht mehr viel zu tun, erlaubt uns aber, deren Töne zu zählen. Es trifft also nicht nur zu, dass Bewusstseinszustände faktisch gezählt werden. Es lässt sich auch erklären, wie das möglich und bis zu welchem Grade es gerechtfertigt ist. Zurückzuweisen ist einzig und allein die Meinung derjenigen, die »sich einbilden, sie zählten die Töne in der reinen Dauer« selbst. Das, was sich in Wahrheit abspielt, spielt sich nicht in einer einzigen Schicht, sondern in zwei verschiedenen Schichten ab, nämlich einerseits in der Schicht der nichtdistinkten Mannigfaltigkeit, andererseits in der Schicht der räumlichen Repräsentation. Und man sieht, was man hier vor sich hat: die Wurzel von Bergsons Theorie der Symbolismen. Schritt 3: Nun sind Mannigfaltigkeiten mehr als nur disparate Vielheiten, weil ihre Elemente sich in einem gemeinsamen Medium vereinigen. Insofern ist es nachvollziehbar, wenn am Ende des zweiten Schritts die Auffassung formuliert wird, eine weitergehende Klärung des Unterschieds zwischen den beiden Mannigfaltigkeitstypen werde nur durch eine Untersuchung des Raumes, der Zeit und der Beziehung zwischen diesen beiden Vorstellungen (idées) zueinander möglich sein. Diese erfolgt denn auch im dritten Schritt. Ich überspringe hier aber die Klärung des Raumbegriffs, da die entsprechende Passage bereits in Kapitel 3 diskutiert wurde 26, und halte lediglich das Ergebnis fest: Der Raum ist ein leeres, qualitätsloses und daher homogenes Medium. Die Realität im Raum ist diejenige, »die der menschliche Verstand klar begreift«. Sie »erlaubt uns, klare Unterscheidungen zu vollziehen, zu zählen, zu abstrahieren und vielleicht auch zu sprechen«. Auf dieses Ergebnis kann angesichts des Problems, um das die ganze Diskussion kreist, nur die Frage folgen: Was 26

DI 62–66 | 68–73 | 71–75 – Vgl. Abschnitt 3.2.1, S. 306.

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ist dann die Zeit? 27 Die Erörterung dieser Frage findet wiederum in zwei Anläufen statt. (3a) Die Ausgangsfrage des ersten Anlaufs kann man nicht verstehen, wenn man sich an die Formulierung hält, die Untersuchung des Raumes habe ergeben, dass dieser ein homogenes Medium sei. Bergson formuliert stärker: si l’espace doit se définir l’homogène. Wenn also »der Raum als das Homogene zu definieren ist«, dann versteht man schon besser die sich anschließende Frage, ob der Raum nicht das Homogene schlechthin und somit auch »umgekehrt jedes homogene und unbegrenzte Medium Raum« sei. Der Philosoph formuliert auch gleich die Pointe seiner Frage: Wenn die Homogenität des Mediums auf der vollständigen Abwesenheit aller Qualität beruht, dann »sieht man nicht, wie zwei Formen des Homogenen sich voneinander sollten unterscheiden können«. Diese Frage scheint zwei Antwortmöglichkeiten zuzulassen: Entweder ist die Zeit überflüssig oder aber sie ist kein homogenes Medium. Indessen begehrt nun der gesunde Menschenverstand gegen diese Alternative auf: Man sei sich »darin einig«, dass die Zeit ein vom Raum verschiedenes, aber gleichwohl ebenfalls homogenes Medium darstelle. Der Unterschied liege nach gängiger Auffassung darin, dass das Mannigfaltige im Raum durch Koexistenz, in der Zeit durch Sukzession verknüpft sei. Damit wird das Problem aber nur um eine zusätzliche Frage erweitert: Soll man die gängige Meinung akzeptieren oder zurückweisen? Die Reaktion des Philosophen besteht nun aus einem Dreischritt. (1) Zunächst diagnostiziert er eine Quasi-Identität der gängigen Zeitauffassung mit dem Raum: Wenn man die Zeit als ein homogenes Medium konzipiert, in dem die Bewusstseinszustände ablaufen, dann gibt man sie sich gerade nicht als Ablauf, sondern als – gleichsam stehende – Totalität. Diese Überlegung »müsste uns darauf aufmerksam machen«, dass wir mit einer derartigen Konzeption der Zeit »unbewusst in den Raum zurückfallen« bzw. uns von der Dauer, nach der doch eigentlich gefragt wird, entfernen. (2) Sodann erinnert er daran, dass man sich einig geworden sei, die Sukzession von psychischen Zuständen als eine nicht-diskrete Mannigfaltigkeit zu betrachten. Das aber würde bedeuten, dass das Medium, in dem die psychischen Zustände ablaufen, nichts mit dem Raum, der ja diskrete Einzeldinge

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DI 66–70 | 73–77 | 75–80

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hervorbringt, zu tun hat, sondern eher das Gegenteil des Raumes darstellt. (3) Schließlich erwägt er eine – oder vielmehr: jene berühmte und oft zitierte – Hypothese, mit der sich das Urteil, diese Zeitauffassung sei pure Schizophrenie, vermeiden ließe: »Man hätte sich also die Frage vorzulegen, ob die Zeit, als homogenes Medium, nicht am Ende ein Bastardbegriff ist, der seinen Ursprung dem Eindringen der Raumvorstellung ins Gebiet des reinen Bewusstseins verdankt.« 28

Der auffällige Gegensatz zwischen den starken, fast rabiaten Begriffen (»Bastardbegriff«, »Eindringen«) und der äußerst vorsichtigen Gesamtformulierung (»Man hätte sich also die Frage vorzulegen, ob nicht«) betont, dass man es hier gleichsam mit einer ersten, ebenso unbeholfenen wie zögernden Formulierung eines eben erst hervortretenden, seinen Urheber selbst überraschenden Gedankens zu tun hat. So wird denn diese Position auch erst einmal gar nicht ausgebaut. Vielmehr zieht der Philosoph sie beinahe wieder zurück: »Jedenfalls darf man nicht endgültig zwei Formen des Homogenen, Zeit und Raum, zulassen, ehe man nicht untersucht hat, ob die eine davon sich auf die andere zurückführen lässt.« 29

In der Tat waren Bergson Theorien bekannt, in denen versucht wurde, die Konzeption des Raumes von derjenigen der Zeit abzuleiten. Diese werden nun untersucht. Die Prüfung, der wir hier nicht im Detail folgen wollen, ergibt allerdings, dass ein derartiger Ansatz nicht zu halten ist. (3b) Und so gewinnt denn der Philosoph immer mehr Zuversicht und zunehmendes Vertrauen in seine Idee. Wenn nämlich die These, es gebe zwei gleichermaßen homogene Medien, nicht plausibel zu machen ist, und auch die These, das eine der beiden Medien stelle ein Derivat des anderen dar, nicht überzeugend expliziert werden kann, dann bleibt der Gedanke, bei dem, was wir im gängigen Sprachgebrauch »Zeit« oder »Dauer« nennen, handele es sich in Wahrheit

Il y aurait donc lieu de se demander si le temps, conçu sous la forme d’un milieu homogène, ne serait pas un concept bâtard, dû à l’intrusion de l’idée d’espace dans le domaine de la conscience pure. – DI 66 | 73 | 76 29 De toute manière, on ne saurait admettre définitivement deux formes de l’homogène, temps et espace, sans rechercher d’abord si l’une d’elles ne serait pas réductible à l’autre. – a. a. O. 28

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um ein Gemisch, als einziger noch nicht gescheiterter und somit mindestens eines Versuches würdiger Ansatz übrig. Der Philosoph stellt also fest: »Es sind in der Tat […] zwei Auffassungen von der Dauer möglich, deren eine von jeder Beimischung frei ist, während in die andere unversehens die Raumvorstellung eingeht. Die ganz reine Dauer ist die Form, die die Sukzession unserer Bewusstseinsvorgänge annimmt, wenn unser Ich sich dem Leben überlässt, wenn es sich dessen enthält, zwischen dem gegenwärtigen und den vorhergehenden Zuständen eine Scheidung zu vollziehen.« 30

Man beachte noch einmal, dass Bergsons Terminologie nicht so eindeutig ist, wie viele Darstellungen dies suggerieren. Nicht nur das Wort temps, sondern auch das Wort durée kann eingesetzt werden, um jenes Mischphänomen, mit dem – nach der nun in den Fokus gerückten These – in der vorwissenschaftlichen Lebenswelt operiert wird, zu bezeichnen. Die nicht-räumliche Komponente dieser Mischung heißt dann »wahre Dauer« (vraie durée), »reine Dauer« (pure durée) oder »ganz reine Dauer« (durée toute pure). So etwas wie eine fertig ausgearbeitete Lehre von der wirklichen Zeit oder der reinen Dauer steht damit natürlich noch nicht zur Verfügung. Was allerdings zusammen mit der These von der Zeit als Mischphänomen an Klarheit gewinnt, ist ein Forschungsprogramm. Der Philosoph hatte es an früherer Stelle bereits mit Worten skizziert, die – wie der Satz über das »Bastardphänomen« – gerne zitiert werden: »Wir werden hieraufhin dem Bewusstsein zumuten, sich von der äußeren Welt zu isolieren und vermittels einer starken Anspannung des Abstraktionsvermögens zu sich selbst zu kommen. Dann werden wir ihm die Frage stellen: Hat die Mannigfaltigkeit unserer Bewusstseinszustände die geringste Analogie mit der Mannigfaltigkeit der Einheiten einer Zahl? Hat die wahre Dauer die mindeste Beziehung zum Raum?« 31 Il y a en effet […] deux conceptions possibles de la durée, l’une pure de tout mélange, l’autre où intervient subrepticement l’idée d’espace. La durée toute pure est la forme que prend la succession de nos états de conscience quand notre moi se laisse vivre, quand il s’abstient d’établir une séparation entre l’état présent et les états antérieurs. – DI 67 | 74 f. | 77 31 Nous allons donc demander à la conscience de s’isoler du monde extérieur, et, par un vigoureux effort d’abstraction, de redevenir elle-même. Nous lui poserons alors cette question : la multiplicité de nos états de conscience a-t-elle la moindre analogie avec la multiplicité des unités d’un nombre ? La vraie durée a-t-elle le moindre rapport avec l’espace ? – DI 61 | 67 f. | 71 30

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Das würde heißen, dass die Mannigfaltigkeit der Bewusstseinszustände eigentlich in der Form der wahren Dauer vorliegt, dass deshalb eine mit der Psychologie verbündete philosophische Forschung von allem Räumlichen abzusehen und sich der Erkenntnis eben dieser wahren Dauer zu widmen habe. Eine derartige Auffassung ist mit Sicherheit nicht gänzlich falsch. Und doch scheint auch sie mir nur eine erste, tastende und deshalb unvollkommene zu sein. Jedenfalls findet man in der Conclusion, die den Essai sur les données immédiates de la conscience abschließt, eine kurze Zusammenfassung des zweiten Kapitels, die ein weniger einseitiges Programm erkennen lässt. 32 Sie vollzieht sich in drei Schritten: • Den Ausgangspunkt bildet die These von der lebensweltlichen Zeit als einer aus Raum und Dauer gemischten Form. Im Hinblick auf Bergsons Sprache fällt auf, dass sich in dem Maße, in dem die These sich stabilisiert, auch die Form ändert, in der sie vorgetragen wird. Einerseits verschwindet das vorsichtig Tastende (»Man könnte sich die Frage stellen, ob nicht«). Andererseits aber verschwindet auch der Aspekt des Gewaltsamen und Illegitimen, der sich in der ursprünglichen Wortwahl ausdrückte. Das geschieht im zweiten Kapitel Schritt für Schritt. In der Conclusion ist die Entwicklung abgeschlossen: Aus dem »Bastardbegriff« ist ein »Mischbegriff«, aus dem beinahe kriegerischen »Eindringen« eine friedliche »Endosmose«, d. h. ein langsames Sich-Vermischen, ein Ineinander-Diffundieren zweier anfänglich getrennter Gas- oder Flüssigkeitsmengen, geworden. Freilich bleibt es dabei, dass der Mischbegriff im Grunde ein in sich widersprüchlicher Begriff ist. 33 • In diesen still und unbemerkt verlaufenden Mischungsprozess greifen nun aber die Mathematik und die mathematisch verfahrenden Naturwissenschaften ein. Sie interessieren sich ausschließlich für die »Erforschung der äußeren Dinge«, d. h. der Dinge im Raum. Deshalb nehmen sie eine »Scheidung« (dissociation, also die Gegenoperation zur endosmose) vor, allerdings nicht in der Weise, dass sie nun ein Gesamtbild der Mischung und ihrer Bestandteile zeichnen würden. Vielmehr DI 149 | 171 f. | 169 Ainsi se forme, par un véritable phénomène d’endosmose, l’idée mixte d’un temps mesurable, qui est espace en tant qu’homogénéité et durée en tant que succession, c’est-à-dire, au fond, l’idée contradictoire de la succession dans la simultanéité.

32 33

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handelt es sich um eine »Scheidung zugunsten des Raumes«. Gemeint ist damit das, was in einem Prozess, in dem es um die Scheidung zweier verheirateter Menschen geht, der Anwalt der einen Partei tut: Er erzählt die ganze Geschichte, aber er erzählt sie aus der Perspektive der einen Partei, und er blendet die Perspektive der anderen Partei völlig aus. So auch hier: Mathematik und Wissenschaft reduzieren die Wirklichkeit auf den Raum und das in ihm Vorfindliche. Zwar sprechen sie gelegentlich von »Zeit« oder »Dauer«, aber – was immer damit gemeint sein mag – dies ist jedenfalls nicht die durée toute pure. 34 • »Man wird also diese Scheidung nochmals, aber [diesmal] zugunsten der Dauer vollziehen müssen«, und man wird dies insbesondere tun müssen, wenn man sich der »Erforschung der inneren Phänomene«, d. h. der psychischen Zustände zuwenden und diese als solche – nicht wie Dinge im Raum – betrachten möchte. 35 Diese Fassung des Forschungsprogramms beginnt zwar mit der Zeit als Mischphänomen, sie macht aber zugleich klar, warum der – von uns hier nachvollzogene – Argumentationsverlauf im zweiten Kapitel ein anderer war: Das Mischphänomen bleibt als solches unauffällig und unbemerkt. Erst in dem Moment, in dem die Wissenschaft ihr radikal vereinseitigendes Zeitkonzept ausgearbeitet hat, kann sich die Frage stellen, ob in diesem Konzept noch Platz für psychische Phänomene ist. Die Diskussion musste deshalb ihren Ausgang bei der Position des Mathematikers (verräumlichte Zeit) nehmen. Erst von dieser aus konnte – in Form einer ersten archäologischen Operation – die Position des gesunden Menschenverstandes, d. h. das lebensweltliche Zeitkonzept (Mischung aus Raum und einer »wahren Dauer«) freigelegt werden. Und schließlich konnte erst nach der Sicherung dieses Befundes die Idee einer durch Philosophie und Psychologie zu betreibenden Erforschung dieses Anderen des Raumes entwickelt werden. Dieses Forschungsprogramm ist aber zu verstehen als »Widerstand gegen den Widerstand«, d. h. als methodisch einseitige Reaktion der Philosophie auf die methodisch einseitige Zeitkonzeption

Ces deux éléments, étendue et durée, la science les dissocie quand elle entreprend l’étude approfondie des choses extérieures. […] La dissociation s’opère ici très nettement, et au profit de l’espace. 35 Il faudra donc l’opérer encore, mais au profit de la durée, quand on étudiera les phénomènes internes […]. 34

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der Mathematik. Die Philosophie begreift sich – dabei die Hilfe einer sich selbst verstehenden Psychologie in Anspruch nehmend – zunächst einmal als Anwalt der anderen, bisher noch nicht gehörten Partei, d. h. der reinen Dauer. Dass sie nicht vorhat, sich auf das Erzählen einer anderen, ebenso einseitigen Geschichte zu beschränken, sondern vielmehr auf ein beide Erzählungen vereinendes Gesamtbild hinarbeitet, wird alsbald deutlich werden. (3c) Halten wir aber zuvor noch fest, dass, wenn auch von einer ausgearbeiteten Theorie der Dauer noch nicht die Rede sein kann, die bisherige Diskussion doch einige Gesichtspunkte geliefert hat, die es erlauben, so etwas wie einen Steckbrief der Dauer zu formulieren: »Kurz, die reine Dauer könnte sehr wohl nur eine Sukzession qualitativer Veränderungen sein, die miteinander verschmelzen, sich durchdringen, keine präzisen Umrisse besitzen, nicht die Tendenz haben, sich im Verhältnis zueinander zu exteriorisieren, und mit der Zahl nicht die geringste Verwandtschaft aufweisen: es wäre das die reine Heterogenität.« 36

Die reine Dauer stellt – neben dem Raum – einen zweiten, ganz anders gearteten Typ von Mannigfaltigkeit dar. Im Hinblick auf das in Kapitel 3 37 über den Raum Formulierte lassen sich die folgenden Hinsichten angeben, unter denen die Dauer geradezu als Gegenteil des Raumes zu betrachten ist: • Die Dauer strukturiert das Mannigfaltige nicht als ein Nebeneinander, sondern als ein Nacheinander (Sukzession). • Die Dauer ist nicht quantitativ (als Ausdehnung) strukturiert, sondern als Abfolge qualitativ bestimmter Zustände. • Die einzelnen Zustände sind nicht – wie die Dinge im Raum – von ihren Nachbarn durch scharfe Grenzen getrennt. Vielmehr ist die Dauer durch ein Verfließen, Ineinander-Übergehen und Miteinander-Verschmelzen charakterisiert. Man kann daher im eigentlichen Sinn nicht von »Teilen« der Dauer sprechen. • Die einzelnen Zustände sind daher auch als solche weder zählnoch messbar.

Bref, la pure durée pourrait bien n’être qu’une succession de changements qualitatifs qui se fondent, qui se pénètrent, sans contours précis, sans aucune tendance à s’extérioriser les uns par rapport aux autres, sans aucune parenté avec le nombre : ce serait l’hétérogénéité pure. – DI 70 | 77 | 80 37 Vgl. Abschnitt 3.2.1, S. 306. 36

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Dass – wie Bergson sich ausdrückt – die Dauer »reine Heterogenität« ist, gewinnt seine Bedeutung im Hinblick auf das in Kapitel 3 38 Ausgeführte. Es besagt dann: • Die Dauer ist kein homogenes Medium, innerhalb dessen die Mannigfaltigkeit sich befände. Sie ist überhaupt kein Medium, sondern die Abfolge der Bewusstseinsqualitäten selbst. • Die Dauer ist demnach auch keine symbolische Form, in die das Mannigfaltige hineinprojiziert würde. Sie ist vielmehr Verlaufsform, d. h. die Form, in der sich das Geschehen selbst abspielt. • Allerdings kann das in der Dauer sich Abspielende in eine symbolische Form projiziert werden. Nur ist das dann wieder der Raum. Und aus eben dieser Projektion der Dauer in den Raum entsteht die Mischform der lebensweltlichen Zeit.

4.1.3 Im Reich der Psychologie: Oberflächen-Ich und Tiefen-Ich Akzeptiert man die von Arnaud Bouaniche vorgeschlagene Gliederung des zweiten Kapitels 39, dann kann man sagen, dass es an der Stelle, an der wir unsere Lektüre unterbrochen haben, einen wichtigen Einschnitt im Text gibt. 40 Die erste Hälfte des Kapitels war der Abschnitt 3.2.2, S. 315 DI – | 270–273 | – 40 Dass man das Wort »Einschnitt« in diesem Zusammenhang mit einiger Vorsicht verwenden muss, zeigt sich, wenn man fragt, an welcher Stelle genau der Einschnitt zu lokalisieren ist. Bouaniche findet ihn auf S. 74 | 82 | 84 (En soumettant à la même analyse […]). Mit anderen Worten: Für ihn beginnt das Neue mit der Erörterung des Bewegungsbegriffs. Bergson selbst scheint, wie der Rückbezug auf den vorhergehenden Abschnitt (la même analyse) sowie der analoge Aufbau der beiden Abschnittsüberschriften (La durée est-elle mesurable?, Le mouvement est-il mesurable?) andeutet, den Einschnitt eher auf S. 71 | 79 | 82 (Mais nous éprouvons […]) setzen zu wollen. Dann würde die zweite Hälfte (bzw. – nach Bouaniches Gliederung – der dritte Teil) des Kapitels mit der Frage nach der Messbarkeit überhaupt beginnen. Ich selbst neige zu dieser zweiten Sicht, bin allerdings der Meinung, dass die Frage nach der Messbarkeit durch eine Textpassage vorbereitet wird, die bereits auf S. 70 | 78 | 80 (Il est vrai que nous comptons les moments successifs de la durée, et que, par ses rapports avec le nombre, le temps nous apparaît d’abord comme une grandeur mesurable […]) beginnt und von der man vielleicht sagen könnte, dass sie die Überleitung zwischen der ersten und der zweiten Hälfte des Kapitels bildet. Meine Darstellung verlegt also den Schnitt an diese frühe Stelle. – Einigkeit über die Existenz des Einschnitts bei gleichzeitiger Unfähigkeit, mit dem Finger auf die Stelle zu zeigen, an der er sich befindet: Dieser Widerspruch ist kein Argument gegen die Gründlichkeit der Text38 39

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Aufgabe gewidmet, die These von den drei Formen der Zeit herzuleiten und zu formulieren: Die lebensweltliche Zeit ist eine Mischform. Den einen Bestandteil dieser Mischung – die Zeit als Raum – präparieren Mathematik und Naturwissenschaften heraus. Den anderen Bestandteil – die reine Dauer – zu bestimmen, ist Aufgabe der mit der Psychologie verbündeten Philosophie. In der zweiten Hälfte des Kapitels, schreibt Bouaniche, geht es nun darum, »Konsequenzen der Unterscheidung zwischen Raum und Dauer« zu formulieren, und zwar näherhin Konsequenzen für die Naturwissenschaften 41 auf der einen und für die Psychologie auf der anderen Seite. Dass es zwei – und gerade diese zwei – Gruppen von Konsequenzen gibt, leuchtet ein: Die Naturwissenschaften befassen sich mit den »äußeren« Vorgängen. Die Psychologie befasst sich mit den »inneren« Vorgängen. Wenn nun aber in der alltäglichen, vorwissenschaftlichen Erfahrung »Äußeres« und »Inneres« als Mischung auftreten, dann heißt das, dass weder die Naturwissenschaft noch die Psychologie das reine Material vorfinden, das sie erwarten. Auf beiden Seiten sind demnach begriffliche und methodische Klärungen notwendig. »Konsequenzen der Unterscheidung« – diese Formulierung genügt, um klarzumachen, dass in der zweiten Hälfte des Kapitels nicht das geschieht, was man vielleicht erwarten würde. Die Parole lautet nicht, es sei nun lange genug vom Raum die Rede gewesen, es sei höchste Zeit, dieses Thema endlich abzuhaken, und es müsse endlich darum gehen, die reine Dauer als die wahre Gestalt der Zeit in den Blick zu nehmen. Man wird als Leser bis zum Ende des Essai sur les données immédiates de la conscience, ja man wird auch in den folgenden Werken nicht aus der fundamentalen Komplexität und Ambivalenz der Konstellation entlassen: Ja, Mathematik und Naturwissenschaften sollen den Raum isolieren und dadurch klären. Ja, Psychologie und Philosophie sollen die wahre Dauer isolieren und dadurch klären. Ja, die Mischung aus Dauer und Raum ist ein Widerspruch in sich. Aber: Nein, es kann nicht darum gehen, sich ein- für allemal aus analysen. Er zeigt vielmehr an, dass das Fließen und Verfließen nicht nur die Dauer, sondern auch die Texte Bergsons kennzeichnet. 41 Hier weiche ich ein wenig von Bouaniche ab. Bouaniche spricht von Konsequenzen für den Bewegungsbegriff, während für mich die Frage nach der Messbarkeit überhaupt im Vordergrund steht (vgl. Anm. 40). Die Differenz in der Sache erweist sich freilich als gering, wenn man bedenkt, dass für Bergson die neuzeitliche Naturwissenschaft eine Wissenschaft von der Bewegung ist, und zwar eine solche, die Bewegung nicht aus Konzepten erklärt, sondern sie misst (vgl. Abschnitt 3.3.2.3, S. 388).

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dieser Widersprüchlichkeit zu befreien. Die von Bergson formulierten Abschnittsüberschriften zeigen das deutlich genug: Der wichtigste Abschnitt innerhalb des Teils, der die Konsequenzen der Teilung für die Naturwissenschaften behandelt, trägt die Überschrift: »Dauer und Gleichzeitigkeit« (Durée et simultanéité) 42. Und der wichtigste Abschnitt innerhalb des Teils, der die Konsequenzen für die Psychologie untersucht, ist überschrieben: »Die zwei Aspekte des Ich« (Les deux aspects du moi). Warum ist das so? Letztlich liegt es natürlich daran, dass die Widersprüchlichkeit zum Wesen des Menschen gehört: Einem Wesen, das »zugleich identisch und veränderlich«, mithin ein lebendes und sich entwickelndes Wesen wäre und dem überdies »die Idee des Raumes gänzlich mangelte«, würde sich die Erfahrung in der reinen Dauer – und nur in dieser – darbieten. Wir Menschen aber »sind mit dieser Idee vertraut, stehen sogar in ihrem Banne und tragen sie unbewusst in unsere Vorstellung von der reinen Sukzession hinein«. 43 Das heißt: Der Raum gehört zur Intelligenz und die Intelligenz gehört zum Menschen. Weil aber Erfahrung der reinen Dauer nicht weniger zum Menschen gehört, folgt, dass auch der Zwiespalt, der Gegensatz zwischen beiden wesenhaft zum Menschen gehört. Zunächst einmal wird man allerdings mit einem sehr viel vordergründigeren Hindernis konfrontiert, das die direkte Erforschung der reinen Dauer unmöglich macht und das Verbleiben in der Konstellation Raum–Dauer erzwingt: »Es fällt uns aber unglaublich schwer, uns die Dauer in ihrer ursprünglichen Reinheit vorzustellen; und das kommt zweifellos daher, dass nicht allein wir dauern: Die äußeren Dinge, so scheint es, dauern gleich uns, und die Zeit, von diesem Gesichtspunkt aus gesehen, gewinnt ganz das Aussehen eines homogenen Mediums.« 44

Die Bedeutung des damit angezeigten Problems lässt sich daran erkennen, dass Bergson die Formulierung später noch einmal aufgegriffen und als Titel für seine Auseinandersetzung mit Einstein verwendet hat 43 Telle est sans aucun doute la représentation que se ferait de la durée un être à la fois identique et changeant, qui n’aurait aucune idée de l’espace. Mais familiarisés avec cette dernière idée, obsédés même par elle, nous l’introduisons à notre insu dans notre représentation de la succession pure […]. – DI 68 | 75 | 78 44 Mais nous éprouvons une incroyable difficulté à nous représenter la durée dans sa pureté originelle; et cela tient, sans doute, à ce que nous ne durons pas seuls : les choses extérieures, semble-t-il, durent comme nous, et le temps, envisagé de ce dernier point de vue, a tout l’air d’un milieu homogène. – DI 71 | 79 | 82 42

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»Unglücklicherweise sind wir dermaßen daran gewöhnt, diese beiden Bedeutungen desselben Wortes [Mannigfaltigkeit] eine durch die andere zu erklären, sie sogar schon eine in der anderen zu erblicken, dass es uns unglaublich schwerfällt, sie zu unterscheiden oder wenigstens diese Unterscheidung durch die Sprache auszudrücken.« 45

Der Mensch ist zunächst einmal homo faber, und als solchem eignet ihm eine Sicht auf und eine Form des Verhaltens zur Wirklichkeit, die sich nicht einfach beiseiteschieben lässt. Unser Verhältnis zu unserer eigenen Erfahrung ist durch die Angleichung des Außen und des Innen bestimmt: Die Dinge, so scheint es, weisen – irgendwie – eine der unseren ähnliche Dauer auf, während unsere inneren Zustände sich – irgendwie – so unterscheiden lassen wie äußere Dinge. Und selbst wenn es uns gelegentlich gelingen sollte, aus diesen vorgefertigten Interpretationsmustern auszubrechen, müssten wir feststellen, dass die Sprache, über die wir verfügen, die Wirklichkeit im Raum, aber nicht die Wirklichkeit der Dauer beschreiben kann. Daraus folgt, dass die Vorstellung, man könnte nun eine »Lehre von der Dauer« formulieren, pure Illusion wäre. Der Philosoph könnte sie nicht aussprechen, und der Leser könnte sie nicht, oder jedenfalls nur oberflächlich-intellektuell verstehen (so, wie man zur Kenntnis nehmen kann, dass es nicht-euklidische Geometrien gibt, ohne dass dies irgendwelche Folgen für die persönliche Erfahrung hätte). Die Philosophie muss demnach anders verfahren. Sie kann keine Thesen aufstellen, sondern nur Hindernisse beseitigen. Sie kann keine Lehren formulieren, sondern den Hörer oder Leser nur auf einen Weg bringen, der letztlich zu eigenen Erfahrungen führt. Im dritten Kapitel des Essai sur les données immédiates de la conscience, so schreibt Bergson in der Vorschau, »werden wir uns hauptsächlich mit [dem Problem des freien Willens] beschäftigen. Aber anstatt die Lösung der Frage zu versuchen, werden wir die Täuschung derer aufzeigen, die sie stellen.« 46

Malheureusement, nous sommes si habitués à éclaircir l’un par l’autre ces deux sens du même mot, à les apercevoir même l’un dans l’autre, que nous éprouvons une incroyable difficulté à les distinguer, ou tout au moins à exprimer cette distinction par le langage. – DI 81 | 90 f. | 92 46 De là les sophismes de l’école d’Élée, de là le problème du libre arbitre. Nous insisterons plutôt sur le second poin ; mais au lieu de chercher à résoudre la question, nous montrerons l’illusion de ceux qui la posent. – DI 51 | 55 | 59 45

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14 Jahre später heißt es dann im Kontext von Überlegungen zur Funktion von Bildern und Vergleichen in philosophischen Texten, diese dienten dazu, die Richtung einer notwendigen Denkanstrengung anzudeuten. »Freilich muss das Bewusstsein zu dieser Anstrengung bereit sein. Denn man hat ihm nichts gezeigt. Man hat es lediglich in diejenige Haltung versetzt, die es einnehmen muss, um die beabsichtigte Anstrengung zu vollziehen und um von sich aus zur Intuition zu gelangen.« 47

Mit anderen Worten: Bergsons Philosophie will nicht Lehre sein, sondern – und dies ist nicht die einzige Stelle, an der sich das Wort aufdrängt – Therapie. Therapie in dem geläufigen Sinn, in dem die Psychoanalyse dieses Wort versteht. Therapie in dem zeitweise in Vergessenheit geratenen, aber durch Interpreten wie Pierre Hadot 48 wieder in Erinnerung gebrachten Sinn, in dem die antike Philosophie sich selbst verstand. Therapie aber auch in einem etwas unüblichen Sinn dieses Wortes, in dem man es auf den Ansatz der modernen Pädagogik seit Rousseau beziehen könnte: Nicht darum geht es, dem Schüler eine vorgegebene Form aufzuprägen, sondern darum, Hindernisse aus dem Weg zu räumen, damit er seinen eigenen Weg gehen kann. Schritt 4: Verhält es sich so, dann muss man gerade das ins Auge fassen, gerade das genau untersuchen, was eine solche Bemühung am wenigsten zu verdienen scheint: die Illusionen, die Irrtümer, die Denk- und Erfahrungshindernisse. Nun sind diese aber nicht nur an einem Pol des Spannungsfeldes angesiedelt. Die Vermengung der Dauer und des Raumes »verfälscht unsere Begriffe der äußeren und der inneren Veränderung an der Quelle« 49. So wird verständlich, warum Bergson sich im ersten Teil der zweiten Hälfte des Kapitels 50 zunächst noch einmal der äußeren Realität zuwendet. Die (erste) Formulierung des für diesen Bereich spezifischen Problems hatte ich bereits zitiert: Mais encore faudra-t-il qu’elle consente à cet effort. Car on ne lui aura rien montré. On l’aura simplement placée dans l’attitude qu’elle doit prendre pour faire l’effort voulu et arriver d’elle-même à l’intuition. – PM 1400 | 186 | 188 48 Vgl. insbesondere Hadot[1999] sowie Reale[2004]. In seinem Nachwort zu Hadot [2002] weist der Autor selbst auf ähnliche Denkmotive bei Michel Foucault hin. 49 […] elle corrompt, à leur source même, nos représentations du changement extérieur et du changement interne […]. – DI 51 | 55 | 59 – Hervorhebungen von mir [C. K.]. 50 DI 70–80 | 78–90 | 80–92 47

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»Es fällt uns aber unglaublich schwer, uns die Dauer in ihrer ursprünglichen Reinheit vorzustellen; und das kommt zweifellos daher, dass nicht allein wir dauern: Die äußeren Dinge, so scheint es, dauern gleich uns, und die Zeit, von diesem Gesichtspunkt aus gesehen, gewinnt ganz das Aussehen eines homogenen Mediums.« 51

Während ich aber bei der ersten Bezugnahme auf diese Passage den Akzent auf deren Beginn, d. h. auf die Betonung der Schwierigkeit gelegt habe, wird nun das Ende wichtig, in dem Bergson erklärt, woraus die Schwierigkeit entspringt: Die Vermischung von Raum und Dauer wirkt sich im Bereich der äußeren Wirklichkeit so aus, dass die Dauer in den Raum eindringt und dass infolgedessen die Illusion entsteht, es gebe eine mit der unseren vergleichbare Dauer auch im Bereich der materiellen, im Raum anzutreffenden Dinge, mithin: es gebe so etwas wie eine Dauer im Raum. Diese Illusion ist letztlich dafür verantwortlich, dass wir glauben, wir zählten Dinge in einer als homogenes Medium konzipierten Zeit. Nun könnte man fragen, ob der Aufwand, den Bergson hier treibt, der Sache angemessen ist. Es geschieht ja kein großes Unglück, wenn jemand meint, er zähle die Schläge einer Uhr innerhalb eines homogenen Mediums, das er »Zeit« oder »Dauer« nennt. Wichtig ist doch nur, dass man pünktlich da ankommt, wo man ankommen möchte. Das mag sich in der Tat so verhalten. Bergson aber glaubt zeigen zu können, dass die Vermischung von Raum und Dauer weit mehr betrifft als nur die Frage, ob man Glockenschläge zählen oder als Melodie erfassen soll. Das Problem des freien Willens, das er im dritten Kapitel erörtert, ist ein Beispiel dafür. Kehren wir also zurück zur Kontamination des Raumes mit der Dauer. Will man diese beseitigen, dann muss man klären, was eigentlich die Zeit der Mathematik ist bzw. was die Formel, die Zeit der Mathematik sei nur Raum, bedeuten soll. Anders formuliert: Man muss klären, was die Naturwissenschaften eigentlich treiben, wovon genau sie sprechen, wenn sie von »Zeit« und »Dauer« sprechen. Das heißt nicht, dass die Philosophie die Absicht hätte, sich als Besserwisser aufzuspielen. Wenn die Philosophie es unternimmt, eine – in Kants Sprache geredet – Kritik der mathematischen Zeit durchzuführen, indem sie daraus alles entfernt, was von der reinen Dauer herstammt, dann ist das kein Unternehmen, das man gegen Mathematik und Naturwissenschaften durchführen und durchsetzen müsste. Ma51

Vgl. Anm. 44.

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thematiker und Naturwissenschaftler tun – ob nun bewusst oder unbewusst – seit jeher genau dies. Die Philosophie kann ihre Bemühungen aufnehmen und sich darauf beschränken, deren Tendenz oder deren Sinn zu klären und zur Sprache zu bringen. Das Wesen der mathematischen Zeit bezeichnet Bergson mit dem Wort »Gleichzeitigkeit« (simultanéité). Dessen philosophische Pointe können wir uns durch ein kleines Gedankenexperiment klarmachen, das eben jene Seiten des Essai sur les données immédiates de la conscience nachvollzieht, in dem Bergson laut seiner eigenen Auskunft seine »ursprüngliche Einsicht« formuliert hat 52: • Man beginne mit einer Linie. Im ersten Schritt geht es darum, den Eindruck des Kontinuierlichen, den jede Linie in uns erweckt, zu beseitigen, weil dieser Eindruck auf das Wirken der reinen Dauer zurückzuführen ist. Die mathematische Linie besteht dagegen aus einzelnen Punkten. Zeichnen wir also eine gepunktete Linie, wobei der Abstand zwischen den einzelnen Punkten beliebig groß sein kann. Den mathematischen Grundannahmen (hier: unendliche Teilbarkeit) gemäß lässt sich zwischen zwei Punkten – unabhängig von ihrer Distanz – immer ein weiterer Punkt einfügen. Aber – so lautet Bergsons unermüdlich wiederholtes Argument – dadurch entsteht niemals Kontinuität. • Diese diskontinuierliche Anordnung vermittelt uns einen ersten Eindruck von der mathematischen Zeit. Nun ist aber die mathematische Zeit an den Raum gebunden, und der Raum ist etwas, worin beliebig viele Dinge gleichzeitig angeordnet werden können. Wir müssten also eigentlich eine unendlich breite Linie zeichnen, um das im Raum vorfindliche Mannigfaltige zu berücksichtigen. Eine Linie, die eine Breite aufweist, ist aber eine Fläche. Aus der anfänglichen Linie wird also eine Fläche, und aus den Punkten werden Schnitte durch die Fläche. Jeder derartige Schnitt ergibt eine simultanéité, d. h. eine in einem beliebigen Augenblick gegebene räumliche Mannigfaltigkeit. • Wenn nun Mathematik und Naturwissenschaften von einer »Dauer« sprechen, dann tun sie nichts weiter als (a) eine Simultaneität als deren Anfang und (b) eine andere Simultaneität als deren Ende zu markieren. Dieses Verfahren kann eine gewisse

52

Vgl. Anm. 5.

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Komplexität erreichen. Wenn etwa ein Astronom 53 sagt, dass sich irgendein Himmelskörper – von der Erde aus betrachtet – alle 50 Jahre verfinstert und dass die nächste Finsternis in 20 Jahren stattfindet, dann baut er zwei Serien von Schnitten auf (die Reihe der Verfinsterungen, die Abfolge der Jahre) und setzt diese miteinander in Beziehung. Wie kompliziert die Konstellationen aber auch werden mögen, es gilt: Die Zeit der Mathematik ist nur ein Serie von Schnitten. Mathematik und Naturwissenschaften interessieren sich immer nur für den Anfangs- und den Endpunkt eines Geschehens, aber nicht für das zwischen ihnen liegende Intervall. 54 Als Bergson 1907 L’évolution créatrice publizierte, konnte er einen Vergleich anführen, der ihm 1889 noch nicht zu Gebote stand. Er spricht dort, wie wir bereits wissen 55, von der »kinematographischen Methode«. Mit seinem Hinweis auf die dem Film zugrundeliegende Aufzeichnungstechnik drückt Bergson genau das aus, was er im Essai sur les données immédiates de la conscience mit mathematischen Mitteln darlegt, aber er tut es auf eine sehr viel anschaulichere Weise. Man sieht, wenn man nicht die Projektion, sondern den Film als materiellen Gegenstand betrachtet, unmittelbar die Serie der Bilder, deren jedes einzelne eine Simultaneität darstellt. Und wenn es hier noch zu Einwänden führende Illusionen geben sollte, dann vergrößere man die Abstände zwischen den einzelnen Bildern, indem man sich – was ja nicht schwerfällt – vorstellt, es handele sich um Fotografien und man besitze nur einige wenige, die das Leben einer Person, für die man sich interessiert, dokumentieren. Geht man von diesem Beispiel aus, dann versteht man auch, was Bergson sagen will, wenn er formuliert: Das Leben, das jeder Mensch lebt, spielt sich genau in jenen Intervallen ab, die in den mathematischen Formeln nicht vorkommen. 56 Das Beispiel jener Person, die ein Glas Zuckerwasser trinken möchte, deshalb ein Stück Zucker in das Vgl. dazu Kap. 3, Anm. 24. Das Beispiel der astronomischen Berechnung zeigt, dass Mathematik und Naturwissenschaften sich durchaus für einzelne Zwischenpunkte – hier: die Jahresgrenzen als das Messen ermöglichende Maß-Einheiten – interessieren können, dass sich die Zeitkonzeption aber dadurch nicht im Geringsten verändert. 55 Vgl. dazu Kap. 3, Anm. 179. 56 Mais pour nous, êtres conscients, ce sont les unités qui importent, car nous ne comptons pas des extrémités d’intervalle, nous sentons et vivons les intervalles euxmêmes. – EC 781 | 338 | 341 53 54

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bereits mit Wasser gefüllte Glas wirft und nun ungeduldig darauf wartet, dass der Zucker schmilzt 57, oder das Beispiel des Jägers, der einen Pfeil abgeschossen hat und nun für eine gewisse Zeit die Ungewissheit über den Erfolg seiner Aktion ertragen muss 58, weisen auf eine ganz andere, eine gelebte Zeit hin, für die das Durchleben der Intervalle sowie die damit verbundenen existenziellen Bedeutungen (Warten, Ungeduld, Ungewissheit, Angst) charakteristisch ist. So gesehen, wäre die Dauer als gelebte Zeit das Andere der mathematischen Zeit. Geht es also darum, der Mathematik und der Psychologie ihr je eigenes Gärtlein abzustecken, darum, eine klare Grenze zu ziehen zwischen dem Feld, das Mathematik und Naturwissenschaften, sowie dem, das Psychologie und Philosophie beackern dürfen? Darum kann es gar nicht gehen, weil die Verschränkung von Dauer und Raum, von »Lebenszeit und Weltzeit«, von temps vécu und temps cosmique 59 in der menschlichen Lebenswelt unverzichtbar ist: »Und dennoch vermögen wir selbst die Vorstellung wohlunterschiedener Mannigfaltigkeit nicht zu erzeugen, ohne parallel dazu das, was wir eine qualitative Mannigfaltigkeit genannt haben, in Betracht zu ziehen. Zählen wir ausdrücklich Einheiten, indem wir sie im Raume aufreihen, so vollzieht sich doch gewiss neben dieser Addition, deren identische Termini sich von einem homogenen Grund abheben, in den Tiefen der Seele eine Organisation dieser Vorstellungen untereinander, ein durch und durch dynamischer Prozess, der der rein qualitativen Vorstellung ziemlich analog ist, die ein empfindender Amboss von der wachsenden Zahl der Hammerschläge haben würde.« 60

EC 501, 781 f. | 9 f., 338 | 16, 341 f. DS 1093 | 145 | 109 59 Ich muss mich darauf beschränken, in Form dieser Aufzählung von Formulierungsalternativen auf einige bedeutende Werke hinzuweisen, die die von Bergson im Essai sur les données immédiates de la conscience behandelte Fragestellung aufgenommen und weitergeführt haben (Blumenberg[2001], Ricœur[1985]). Insbesondere Ricœurs Überlegungen zur kalendarischen Zeit als »Brücke zwischen gelebter und kosmischer Zeit« (Ricœur[1985] 190 ff.) weisen eine bemerkenswerte Nähe zu Bergson auf. 60 Et pourtant nous ne pouvons former l’idée même de multiplicité distincte sans considérer parallèlement ce que nous avons appelé une multiplicité qualitative. Quand nous comptons explicitement des unités en les alignant dans l’espace, n’est-il pas vrai qu’a côté de cette addition dont les termes identiques se dessinent sur un fond homogène, il se poursuit, dans les profondeurs de l’âme, une organisation de ces unités les unes avec les autres, processus tout dynamique, assez analogue à la repré57 58

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Wir haben bisher gedankenlos sowohl den Singular wie den Plural des Wortes »Simultaneität« gebraucht. Da sich die Mathematik einzig und allein im Raum abspielt, gäbe es aber eigentlich gar keinen Anlass, einen Plural zu bilden, denn im Raum kann immer nur eine Simultaneität betrachtet werden. Wenn wir es doch tun, dann nur deshalb, weil wir bereits an dieser Stelle die reine Dauer zu Hilfe nehmen, um mehrere, an sich völlig unverbundene Simultaneitäten durch einen geistigen Akt so zu einer Einheit zu verbinden, wie wir mehrere Fotografien, die wir isoliert vor uns liegen sehen, zur Einheit eines Lebens verbinden können. Gegen eine derartige Kooperation ist nichts einzuwenden, sofern anerkannt wird, dass es sich um eine Kooperation, mithin um eine Verschränkung von zwei verschiedenen Schichten unserer Erfahrung handelt. Eine Kritik ist erst dann erforderlich, wenn die Grenzen verwischt werden und die mehrschichtige Erfahrung als einschichtig dargestellt wird. Schritt 5: Die Vermischung von Raum und Dauer wirkt sich, wie wir gesehen hatten, im Bereich der äußeren Erfahrung so aus, dass die Dauer in den Raum eindringt und dass infolgedessen die Illusion entsteht, es gebe eine mit der unseren vergleichbare Dauer auch im Bereich der materiellen, im Raum anzutreffenden Dinge, mithin: es gebe so etwas wie eine Dauer im Raum. Im Bereich der inneren Erfahrung wirkt sich nun die Vermischung so aus, dass der Raum in die Dauer eindringt, so dass die Illusion entsteht, es gebe auch im Bereich des Psychischen einen mit dem der äußeren Wirklichkeit vergleichbaren Raum, mithin: es gebe so etwas wie einen Raum und darin enthaltene Dinge in der Dauer: »Mit einem Wort, unser Ich berührt die Außenwelt mit seiner Oberfläche; unsere sukzessiven Empfindungen behalten, wenn sie ineinander übergehen, etwas von der reziproken Exteriorität bei, die ihre Ursachen objektiv charakterisiert; und aus diesem Grunde spielt sich unser oberflächliches psychisches Leben in einem homogenen Medium ab, ohne dass uns diese Vorstellungsweise viel Mühe kostete. Der symbolische Charakter dieser Vorstellung wird aber immer unverkennbarer, je weiter wir in die Tiefen des Bewusstseins eindringen: das innere Ich, das da fühlt und sich leidenschaftlich erregt, das da abwägt und Entschlüsse fasst, ist eine Kraft, deren Zustände und Modifikationen sich aufs innigste durchdringen und eine tiefe Veränderung erfahren, sobald man sie voneinander absondert und in den Raum entfaltet. Da aber dies tiefere Ich mit dem Oberflächen-Ich eine und sentation purement qualitative qu’une enclume sensible aurait du nombre croissant des coups de marteau ? – DI 81 f. | 91 | 93

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dieselbe Person bildet, scheinen notwendig beide auf gleiche Weise zu dauern.« 61

Die Parallelität der Formulierungen verweist auf eine Parallelität der Problemkonstellationen: Wie das Hineintragen der Dauer in den Raum zu der Illusion führt, den Dingen im Raum komme eine der unseren vergleichbare Dauer zu, so führt das Eindringen des Raumes in die innere, psychische Erfahrung zunächst zur Entstehung einer quasi-gegenständlich strukturierten Ich-Schicht und dann zu der Illusion, dieses Oberflächen-Ich dauere gleich dem als kontinuierlicher Prozess sich vollziehenden Tiefen-Ich. Das heißt zunächst einmal, dass die Konstellation, die Bergson uns vor Augen führt, nicht nur aus zwei, im Grunde auch nicht aus drei, sondern aus vier Schichten besteht, die als zwei Paare aufzufassen sind. Unsere Erfahrung der äußeren Realität ist eine zweischichtige, weil wir der räumlich-gegenständlichen Wahrnehmung isolierter Dinge bzw. Dinggruppen (Simultaneitäten) durch einen geistigen Akt eine Schicht unterlegen, die es erlaubt, die Eingeschlossenheit in einer einzigen Simultaneität zu sprengen und Verbindungen zwischen mehreren Simultaneitäten herzustellen. Unsere Erfahrung der inneren Realität ist eine zweischichtige, weil wir über das als reine Dauer sich vollziehende Ich eine Schicht legen, die uns dazu dient, das Fließen und Verfließen in einer Weise zu stabilisieren und zu strukturieren, die dem Zerlegen der äußeren Erfahrung in stabile Dinge analog ist. Dies also ist die Konstellation, mit der wir es zu tun haben: Zunächst die Zweischichtigkeit von äußerer Wirklichkeit (Gegenständlichkeit) und innerer Wirklichkeit (Zuständlichkeit), sodann die Aufspaltung jeder dieser beiden Schichten aufgrund des Kontaktes mit der jeweils anderen. En un mot, notre moi touche au monde extérieur par sa surface ; nos sensations successives, bien que se fondant les unes dans les autres, retiennent quelque chose de l’extériorité réciproque qui en caractérise objectivement les causes ; et c’est pourquoi notre vie psychologique superficielle se déroule dans un milieu homogène sans que ce mode de représentation nous coûte un grand effort. Mais le caractère symbolique de cette représentation devient de plus en plus frappant à mesure que nous pénétrons davantage dans les profondeurs de la conscience : le moi intérieur, celui qui sent et se passionne, celui qui délibère et se décide, est une force dont les états et modifications se pénètrent intimement, et subissent une altération profonde dès qu’on les sépare les uns des autres pour les dérouler dans l’espace. Mais comme ce moi plus profond ne fait qu’une seule et même personne avec le moi superficiel, ils paraissent nécessairement durer de la même manière. – DI 83 | 93 | 94 f.

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Dass wir der Illusion erliegen, das Ich stelle nur eine einzige Schicht dar und es vollziehe sich vollständig in der Dauer, heißt sodann, dass die Aufgabe des abschließenden Teils des hier von uns betrachteten Kapitels darin bestehen muss, die Zweischichtigkeit des Ich herauszuarbeiten. Dies geschieht in der Tat in auffälliger, um nicht zu sagen: aufdringlicher Weise. Ich hatte bereits auf die Abschnittsüberschrift »Die zwei Aspekte des Ich« (Les deux aspects du moi) hingewiesen. Deren Kern wird im Text aufgenommen in Gestalt des nicht nur in diesem Abschnitt, aber in diesem Abschnitt doch gehäuft auftretenden Begriffs »Doppelaspekt« (double aspect). Diesen noch etwas abstrakt bleibenden Begriff konkretisiert Bergson weiter durch die Parallelbegriffe des Oberflächen-Ich (moi superficiel) und des Tiefen-Ich (moi fondamental). Selbst in den Untersuchungen einzelner Details bleiben beide Begriffe aufeinander bezogen, weil sie sich nur in ihrer Gegensätzlichkeit klären lassen. Und schließlich mündet das Kapitel in die These von zwei ganz unterschiedlichen Arten der Psychologie, auf die wir gleich eingehen werden. Wenn nun aber das Ich wesentlich und eigentlich Tiefen-Ich – mithin: reine Dauer – ist, wie kommt es dann eigentlich zur Entstehung des Oberflächen-Ich? Dass dies durch das Eindringen des Raumes in den Bereich der inneren Erfahrung geschieht, ist eine Auskunft, die uns hilft, ein Strukturmodell aufzubauen, die aber weder den Anlass noch den Hergang aufklärt. Indessen kennen wir die Antwort im Grunde schon aus den vorhergehenden Kapiteln: Der Mensch ist als nicht isoliertes, sondern in einer Welt lebendes Wesen homo faber, homo socialis und homo loquens. Als homo faber stabilisiert er nicht nur die Dinge im Raum, sondern neigt auch dazu, seine Bewusstseinszustände an ihre »objektiven Ursachen« zurückzubinden: Hört man eine Reihe von Hammerschlägen, stellt man sich automatisch einen Hammer und einen Amboss vor. 62 Als homo socialis ist er genötigt, konventionelle, starre und unpersönliche – das heißt: nicht eigentlich seiner Person zugehörige – Verhaltensmuster zu übernehmen, die – wir kennen dieses Bild bereits – sein flüssiges Ich bedecken »wie welke Blätter das Wasser eines Teichs« 63. Als homo loquens zwängt er seine fließende, unentwegt sich verwandelnde Erfahrung in die starren Schablonen der Wortsprache: Obwohl ein Ge62 63

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schmack oder ein Geruch, der mir als Kind gefiel, mir heute zuwider ist, verwende ich heute noch das gleiche Wort wie damals. 64 Der Kontakt mit der Welt der Dinge im Raum, das Leben in der Gemeinschaft und der Gebrauch der Sprache bewirken demnach gemeinsam die Herausbildung eines Oberflächen-Ich, das stabil, strukturiert und vorhersagbar ist – ein Oberflächen-Ich, das demnach auch die Bezeichnung »soziales Ich« verdient. 65 Damit ist klar, dass es, wie zuvor im Hinblick auf die äußere, so nun auch im Hinblick auf die innere Erfahrung nicht darum gehen kann, den in der Lebenswelt agierenden Menschen aus der Verschränkung von Dauer und Raum zu befreien. Dass Bergsons Philosophie den Menschen in die Einsamkeit treibe oder dies gar bewusst anstrebe 66, gehört, wie ich in Kapitel 5 zeigen möchte, zu den gewaltigsten Fehleinschätzungen, die man in Bergson-Interpretationen finden kann. Zwar wird sich im nächsten Kapitel herausstellen, dass es nach Bergsons Ansicht noch eine andere Dimension der Gemeinsamkeit gibt als es diejenige der konventionellen Verhaltens- und Sprechmuster ist. Daraus folgt aber nicht, dass er empfiehlt, das Leben in der Gesellschaft zu meiden. Dass der Mensch die Existenz seines Tiefen-Ich meist gar nicht bemerkt, kommt, wie Bergson im Essai sur les données immédiates de la conscience schreibt, daher, »dass unser äußeres und sozusagen soziales Leben für uns eine größere praktische Bedeutung besitzt als unsere innere und individuelle Erfahrung« 67. Und in Le rire fügt er hinzu: »Es ist nötig, dass der Mensch in Gemeinschaft lebt, also muss er sich einer Regel fügen.« 68 Primum vivere. Andererseits muss aber die Philosophie methodisch die Beseitigung der Bindung an die materiellen Dinge, die Beseitigung der konDI 87 | 97 | 98 f. Den Ausdruck moi social verwendet Bergson im Essai sur les données immédiates de la conscience noch nicht, sondern erst in Les deux sources de la morale et de la religion. Das liegt daran, dass die Theorie, die Bergson im Essai entwirft, nur eine Theorie des – wenn auch mehrschichtigen – Bewusstseins ist, aber (noch) keine Theorie des mit der Wirklichkeit auf mannigfaltige Weise verknüpften ganzen Menschen. Es gibt aber im Essai Formulierungen, die zeigen, dass man den Ausdruck moi social unbedenklich in einer Interpretation verwenden darf (vgl. etwa Anm. 67). 66 Vgl. Kap. 2, Anm. 101 und 102. 67 La raison en est que notre vie extérieure et pour ainsi dire sociale a plus d’importance pratique pour nous que notre existence intérieure et individuelle. – DI 86 | 97 | 98 68 Vgl. Kap. 2, Anm. 268. 64 65

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ventionellen Verhaltensmuster, die Beseitigung der durch die Sprache aufgezwungenen Pseudokonstanten betreiben, wenn sie herausfinden will, was die reine Dauer ist. Auch in dieser Hinsicht unterscheidet sich die Analyse der inneren Erfahrung nicht von derjenigen der äußeren Erfahrung. Wie die Struktur der mathematischen Zeit durch Beseitigung sämtlicher Spuren der Dauer aus der gemischten Zeit der Lebenswelt herauspräpariert werden musste, so kann auch die Struktur der reinen Dauer erst zum Vorschein kommen, nachdem alles, was die Schicht des Oberflächen-Ich ausmacht, vollständig abgetragen wurde. Konnten wir sagen, dass die Klärung der Struktur der mathematischen Zeit nur dem zu folgen braucht und mit dem im Einklang steht, was Mathematik und Physik ohnehin tun, so ist die Situation im Bereich der reinen Dauer weniger eindeutig. Klar ist, dass, wenn es einen analogen Satz gibt, dieser heißen müsste: Die Philosophie braucht bei der Klärung der Struktur der reinen Dauer nur dem zu folgen und steht im Einklang mit dem, was die Psychologie ohnehin tut. Aber ein derartiger Satz würde nach Bergsons Auffassung die Realität nicht angemessen beschreiben, weil die Psychologie ebenso gespalten ist wie das Ich. Es gibt eine »grobe und von der Sprache irregeleitete«, eine »oberflächliche« 69 Psychologie, die lediglich das Oberflächen-Ich erforschen will und dieses als so etwas wie eine Ansammlung von fertig vorliegenden Gedanken-Dingen betrachtet. Diese Psychologie, deren paradigmatische Ausprägung für Bergson die Assoziationspsychologie darstellt, ist demnach eine statische Psychologie. Eine ihren eigenen Sinn begreifende Psychologie müsste aber nach Bergsons Meinung zumindest auch eine Forschungsrichtung ausbilden, die er zunächst einmal als eine »aufmerksame(re) Psychologie« 70 bezeichnet. Diese müsste gewisse Formen des Bewusstseins, die »den deutlich sichtbaren Stempel der äußeren Welt tragen, beseitigen«. 71 Sie dürfte nicht nur die Endergebnisse von Denkprozessen zählen und messen, sondern müsste auch in diesem Bereich Ernst mit der Einsicht machen, dass sich das Wesentliche des Lebens in den Intervallen abspielt, die zwischen den zähl- und mess-

une psychologie grossière, dupe du langage – DI 109 | 124 | 124 – psychologie superficielle – DI 92 | 103 | 104 70 psychologie (plus) attentive – DI 85,105 | 95,119 | 97,120 71 la psychologie devrait éliminer ou corriger certaines formes qui portent la marque visible du monde extérieur – DI 146 | 168 | 166 69

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baren Punkten liegen. 72 Sie müsste also ihre Aufmerksamkeit den Prozessen zuwenden, durch die die »Tatsachen des Bewusstseins« erst entstehen. Kurz: Sie müsste eine wahrhaft dynamische Psychologie sein. 73 Erst an das, was eine solche Psychologie triebe, könnte die Philosophie anschließen.

4.2 Drei Lektüren Wir hatten uns zu Beginn des Abschnitts 4.1 die Aufgabe gestellt, das zweite Kapitel des Essai sur les données immédiates de la conscience daraufhin zu befragen, wie sich darin die »Entdeckung der Dauer« vollzieht, und wie sie sich näherhin im Rahmen einer Theorie der mehrschichtigen Erfahrung vollzieht. Diese Lektüre ist in den Teilabschnitten 4.1.2 und 4.1.3 erfolgt. Im hier beginnenden Abschnitt 4.2 werden wir eine Reihe von Lektüren anschließen, deren Gegenstand nicht Texte Bergsons, sondern Interpretationen von Texten Bergsons sind. Dabei handelt es sich um Interpretationen, die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung von besonderer Bedeutung sind, weil sie in irgendeiner Weise die These vertreten, dass Bergsons Philosophie hermeneutische Aspekte aufweist. Zusammengenommen bilden sie also das, was man – mit einigem guten Willen – den »Stand der Forschung« nennen könnte. 74 Kurz: Wir werden uns nun in einer Reihe von Abschnitten zwar mit Texten Bergsons beschäftigen, diese aber gleichsam durch die Brille derjenigen Interpreten betrachten, die wir hier heranziehen. Die uns leitende Frage wird dabei sein, welche hermeneutisch relevanten Aspekte die Interpreten in Bergsons Texten finden. car la psychologie porte sur les intervalles eux-mêmes, et non plus sur leurs extrémités – DI 128 | 147 | 146 73 Mais si, passant de la statique à la dynamique, cette psychologie prétend raisonner sur les faits s’accomplissant comme elle a raisonné sur les faits accomplis, si elle nous présente le moi concret et vivant comme une association de termes qui, distincts les uns des autres, se juxtaposent dans un milieu homogène, elle verra se dresser devant elle d’insurmontables difficultés. – DI 92 | 104 | 105 – Dass, wie in diesem Satz formuliert, der Assoziationspsychologie ein derartiger Übergang von einer statischen zu einer dynamischen Betrachtung misslingen muss, besagt nicht, dass die Forderung, den Übergang durchzuführen, verfehlt wäre, sondern lediglich, dass ein ganz anderer Ansatz, eine andere Art von Psychologie notwendig ist, um ihn erfolgreich durchführen zu können. 74 Vgl. dazu meine Bemerkungen in der Einleitung. 72

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4.2.1 Laurent Fedi: Kraft, Sinn und Geist Wenn wir unsere Lektüren-Serie mit dem 2001 von Laurent Fedi publizierten Aufsatz Bergson et Boutroux, la critique du modèle physicaliste et des lois de conservation en psychologie beginnen, so liegt das daran, dass Fedi den Hintergrund einer Diskussion erhellen möchte, die Bergson im dritten Kapitel des Essai sur les données immédiates de la conscience führt, so dass wir also vorerst noch bei diesem Frühwerk bleiben. Gegenstand der Diskussion ist der Satz von der Erhaltung der Energie. Wir wissen bereits, dass dieses auch als Erster Hauptsatz der Thermodynamik bezeichnete Prinzip zusammen mit dem Zweiten Hauptsatz (Entropie-Prinzip) in L’évolution créatrice erörtert wird 75, und können aus der mehrfachen Wiederkehr schließen, dass es sich um ein für Bergson wichtiges Thema handeln muss. Fedi betrachtet zwar nur das dritte Kapitel des Essai sur les données immédiates de la conscience, jedoch ergibt sich daraus kein Nachteil, weil dieser Text der ausführlichste ist und auch am deutlichsten erkennen lässt, warum Bergson sich für den Energieerhaltungssatz interessiert. Den Kern des Aufsatzes bildet also eine Darstellung, in der Fedi Bergsons Position im Hinblick auf den Energieerhaltungssatz referiert und diese in Bezug setzt zu den Überlegungen verschiedener Zeitgenossen, insbesondere aber zu denjenigen seines Lehrers Émile Boutroux. 76 Dieser Hauptteil wird eingerahmt durch eine Vor- und eine Schlussbemerkung 77, in denen Fedi versucht, den Kontext, der im Hauptteil lediglich als ein Netzwerk von Positionen erscheint, auf den Begriff zu bringen, und hier formuliert Fedi die These, der Kontext, in dem der Essai sur les données immédiates de la conscience zu lesen sei, sei derjenige der Verselbständigung der Geisteswissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 78 Fedis These zielt also nicht direkt darauf ab, Bergson als einen hermeneutischen Philosophen zu präsentieren, sondern darauf, einen Zusammenhang herzustellen zwischen Bergsons Philosophie und den Bemühungen um eine Grundlegung der Geisteswissenschaften. Freilich legt eine derVgl. Kap. 3, Anm. 154. Fedi[2001] 100–116 77 Fedi[2001] 97–100, 116–118 78 Cette filiation [nämlich die Orientierung Bergsons an Boutroux, C. K.] est replacée dans le contexte d’autonomisation des sciences de l’esprit des années 1870 et 1880. – Fedi[2001] 97 75 76

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artige These dann einerseits einen Vergleich zwischen den Intentionen Bergsons und denjenigen Diltheys nahe, andererseits führt sie auf die Frage nach der Methode der Geisteswissenschaften – und in diesem Zusammenhang spricht Fedi dann doch von »Hermeneutik«, »Sinn« und »Verstehen«. 79 Dreierlei dürfen wir also von unserer Fedi-Lektüre erhoffen: (1) Wenn Fedi Bergsons Philosophie in den Kontext der Debatte um die Geisteswissenschaften rückt, so bietet er sich als Kronzeuge an im Hinblick auf unsere eigene, bisher noch auf etwas dürftigem Fundament ruhende These 80, dass Bergson dem Wissen der Naturwissenschaften ein anderes, geisteswissenschaftliches Wissen zur Seite stellen und das Verhältnis dieser Formen des Wissens in einer als Grundlegung verstandenen Philosophie klären will. (2) Wenn Fedi in Bergsons Ansatz eine »hermeneutische Dimension« entdeckt, dann ist zu erwarten, dass dies zu Klärung unserer eigenen These beiträgt. (3) Wenn schließlich Fedi seine These, Bergsons Philosophie sei mit der Grundlegung der Geisteswissenschaften in Verbindung zu bringen, ausgerechnet an der Erörterung eines naturwissenschaftlichen Grundprinzips meint demonstrieren zu können, dann dürfen wir vielleicht damit rechnen, einen konkreten Beleg für unsere eigene, mehrfach ausgesprochene, aber bisher nur allgemein erörterte Ansicht zu erhalten, Bergsons intensive Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften stelle kein Argument gegen die These vom hermeneutischen Charakter seiner Philosophie dar. Freilich sind das schöne Hoffnungen, während der unmittelbar gegebene Eindruck wohl eher so zu beschreiben sein dürfte, dass der Zusammenhang zwischen Bergsons Diskussion des Energieerhaltungssatzes und seiner Teilnahme am Projekt einer Grundlegung der Geisteswissenschaften – gelinde gesagt – nicht unmittelbar ins Auge springt. Wir werden folglich die Frage nach diesem Zusammenhang zur Leitfrage unserer Lektüre machen müssen, und mir scheint, dass man diese Frage am besten in drei Schritten angeht, die uns vom Geltungsanspruch des Energieerhaltungssatzes über Bergsons Kritik des Geltungsanspruchs zu den Konsequenzen seiner Kritik für eine Konzeption der Geisteswissenschaften führen werden. Schritt 1: Es war nicht Fedis Einfall, den Satz von der Erhaltung der Energie mit der Psychologie in Verbindung zu bringen. Diese Ver79 80

Fedi[2001] 116–118 Vgl. Abschnitt 3.3.2.4.2, S. 404.

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bindung findet sich schon im dritten Kapitel des Essai sur les données immédiates de la conscience. Aber es war dies auch nicht eigentlich Bergsons Einfall. Vielmehr reagierte Bergson nur auf die Position derjenigen, die diesen Satz als ein Naturgesetz auffassten und ihm uneingeschränkte Gültigkeit in allen Bereichen der Wirklichkeit zusprachen. Bergson hat, wie wir wissen, die im ersten und zweiten Kapitel durchgeführte Klärung der Begriffe und Methoden als Vorbereitung aufgefasst, die es ihm erlauben sollte, im dritten Kapitel das Problem der Willensfreiheit zu untersuchen, oder vielmehr: deren Möglichkeit zu verteidigen. Die Gegenposition, die die Möglichkeit eines freien Willens bestreitet, kommt zunächst einmal generell in den Blick als »Determinismus«. Indessen wird schnell die Notwendigkeit einer Differenzierung klar: Von einem »physischen Determinismus«, der alle Bewusstseinsphänomene nur als Begleiterscheinungen von vollständig determinierten materiellen Vorgängen betrachtet, ist ein »psychologischer Determinismus« zu unterscheiden, der zwar den Bereich des Psychischen als eigenständig auffasst, innerhalb seiner aber ebenfalls einen strengen Determinismus annimmt. Diesen allgemeinen Positionen ordnet Bergson die naturalistisch-reduktive Psychologie und die Assoziationspsychologie als konkrete Ausgestaltungen zu. Schließlich aber stellt sich heraus, dass beide Positionen letztlich auf der gleichen metaphysischen Grundthese beruhen, dass diese im Satz von der Erhaltung der Energie formuliert ist und dass folglich dieser Satz als der eigentliche Gegner zu gelten hat. Der Satz von der Erhaltung der Energie tritt also bei Bergson als Haupthindernis auf, an dem die Idee der Willensfreiheit scheitert. 81 Dies gilt es zuerst einmal zu verstehen. Der Satz von der Erhaltung der Energie 82 besagt in einer sehr kompakten Formulierung, dass die Energie in einem abgeschlossenen System konstant bleibt. Ein vollständig isoliertes System kann also keine Energie verlieren, aber auch keine erzeugen (daher die Unmöglichkeit des perpetuum mobile). Allerdings kennt die Physik verschiedene Arten von Energie, und das Prinzip lässt es durchaus zu, dass

DI 93–109 | 105–124 | 106–124 In Bergsons Text findet man keine eindeutige Bezeichnung dieses Grundsatzes, sondern Variationen des Schemas X de la conservation de Y, wobei für X die Worte principe, loi oder théorème, für Y die Ausdrücke la force oder l’énergie eingesetzt werden können

81 82

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diese ineinander umgewandelt werden. Daher die präzisere Formulierung: Die Gesamtenergie in einem abgeschlossenen System bleibt konstant. Soll die Möglichkeit der Energieumwandlung ohne Verletzung des Erhaltungsprinzips zugelassen werden, so muss gelten, dass jedem Gewinn auf der einen Seite ein gleich großer Verlust auf der (oder einer) anderen Seite entspricht. Fasst man nun die Veränderung auf der einen Seite als Ursache, diejenige auf der anderen Seite dagegen als deren Folge auf, so gelangt man zu einer Konsequenz, wie sie etwa Leibniz als Prinzip der Äquivalenz von Ursache und Wirkung formuliert hat: Eine gegebene Ursache hat eine ihr in jeder Hinsicht entsprechende Wirkung. 83 Jede Wirkung muss eine ihr entsprechende Ursache haben (Satz vom zureichenden Grunde), aber die Wirkung kann auch das durch die Ursache Bewirkte nicht übersteigen. Nun sind einerseits die Zusammenhänge und Entsprechungen im Allgemeinen ebenso wie in den Einzelheiten durch unveränderliche Naturgesetze geregelt. Andererseits wird angenommen, dass eine Verschiebung zu Lasten der Energieform E1 und zugunsten der Energieform E2 später durch eine Verschiebung in entgegengesetzter Richtung ausgeglichen oder zugunsten von E1 korrigiert werden kann. Die in Lehrbüchern angeführten Beispiele (eine schwingende Glocke, ein Skateboard-Fahrer in einer Halfpipe) unterstellen geradezu ein unendliches Hin und Her. 84 Beide Voraussetzungen zusammengenommen besagen aber, dass die Zeit auf ein solches in sich geschlossenes und durch die Erhaltung des Gegebenen definiertes System keinen Einfluss hat. Trotz aller Verschiebungen, die auftreten können, verändert es sich nicht wirklich. Für ein beharrendes, lediglich durch die Erhaltung der Gesamtenergie definiertes System »bedeutet die Zeit weder Gewinn noch Verlust« 85. Aus der Äquivalenz von Ursache und Wirkung sowie der Unveränderlichkeit des Systems in der Zeit folgt, dass die Wirkungen berechnet – und somit vorhergesagt – werden können, sofern alle Ur[…] l’action est toûjours égale à la reaction et l’effect entier est toûjours equivalent à sa cause pleine. – Leibniz, Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade, § 11 (Leibniz[1982] 16). – Vgl. dazu Fedi[2001] 110 f. 84 Ich klammere hier die Diskussion der Energieverluste durch Reibung, die die empirische Realität so unvorteilhaft vom theoretischen Ideal unterscheiden, aus. 85 […] le temps écoulé ne constitue ni un gain ni une perte pour un système supposé conservatif […]. – DI 102 | 116 | 116 83

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sachen bekannt sind. Auf dem Prinzip der Erhaltung des Gesamtzustands beruht demnach die Wissenschaft, beruht insbesondere auch die Mathematik: Das Manipulieren von Symbolen entspricht den Transformationen innerhalb des Systems. Es würde aber jeglichen Bezug zur Realität und damit jeglichen Sinn verlieren, wenn man befürchten müsste, dass, während man noch rechnet, sich das berechnete System grundsätzlich verändern kann. 86 Schritt 2: Was die äußere Wirklichkeit und die Naturwissenschaften angeht, so beschränkt Bergson sich auf die etwas wolkige Bemerkung, die Bedeutung des Energieerhaltungssatzes »sollte nicht übertrieben werden« 87. Umso entschiedener aber weist er die Versuche des physischen und des psychologischen Determinismus zurück, die darauf abzielen, dem Energieerhaltungssatz auch im Bereich der inneren Erfahrung uneingeschränkte Gültigkeit zu verschaffen. Bergson gesteht zwar zu, dass die im Energieerhaltungssatz zum Ausdruck kommende Auffassung der Wirklichkeit für das Oberflächen-Ich gilt. Im Hinblick auf das Tiefen-Ich jedoch entwirft er einen völlig anders gearteten Typus von Wirklichkeit: • Das menschliche Bewusstsein ist mit dem Prinzip der Äquivalenz von Ursache und Wirkung nicht angemessen zu beschreiben. Menschliches Bewusstsein durchbricht dieses Prinzip immer dann, wenn es auf neue, kreative Weise auf gegebene Umstände reagiert. In diesen Fällen müsste man sagen, dass die Wirkung »größer« ist als die Ursache. Certes, toute opération mathématique que l’on exécute sur une quantité donnée implique la permanence de cette quantité à travers le cours de l’opération de quelque manière qu’on la décompose. – DI 100 | 113 | 114 87 Il ne faudrait pas s’exagérer le rôle du principe de la conservation de l’énergie dans l’histoire des sciences de la nature. Sous sa forme actuelle, il marque une certaine phase de l’évolution de certaines sciences ; mais il n’a pas présidé à cette évolution, et on aurait tort d’en faire le postulat indispensable de toute recherche scientifique. – DI 100 | 113 | 113 f. – Fedi zeigt, dass Bergson mit Boutroux einig war in der Intention, die Geltung des Energieerhaltungssatzes einzuschränken, um die Möglichkeit von Freiheit darzutun, dass aber beide Philosophen ganz unterschiedliche Argumentationsstrategien einsetzen. Boutroux geht davon aus, dass die äußere Wirklichkeit aufgrund der Evolution verschiedene Schichten aufweist, die mit zunehmender Höhe auch ein zunehmendes Maß an Unbestimmtheit (Nicht-Determiniertheit durch die mechanischen Gesetze der Materie) zeigen. Er argumentiert also ontologisch. Bergson dagegen beschränkt sich auf eine Theorie der Selbsterfahrung des Bewusstseins (der inneren Wirklichkeit), zeigt, dass der Determinismus für dieses nicht gilt, lässt aber die Frage, ob es Unbestimmtheit auch in der äußeren Wirklichkeit gibt, (vorerst) offen. 86

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Menschliches Bewusstsein ist nicht unabhängig vom Verlauf der Zeit. Die Zeit stellt für menschliches Bewusstsein sehr wohl einen Gewinn dar. • Da sich menschliches Bewusstsein im Laufe der Zeit verändert, kann es nicht zweimal vollständig gleich auf eine gegebene Situation reagieren. Die Entscheidungen des Bewusstseins und die daraus entspringenden Handlungen sind somit nicht vorhersagbar. Wir wissen, dass das Tiefen-Ich der reinen Dauer entspricht. Um Bergsons Thesen nachvollziehen zu können, müssen wir aber das bisher über die reine Dauer Ausgeführte um zwei neue – oder jedenfalls: um zwei bisher nicht explizit dargestellte – Aspekte erweitern. Man stellt sich, wenn man Bergson liest, die Dauer zunächst meist wie einen Fluss vor. Zahlreiche von Bergson verwendete Bilder und auch Entsprechungen bei anderen Autoren (etwa James’ »Bewusstseinsstrom«) laden dazu ein. Und man stellt sich dann weiter vor, dass man gleichsam am Ufer steht und diesen Strom an sich vorüberziehen lässt. Aber damit verfehlt man das von Bergson Gemeinte. Erinnern wir uns an Bergsons Vergleich der Dauer mit einer Melodie: Gewiss, man hört Musik, indem man die verschiedenen Töne an sich vorüberziehen lässt. Die Musiker spielen zu jedem Zeitpunkt nur einen Ton (oder einen Akkord), und der Hörer hört auch immer nur einen Ton (oder Akkord). Aber so hört man keine Melodie. Eine Melodie erfasst der Hörer erst dann, wenn er (unbewusst) das praktiziert, was Husserl Retention nannte, d. h. ein »Festhalten« der bereits vergangenen Töne. 88 Die zuvor gehörten Töne dürfen also nicht aus dem »Blick« geraten. Sie dürfen weder völlig vergessen, noch als einzelne in irgendeinem Speichermedium abgelegt werden. Sie müssen vielmehr für den Hörer in einem gewissen Sinne präsent bleiben, und zwar so, dass sie sich miteinander zu einer immer komplexer werdenden Gestalt verbinden. Erst diese Gestalt 89 ist eine Melodie. Und wie die Melodie, so spielt sich die Dauer überhaupt ab: •

»Tatsächlich aber organisiert sich jedes Mehr an Reiz mit den vorangegangenen Reizen, und das Ganze macht auf uns den Eindruck einer musikalischen Phrase, die fortwährend im Begriffe steht aufzuhören und sich un-

Husserl[1980] 385 ff. Wenn dem Leser angesichts dieses Wortes die Gestaltpsychologie einfällt, so ist das eine durchaus gewollte Assoziation.

88 89

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ausgesetzt in ihrer Totalität durch das Hinzukommen eines neuen Tons modifiziert.« 90 »Man muss also zugestehen, dass hier eine sozusagen qualitative Synthese vorliegt, eine stufenweise Organisation unserer sukzessiven Empfindungen untereinander, eine Einheit nach Analogie einer melodischen Phrase.« 91

Man ist bei der Lektüre derartiger Textpassagen in beständiger Gefahr, ungeduldig zu werden. Sieben Jahre nach dem Essai sur les données immédiates de la conscience publizierte Bergson Matière et mémoire, und damit eine gründliche Untersuchung des Gedächtnisses. Als heutiger Leser neigt man dazu, die Thesen des späteren Buches in das frühere hineinzulesen. 92 Aber das Gedächtnis (mémoire) spielt im Essai noch keine wesentliche Rolle. Dass das Tiefen-Ich als Dauer sich als Festhalten des Vergangenen sowie als unentwegtes Organisieren, Neu-Organisieren und Umorganisieren der Erfahrungen zu einem übergreifenden Ganzen abspielt, kommt hier in zwei Begriffen zum Ausdruck, die nicht weniger Interesse beanspruchen dürfen: im Begriff »Geschichte« und im Begriff »Charakter«. Beide Begriffe gehören eng zusammen, aber man wird gleichwohl sagen können, dass im Begriff »Geschichte« ein stärkerer Akzent auf der Verlaufsform liegt. »Geschichte« ist – im Gegensatz zu einem weit verbreiteten Vorurteil – ein Wort, das in Bergsons Texten – also nicht nur im Essai, sondern auch in darauf folgenden Werken – recht häufig auftritt. Einschränkend ist allerdings zumindest für die frühen Werke festzustellen, dass es nicht die große Weltgeschichte meint, sondern das, was mit Worten wie »Lebenslauf« oder »Biographie« bezeichnet wird. Geschichte ist persönliche Geschichte (l’histoire de la personne) 93. Das kann auch gar nicht anders sein im Kontext einer Philosophie, die sich auf die Betrachtung des individuellen Mais la vérité est que chaque surcroît d’excitation s’organise avec les excitations précédentes, et que l’ensemble nous fait l’effet d’une phrase musicale qui serait toujours sur le point de finir et sans cesse se modifierait dans sa totalité par l’addition de quelque note nouvelle. – DI 71 | 79 | 81 91 Force est donc bien d’admettre qu’il y a ici une synthèse pour ainsi dire qualitative, une organisation graduelle de nos sensations successives les unes avec les autres, une unité analogue à celle d’une phrase mélodique. – DI 74 | 83 | 85 92 Es ist ein Ausdruck dieser Ungeduld, wenn der deutsche Übersetzer an mehreren Stellen formuliert, die Eindrücke müssten »dem Gedächtnis eingeprägt« werden, obwohl Bergson lediglich schreibt, dass sie »aufbewahrt« werden müssen, und jeden Bezug auf das Gedächtnis unterlässt. – Vgl. etwa DI – | – | 61. 93 DI 110 | 125 | 126 – Vgl. auch Anm. 3. 90

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Bewusstseins beschränkt. Wie die Dauer als Verlauf in der Melodie ihr anschaulichstes Beispiel findet, so kommt sie im Begriff »Geschichte« zu ihrem allgemeinsten Ausdruck. Solange Dauer nur als Dauer des persönlichen Bewusstseins in den Blick genommen wird, kann also auch Geschichte nur als persönliche Geschichte auftreten. Betont der Begriff »Geschichte« den Verlauf, so betont der Begriff »Charakter« das Fest- und Zusammenhalten der einzelnen Momente sowie die aus deren Organisation hervorgehende Gesamtgestalt: »Was sind wir denn, und was ist unser Charakter, wenn nicht die Verdichtung jener Geschichte, die wir seit unserer Geburt, ja – da wir angeborene Anlagen mitbringen – vor unserer Geburt gelebt haben?« 94

Das Festhalten des Vergangenen, dessen Verbindung zu »meiner Geschichte« und dessen Organisation zu »meinem Charakter« ist der eine Aspekt der Dauer, der deutlicher herausgearbeitet werden musste. Wie nun aber Husserl der Retention eine Protention zur Seite stellt, so findet man auch bei Bergson eine zweite, auf das noch Ausstehende, das Kommende oder zumindest Erwartete gerichtete Dimension, die wir bisher noch gar nicht thematisiert haben. Das Hören einer Melodie besteht ja nicht darin, dass man gleichsam gedankenlos aufsammelt, was die Brandung zufälligerweise ans Ufer spült. Dass wir, wenn man die erste Hälfte einer Phrase von Bach mit der zweiten Hälfte einer Phrase von Wagner oder den ersten Teil eines Kriminalromans mit dem zweiten Teil einer Liebesgeschichte kombinieren würde, das Gesamtergebnis als inkonsistent empfänden, oder dass wir einen Unterschied zwischen dem organischen Ende und dem vorzeitigen Abbruch einer Phrase machen, zeigt, dass das dauernde Ich nicht nur vom gegenwärtig Gegebenen aus auf das Frühere zurück-, sondern auch auf das Spätere vorausblickt. In der Geschichte als Verlauf, im Charakter als Gestalt haben nicht nur die früheren Erfahrungen und die aktuelle Erfahrung ihren Ort; es ist gleichsam immer auch schon Platz reserviert für erwartete zukünftige Erfahrungen. Mit den Eigentümlichkeiten dieser Erwartung werden wir uns noch intensiv zu beschäftigen haben. Hier muss es genügen, zwei Auffassungen zurückzuweisen, die nicht das von Bergson Gemeinte Que sommes-nous, en effet, qu’est-ce que notre caractère, sinon la condensation de l’histoire que nous avons vécue depuis notre naissance, avant notre naissance même, puisque nous apportons avec nous des dispositions prénatales ? – EC 498 | 5 | 12. – Vgl. dazu DI 113 f. | 129 f. | 129 f.

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treffen. Der Ausblick auf das Kommende darf zum einen nicht so verstanden werden, als hätte das dauernde Ich bereits einen in die Zukunft reichenden Fahrplan in der Tasche. Es handelt sich dabei weder um die Ausrichtung auf ein immer schon feststehendes Ziel (Teleologie) noch um eine Berechnung dessen, was aus der gegebenen Situation notwendig folgen muss (Determinismus). Gegen derartige Auffassungen wäre zu sagen, dass die Ausrichtung auf das Kommende eher Offenheit für das Kommende ist. Andererseits ist nun aber diese Offenheit nicht als völlige Unbestimmtheit zu verstehen. Wir haben ja bereits festgestellt, dass das Ich eben gerade nicht bereit ist, Beliebiges als zum bisherigen Verlauf passend zu akzeptieren. Sagen wir also in einer ersten, vorläufigen Annäherung, dass die Verlaufsform eine gewisse Bandbreite zulässt, innerhalb derer sich das Zukünftige abspielen kann, dass diese Bandbreite aber durchaus begrenzt ist; oder sagen wir, dass die Gestalt nicht starr ist – so als wären nur noch einige leere Punkte mit Inhalt zu füllen –, sondern flexibel, dass aber der Umgestaltung Grenzen gesetzt sind und Situationen auftreten können, in denen wir sagen, dass jenes Phänomen mit dieser Gestalt nicht kompatibel ist. Behalten wir diese zu vermeidenden Interpretationen im Auge, dann können wir uns dem nähern, was Bergson als »freie Tat« 95 bezeichnet. Aus seiner Sicht sind die Handlungen des Oberflächen-Ich unfrei, weil sie von außen – von Konventionen und Institutionen, von Ratschlägen der Freunde und drohendem Widerstand der Feinde, ja (sofern der physische Determinismus Recht hat) sogar von materiellen Vorgängen im Gehirn – angeregt und in ihrem Ablauf bestimmt werden. Das menschliche Individuum lässt sich hier von den verschiedensten äußeren Einflüssen hin und her schubsen, es lässt sich ständig von seiner Bahn abbringen – oder vielmehr: es kommt gar nicht dazu, die Frage nach seiner eigenen Bahn überhaupt zu stellen. Das konsequente Verfolgen der eigenen Bahn ist nun aber gerade das, was das Tiefen-Ich vom Oberflächen-Ich unterscheidet, und das konsequente Verfolgen der eigenen Bahn ist auch genau das, worin für Bergson Freiheit besteht. Frei ist also eine Tat, die sich als konsistente Fortsetzung der bisherigen persönlichen Geschichte bzw. als Ausdruck des persönlichen Charakters verstehen lässt. An diesem Punkt muss Bergson gegen das Prinzip von der Erhaltung der Energie bzw. der Kraft Stellung beziehen. Dafür sind zwei 95

DI 109–115 | 124–131 | 124–131

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Anläufe nötig. Im ersten Anlauf scheint Bergson einen Kompromiss mit denjenigen anzustreben, die die Ansicht vertreten, der Energieerhaltungssatz sei auch im Bereich des Psychischen gültig. Er stellt nämlich die These auf, die für den inneren Zusammenhang des Ich verantwortliche Dauer sei als »irgendeine Energie von neuer Art« bzw. als »eine Kraft von eigener Art« 96 zu betrachten, da »die Dauer nach Art einer Ursache zu wirken scheint« 97. Bergson greift also hier in die Diskussion um die »psychische Kausalität« (Wundt) ein, und er stellt sich auf die Seite der Verfechter eines derartigen Prinzips, durch das ein innerer Zusammenhang des psychischen Geschehens ermöglicht wird. Dass diese These aber nicht als Kompromissangebot gemeint ist, zeigt der unmittelbar folgende zweite Anlauf, in dem Bergson nachträgt, die Dauer könne nicht als eine von mehreren gleichberechtigten Kräften gelten. Sie müsse vielmehr als dem Gesetz von der Erhaltung der Energie ebenso wie der Berechenbarkeit entzogen gedacht werden. 98 Den Grund dafür habe ich bereits zu Beginn dieses Schrittes umrissen, und er wird nach dem anschließend Ausgeführten vollends verständlich: Wenn der Charakter die zu einer Gestalt organisierte »Summe« aller bisherigen Erfahrungen ist, dann verändert er sich mit jeder neuen Erfahrung. Selbst wenn man unterstellt, dass es der äußeren Realität möglich ist, uns mehrfach mit der gleichen Situation zu konfrontieren, muss man also sagen, dass wir nicht mehrfach darauf in der gleichen Weise reagieren können, sofern unsere Reaktionen freie Taten darstellen. Weil vielmehr die freie Tat eine konsistente Fortsetzung des Bisherigen sein muss, kann sie immer nur neuartig und unvorhersehbar sein. Zwischenbetrachtung: Wie ist diese Argumentation Bergsons zu verstehen? Handelt es sich nicht lediglich um ein hypothetisches Argument, mit dem nur gesagt wird, dass wir, wenn wir die Möglichkeit von Freiheit zulassen wollen, die Dauer als eine dem Zugriff des Energieerhaltungssatzes entzogene Kraft denken müssen? Angesichts dieser Frage ist es nützlich, sich daran zu erinnern, dass wir in

quelque énergie d’un genre nouveau – une force à sa manière – DI 101,103 | 114,117 | 115,117 97 la durée semble bien agir à la manière d’une cause – DI 101 | 115 | 116 98 quelque énergie d’un genre nouveau, qui se distingue des deux autres en ce qu’elle ne se prête plus au calcul – l’hypothèse d’une force consciente ou volonté libre, qui, soumise à l’action du temps et emmagasinant la durée, échapperait par là même à la loi de conservation de l’énergie – DI 101,102 | 114,116 | 115,116 96

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Kapitel 2 bereits einige Fragmente aus dem dritten Kapitel des Essai sur les données immédiates de la conscience – und näherhin aus dem Abschnitt über die freie Tat – kennengelernt haben, in denen Bergson »vulkanische Ausbrüche« des Tiefen-Ich als Einbrüche in die Welt des Oberflächen-Ich beschreibt. 99 Ich habe dort auch auf Ricœurs Kritik hingewiesen, allerdings bereits angedeutet, dass ich meine, Gesichtspunkte berücksichtigen zu müssen, die Ricœur nicht berücksichtigt hat. Nachdem wir uns nun mit der Dramaturgie des zweiten und dritten Kapitels vertraut gemacht haben, sehen wir in dieser Hinsicht klarer. »Nun steigt das untere Ich an die Oberfläche empor. Nun bricht die äußere Kruste und weicht einem unwiderstehlichen Drucke.« – Ja, es ist wahr, Bergson bietet hier eine hochdramatische Inszenierung. Aber ein derartiges Spektakel ist notwendig, weil Bergson zeigen will, dass das Tiefen-Ich als Kraft uns in der Erfahrung zugänglich ist. Gemäßigtere Formen, Mischformen, in denen Tiefen-Ich und Oberflächen-Ich gemeinsam auftreten, kommen durchaus auch zur Sprache. 100 Primär aber geht es um einen empirischen Beleg für die These, dass das Tiefen-Ich eine von allen Oberflächen-Kräften unabhängige Macht ist, und für diesen Zweck können der Abstand und der Gegensatz zwischen beiden gar nicht groß genug sein. Schritt 3: Fassen wir die Ergebnisse unserer – unter Anleitung von Fedi vorgenommenen – Bergson-Lektüre in einigen Grundbegriffen zusammen: • Das Festhalten des Vergangenen und der Vorblick auf das Kommende als Aspekte der Dauer konstituieren eine Verlaufsform, die Bergson (persönliche) Geschichte, und eine Gesamtgestalt, die er Charakter nennt. • Die Dauer als Geschichte weist einen Zusammenhang und eine Richtung auf. Man könnte demnach auch sagen, dass die (persönliche) Geschichte einen Sinn aufweist. Bergson spricht im Essai sur les données immédiates de la conscience (noch) nicht so. Fedi ist dennoch der Ansicht, dass er schon in seinem ersten

Vgl. Abschnitt 2.3.2.3, S. 281. En ce sens, la liberté ne présente pas le caractère absolu que le spiritualisme lui prête quelquefois ; elle admet des degrés. – C’est de l’âme entière, en effet, que la décision libre émane ; et l’acte sera d’autant plus libre que la série dynamique à laquelle il se rattache tendra davantage à s’identifier avec le moi fondamental. – DI 109,110 | 125,125 f. | 125,126 99

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Hauptwerk »eine neue Sicht auf das Individuum erschließt, die – wie bei Dilthey – offen für den Sinn ist« 101. Die Dauer als Charakter ist eine organische Gestalt, innerhalb derer nicht nur jedem Element sein spezifischer Stellenwert zukommt, sondern bei der auch jedes einzelne Element das Ganze ausdrückt. Anders als der Begriff des Sinns ist der Begriff des Ausdrucks einer, den Bergson selbst benutzt: »Kurz, wir sind frei, wenn unsere Handlungen aus unserer ganzen Persönlichkeit hervorgehen, wenn sie sie ausdrücken, wenn sie jene undefinierbare Ähnlichkeit mit ihr haben, wie man sie zuweilen zwischen dem Kunstwerk und seinem Schöpfer findet.« 102







Die Dauer ist nicht irgendein, sondern ein Wirkzusammenhang. Wenn Bergson den internen Zusammenhang des psychischen bzw. geistigen Geschehens herausarbeitet und diesen auf eine eigenständige, dem Energieerhaltungssatz nicht unterworfene Dynamik zurückführt, so geht es ihm um die Verteidigung der Autonomie des Geistes (esprit) gegenüber allen Versuchen der »Assimilation und Kolonialisierung durch die ›Raum-Zeit‹ der sozialen Welt« 103 bzw. der Naturwissenschaften. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, zwei verschiedenartige Methoden für die Erkenntnis des Geistigen zu unterscheiden. Verschränkt man Bergsons Gedanken mit Diltheys Begrifflichkeit, so kann man sagen: Das Denken und Verhalten des Oberflächen-Ich erklären wir, die Vorgänge im Tiefen-Ich dagegen verstehen wir. »Erklären« heißt dann, dass das individuelle Verhalten auf von außen gegebene Regeln zurückgeführt wird. »Verstehen« heißt, dass eine persönliche Geschichte als innerer Zusammenhang aufgefasst und einzelne Handlungen als authentische Handlungen innerhalb dieses Zusammenhangs situiert werden. Wenn es sich so verhält, dann kann man mit Fedi sagen, dass Bergson eine »hermeneutische Dimension in die Analyse des

101 […] il amorce […] une nouvelle vision de l’individu qui est, comme chez Dilthey, ouverte au sens. – Fedi[2001] 97 102 Bref, nous sommes libres quand nos actes émanent de notre personnalité entière, quand ils l’expriment, quand ils ont avec elle cette indéfinissable ressemblance qu’on trouve parfois entre l’œuvre et l’artiste. – DI 113 | 129 | 129 – Hervorhebung von mir [C. K.]. 103 Nassehi[2008] 61

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psychischen Geschehens einführt«. 104 Die »aufmerksame«, »dynamische« Psychologie, die er fordert, soll den inneren Zusammenhang des psychischen Geschehens als sinnhaften Entwicklungsprozess erschließen. Fedi fasst seine Sicht in einigen Sätzen zusammen, die es wert sind, hier vollständig zitiert zu werden: »Bergsons Philosophie, die oft mit einer etwas überholten spiritualistischen Ontologie assoziiert wird, kann ebenso mit der am Ende des Jahrhunderts sich abspielenden Debatte über die erkenntnistheoretische Grundlegung einer strengen Wissenschaft vom Geist in Verbindung gebracht werden. Von diesem Gesichtspunkt aus, der hier der unsere sein soll, nimmt sie Züge an, die an Diltheys Bemühung erinnern, die relative Autonomie der Psychologie zu garantieren gegenüber jeder Reduktion auf die erklärenden und mechanistischen Schemata, die in den Naturwissenschaften wirksam sind. Gewiss, die Horizonte sind verschieden: Während Dilthey, von der Psychologie ausgehend, danach strebt, wissenschaftlich die Untersuchung der historisch-sozialen Wirklichkeit zu begründen, greift Bergson unmittelbar metaphysische Probleme auf, die er für schlecht gestellt hält. Aber um ihre jeweiligen Ziele zu erreichen, kritisieren Dilthey und Bergson die Übertragung der in der Physik benutzten logischen Operationen auf die Psychologie, verfechten einen empathischen oder sympathischen Zugang zum psychischen Leben und enthüllen Gemeinsamkeiten zwischen der Kunst und der Wissenschaft vom Geist, deren Sinn man längst noch nicht ausgeschöpft hat. Diese methodologischen Berührungspunkte sind kein Zufall: Sie schreiben sich ein in die charakteristische Dynamik einer historischen Problemsituation, die von einer zunehmenden Bedrohung durch Szientismus und Materialismus geprägt ist, und sie zeugen von dem gleichen Willen, die Spontaneität des Geistes und seine Schöpferkraft zu verteidigen.« 105 104 Ce qui doit surtout retenir l’attention, c’est que Bergson introduit dans l’analyse de la vie psychique une dimension herméneutique qui, d’une manière très suggestive, fait songer là encore à Dilthey. – Fedi[2001] 117 105 La philosophie bergsonienne, souvent associée à une ontologie spiritualiste un peu désuète, peut aussi bien être rapportée au débat fin de siècle portant sur la fondation épistémologique d’une connaissance rigoureuse de l’esprit. De ce point de vue, qui sera le nôtre ici, elle prend des accents qui rappellent l’effort de Dilthey pour garantir l’autonomie relative de la psychologie contre toute réduction aux schémas explicatifs et mécanistes à l’œuvre dans les sciences de la nature. Certes, les horizons sont différents : tandis que Dilthey vise à fonder scientifiquement, en partant de la psychologie, l’analyse de la réalité historico- sociale, Bergson reprend à pied d’œuvre des problèmes métaphysiques qu’il juge mal posés. Mais pour atteindre leurs buts respectifs, Dilthey et Bergson dénoncent la transposition en psychologie des opérations logiques de la physique, valorisent une approche empathique ou sympathique de la vie psy-

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Fedis Aufsatz ist zwar nicht ungewöhnlich kurz. Da er aber eine Vielzahl von Aspekten zusammenführt, steht für die Erörterung jedes einzelnen Aspekts nur wenig Raum zur Verfügung, so dass viele Fragen, die beantwortet werden müssten, nicht einmal gestellt werden können. Ich rechne Fedis Aufsatz dennoch nicht zu jenen Interpretationen, von denen ich in der Einleitung gesagt habe, dass man ihnen lediglich materiale Fragmente, aber keine interpretatorische Gesamtsicht entnehmen kann. Ganz im Gegenteil: Fedi ist einer der wenigen Interpreten, die das Problem, dem die vorliegende Untersuchung nachgeht, auf der Ebene erörtert, auf der es meines Erachtens erörtert werden muss. Ich möchte deshalb abschließend die wichtigsten Punkte herausheben, die sich als bedeutsam erweisen, wenn man die eben zitierte Textpassage mit den in meiner Einleitung erörterten Fragen in Verbindung bringt. (1) Fedi leugnet nicht, dass Bergsons und Diltheys »Horizonte« verschieden sind. Stellvertretend für die nationalen, kulturellen und intellektuellen Differenzen, auf die die Skeptiker hinweisen, erwähnt Fedi die unterschiedlichen Gegenstandsbereiche, denen beide Philosophen ihre Bemühungen widmen. (2) Aber diese Unterschiede im Detail erweisen sich als nebensächlich, wenn man nach der Sache fragt, um die es beiden Philosophen geht, und dabei tief genug gräbt. Als diese Sache identifiziert Fedi die Abwehr überzogener Geltungsansprüche naturwissenschaftlicher Begriffe und Methoden sowie den Nachweis, dass der Bereich des Geistes zwar ein eigenständiger ist, aber gleichwohl eine wissenschaftliche Erforschung zulässt, sofern eigene, dem Gegenstand angemessene Methoden angewandt werden. Diese Problematik, die nicht als eine spezifisch deutsche oder französische, ja nicht einmal als eine dem 19. Jahrhundert eigentümliche und inzwischen gelöste bezeichnet werden kann, stellt die Basis dar, auf der es möglich und sinnvoll ist, Bergson mit Dilthey und mit der philosophischen Hermeneutik überhaupt in Verbindung zu bringen. Mit dieser Auffassung steht Fedi nicht allein. Immer, wenn es Bergson-Lesern gelingt, sich von dem tief verwurzelten Denken in chique, et dévoilent entre l’art et la connaissance de l’esprit des connivences dont on est encore loin d’avoir épuisé le sens. Ces proximités méthodologiques ne sont pas fortuites : elles s’inscrivent dans une dynamique de problématisation caractéristique d’une séquence historique marquée par la menace grandissante du scientisme et du matérialisme, et témoignent des mêmes préoccupations en faveur de la spontanéité de l’esprit et de sa puissance de création. – Fedi[2001] 98

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Schubladen zu befreien, zeigt sich das, was Fedi treffend die Dynamik einer epochenspezifischen Problemsituation nennt. So schreibt etwa auch Gerhard Schmied: »Bergsons Philosophieren ist eine der vielen Gegenbewegungen gegen den im 19. Jahrhundert weitverbreiteten Materialismus und die Dominanz der Naturwissenschaften, deren Vertreter in der Regel das Prädikat ›wissenschaftlich‹ lediglich für die in ihrem Bereich üblichen Vorgehensweisen und die damit erzielten Ergebnisse gelten ließen. In seiner ›Kritik der naturwissenschaftlichen Weltansicht‹ ist Bergson vergleichbar mit Wilhelm Dilthey und Heinrich Rickert, die versuchten, den Geisteswissenschaften, insbesondere den Geschichtswissenschaften, einen eigenen Bereich neben den Naturwissenschaften zu sichern.« 106

Die diesen Denkern gemeinsame Frage ließe sich so formulieren: Was bedeutet das Wort »Geist« in umgangssprachlichen Ausdrücken (»Geist der Zeit«, esprit du christianisme), im Bereich der Wissenschaft (»Geisteswissenschaften«) und im Bereich der Philosophie (»Philosophie des Geistes«)? Und Bergsons Intuition besagt, dass man die Antwort auf diese Frage durch eine Erforschung der reinen Dauer erhält, weil die Dauer das ist, was wir meinen, wenn wir »Geist« sagen, und worauf wir uns beziehen, wenn wir vom »Verstehen« sprechen. (3) Aus der gemeinsamen Problemstellung erklären sich auch die Gemeinsamkeiten zwischen denjenigen Methoden, die Dilthey den Geisteswissenschaften, Bergson der »dynamischen Psychologie« empfiehlt. Fedi erwähnt in der zitierten Passage die Bedeutung der Empathie bzw. Sympathie und die Annäherung an die Kunst. Die Gegenstände, die durch eine derartige Methode erforscht werden sollen, zeichnen sich durch Individualität, Ausdruck und Unvorhersehbarkeit aus. Und so wird man Fedi zustimmen können, wenn er Bergsons Essai sur les données immédiates de la conscience nicht nur im Kontext der Diskussion um die Geisteswissenschaften verortet, sondern darin auch die »Skizze einer hermeneutischen Perspektive« (l’ébauche d’une perspective herméneutique) 107 findet. Eine Skizze also. Dies immerhin. Aber auch nicht mehr als dies.

106 107

Schmied[1985] 29 Fedi[2001] 116

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4.2.2 Jean Hyppolite: Die Ekstasen der Zeit 4.2.2.1 Die Artikulation der Dauer In den Jahren 1949 und 1950 befasste sich Jean Hyppolite, der heute vor allem als bedeutender Hegel-Interpret präsent ist, in mehreren Vorträgen und Aufsätzen mit der Philosophie Henri Bergsons. 108 1949/50: Diese Jahre waren in Frankreich noch geprägt von der Revolte einer Generation, die sich vehement vom »Bergsonismus« abund dem Denken Husserls, Heideggers, teilweise auch Jaspers’ zugewandt hatte, um im »Existenzialismus« zu einer eigenen, neuen, der Zeit angemessenen Weltdeutung zu finden. 109 Zugleich aber waren diese Jahre bereits geprägt von einem Abklingen des polemischen Furors und ersten Bemühungen um eine sachliche Einschätzung von Bergsons Philosophie. 1950 leitete der junge Paul Ricœur die kritische Prüfung einiger Thesen Bergsons 110 mit dem Satz ein: »Wir verdanken Bergson zu viel, um nicht unsere Dankesschuld ihm gegenüber zu bekunden.« 111 Und 1953 hielt Maurice Merleau-Ponty seine berühmte Antrittsvorlesung (»Lob der Philosophie«) am Collège de France, in der er die »Beseitigung eines vordergründigen Scheines des Bergsonismus« und das Bemühen um ein Erfassen von Bergsons eigentlichen Intentionen forderte. 112 In diese – mit Fedi gesprochen – Dynamik der historischen Konstellation sind Hyppolites Bergson-Interpretationen nicht nur in der Rückschau einzuschreiben. Die zunehmende Versachlichung der Diskussion hatte zur Folge, dass schon Hyppolite selbst sein Anliegen in die geistige Situation der Zeit einordnen konnte. Er nimmt Bezug auf den Existenzialismus und auf dessen Kritik an Bergson. 113 Er stellt die Frage nach denjenigen Schwächen in Bergsons Denken, auf die der Sieg des Existenzialismus über den Bergsonismus hindeutet. 114 Aber er stellt auch fest, dass die Kritik der Existenzialisten an Bergsons Philosophie »oft ungerecht« war 115, und erörtert einige der seiner Hyppolite[1991] 441–498 Ausführliche Analysen der Auseinandersetzung des »phänomenologischen Existenzialismus« mit dem »Bergsonismus« bieten Ronchi[1990] und Caeymaex[2005]. 110 Vgl. Kap. 2, Anm. 269, und Kap. 3, Anm. 2. 111 Ricœur[2009] 207 112 Merleau-Ponty[1973] 19 ff. 113 Vgl. insbesondere den Aufsatz Du bergsonisme à l’existentialisme. 114 Hyppolite[1991] 445 115 a. a. O. 108 109

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Ansicht nach gröbsten Fehleinschätzungen. Zu diesen gehört die These, dass Bergson über keine Philosophie der Zeitlichkeit verfüge, die derjenigen Husserls und Heideggers vergleichbar sei. Der Beseitigung dieser Fehleinschätzung ist sein Aufsatz Aspects divers de la mémoire chez Bergson gewidmet: »Die modernen Philosophien der Zeitigung haben Bergson vorgeworfen, sich auf den Zusammenhalt der Dauer zu beschränken, ohne die Trennungen und Wiedervereinigungen der Ekstasen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu berücksichtigen. In Wahrheit kann man sagen, dass Bergsons zweites philosophisches Hauptwerk – Matière et mémoire – ein Versuch ist, dieses Problem zu stellen und es zu lösen.« 116

Geben wir, bevor wir die Hauptpunkte der Argumentation nachvollziehen, kurz den Stellenwert an, den Hyppolites Abhandlung im Rahmen des gegenwärtigen Kapitels einnimmt. Dieser vergleichsweise kurze Text kann sich einer erstaunlichen Wirkungsgeschichte erfreuen. Zahlreiche Bergson-Interpreten verweisen bis heute auf ihn als auf eine Hauptquelle ihres Bergson-Verständnisses. 117 Zu diesen Interpreten gehört Rocco Ronchi, der Hyppolites Gedanken weiterund aus ihnen die These entwickelt hat, die von Bergson in Matière et mémoire vorgetragene Philosophie sei als eine »Philosophie der Interpretation«, mithin als eine hermeneutische Philosophie zu verstehen. In der Umkehrung heißt das aber: Hyppolite selbst behauptet nicht – oder allenfalls indirekt –, dass Bergsons Philosophie eine hermeneutische sei. Sein Aufsatz interessiert uns hier, weil ohne ihn die Thesen Ronchis und Bankovs nicht möglich gewesen wären. Die Frage, von der Hyppolite ausgeht, ist für uns nicht völlig neu. Bereits im vorigen Abschnitt waren wir darauf gestoßen, dass man sich die Dauer nicht nur wie ein Fließen vorstellen darf, sondern mitbedenken muss, dass das Verflossene festgehalten wird (»wie beim Aufrollen eines Fadens auf einem Knäuel« 118) und dass die durch das 116 Les philosophies modernes de la temporalisation ont reproché à Bergson de s’en tenir à la cohésion de la durée, sans avoir reconnu les séparations et les réunions des extases du passé, du présent et de l’avenir. En fait on peut dire que la deuxième œuvre philosophique de Bergson Matière et mémoire est une tentative pour poser ce problème et le résoudre. – Hyppolite[1991] 470 117 Stark von Hyppolite geprägt ist etwa Gilles Deleuze (vgl. Deleuze[1989a] 150, Anm. 3 = Deleuze[2008] 51, Anm. 1). – Lawlor[2004] fügt seiner eigenen BergsonInterpretation sogar eine englische Übersetzung von Hyppolites Aufsatz als Anhang hinzu. 118 un enroulement continuel, comme celui d’un fil sur une pelote – PM 1397 | 183 | 185

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Festhalten sich bildende Gesamtgestalt zugleich eine Erwartungshaltung im Hinblick auf das Kommende bzw. eine Prädisposition im Hinblick auf eigene Handlungen konstituiert. Es ist dieser – wenn man so sagen will – Doppelaspekt der Dauer, der Hyppolite beschäftigt: Einerseits ist sie kontinuierliches Fließen und Ineinander-Verfließen der einzelnen Momente, andererseits aber differenziert sie sich in die drei – wie Heidegger das nannte – »Ekstasen« Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Anders gesagt: Die Dauer artikuliert sich. Ich hatte zu Beginn dieses Kapitels angekündigt, dass die Frage, ob die Dauer nur gestaltloses Strömen ist oder auch irgendeine Art von Artikulation aufweist, hier im Mittelpunkt stehen würde. Die Frage ist ja für unsere Einschätzung von Bergsons Philosophie insofern entscheidend, als ein konturloses Fließen in der Tat – wie von den Kritikern befürchtet – nur ein Sich-Versenken in die Unmittelbarkeit zuließe und nur irgendeine Form von Artikulation etwas ermöglicht, was die Bezeichnung Erkenntnis verdient. Nun denkt man freilich, wenn unvermittelt die Frage nach der Artikulation der Dauer gestellt wird, erst einmal an so etwas wie die Unterscheidung einzelner Worte in einem Redefluss oder einzelner Töne in einer Melodie. Jetzt stellt sich heraus, dass – jedenfalls zunächst einmal – eine ganz andere Artikulation zu betrachten ist. Wir werden im Verlauf dieses Kapitels noch sehen, dass das Thema »Artikulation der Dauer« eine Fülle von Aspekten aufweist, aber die anfängliche und entscheidende Artikulation vollzieht sich, wenn Vergangenheit und Zukunft von der Gegenwart unterschieden werden, das Strömen aber dadurch nicht aufhört, sondern vielmehr die drei Dimensionen in einer umgreifenden Einheit zusammenschließt. Bergson verwendet in Matière et mémoire – in allerlei Variationen – eine Formulierung, die man sich wird merken müssen, weil sie von Hyppolite ebenso wie von Ronchi und Bankov gleichsam als Kondensat von Bergsons »Ekstasen-Lehre« betrachtet und entsprechend häufig herangezogen wird: »[Der Geist] unterscheidet sich von [der Materie] dadurch, dass er […] Gedächtnis ist, d. h. eine Synthese von Vergangenheit und Gegenwart im Hinblick auf die Zukunft, und dadurch, dass er die Augenblicke der Materie zusammenzieht, um sie sich zunutze zu machen und sich in Handlungen zu manifestieren, welche der Sinn seiner Verbindung mit dem Körper sind.« 119 119

Il s’en distingue en ce qu’il est, même alors, mémoire, c’est-à-dire synthèse du

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Halten wir zwei bemerkenswerte Details dieser Formel fest. Zum einen: Bergson nimmt nicht einfach eine Dreiteilung vor. Die Synthese, von der er spricht, ist nicht eine von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern eine von »Vergangenheit und Gegenwart«, die »im Hinblick auf die Zukunft« vollzogen wird. Diese sprachliche Differenzierung dürfte darauf hindeuten, dass sich das Ausgreifen in die Vergangenheit und das Ausgreifen in die Zukunft in irgendeiner Hinsicht unterscheiden. Zum anderen: »Synthese von Vergangenheit und Gegenwart im Hinblick auf die Zukunft« ist die Definition von »Gedächtnis«. Man hat sich also unter Gedächtnis »in dem speziellen Sinne, den wir diesem Wort geben« 120, nicht ein besonderes Vermögen vorzustellen, das für das Ablegen und – bei Bedarf – WiederHervorholen von Erfahrungsinhalten zuständig wäre. »Gedächtnis« als das, was es ermöglicht, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einer Einheit zusammenzuschließen, ist letztlich ein Synonym für »Bewusstsein«. Das sieht Hyppolite so, das sagt aber auch Bergson selbst: »[…] Bewusstsein bedeutet Gedächtnis. […] Ein Bewusstsein, das zwei identische Momente besäße, wäre ein Bewusstsein ohne Gedächtnis. Es würde unaufhörlich verlöschen und wieder erwachen. Wie könnte man sich anders das Unbewusste vorstellen?« 121

Nun mögen meine bisherigen Ausführungen zu Hyppolites Fragestellung den Eindruck erwecken, als handele es sich darum, jene Gedanken, die wir uns – mit Fedis Unterstützung – aus dem dritten Kapitel des Essai sur les données immédiates de la conscience angeeignet haben, noch einmal durchzugehen und zu klären. Darum handelt es sich indessen für Hyppolite überhaupt nicht. Sein Bezugspunkt ist Matière et mémoire, und dieses zweite Hauptwerk Bergsons geht nach Hyppolites Auffassung völlig anders an das Problem der Dauer heran als das erste. Es lohnt sich, Hyppolites Darstellung des

passé et du présent en vue de l’avenir, en ce qu’il contracte les moments de cette matière pour s’en servir et pour se manifester par des actions qui sont la raison d’être de son union avec le corps. – MM 354 | 248 | 220 – Hervorhebungen im französischen Text von Bergson, in der Übersetzung von mir [C. K.]. 120 […] c’est-à-dire enfin, au sens spécial que nous donnons à ce mot, sa mémoire. – MM 355 | 250 | 222 121 […] et conscience signifie mémoire. […] Une conscience qui aurait deux moments identiques serait une conscience sans mémoire. Elle périrait et renaîtrait donc sans cesse. Comment se représenter autrement l’inconscience ? – PM 1397 f. | 183 f. | 185 f.

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»Übergangs« vom einen zum anderen Werk etwas ausführlicher zu zitieren: »Im Essai entdeckt Bergson die Dauer durch eine Anstrengung der Abstraktion, die derjenigen Descartes in den ersten Meditationen gleicht, durch die er die Seele vom Körper abtrennt: ›Ich will jetzt meine Augen schließen, meine Ohren verstopfen […], auch die Bilder der körperlichen Dinge sämtlich aus meinem Bewusstsein tilgen‹. So versucht auch er, die reine Dauer abzulösen vom Raum und von den materiellen Dingen, mit denen sie gewöhnlich vermischt ist: ›In unserem Ich findet Sukzession ohne reziproke Exteriorität statt, außerhalb des Ich reziproke Exteriorität ohne Sukzession‹. Aber dieser Dualismus ist so unhaltbar wie der Dualismus von Seele und Körper. Nachdem man die Dauer und den Raum, das innere Leben und die Welt so brutal getrennt hat, muss man nun versuchen, sie aufs Neue zu verbinden, denn wir leben in der Welt, und sogar unsere Freiheit ist nur in dem Maße eine wirksame Macht, in dem es uns gelingt, etwas von uns selbst in die Exteriorität der Materie übergehen zu lassen. Die meisten gegen Bergsons Essai gerichteten Kritikpunkte bezogen sich auf die Trennung von Dauer und Welt, auf die Schwierigkeit, sich ein reines inneres Leben vorzustellen, dessen Freiheit der einer schönen Seele gleicht, weil eben gerade die Bedingungen, unter denen sich diese Freiheit in der Welt verwirklichen könnte, nicht in Betracht gezogen zu sein scheinen. Dagegen ist dieses Problem des Sich-Einfügens unserer Freiheit in das materielle Sein dasjenige, wovon Matière et mémoire handelt. Dort ist viel mehr von einer Wahl die Rede als im Essai sur les données immédiates, weil die materiellen Bedingungen unserer Verwirklichung in der Welt gewisse Weglassungen erfordern, gewisse Entscheidungen, die uns gestatten, unser Tiefen-Ich zum Ausdruck zu bringen, uns aber gleichzeitig dazu verdammen, stets einen gewissen Abstand zwischen uns selbst und uns selbst aufrechtzuerhalten.« 122 Dans l’Essai, Bergson découvre la durée par un effort d’abstraction semblable à celui de Descartes dans les premières Méditations, isolant l’âme du corps : « Je fermerai maintenant les yeux, je boucherai mes oreilles … j’effacerai même de ma pensée toutes les images des choses corporelles. » Ainsi il tente d’isoler la durée pure de l’espace et des choses matérielles avec lesquelles elle est ordinairement mélangée : « Dans notre moi il y a succession sans extériorité réciproque, en dehors du moi extériorité réciproque sans succession. » Mais ce dualisme est aussi intenable que le dualisme de l’âme et du corps. Après avoir séparé aussi brutalement la durée et l’espace, la vie intérieure et le monde, il faut bien tenter de les relier à nouveau, car nous vivons dans le monde, et notre liberté même n’est un pouvoir efficace que dans la mesure où nous pouvons faire passer quelque chose de nous-même dans l’extériorité de la matière. La plupart des critiques qu’on pouvait faire à l’Essai de Bergson portaient sur cette séparation de la durée et du monde, sur la difficulté de concevoir une pure vie intérieure dont la liberté ressemble à celle d’une belle âme, parce que précisément les conditions de la réalisation de cette liberté dans le monde n’y paraissent 122

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Hyppolites Ausführungen ermöglichen es uns – erstens –, eine überraschende Beobachtung zumindest teilweise zu verstehen. Wirft man einen Blick auf diejenigen Interpretationen, in denen bisher die Ansicht vertreten wurde, Bergsons Philosophie sei – in welcher Weise und in welchem Umfang auch immer – als eine hermeneutische zu betrachten, so stellt man fest, dass sie sich alle – obwohl oft völlig unabhängig voneinander entstanden – nur auf zwei, und zwar alle auf die gleichen zwei Werke Bergsons stützen. Der Essai sur les données immédiates de la conscience kann – trotz Fedi und einiger anderer, ähnliche Wege beschreitender Autoren – nicht dazu gezählt werden, denn wir haben gesehen, dass man mit Fedi zwar erklären kann, warum und inwiefern Bergson vom Projekt einer Begründung der Geisteswissenschaften nicht so weit entfernt ist, wie oft angenommen wird, dass aber selbst Fedi im Essai nur eine »hermeneutische Skizze« zu finden vermag. Diejenigen, die Bergson eine auch nur halbwegs ausgearbeitete hermeneutische Philosophie zusprechen 123, tun das dagegen entweder mit Bezug auf Matière et mémoire (1896) oder auf den zeitlich zwischen Matière et mémoire und L’évolution créatrice anzusiedelnden Aufsatz L’effort intellectuel (1902) oder auf beide Texte zusammen. Warum die Bereitschaft, Bergsons Texte als hermeneutische Philosophie zu lesen, nach dem Ende der durch diese beiden Werke begrenzten, bezogen auf Bergsons gesamtes Schaffen auffallend kurzen Periode ganz plötzlich erlischt und wie dieses Erlöschen zu bewerten ist, soll in Kapitel 5 untersucht werden. Hier aber wird verständlich, warum sie mit Matière et mémoire beginnt: Bergson präsentiert, so könnte man sagen, im Essai sur les données immédiates de la conscience eine Lehre von den zwei Schichten der Erfahrung. Beide Schichten werden – obwohl bzw. gerade weil es Mischformen gibt – von Bergson radikal getrennt in den Bereich der materiellen Dinge im Raum und den Bereich des reinen Bewusstseins als Dauer. Nun handelt es sich aber sowohl im einen wie im anderen pas envisagées. Mais c’est au contraire ce problème de l’insertion de notre liberté dans l’être matériel que traite Matière et mémoire. On y parle beaucoup plus d’un choix que dans l’Essai sur les données immédiates, parce que les conditions matérielles de notre réalisation dans le monde exigent certaines éliminations, certaines options qui nous permettent d’expliciter notre moi profond, mais nous condamnent en même temps à maintenir toujours un certain écart entre nous-même et nous-même. – Hyppolite[1991] 472 123 Außer an Ronchi[1990] und Bankov[2000] denke ich hier vor allem an Brougham [1993] und Ricœur[2004].

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Fall um einen Boden, auf dem Hermeneutik nicht besonders gut gedeiht. Das ändert sich grundsätzlich in dem Moment, in dem Bergson – eben in Matière et mémoire – seine Lehre von den zwei Schichten der Erfahrung transformiert in eine Lehre von der zweischichtigen Erfahrung. Wenn Hyppolite schreibt, dass Bergson in Matière et mémoire fragt, wie – unter welchen Bedingungen und mit welchen Einschränkungen – die als reine Dauer konzipierte menschliche Freiheit sich in der äußeren Welt verwirklichen, sich in ihr »ausdrücken« 124 kann, dann sieht man sofort, dass dieser neue, umfassendere Ansatz sehr viel günstigere Bedingungen für die Entfaltung einer Hermeneutik bietet. Erinnern wir uns, dass der Begriff »Raum« bei Bergson nicht nur den Raum der materiellen Dinge bezeichnet, sondern auch die »räumlich« strukturierten Mannigfaltigkeiten der Sprache oder der konventionellen Handlungsmuster 125, und berücksichtigen wir, dass »Dauer« als Kraft, Sinn und Geist zu denken ist 126, dann wird verständlich, warum Bergson-Interpreten eine hermeneutische Philosophie gerade in dem Werk finden, das erstmals die Frage nach dem Zusammenspiel, nach einer Kooperation von Dauer und Räumlichkeit stellt. Hyppolites zitierte Ausführungen bieten uns – zweitens – die Möglichkeit, die Haltung, die die vorliegende Untersuchung prägt, auf ein festeres Fundament zu stellen. Habe ich, als ich im ersten Kapitel schrieb, man könne zum hermeneutischen Charakter der Philosophie Bergsons keinen Zugang finden, wenn man in ihr nichts anderes entdecke als ein Streben nach Unmittelbarkeit und eine Abwertung der Sprache, hauptsächlich an den guten Willen des Lesers appelliert, und habe ich, als ich zu Beginn des dritten Kapitels Worms’ These von der intuition-distinction einführte, vor allem die Autorität eines anerkannten Bergson-Experten in Anspruch genommen, so wird nun aus den Texten selbst deutlich, dass Bergson zwar zunächst eine Kluft aufreißt zwischen Raum und Dauer, Erstarrtem und Dynamik, Material und Sinn, dass er dann aber nicht, die eine Seite verwerfend, sich auf der anderen ansiedelt, sondern den Gegensatz als Spannungsfeld versteht und die Frage nach dem Zusammenspiel der 124 Les exigences de l’action, la finitude de l’élan spirituel que nous sommes, mais qui ne parvient à s’exprimer qu’en renonçant à une partie de lui-même, conduisent à ce corps, centre d’action, organe de ma présence au monde. – Hyppolite[1991] 472 – Hervorhebung von mir [C. K.]. 125 Vgl. Abschnitt 3.2.2, S. 315. 126 Vgl. Abschnitt 4.2.1, S. 468.

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»Gegner« zu seinem Forschungsthema macht. Noch einmal: Wir verstehen noch nicht, warum man den Eindruck haben kann, dass das nach L’effort intellectuel anders wird, aber wir verstehen, dass man zu Recht gemeint hat, in Matière et mémoire den Beginn einer hermeneutischen Philosophie erblicken zu dürfen, die mehr ist als eine bloße Skizze. Um nun aber den Faden von Hyppolites Interpretation wieder aufzunehmen, so will diese ja – drittens – zeigen, wie sich die Dauer artikuliert. Wie sie sich, näherhin, artikuliert in die drei Ekstasen: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Und sie will, um es noch vollständiger und präziser zu formulieren, zeigen, wie dies geschieht, wenn und weil die reine Dauer ihre splendid isolation aufgibt und sich – wie man früher sagte – mit der äußeren Welt »gemein macht«. Die Dauer – so Hyppolites These – ist, wenn man sie für sich allein betrachtet, reines Fließen, innerhalb dessen prinzipiell alle Augenblicke gleichwertig sind, so dass es keinen Anlass gibt, Grenzlinien zu ziehen. Insbesondere sorgen das Festhalten der früheren Erfahrungen sowie die Organisation aller Erfahrungen zu einer Totalität dafür, dass Vergangenheit und Gegenwart als Kontinuum erscheinen. Wenn sich nun eine Kluft zwischen diesen beiden auftut, wenn Vergangenheit als das Andere der Gegenwart erscheint, wenn, mit anderen Worten, die Vergangenheit als Vergangenheit gedacht wird 127, so ist das eine Folge der Tatsache, dass die reine Dauer sich auf das Handeln in der Welt einlässt. 4.2.2.2 »Das berühmte Bild des Kegels« Jean Hyppolite schrieb für eine Generation, die – Kritik hin oder her – ihren Bergson kannte. Er konnte darauf vertrauen, dass es genügte, auf »jene berühmte Unterscheidung« zwischen zwei Arten des Gedächtnisses oder »das berühmte Bild des Kegels« anzuspielen. Seine Leser würden wissen, woran er dachte, würden oft die gemeinte Textstelle auf Anhieb aufschlagen können und jedenfalls mit deren Bedeutung vertraut sein. So einfach kann man es sich als Bergson-Interpret heute nicht mehr machen, und deshalb sehe ich mich genötigt, Hyppolite an dieser Stelle zu unterbrechen, um mit einigen groben Strichen das zu umreißen, was er in Anspruch zu nehmen gedenkt. Es handelt sich dabei (1) um eine am Anfang des zweiten Kapitels von 127

un passé reconnu comme tel – Hyppolite[1991] 470

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Matière et mémoire zu findende Textpassage, in der Bergson zwei Arten des Gedächtnisses unterscheidet, sowie (2) um eine im dritten Kapitel zu findende graphische Darstellung, die man als »Bild des umgekehrten Kegels« zu bezeichnen pflegt. (1) Bergson hatte im ersten Kapitel von Matière et mémoire die Wahrnehmung untersucht. Mit Beginn des zweiten Kapitels wendet er sich dem Gedächtnis zu, und er greift, um in dieses neue Thema einzuführen, auf das bereits von Augustinus verwendete Beispiel eines Schülers zurück, der sich ein Gedicht einprägen will (oder muss) und es zu diesem Zwecke immer wieder liest. 128 So konventionell dieses Beispiel auch sein mag, so neuartig ist die Erkenntnis, die Bergson daraus gewinnt. Er behauptet nämlich, dass es zwei Formen des Gedächtnisses gibt. Die erste dieser beiden Formen bezieht sich auf das Gedicht als solches, genauer gesagt: auf das Handlungsmuster der Wiedergabe. Wenn dieses Gedächtnis fehlerfrei funktioniert, gelingt es dem Schüler, das Gedicht flüssig und mit dem korrekten Wortlaut aufzusagen – und dies ist ja auch der Zweck der Anstrengung. Daneben gibt es aber noch ein anderes Gedächtnis. Dieses bezieht sich auf den Verlauf des Erlernens. Nach erfolgreichem Abschluss des Projekts kann der Schüler auf dessen Verlauf zurückblicken, sich an jede einzelne Lektüre mit ihren Besonderheiten erinnern, deren Stellenwert innerhalb des Gesamtprozesses bestimmen und so die einzelnen Schritte als Elemente »seiner persönlichen Geschichte« begreifen. Wir können und müssen hier nicht alle Konsequenzen dieser These nachvollziehen. Wichtig ist aber, ihren Zusammenhang mit Bergsons neuem Ansatz in Matière et mémoire zu sehen. Dieser wird deutlich, wenn Bergson erklärt, dass es sich bei der zweiten Form um ein Gedächtnis des Bewusstseins handelt, das mit Vorstellungen operiert und die persönliche Geschichte als Dauer betrachtet, während die erste Form auf Handlungsdispositionen des Körpers beruht, die zwar erst einmal eingeübt werden müssen, aber letztlich eingeübt werden, damit sie zu mühelos und unbewusst ablaufenden Automatismen herabsinken. Die zwei Formen des Gedächtnisses entsprechen also der neuen Zweischichtigkeit der Erfahrung. Man hat es einerseits mit einem Gedächtnis des Körpers zu tun, der vom Vergangenen das festhält, was ihm für sein Handeln in der äußeren Welt

128

MM 225 ff. | 83 ff. | 68 ff.

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nützlich sein kann, andererseits mit einem Gedächtnis des Bewusstseins, das seine eigene Geschichte als Verlauf festhält. In diesem Zusammenhang prägt Bergson eine Formel, die ich schon mehrfach benutzt habe, ohne sie zu erläutern: Der Körper »spielt seine Erinnerung«, ohne sich die einzelnen Momente der Vergangenheit vorzustellen. Das Bewusstsein »stellt das Erinnerte vor«, ohne sich um dessen Bedeutung für gegenwärtiges Handeln zu kümmern. Im Körper wird die Vergangenheit zum unbewusst sich vollziehenden Handlungsmuster, im Bewusstsein wird sie zum Bild. Nun wird man freilich, wenn man das Konzept der zwei Gedächtnis-Formen genauer prüft, feststellen, dass es hinter den Erwartungen zurückbleibt. Gewiss, den zwei Schichten der Wirklichkeit bzw. der Erfahrung von Wirklichkeit, entsprechen zwei Arten des Gedächtnisses. Aber das Neue, das wir – Hyppolite folgend – Matière et mémoire zugeschrieben haben, war ja nicht die bloße Existenz von zwei Schichten, sondern deren Verknüpfung. Vorerst erweckt Bergsons Beispiel allerdings den Eindruck, als vollzögen sich das Lernen des Körpers und das Festhalten der persönlichen Geschichte durch die Dauer ebenso wie das Abrufen des Handlungsmusters und das Vorstellen der Vergangenheit in einer Art von psychophysischem Parallelismus, bei dem man keine Berührungspunkte zwischen dem einen und dem anderen Gedächtnis zu erkennen vermag. Um dieses Defizit zu erkennen, bedarf es übrigens gar keiner eigenen Anstrengungen des Interpreten. Bergson selbst macht darauf aufmerksam, und zwar bemerkenswerterweise im dritten Kapitel von Matière et mémoire, unmittelbar vor der Stelle, an der das Bild des umgekehrten Kegels eingeführt wird. 129 Das aber kann nur heißen: Wenn Hyppolite an jene »berühmte Unterscheidung« und an dieses »berühmte Bild« erinnert, so bezieht er sich nicht auf zwei beliebige Fragmente aus Matière et mémoire, die zufälligerweise beide berühmt sind, sondern auf zwei Bausteine, zwischen denen ein enger Zusammenhang besteht. Das Bild des umgekehrten Kegels antwortet auf das erkannte Defizit der Unterscheidung zwischen den beiden Gedächtnisformen. Verbleibt die Unterscheidung – als bloße Unterscheidung – im Grunde noch auf der Erkenntnisstufe, die bereits der Essai sur les données immédiates de la conscience erreicht hatte, so repräsentiert das Bild des umgekehrten Kegels die neue, an das Erfassen des Zusammenhangs gebundene Stufe der Einsicht. 129

MM 292–293 | 167–169 | 146–147

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Drei Lektüren

A

B

P S Abbildung 3: Der umgekehrte Kegel

In der Tat genügt ein einziger Blick auf das nun folgende Bild, um die Vermutung zu bestätigen. Lässt man sich von Details nicht irritieren, so erkennt man drei wesentliche Komponenten: Da ist zunächst die als Parallelogramm dargestellte Ebene P am unteren Bildrand. Sie symbolisiert den Bereich des körperlichen Handelns in der äußeren Wirklichkeit. Ihr steht am oberen Bildrand eine Ellipse gegenüber, die die innere Wirklichkeit als organisierte Totalität aller bisherigen Erfahrungen repräsentiert. Konzentriert man sich auf diese beiden Komponenten und ignoriert man vorerst die Linien AS und BS, so versteht man, was Bergson meint, wenn er in seiner Erläuterung des Defizits sagt, aus der Perspektive des handelnden Körpers schwebe das vorstellende Gedächtnis gleichsam im luftleeren Raum (suspendue dans le vide). Fügt man dann aber die beiden zunächst weggedachten Linien hinzu, so versteht man nicht nur, warum diese Figur als Darstellung eines umgekehrten oder auf der Spitze stehenden Kegels bezeichnet wird – man sieht vor allem auch unmittelbar, dass die beiden Linien, die die Ellipse an den Punkten A und B berühren und am Punkt S auf die Ebene P treffen, die Verknüpfung von innerer und äußerer Wirklichkeit darstellen sollen. Um zu verstehen, wie diese Verknüpfung näherhin zu denken ist und wie Bergson ihre Merkmale graphisch darzustellen versucht, gilt es zunächst einmal, die Bedeutung des Punktes S (sommet) zu klären. Dieser Punkt repräsentiert eine einzelne Handlung. Rocco Ronchi wird uns eine Lupe liefern, mit deren Hilfe wir erkennen können, 493 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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dass der scheinbar simple Punkt eine interne Struktur aufweist, da die Handlung eine Antwort des Körpers auf eine in der äußeren Wirklichkeit gegebene Situation darstellt. Im Augenblick wichtiger ist, dass der Ausdruck »eine Handlung« nicht eine bestimmte Handlung bezeichnen soll, sondern jede beliebige Handlung. Der Ort, an dem sich der Punkt S befindet, ist demnach als Beispiel anzusehen. In Bergsons Worten: Der Punkt S ist beweglich. Er kann auf der Ebene P hin und her wandern. Beweglich sind dann aber auch die Verbindungslinien AS und BS. Alle Punkte, aus denen diese Linien bestehen, können verschoben werden – mit Ausnahme der Punkte A und B, an denen die Linien die als Ellipse dargestellte Basis des Kegels schneiden. Diese graphische Darstellung besagt offenkundig, dass Bergson nicht eine Theorie liefern will, die die Gesamtheit der inneren Erfahrung mit der Gesamtheit der äußeren Erfahrung bzw. der Gesamtheit aller verfügbaren Handlungsmuster in Beziehung setzt. Die hier dargestellte Verknüpfung verknüpft vielmehr die Gesamtheit der inneren Erfahrung mit einer, und das heißt: mit jeder einzelnen Handlung. Sie verknüpft die im Gedächtnis – und zwar nicht die im körperlichen, sondern im geistigen Gedächtnis – festgehaltenen vergangenen Erfahrungen mit einer gegenwärtigen Situation. Sprechen wir kurz über etwas, was man nicht sieht: Bergsons Darstellung zeigt keine Linie, die von einem beliebigen Punkt S auf der Ebene des In-der-Welt-Handelns zu irgendeinem Punkt – sagen wir: C – auf der Ebene der inneren Wirklichkeit bzw. des geistigen Gedächtnisses verlaufen würde. Eine derartige Linie würde bedeuten, dass der Mensch angesichts einer vorliegenden Situation auf eine einzelne Erinnerung zurückgreift, um ein passendes Handlungsmuster zu finden. Das Fehlen einer solchen Linie repräsentiert die von Bergson in Matière et mémoire geführte Polemik gegen jede Art von Theorie, die annimmt, unter »Gedächtnis« sei ein Mechanismus zu verstehen, der – wie ein Computer – einzelne Erfahrungen als solche an verschiedenen Stellen eines Speichermediums (des Gehirns) ablegt. Das Gedächtnis – und hier schließt er nahtlos an den Essai sur les données immédiates de la conscience an – ist für Bergson nicht ein Sammelsurium isolierter Erfahrungsinhalte, sondern die zur Gestalt organisierte Totalität aller früheren Erfahrungen. Ich möchte dieser Polemik hier nicht im Detail nachgehen, sondern nur festhalten: Wenn es sich so verhält, dann kann »Verknüpfung von körperlichem Handeln und geistigem Gedächtnis« nur heißen, dass das ganze Gedächtnis herangezogen wird, um ein der einzelnen Situation an494 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

Drei Lektüren

gemessenes Handlungsmuster zu finden. 130 Eben das soll die Figur des auf dem Kopf stehenden Kegels ausdrücken. Der ganze Umfang der bisherigen Erfahrung wird bemüht, um eine einzige Handlung ausführen zu können. Nun ist uns auch dieser Gedanke nicht unbekannt. Dass die ganze – festgehaltene und organisierte – frühere Erfahrung sich in einer neuen Handlung ausdrückt, das ist ja genau diejenige Konstellation, die uns Bergson im dritten Kapitel des Essai sur les données immédiates de la conscience als »freie Handlung« vorgeführt hatte. In der Tat kann man den auf dem Kopf stehenden Kegel als graphische Darstellung der freien Handlung deuten. Nur eben: Dann muss man die Ebene P entfernen. Für das, was der Essai eine freie Handlung zu nennen bereit ist, kommt die äußere Wirklichkeit nicht in Betracht. Freiheit, Konsistenz, Authentizität sind Bestimmungen, die lediglich das interne Verhältnis der Erfahrungen und Handlungen, ihren – mit Dilthey gesprochen – »Strukturzusammenhang« betreffen. Deshalb sind die »so verstandenen« freien Handlungen auch »selten«, d. h. in der Welt, in der wir leben, nur ganz gelegentlich zu beobachten. 131 Und man kann durchaus der Ansicht sein, dass das eine erfreuliche Nachricht ist, denn wäre freies Handeln in diesem Sinne die Regel, so wäre menschliches Zusammenleben kaum noch möglich. Man sagt also zu wenig, wenn man das Bild des auf dem Kopf stehenden Kegels nur als »berühmt« bezeichnet. Zu sagen ist vielmehr, dass es bedeutend ist – so bedeutend, dass die Société des amis de Bergson es als Emblem nutzt 132 –, und dass es deshalb so bedeutend ist, weil es – gegen alle Kritiker, die meinen, Bergson kenne nur den unvermittelten Gegensatz zwischen einem konventionellen Oberflächen-Ich und einem asozialen Tiefen-Ich – Bergsons Überzeugung zum Ausdruck bringt: Konvention und Authentizität lassen sich vermitteln. Denn der Kegel, dessen Spitze nicht ins Leere zielt, sondern auf die Ebene der äußeren Wirklichkeit trifft, repräsentiert nicht mehr eine Freiheit, die nur unter Missachtung der Welt möglich ist, sondern ein »Sein zur Welt« (être au monde) im Sinne MerleauPontys. Bergsons Formulierung dafür – auch sie berühmt – lautet:

[…] en fait il n’y a pas des souvenirs, mais un seul passé personnel que nous pouvons diviser, expliciter plus ou moins arbitrairement selon les exigences d’une situation présente. – Hyppolite[1991] 477 131 Ainsi entendus, les actes libres sont rares […]. – DI 110 | 126 | 126 132 Siehe http://www.amisdebergson.fr/. 130

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»Aufmerksamkeit auf das Leben« (attention á la vie). Gemeint ist hier mit dem Wort »Leben« nicht etwas Inneres, Persönliches, Individuelles. Es bezeichnet in diesem Zusammenhang das äußere, das gemeinsame Leben, das Geschehen in der Welt, das Leben im Sinne der »Lebenswelt« und des primum vivere. Und es ist gerade das individuelle Bewusstsein, das hier zu solcher Aufmerksamkeit aufgefordert wird: Es soll sich nicht auf sich selbst beschränken, sondern sich auf die äußere Wirklichkeit einlassen. Geschieht dies, dann erhält das, was der Kegel darstellt, einen anderen Akzent. Die Basis des Kegels (die Ellipse) symbolisiert die individuelle Erfahrung, d. h. die als Zusammenhang erfasste persönliche Geschichte. Die Kegelspitze symbolisiert eine Handlung, aber da sie nun Handlung des Körpers in der Welt ist, kann sie nicht mehr als einmaliger, einzigartiger Ausdruck der Freiheit gedacht, sondern muss – zumindest potentiell – als allgemeines Handlungsmuster gefasst werden. Nichts hindert den Körper ja daran, sich die Handlungsweise zu merken und bei Gelegenheit wieder auf sie zurückzugreifen. Und nichts hindert andere Menschen daran, diese Handlungsweise als vorbildlich zu betrachten und sie nachzuahmen. Der Kegel zeigt also nun nicht nur, dass die ganze Erfahrung der Person sich in einer (jeder) einzelnen Handlung wie in einem Brennpunkt vereinigt. Er stellt auch die Transformation des Individuellen in etwas Allgemeines, des Persönlichen in etwas Unpersönliches dar. Nun kann man leicht verstehen, dass Bergson so vorgehen muss, wenn er wirklich die Verschränkung des Räumlichen (in jenem weiten Sinn, in dem der Raum als symbolische Form auch die »Welten« der Denk-, Sprech- und Handlungsmuster strukturiert 133) und der Dauer denken will. Das heißt aber nicht, dass wir auch schon verstehen, wie die Metamorphose des Individuellen zum – jedenfalls potentiell – Allgemeinen konkret abläuft. Diese Frage wird nun also – und zwar bis in die Ronchi-Lektüre hinein – unsere Leitfrage werden. 4.2.2.3 Macht und Ohnmacht des Vergangenen Bergson verwendet in Matière et mémoire ein merkwürdiges Begriffspaar, um das Verhältnis des Menschen zu den beiden Schichten seiner Wirklichkeit zu charakterisieren. Oder vielmehr: Merkwürdig ist nur einer der beiden Begriffe. Vertraut nämlich und verständlich 133

Vgl. Abschnitt 3.2.2, S. 315.

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ist der Begriff Handlung (action), mit dem Bergson den Bezug des Körpers zur äußeren Wirklichkeit (den Dingen im Raum) beschreibt. Überraschen aber muss der Begriff, den er für das Verhältnis des Geistes zur inneren Wirklichkeit (dem Gedächtnis) wählt: Die Betrachtung der festgehaltenen Vergangenheit durch den Geist heißt Traum (rêve). Aber worüber spricht Bergson, wenn er so spricht? Wirft uns dieses Begriffspaar nicht einmal mehr zurück auf den Standpunkt des Essai sur les données immédiates de la conscience, d. h. auf eine Konzeption, die von zwei getrennten Bereichen der Erfahrung ausgeht? Es könnte zunächst so scheinen: Das Wort »Handlung« bezeichnet hier eine unverzügliche, »impulsive« oder automatische Reaktion des Körpers auf eine gegebene Situation, die insbesondere jede Besinnung auf frühere Erfahrungen ausschließt. Das »Abspulen« des gelernten Gedichts auf eine Aufforderung durch den Lehrer hin wäre ein Beispiel dafür. Unter »Traum« hat man sich dann das Gegenstück zu diesem Aktionismus vorzustellen: eine rein betrachtende Haltung, das »Schwelgen in Erinnerungen«, bei dem nun jeglicher Bezug zum Handeln fehlt. Das verträumte Zurückdenken an einzelne Etappen des Auswendig-Lernens fällt unter diese Kategorie. Kurz: Offenbar hat man es mit zwei Verhaltensweisen zu tun, zwischen denen keinerlei Berührungspunkte bestehen. Ist die Handlung auf ein konkretes Ziel gerichtet, nützlich für das praktische Leben und – als wiederholbares Handlungsmuster – allgemein, so ist der Traum ziellos, ohne praktischen Nutzen und – als Erinnerung an frühere Episoden der persönlichen Geschichte – individuell. 134 Indessen unterscheidet sich die Konstellation, die wir hier vorfinden, doch in einem wichtigen Punkt von derjenigen, die uns aus dem dritten Kapitel des Essai sur les données immédiates de la conscience bekannt ist. Im Essai hatte Bergson der extern motivierten, sozialen Handlung die intern motivierte, authentische bzw. freie Handlung gegenübergestellt und so eine Konfliktsituation geschaffen, bei der die Koexistenz von zwei unterschiedlichen Handlungs134 Angesichts dieser Verwendung des Wortes »Traum« tut man gut daran, erst einmal jeglichen Gedanken an das Traumkonzept der Psychoanalyse zu vermeiden. Das, was Bergson in Matière et mémoire »Traum« nennt, hat mit der Tätigkeit eines Archivars – und überhaupt mit der liebevoll bei jeder Einzelheit des Faktischen verweilenden, aber über das bloß Faktische nicht hinausgelangenden Tätigkeit des Spezialisten (vgl. Abschnitt 1.1.2, S. 43) – mehr Ähnlichkeit als mit den von Versagung und Erfüllung handelnden Dramen, die Freud beschreibt.

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weisen im Lebensvollzug eines Menschen nur durch Verdrängung und Ausbrüche, also gegenseitige Störung oder gar Zerstörung realisiert werden konnte. In Matière et mémoire aber präsentiert Bergson als Gegenstück zur Handlung in der äußeren Wirklichkeit den »Traum« bzw. die – wie Hyppolite sich gern ausdrückt – Kontemplation der inneren Wirklichkeit, und damit zwei verschiedenartige Vollzüge. Deren Verträglichkeit versteht sich gewiss nicht von selbst, doch kann man sich bei ihnen schon eher vorstellen, dass sie sich zu ergänzen vermögen: Wenn die vom Körper initiierte Handlung sich ohne jeden Rückgriff auf frühere Erfahrungen vollzieht und das verträumte Betrachten der Vergangenheit ohne irgendein praktisches Interesse geschieht, wenn, mit anderen Worten, schon die isolierten Elemente des Gegensatzpaares nicht definierbar sind ohne Bezug auf das jeweils andere Element, so drängt sich die Frage auf, ob es nicht auch Handlungen mit Rückgriff auf frühere Erfahrungen, Kontemplation mit Praxisbezug, schließlich die Verschränkung von Handlung und Traum in einer spezifisch menschlichen Praxis gibt. In der Tat geht es Bergson um diese Verschränkung. Im Bild gesprochen: Die allein vom Körper, ohne Beteiligung des Geistes vollzogenen Handlungen werden auf der Ebene P vollzogen, während sich der Traum in der Ellipse AB abspielt. Bergsons Ziel besteht aber darin, aus dieser Ellipse einen auf dem Kopf stehenden Kegel zu machen, und das kann nur gelingen, wenn eine Verbindung zwischen der Ellipse und der Ebene P hergestellt wird. Ohne Bild: Handlung und Traum werden nicht als isolierte Verhaltensweisen gedacht, sondern als gegensätzliche Pole eines Spannungsfeldes, das verschiedenartige Formen der »Mischung« zulässt: »In der reinen Gegenwart leben, auf einen Reiz mit einer unmittelbaren, den Reiz fortsetzenden Reaktion antworten, ist das Zeichen eines niederen Tieres: ein Mensch, welcher so vorgeht, ist eine impulsive Natur. Aber der ist kaum weniger zum Handeln geeignet, der in der Vergangenheit aus bloßer Freude an ihr lebt und bei dem die Erinnerungen zum Licht des Bewusstseins auftauchen ohne Nutzen für die gegenwärtige Situation: das ist dann keine impulsive Natur mehr, sondern ein Träumer. Zwischen diesen beiden Extremen steht die glückliche Beschaffenheit eines Gedächtnisses, das biegsam genug ist, den Konturen der gegenwärtigen Situation präzise zu folgen, und energisch genug, jedem anderen Appell zu widerstehen. Der gesunde oder praktische Menschenverstand ist wahrscheinlich nichts anderes.« 135 135

Vivre dans le présent tout pur, répondre à une excitation par une réaction immé-

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Der Fortschritt gegenüber der bloßen Entgegensetzung von Tat und Traum soll also darin bestehen, dass Handlung und Gedächtnis verknüpft, die Erinnerungen »zum Nutzen der gegenwärtigen Situation« eingesetzt werden, und dies erfordert, dass die Erinnerung nicht ihren eigenen Bahnen, sondern den »Umrissen der Situation« folgt. Es ist nun auffällig, dass Hyppolite, obwohl ihn die Frage nach dem hermeneutischen Charakter von Bergsons Philosophie überhaupt nicht beschäftigt, unwillkürlich und gleichsam von der Sache genötigt, in eine hermeneutische Terminologie verfällt, sobald es darum geht, die Verschränkung von Handlung und Traum zu beschreiben: • Finde eine derartige Verschränkung von Handlungsanforderung und Kontemplation der Vergangenheit statt, so schreibt Hyppolite, dann richte sich das Gedächtnis »auf die zu interpretierende Situation«, und seine Aktivität ziele darauf ab, durch Erinnerung an vergangene Situationen »die Gegenwart zu interpretieren«. 136 Liest man solche Formulierungen, dann wundert man sich nicht mehr darüber, dass Rocco Ronchi, auf Hyppolites Überlegungen aufbauend, die These entwickeln konnte, Bergsons Philosophie sei als eine »Philosophie der Interpretation« zu betrachten. • Betrachtet man das Gegenwärtige im Lichte des Vergangenen, so verleiht das Vergangene dem Gegenwärtigen einen »Sinn« (sens). 137 Zu berücksichtigen ist bei dieser Feststellung, dass Bergson nicht an das simple Modell denkt, demgemäß die Bedeutung einer gegebenen Situation durch Rückgriff auf eine einzige Erinnerung erschlossen werden kann. Situationen, in denen das möglich ist, gibt es zwar durchaus und in großer Zahl, aber mit ihnen wird der auf sein Handlungsmuster-Gedächtnis zurückgreifende Körper allein fertig. Im Bild des umgekehrten Kegels gesprochen: In solchen Situationen wird die Ebene P gar diate qui la prolonge, est le propre d’un animal inférieur: l’homme qui procède ainsi est un impulsif. Mais celui-là n’est guère mieux adapté à l’action qui vit dans le passé pour le plaisir d’y vivre, et chez qui les souvenirs émergent à la lumière de la conscience sans profit pour la situation actuelle : ce n’est plus un impulsif, mais un rêveur. Entre ces deux extrêmes se place l’heureuse disposition d’une mémoire assez docile pour suivre avec précision les contours de la situation présente, mais assez énergique pour résister à tout autre appel. Le bon sens, ou sens pratique, n’est vraisemblablement pas autre chose. – MM 294 | 170 | 148 136 Hyppolite[1991] 476 f. 137 a. a. O.

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nicht verlassen. Wenn eine Situation – wie sich Bergson ausdrückt – an das Gedächtnis »appelliert«, d. h. wenn die Verbindung zur Basis hergestellt wird und dadurch ein Kegel überhaupt erst entsteht, dann deshalb, weil kein fertiges Handlungsmuster verfügbar ist, mit dem angemessen auf sie reagiert werden könnte. Aus dem gleichen Grunde darf man nach Bergsons Auffassung auch nicht sagen, dass mehrere einzelne Erinnerungen zu Rate gezogen werden: Es müsste ja zunächst einmal herausgefunden werden, welche Erinnerungen überhaupt bei der Interpretation der Situation hilfreich sein können. Vielmehr gilt, wie im vorigen Abschnitt bereits erwähnt, dass das ganze – und auch hier: nicht das als Sammelsurium isolierter Erinnerungen, sondern als organische Ganzheit gedachte – Gedächtnis aktiviert werden muss. • Hyppolite lässt auf diese These alsbald deren Umkehrung folgen: Wird eine Verbindung zwischen einer gegenwärtigen Situation und dem persönlichen Gedächtnis hergestellt, so verleiht das Gegenwärtige dem Vergangenen Sinn. 138 Indem das Vergangene hilft, das Gegenwärtige zu interpretieren, und dem Gegenwärtigen so einen Sinn verleiht, wird es selbst interpretiert und gewinnt es selbst einen Sinn. Das wird gerade vom Begriff des Traumes her verständlich. Dieser besagt ja, dass sich die reine, von jedem Handlungsbezug freie Erinnerung ohne Ziel, Richtung und Ordnung vollzieht. Indem nun dieses sinnfreie, ja sinnlose Herumvagabundieren in der Vergangenheit mit dem von einer gegebenen Situation ausgehenden Handlungsaufruf in Kontakt gebracht wird, wird die Vergangenheit auf diese Situation hin ausgerichtet. Sie gewinnt einen Bezugspunkt, von dem her sie selbst als geordnet erscheint und selbst einen Sinn gewinnt. Freilich: Dieser Sinn ist nicht »ihr« Sinn, nicht ihr ursprünglicher, immer schon vorhandener Sinn, der nur wieder aufzugreifen wäre. Da es sich um eine neuartige Situation handelt, erscheint auch das Vergangene in einem neuartigen Licht. Es gewinnt also einen neuen Sinn. Es wird reinterpretiert. Dieser hermeneutische Aspekt der Verschränkung von Handlung und Traum ist zwar im Kontext unserer Untersuchung von Interesse, es handelt sich aber gleichwohl nicht um denjenigen Aspekt, der im Mittelpunkt von Hyppolites Interesse steht. Man kann sich den Weg 138

Hyppolite[1991] 483 f.

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zu Hyppolites Pointe bahnen, indem man fragt, ob das Bild des auf dem Kopf stehenden Kegels wirklich eine überzeugende Antwort auf Hyppolites anfängliche Frage nach der verkörperten Freiheit bietet. Haben wir es nicht mit einem idealisierten Modell zu tun? Wenn die ganze Vergangenheit herangezogen wird, um das der gegebenen Situation angemessene Handlungsmuster zu finden – ist die schließlich erfolgende Handlung dann nicht doch wieder die freie Handlung im Sinne des Essai sur les données immédiates de la conscience? Und wenn die ganze Vergangenheit aus der Perspektive der neuen Situation und der neuartigen Handlung reinterpretiert wird – wird dann nicht unterstellt, dass die im Essai postulierte Übereinstimmung zwischen der idealen freien Handlung und dem Ganzen der Vergangenheit, aus dem sie hervorgegangen ist, auch das reale Handeln in der Welt prägt? Es wäre so, wenn die Dauer immer noch reine Dauer wäre. Aber der neue Ansatz in Matière et mémoire besagt, dass die Dauer des Bewusstseins mit einem Körper verbunden, dass sie verkörperte Dauer oder – wie Hyppolite formuliert – »endlicher Elan« 139 ist. Diese Endlichkeit, Beschränktheit oder Partikularität äußert sich einerseits darin, dass die im Gedächtnis verfügbare Vergangenheit ausgerichtet wird auf eine einzelne – durch den Punkt S dargestellte – Situation sowie auf die Notwendigkeit, ein auf diese konkrete Situation antwortendes Handlungsmuster zu entwerfen. Und sie äußert sich andererseits darin, dass gewisse Elemente der Vergangenheit in diesem Kontext als besonders bedeutsam erscheinen, während andere als unbedeutend beiseitegelassen werden. Mit dieser Feststellung hat Hyppolite einen Punkt erreicht, von dem aus es ihm möglich ist, seine Ausgangsfrage zu beantworteten. Diese lautete: Wie kommt es dazu, dass innerhalb der Dauer, die nichts als ein kontinuierliches Fließen zu sein scheint, die drei Ekstasen der Zeit unterschieden, und wie kommt es insbesondere dazu, dass Gegenwart und Vergangenheit voneinander getrennt werden? Hyppolite erklärt: Der Grund für diese Unterscheidung ist in der Endlichkeit, d. h. in der begrenzten Macht des verkörperten Geistes zu finden, der, wenn er reinterpretierend tätig wird, sich nie auf die ganze, sondern immer nur auf einen Teil der Vergangenheit beziehen, damit aber immer nur diesem Teil der Vergangenheit einen neuen Sinn zuweisen kann. Vergangenheit im engeren Sinne, d. h. Vergan139

la finitude de l’élan spirituel que nous sommes – Hyppolite[1991] 483

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genheit, die als Vergangenheit (Hyppolite: dépassé) aufgefasst wird, ist derjenige Teil des Vergangenen (Hyppolite: passé), der zurückgelassen wird, wenn der Geist eine partikulare Reinterpretation unternimmt. 140 Was die endliche Schöpferkraft des Geistes auf sich beruhen lässt, wenn sie sich auf eine neue Etappe ihrer Reise begibt, nimmt den Charakter des Faktischen bzw. des Historischen an. Es ist das eine Vergangenheit, der man sich mit der Frage nähern kann, »wie es eigentlich gewesen ist«, eine Vergangenheit, die man nur noch betrachten, aber nicht mehr verändern kann. 141 Damit wird auch Bergsons Formel, Gedächtnis sei »eine Synthese von Vergangenheit und Gegenwart im Hinblick auf die Zukunft«, verständlich. Ich hatte darauf hingewiesen, dass Bergson ganz verschiedenartige Formulierungen benutzt, um die Verbindungen der Gegenwart mit der Zukunft bzw. mit der Vergangenheit zu beschreiben. Lesen wir die Formel vom Ende her: Dass die Gegenwart eine Verbindung mit der Zukunft aufweist, ist für Bergson selbstverständlich. Unter »Gegenwart« versteht er nicht einen unendlich kleinen Jetzt-Punkt, sondern ein Zeitintervall, das mir präsent ist. Dieses Zeitintervall zeichnet sich nun aber dadurch aus, dass es in die Zukunft gerichtet ist: »Was ich meine Gegenwart nenne, ist meine Haltung der unmittelbaren Zukunft gegenüber, meine bevorstehende Tätigkeit.« 142 Diese selbstverständliche Partnerschaft besteht, wie wir gerade gesehen haben, zwischen Gegenwart und Vergangenheit nicht, weil ein Geist, dessen Fähigkeit, Neues zu schaffen, begrenzt ist, immer einen großen Teil des Vergangenen auf sich beruhen lassen muss. Gedächtnis »in dem speziellen Sinne, den wir diesem Wort geben« ist nicht ein mit dem Abheften und Wiederfinden von Erinnerungen beschäftigtes partikulares Vermögen, sondern das Bewusstsein selbst, weil Bewusstsein – als Interpretation des Gegenwärtigen im Lichte des Vergangen und Reinterpretation des Vergangenen im Lichte des Gegenwärtig-Zukünftigen – ohne die Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart im Hinblick auf die Zukunft gar nicht möglich ist. Aber diese Verschränkung im Rahmen eines konkreten Projekts gelingt stets nur für einen Teil des Vergangenen. Alles Übrige – das faktisch Vergangene, das, was, wie man sagt, nur noch »von Hyppolite[1991] 483 Hyppolite[1991] 483 142 Ce que j’appelle mon présent, c’est mon attitude vis-à-vis de l’avenir immédiat, c’est mon action imminente. – MM 282 | 156 | 135 140 141

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historischem Interesse« ist – bleibt von der Synthese gerade ausgeschlossen. So sehr nun aber aus der Teilung des Vergangenen in eine lebendige, mit der Gegenwart eng verbundene und eine gleichsam tote, von den Interessen der Gegenwart abgekoppelte Vergangenheit zwei ganz verschiedenartige Bereiche entspringen, so wenig handelt es sich um eine endgültige Auf- oder gar Abspaltung. Die Grenze zwischen diesen beiden Bereichen ist nicht in Stein gemeißelt. Die Grenzziehung verändert ja – wenn man so sprechen darf – nicht die Substanz der Vergangenheit und zerstört insbesondere nicht die Einheit der persönlichen Geschichte. Die Grenzziehung ergibt sich vielmehr lediglich aus der Relation des in der Gegenwart lebenden Ich zu den verschiedenen Elementen seiner Vergangenheit. Sie ist vorläufig und kann jederzeit verändert werden. Bergson hat das in einem 15 Jahre nach dem Erscheinen von Matière et mémoire gehaltenen Vortrag, auf den Hyppolite hinweist, eindrucksvoll beschrieben: »Meine Gegenwart – das ist in diesem Augenblick der Satz, mit dessen Vortrag ich beschäftigt bin. Aber das ist so, weil es mir beliebt, das Feld meiner Aufmerksamkeit auf meinen Satz zu beschränken. Diese Aufmerksamkeit ist etwas, was man verlängern und verkürzen kann wie den Abstand zwischen den zwei Spitzen eines Zirkels 143. Im Augenblick sind die Spitzen gerade so weit voneinander entfernt, um vom Beginn bis zum Ende meines Satzes zu reichen; aber wenn es mir einfallen würde, sie weiter voneinander zu entfernen, dann würde meine Gegenwart außer meinem letzten Satz auch noch denjenigen umfassen, der ihm vorausging – ich hätte dann lediglich eine andere Zeichensetzung verwenden müssen. Gehen wir noch weiter: Eine Aufmerksamkeit, die unendlich weit ausdehnbar wäre, würde, zusammen mit dem unmittelbar vorhergehenden Satz, alle früheren Sätze dieser Rede in den Blick nehmen, dazu die Ereignisse, die der Rede vorausgingen sowie einen beliebig großen Teil dessen, was wir unsere Vergangenheit nennen. Die Unterscheidung zwischen unserer Gegenwart und unserer Vergangenheit, die wir vornehmen, ist also, wenn nicht willkürlich, so doch zumindest abhängig von der Ausdehnung des Feldes, das unsere Aufmerksamkeit auf das Leben zu umfassen vermag.« 144

143 Gemeint ist hier natürlich nicht – wie in der Rede vom »hermeneutischen Zirkel« – ein Kreis, sondern das Gerät, mit dem man Kreise zeichnet. Gemeint ist mit dem von Bergson verwendeten Wort compas übrigens auch nicht – wie manche Übersetzer gemeint haben – ein Kompass. Der Vorgang, auf den Bergson sich bezieht, ist das Verändern des Radius des zu zeichnenden Kreises durch Bewegen der Zirkel-Arme. 144 Mon présent, en ce moment, est la phrase que je suis occupé à prononcer. Mais il en est ainsi parce qu’il me plaît de limiter à ma phrase le champ de mon attention.

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Bergson schließt an diese Ausführungen einen bemerkenswerten Vergleich an: »Sobald diese besondere Aufmerksamkeit etwas von dem, was sie im Blick behalten hatte, fallenlässt, wird derjenige Teil der Gegenwart, den sie aufgibt, ipso facto Vergangenheit. Mit einem Wort: Unsere Gegenwart fällt in die Vergangenheit, wenn wir aufhören, ihr ein aktuelles Interesse beizumessen. In dieser Hinsicht verhält es sich mit der Gegenwart der Individuen wie mit derjenigen der Völker: Ein Ereignis gehört zur Vergangenheit, und es geht in die Geschichte ein, wenn es die Politik des Tages nicht mehr direkt interessiert und vernachlässigt werden kann, ohne dass dies irgendeinen Einfluss auf die aktuellen Angelegenheiten hätte. Solange seine Auswirkung noch spürbar ist, gehört es dem Leben der Nation an und bleibt ihm gegenwärtig.« 145

Dieser Vergleich macht deutlich, dass sich Bergsons Überlegungen zum Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit an Lehren anderer Lebensphilosophen anschließen lassen, die zunächst ganz andere Themen zu betreffen scheinen. Ich denke hier etwa an Nietzsches zweite unzeitgemäße Betrachtung »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben«. Man findet bei Nietzsche unter dem Titel der »antiquarischen Historie« 146 eine Haltung, die nicht in allen Details, wohl aber im Kern mit Bergsons Konzeption der toten Vergan-

Cette attention est chose qui peut s’allonger et se raccourcir, comme l’intervalle entre les deux pointes d’un compas. Pour le moment, les pointes s’écartent juste assez pour aller du commencement à la fin de ma phrase ; mais, s’il me prenait envie de les éloigner davantage, mon présent embrasserait, outre ma dernière phrase, celle qui la précédai : il m’aurait suffi d’adopter une autre ponctuation. Allons plus loin : une attention qui serait indéfiniment extensible tiendrait sous son regard, avec la phrase précédente, toutes les phrases antérieures de la leçon, et les événements qui ont précédé la leçon, et une portion aussi grande qu’on voudra de ce que nous appelons notre passé. La distinction que nous faisons entre notre présent et notre passé est donc, sinon arbitraire, du moins relative à l’étendue du champ que peut embrasser notre attention à la vie. – PM 1386 | 168 f. | 172 145 Dès que cette attention particulière lâche quelque chose de ce qu’elle tenait sous son regard, aussitôt ce qu’elle abandonne du présent devient ipso facto du passé. En un mot, notre présent tombe dans le passé quand nous cessons de lui attribuer un intérêt actuel. Il en est du présent des individus comme de celui des nations : un événement appartient au passé, et il entre dans l’histoire, quand il n’intéresse plus directement la politique du jour et peut être négligé sans que les affaires s’en ressentent. Tant que son action se fait sentir, il adhère à la vie de la nation et lui demeure présent. – PM 1386 f. | 169 | 173 146 Nietzsche, KSA 1, 258

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genheit übereinstimmt, und wir werden sehen, dass sich Nietzsches »monumentalische«, aber auch sein »kritische Historie« bei Bergson als Aspekte des produktiven Umgangs mit der Vergangenheit wiederfinden lassen. Vor allem aber eint Bergson und Nietzsche die Vorstellung, dass die Frage, »wie es eigentlich gewesen ist«, eine höchst unvollkommene, unproduktive Form des Umgangs mit der Vergangenheit darstellt und dass es darauf ankommt, das Vergangene einzubeziehen in die lebendige Kreativität, es nicht als Faktum festzustellen, sondern zu überholen. Was also trägt Hyppolite zu unserer Untersuchung bei, wenn doch die hermeneutischen Aspekte aus seiner Sicht nebensächlich sind? Ich meine, dass seine Analyse des endlichen Interpretationselans uns zu den Grundlagen von Bergsons Hermeneutik führt, indem sie die Wurzel der Nicht-Übereinstimmung des Menschen mit sich selbst aufweist. Auch wenn Hyppolite sich kaum für die Details jener Vollzüge interessiert, die den Gegenstand der Hermeneutik – und auch von Bergsons Hermeneutik – bilden, zeigt er, woraus das Interpretieren und Re-Interpretieren entspringt und warum es nie zum Ende kommt. Wir haben die Formel von der Nicht-Übereinstimmung des Textes, des Werkes und schließlich des Menschen mit sich selbst vom ersten Kapitel an in Anspruch genommen, aber wir haben bisher darauf vertraut, dass sie von sich aus, intuitiv verständlich ist. Durch Hyppolites Beitrag wird nun deutlich, dass sich die NichtÜbereinstimmung aus einem fundamentalen Zwiespalt der Zeitlichkeit des Menschen ergibt. Dass jeder Mensch die Gesamtheit seiner persönlichen Geschichte ist, kann und muss einerseits als ein So-Sein, als etwas faktisch Gegebenes und nicht mehr zu Änderndes begriffen werden. So gesehen, ist die persönliche Vergangenheit etwas Festlegendes und Einengendes. Zugleich aber ist der Mensch durch seinen in die Zukunft gerichteten Elan charakterisiert. Dieser Elan ermöglicht es, Neues vom Vergangenen her zu verstehen, das Vergangene aus der Perspektive des Neuen zu reinterpretieren, es so in die Gegenwart hereinzuholen und es gleichsam mitzunehmen in die Zukunft. Nun ist der schöpferische Elan für Bergson zwar der wichtigere, den Menschen eigentlich kennzeichnende Aspekt, aber dieser Elan ist, wie Hyppolite gezeigt hat, nicht stark genug, den Aspekt des So- und Festgelegt-Seins einfach auszuwischen. Das So-Sein wäre zu vernachlässigen, wenn jede Reinterpretation des Vergangenen eine Reinterpretation der gesamten Vergangenheit wäre. Das aber ist nicht 505 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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der Fall. Der schöpferische Elan des Menschen ist endlich. Er muss bei jeder Bewegung in die Zukunft hinein Vergangenes als Vergangenes, Faktisches, im Moment nicht zu Gebrauchendes zurücklassen, und durch dieses Zurücklassen ergibt sich die Differenz zwischen einem »lebendigen« und einem »toten« Teil der Vergangenheit. Aber die Trennung führt nicht zu einer endgültigen Spaltung. Die Einheit der persönlichen Geschichte ist nicht verloren. Das »Tote« ist nicht wirklich tot. Es macht sich bemerkbar, und sei es nur als »Lücke«. Damit wird es zum Ursprung all dessen, was für die hermeneutische Auffassung der Erfahrung so typisch ist: zum Ursprung des Unbehagens und des Ungenügens, zum Ursprung des Gefühls, den Sinn nicht getroffen zu haben, aber auch des Gefühls, es besser machen zu müssen und zu können.

4.2.3 Rocco Ronchi: Philosophie der Interpretation 4.2.3.1 Das Aufbrechen des geschlossenen Zirkels Rocco Ronchis 1991 publizierte Dissertation ist gleichsam ein Buch mit zwei Gesichtern. Einerseits präsentiert es sich als eine historische Studie über die Bergson-Rezeption des phänomenologisch geprägten Existenzialismus in Frankreich. Diese wird in den Kapiteln 1 bis 3 an den Beispielen Politzer, Sartre und Merleau-Ponty vorgeführt. Der thematische Kontext von Ronchis Untersuchung ist also demjenigen von Hyppolites Bergson-Aufsätzen nahe verwandt, nur sprach Hyppolite noch unmittelbar aus der Situation heraus und als Beitrag zu einer im Gange befindlichen Diskussion, während Ronchi den betrachtenden Blick auf eine längst vergangene Situation lenkt und historische Diskussionen rekonstruiert. Andererseits bietet aber Ronchi unter dem Titel Bergson filosofo dell’interpretazione – dem Titel des vierten Kapitels, der dann zum Titel des ganzen Buches wird – eine eigenständige Bergson-Interpretation, die mit dem Thema der ersten drei Kapitel nur dadurch verbunden ist, dass sie im Gegenzug gegen eine überzogene Bergson-Kritik sowie ausgehend von Veränderungen der Bergson-Rezeption (insbesondere bei Merleau-Ponty) entwickelt wird. Auch hier tritt Ronchi also in Hyppolites Fußstapfen, und er erkennt dies an, indem er, auf Hyppolites Aufsatz Aspects divers de la mémoire chez Bergson Bezug nehmend, diesen als »Pio-

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nierarbeit« bezeichnet. 147 Wie Hyppolite bestreitet er, dass die Existenzialisten im Recht waren, als sie statt des »dramatischen« Verlaufes, den ein menschliches Leben zeigt, bei Bergson nur die »friedliche Dauer« (questa pacifica durata) eines unendlichen Fließens zu finden glaubten. 148 Und wie Hyppolite betont er die Endlichkeit des menschlichen Strebens, das dasjenige eines verkörperten Geistes ist. 149 Und doch kann man nicht sagen, dass Ronchi Hyppolites Überlegungen lediglich aufnimmt und weiterführt. Ein anderer als der von Hyppolite her vertraute Ton ist bereits auf der ersten Seite des vierten Kapitels zu vernehmen, wo Ronchi in einigen programmatischen Sätzen darlegt, der späte Merleau-Ponty habe die Grundlagen gelegt für die Entfaltung eines »noch unerforschten«, in der Bergson-Literatur »gemeinhin vernachlässigten« Aspekts der bergsonschen Lehre von der Dauer und vom Gedächtnis, nämlich »ihrer tiefen Hermeneutizität« (la sua profonda ermeneuticità). 150 Eine gewisse Distanz wird spürbar, wenn Ronchi, seinen Rückbezug auf Hyppolite näher erläuternd, zwar die von diesem gestellte Frage nach dem Ursprung der Unterscheidung von Gegenwart und Vergangenheit hervorhebt 151, Hyppolites Antwort dagegen weder an dieser noch an anderer Stelle diskutiert. Und dass wohl in der Tat eine andere Antwort zu erwarten ist, zeichnet sich ab, wenn Ronchi aus den Ekstasen der Zeit die Zukunft überraschend stark heraushebt: »Es ist die Zukunft, die die Vergangenheit zur ›Koexistenz‹ mit einer Gegenwart aufruft, von der sie sich im Übrigen ihrer Natur nach unterscheidet. […] Das Gedächtnis ist demnach nicht der Ort der Vermischung der Ek-stasen in einer ungeteilten, ›fließenden‹ Gegenwart, sondern, ganz im Gegenteil, der Ort ihrer immanenten, von der Zukunft ausgehenden Artikulation.« 152

Blickt man angesichts dieser Sätze noch einmal zurück auf Hyppolites Ausführungen, so wird man feststellen müssen, dass man von ihm

un saggio per molti versi pioneristico – Ronchi[1991] 156 Ronchi[1991] 157 149 Ronchi[1991] 154–165 150 Ronchi[1991] 151 151 Ronchi[1991] 156 152 È il futuro che chiama il passato alla « coesistenza » con un presente dal quale, per altro, differisce per natura. […] La memoria non è quindi il luogo della confusione delle ek-stasi in un presente indiviso « che scorre », ma, esattamente all’opposto, il luogo della loro immanente articolazione a partire dal futuro. – Ronchi[1991] 158 147 148

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vieles über die Vergangenheit, manches über die Gegenwart, aber recht wenig über die Zukunft gehört hat. Notieren wir noch zwei weitere Punkte, an denen Ronchi andere Akzente setzt als Hyppolite. (1) Bergson unterscheidet bekanntlich zwei Formen des Gedächtnisses sowie – daraus sich ergebend – zwei Formen des Wiedererkennens: Dem Körpergedächtnis entspricht ein nur »gespieltes« Wiedererkennen, dem geistigen Gedächtnis ein Wiedererkennen, das mit der Vorstellung des Vergangenen verbunden ist. Hyppolite tendiert nun dazu, die Bedeutung dieser Entgegensetzung herunterzuspielen und das den beiden Formen der Erinnerung Gemeinsame hervorzuheben 153, während Ronchi eher den Unterschied zu betonen scheint und jedenfalls jede der beiden Formen des Wiedererkennens in einem eigenen, ausführlichen Abschnitt diskutiert. 154 (2) »Aufmerksamkeit auf das Leben« lautet die Formel, die besagt, dass der Geist, wenn er sich erinnert, nicht nur träumerisch in seinen Erinnerungen schwelgen, sondern diese zum Nutzen des tätigen Lebens in der Welt einsetzen soll. Hyppolite fühlt sich, wenn er auf diese Formel zu sprechen kommt, stets zu der Anmerkung genötigt, es sei dies nicht die einzige Form von Aufmerksamkeit, die man bei Bergson antreffe, vielmehr gebe es auch noch eine Aufmerksamkeit des Geistes auf sich selbst. 155 Nun ist das, wie sich im letzten Kapitel dieser Untersuchung zeigen wird, nicht falsch. Es ist aber im konkreten Zusammenhang überflüssig, weil diejenigen Texte Bergsons, um die es Hyppolite ebenso geht wie Ronchi und uns hier, von einer solchen zweiten Form der Aufmerksamkeit nicht sprechen. Bergson betont mehrfach, dass er in Matière et mémoire das »niedere Geistesleben« (la vie mentale inférieure) 156 – also diejenige Geistestätigkeit, die sich auf den Körper und über diesen letztlich auf die Welt richtet – betrachte. Hyppolites Anmerkungen verraten uns also mehr über den Interpreten als über die Texte. Sie zeigen uns einen bei Hegel in die Schule gegangenen Bergson-Interpreten, für den die Aufmerksamkeit des Geistes auf die Dinge des Alltagslebens nur eine Vorübung sein kann für dessen eigentliches Geschäft: die Selbsterkenntnis. Und 153 Cette célèbre distinction, dont on part toujours, a peut-être un peu faussée l’étude de Bergson, car en partant d’elle on néglige trop le mouvement de cette mémoire qui est reconnaissance à tous les étages, c’est-à-dire sens du présent par le savoir du passé, découverte du sens des situations données […]. – Hyppolite[1991] 476 154 Ronchi[1991] 167–177, 177–195 155 Hyppolite[1991] 474, 480 156 MM 302,311 | 181,192 | 158,168

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genau an dieser Stelle hebt sich Ronchi deutlich von Hyppolite ab. Für ihn stellt das, was Bergson in Matière et mémoire bietet, eine Reformulierung der klassischen Erkenntnistheorie auf der Basis pragmatistischer Prinzipien dar. 157 Die tätige Auseinandersetzung mit dem Leben betrachtet er als die Basis, von der her alle höheren geistigen Funktionen verständlich gemacht werden müssen. Ein wenig verhält es sich also wie auf Raffaels berühmtem Bild der Schule von Athen: Hyppolite – in der Rolle des Platon – weist mit der Hand nach oben, während Ronchi – die Position des Aristoteles übernehmend – nach unten deutet. Auf diesen Punkt, so muss man annehmen, lassen sich letztlich alle Differenzen im Detail zurückführen. Verhält es sich aber so, dann müssen wir der Frage nachgehen, welcher Zusammenhang zwischen Ronchis pragmatistischem Ausgangspunkt und seiner These, Bergsons Philosophie sei eine Philosophie der Interpretation, besteht. Warum führt sein explizit pragmatistischer Ansatz zu einer klar ausgesprochenen These vom hermeneutischen Charakter der Philosophie Bergsons, Hyppolites Ausrichtung auf die Selbsterkenntnis des Geistes dagegen nicht? Die Erkenntnistheorie auf der Basis pragmatistischer Prinzipien zu reformulieren, heißt – und darin dürften alle anderen Interpreten mit Ronchi einig sein – für Bergson seit Matière et mémoire: Menschliches Wahrnehmen und menschliches Erkennen dürfen nicht als abstrakt-theoretische Vermögen, und der erkennende Mensch darf nicht als unbeteiligter Beobachter einer ihm fremden Welt konzipiert werden. Das Verhältnis des erkennenden Menschen zur Wirklichkeit ist nicht dasjenige interesseloser Kontemplation, sondern dasjenige eines Lebewesens, das handeln muss, um überleben zu können, und das erkennen muss, um angemessen handeln zu können. Primum vivere. Die Praxisorientierung der Erkenntnistheorie kommt besonders deutlich in der Analyse der Bedeutung von Allgemeinbegriffen zum Ausdruck, auf die sowohl Hyppolite 158 wie Ronchi 159 eingehen, und die Bergson selbst so wichtig war, dass er mehrfach auf sie zurückgekommen ist 160. Der ebenso alten wie unlösbaren Streitfrage, ob All-

Ronchi[1991] 168 f. Hyppolite[1991] 475 159 Ronchi[1991] 168 f. 160 Die beiden wichtigsten Textpassagen sind zu finden in MM 296–302 | 173–181 | 151–158 sowie in PM 1294–1303 | 53–64 | 68–77. 157 158

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gemeinbegriffe etwas – sei es nun in den Einzeldingen selbst oder außerhalb ihrer – Gegebenes bezeichnen oder lediglich verallgemeinernde Worte sind, der Streitfrage also, ob wir, wenn wir wahrnehmen, Allgemeines oder Individuelles erfassen, geht Bergson aus dem Wege, indem er antwortet, »dass wir weder mit der Wahrnehmung des Individuums noch mit dem begrifflichen Erfassen der Art anfangen, sondern mit einer dazwischen liegenden Erkenntnis, mit einem verworrenen Gefühl der hervorstechenden Eigenschaft oder der Ähnlichkeit«, das sich näherhin auf jene Seite einer Situation oder einer Sache bezieht, »durch welche sie einer Neigung oder einem Bedürfnis entgegenkommt«. 161 Das gleichartige praktische Interesse bewirkt, dass die Dinge trotz der Unterschiede, die sie aufweisen mögen, als gleichartig aufgefasst werden. Ronchi deutet die hermeneutische Relevanz dieses Ansatzes an, wenn er hinzufügt: »Die unmittelbare Gegebenheit der Wahrnehmung ist tatsächlich ein ›Sinn‹, eine Orientierung, eine Richtung unserer Aktivität.« 162 Wir »erkennen« etwas als etwas, indem wir eine ganz bestimmte praktische Haltung dazu einnehmen. Sowohl die Achtsamkeit für individuelle Besonderheiten wie auch die Prägung eines Allgemeinbegriffs sind erst spätere Errungenschaften. Nun ist aber dieses praktisch-verallgemeinernde Reagieren auf Gegebenes als Wiedererkennen von etwas als etwas weder an die Verwendung – oder auch nur das Vorhandensein – von Allgemeinbegriffen gebunden, noch stellt es ein Spezifikum des Menschen dar. Jedes Pflanzen fressende Lebewesen verhält sich so, wenn es zwar unterschiedlichste Kräuter, aber doch nicht beliebige ihm begegnende Dinge verzehrt. Jede Pflanze verhält sich so, wenn sie in verschiedensten Böden die von ihr benötigten Nährstoffe wiedererkennt. Bergson geht sogar noch einen Schritt weiter: Selbst die Salzsäure verhält sich so, wenn sie sowohl im Marmor wie in der Kreide das Kalziumkarbonat »wiedererkennt« und beide in gleicher Weise zersetzt. 163

Il semble donc bien que nous ne débutions ni par la perception de l’individu ni par la conception du genre, mais par une connaissance intermédiaire, par un sentiment confus de qualité marquante ou de ressemblance […] Ce qui nous intéresse dans une situation donnée, ce que nous y devons saisir d’abord, c’est le côté par où elle peut répondre à une tendance ou à un besoin […]. – MM 298 f. | 176 | 154 162 Il dato immediato della percezione è infatti un « senso », un orientamento, una direzione della nostra attività. – Ronchi[1991] 169 163 MM 299 | 177 | 155 161

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Vier Aspekte dieses von Bergson vorgegebenen und von Ronchi explizit übernommenen Ansatzes scheinen mir für unsere eigene Untersuchung bedeutsam zu sein: 1. Wenn Ronchi die pragmatistischen Prinzipien betont, auf denen Bergsons Theorie menschlichen Erfahrens und Erkennens basiert, so nimmt er genau die Perspektive ein, zu der wir auf ganz anderen Wegen bereits in Kapitel 2 gelangt sind. 164 Äußerlich (biographisch) ist diese Perspektive an Bergsons Sympathien für den amerikanischen Pragmatismus, insbesondere an seinem engen Kontakt zu William James festzumachen; innerlich (inhaltlich) dokumentiert sie sich in Formeln wie denen des primum vivere oder des homo faber. Der Mensch erfährt die Wirklichkeit nicht als Beobachter, sondern als Teilnehmer, und er erfährt sie nicht als bloßer Theoretiker, sondern als ganzer Mensch, d. h. als wollendes, fühlendes, vorstellendes, vor allem aber: zum Handeln aufgefordertes und auch wirklich handelndes Lebewesen. Für eine hermeneutische Theorie folgt daraus, dass das, was Worte wie »Sinn«, »Bedeutung« und »Funktion« besagen sollen, im ersten Anlauf aus dem praktischen Weltverhältnis des Menschen zu ermitteln ist. 165 2. Im Hinblick auf die von Bergson unterschiedenen zwei Arten des Wiedererkennens stellt Ronchi fest, dass das automatische – vom Körper nur gespielte – Wiedererkennen als primär zu gelten hat. Dass es an erster Stelle steht, ist – so Ronchi – nicht die Folge eines mehr oder weniger zufällig ausgewählten Klassifikationsschemas, sondern Ausdruck seines ontologischen Status. Der »Primat« kann hier nur der »elementarsten und zugleich universalsten Form des Wiedererkennens« zukommen, also derjenigen, die »überall in der Natur« anzutreffen ist. 166 Das automatische Wiedererkennen ist nun aber in der Tat vom einfachsten Einzeller (und vielleicht sogar von der Salzsäure) bis zum Menschen, als Naturwesen betrachtet, überall zu finden. Auch in dieser Hinsicht lässt sich Ronchis Position an frühere Ergebnisse unserer Untersuchung anschließen. Wir hatten uns

Vgl. insbesondere Abschnitt 2.2.4, S. 232. Vgl. Abschnitt 2.2.2, S. 187. 166 Il suo primato è di carattere ontologico. La più elementare e, al tempo stesso, universale forma del riconoscimento deve essere infatti quella che si realizza ovunque in natura. – Ronchi[1991] 167 164 165

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in Kapitel 3 bereits mit dem automatischen Wiedererkennen als Form des Verstehens befasst. 167 Ronchis Position unterscheidet sich von der dort vorgetragenen lediglich durch eine etwas positivere Bewertung. Während wir, von der Text- bzw. Handlungshermeneutik herkommend und in Erwartung einer Theorie des »eigentlichen« Verstehens, das automatische Wiedererkennen als vorzeitig erschlafften hermeneutischen Impuls bewertet haben, betont Ronchi, dass solch gespieltes Wiedererkennen diejenige Form der Interpretation sei, mit der fast alle Lebewesen auskommen müssen und auskommen können. Das sind aber nur zwei Seiten einer einzigen Medaille. Dass das automatische Wiedererkennen als das ursprünglichere anzusehen ist und den Ausgangspunkt für die Erklärung höherer Formen des Erkennens bilden muss, können wir Ronchi nach den in Kapitel 2 durchgeführten Untersuchungen leicht zugestehen. Und auch Ronchi sieht, wie sich bald zeigen wird, das automatische Wiedererkennen nur als so etwas wie eine Startrampe an, bei der die Bahn des aufmerksamen Wiedererkennens beginnt. Blickt man auf die Liste der von Bergson angeführten Beispiele für automatisches Wiedererkennen, so wird man Ronchi Recht geben, wenn er feststellt, dass sich in Bergsons Ansatz der Pragmatismus mit dem Evolutionismus verbindet. Bergsons Analysen nehmen ihren Ausgang vom Menschen – ja von so spezifisch menschlichen Phänomenen wie den Allgemeinbegriffen – und sie kehren auch stets zum Menschen zurück, zwischenzeitlich aber graben sie tiefe Löcher in den Boden, um die naturhaften Wurzeln der menschlichen Phänomene freizulegen. Diese Denkbewegung zielt – so Ronchi – darauf ab, menschliches Bewusstsein nicht als »weltlos« (coscienza senza mondo), sondern als in die Natur eingefügt (coscienza reintegrata nella natura) zu denken. 168 Menschliches Bewusstsein wird wieder in die Natur eingefügt, indem es als ein Produkt der Evolution des Lebendigen verstanden wird. Auch diese Sicht entspricht dem, was wir uns in Kapitel 2 erarbeitet hatten. Wir hatten bereits gesehen, wie Bergson die menschliche Intelligenz als eine von mehreren Gestalten eines

3.

167 168

Vgl. Abschnitt 3.3.1.2, S. 347. Ronchi[1991] 168 f.

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4.

169 170 171

»Bewusstseins überhaupt« in den Gang der Evolution einordnet. 169 Und wir hatten ein Programm skizziert, das auf einer Polarität von Hermeneutik und Biologie sowie auf einem durch diese beiden Pole konstituierten Spannungsfeld beruhte. 170 Dieses Programm haben wir seither ein wenig aus den Augen verloren, aber nun gibt uns Ronchi Gelegenheit, darauf zurückzukommen, indem er vorschlägt, das naturhaft-körperliche Interpretieren als Basis zu betrachten, von dem her sich höhere, mit Bewusstsein verbundene Formen des Interpretierens verständlich machen lassen. Will man eine andere Form des Wiedererkennens als eine höhere Form des Interpretierens verständlich machen, so muss man mit der Frage beginnen, ob bzw. warum das automatische Wiedererkennen nicht genügt, obwohl doch die meisten Lebewesen nur über diese Form der Erkenntnis verfügen. Welches Defizit weist es auf? Diese Frage ist nun aber nicht schwer zu beantworten, und sie ist in der Tat schon vor Bergson – etwa von Boutroux 171 – beantwortet worden: Das automatische Wiedererkennen genügt in der Praxis einem Lebewesen, das in einer von Veränderungen freien Wirklichkeit lebt. Es genügt auch in der Theorie, sofern zu klären ist, wie und warum Lebewesen sich in einer stabilen Welt orientieren und darin überleben können. Es genügt aber nicht, wenn die Theorie berücksichtigen will, dass es in der uns bekannten Wirklichkeit auch Veränderung gibt. Anders formuliert: Automatisches Wiedererkennen kennt keinen Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, weil es auf dem Prinzip basiert, dass auf die »selbe« Situation immer wieder die selbe Antwort zu geben ist. Vergangenheit und Zukunft heben sich nicht von der Gegenwart ab, weil alle Vollzüge bis in die Gegenwart und in die Zukunft hinein identische Wiederholungen des Vergangen sind. Deshalb gibt es beim automatischen Wiedererkennen auch keine Unterscheidung von Wahrnehmen, Vorstellen und Handeln. Diese – auf höheren Ebenen getrennten – Aspekte fallen hier so zusammen, dass die Wahrnehmung ohne ein dazwischengeschaltetes Vorstellen und

Vgl. Abschnitt 2.3.1, S. 245. Vgl. Abschnitt 2.2.1, S. 179. Vgl. dazu Fedi[2001] 106 ff.

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Überlegen unverzüglich mit dem standardisierten Handlungsmuster beantwortet wird. 172 Was Ronchi hier beschreibt, ist letztlich das, was wir in unserer Auseinandersetzung mit den von Pflug und Lapoujade vorgetragenen Thesen als »geschlossene Zirkel« bezeichnet haben. 173 In Bezug auf das bereits Erörterte bedeutet diese Übereinstimmung: Für das automatische Wiedererkennen gibt es keine Unterscheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, weil es sich stets in den gleichen Kreisbahnen bewegt, die (aus seiner Sicht) immer gleichen Situationen mit den immer gleichen Verhaltensmustern beantwortet und so Veränderung unmöglich macht. Im Hinblick auf die uns nun bevorstehende Thematik bedeutet sie: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft können als eigenständige Ekstasen der Zeit nur dann in Erscheinung treten, wenn die geschlossenen Zirkel aufgebrochen werden. Aufgebrochene, hermeneutische Zirkel sind die Bedingung der Möglichkeit von Veränderung. Darum also geht es: Es muss nun gezeigt werden, wie Veränderung möglich ist. Dieses »Wie« ist nicht so zu verstehen, als ob Bergson evolutionstheoretisch erklären wollte, wie es zur Herausbildung einer anderen Form des Wiedererkennens kommen konnte. Seine Fragestellung ist vielmehr – wie Ronchi formuliert – »ausschließlich phänomenologisch« motiviert 174: Automatisches Wiedererkennen gibt es nicht nur bei Pflanzen und Tieren. Es kommt auch in der menschlichen Erfahrung vor. Daneben aber tritt in der menschlichen Erfahrung eine andere, mit Bewusstsein verbundene Form des Wiedererkennens auf, und da Bergsons Philosophie – wie wir bereits festgestellt haben – in erster Linie eine Theorie der gesamten menschlichen Erfahrung sein will, muss sie diese Gegebenheit ernst nehmen. Schon eher könnte man also sagen, dass Bergson die Frage klären will, wie die beiden Formen des Wiedererkennens bzw. des Interpretierens beim Menschen koexistieren können, wann der Mensch sich der einen oder der anderen Form bedient und was geschehen muss, damit der Mensch von der einen zur anderen Form übergeht. Das In-Erscheinung-Treten des mit Bewusstsein verbundenen, die als solche vorgestellte Vergangenheit zur Erhellung einer auf die Zukunft aus172 173 174

Ronchi[1991] 170 f. Vgl. Abschnitt 3.3.1.3, S. 357. Ronchi[1991] 173

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gerichteten Gegenwart nutzenden aufmerksamen Wiedererkennens bezeichnet Ronchi zwar als »Auftritt des Geistes« (debutto dello spirito), ja als »Geburt des selbstbewussten Geistes« (nascita dello spirito autocosciente), aber auch das ist keine biologische, evolutionstheoretische, sondern eine philosophische, ontologische These: Auch das automatische Wiedererkennen ist eine Leistung des Geistes, aber eines Geistes, der im Modus des »An sich« (in-sé) ist. Der Übergang zum aufmerksamen Wiedererkennen ist die Geburt eines Geistes, der auch »für sich« (per-sé) ist. 175 Abschließend – bzw. als Übergang zum folgenden Abschnitt – formuliert Ronchi drei Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit ein derartiger Übergang möglich wird. Die Formulierungen dieser drei Bedingungen orientieren sich am Bild des auf der Spitze stehenden Kegels: 1. Entscheidende Vorbedingung ist zunächst einmal ein »Zögern«, d. h. ein »Aussetzen« oder zumindest ein »Aufschub« der unmittelbaren Reaktion. 176 Im Bild des auf der Spitze stehenden Kegels ist der Punkt S ja kein unstrukturierter Punkt, sondern im Grunde ein geschlossener Zirkel, bei dem der aus der Situation herrührende Apell und die standardisierte Reaktion unmittelbar aufeinander folgen. Genau an dieser Stelle muss sich ein Riss auftun, und der Riss muss zu einem Spalt geweitet werden. Ohne Bild gesprochen, heißt das, dass zwischen Reiz und Reaktion ein Abstand eingeschoben werden muss, damit ein bewusstes Interpretieren bzw. ein Abwägen von Handlungsoptionen möglich wird. Dieses »Zögern« ist genau jener »Abstand«, jene Nicht-Übereinstimmung, auf die wir schon im Zusammenhang mit Bergsons Theorie des Bewusstseins bzw. des Unbewussten gestoßen waren. 177 Auch hier aber geht es nicht um eine evolutionstheoretische Erklärung, sondern um eine anthropologische oder fundamentalontologische Feststellung: Der Mensch ist dasjenige Lebewesen, das zögern kann. 178 2. Der Punkt S muss zu einem »Absprungpunkt« (punto di fuga) werden. Allein damit, dass das Zögern einen Abstand zwischen

Ronchi[1991] 171 f. Ronchi[1991] 171–172, 176 177 Vgl. Abschnitt 2.1.3, S. 154. 178 quell’ente che è caratterizzato nel suo essere da una esitazione nella risposta motrice – Ronchi[1991] 191 175 176

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3.

Reiz und Reaktion schafft, ist noch nicht viel gewonnen. Der Abstand muss gefüllt, die Zeit, die man sich durch den Aufschub der Handlung verschafft hat, muss genutzt werden. Das geschieht durch den »Absprung« in die Betrachtung der Vergangenheit, die »Flucht in den Traum«, im Bild also durch einen Sprung von der Ebene P zur Kegelbasis AB. Aber dieser Sprung steigert noch das Risiko. Deutet nämlich – zumindest aus der Perspektive der Natur und der Gesellschaft – schon das Zögern auf irgendeinen Mangel des Handlungsmusters hin, der zu einer Unsicherheit des Handelns führt, so kommt nun die Gefahr hinzu, dass zwar der Absprung, aber nicht die Rückkehr gelingt, dass also der Mensch in träumendes Betrachten versinkt, statt über Möglichkeiten des Handelns in der Gegenwart nachzudenken. Indessen ist das »Risiko, sich im Imaginären zu verlieren« 179, nicht zu vermeiden, wenn es möglich sein soll, über eine unendliche Wiederholung der immer gleichen Handlungsmuster hinauszukommen. Um die Rückkehr zu ermöglichen, muss der Punkt S zugleich als »Verankerungspunkt« (punto di ancoraggio) fungieren. Dem Gesprungenen muss also bewusst bleiben, dass er gesprungen ist, um durch die Betrachtung des Vergangenen die gegenwärtige Situation zu erhellen und zukünftige Handlungsmöglichkeiten zu ermitteln. Ronchi formuliert hier glasklar eine These, die Jean Hyppolite (und vielen anderen Interpreten) nicht gefallen dürfte, die aber nicht nur nicht zu vermeiden, sondern die sogar einleuchtend ist, wenn man im Auge behält, dass Bergson in Matière et mémoire das »niedere Geistesleben« untersucht: Die Betrachtung der eigenen Vergangenheit ist – so Ronchi – kein Selbstzweck, sondern dient letztlich der Ausprägung eines neuen Handlungsmusters. 180 Gewiss, es handelt sich hier um die Reflexion des Geistes auf seine eigene Vergangenheit. Aber der Geist darf sich nicht in der Vergangenheit verlieren, sondern muss in die Gegenwart zurückkehren.

rischio die perdersi nell’immaginario – Ronchi[1991] 176 L’immaginazione del passato porta a termine con altri mezzi un riconoscimento che deve comunque concludersi con la formazione di un determinato abito di risposta. – Ronchi[1991] 175 179 180

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4.2.3.2 Der Erwerb neuer Handlungsmuster Wie also erwerben wir neue Handlungsmuster? »Wie gehen wir vor, um ganz allein eine komplexe [körperliche] Übung zu erlernen?« 181 Bergson selbst stellt diese Frage, und er beantwortet sie in L’effort intellectuel anhand eines – wie ich jedenfalls finde – bemerkenswerten Beispiels. Ich möchte deshalb – wie zuvor schon Hyppolite – nun auch Ronchi unterbrechen, ja ich möchte ihm sogar noch ärger ins Wort fallen, denn während ich Hyppolites Ausführungen nur unterbrochen habe, um Hintergrundinformationen zu einem von diesem selbst in Anspruch genommenen Bild zu liefern, handelt es sich hier um ein Beispiel, auf das Ronchi selbst gar nicht eingeht. Ronchi operiert mit dem Beispiel des Sprachverstehens. Nun kann uns der Umstand, dass Ronchi auf das Verstehen sprachlicher Äußerungen eingeht, gewiss nur willkommen sein, bietet er uns doch, nachdem wir seinen Ansatz bereits an wichtige Ergebnisse der Kapitel 2 und 3 anschließen konnten, die Möglichkeit, nun auch noch eine Verbindung zu dem in Kapitel 1 Erarbeiteten herzustellen. Gleichwohl birgt der Rückgriff auf das Sprachverstehen als einziges Beispiel die Gefahr gewisser Einseitigkeiten, und eben um diese nach Möglichkeit zu vermeiden, möchte ich hier zunächst einmal ein Beispiel anführen, in dem nicht gesprochen, sondern nur getanzt, aber gleichwohl interpretiert wird. Wenn wir nun auch dieses Beispiel zwar nicht gegen, wohl aber ohne Ronchi betrachten, so erfahren wir doch bereits aus der Frage, mit der Bergson beginnt, Wichtiges über Ronchis Bergson-Interpretation: »Wie gehen wir vor?« – das ist die Frage, durch deren Berücksichtigung sich Ronchi von Hyppolite unterscheidet. Würde sich Bergsons Philosophie darauf beschränken, die von Hyppolite in den Mittelpunkt gestellte Nicht-Übereinstimmung des Menschen mit sich selbst herauszuarbeiten, so könnten wir sagen, dass sie Freiräume schafft, die nachträglich mit hermeneutischen Denkelementen gefüllt werden können, und wir könnten von einer mit der Hermeneutik kompatiblen Philosophie sprechen. Aber Bergson belässt es nicht bei dieser philosophischen Anthropologie oder Fundamentalontologie. Er erarbeitet zunächst eine – wie wir in Kapitel 2 formuliert ha181 Comment procédons-nous pour apprendre tout seuls un exercice complexe […] ? – ES 950 | 178 | 160 – Vgl. dazu die Parallelstelle MM 255 | 122 | 103, wo Bergson die Frage nicht explizit stellt, sie aber doch voraussetzt: Pour apprendre un exercice physique, nous commençons par […].

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ben – Phänomenologie der in der Lebenswelt vorfindlichen Interpretations- und Verstehensleistungen, und er sammelt diese vortheoretisch ablaufenden Vorgänge auch nicht nur, sondern befragt sie auf eine in ihnen erkennbare gemeinsame Struktur: »Wie gehen wir vor?«. Erst diese Fragestellung berechtigt uns, wie ich meine, Bergsons Philosophie als hermeneutische Philosophie zu bezeichnen. Weil Hyppolite sich für die Frage nach dem Prozeduralen nicht interessiert, können bei ihm hermeneutische Elemente der bergsonschen Philosophie nur gelegentlich am Rande aufscheinen. Weil andererseits Ronchi Bergsons Frage nach dem Wie aufnimmt und sie ins Zentrum seiner Untersuchung rückt, gewinnt er eine Perspektive, von der aus die Einsicht in die »tiefe Hermeneutizität« von Bergsons Denken fast nicht mehr zu vermeiden ist. Aber wenden wir uns nun dem von Bergson vorgetragenen Beispiel zu. Die Frage, wie wir ein neues Handlungsmuster erwerben, stellt er erstmals in Matière et mémoire, und er beantwortet sie dort in einer vergleichsweise kurzen, allgemeinen und wenig anschaulichen Textpassage. 182 Im Aufsatz L’effort intellectuel nimmt er die Frage noch einmal auf, und hier veranschaulicht er seine theoretischen Ausführungen durch das breit ausgeführte Beispiel einer Person, die das Walzer-Tanzen erlernen will oder muss. 183 Der Kontext dieses Beispiels belehrt uns, dass der Ausdruck »neues Handlungsmuster« in verschiedenem Sinne gebraucht werden kann. Die Textpassage, auf die wir uns hier beziehen, befindet sich im dritten Teil des Aufsatzes, in dem das Erfinden als eine Form der intellektuellen Anstrengung untersucht wird. »Erfinden« aber ist das Erschaffen von objektiv – d. h. aus der Perspektive der Gesellschaft oder der Geschichte – Neuem, bisher Unbekanntem. Davon kann aber im Beispiel des Walzer-Tanzen-Lernens nicht die Rede sein. Es geht nicht darum, das Walzer-Tanzen zu erfinden, sondern es sich anzueignen. Das Walzer-Tanzen ist hier also ein subjektiv – aus der Perspektive der konkreten Person – neues Handlungsmuster. Dass man diesen Doppelaspekt im Auge behalten muss, wird schon deutlich, wenn Bergson beschreibt, wie der Anfänger anfängt: »Zuerst sehen wir dem Tanzen zu.« 184 Das scheint klar zu sein: WähMM 255 f. | 122 | 103 f. ES 950–952 | 178–181 | 160–162 – Alle nachfolgenden Zitate, denen keine Quellenangabe zugeordnet ist, sind dieser Textpassage entnommen. 184 Nous commençons par regarder danser. 182 183

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rend dem Erfinder nur ein mehr oder weniger vages Bild des zu Realisierenden vorschwebt, kann derjenige, der ein bereits existierendes Handlungsmuster erlernen will, anderen Personen bei der Ausführung zuschauen und dann versuchen, es nachzumachen. Aber heißt das, dass dem Erfinder nur ein vages, dem Übenden dagegen ein deutliches Bild vor Augen steht und dass die Theorie des Erwerbs von Neuem eine entsprechende Unterscheidung einführen müsste? Bergson ist nicht dieser Ansicht: »Aber welcher Art war dieser Eindruck? Können wir sagen, dass er ein klares, bestimmtes, vollständiges Bild der Walzerbewegung war? Damit würden wir behaupten, dass man die Bewegung des Walzers genau wahrnehmen kann, ohne ihn tanzen zu können. Wenn man nun aber, um den Tanz zu lernen, damit beginnen muss, ihn tanzen zu sehen, so sieht man ihn umgekehrt in seinen Einzelheiten und auch als Ganzes nur dann gut, wenn man schon einige Übung darin hat, ihn selbst auszuführen.« 185

Hier zeigt sich ein Zirkel, und zwar ein ambivalenter Zirkel. Man kann nicht kategorisch sagen, dass dieser Zirkel ein schlechter, unproduktiver ist, aber wir haben, als wir in Kapitel 3 eine ganz ähnliche Textpassage herangezogen haben, bereits erfahren, wie er unproduktiv werden kann. Es geht in jener Passage aus L’évolution créatrice um das Schwimmen-Lernen, und Bergson zeigt dort, dass aus der Frage, wie man das Schwimmen erlernen kann, unter tätiger Beihilfe eines vorgeblich vernünftigen Denkens leicht die skeptische Frage wird, ob man es überhaupt erlernen kann, »indem nämlich zum Schwimmen-Lernen bereits gehöre, sich über Wasser halten, d. h. also schwimmen zu können« 186. Dieser Zirkel tendiert dazu, uns in den Kreis des Bekannten und Vertrauten einzuschließen. Erwägt man diese Parallelstelle (und weitere Parallelen wie etwa das Auswendiglernen des Gedichts), so fällt zunächst einmal auf, wie häufig das Thema des Lernens und Übens bei Bergson vorkommt. Das kann man biographisch auf Bergsons Erfahrung als Lehrer zurückführen, aber man sieht doch bald, dass es einen tieferen, philosophischen Grund gibt: Lernen und Üben sind diejenigen Vorgänge, 185 Mais quelle était cette impression ? Dirons-nous que c’est une image nette, définitive, parfaite, du mouvement de la valse ? Parler ainsi serait admettre qu’on peut percevoir exactement le mouvement de la valse quand on ne sait pas valser. Or il est bien évident que si, pour apprendre cette danse, il faut commencer par la voir exécuter, inversement on ne la voit bien, dans ses détails et même dans son ensemble, que lorsqu’on a déjà quelque habitude de la danser. 186 Vgl. Kap. 3, Anm. 114.

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durch die ein endliches Wesen, wie es der Mensch ist, Neues realisiert. Folglich muss es für Bergson darum gehen, die Struktur dieser Prozesse zu ermitteln und darzustellen. Die Realisierung von Neuem stößt aber auf den Widerstand des Alten, schon Bestehenden, und die skeptische Einrede »Das geht doch gar nicht!« ist die erste Gestalt, in der sich dieser Widerstand bemerkbar macht. Die hier auftretende Schwierigkeit kann man im Hinblick auf unsere bisherigen Erörterungen auch so formulieren: Jemand, der etwas – sei es nun subjektiv oder objektiv – Neues realisieren will, verfügt über die Vorstellung von etwas Zukünftigem, die Vorstellung von einer Zukunft, die in wenigstens einer Hinsicht anders ist als die Gegenwart. Präziser formuliert: Er oder sie verfügt über die Vorstellung einer Zukunft, die anders ist als die zeitlose Wiederholung des Immer-Gleichen. Die Vorstellung des Neuen, Anderen zu erwägen, bedeutet, ein Ausbrechen aus den vertrauten Bahnen in Erwägung zu ziehen. Dagegen sträuben sich die alten Handlungs- und vielleicht auch die alten Denkmuster. Sie sträuben sich, weil sie ahnen, was ihnen droht: Vergangenheit zu werden. Die Theorie des Erwerbs von Neuem muss demnach erklären, wie es möglich ist, die geschlossenen Zirkel auf- und aus den Kreisen des Immer-Gleichen auszubrechen. Bergsons Antwort lautet: Das Auf- und Ausbrechen erfordert einen Sprung. Im Text über das Schwimmen-Lernen schreibt er: »Die Tat aber durchbricht den Kreis.« Und in L’effort intellectuel heißt es über den Erfinder: »Wie aber könnte man ein Problem anders lösen als so, dass man zunächst einmal annimmt, es sei schon gelöst?« 187 Mit anderen Worten: Irgendwann muss man aufhören, darüber zu diskutieren, ob so etwas wie Schwimmen überhaupt möglich ist, und einfach ins Wasser springen. Irgendwann muss man aufhören, nur von dem zu träumen, was möglicherweise möglich ist, unterstellen, dass es in der Tat möglich, somit realisierbar ist, und mit der Realisierung beginnen. Gegen einen derartigen Sprung lässt sich einwenden, dass er unvernünftig ist, sofern man unter Vernunft eine Denkweise versteht, die allein auf das Bestehende ausgerichtet ist. Gegen einen derartigen Sprung lässt sich auch einwenden, dass er riskant ist. Es lässt sich überhaupt immer etwas, und meistens sogar vieles einwenden. Aber der Sprung, der, wie man sieht, ein Sprung in die Zukunft

187 Or, comment résoudre un problème autrement qu’en le supposant d’abord résolu ? – ES 946 f. | 174 | 156

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ist und diese Zukunft als realisierbar unterstellt, ist der einzige Weg, der aus dem schlechten, geschlossenen Zirkel hinausführt. Nun besagte ja die These, die ich am Ende unserer Betrachtung des »schlechten« Zirkels aufgestellt hatte, dass das Aufbrechen des geschlossenen Zirkels nicht zum Zerbrechen des Zirkels überhaupt, sondern zum Einstieg in einen »guten«, offenen, kurz: einen hermeneutischen Zirkel führe. 188 Damit nähern wir uns der von Heidegger formulierten Frage, wie man in den (hermeneutischen) Zirkel hineinkommt, müssen allerdings zuvor die Frage klären, warum man überhaupt in einen neuen Zirkel hineinkommt. Oder vielmehr – denn in Wahrheit ist der »neue« Zirkel kein anderer als der alte –: Warum verschwindet das Zirkelhafte nicht, nachdem es gelungen ist, den geschlossenen Zirkel aufzubrechen? Warum verfolgt der Mensch, der etwas Neues realisiert, nicht eine geradlinige Bahn wie ein Flugkörper, dem es gelungen ist, die Erdatmosphäre und den Bereich der Erdanziehung zu verlassen? Bergson formuliert die Antwort – die grundsätzliche, theoretische Antwort – in zwei einfachen Sätzen, die aber für das Verständnis seines Denkens von eminenter Bedeutung sind. Nach dem eben zitierten Satz, dass ein Erfinder nur dann wirklich etwas erfindet, wenn er sich auf den Standpunkt stellt, dass seine Idee realisierbar ist, wenn er, mit anderen Worten, an seine Idee glaubt, fährt Bergson fort: »Man denkt sich […] ein Ideal, das heißt einen gewissen bereits erreichten Effekt, dann sucht man herauszufinden, durch welche Zusammensetzung von Elementen dieser Effekt zu erreichen ist. Man versetzt sich mit einem Sprung gleich bis zum vollständigen Resultat, bis zu dem Endziel, um dessen Realisierung es sich handelt: die ganze Anstrengung des Erfindens ist dann ein Bemühen, den Graben, den man übersprungen hat, auszufüllen und noch einmal zu dem gleichen Ziel zu gelangen, aber diesmal, indem man dem fortlaufenden Faden der Hilfsmittel folgt, die es realisieren würden.« 189

Es genügt ja nicht, einfach nur in den Glauben an das Zukünftige hineinzuspringen. Dies allein wäre nur Illusion, Selbsttäuschung, Vgl. Abschnitt 3.3.1.3, S. 357. On se représente […] un idéal, c’est-à-dire un certain effet obtenu, et l’on cherche alors par quelle composition d’éléments cet effet s’obtiendra. On se transporte d’un bond au résultat complet, à la fin qu’il s’agit de réaliser: tout l’effort d’invention est alors une tentative pour combler l’intervalle par-dessus lequel on a sauté, et arriver de nouveau à cette même fin en suivant cette fois le fil continu des moyens qui la réaliseraient. – ES 947 | 174 | 156 188 189

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Wahn. Der Sprung erfolgt aber auch nicht in dem Glauben, dass durch ihn allein das zuvor nur Erträumte oder Erwünschte schon Wirklichkeit würde. Der Sprung ist vielmehr – wie Heidegger formulieren würde – »Vor-sprung«, »Ent-wurf«. Er dient dazu, ein Leitbild zu formulieren, an dem sich die weitere Bemühung orientieren kann, nicht dazu, sich diese Bemühung zu ersparen. Der Sprung ist Sprung in ein Projekt. Man kann mit Fug und Recht sagen, dass es sich dabei um einen existenziellen Sprung handelt, denn er bewirkt letztlich, dass aus einer nur theoretischen Idee ein persönliches Lebensziel wird. Indem der Erfinder springt, sagt er gleichsam: Ich will diese Idee realisieren, mag ich dafür auch Monate oder gar Jahre meines Lebens verwenden, schlimmstenfalls sogar vergeuden müssen. Und so schließt sich denn an den Sprung das eigentliche Projekt an, von dem Bergson sagt, dass es darin bestehe, den zunächst übersprungenen Graben »auszufüllen«, d. h. so weit aufzufüllen, dass man ihn ein zweites Mal, aber dann nicht mehr springend, sondern Schritt für Schritt vorwärts gehend überqueren kann. Dazu werden »Elemente« und »Hilfsmittel« benötigt. Das sind Worte, die man zunächst für klar und selbstverständlich halten kann, wenn man an einen Erfinder denkt, der eine neuartige Maschine aus irgendwelchen Teilen zusammenbaut. Aber wir haben es ja hier nicht mit einer Theorie mechanischer Erfindungen zu tun, sondern mit einer Theorie des Schaffens und Aneignens von Neuem überhaupt, und in diesem Zusammenhang ist schon weniger klar, welchen Sinn die Worte »Element« und »Hilfsmittel« haben. Woher also kommt das Material, mit dem der Neuerer den Graben auffüllt? Angesichts dieser Fragestellung empfiehlt es sich, wieder zu unserem Tanzschüler zurückzukehren. Dieser hatte sich zunächst ein Bild davon gemacht, wie das Walzer-Tanzen aussieht. Er hatte dieses Bild dann zu seinem Leitbild gemacht – und zwar einerseits, indem er beschloss, das Walzer-Tanzen selbst zu erlernen, andererseits (und vor allem), indem er den Sprung wagte, indem er das Zweifeln und Zögern überwand und zur Tat schritt. Die anfängliche Tat dürfte nicht sehr viel mehr als ein ungelenk ausgeführter Grundschritt gewesen sein, aber mit dieser an sich wenig eindrucksvollen Schrittfolge ist es ihm gelungen, aus dem schlechten Zirkel des Zweifels heraus- und in einen offenen, hermeneutischen Zirkel hineinzukommen. Indessen: Wieso ist es ihm überhaupt gelungen, diese einfache Schrittfolge zustande zu bringen? Bergson antwortet:

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»Um die Gewohnheit einer komplexen Bewegung, wie es der Walzer ist, zu erwerben, müssen wir die Gewohnheit der elementaren Bewegungen, in die sich der Walzer zerlegen lässt, schon haben. Es ist in der Tat leicht zu sehen, dass die Bewegungen, die wir gewöhnlich ausführen, um zu gehen, uns auf die Fußspitzen zu erheben, uns um uns selbst zu drehen, dieselben sind, die wir benutzen, um das Walzer-Tanzen zu erlernen.« 190

Das heißt: Es geht zwar darum, objektiv Neues zu schaffen oder sich zumindest subjektiv Neues anzueignen, aber solches Schaffen von Neuem vollzieht sich nicht als creatio ex nihilo, und es räumt nicht alles Bestehende beiseite, um etwas vollkommen Anderes an dessen Stelle zu setzen. Der produktive Mensch fängt nicht immer wieder bei Null an. Er schafft gewiss nur dadurch Neues, dass er sich auf den durch ein Leitbild markierten Standpunkt stellt und das bisher Gültige als bloßes Material betrachtet; andererseits schafft er aber eben auch Neues nur dadurch, dass er das bisher Gültige nicht einfach ignoriert, sondern es als Material gelten lässt und es transformiert. Was ist also geschehen? Von der bloßen Repetition des ImmerGleichen weicht der produktive Mensch ab, indem er sich durch einen Sprung ein neuartiges Leitbild gibt. Dadurch tritt Zukunft in Erscheinung als eine von der uneigentlichen Gegenwart des Immer-Gleichen abweichende Zeit, in der das, was jetzt bloßer Entwurf ist, Wirklichkeit geworden sein wird. Mit dem Einstieg in das Projekt der Realisierung des Leitbildes verlieren aber die bisher selbstverständlichen Handlungsmuster ihren Status. Sie sinken ab zu Vergangenheit, d. h. zu ehemaligen, jetzt jedoch nicht mehr handlungsleitenden Mustern. Aber gerade weil der Kontext, in dem sie einmal als handlungsleitende Muster galten und wirkten, durch den Sprung zerstört worden ist 191, gerade weil diese Muster nunmehr bedeutungs-los geworden sind, sind sie frei geworden für die Zuweisung einer neuen Bedeutung, und so kann das Vergangene zum Material, können die über-

190 […] pour contracter l’habitude d’un mouvement complexe comme celui de la valse, il faut avoir déjà l’habitude des mouvements élémentaires en lesquels la valse se décompose. De fait, il est aisé de voir que les mouvements auxquels nous procédons d’ordinaire pour marcher, pour nous soulever sur la pointe des pieds, pour pivoter sur nous-mêmes, sont ceux que nous utilisons pour apprendre à valser. 191 Der Sachverhalt stellt sich natürlich in vielen Fällen komplexer dar. Selbst dann, wenn man das Walzer-Tanzen perfekt beherrscht, wird man sich in der Regel nicht im Walzerschritt zur Arbeit und zum Einkauf bewegen. Es ist also sehr gut möglich, dass bestimmte Denk- und Handlungsmuster in einem bestimmten Lebensbereich nicht mehr leitend sind, in anderen dagegen durchaus noch.

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holten Verhaltensmuster zu Bausteinen werden, aus denen sich neuartige Muster konstruieren lassen. Die Gegenwart – und zwar nun nicht mehr die uneigentliche, sondern die Gegenwart im eigentlichen Sinne des Wortes – ist dann geprägt durch jene »Anstrengung« (effort), die im Titel von Bergsons Aufsatz genannt wird: die Anstrengung der Vermittlung von (in die Zukunft gerichtetem) Leitbild und (aus der Vergangenheit entnommenem) Material. Dass der Prozess der Realisierung von Neuem eine »Anstrengung«, d. h. dass er mit erheblicher Mühe verbunden ist, hat zwei Ursachen. Zum einen darf man sich das Leitbild nicht als einen im Detail ausgearbeiteten Plan vorstellen. Das gilt für Ideen, die zu objektiv Neuem führen sollen, allemal, das gilt aber, wie wir bereits gehört haben, auch für die Aneignung von nur subjektiv Neuem: Wer vom Tanzen noch nichts versteht, wird auch (und gerade) die Darbietungen der besten Tänzer nur äußerst lückenhaft wahrnehmen. Oder vielmehr: Er wird nur ein diffuses Wirbeln wahrnehmen, das erst in dem Maße an Struktur gewinnt, in dem es ihm gelingt, das Wahrnehmungsbild unter Verwendung der ihm zur Verfügung stehenden Bewegungselemente zu rekonstruieren. Der Bewegungseindruck erfordert also eine Analyse, d. h. eine Zerlegung, aber nicht eine beliebige, sondern eine, die auf die verfügbaren Bewegungselemente Bezug nimmt. Zum anderen darf man sich nun aber diese Bewegungselemente nicht als gestalt- und wesenlos vorstellen. Das bisher Gültige – das sind ja jene Verhaltensmuster, die nicht nur bis gestern noch als Leitbilder fungierten, sondern die selbst einmal mühsam geschaffen werden mussten. Mag das Leben auch aus ihnen entwichen sein, so stellen sie doch nicht minder Errungenschaften des Lebens dar als jene Formen, die der Neuerer schaffen möchte. Mag ihr Sinn auch in Vergessenheit geraten sein, so sind sie doch nicht sinnlos. Kurzum: Diese Formen lassen sich nicht einfach als fügsames, für beliebige Zwecke einsetzbares Material behandeln. Sie besitzen eine eigene Gestalt und eine eigene Tendenz. Und deshalb leisten sie Widerstand. Die Unschärfe des Leitbildes sowie das Eigenprofil des Materials sind also dafür verantwortlich, dass die Vermittlung zwischen beiden eine Anstrengung erfordert – eine Anstrengung übrigens, die nicht mit einem Schlag zum Ziel führt, sondern die Form eines Hin und Her, oder eben: die Form eines offenen, produktiven Zirkels aufweist:

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»Aber die alte Gruppierung kämpft gegen die neue. Die Gewohnheit des Gehens, zum Beispiel, behindert die Versuche zu tanzen. Das kinästhetische Totalbild des Gehens hindert uns, aus den kinästhetischen Einzelbildern des Gehens und noch ein paar anderen Einzelbildern sofort das kinästhetische Totalbild des Tanzens aufzubauen. Es gelingt dem Schema des Tanzens nicht auf Anhieb, sich mit den passenden Bildern auszufüllen. Diese Verzögerung, die dadurch verursacht wird, dass das Schema die verschiedenartigen Einzelbilder allmählich zu einem neuen modus vivendi untereinander bringen muss, die in vielen Fällen auch durch die Modifikationen veranlasst wird, die wir dem Schema zufügen, damit es in Bildern aufrollbar werde – diese Verzögerung sui generis, bestehend aus tastenden Versuchen, aus mehr oder weniger erfolgreichem Probieren, aus dem Anpassen der Bilder an das Schema und des Schemas an die Bilder, aus Durchkreuzungen und Überlagerungen der Bilder untereinander, – ist diese Verzögerung nicht gerade das Maß für den Abstand zwischen dem mühseligen Probieren und der leichten Ausführung, zwischen dem Erlernen einer Fertigkeit und dieser Fertigkeit selbst?« 192

Es ist dem Tanzschüler also gelungen, der drohenden Gefahr des unproduktiven Zirkels zu entgehen und in einen produktiven Zirkel hineinzukommen, von dem wir – wenn auch mit der im Moment noch gebotenen Vorsicht – sagen wollen, dass es sich bei ihm um einen hermeneutischen Zirkel handelt. Es ist dem Tanzschüler gelungen, »nach der rechten Weise in den Zirkel hineinzukommen«, und diese »rechte Weise« ist vor allem durch zwei Momente zu charakterisieren: zum einen durch den »Sprung«, d. h. die Bereitschaft, trotz aller offenkundigen Unvollkommenheit einen ersten Versuch zu unternehmen, zum anderen durch die anschließende »Anstrengung«, in einem zirkelhaften Hin und Her zwischen Leitbild und Material (1) das Leitbild zu klären, (2) die für seine Realisierung geeigneten 192 Mais l’ancien groupement lutte contre le groupement nouveau. L’habitude de marcher, par exemple, contrarie la tentative de danser. L’image kinesthésique totale de la marche nous empêche de constituer tout de suite, avec les images kinesthésiques élémentaires de la marche et telles ou telles autres, l’image kinesthésique totale de la danse. Le schéma de la danse n’arrive pas du premier coup à se remplir des images appropriées. Ce retard causé par la nécessité où se trouve le schéma d’amener graduellement les images multiples élémentaires à un nouveau modus vivendi entre elles, occasionné aussi, dans bien des cas, par des modifications apportées au schéma pour le rendre développable en images – ce retard sui generis qui est fait de tâtonnements, d’essais plus ou moins fructueux, d’adaptations des images au schéma et du schéma aux images, d’interférences ou de superpositions des images entre elles – ce retard ne mesure-t-il pas l’intervalle entre la tentative pénible et l’exécution aisée, entre l’apprentissage d’un exercice et cet exercice lui-même ?

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Elemente auszuwählen, zu modifizieren und zu kombinieren und so schließlich (3) das neue Handlungsmuster schrittweise zu vervollkommnen. Diese Anstrengung, durch die das zuvor als bloße Idee Gegebene unter Verwendung des verfügbaren Materials rekonstruiert und so erst eigentlich realisiert wird, ist das, was Bergson als das »Auffüllen« des zuvor übersprungenen Grabens bezeichnet hatte. Halten wir, bevor wir den Tanzschüler seinen weiteren Übungen überlassen, noch eine wichtige Einsicht fest, die sich aus diesem Beispiel Bergsons entnehmen lässt. Ich hatte zu Beginn dieses Kapitels die Leitfrage formuliert, ob Bergsons durée gestaltloses – und dann nur durch eine Art von Schau erfassbares – Fließen sei oder ob sie eine Art von – Erkenntnis ermöglichender – Artikulation aufweist. Ich hatte dann, die Hyppolite-Lektüre einleitend, darauf aufmerksam gemacht, dass wir zwar im Rahmen dieser Lektüre auf eine Artikulation der Dauer stoßen, diese Artikulation jedoch vermutlich nicht den mit dem Wort »Artikulation« verbundenen Erwartungen entsprechen würde. In der Tat führte uns Hyppolites Interpretation nicht auf etwas, was mit der sprachlichen Artikulation – d. h. der Einteilung der Rede in Sätze und Worte – vergleichbar wäre, sondern »nur« auf die Artikulation der Dauer in die drei Ekstasen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Nun haben wir noch gar nicht versucht, das Beispiel des Walzer-Tanzen-Lernens auf eine allgemeinere theoretische Ebene zu heben, aber es wird doch jetzt schon deutlich, dass die »Enttäuschung« unserer Erwartungen im Hinblick auf die Artikulation der Dauer nur eine vorläufige war. Das Beispiel zeigt nämlich, dass die Artikulation im Sinne einer Strukturierung des Handlungsverlaufs sich als Konsequenz aus der Artikulation im Sinne einer Unterscheidung der Zeit-Ekstasen ergibt: Weil der Schüler sich das Totalbild des Tanzes, über das er in der Zukunft verfügen möchte, nur aneignen kann, indem er es – vermittels einer gegenwärtigen Anstrengung – aus den in der Vergangenheit geschaffenen und zur Vergangenheit gewordenen Bewegungselementen zusammensetzt, lässt sich seine Tanzbewegung als eine artikulierte, d. h. als eine aus verschiedenen Elementen bestehende begreifen. 4.2.3.3 Die konzentrischen Kreise der Interpretation Wenn wir uns nun wieder Rocco Ronchi zuwenden und nach seiner Analyse des automatischen Wiedererkennens jetzt diejenige des aufmerksamen Wiedererkennens nachvollziehen, so wird dies unter 526 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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zwei Gesichtspunkten erfolgen, die ich im vorigen Abschnitt schon angedeutet habe. Ronchi erläutert das nicht nur gespielte, sondern mit Aufmerksamkeit, d. h. mit Bewusstsein verbundene Wiedererkennen nicht am Beispiel des Tanzen-Lernens, sondern an demjenigen des Sprachverstehens. Es wird also zunächst darum gehen, diese beiden Beispiele miteinander zu verknüpfen. Die Verknüpfung soll es uns dann aber ermöglichen, die Ebene des bloß Beispielhaften zu verlassen und – unter Rückgriff auf die von Ronchi vorgeschlagene Begrifflichkeit – zur Formulierung eines allgemeinen theoretischen Modells zu gelangen. Nun ist aber ganz offenkundig der bei Ronchi im Zentrum stehende Begriff derjenige der Interpretation. Unsere Leitfrage für diesen Abschnitt wird also lauten müssen: Was ist und wie vollzieht sich Interpretation? Beginnen wir mit der Feststellung, dass die im Abschnitt 4.2.3.1 dargestellte pragmatistische Basis unverändert erhalten bleibt. Der Unterschied zwischen dem automatischen und dem aufmerksamen Wiedererkennen besteht also nicht darin, dass das erste eine Handlung als Reaktion verlangt, das zweite dagegen nicht. Auch das aufmerksame Wiedererkennen beginnt damit, dass sich der Mensch einer Situation gegenübersieht, die einen Appell an ihn richtet, d. h. auf die er mit einer entsprechenden Handlung reagieren muss. Ronchi spricht von einem »Entsprechen-Müssen« (aver-da-corrispondere). 193 Nun kann sich aber herausstellen, dass der Mensch über kein fertiges Muster verfügt, das sich als entsprechende (automatische) Reaktion verwenden ließe. Der Frage, warum das geschieht, ist Bergson in zahlreichen Detailanalysen nachgegangen. Denkt man an uns bereits bekannte Beispiele wie das (von Janet erzählte) jener Betreuerin, die zwar befehlen oder gehorchen, aber nicht beides miteinander verbinden konnte, oder an das (von Bergson vorgetragene) jenes Zollbeamten, der von den Umstehenden ausgelacht wurde, weil ihm beim Empfang der Schiffbrüchigen nichts wichtiger schien als die Frage, ob sie etwas zu verzollen hätten 194, so ergibt sich als ein wichtiger Grund, dass die Menge der verfügbaren Handlungsmuster ein Raster darstellt, die Realität aber ein Kontinuum ist. Der Mensch kann also mit Situationen konfrontiert werden, auf die entweder viele Handlungsmuster passen oder auf die kein einziges passt. Denkt man andererseits an die soeben vorgestellten Beispiele des Tanz- oder des 193 194

Ronchi[1991] 180 Vgl. Abschnitt 2.3.2.2, S. 276.

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Schwimmschülers, so ergibt sich als ein zweiter wichtiger Grund die Endlichkeit (Unfertigkeit) des individuellen Könnens. Dass die Gesellschaft über ein Handlungsmuster verfügt, von dem sie zumindest glaubt, dass es einer bestimmten Situation entspricht, heißt nicht, dass jedes ihrer Mitglieder sich dieses Muster angeeignet hat. Ein dritter Grund schließlich ergibt sich aus dem Wesen des Menschen: Menschen sind so, dass sie in fremde, ihnen unbekannte Länder reisen, um Neues kennenzulernen. Sie sind so, dass sie die Art und Weise, wie bestimmte Dinge üblicherweise getan werden, für unbefriedigend halten und nach besseren Verfahren suchen. Sie sind so, dass sie neuartige Ideen oder Gefühle entwickeln und dann versuchen, diese anderen Menschen mitzuteilen. In eine derartige Situation zu geraten, heißt, in »Zweifel und Suche, Unentschlossenheit und Wahl, Reflexion und Anstrengung« zu geraten. 195 Es heißt, die Handlung aufschieben zu müssen, bis es gelungen ist, ein der neuartigen Situation entsprechendes Handlungsmuster zu entwerfen bzw. vollständig auszuarbeiten. Welche neuartige Verhaltensweise als der Situation entsprechend betrachtet werden kann, lässt sich aber erst entscheiden, nachdem die Situation geklärt wurde. Aus dem »Entsprechen-Müssen« (aver-da-corrispondere), das immer auch ein »Handeln-Müssen« (aver-da-fare) ist, wird deshalb ein »Interpretieren-Müssen« (aver-da-interpretare). 196 Weil nun aber das entsprechende Handlungsmuster in der unmittelbaren Gegenwart nicht verfügbar ist, weil es erst realisiert werden muss, weil dieses Realisieren Zeit braucht, also ein Zögern oder einen Aufschub erfordert, erweist sich das gesuchte Handlungsmuster als eines, das erst in der – näheren oder ferneren – Zukunft verfügbar sein wird. Andererseits beseitigen das Zögern und der Aufschub nicht den aus der gegenwärtigen Situation hervorgehenden Appell. Daraus folgt, dass die Situation im Hinblick auf das gesuchte, zukünftige Handlungsmuster befragt und interpretiert werden muss. Diese Verschränkung ist der Grund für Ronchis – an früherer Stelle bereits erwähnte – Betonung der Zukunft: »Die Zukunft«, so schreibt er im Gegensatz zu Hyppolite, »ist buchstäblich der ›Sinn‹ der Gegenwart«. 197 195 Significa dubbio e ricerca, indecisione e scelta, riflessione e sforzo. – Ronchi[1991] 177 196 Ronchi[1991] 180 197 Il futuro è letteralmente il « senso » del presente […]. – Ronchi[1991] 179

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Indessen ist der Gegensatz zwischen Hyppolite und Ronchi kleiner als es zunächst scheinen mag, denn nachdem Ronchi klargestellt hat, dass wir die Gegenwart immer von der Zukunft her interpretieren, stellt er fest, dass Interpretation gar nicht möglich ist ohne Rückgriff auf die Vergangenheit. Der schöpferische Mensch, so hatte ich im vorigen Abschnitt formuliert, fängt nicht bei Null an. Ronchi sagt es so: Ist das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit einerseits durch das Entsprechen- und Interpretieren-Müssen gekennzeichnet, so andererseits durch das »Schon-entsprochen-Haben« (aver-già-corrisposto) und das »Schon-interpretiert-Haben« (aver-già-interpretato). 198 Der Mensch mag endlich, unfertig und unvollkommen sein, aber er ist zu keinem Zeitpunkt eine vollkommen »leere Tafel«. Er verfügt – und hier haben wir sie, die berühmte hermeneutische Formel – immer schon über einen gewissen Erfahrungsschatz, vermittels dessen er neuartige Erfahrungen interpretieren kann. »Dieses Entsprechen-Müssen, das eigentlich das Sein der Gegenwart ausmacht, kann auf zwei Weisen in die Tat umgesetzt werden: entweder vermittels einer unveränderlichen und sozusagen von der Natur vorgefertigten Gewohnheit oder durch eine Suche mit nicht vorhersagbarem Ergebnis, die sich die vergangene Erfahrung zunutze macht. Aber gerade weil die Gegenwart nicht – wie der mathematische Punkt – in sich geschlossen bleibt, sondern sich auf die Zukunft der Antwort hin überschreitet, erfordert sie in beiden Fällen die Mobilisierung der Vergangenheit: Es gibt, kurz gesagt, kein gegenwärtiges Sein als Entsprechen-Müssen, wenn es nicht auch ein Gewesen-Sein als Schon-entsprochen-Haben gibt. Wo jedoch diese Mobilisierung der Vergangenheit bewusste Praxis wird – d. h. wo sie nicht, dank einer unveränderlichen Gewohnheit, automatisch und plötzlich erfolgen kann, sondern sich durch Anstrengung und Suche vollzieht – da haben wir den zweiten Typus des Wiedererkennens vor uns: das ›aufmerksame‹ Wiedererkennen. […] Für jenes Seiende, das in seinem Sein durch ein ›Zögern‹ im Hinblick auf das Antwortverhalten gekennzeichnet ist, gestaltet sich dieses schon-entsprochen-habende Entsprechen-Müssen als Interpretationsanstrengung.« 199 Ronchi[1991] 180 Senonché questo aver-da-corrispondere, che costituisce l’essere stesso del presente, può realizzarsi in due modi: o mediante un abito di risposta immutabile e, per così dire, preconfezionato dalla natura, oppure attraverso una ricerca, dall’esito non predeterminabile, che metta a frutto l’esperienza passata. Proprio perché non sta chiuso in se stesso come il punto matematico, ma si trascende verso il futuro della risposta, il presente richiede comunque, in entrambi i casi, la mobilitazione del passato: non c’è insomma un presente come aver-da-corrispondere se non c’è un già-stato come avergià-corrisposto. Dove però questa mobilitazione del passato si fa prassi consapevole, 198 199

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4 · Die Dauer und das Leben des homo historicus

Dass der ganze Mensch in die Wirklichkeit eingebunden ist und auf sie reagieren muss – diese (pragmatistische) Prämisse führt zu der Konsequenz, dass der Mensch interpretieren muss. Aber erst die Tatsache, dass sein Lebensvollzug nicht bloßes Kontinuum, strukturloses Fließen bleibt, sondern sich in die drei Ekstasen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft teilt, führt dazu, dass der Mensch auch interpretieren kann, denn »interpretieren« bedeutet: das unklare und teilweise dunkle Zukünftige mit den in der Vergangenheit angesammelten Mitteln zu erhellen. Wenn man nun – wie Bergson – sich nicht auf Tanz- oder Schwimmschüler sowie Erfinder beschränkt, sondern verschiedenste Formen interpretierenden Verhaltens durchmustert: sprechende und zuhörende Personen, Wissenschaftler und Künstler, Schachspieler und Touristen, die durch eine ihnen unbekannte Stadt streifen – wenn man alle diese Beispiele durchgeht, dann kann es geschehen, dass Aspekte, die wir bisher als wesentlich betrachtet haben, in den Hintergrund treten und dass dadurch andere, uns bisher verborgen gebliebene Aspekte sichtbar werden. So wird etwa am Beispiel des Hervorbringens und Verstehens sprachlicher Äußerungen besonders deutlich, dass das verwendete Material möglicherweise nicht nur einer persönlichen, sondern auch einer kollektiven Vergangenheit angehört. Gewiss, jedes einzelne Individuum muss sich die Sprache aneignen. Zugleich aber ist Sprache immer auch im Modus des gemeinsam genutzten Materials, des Symbolismus verfügbar. Und dies gilt nicht nur für die Sprache: Vorwärtsschritt, Rückwärtsschritt, Drehung und weitere standardisierte Elementarbewegungen bilden, wenn man so will, das »Vokabular« des Tänzers wie Hebel, Zahnrad, Transmissionsriemen und andere seit Jahrhunderten bekannte Bauelemente dem Erfinder mechanischer Maschinen als »Vokabular« zur Verfügung stehen. Andererseits wird etwa die Betrachtung wissenschaftlicher oder künstlerischer Projekte, deren Realisierung sich über einen langen Zeitraum erstreckt, zeigen, dass die unmittelbare Handlungsaufforderung in den Hintergrund rücken kann. Im Vordergrund erkennbar bleiben dann scheinbar vom pragmatischen Kontext

dove essa insomma non si produce automaticamente e istantaneamente grazie ad un abito immutabile, ma si fa attraverso uno sforzo ed una ricerca, là siamo in presenza del secondo tipo di riconoscimento: il riconoscimento « attento ». […] per quell’ente che nel suo essere è caratterizzato da un’« esitazione » nella risposta motrice, questo aver-da corrispondere avendo-già corrisposto si struttura come sforzo di interpretazione. – Ronchi[1991] 180

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abgelöste Hypothesen, Inspirationen oder Stimmungen, um deren Ausarbeitung Wissenschaftler und Künstler sich bemühen. Gleichwohl bleibt es Bergsons, Ronchis und unser Ziel, ein Strukturmodell der Interpretation zu entwerfen, das allen diesen beispielhaften Fällen gerecht wird. Ich werde deshalb nun die fünf entscheidenden Momente dieses Strukturmodells in möglichst allgemeiner Form darlegen. Zur Erläuterung greife ich einerseits auf die aus dem vorigen Abschnitt bekannten Beispiele des Tanzschülers und des Erfinders zurück, andererseits auf die Beispiele des Hervorbringens und Verstehens sprachlicher Äußerungen, deren Vorstellung ich mir hier ersparen kann, da Ronchi sich auf Texte stützt, die wir in Kapitel 1 bereits untersucht haben 200. Zwei- bzw. Mehrschichtigkeit der Erfahrung: Welche Aspekte auch immer am Vergangenen sowie am Zukünftigen in den Vorder- oder Hintergrund treten mögen – stets erweist sich die Erfahrung des ganzen, in die Wirklichkeit eingebundenen Menschen als zweischichtig. Dabei weist die eine Schicht einen Entwurfs-, Hypothesen- oder Sinncharakter auf, während die andere Schicht als potentielles Material für die Realisierung des Entwurfs fungiert. Der Tanzschüler verfügt einerseits über den Anblick des Tanzes der Könner, andererseits über früher erlernte Bewegungselemente. Der Sprecher verfügt einerseits über eine Vorstellung von dem, was er sagen will, andererseits über das Sprachmaterial. Gilt diese Sprechweise auch noch, wenn wir auf das von Bergson eingeführte Bild des Kegels zurückgreifen? Müssen wir dann nicht sagen, dass lediglich das potentielle Material eine Schicht im Sinne einer Fläche darstellt, der Sinn dagegen nur ein einziger Punkt ist? Eine solche Korrektur ist in der Tat nötig – allerdings nur dann, wenn wir Basis und Spitze des Kegels, also die beiden Extreme, betrachten. Nun ist es aber kein Zufall, dass Bergson nicht nur von einer Spitze und einer Basis, sondern von einem ganzen Kegel spricht. Wie man nämlich sagen kann, dass der ganze Kegel aus unendlich vielen – je nach Betrachtungsrichtung: immer kleiner oder immer größer werdenden – Kreisflächen besteht, so kann man nach Bergsons Auffassung auch sagen, dass das interpretierende Weltverhältnis dem Menschen nicht nur eine zwei-, sondern eine vielschichtige Erfahrung der Wirklichkeit eröffnet. Anders gesagt: Es gibt beliebig viele Schichten des Sinns. 200

Vgl. insbesondere Abschnitt 1.4.2, S. 126.

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4 · Die Dauer und das Leben des homo historicus

A

B

A’

B’

A’’

B’’ P S

Abbildung 4: Die Schichten des Kegels

Bergson führt das dem Leser von Matière et mémoire im fünften und letzten Bild der diesem Text beigegebenen Bilderfolge vor Augen. Bergsons Bild 5 (hier: Abbildung 4) entspricht vollständig demjenigen von Bild 4 – demjenigen des auf dem Kopf stehenden Kegels –, zeigt aber zusätzlich zwei zwischen der Spitze S und der Basisfläche AB liegende Schnittflächen A’B’ und A’’B’’, die als Stellvertreter für eine prinzipiell unendlich große Zahl von Zwischenebenen aufzufassen sind. Bezieht man diese graphische Darstellung auf konkrete Vollzüge des Interpretierens, so kann man zunächst einmal sagen: Die bloße Gegenüberstellung von Basis AB und Spitze S entspricht den beiden Ufern desjenigen Grabens, von dem Bergson bei der Erörterung des Walzer-Tanzen-Lernens sagte, dass er zunächst einmal übersprungen werden muss. Das Einfügen der Zwischenebenen entspricht dann dem, was er dort als das »Auffüllen« des Grabens bezeichnete. Eine klarere Vorstellung des von Bergson Gemeinten lässt sich besonders leicht gewinnen, wenn man das Textverstehen als Beispiel heranzieht. Das liegt nicht nur daran, dass – wie ich annehme – jeder Leser den Fortschritt des Verstehens kennt, der vom Verstehen jedes einzelnen Satzes über das Verstehen ganzer Kapitel zum Verstehen eines vollständigen Buches und vielleicht sogar darüber hinaus – also etwa zum Verstehen des aus mehreren Büchern bestehenden Gesamtwerks eines Autors oder gar einer verschiedene Autoren umfassenden Epoche – führt. Das liegt vielmehr vor allem daran, dass 532 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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wir in Kapitel 1 bereits ausführlich auf den Vortrag L’intuition philosophique eingegangen sind, in dem Bergson die Vielschichtigkeit – dort vorgeführt als Vierschichtigkeit – des Sinns einerseits aus der Perspektive eines Lesers, andererseits aus der Perspektive eines Verfassers philosophischer Texte darstellt. 201 Auch dort bildeten vorgegebene Denkelemente sowie das sprachliche Material die Basis, während das, was dort »philosophische Intuition« heißt, der Spitze des Kegels entspricht. Um sicherzustellen, dass man das Modell in der gewünschten Allgemeinheit erfasst, empfiehlt es sich allerdings, zusätzliche Beispiele heranzuziehen. Geeignet ist dafür insbesondere dasjenige des Tanzschülers, weil sich das von Bergson geschilderte Einüben des Walzers ohne irgendwelche sprachlichen Äußerungen vollzieht. Auch dieses Beispiel präsentiert zunächst eine Zweischichtigkeit von »Intuition« (visueller Gesamteindruck des von anderen Personen getanzten Walzers) und Material (früher erlernte Bewegungselemente), sodann eine Vielschichtigkeit, die sich sowohl aus der wachsenden Zahl der einbezogenen Elementarbewegungen wie aus deren zunehmender Integration ergibt. Aber wir finden hier ein sehr konkretes Leitbild, und wir erfahren, dass das Material, dessen sich eine Interpretation bedient, durchaus nicht immer sprachlicher Natur sein muss. Auf dieses Schichtenmodell bezieht sich Bergson, wenn er über die bewusste geistige Arbeit – und das heißt: die Interpretation überhaupt – schreibt: »Die geistige Arbeit besteht darin, eine und dieselbe Vorstellung durch verschiedene Stufen des Bewusstseins hindurchzuführen […].« 202

Vorgreifende Synthese: Nach den Erörterungen des vorigen Abschnitts scheint klar zu sein, was die Rede vom »Sprung« bedeuten soll. Wenn also Ronchi im Hinblick auf das Verstehen sprachlicher Äußerungen schreibt, dieses erfordere einen »einleitenden, durch kein Netz gesicherten Sprung in den Sinn« 203, so meinen wir zu verstehen: Wir hatten von Bergson erfahren, dass ein Sprecher oder ein Schriftsteller, vom Sinn ausgehend und diesen auch nicht verlassend,

Vgl. Kapitel 1, Abschnitte 1.2.1, S. 54, und 1.2.2, S. 66. Travailler intellectuellement consiste à conduire une même représentation à travers des plans de conscience différents […]. – ES 948 | 176 f. | 158 203 preliminare salto senza rete nel senso – Ronchi[1991] 185 201 202

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sich dem sprachlichen Material zuwendet, um Worte zu finden und Sätze zu konstruieren, die geeignet sind, diesen Sinn auszudrücken. Wir hatten weiterhin erfahren, dass eine Person, die das Gesprochene oder Geschriebene verstehen möchte, nicht etwa zunächst den Sinn der einzelnen Worte ermittelt, um dann den Gesamtsinn wie ein Puzzle daraus zusammenzusetzen, sondern sogleich eine Sinnhypothese entwirft und deren Stichhaltigkeit dann anhand des weiteren Textverlaufs verifiziert. 204 Ronchis Formulierung bezieht sich demnach auf jenen riskanten Sprung, jenen vorgreifenden »Versuch einer Synthese« 205, mit dem der Verstehende den Text hypothetisch zusammenfasst, noch bevor er ihn zur Gänze kennt. All dies ist völlig richtig, und doch ergibt sich hier eine Schwierigkeit. Wenn nämlich der »Sprung in den Sinn« ein Sprung zur einfachen Sinnhypothese sein soll, dann muss es sich dabei – im Bild gesprochen – um einen Sprung zur Spitze des Kegels handeln. Verhielte es sich so, dann müsste freilich der Kegel – was ohnehin der natürlichste Zustand wäre – auf seiner Basis stehen, und seine Spitze müsste nach oben weisen. Genau das trifft aber auf den in Matière et mémoire abgebildeten Kegel nicht zu. Dieser Kegel steht – nicht nur allen Gesetzen der Statik zum Hohn, sondern nun auch noch Verständnisprobleme bereitend – auf der Spitze, so dass ein Sprung, der sich von der Ebene P abhebt, nur ein Sprung zur Basis sein kann. Man muss demnach fragen: Von wo nach wo verläuft die Sprungbahn? Aber auch: Wieso eigentlich steht der Kegel auf dem Kopf? Sagen wir gleich, dass sich die Schwierigkeiten nicht auf den Bereich der bildlichen Darstellung beschränken. Auch in den Texten finden sich Aussagen, aus denen man entweder schließen muss, dass Bergson sich selbst widerspricht, oder aber, dass wir das Bild des Sprunges noch nicht wirklich verstanden haben. Einerseits nämlich betont Bergson, dass man sich mit einem Sprung in den Sinn versetzen und dann vom Sinn aus auf das Material zugehen muss; andererseits aber spricht er von der Notwendigkeit, sich von der Gegenwart loszulösen, sich »mit einem Schlag« in die Vergangenheit – also in den Bereich des potentiellen Materials – zu »versetzen« und sich von dort aus wieder der Gegenwart zu nähern. 206 Vgl. Abschnitt 1.4.2, S. 126. « tentativo » die sintesi – Ronchi[1991] 185 206 Nous avons conscience d’un acte sui generis par lequel nous nous détachons du présent pour nous replacer d’abord dans le passé en général, puis dans une certaine 204 205

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Indessen sind die Bilder, die uns Bergson als Verständnishilfe anbietet, durchaus präzise, wenn wir uns nur die Mühe machen, auf die Details zu achten. Der Sprung in den Sinn gleicht, wie Bergson in der dem Tanzschüler gewidmeten Textpassage ausführt, dem »Sprung über einen Graben« 207, mithin keinem Hoch-, sondern einem Weitsprung. Er wird nicht in vertikaler, sondern in horizontaler Richtung ausgeführt. Der Punkt S ist, wie wir bereits festgestellt hatten, weit davon entfernt, ein kompakter, unstrukturierter Punkt zu sein. Innerhalb seiner bildet sich ein »Riss«, der sich zum »Graben« erweitern kann. Das Auftreten des Risses dokumentiert sich in dem »Unmöglich!« angesichts persönlicher Gewohnheiten, gesellschaftlicher Konventionen oder gängiger Meinungen. Er verbreitert und vertieft sich im Zögern, d. h. dem Aussetzen der automatischen Reaktion. Schließlich verwandelt sich das kritische Abstand-Halten in eine konstruktive Haltung durch den Sprung ans andere Ufer des Grabens, d. h. zum hypothetischen Entwurf von etwas Neuem. In L’effort intellectuel liefert Bergson eine sehr dynamische Beschreibung, indem er zunächst von einem Sprung ans gegenüberliegende Ufer, dann von einem Rücksprung spricht. In Matière et mémoire formuliert er, weniger dynamisch, der Mensch stehe mit einem Bein in der Zukunft, mit dem anderen in der Gegenwart. 208 Das beiden Bildern Gemeinsame, und somit: das Wesentliche besteht in der aufgebauten Spannung. Beim Sprung in die Zukunft darf man die Gegenwart nicht vergessen und beim Rücksprung in die Gegenwart das Leitbild einer anderen Zukunft nicht aus den Augen verlieren. Die Entstehung von Neuem beginnt mit der hypothetischen Setzung von Neuem, das Verständnis des Sinns mit der hypothetischen Setzung von Sinn. Aber das Neue ist neu für die Gegenwart, der Sinn ist Sinn des Gegenwärtigen. Ohne die Rückkehr zum gegenwärtig Gegebenen bleibt der Entwurf Ahnung, Ideal oder gar Illusion. Nachholende Analyse: Damit ist – wenn wir uns zunächst wieder an der bildlichen Darstellung orientieren – klar, dass dem voraus-

région du passé […]. – MM 276 | 148 | 127 f. – Mais la vérité est que nous n’atteindrons jamais le passé si nous ne nous y plaçons pas d’emblée. – MM 278 | 149 f. | 129 207 Vgl. Anm. 189. 208 Bergson schreibt an der hier herangezogenen Stelle eigentlich, der Mensch stehe mit einem Bein in der Zukunft, mit dem anderen in der Vergangenheit (vgl. Anm. 209). Wie das zweite Bein aus der Gegenwart in die Vergangenheit kommt, werde ich im nächsten Schritt zeigen.

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eilenden Weitsprung in den Sinn zunächst ein Hochsprung in die Vergangenheit, sodann eine nachholende Ausarbeitung des Entwurfs unter Verwendung des in der Vergangenheit erworbenen Materials folgt. Betrachtet man das Bild des auf dem Kopf stehenden Kegels unter diesem Gesichtspunkt, so erscheint der Kegel wie eine Brücke mit unendlich vielen virtuellen Stockwerken. Die Aufgabe des zweiten Sprungs bestünde dann darin, sich durch die Sprunghöhe für eines dieser Stockwerke zu entscheiden. Die anschließende Arbeit würde sodann darauf hinauslaufen, auf dem gewählten Niveau und unter Verwendung des verfügbaren Materials eine Verbindung zwischen den beiden »Brückenpfeilern« zu konstruieren, so – wie von Bergson gefordert – den zuvor »übersprungenen« Graben zu »überschreiten« und am anderen Ende zur gegenwärtigen Wirklichkeit zurückzukehren. Lösen wir uns vom Bild, so ist als für das Verständnis von Bergsons Modell der Interpretation entscheidend hervorzuheben, dass sie nicht einfach das Gegenwärtige mit dem Vergangenen konfrontiert, sondern dieses Aufeinandertreffen durch zwei Schritte vorbereitet. Den ersten vorbereitenden Schritt stellt der gerade diskutierte Sprung in den Sinn dar. Durch ihn wird einerseits das Zögern, d. h. der Aufschub der automatischen Reaktion bewirkt und andererseits eine Hypothese geschaffen, die beim Sichten des Materials als Filter benutzt werden kann. Ohne einen solchen Filter bliebe völlig unverständlich, warum die sich erinnernde Person diese, aber nicht jene Erinnerung auswählt, ja warum sie nicht, vom Andrang der Erinnerungen überwältigt, im Traum versinkt. Den zweiten vorbereitenden Schritt bildet der Sprung in die Vergangenheit als solche (mémoire pure, souvenir pur). Durch ihn erst wird es möglich, das Vergangene in Form von Erinnerungsbildern (souvenir image) vorzustellen und es auf seine Eignung als Material für dieses konkrete Projekt zu prüfen. Der Hochsprung in den Kegel hinein schafft erst die Dimension der Vergangenheit als Interpretans, wie zuvor der Weitsprung über den Graben die Dimension der Zukunft als Interpretandum geschaffen hatte. Dass Zukunft und Vergangenheit sich zunächst durch zwei verschiedene Sprünge von einer uneigentlichen, d. h. unstrukturierten Gegenwart ablösen, um sich dann in einer eigentlichen, ekstatisch strukturierten Gegenwart wieder zu vereinigen, ist auch der Grund dafür, dass der Kegel in Bergsons Bild auf dem Kopf steht. Zeitlosautomatisches Handeln (Ebene P), der zum Weitsprung in die Zu536 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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kunft führende Riss und die zum Hochsprung in die Vergangenheit führende Ablösung von der Gegenwart vereinigen sich im Punkt S. Daraus ergibt sich, dass die als ausdehnungsloser Punkt erscheinende Gegenwart in Wahrheit ein kleines Universum ist und dass »das, was ich ›meine Gegenwart‹ nenne, mit einem Fuße in meiner Vergangenheit und mit dem anderen in meiner Zukunft steht« 209. Erst diese Spannung aber, dieser »Abstand« zwischen Vergangenheit und Zukunft, ermöglicht Bewusstsein. Halten wir demnach als Zwischenstand fest: Interpretation ist die nachholende Analyse oder Auslegung des vorauseilenden Entwurfs. Sie ist mit Bewusstsein verbunden, weil sie sich im Spannungsfeld zwischen einem neuartigen, in die Zukunft gerichteten Entwurf und den als solchen vorgestellten Erfahrungen der Vergangenheit abspielt, wobei die Arbeit der Interpretation darin besteht, den hypothetischen Entwurf unter Verwendung des verfügbaren Materials zu rekonstruieren und so zu realisieren. Rekonstruktion als Prozess: Ich hatte im vorigen Schritt davon gesprochen, dass beim Sprung in die Vergangenheit eine gewisse Schicht des Kegels als Interpretationsebene ausgewählt wird. Dies muss als eine sehr vorläufige Formulierung betrachtet werden. In Wahrheit vollzieht sich die Interpretation als ein Prozess, der dadurch charakterisiert ist, dass, sofern dieser Prozess nicht willkürlich abgebrochen wird, (a) zunächst wenige, dann aber immer mehr Erinnerungen sich für das Interpretationsprojekt anbieten und (b) diese Erinnerungen in immer neuen Anläufen zu zunehmend detaillierten Interpretationen vereinigt werden. Ronchi verweist 210 in diesem Zusammenhang auf das erste in Matière et mémoire enthaltene Bild (vgl. Abbildung 5). Dieses Bild ist von innen nach außen zu interpretieren. Den Kern bilden ein gegebenes Objekt oder eine gegebene Situation O sowie eine erste, noch unvollkommene Interpretation A auf der Basis einiger weniger Erinnerungen. Entscheidend ist dabei, dass es sich selbst dann, wenn die erste Interpretation nur auf einer einzigen Erinnerung basiert, nicht um eine automatische, sondern um eine aufmerksame, d. h. mit Bewusstsein verbundene Interpretation handelt. Das Vergangene zeigt sich selbst dann nur als Vorstellung, wenn es sich dabei – wie im 209 que ce que j’appelle « mon présent » empiète tout à la fois sur mon passé et sur mon avenir – MM 280 | 152 f. | 132 210 Ronchi[1991] 188–191

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D C B A O A’ B’ C’ Abbildung 5: Die konzentrischen Kreise der Interpretation

Fall des Tanzschülers – um elementare Bewegungsmuster handelt. Im Fall der Lektüre philosophischer Texte entspricht dem, wie wir aus Kapitel 1 wissen, das Wiedererkennen von Begriffen und Denkelementen, die man aus anderen Zusammenhängen kennt. Charakteristisch für solche anfangenden Interpretationen ist aber auch die eigenartige Verschränkung von Unvollkommenheit und Ganzheit. Der Tanzschüler etwa, der lediglich über den Grundschritt verfügt, weiß ganz genau, wie sehr sich seine Tanzbewegung von derjenigen eines fortgeschrittenen Tänzers unterscheidet. Die Lückenhaftigkeit seiner Kenntnisse führt aber nicht dazu, dass er vorerst nur jeden fünften oder achten Takt tanzen könnte und dazwischen aussetzen müsste. Die anfängliche Interpretation ist trotz ihrer Unvollkommenheit eine Ganzheit, wie auch unser anfänglicher Versuch, Bergsons Philosophie nach dem »Grundschritt« der Texthermeneutik zu interpretieren, trotz aller offenkundigen Unvollkommenheit eine Ganzheit bildete. Bergsons graphische Darstellung des Interpretationsprozesses ist auch so zu lesen: In gewisser Hinsicht – nämlich abgesehen vom Gefühl der Unvollkommenheit – ist die wiederholte Ausführung des Grundschritts für den Anfänger das Walzer-Tanzen. Deshalb bilden 538 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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das Objekt O und die anfängliche Interpretation A einen geschlossenen Kreis. Wird die Interpretation nicht bereits an diesem Punkt abgebrochen, pflegen sich mit der Zeit weitere Erinnerungen als Material anzubieten. Das hat einen negativen und einen positiven Effekt. Um mit dem negativen zu beginnen: Die neu hinzukommenden Materialien stören, ja zerstören die bereits erreichte – wenn auch unvollkommene – Ganzheit. Im Grunde heißt das, dass die Interpretation A sehr schnell wieder zu einem Verhaltens- oder Interpretationsmuster erstarrt ist. Hat man sich einmal daran gewöhnt, den Walzer mit dem bloßen Grundschritt zu überstehen, dann stellt die Aufforderung, eine neue Figur in den Ablauf zu integrieren, zunächst eine Irritation dar. Hat man sich mit dem Gedanken vertraut gemacht, bei Bergson texthermeneutische Denkfiguren anzutreffen, so bringt der Fortgang zur Betrachtung der Handlungshermeneutik erst einmal die Gedanken wieder in Unordnung. Bergson fasst deshalb den Fortschritt der Interpretation nicht als kontinuierliches, stufenloses Wachstum, sondern als Folge voneinander verschiedener Gestalten der Interpretation, die im Bild als konzentrische Halbkreise B, C und D dargestellt werden. Dem – aus dieser Perspektive – zerstörerischen Anwachsen des Materials muss eine Bemühung der Organisation entgegenarbeiten, die aber – um mich hier in der Sprache der Software-Entwickler auszudrücken – nur von Zeit zu Zeit eine »neue Version«, d. h. eine neue, umfassendere Gestalt der Interpretation erstellt. Der positive Effekt der neu hinzutretenden Materialien im Bereich des Interpretans besteht natürlich darin, dass Aspekte des Objekts erfass- und integrierbar werden, die es zuvor in einem gewissen Sinne »gar nicht gab«. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an Bergsons Feststellung, dass der ungeübte Tänzer viele Elemente im Tanz der Fortgeschrittenen nicht nur nicht ausführen kann, sondern dass er sie auch gar nicht sieht. Erst in dem Moment, in dem er sie sich selbst angeeignet hat, wird er sie auch bei anderen Tänzern wiedererkennen. Ganz ähnlich ergeht es etwa einem deutschen BergsonInterpreten, der nur über sehr lückenhafte Kenntnisse der französischen philosophischen Tradition verfügt. Er wird Bergsons denkerische Auseinandersetzung mit dieser Tradition zunächst schlicht nicht bemerken und sie erst in dem Maße erfassen, in dem er sich selbst mit jener Tradition vertraut gemacht hat. Daraus folgt, dass sich mit der Veränderung der dem Interpreten zur Verfügung stehenden Mittel jeweils auch der Gegenstand der Interpretation verändert. In Berg539 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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sons graphischer Darstellung entsprechen deshalb den umfassenderen Interpretationen B, C, D, … auch umfassendere Gegenstände B’, C’, D’, … Neben der konzentrischen Anordnung der Halbkreise, die auf den Fortschritt der Interpretation verweist, ist die Spiegelbildlichkeit der Objekt- und der Interpretationsseite das zweite entscheidende Merkmal der Darstellung. Sie verweist darauf, dass nach Bergsons Auffassung menschliches Erkennen weder als ein bloß passives Aufnehmen von Bildern noch als ein intuitives Sich-Versenken in den Gegenstand zu begreifen ist, sondern als ein aktiver Prozess des Nachbildens. Bergson selbst bedient sich einer medizinisch gefärbten Sprache, wenn er vom »Abtasten« 211 des Gegenstandes spricht, oder verweist auf den Bereich der Kunst, wenn er einen Mosaikkünstler evoziert, der mit mehr oder weniger groben, mehr oder weniger vielfarbigen Steinen versucht, ein Gemälde nachzubilden. 212 Ronchi verwendet für dieses zentrale Element seiner Theorie der Interpretation den Begriff Rekonstruktion. Interpretieren heißt rekonstruieren. Rekonstruieren heißt, einen gegebenen Gegenstand mit den eigenen Mitteln nachbilden. Dies aber bedeutet, dass sich mit der Erweiterung und Verfeinerung der eigenen Mittel auch der Gegenstand verändert. »Bergson bestreitet dem Bewusstsein jegliches intuitive Vermögen. Diese Behauptung mag skandalös und beinahe provokant erscheinen, weil Bergson allgemein bekannt ist als der Philosoph der Intuition, aber wenn wir unter Intuition eine unmittelbare Erkenntnis verstehen, dann müssen wir ehrlich zugeben, dass Erkenntnis bei Bergson immer Vermittlung ist. Bergsons Erkenntnistheorie ist eine konstruktivistische Erkenntnistheorie. Weit davon entfernt, Intuition (im üblichen Sinne des Wortes) zu sein, ist Erkenntnis für ihn ein Vorgang der »unaufhörlichen« Konstruktion und Rekonstruktion des Gegenstandes.« 213 211 Mais un empirisme vrai est celui qui se propose de serrer d’aussi près que possible l’original lui-même, d’en approfondir la vie, et, par une espèce d’auscultation spirituelle, d’en sentir palpiter l’âme ; et cet empirisme vrai est la vraie métaphysique. – PM 1408 | 196 | 197 212 Vgl. Kap. 3, Anm. 221. 213 Bergson nega alla coscienza ogni potere intuitivo. L’affermazione può apparire scandalosa e quasi provocatoria perché Bergson è universalmente noto come il filosofo dell’intuizione, ma se per intuizione intendiamo una conoscenza immediata, dobbiamo allora onestamente riconoscere che in Bergson la conoscenza è sempre mediazione. L’epistemologia di Bergson è un’epistemologia costruttivista. Lungi dall’essere intuizione (nel senso comune del termine), la conoscenza è per lui un’operazione di costruzione e ricostruzione »senza posa« dell’oggetto. – Ronchi[2011] 125

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Rekonstruktion als Zirkel: Das erste Bild des dem Text von Matière et mémoire beigegebenen Zyklus (die konzentrischen Kreise der Interpretation) weist voraus auf dessen letztes Bild (den auf der Spitze stehenden Kegel mit den eingezeichneten Ebenen): Ronchi macht darauf aufmerksam 214, dass man – »mit einer Anstrengung der Phantasie, die Bergson wohl nicht missfallen würde« – die konzentrisch angeordneten Kreise auch als einen aus der Vogelperspektive gesehenen Kegel deuten kann. Das Bild, das den Fortschritt der Interpretation durch konzentrische Kreise veranschaulicht, verweist aber – und auch dagegen hätte Bergson schwerlich etwas einzuwenden – ebenso auf den hermeneutischen Zirkel. Gezeigt wird eine zwischen Objekt (Entwurf, Leitbild, Hypothese, Sinn) und Rekonstruktion (Auslegung) kreisende Bewegung, die dadurch charakterisiert ist, dass die aufeinander folgenden Durchläufe nicht bloße Wiederholungen darstellen, sondern Objekt und Rekonstruktion sich wechselseitig modifizieren. Es gibt nicht wenige Formulierungen in den Texten Bergsons, die sich so anhören, als sei die Zirkelbewegung eine Art Betriebsunfall und jedenfalls im ursprünglichen Konzept der Interpretation nicht vorgesehen gewesen. So lautet etwa die Definition der geistigen Anstrengung, die ich bisher nur teilweise zitiert habe, vollständig: »Die geistige Arbeit besteht darin, eine und dieselbe Vorstellung durch verschiedene Stufen des Bewusstseins hindurchzuführen – und zwar in einer Richtung, die vom Abstrakten zum Konkreten, vom Schema zum Bild verläuft.« 215

In diesen Zusammenhang gehört auch die These, nach der das Verstehen mit dem Entwurf einer Sinnhypothese beginnt, denn die polemische Pointe dieser These besteht ja darin, dass es nicht, wie man denken könnte, zwei Formen der geistigen Anstrengung gibt – eine, die sich »von oben nach unten«, d. h. vom Sinn zum Material, und eine andere, die sich »von unten nach oben«, d. h. vom Material zum Sinn vorarbeitet –, sondern dass jede geistige Anstrengung mit einem Entwurf beginnt und darauf abzielt, diesen Entwurf dem Material aufzuprägen. Neben solchen Äußerungen stehen dann allerdings andere, die Ronchi[1991] 191 Travailler intellectuellement consiste à conduire une même représentation à travers des plans de conscience différents dans une direction qui va de l’abstrait au concret, du schéma à l’image. – ES 948 | 176 f. | 158 – Hervorhebung von mir [C. K.]. 214 215

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sich als Rechtfertigung der Zirkelbewegung lesen lassen. So schreibt Bergson in Matière et mémoire über das Einüben eines Handlungsmusters: »Es ist richtig, dass eine Gewohnheit durch Wiederholung erworben wird; aber was hätte die Wiederholung für einen Nutzen, wenn sie nur immer das Gleiche reproduzierte? Die wirkliche Leistung der Wiederholung ist die, dass sie erst zerlegt, dann zusammensetzt, und sich damit an die Intelligenz des Körpers wendet.« 216

Eine Wiederholung, die immer nur das Gleiche reproduziert – das ist das ohne Bewusstsein vollzogene, vom Körper nur gespielte, automatische Wiedererkennen. Das plötzliche Schaffen von Neuem würde die Macht eines reinen Geistes charakterisieren. In der Mitte zwischen diesen beiden Extremen aber steht der endliche Mensch, d. h. der verkörperte Geist. Am Ende unserer Analyse der Interpretation treffen sich also zwei – wie Bergson das genannt hätte – »Tatsachenlinien« (lignes de faits): einerseits die anthropologische bzw. fundamentalontologische Beantwortung der Frage nach dem Warum, die wir uns vor allem anhand der Hyppolite-Lektüre angeeignet hatten, andererseits die hermeneutisch relevante Antwort auf die Frage nach dem Wie, die uns durch die Ronchi-Lektüre ermöglicht wurde. Das Warum und das Wie treffen sich im hermeneutischen Zirkel, d. h. in jener Figur, die zum Ausdruck bringt, dass der verkörperte Geist des Menschen seine Entwürfe in der räumlich organisierten Wirklichkeit (im Raum der Dinge, der Handlungsmuster oder der Worte) eben nicht mit einem Schlag verwirklichen kann, sondern nur in einem prinzipiell endlosen Prozess der organisation, in dem Geist und Realität, Entwurf und Material einen modus vivendi finden, indem der Geist sich der Wirklichkeit einfügt (insérer) und das Material sich dem neuartigen Zusammenhang anpasst (modifier, adapter). Man versteht nun den eigenartigen Satz, mit dem Bergson das Beispiel des Tanzschülers abschließt: »Diese Verzögerung, die dadurch verursacht wird, dass das Schema die verschiedenartigen Einzelbilder allmählich zu einem neuen modus vivendi untereinander bringen muss, die in vielen Fällen auch durch die Modifikationen veranlasst wird, die wir dem Schema zufügen, damit es in Bildern 216 On a raison de dire que l’habitude s’acquiert par la répétition de l’effor; mais à quoi servirait l’effort répété, s’il reproduisait toujours la même chose ? La répétition a pour véritable effet de décomposer d’abord, de recomposer ensuite, et de parler ainsi à l’intelligence du corps. – MM 256 | 122 | 103

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Philosophie des Zwischen

aufrollbar werde – diese Verzögerung sui generis, bestehend aus tastenden Versuchen, aus mehr oder weniger erfolgreichem Probieren, aus dem Anpassen der Bilder an das Schema und des Schemas an die Bilder, aus Durchkreuzungen und Überlagerungen der Bilder untereinander, – ist diese Verzögerung nicht gerade das Maß für den Abstand zwischen dem mühseligen Probieren und der leichten Ausführung, zwischen dem Erlernen einer Fertigkeit und dieser Fertigkeit selbst?« 217

Beginnt der Ausbruch aus dem gedankenlose Leben der Automatismen, das Überschreiten des Gegebenen mit dem Zögern (hésitation), so ist die Realisierung des geistigen Entwurfs im und durch das Material, so ist also eigentlich menschliches Leben charakterisiert durch eine Verzögerung (retard). Der Abstand zwischen dem Gegebenen und dem Entwurf erweist sich als Abstand zwischen Gegenwart (sowie der in die Gegenwart hineingenommenen Vergangenheit als Vergangenheit) und Zukunft, also als ein zeitlicher Abstand, der durch den Prozess der Interpretation (der realisierenden Auslegung) überbrückt werden muss. Das, was menschliches Leben eigentlich ausmacht, ist die Dauer – und das heißt: die zeitliche Erstreckung, aber auch die durch Ausrichtung am Entwurf ermöglichte Konstanz – dieser Interpretationsprojekte.

4.3 Philosophie des Zwischen Die Hyppolite- und die Ronchi-Lektüre haben es uns ermöglicht, eine Fundamentalontologie des endlichen Menschen und ein Strukturmodell der Interpretation zu entwerfen, in die sich fast alle zuvor ins Spiel gebrachten Begriffe integrieren und an das sich fast alle in den vorhergehenden Kapiteln erzielten Ergebnisse anschließen lassen. Einzig und allein der Begriff des Unbewussten, den wir in Kapitel 1 eingeführt und von dem wir in Kapitel 2 behauptet haben, dass er für das Verständnis einer lebensphilosophischen Hermeneutik unverzichtbar sei, ist, nachdem wir ihn schon in Kapitel 3 ein wenig aus den Augen verloren haben, hier gar nicht mehr in Erscheinung getreten. Sollten wir uns also in Kapitel 2 getäuscht haben? Sollte es möglich sein, Bergsons Philosophie in überzeugender Weise als eine hermeneutische zu rekonstruieren, ohne den Begriff des Unbewussten in Anspruch zu nehmen? 217

Vgl. Anm. 192.

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Diesen Befund kann man nur als äußerst merkwürdig und überraschend bezeichnen, insofern Hyppolite und Ronchi sich schwerpunktmäßig auf Matière et mémoire beziehen, es sich dabei aber gerade um dasjenige Werk handelt, in dem Bergson am offenkundigsten und am ausführlichsten auf das Unbewusste eingeht. Kaum ein Interpret hat das übersehen. Es ist leicht zu begreifen, welche Rolle das Unbewusste im Gesamtzusammenhang spielt. Und selbst wenn man berücksichtigt, dass neuere Interpreten dazu neigen, die »hermeneutischen« Kapitel 2 und 3 zu berücksichtigen, die »metaphysischen« Kapitel 1 und 4 dagegen auszublenden 218, so muss man feststellen: Bergson entwickelt seine Gedanken über das Unbewusste in Kapitel 3. Nun würde ich einen falschen Eindruck vermitteln, wollte ich behaupten, dass Hyppolite und Ronchi den Begriff des Unbewussten gar nicht verwenden. Sie tun das durchaus, aber dadurch wird die Situation eher noch rätselhafter, denn gerade sie, für die wir uns hier besonders interessieren, weil sie den hermeneutischen Charakter von Bergsons Philosophie herausarbeiten, sind bestrebt, das Thema des Unbewussten klein- oder gar gänzlich aus der Diskussion herauszuhalten. Hyppolite äußert Skepsis gegenüber einer Konzeption der Vergangenheit als »Ensemble von Bildern, die in einem Unbewussten schon fertig gegeben sind« 219, weil ihm eine derartige Konzeption unvereinbar zu sein scheint mit der Idee einer Erinnerung, bei der das Vergangene den Sinn der gegenwärtigen Situation erschließt, dadurch aber auch selbst einen neuen Sinn erhält. Nicht nur Skepsis, sondern Geringschätzung hört man, wenn Ronchi von der »alten These der vollständigen Erhaltung der Vergangenheit in einem mythischen ›Unbewussten‹« 220 spricht. Nur: Auf wen zielt diese Kritik? Wer ist gemeint, wenn Hyppolite schreibt, dass »man zu einer derartigen Interpretation verleitet wird«, Ronchi allgemein auf »die alte These« verweist oder – um noch einen weiteren, von Ronchi zitierten Interpreten ins Spiel zu bringen – Léon Husson behauptet, die These von der Erhaltung der Vergangenheit im Unbewussten stelle »in den Augen der meisten Kommentatoren« 221 die Hauptthese von Matière Vgl. dazu die Bemerkungen in Ricœur[2004] 667 ff. un ensemble d’images données toutes faites dans un inconscient – Hyppolite[1991] 476 220 la vecchia tesi della conservazione integrale del passato in un mitico « inconscio » – Ronchi[1991] 152 221 Husson[1959] 158 218 219

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et mémoire dar, sich dabei aber so ausdrückt, dass man merkt, wie wenig Wert er darauf legt, zu diesen »meisten« dazuzugehören? Auf diese Frage gibt es eine eindeutige Antwort: Gemeint ist im engeren Sinne Jean-Paul Sartre, der Bergson 1936 222 vorgeworfen hatte, er habe zwar die Assoziationspsychologie kritisiert, weil sie das psychische Geschehen vergegenständliche, dann aber selbst die im Unbewussten abgelegten Erinnerungen wie Gegenstände konzipiert. Gemeint sind im weiteren Sinne alle Bergson-Interpretationen, die nach dieser Attacke immer noch die These von der Aufbewahrung des Vergangenen im Unbewussten vertreten. Mit anderen Worten: Unter dem Druck von Sartres Kritik entschließen sich Interpreten wie Hyppolite, Husson und Ronchi, den Buchstaben preiszugeben, um den Geist zu retten. Sie opfern den Begriff des Unbewussten, um, vom Ballast der Verdinglichung und des Mechanismus befreit, die Lebendigkeit und die hermeneutische Relevanz des Gedächtnisses herausarbeiten zu können. Indessen: Die von Hyppolite und Ronchi getroffene Entscheidung historisch zu erklären, ist eine Sache. Eine ganz andere Sache ist die Frage, ob wir diese Entscheidung plausibel finden und sie übernehmen wollen. Schon die knappe Darstellung, die ich hier gegeben habe, genügt ja, um die Schwachstelle der gegen Sartres Kritik errichteten Verteidigungslinie zu erkennen: Man streicht flugs den Begriff des Unbewussten, ohne vorher die Frage zu stellen, ob denn das von Sartre entworfene Modell – dunkler Keller, darin aufgestapelte Dinge – der Sache überhaupt angemessen ist. Ob überhaupt jemals jemand das Unbewusste so gedacht hat. Und ob insbesondere Bergson sich das Unbewusste so vorgestellt hat. Es scheint mir deshalb naheliegend, zwei Fragen zu stellen: Lässt sich eine alternative Argumentationsstrategie entwerfen, die den Begriff des Unbewussten rettet, indem sie ihn anders versteht als Sartre? Und wenn ja: Gibt es gute Gründe dafür, diese zweite Strategie der ersten vorzuziehen? Klären wir aber, um die Untersuchung dieser beiden Fragen vorzubereiten, zunächst einmal eine andere Frage: Wie wichtig ist der Begriff des Unbewussten eigentlich für die Theorie, die Bergson in Matière et mémoire entwickelt? Könnte es nicht sein, dass er gleichsam nur zufällig in den Gang seiner Überlegungen hereingeweht wurde und der Versuch, ihn zu retten, eine ganz unnötige Anstrengung wäre? Ich meine, dass es sich nicht nur nicht so verhält, sondern 222

Sartre[2003] 41 ff.

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dass die Schlussfolgerung, die auf diesen Begriff führt, fast nicht zu vermeiden ist: Wenn Gedächtnis als Synthese von Vergangenheit und Gegenwart im Hinblick auf die Zukunft betrachtet wird, wenn das so verstandene Gedächtnis identisch ist mit Bewusstsein, wenn also Bewusstsein nur aus einer solchen Vereinigung der drei ZeitEkstasen entspringen kann und ohne sie nicht möglich ist, dann kann eine von dieser Einheit der Ekstasen abgespaltene, »antiquarische« Vergangenheit nicht Teil des Bewusstseins, mithin nicht bewusst sein. Das Unbewusste, das Bergson im dritten Kapitel von Matière et mémoire präsentiert 223, weist einen anderen Charakter auf als dasjenige, das wir aus dem dritten Kapitel des Essai sur les données immédiates de la conscience kennen. Es ist dies, so möchte man sagen, ein ruhigeres, weniger dramatisches Unbewusstes. Zugegeben: Wirklich ruhig geht es auch hier nicht zu. Die vergessenen Erinnerungen drängen sich wie Fahrgäste in einem düsteren Wartesaal – Fahrgäste allerdings, die gar kein Ziel haben, zu dem sie reisen möchten, sondern die einfach nur weg wollen, heraus aus diesem Wartesaal, und die deshalb aufgeregt zu jedem neu einfahrenden Zug laufen, um zu prüfen, ob es dort noch einen freien Platz für sie gibt. Aber wenn sie feststellen, dass das nicht der Fall ist, dann trollen sie sich wieder in ihren Wartesaal und warten auf die nächste Gelegenheit. Nichts ist übrig von jenen tumultuösen Eruptionen des Tiefen-Ich. Das Leben auf dem Bahnhof geht seinen geordneten Gang. Allenfalls wird es hin und wieder etwas eng auf einem Bahnsteig. Bezeichnend für den Unterschied ist das Wort, mit dem Bergson erläutert, was »Unbewusstheit« hier bedeuten soll: »Machtlosigkeit« (impuissance). Die vergessenen Elemente der Vergangenheit sind machtlos, weil sie keine Wirkung haben, keine Auswirkung auf das, was in der Gegenwart geschieht. Sie sind, wenn auch nicht wirklich tot, so doch bloße Schatten, die nur dadurch wieder wahrhaft lebendig werden können, dass sie sich an ein für die Gegenwart bedeutungsvolles Projekt anschließen. Das ist gerade das Gegenteil jenes machtvollen Lavastroms, der alles, was sich ihm in den Weg stellt, niederwalzt und mit sich fortreißt. Wie soll man mit dieser Andersartigkeit umgehen? Soll man achselzuckend zur Kenntnis nehmen, dass Bergson im Falle des Unbewussten – wie übrigens auch in anderen Fällen – mit dem gleichen Begriff bald dieses, bald jenes bezeichnet, und sich an den Wortlaut 223

MM 283 ff. | 156 ff. | 135 ff.

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desjenigen Werkes halten, mit dem man es gerade zu tun hat? Mehr als 100 Jahre Bergson-Forschung haben gezeigt, dass das – vor allem dann, wenn es sich um die frühen Werke handelt – der sicherste Weg zu Einseitigkeiten und Missverständnissen ist. 224 Die Alternative kann dann aber nur darin bestehen, die scheinbar divergenten Äußerungen, die sich in den einzelnen Werken finden, als Aspekte eines einzigen, übergreifenden Gedankens aufzufassen und sich um die Rekonstruktion dieses Gedankens zu bemühen. In unserem konkreten Fall gibt es zwei Umstände, die uns ermutigen können, diesen zweiten Weg zu beschreiten. Zum einen ist offenbar für Jean Hyppolite die Angelegenheit mit seiner kritischen Stellungnahme gegenüber dem Unbewussten à la Sartre – denn darum handelt es sich bei den im Unbewussten fertig gegebenen Erinnerungsbildern – nicht erledigt. Drei Seiten später kommt er – nun aber gar nicht mehr kritisch – noch einmal auf den Begriff des Unbewussten zurück. Hyppolite erinnert zunächst an die beiden »Bewegungen« des Geistes, deren eine in die Zukunft, deren andere in die Vergangenheit führt, und fährt dann fort: »In beiden Fällen ist der Geist außer sich und verliert sich in einer Unbewusstheit […]. Zwischen diesen beiden Richtungen also, bemüht, sich trotz einer doppelten Verlockung zu sammeln, muss man den schöpferischen Geist ansiedeln […].« 225

»Unbewusstheit« also, nicht »das Unbewusste«. Eigenschaft eines Vollzuges, nicht verdinglichter Ort im Sinne einer Topologie. Diese Unbewusstheit erscheint nicht mehr als ein Begriff, den nur diejenigen verwenden, die Bergsons Gedanken eines lebendigen Gedächtnisses nicht verstanden haben. Sie erscheint auch nicht mehr als ein Begriff, der sich lediglich auf das Vergangene bezieht. Vielmehr bezeichnet sie den Zustand, in den der Geist gerät, wenn er, den »Verlockungen« der Extreme nachgebend, sich entweder in die bloße Betrachtung der Vergangenheit – mithin: in den Traum – oder in die unverzügliche Realisierung der Zukunft – mithin: in den Automatis224 Ähnlich schon die Einschätzung Hussons: On s’est fait à la lecture des premiers ouvrages une représentation de leur auteur et de sa pensée, à travers laquelle on interprète les ouvrages ultérieurs beaucoup plus qu’on ne la rectifie selon les éclaircissements et les découvertes nouvelles qu’ils apportent. – Husson[1959] 157 225 Dans les deux cas l’esprit est hors de soi et se perd dans une inconscience […]. C’est donc bien entre ces deux directions, s’efforçant de se rassembler, en dépit d’une double sollicitation, qu’il faut situer l’esprit créateur […]. – Hyppolite[1991] 479

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mus – verliert. In beiden Fällen ist der Geist »außer sich«. Bei sich ist er nur, sofern er sich zwischen diese beiden Pole stellt, die Spannung zwischen Zukunft und Vergangenheit aushält und den Appell des einen sowohl wie des anderen Extrems durch eine bewusste schöpferische Anstrengung vermittelt. Zum anderen ist es sicherlich ein ermutigender Umstand, dass wir für das Projekt, Bergsons »Theorie des Unbewussten« in ihrer Ganzheit, d. h. über die Grenzen einzelner Werke hinweg zu rekonstruieren, in Kapitel 2 bereits wesentliche Grundlagen geschaffen haben und auf diese nun zurückgreifen können. Dort hatte der Versuch, die vielfältigen Erscheinungsformen des Unbewussten in einer Weise zu systematisieren, die sich für das Verständnis von Bergsons Philosophie fruchtbar machen lässt, auf eine Zweiteilung geführt, die ich aus der Psychologie der Bergson-Zeit aufgegriffen hatte. Unter Rückgriff insbesondere auf Théodule Ribot hatte ich vorgeschlagen, zwischen einem statischen Unbewussten und einem dynamischen Unbewussten zu unterscheiden. 226 Das statische Unbewusste sollte dadurch gekennzeichnet sein, dass es »die Bestandteile unserer Erfahrung aufbewahrt«, sie also selbst dann im Gedächtnis vorrätig hält, wenn sie aktuell gerade nicht gebraucht werden, während das dynamische Unbewusste »arbeitet«, und zwar so, dass es »im Dunkeln […] absurde oder geniale Einfälle hervorbringt«. Ich hatte auch auf die hermeneutische Relevanz dieses Ansatzes hingewiesen: Über die unbewussten vergangenen – entweder vergessenen oder zu bloßer Gewohnheit gewordenen – Erfahrungen ist zu sagen, dass ihr Sinn nicht mehr verfügbar ist, demnach durch eine hermeneutische Anstrengung neu anzueignen wäre. Im Hinblick auf die unbewusst geschaffenen – absurden oder genialen – Entwürfe dagegen ist festzustellen, dass ihr Sinn noch nicht verfügbar ist, somit durch eine hermeneutische Bemühung erst einmal geklärt werden müsste. Liest man, nachdem unsere Aufmerksamkeit durch Hyppolite und Ronchi geschärft worden ist, die zitierten Definitionen noch einmal, so stellt man fest, dass Ribot sogar auf einen Zusammenhang zwischen den beiden Formen des Unbewussten hinweist: Das dynamische Unbewusste »übernimmt« vom statischen Unbewussten »das Material« und fügt diesem im Gegenzug eine »schöpferische Aktivität« hinzu, die »Empfindungen, Bildern und Gefühlszuständen« entspringt. 227 226 227

Vgl. Abschnitt 2.3.2.1, S. 267. Vgl. Kap. 2, Anm. 253.

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Statisches und dynamisches Unbewusstes sind, so darf man schließen, nicht zwei völlig verschiedene Phänomene, sondern zwei miteinander in Verbindung stehende Erscheinungsformen eines einzigen Unbewussten. Wie nun aber, wenn Hyppolites zwei Formen der Unbewusstheit und Ribots zwei Gestalten des Unbewussten den gleichen Sachverhalt beschreiben würden? Ein Versuch zeigt, wie wenig Mühe es bereitet, Übereinstimmung herzustellen. Besonders auffallend ist die gemeinsame Grundstruktur beider Modelle: Von den beiden angesprochenen Aspekten verweist jeweils der eine in die Vergangenheit, der andere in die Zukunft. Vergangene Erfahrungen können unbewusst sein als vergessene (»machtlose«), als solche, die in nicht bewusst zu steuernden Vorgängen – wie insbesondere dem Traum – in Erscheinung treten, oder als vom Körper unentwegt wiederholte Automatismen. In die Zukunft weisende Entwürfe können unbewusst sein als Hypothesen, Ahnungen oder Antriebe. Im Hinblick auf diese Erscheinungsformen des Unbewussten werden sicherlich von den verschiedenen Autoren – nicht selten sogar in verschiedenen Werken des gleichen Autors – unterschiedliche Akzente gesetzt, aber die Phänomenologien des Unbewussten, die Autoren wie von Hartmann, Janet, Freud oder Dwelshauvers erarbeitet haben, erlauben es, hierin nicht Divergenz, sondern Vielfalt zu sehen. Schließlich stimmen die Autoren darin überein, dass eine Verschränkung der in die Vergangenheit und in die Zukunft gerichteten Phänomene möglich, wenn nicht sogar wünschenswert ist. Kann man auf diese Weise Ribot und Hyppolite in Einklang bringen, dann steht aber auch nichts der Einbeziehung von Ronchi im Wege. Daraus ergibt sich eine wichtige Feststellung, die der Prüfung der Frage, welche Argumentationsstrategie der anderen vorzuziehen sei, vorauszuschicken ist: Wenn ich anfangs fragte, ob sich zur Verteidigung gegen Sartres Kritik nicht eine andere als die von Hyppolite und Ronchi gewählte Strategie finden lasse, so zeichnet sich nun ab, dass es zwar eine Strategie gibt, die mit dem Begriff des Unbewussten anders verfährt als Hyppolite und Ronchi, dass diese Strategie aber vollkommen kompatibel ist mit all dem, was wir uns von diesen beiden Interpreten im Hinblick auf den hermeneutischen Charakter von Bergsons Philosophie angeeignet haben. Die Ekstasen der Zeit, die Gegenüberstellungen von automatischem und aufmerksamem Wiedererkennen sowie zwischen Handlung und Traum, die Unterscheidung von Entwurf und Material, von vorgreifender Syn549 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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these und nachholender Analyse – all dies müssen wir nicht wieder aufgeben, wenn wir uns dafür entscheiden, den Begriff des Unbewussten beizubehalten, ihn im Sinne Ribots zu interpretieren und durch Vermittlung Hyppolites in die Theorie der Interpretation zu integrieren. Die Strategie, den Begriff des Unbewussten anders zu interpretieren als Sartre, ist also nicht schlechter als diejenige, ihn zu eliminieren. Aber kann man sagen, dass sie besser ist? Einige Vorzüge werden erst in den folgenden Kapiteln dieser Untersuchung zum Vorschein kommen, aber schon jetzt zeichnet sich ein zumindest vierfacher Gewinn ab: • Zunächst einmal wird man es als Vorteil verbuchen dürfen, einen für Bergsons Philosophie so zentralen Begriff wie denjenigen des Unbewussten nicht einfach streichen zu müssen. Im Hinblick auf Matière et mémoire sowie auf Sartres Kritik mag das als die einfachere Vorgehensweise erscheinen. Aber wie will man im Hinblick auf Bergsons Gesamtwerk verfahren? Soll der Begriff überall entfernt werden? Wenn aber nicht – wie will man dann begründen, dass er aus dem einen Werk gestrichen wird, aus allen anderen dagegen nicht? So gesehen, ist klar, dass man zu einem überzeugenderen Ergebnis gelangt, wenn man damit beginnt, eine die einzelnen Werke übergreifende Konzeption des Unbewussten zu erarbeiten, und dann die in den verschiedenen Texten enthaltenen Thesen in diese Gesamtkonzeption einzutragen versucht. Geht man so vor, ist es nahezu ausgeschlossen, dass man das von Bergson in Matière et mémoire erörterte Unbewusste als »Ort« und die »darin enthaltenen« Erinnerungen als »Dinge« missversteht. • Die Grundstruktur, die Bergson explizieren möchte, lässt sich sicher auch mit anderen Begriffspaaren bezeichnen. Entwurf vs. Material, Zuständlichkeit vs. Gegenständlichkeit, natura naturans vs. natura naturata sind nur einige unter den in Frage kommenden Alternativen. Das Begriffspaar dynamisches Unbewusstes vs. statisches Unbewusstes scheint mir aber das einzige zu sein, das ausnahmslos alle der folgenden Konnotationen einschließt: (1) Die bezeichneten Vorgänge sind – wie natura naturans und natura naturata – nicht vom persönlichen Bewusstsein abhängig. Das ist bedeutsam für eine Philosophie, die die Erkenntnis »in die Natur reintegrieren« will. (2) Zugleich sind die bezeichneten Vorgänge aber – durch ihre »Repräsentanzen« – in 550 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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der persönlichen Erfahrung zugänglich. Das ist bedeutsam für eine Philosophie, die modern sein will im Sinne Descartes, Kants und Husserls. (3) Das Begriffspaar verweist einerseits auf eine schöpferische Dynamik, andererseits auf einen Vorgang der Sedimentierung, d. h. des zurücklassenden Überholens einmal geschaffener Gestalten. Das ist bedeutsam für eine hermeneutische Philosophie. (4) Zugleich aber wird durch die zweifache Verwendung des gleichen Substantivs angedeutet, dass die bezeichneten Phänomene als zwei Aspekte eines einzigen Vorgangs zu verstehen sind. Das ist bedeutsam für eine Philosophie des Lebens. Das Unbewusste in seiner doppelten Erscheinungsform als dynamisches und statisches – das ist letztlich der Doppelaspekt des Lebens als vorwärtstreibende Kraft und erstarrende Form. Von großer, noch gar nicht ganz zu ermessender Bedeutung ist der Umstand, dass es auf dem durch Hyppolite angeregten Weg möglich ist, die in Kapitel 2 erarbeitete Theorie, die ja nicht nur eine Theorie des Unbewussten, sondern auch eine Theorie des Bewusstseins und der Entstehung von Bewusstsein ist, in das Modell der Interpretationsphilosophie zu integrieren. Leben, so hatte sich dort gezeigt, ist ursprünglich unbewusster Vollzug. Bewusstsein kann nur entstehen, wenn in diesem Vollzug ein Riss auftritt, ein Spalt, der sich in Zögern und Aufschub äußert und der zu verstehen ist als Aufspaltung in eine faktische, feststellende Vergangenheit und den Entwurf einer andersartigen Zukunft. Bewusstsein entsteht, wenn der Mensch diese Spannung akzeptiert und aushält. Bewusstsein stellt sich dann dar als eine Anstrengung der Interpretation, die das Alte und das Neue vermittelt, indem sie den noch unklaren Sinn des Neuen durch das Alte erhellt und dem sinnlos gewordenen Alten einen neuartigen Sinn gibt. Aber ein solches Bewusstsein beseitigt nicht die beiden Unbewusstheiten. Bewusstsein konstituiert sich als ein Zwischen, das in einer endlosen Bewegung des Hin und Her jeweils den einen Pol des Spannungsfeldes durch den anderen erhellt, dabei aber die Dunkelheiten nicht nur nicht beseitigt, sondern vielmehr ohne ihr Fortbestehen auch selbst nicht mehr bestehen könnte. Es entsteht nicht nur aus dem Unbewussten, sondern bleibt auch in dieses eingespannt. Schließlich eröffnet ein derartiges Modell die Möglichkeit, Verbindungen zu anderen, ähnlich gearteten Modellen herzustellen. Ich denke hier insbesondere an Paul Ricœurs Idee eines Streits, 551 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

4 · Die Dauer und das Leben des homo historicus

in dem sich eine Archäologie und eine Teleologie des Sinns gegenüberstehen. 228 Dieser Bezug kann hier nicht im Detail ausgearbeitet werden, doch sei immerhin angemerkt, dass es dabei nicht nur darum ginge, die hermeneutische Philosophie Bergsons mit neueren hermeneutischen Konzeptionen in Verbindung zu bringen, sondern auch – und insbesondere – darum, das Konzept jener Hermeneutik, die notwendigerweise zu jeder Lebensphilosophie gehört, genauer auszuarbeiten. Wenn Ricœur durch seine Auseinandersetzung mit Freud zu einem Konzept von Hermeneutik gelangt ist, das dem hier anhand von Bergson erarbeiteten Modell in wesentlichen Hinsichten gleicht, so könnte das ein Indiz dafür sein, dass es so etwas wie eine »lebensphilosophische Hermeneutik« in der Tat gibt und dass die Grundgedanken dieser Hermeneutik auch heute noch von Interesse sind.

228

Ricœur[1993] 470 ff.

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5 Sympathie: Die Dauer der Anderen

Ich hatte in den einleitenden Bemerkungen zu Kapitel 4 angekündigt, im Hinblick auf Bergsons Begriff der durée seien drei Fragen zu stellen und die Behandlung jeder dieser Fragen erfordere ein eigenes Kapitel. Dem dort gegebenen Überblick folgend, wäre, nachdem die Frage, ob die Dauer eine Artikulation aufweist, im vorigen Kapitel behandelt wurde, nunmehr die Frage an der Reihe, ob die Dauer als eine ausschließlich beim menschlichen Geist vorkommende Vollzugsform anzusehen oder ob sie auch in anderen Bereichen der Wirklichkeit anzutreffen ist. Mit anderen Worten: Schließt sich Bergson der cartesischen Auffassung an, dass der Geist völlig anders beschaffen ist als die Welt der materiellen Dinge, oder reiht er sich in die Gruppe derjenigen Denker ein, die bemüht sind, diese ontologische Kluft zu überbrücken? Nun dürfte sich aber, je länger und je intensiver wir uns mit der von Hyppolite vorbereiteten, dann von Ronchi und Bankov ausdrücklich vertretenen These befasst haben, Bergsons Philosophie sei als eine hermeneutische, und zwar näherhin als eine Philosophie der Interpretation zu verstehen, eine ganz andere Frage in den Vordergrund geschoben haben. In ihrer banalsten Formulierung würde sie lauten: Warum eigentlich noch weitermachen? Weniger banal, und mit optimistischer Färbung: Haben wir das Ziel, das wir uns gesetzt hatten, nicht bereits erreicht? Ist das dargelegte Modell der Interpretation nicht überzeugend genug? Oder mit pessimistischer Färbung: Lässt sich noch mehr erreichen als das, was wir jetzt erreicht haben? Ist nicht zu befürchten, dass die für eine Fortsetzung der Rekonstruktion von Bergsons Philosophie erforderliche Anstrengung in keinem vernünftigen Verhältnis mehr zu dem Ertrag steht, den diese für die Präzisierung des bei Bergson zu findenden Konzepts von Hermeneutik abwirft? Man könnte sich, wenn man diese letzte Frage bejaht, einmal mehr auf diejenigen Interpreten berufen, auf die wir uns bei der Aus553 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

5 · Sympathie: Die Dauer der Anderen

arbeitung von Bergsons Philosophie der Interpretation gestützt haben. Wenn Bankov die Befürchtung formuliert, Bergson strebe in der zweiten – also der auf Matière et mémoire folgenden – Phase seines Denkwegs eine »Kosmologisierung« seiner grundlegenden Ideen an, durch die die »Modernität«, mithin die Relevanz seines Ansatzes für unser heutiges Philosophieren »geschmälert« werde, so heißt das ja nicht, dass man nach Matière et mémoire bei Bergson keine neuen Ideen mehr fände; es heißt auch nicht, dass man die Richtung, der sein weiterer Denkweg folgt, nicht verstehen könnte; es heißt schließlich nicht, dass es Bergson nicht gelungen wäre, sein eigenes Ziel zu erreichen; es heißt vielmehr, dass Bankov nicht glaubt, aus dem Nachvollzug von Bergsons weiterem Denkweg Nutzen für sein eigenes philosophisches Projekt ziehen zu können. Wir stehen also an einem Wendepunkt, der für diese Untersuchung ähnlich entscheidend ist wie derjenige beim Übergang von Kapitel 2 zu Kapitel 3. Während es dort aber in der Tat darum ging, eine Wende zu vollziehen, d. h. die Blickrichtung der Betrachtung zu ändern, die Notwendigkeit einer Fortsetzung der Untersuchung dagegen nie zur Debatte stand, geht es nun darum, uns erst einmal darüber zu verständigen, ob wir der eingeschlagenen Richtung weiter folgen und die noch möglichen Etappen auch wirklich absolvieren wollen. Mag also die Frage, ob die Dauer auch außerhalb des menschlichen Geistes anzutreffen ist, der Sache nach die nächste zur Erörterung anstehende sein, so muss doch zunächst geprüft werden, ob wir hoffen dürfen, sie so erörtern zu können, dass die Antwort (1) dem Bankovschen Unmodernitätsverdacht entgeht und (2) unser Verständnis davon, was es heißt, dass Bergsons Philosophie eine hermeneutische ist, in nennenswertem Umfang erweitert.

5.1 Grundlagen 5.1.1 Die Einsamkeit des Interpreten Halten wir zunächst noch einmal fest, was uns veranlassen könnte, die Untersuchung von Bergsons hermeneutischer Philosophie an dieser Stelle als abgeschlossen zu betrachten: Wir haben uns die wichtigsten und gründlichsten unter denjenigen Interpretationen, die Bergsons Philosophie einen hermeneutischen Charakter zusprechen, angeeignet, und wir haben auf dieser Basis das in sich stimmige und 554 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

Grundlagen

abgerundete Konzept einer Interpretationsphilosophie entwickeln können, die Text- und Handlungshermeneutik in sich vereint. Bergson begnügt sich dabei nicht mit der Feststellung, dass der Mensch – man weiß nicht, warum – gelegentlich zum Interpretieren neigt, sondern begründet das interpretierende Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit durch eine Theorie des endlichen Menschen, die sich als philosophische Anthropologie oder als Fundamentalontologie lesen lässt. Bergson begnügt sich auch nicht damit, dem logisch beschreibbaren und methodisch steuerbaren Vorgehen der Intelligenz beim Erkennen materieller Dinge ein logisch nicht erfassbares und durch keine Methode zu bändigendes Interpretieren entgegenzusetzen, sondern bemüht sich in immer neuen Anläufen – wir haben die in L’intuition philosophique und L’effort intellectuel zu findenden genauer untersucht –, etwas zu erarbeiten, was den Titel »Logik der Interpretation« durchaus verdienen würde. All dies ist also gleichsam auf der Haben-Seite zu verbuchen. Soll angesichts eines so überzeugenden Entwurfs überhaupt auch nur das Bedürfnis nach einer Fortsetzung der Untersuchung aufkommen, so müsste sich zeigen lassen, dass auch auf der Soll-Seite mancherlei zu vermerken ist. Das scheint mir nun in der Tat der Fall zu sein. Stellen wir also zusammen, was dort zu notieren wäre. Im Hinblick auf Bergsons Werke gilt: (1) In dem bisher erarbeiteten Verständnis von Bergsons Philosophie sind zahlreiche Werke – darunter so wesentliche wie L’évolution créatrice und Les deux sources de la morale et de la religion – nicht berücksichtigt. (2) In der bisher erarbeiteten Rekonstruktion sind für Bergsons Denken wesentliche Begriffe – so diejenigen der Sympathie oder der Intuition – nicht berücksichtigt. Nun kann man nicht einfach unterstellen, dass ein Denker, der in einem seiner Werke Fragen der philosophischen Hermeneutik erörtert, dies auch in allen nachfolgen Werken tun muss. Der Fall Heideggers, bei dem das Wort »Hermeneutik« nach Sein und Zeit im Grunde nicht mehr vorkommt, zeigt deutlich, wie falsch eine solche Annahme wäre. Aber wir verfügen über Interpretationen, die erklären, dass Heidegger nach Sein und Zeit eine »Kehre« vollzogen hat, und verdeutlichen, was diese »Kehre« inhaltlich für Heideggers Philosophie bedeutet. Im Hinblick auf Bergson bieten dagegen Ronchis und Bankovs Interpretationen nichts Vergleichbares. Weder ist von einem Wendepunkt in Bergsons Denken die Rede (vielmehr wird eine kontinuierliche Ausweitung des hermeneutischen Ansatzes angedeu555 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

5 · Sympathie: Die Dauer der Anderen

tet), noch erfahren wir, wie die »zweite Phase« von Bergsons Denkweg inhaltlich einzuordnen wäre. Vielmehr bricht die Interpretation nach Matière et mémoire und L’effort intellectuel einfach ab. Dies muss als ein Mangel bezeichnet werden. Dieses Abbrechen hat zur Folge, dass Ronchi und Bankov einige Grundbegriffe Bergsons nicht oder zumindest nicht angemessen berücksichtigen können. Man wird mir vielleicht entgegenhalten, dass das eine höchst gewagte These sei, da insbesondere das Wort »Intuition« bei Ronchi durchaus gelegentlich und bei Bankov sogar häufig vorkommt. Aber man schaue sich an, was da geschieht: Bergsons Begriff intuition wird in Verbindung gebracht mit dem von Peirce geprägten Begriff abduction, und als das beide Begriffe Verbindende wird der Hypothesencharakter angegeben. 1 Ich behaupte nicht, dass das gänzlich falsch oder auch nur uninteressant ist. Aber ich behaupte, dass der so verstandene Intuitionsbegriff entbehrlich ist, und ich habe mich in Kapitel 4 bemüht, dies durch konsequente Vermeidung des Wortes »Intuition« zu demonstrieren. Und ich behaupte, dass es, wenn man so vorgeht, rätselhaft bleiben muss, warum der Begriff Intuition erst nach Matière et mémoire zu einem zentralen Begriff in Bergsons Texten wird, und zwar exakt in dem Maße, in dem Bergson der Frage nachgeht, ob die Dauer auch außerhalb des menschlichen Geistes anzutreffen ist. Im Hinblick auf die für diese Untersuchung besonders relevanten Bergson-Interpretationen gilt: (3) In dem bisher erarbeiteten Verständnis sind nicht alle Interpretationen berücksichtigt, die Bergsons Philosophie einen hermeneutischen Charakter zusprechen. (4) In den Interpretationen Ronchis und Bankovs lassen sich Inkonsequenzen aufdecken, die darauf hindeuten, dass das Abbrechen nach L’effort intellectuel willkürlich ist. Sollte man die für unser Unternehmen wichtigsten Bergson-Interpretationen nennen, so wäre neben denjenigen von Fedi, Hyppolite, Ronchi und Bankov zumindest noch diejenige von Richard L. Brougham 2 zu nennen. Brougham allerdings geht völlig andere Wege als Hyppolite, Ronchi und Bankov. Eher schon könnte man – obwohl eine tatsächliche Rezeption in der einen Richtung unmöglich, in der anderen unwahrscheinlich ist – von einer gewissen Nähe zu Fedi sprechen. Die Gemeinsamkeit scheint zunächst nur in einer irgend1 2

Ronchi[1991] 160 f., Bankov[2001] 121 f., Ronchi[2011] 130 Brougham[1993]

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Grundlagen

wie gearteten Verknüpfung von geistigem und natürlichem Geschehen zu bestehen, also eher oberflächlicher Natur zu sein. Während sich nämlich bei Fedi die Konstanz der materiellen Welt und der Geist als schöpferische Dauer gegenüberstehen, zielt der von Brougham formulierte Titel »Ontologische Hermeneutik« gerade darauf ab, dass es in der äußeren Wirklichkeit Prozesse gibt, die nach dem gleichen Muster verlaufen wie die geistigen Prozesse des interpretierenden Schaffens von Neuem. 3 Indessen erörtert ja auch Fedi die von Bergsons Lehrer Boutroux formulierte These, dass es in der äußeren Wirklichkeit eine gewisse Unbestimmtheit (Kontingenz) gibt, die die Entwicklung von Neuem (Evolution) ermöglicht. Somit lässt sich sagen, dass, indem Fedi Bergson mit Boutroux, Brougham Bergson mit Alexander, Whitehead und László in Verbindung bringt, sich eine Auffassung von Hermeneutik zeigt, die in der bisher erarbeiteten Interpretationsphilosophie nicht unterzubringen ist. Nur eben: Das kann man Ronchi und Bankov nicht zum Vorwurf machen, denn diese Auffassung von Bergsons Hermeneutik ist ja gerade die, die sie mit großer Skepsis betrachten. Erinnern wir uns an jene in Kapitel 1 untersuchten Passagen aus L’évolution créatrice, in denen Bergson unter Berufung auf den antiken λόγοϚ-Gedanken aus der Erfahrung einer abnehmenden Konzentration beim Zuhören auf einen erschlaffenden schöpferischen Elan in der Wirklichkeit schließt: Wie die nachlassende Aufmerksamkeit auf den Sinn des Gesprochenen die Worte und Laute als Sprachmaterial in den Vordergrund treten lässt, so führt ein Nachlassen der schöpferischen Energie zur Entstehung materieller Dinge und letztlich der Materie. Bankovs Frage angesichts derartiger Analogien lautet: Darf man so vorgehen? Nützt man der Hermeneutik, wenn man Modelle, die als präzise Beschreibungen geistiger Vorgänge gelten dürfen, einfach auf die äußere Wirklichkeit überträgt? Wir haben es hier also nicht mit einem offenkundigen Mangel, wohl aber mit einer ungeklärten Frage zu tun: Wie sollen wir mit Broughams Bergson-Interpretation umgehen? Sollen wir sie aus der Gruppe der maßgeblichen Interpretationen ausschließen oder sollen wir uns bemühen, unsere Rekonstruktion von BergWhat Bergson adds to all this is his audacious ontological claim: at least some »real« development is analogous to the hermeneutic reciprocity between the emerging organizing pattern and the (potential) »segments.« – He clearly implies that the sustained »inventive« effort is a direct disclosure of the »way things work,« a mediation of unitive pattern and »material« components. The circle, he suggests, may be at the heart of being. – a. a. O.

3

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sons hermeneutischer Philosophie so zu erweitern, dass Broughams Gedanken darin Platz finden? Als Mängel zu bewerten sind dann allerdings gewisse Inkonsequenzen in Ronchis und Bankovs eigenen Interpretationen. Was Ronchi angeht, so scheint mir das größte Problem im Widerspruch zwischen dem Aufweis des naturhaften Fundaments der Erkenntnis und der fehlenden Aneignung von Bergsons Naturphilosophie zu bestehen. Auf der einen Seite gibt sich Ronchi nicht damit zufrieden, Bergsons Pragmatismus, also seine – in Matière et mémoire erstmals vorgetragene – These von der Eingebundenheit menschlichen Erkennens in die Praxis des homo faber herauszuarbeiten, sondern treibt den Gedanken weiter in Richtung auf eine Reintegration menschlichen Bewusstseins und menschlichen Erkennens in die Natur. Auf der anderen Seite bemüht er sich aber nicht darum, Bergsons vor allem in L’évolution créatrice ausgearbeitete Philosophie der Natur in seine Überlegungen einzubeziehen. Gewiss, Ronchi steht einer Untersuchung von L’évolution créatrice nicht so skeptisch gegenüber wie Bankov. Aber er führt sie auch nicht durch. »Die ›existenziale Analytik‹ von Matière et mémoire weicht, nachdem sie ihr den Boden bereitet hatte, der Kosmologie von L’évolution créatrice. Dort wird, wie es schon Peirce wollte, die ›Methode‹ der Abduktion auf das Universum ausgeweitet.« 4 Das sind vielversprechende Sätze. Aber es sind die Sätze, mit denen Ronchis Untersuchung schließt. 5 Bei Bankov finden sich ähnliche Inkonsequenzen, die darauf hindeuten, dass das Ausblenden der nach L’effort intellectuel publizierten Texte Bergsons willkürlich ist und mit der Logik der Sache in Konflikt gerät. Um dafür nur ein Beispiel herauszugreifen: Im letzten Teil seiner Untersuchung erörtert Bankov unter Bezugnahme auf Richard Rorty und Michel Foucault die Rolle des »Genies« (genius) bzw. 4 L’« analitica esistenziale » di Matière et mémoire lascia il posto, dopo averle preparato il terreno, alla cosmologia dell’Evolution créatrice. Là, come già voleva Peirce, il « metodo » dell’abduzione verrà allargato all’universo. – Ronchi[1991] 195 5 Aber ist das nicht lediglich ein Mangel der Untersuchung von 1991? Geht Ronchi [2011] nicht in der skizzierten Richtung über das dort Erreichte hinaus? Das ist zweifellos der Fall. Nur folgt daraus nicht, dass wir den in Ronchi[2011] vorgeschlagenen Gesamtentwurf problemlos als Erweiterung der bisher erreichten Rekonstruktion übernehmen könnten. Zumindest an der Oberfläche präsentiert sich Ronchis »Synthese« viel zu sehr als neuplatonisch inspirierte philosophische Theologie, als dass man in ihr mühelos eine logische Fortsetzung der Interpretationsphilosophie erkennen könnte. Ich werde daher hier einen eigenen, von demjenigen Ronchis abweichenden Weg beschreiten.

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des »Helden« (hero). 6 Nun ist gegen einen Dialog mit Rorty und Foucault gar nichts einzuwenden. Nur ist aus der Perspektive einer Bergson-Interpretation festzustellen, dass jene »Helden der intellektuellen Anstrengung«, die für Bankov insbesondere als »Gründerväter der Diskursivität« von Interesse sind, sowie ihre »Nachfolger« ein zentrales Thema von Les deux sources de la morale et de la religion darstellen. Insofern muss es als inkonsequent und wenig plausibel erscheinen, dass Bankov im Dialog mit Rorty und Foucault die Frage nach der Rolle, die die Schöpfer von Neuem im Rahmen eines ebenso kontingenten wie starren Systems (hier: der Sprache) spielen, als wichtig betrachtet, andererseits aber behauptet, die nach L’effort intellectuel publizierten Werke Bergsons könnten zur Ausarbeitung einer zeitgemäßen hermeneutischen Philosophie nichts mehr beitragen. Aus der Perspektive der Hermeneutik gilt: (5) In dem bisher erarbeiteten Modell von Bergsons hermeneutischer Philosophie begegnet uns ein einsamer Interpret. Die für die Hermeneutik so charakteristische Frage nach dem zwischenmenschlichen Verstehen ist nicht einmal gestellt, geschweige denn beantwortet. Aus der Perspektive einer Theorie des Unbewussten, wie sie insbesondere die Psychoanalyse entwirft, ist zu ergänzen: (6) In der bisher erarbeiteten Rekonstruktion von Bergsons Theorie des aus dem Unbewussten hervorgehenden Bewusstseins kommt lediglich ein »vertikales Unbewusstes« zur Sprache. Ob Bergson auch ein »horizontales Unbewusstes« kennt, ist weder gefragt noch geklärt worden. Mit diesen beiden abschließenden Eintragungen in unsere »Mängelliste«, die offenkundig zwei Aspekte des gleichen Defizits betreffen, sind wir auf eines der gravierendsten Probleme der Bergson-Interpretation gestoßen. Die Frage, ob es sich hier um einen Mangel der Interpretationen von Hyppolite und/oder Ronchi und/ oder Bankov handelt, brauchen wir erst gar nicht zu stellen. Die Kritik, dieser philosophische Entwurf kenne nur ein monadenhaftes Bewusstsein, wird zu häufig – und vor allem: auch da, wo weder von Hermeneutik noch von Hyppolite, Ronchi oder Bankov die Rede ist – geäußert, als dass man diese Autoren dafür verantwortlich machen könnte. Ihre Modelle, so kann man allenfalls sagen, bilden unkritisch nach, was als Schwäche von Bergsons Entwurf betrachtet werden muss. 6

Bankov[2000] 135–137

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Oder jedenfalls: Dies ist der letzte der drei großen Kritikpunkte, die gemeinhin gegen Bergsons Philosophie vorgebracht werden. Der erste ist der Vorwurf der Irrationalität (unmittelbares Erfassen statt rationaler Erkenntnis). Der zweite ist der Vorwurf der Sprachfeindschaft. Und der dritte ist nun der Vorwurf der Isoliertheit des Individuums. Ich erinnere an die bereits zitierte Kritik von Mirjana Vrhunc: »Indem er den Menschen aus den Bezügen seiner kulturellen Welt herausgelöst und die innere Dauer des Bewusstseinslebens als die wahre Existenzform des Ich ausgezeichnet hat, hat Bergson, ohne dies selbst auch nur zu thematisieren, dieses Ich zugleich einer Einsamkeit überlassen und der Angst ausgeliefert.« 7

Das ist, wenn man so will, die kritisch-dramatische Variante des Vorwurfs. Als Beleg für die irritiert-ratlose Variante seien hier einige Sätze von Gerhard Schmied angeführt. Ein Soziologe, der in den achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts Bergson und der BergsonRezeption in der Soziologie 40 Seiten gewidmet hat, kann nur ein Bergson-Sympathisant sein. Gleichwohl schreibt Schmied: »Für die große Mehrzahl der Fachsoziologen waren weder die Welt der Traumvorstellungen noch die Tiefenschichten des Bewusstseins Gegenstand ihrer Wissenschaft gewesen, so dass der Bezug zwischen Bergsonscher Zeitphilosophie und Soziologie der Zeit keineswegs naheliegend erscheint. Ja, es lässt sich sogar zeigen, dass Bergsons Ansatz von der Dauer als der ›eigentlichen Zeit‹, der gegenüber der homogenen Zeit lediglich die Dignität eines ›symbolischen Bildes der wirklichen Dauer‹ zukommt, den Intentionen jeder Soziologie diametral entgegensteht. Das Gesellschaftliche gehört für Bergson zur Außenwelt, die die falsche Vorstellung von Raum in das Zeitbewusstsein dringen lässt. Die Vielfalt der Empfindungen und ihre Konstellation ist in einer konkreten Dauer einmalig, sie ist per se individuell. […] Angesichts von Bergsons Stellung zum Phänomen ›Gesellschaft‹ ist es überraschend, dass sich einige vielzitierte Soziologen und Ethnologen auf seine Philosophie beziehen […].« 8

Die gleiche Kritik, die hier aus soziologischer Sicht formuliert wird, lässt sich auch aus der psychoanalytischen, oder jedenfalls: aus der Perspektive einer Theorie des Unbewussten formulieren. Günter Gödde und Michael Buchholz haben die terminologische Unterscheidung zwischen einem »vertikalen« und einem »horizontalen« Unbe-

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Vgl. Kap. 2, Anm. 101. Schmied[1985] 34 f. – Vgl. dazu auch Nassehi[2008] 61 f.

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wussten vorgeschlagen. 9 Vertikal heißt die eine Form des Unbewussten im Hinblick auf die von Freud vorgeschlagenen, gemeinhin als »Topologien« bezeichneten Schichtenmodelle, die – statisch betrachtet – durch Über- und Unterordnungen (Über-Ich, Unterbewusstes) sowie – dynamisch betrachtet – durch Vorgänge wie Verdrängung und Wiedererinnerung strukturiert werden. Horizontal heißt die andere Form des Unbewussten, weil sie durch »Resonanzphänomene« zwischen einer Person und (mindestens) einem Gegenüber konstituiert wird. Gödde und Buchholz denken dabei vor allem an Prozesse, die während einer psychoanalytischen Behandlung ablaufen (so die »Übertragung«). Zu ergänzen wären diese Hinweise, wie ich meine, durch diejenigen Phänomene, die seit Le Bon und Freud Gegenstände einer »Massenpsychologie« sind. Kurz: Das Konzept eines vertikalen Unbewussten beschreibt die von einer Individualpsychologie, das Konzept des horizontalen Unbewussten dagegen die von einer Zweioder Mehr-Personen-Psychologie betrachtete unbewusste Dynamik. Nun liegt es aber auf der Hand, dass alles, was wir bisher über »das« Unbewusste bei Bergson ausgeführt haben, lediglich ein vertikales Unbewusstes, mithin eine individuelle Dynamik betrifft. Da es bisher noch keinen Anlass dazu gab, haben wir die Frage, ob Bergson auch ein horizontales Unbewusstes kennt, ebenso wenig gestellt wie die erst jetzt in den Blick gekommene Frage nach einer sozialen Zeit bei Bergson oder überhaupt die Frage nach den Beziehungen des interpretierenden Individuums zu seiner Um- und Mitwelt. Diese Feststellung mag überraschen, denn wir haben uns bereits ausführlich mit der Texthermeneutik, d. h. mit dem Hervorbringen und Verstehen sprachlicher Äußerungen, befasst. Nur: Haben wir uns deshalb auch schon mit der Frage nach der Verständigung zwischen Individuen befasst? Ist es nicht offenkundig, dass das als Entwurf konzipierte Verstehen mit dem Tanzen-Lernen, ja überhaupt mit dem Erlernen von Gewohnheiten und dem Hantieren mit Werkzeugen mehr Ähnlichkeit hat als mit dem, was die Hermeneutik Verständnis und Verständigung nennt? Und rühren nicht die Zweifel, die wir in Kapitel 1 formuliert haben 10, letztlich daher, dass wir einen »Einklang« oder – mit Gödde und Buchholz gesprochen – dass wir »Resonanzphänomene« zwischen Sprechendem und Verstehendem vermissen? 9 10

Gödde/Buchholz[2011] Vgl. Abschnitt 1.4.2, S. 126.

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Wir haben nun einen Anlass, diesen Fragen nachzugehen. Wenn wir nämlich im bisherigen Verlauf der Untersuchung die Vorwürfe der irrationalen Unvermitteltheit und der Sprachfeindschaft als Bedrohungen für das Projekt, Bergsons Philosophie als eine hermeneutische zu lesen, ausgemacht und uns um deren Widerlegung bemüht haben, so ist jetzt festzustellen, dass der Vorwurf der Isoliertheit des Individuums eine nicht minder große Bedrohung darstellt und dass wir genötigt sind, ihn zu prüfen. Ist also wirklich der interpretierende Mensch herausgerissen aus allen Bezügen zur Um- und Mitwelt? Haben wir wirklich Anlass, von der Einsamkeit des Interpreten zu sprechen?

5.1.2 Sympathie als Einfühlung? Die »Einsamkeit des Interpreten« stellt also einerseits den gravierendsten Mangel dar – andererseits bietet sie aber auch die besten Aussichten für eine mit nennenswertem Gewinn verbundene Fortsetzung unserer Untersuchung. Während nämlich beim gegenwärtigen Stand der Dinge nicht zu erkennen ist, wie die Frage nach der Zulässigkeit der Analogien zwischen geistigen und natürlichen Vorgängen entschieden werden sollte und welchen Ertrag eine solche Entscheidung abwerfen könnte, kann man sich schon eher vorstellen, wie zu verfahren wäre, um zu prüfen, ob die Einsamkeit des Interpreten lediglich einen Mangel der von uns bisher erarbeiteten Rekonstruktion oder ein Defizit von Bergsons Philosophie selbst darstellt, und man sieht auch sofort, welche Relevanz die Antwort auf diese Frage für unsere Untersuchung hätte. Daraus ergibt sich meine erste These: Aus hermeneutischer Sicht erscheint die Fortsetzung der Untersuchung als sinnvoll, sofern sie sich von der Frage leiten lässt, ob die anderen Menschen, in deren Gesellschaft das interpretierende Individuum lebt, nach Bergsons Auffassung lediglich den Dingen im Raum zuzurechnen sind oder ob sie einen besonderen Bereich der äußeren Wirklichkeit bilden. Nun würde freilich diese Begründung, für sich allein genommen, einen Rückschritt auf das Niveau der Kapitel 1 und 2 darstellen, in denen unsere Untersuchung vom Standpunkt der Hermeneutik ausging. Inzwischen bemühen wir uns aber darum, von Bergsons eigenen Begriffen und Grundgedanken auszugehen und von diesen her die hermeneutischen Aspekte seines Philosophierens zu entwickeln. 562 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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Gelingt das auch, wenn wir nun die Frage nach einer Mitwelt des interpretierenden Individuums stellen? Es trifft sich günstig, dass Bergson in der Einleitung zu La pensée et le mouvant auf seinen Denkweg zurückblickt und in diesem Kontext vier verschiedene Bereiche unterscheidet, auf die sich seine eigene Leitfrage beziehen lässt. 11 Die Leitfrage als solche wird durch die Begriffe Dauer und Intuition markiert. Im Hinblick auf die Dauer stellt Bergson genau die Frage, die ich ursprünglich als Thema des vorliegenden Kapitels angekündigt hatte: In welchen Bereichen der Wirklichkeit ist sie anzutreffen? Den Begriff der Intuition möchte ich vorerst noch im Hintergrund halten, um ihn dann im letzten Kapitel systematisch zu untersuchen. Begnügen wir uns vorerst mit der Feststellung, dass er offenkundig so etwas wie das erkennende Erfassen der Dauer bezeichnet. • Die Dauer, so schreibt Bergson, ist »vor allem […] innere Dauer«. Das ist keine vage Mengenangabe, sondern eine methodische Regel: Bevor man die Dauer irgendwo anders sucht, hat man sie im »Geist«, d. h. im eigenen Bewusstsein aufzusuchen. Das Wort »Intuition« bezeichnet dann den Sachverhalt, dass der Geist sich selbst betrachtet. Bergson behauptet nicht, dass das eine leichte Aufgabe ist, aber es ist jedenfalls die leichteste von allen derartigen Aufgaben, weil keine Hindernisse im Wege stehen. • Mag die Intuition nun aber auch bei der eigenen Dauer beginnen müssen, so ist sie doch nicht auf diese beschränkt. Auch das Bewusstsein anderer Menschen weist die Form der Dauer auf. Aber ist uns denn die Dauer der Anderen zugänglich? Bergson antwortet: »Zwischen unserem Bewusstsein und denjenigen der Anderen ist die Trennung weniger scharf als zwischen unserem Körper und den anderen Körpern, denn der Raum allein bewirkt die scharfen Abgrenzungen. Die unreflektierte Sympathie und Antipathie, die oft so hellsichtig (divinatrices) sind, bezeugen eine mögliche gegenseitige Durchdringung der menschlichen Bewusstseinssphären.« 12

PM 1272–1274 | 27–29 | 44–45 Entre notre conscience et les autres consciences la séparation est moins tranchée qu’entre notre corps et les autres corps, car c’est l’espace qui fait les divisions nettes. La sympathie et l’antipathie irréfléchies, qui sont si souvent divinatrices, témoignent d’une interpénétration possible des consciences humaines.

11 12

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Vollzieht Bergson den Übergang vom ersten zum zweiten Bereich, indem er nach den Grenzen der Intuition fragt (»Ist sie nur die Intuition unserer selbst?«), so benutzt er nun den zusätzlich eingeführten Begriff der Sympathie, um die Grenzen ein weiteres Mal zu erweitern: »Aber sympathisieren wir lediglich mit bewussten Wesen?«. 13 Bergson stellt fest, dass es keine solche Beschränkung gibt. Weil jedes Lebewesen geboren wird, sich entwickelt und stirbt, weil demnach »das Leben eine Entwicklung und die Dauer hier eine Wirklichkeit ist«, sympathisieren wir mit allen Lebewesen. 14 • Aber auch an diesem Punkt macht Bergson noch nicht Halt. Mögen auch die Dinge im Raum isoliert und unveränderlich sein, so ist doch dem materiellen Universum als Ganzem, insofern es sich entwickelt, eine Dauer zuzusprechen. Aus dieser Aufzählung unterschiedlicher Bereiche der Wirklichkeit schließe ich und formuliere als zweite These: Auch Bergson selbst springt nicht vom individuellen Bewusstsein zur Kosmologie, sondern benutzt verschiedene Zwischenstufen, deren erste durch die anderen Menschen und deren Dauer gebildet wird. Wir können uns demnach auf Bergson berufen, wenn wir versuchen, das Modell einer Interpretationsphilosophie durch den Aspekt des Verstehens von Anderen zu erweitern. Mehr noch: Vieles spricht dafür, dass das eben skizzierte Schema des sukzessiv erweiterten Gegenstandsbereichs der Intuition nicht lediglich eine nachträgliche Rationalisierung darstellt, sondern Bergsons wirklichen Denkweg beschreibt. Gehen wir nun von dieser Annahme aus und berücksichtigen wir, dass die Frage nach der Dauer des individuellen Bewusstseins im Essai sur les données immédiates de la conscience und – mit gewissen Einschränkungen – in Matière et mémoire leitend ist, L’évolution créatrice aber bereits nach der Dauer im Bereich des Lebendigen und des Universums insgesamt sucht, so werden wir zu der Vermutung geführt, dass die Frage nach einem verstehenden Zugang zum Anderen nicht notwendigerweise nur, aber jedenfalls auch zwischen Matière et mémoire und L’évolution créatrice einen Schwerpunkt von Bergsons Forschen gebildet haben muss. •

13 N’est-elle que l’intuition de nous-mêmes ? – Mais ne sympathisons-nous qu’avec des consciences ? 14 Si tout être vivant naît, se développe et meurt, si la vie est une évolution et si la durée est ici une réalité […].

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Mit anderen Worten: Wir müssen annehmen, dass Hyppolite, Ronchi und Bankov, wenn sie uns ein einsames interpretierendes Individuum präsentieren, dies in Übereinstimmung mit Bergsons in Matière et mémoire dargelegter Philosophie tun, dass aber Bergson just in dem Moment zur Erweiterung seines Modells ansetzt, in dem diese Interpreten ihre Interpretationen abbrechen. Dafür, dass es sich in der Tat so verhält, sprechen Forschungsergebnisse wie diejenigen von Günther Pflug oder Jerrold Seigel. Pflug hatte den glücklichen Einfall, das für Bergson-Interpretationen so typische Schema, demgemäß in vier Kapiteln die vier »Hauptwerke« abgehandelt werden, zu durchbrechen und den zwischen Matière et mémoire und L’évolution créatrice publizierten kleineren Abhandlungen ein eigenes Kapitel zu widmen. 15 Er ist deshalb einer der wenigen neueren Interpreten, die Le rire und Introduction à la métaphysique angemessen würdigen. In seiner Analyse von Le rire, auf die ich an späterer Stelle 16 genauer eingehen werde, gelangt Pflug nun aber zu der Auffassung, dass Bergson in diesem Werk dem »Problem des fremden Bewusstseins« nachgeht und »eine Möglichkeit der Wahrnehmung des Psychischen außerhalb der Introspektion« sucht. 17 Deutet dies darauf hin, dass das gegenseitige Verstehen von Individuen für Bergson bedeutsam wird, so macht Seigel darauf aufmerksam, dass das Bild der Gesellschaft, das Bergson in L’évolution créatrice zeichnet, ein völlig anderes ist als dasjenige, das uns aus dem Essai sur les données immédiates de la conscience bekannt ist. 18 Steht die Gesellschaft im Frühwerk für Verräumlichung, Isolierung und Erstarrung, so ist sie in L’évolution créatrice durch Elastizität und Beweglichkeit gekennzeichnet. Ich hoffe zeigen zu können, dass auch dieses neue Bild der Gesellschaft bereits in Le rire enthalten ist. Meine dritte These lautet deshalb: Bergson bemüht sich in den auf Matière et mémoire folgenden Werken darum, das Verstehen Anderer in sein Denkgebäude einzubeziehen. Und ich ergänze diese These um eine Zusatzthese: Die Auffassung, Bergson reiße das Individuum aus der Gesellschaft heraus, ist fast immer die Folge einer auf das Frühwerk (oder gar nur auf den Essai sur les données immédiates de la conscience) beschränkten Bergson-Lektüre. 15 16 17 18

Pflug[1959] 199 ff. Vgl. Abschnitt 5.3.2.3, S. 628. Pflug[1959] 202 Seigel[2004] 524

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Wenn es sich so verhält, dann kann man fragen, mit welchem Wort, ggf. mit welchen Worten Bergson das Verstehen Anderer bezeichnet. Das Verb comprendre – die direkte Übersetzung des deutschen Verbs »verstehen« – kommt bei Bergson zwar vor, bezeichnet aber meist das Verstehen sprachlicher Äußerungen. Neben diesem gibt es nun aber noch ein anderes, an Sprache jedenfalls nicht gebundenes Verstehen. Nicht auszuschließen ist, dass wir das Substantiv »Intuition« am Ende mit diesem Verstehen in Verbindung bringen müssen. Da aber der Intuitionsbegriff erst später betrachtet werden soll, rückt ein anderes Substantiv in den Vordergrund: »Sympathie«. Das Wort spielt, wie meine kurze Zusammenfassung gezeigt hat, eine wichtige Rolle in der Auflistung derjenigen Wirklichkeitsbereiche, in denen Bergson das Vorkommen der Dauer für möglich hält. Es bezeichnet dort eine besondere Haltung, die der einzelne Mensch gegenüber anderen Menschen, aber auch gegenüber nicht-menschlichen Lebewesen einnehmen kann. Das Wort ist uns aber auch in früheren Kapiteln schon an für unsere Fragestellung wichtigen Punkten begegnet. Erinnert sei (1) an den Zuhörer, der sich »in Sympathie mit der Inspiration« des Dichters befindet 19, (2) an Bergsons Forderung einer von den Naturwissenschaften verschiedenen, »zweiten Art von Erkenntnis«, die sich »durch eine Anstrengung der Sympathie« mitten hinein ins Werden versetzt 20, sowie (3) an Laurent Fedis, mit dieser Forderung in engem Zusammenhang stehende These, Bergson verfechte ebenso wie Dilthey »einen empathischen oder sympathischen Zugang zum psychischen Leben« 21. Aufbauend auf diesen fragmentarischen und vorläufigen Beobachtungen, möchte ich in einer vierten und letzten These das Ziel dieses Kapitels weiter konkretisieren: Bergson erörtert unter dem Titel der »Sympathie« einen besonderen, nicht an Sprache gebundenen, verstehenden Bezug zu anderen Menschen bzw. zu Lebewesen überhaupt. Dieser Bezug entspricht dem, was die hermeneutische Theorie unter dem Stichwort der »Einfühlung« kennt, bzw. dem, was Gödde/Buchholz als soziale »Resonanzphänomene« bezeichnen. Die Untersuchung der Einfühlungs- bzw. Resonanzphänomene ist geeignet, das einseitige Modell des einsamen Interpreten in der Rich-

19 20 21

Vgl. Kap. 1, Anm. 92. Vgl. Kap. 3, Anm. 180. Vgl. Kap. 4, Anm. 105.

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tung auf ein in der Welt seiendes, am allgemeinen Leben partizipierendes und von diesem her sich selbst verstehendes Ich zu erweitern. In meiner ersten These hatte ich die Einschätzung formuliert, dass wir, wenn wir uns mit dem von Bankov aufgeworfenen Problem der »Kosmologisierung« hermeneutischer Denkfiguren auseinandersetzen, befürchten müssen, am Ende einer langen interpretatorischen Anstrengung mit leeren Händen dazustehen, da sich ja herausstellen könnte, dass die von Bergson ins Spiel gebrachten Analogien in der Tat nicht überzeugend sind, während wir hoffen dürfen, dass eine Analyse derjenigen Überlegungen, die Bergson dem Verstehen Anderer widmet, auf jeden Fall einen Gewinn für die Fragestellung dieser Untersuchung abwirft. Gleichwohl: Ein Spaziergang wird auch diese Analyse nicht werden. Wir werden es sehr bald mit einer ganzen Reihe von Schwierigkeiten zu tun bekommen, die, zusammengenommen, bewirken, dass die Frage nach dem Zugang zur Dauer anderer Menschen nicht wesentlich leichter zu beantworten ist als die Frage nach der Dauer im Universum überhaupt. Diese Schwierigkeiten sollen hier schon einmal genannt werden, bevor wir uns den Texten zuwenden, in denen Bergson sich mit der Sympathie befasst: • Es wird sich sehr schnell zeigen, dass man gut daran tut, alles zu vergessen, was man über die Bedeutung des Wortes »Sympathie« zu wissen glaubt. Wir werden es mit einer Anstrengung der Sympathie, einer intellektuellen und einer tödlichen Sympathie zu tun bekommen – mit Phänomenen also, die sich mit dem gängigen Verständnis des Wortes nicht besonders gut vertragen. • Es ist umstritten, ob die von mir vorgeschlagene Strategie, die Begriffe »Sympathie« und »Intuition« getrennt zu betrachten, legitim ist. Die große Mehrheit der Bergson-Interpreten geht – mehr oder weniger stillschweigend – davon aus, dass beide Begriffe von Bergson nahezu synonym verwendet werden, dass aber gleichwohl »Intuition« als der wichtigere, »Sympathie« nur als ein Hilfsbegriff zu betrachten ist. Sieht man von Arbeiten wie Max Schelers großer Abhandlung über »Wesen und Formen der Sympathie« ab, in denen eine andere Akzentsetzung allein schon durch die übergreifende Fragestellung erzwungen wird, so ergibt sich, dass erst David Lapoujade im Jahre 2007 die Frage gestellt hat, ob die Bedeutung des Sympathiebegriffs präzisiert und der Sympathie eine eigenständige, von derjenigen der Intuition verschiedene Erkenntnisfunktion zugeordnet werden 567 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

5 · Sympathie: Die Dauer der Anderen

kann. 22 Und es ergibt sich weiterhin, dass seine eindeutig bejahende Antwort keineswegs von allen nachfolgenden BergsonInterpretationen übernommen worden ist. Es ist weiterhin umstritten, ob Bergson ein Sich-in-den-Anderen-Hineinversetzen für möglich hält. Günter Pflug etwa bestreitet dies – und zwar mit guten Gründen. 23 Nun kann man den von ihm angeführten Texten zwar andere Texte entgegenhalten, es bleibt aber gleichwohl zu klären, ob bzw. wie die anscheinend gegensätzlichen Aussagen miteinander zu vereinbaren sind. »Einfühlung« ist ein zwar oft behandeltes, aber dennoch undankbares Thema. Dies gilt schon für die Hermeneutik im Allgemeinen: Zwar wird kein Theoretiker bestreiten, dass es lebensweltliche Einfühlungsvorgänge gibt. Um so größer aber ist die Skepsis angesichts der Frage, ob sich diese methodisch nicht kontrollierbaren Vorgänge für eine Hermeneutik nutzbar machen lassen, die eine Grundlegung der Geisteswissenschaften sein möchte. In eher noch größere Zweifel wird aber verstrickt, wer sich mit den von Bergson untersuchten Sympathie-Phänomenen befasst. Bergson nämlich beschränkt sich durchaus nicht darauf, lesende Dichter und ihre Zuhörer, der Musik lauschende oder zu ihr tanzende Menschen heranzuziehen – er beruft sich außerdem auf den Instinkt, die Hypnose oder gar das Hellsehen. Kurz: Wenn wir uns auf Bergsons Überlegungen zur Sympathie einlassen, dann müssen wir uns darauf gefasst machen, den Irrationalismusverdacht, von dem wir glauben konnten, er habe sich längst erledigt, noch einmal mit voller Wucht wiederkehren zu sehen. Um es negativ zu formulieren: Wer Bergsons Sympathiebegriff untersucht, kann leicht an einen Punkt geraten, an dem er sich wünscht, er wäre an diesem Wespennest achtlos vorübergegangen. Um es positiv zu formulieren: Der Versuch, Bergsons Sympathiebegriff zu klären, wird uns Gelegenheit geben, zum Problem des Irrationalismus bei Bergson klar und begründet Stellung zu beziehen.





22 23

Scheler[1973]; Lapoujade[2007] = Lapoujade[2010], Kapitel II Vgl. insbesondere Pflug[1959] 237

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Phänomenologie der Partizipation I: Die Extreme

5.2 Phänomenologie der Partizipation I: Die Extreme 5.2.1 Sympathie als Selbstverhältnis Bergsons Darstellungen verschiedener Formen der Sympathie (oder auch Antipathie) im Bereich menschlicher Gruppen und Gesellschaften wird gleichsam eingerahmt durch zwei Phänomene, die Bergson zwar als Erscheinungsformen der Sympathie bezeichnet, bei denen wir aber das Auftreten von zwei oder mehr Menschen vermissen. Im ersten Fall hat man es nur mit einem einzigen Menschen, im zweiten sogar ausschließlich mit Tieren zu tun. Wenn ich diese beiden Fälle als »Extreme« bezeichne, so ist das, wie sich noch zeigen wird, in mehrfachem Sinn zu verstehen. Der erste Sinn ist dieser: Ich hatte in meiner dritten These behauptet, dass die Frage nach der Möglichkeit eines sympathisierenden Verstehens Anderer für Bergson insbesondere in den Jahren zwischen der Publikation von Matière et mémoire (1896) und derjenigen von L’évolution créatrice (1907) wichtig wird und dass die in jenen Jahren erschienenen kleineren Abhandlungen – von denen ich hier insbesondere Le rire (1900) und Introduction à la métaphysique (1903) betrachten möchte – die Auseinandersetzung mit dieser Frage dokumentieren. Die vor dieser Phase erschienenen Texte gehen von einem Gegensatz zwischen starrer gesellschaftlicher Konvention und lebendiger individueller Dauer aus. Wenn nun Bergson das Selbstverhältnis des Individuums als Sympathie beschreibt, so stellt dieser erste Sonder- bzw. Extremfall offenkundig ein Scharnier dar, durch das er seine »Philosophie der Sympathie« mit der frühen, nur am erkennenden Zugang zur eigenen Dauer interessierten Philosophie verbindet. Findet man andererseits in L’évolution créatrice das instinktgesteuerte Verhalten von Tieren anderen Tieren gegenüber ebenfalls als Sympathiephänomen eingeordnet, so lässt sich dieser zweite Sonder- bzw. Extremfall als ein weiteres Scharnier verstehen, das die »Philosophie der Sympathie« mit der Philosophie der lebendigen Natur verbindet. Der wichtigste Beleg für den ersten Sonderfall ist in der Introduction à la métaphysique zu finden. Das ist, wie wir denn doch schon hier vermerken müssen, diejenige Schrift, in der Bergson das Wort intuition als einen Hauptbegriff seiner philosophischen Sprache einführt. Folglich sieht er sich bereits in der Einleitung genötigt, den Sinn des neuen Begriffes wenigstens grob zu umreißen. An dieser Stelle schreibt er: 569 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

5 · Sympathie: Die Dauer der Anderen

»Wir nennen hier Intuition die jene Art von intellektueller Sympathie, durch die man sich in das Innere eines Gegenstandes versetzt, um mit dem, was er Einzigartiges und infolgedessen Unaussprechliches an sich hat, zu koinzidieren.« 24

Dieser Satz liegt uns in zwei Textvarianten vor, nämlich einerseits in der Fassung der Erstveröffentlichung von 1903 (durchgestrichen), andererseits in der für den Sammelband La pensée et le mouvant überarbeiteten Fassung von 1934 (unterstrichen). Auf die philosophische Relevanz der Differenzen werde ich in Kapitel 6 eingehen 25. Hier möchte ich erst einmal nur darauf aufmerksam machen, dass der Begriff »Sympathie« gegenüber demjenigen der »Intuition« als der übergeordnete erscheint. Das kommt in der Fassung von 1903 durch die Formulierung »eine Art von« klar zum Ausdruck. Die Tendenz, »Sympathie« als den allgemeineren, umfassenderen Begriff zu verstehen, ist auch in der Fassung von 1934 noch erkennbar (»die Sympathie, durch die«), wenngleich man – insbesondere aufgrund der Streichung von cette espèce de – den Eindruck hat, dass Bergson zugleich bestrebt ist, das Wort sympathie nicht bloß als abstrakten Oberbegriff, sondern zugleich als Bezeichnung für ein eigenständiges Phänomen erscheinen zu lassen. Freilich wird man sagen müssen, dass die überarbeitete Fassung durch diese Gegenläufigkeit der Tendenzen nicht unbedingt an Klarheit gewonnen hat. Nun bezeichnet der Begriff »Intuition« in der Einleitung von Introduction à la métaphysique lediglich ein hypothetisches Phänomen: Wenn Metaphysik möglich sein soll, dann muss es Intuition geben, d. h. eine Sympathie, die uns ins Innere der Gegenstände führt. Ob es aber Intuition gibt und ob es Gegenstände gibt, die einer derartigen Sympathie zugänglich sind, bleibt zunächst offen. Das ändert sich mit den ersten Sätzen des ersten Hauptteils: »Eine Wirklichkeit gibt es mindestens, die wir alle von innen her durch Intuition und nicht durch einfache Analyse erfassen. Das ist unsere eigene Person in ihrem Fluss durch die Zeit. Das ist unser Ich, welches dauert. Wir mögen mit keinem anderen Ding intellektuell – oder vielmehr geistig – sympathisieren. Aber wir sympathisieren sicher mit uns selbst.« 26 On appelle Nous appelons ici intuition cette espèce de la sympathie intellectuelle par laquelle on se transporte à l’intérieur d’un objet pour coïncider avec ce qu’il a d’unique et par conséquent d’inexprimable. – PM 1395 | 181 | 183 25 Vgl. Abschnitt 6.1.4, S. 711. 26 Il y a une réalité au moins que nous saisissons tous du dedans, par intuition et non par simple analyse. C’est notre propre personne dans son écoulement à travers le 24

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Das sind extrem schwierige Formulierungen, die denn auch prompt einige Übersetzer aus der Bahn geworfen haben. 27 Nähern wir uns ihnen also langsam. Klar ist der Sinn des Schrittes, den Bergson im Text vollziehen möchte: Blieb anfangs unklar, ob dem Wort »Intuition« – verstanden als ein »Erfassen des Gegenstandes von innen her – überhaupt irgend etwas in der beobachtbaren Wirklichkeit entspricht, so stellt Bergson nun fest, dass es »mindestens einen« Sachverhalt gibt, auf den diese Beschreibung zutrifft, da jeder Mensch seine eigene Person von innen her kennt. Das Wort intuition ist also kein bloßer flatus vocis, es bezeichnet auch nicht – wie etwa das Wort »Hellsehen« – ein zweifelhaftes und, wenn überhaupt wirkliches, dann nur wenigen Menschen zugängliches Phänomen, sondern es bezeichnet das ausnahmslos allen Menschen bekannte Selbstverhältnis. Jeder Mensch sympathisiert mit sich selbst. Weiterhin ungeklärt bleibt allerdings, ob unsere eigene Person die einzige uns so zugängliche Wirklichkeit ist oder ob es noch andere Gegenstände der Sympathie gibt. Bergson selbst sagt explizit, dass wir uns allem, was uns sonst noch in der Wirklichkeit gegeben sein mag, ohne Sympathie zuwenden und somit diese Gegebenheiten als Dinge auffassen können. Er sagt aber nicht, ob das die einzige Möglichkeit, die in den meisten Fällen befolgte Regel oder ein selten auftretendes Missverständnis darstellt. Allem, was nicht wir selbst sind, können wir uns ohne Sympathie zuwenden. Aber können wir uns zumindest einigem, was nicht wir selbst sind, auch mit Sympathie zuwenden? Diese Frage wird hier noch nicht beantwortet. Insbesondere dann, wenn man diese Sätze nicht – wie ich das hier getan habe – aus ihrem Zusammenhang herausreißt, sondern die vorausgehenden und die nachfolgenden Überlegungen mitliest, temps. C’est notre moi qui dure. Nous pouvons ne sympathiser intellectuellement, ou plutôt spirituellement, avec aucune autre chose. Mais nous sympathisons sûrement avec nous-mêmes. – PM 1396 | 182 | 184 27 Leonore Kottje übersetzt: »Mit keinem anderen Gegenstand können wir intellektuell oder vielmehr geistig sympathisieren, aber wir sympathisieren sicher mit uns selbst.« Ebenso Mabelle L. Andison: With no other thing can we sympathize […]. – Richtig dagegen die von T. E. Hulme stammende, zwar auf dem Text der Erstveröffentlichung beruhende, aber von Bergson selbst durchgesehene und deshalb im englischen Sprachraum mit großem Respekt behandelte Übersetzung (We may sympathize intellectually with nothing else, but we certainly sympathize with our own selves.) oder Vittorio Mathieus italienische Übersetzung von 1983 (Può darsi che noi non simpatizziamo intellettualmente o, piuttosto, spiritualmente con alcun’altra cosa; ma certamente simpatizziamo con noi stessi.).

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wird deutlich, dass die darin enthaltene Schlussfolgerung Bergsons der berühmtesten Schlussfolgerung Descartes sehr ähnlich ist. Descartes hatte bekanntlich beschlossen, an (der Existenz von) allem zu zweifeln, woran sich zweifeln lässt, und er hatte festgestellt, dass dieses Verfahren sich nicht bis zum Extrem treiben lässt, weil sich an der Existenz des Zweifelnden – oder zumindest: am Akt des Zweifelns – ohne Selbstwiderspruch nicht zweifeln lässt. Im Akt des Zweifelns verschränkten sich für ihn Denken und Sein (cogito ergo sum). Bergson geht es um die Auseinandersetzung mit der positivistischen, naturalistischen, mechanistischen Wissenschaft seiner Zeit, die, wenn sie ihren Prämissen konsequent folgt, irgendwann dazu gelangt, den Menschen (wie La Mettrie) als »Maschine« und alles Geistige als bloßes Epiphänomen anzusehen. Bergson stellt nun, analog zu Descartes, fest, dass diese These sich nicht widerspruchsfrei bis zum Ende durchhalten lässt. Der Mensch mag sie als Wissenschaftler vertreten, er mag sie selbst als lebensweltlicher Mensch bis zu einem gewissen Punkt umsetzen können (man denke an weite Bereiche der Medizin), aber als durch ein gewisses Selbstverhältnis geprägter Mensch wird er irgendwann feststellen, dass diese These in Widerspruch gerät mit dem Bild, das er zumindest implizit von sich selbst hat: mit dem Bild des strebenden, sich verändernden, sich entwickelnden, kurz: des lebenden Menschen. Es mag sein – so hatte Bergson bereits in seiner Lukrez-Interpretation gezeigt 28 –, dass der Mensch aus diesem Widerspruch zwischen Mechanismus und Lebensdynamik nicht herausfindet und dann in Trauer versinkt. Wenn man aber herausfindet, dann jedenfalls nicht dadurch, dass man die Lebensdynamik opfert, denn: wir sympathisieren notwendigerweise mit uns selbst. Verweilen wir noch kurz beim Cogito. Kant hatte dieses als »Ich denke« übersetzt, die Betonung vom »denke« auf das »Ich« verschoben, und war so zur Apperzeption gelangt: »Das: Ich denke, muss alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches eben so viel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigsten für mich nichts sein.« 29 Man sieht sofort, wie weit Kants und Bergsons Ziele auseinanderliegen. Bei Kant dient das Selbstbewusstsein letztlich dazu, unbewusstes Denken auszuschließen – ein Bemühen, an dem Bergson, wenn er das Selbstverhältnis 28 29

Vgl. Kap. 1, Anm. 40. KrV B 131 f.

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als Sympathie untersucht, nicht das geringste Interesse hat. Was uns indessen helfen kann, den Begriff »Sympathie« ein Stück weit aufzuklären, ist das von Kant benutzte Verb »begleiten«. Die Person, auf die sich unsere Sympathie bezieht, ist unsere Person »in ihrem Fluss durch die Zeit«, d. h. unsere Person als Dauer. Mit diesem dauernden Selbst zu sympathisieren, würde dann heißen, es in seiner Dauer zu begleiten. Wir hätten demnach das Wort »Sympathie« erst einmal von allen Konnotationen des Wohlwollens, Mitfühlens oder gar Mitleidens zu befreien und als Bedeutungskern ein Begleiten, Mitvollziehen oder Mitdauern anzunehmen. Daraus würde auch folgen, dass Sympathie im Sinne Bergsons kein plötzliches, kurzzeitiges Ereignis ist, sondern die Erstreckung über einen längeren Zeitraum erfordert. Zumindest ein Stück weit können wir Bergsons Sympathie als Selbstverhältnis aber doch noch an Kants Apperzeption als Selbstbewusstsein annähern, wenn wir die von Bergson verwendeten Adjektive und Adverbien betrachten. In der frühen Fassung der Einleitung fügt Bergson dem Substantiv sympathie das Adjektiv intellectuelle hinzu, streicht dieses dann allerdings im Zuge der späteren Bearbeitung. Zu Beginn des ersten Hauptteils ergänzt er von Anfang an das Verb sympathiser durch das Adverb intellectuellement, das in der späteren Fassung zwar nicht gestrichen, aber doch durch die Ergänzung ou plutôt spirituellement eingeschränkt wird. Was immer diese Modifikationen im einzelnen bedeuten mögen – die Worte »intellektuell« und »spirituell« deuten jedenfalls darauf hin, dass wir diese Sympathie mit dem Bewusstsein in Verbindung bringen dürfen. Unklar bleibt freilich vorerst, ob wir aus der Verwendung der Adjektive und Adverbien schließen dürfen, dass es neben der hier beschriebenen Form noch andere, nicht-intellektuelle bzw. nicht-geistige Formen der Sympathie gibt. Aber was bedeutet all dies für den Versuch, Bergsons Philosophie als eine hermeneutische zu verstehen? Es ist leicht zu erkennen, welche Bedeutung die Reinterpretation des Selbstverhältnisses als Sympathie für das Verstehen Anderer hat. Sie dient offenkundig der Abwehr des Verdachts, dass Bergson in dem Moment, in dem das Verstehen Anderer für ihn zu einem wichtigen Thema wird und er genötigt ist, die Möglichkeit solchen Verstehens zu erläutern, plötzlich eine mysteriöse Fähigkeit der Sympathie aus dem Hut zaubert, die keinerlei Bezug zu dem aufweist, was er in seinen früheren Werken dargelegt hatte. Mit der These, dass das Selbstverhältnis des Menschen als Sympathie zu begreifen ist, stellt Bergson formal die 573 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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Verbindung zum Hauptthema seiner früheren Werke her und behauptet in der Sache, dass Selbstverstehen und Fremdverstehen nicht radikal voneinander verschieden, sondern durch den Einsatz der Sympathie miteinander verbunden sind. Sympathie mit uns selbst – dieser Gedanke soll die Kontinuität herstellen zwischen dem nur nach seiner eigenen Dauer fragenden Individuum und dem in einer Mitwelt lebenden Menschen. Welche Konsequenzen die Umdeutung des Selbstverhältnisses für das Verstehen des Selbst hat, lässt sich vorerst nur thesenartig angeben. Wenn es zutrifft, dass durch die Einführung der Sympathie Selbstverstehen und Fremdverstehen miteinander verschränkt werden, dann hat jedes Fremdverstehen eine Rückwirkung auf das Selbstverständnis. Dabei sind vor allem drei Aspekte bedeutsam. Zum einen: Damit wir überhaupt mit anderen Menschen oder anderen Lebewesen, mit Vorgängen in der Gesellschaft oder in der Natur sympathisieren, damit sich eine Resonanz zwischen dem Anderen und uns ergeben kann, darf uns all dies Andere nicht vollkommen fremd sein. Mag sich der Mensch als Person auch durch den Geist und dessen Dauer definieren, so darf das nicht so verstanden werden, als ob »der Mensch von der Natur wie ein Kind zur Strafe in die Ecke gestellt worden wäre. Nein! Die Materie und das Leben, welche die Welt erfüllen, sind ebenso sehr in uns. Die Kräfte, die in allen Dingen wirken, fühlen wir auch in uns. Welches auch immer das innerste Wesen des Seins und Geschehens sein mag: wir gehören dazu.« 30

Das heißt freilich nicht, dass uns die in uns wirkenden und uns mit anderen Wesen verbindenden Kräfte immer auch bewusst wären. Aber deshalb gilt zweitens, dass uns jedes Sympathisieren mit anderen Wesen auf das in uns aufmerksam macht, was die Resonanz ermöglicht. Wenn wir das Denken anderer Menschen, die Handlungen anderer Lebewesen oder überindividuelle Tendenzen in Gesellschaft und Natur verstehen, so schlägt dieses Fremdverstehen zurück auf unser Selbstverständnis in Gestalt der Einsicht: Wir gehören dazu. Der Mensch ist nicht nur die Dauer des Bewusstseinsstroms. Er ist […] si l’homme avait à se tenir dans un coin de la nature comme un enfant en pénitence. Mais non ! la matière et la vie qui remplissent le monde sont aussi bien en nous ; les forces qui travaillent en toutes choses, nous les sentons en nous ; quelle que soit l’essence intime de ce qui est et de ce qui se fait, nous en sommes. – PM 1361 | 137 | 144

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auch Unbewusstes und Vitales, Körper und Materie. Nur ist – drittens – diese Einsicht kein Dementi. Der Mensch ist und bleibt definiert durch seine (individuelle) Dauer. Vielmehr müssen Dauer und Vielschichtigkeit zusammengedacht werden als Vielschichtigkeit der Dauer. Der Mensch wird nicht nur durch eine Dauer geprägt, sondern durch mehrere. Oder vielmehr – und dies ist das Bild, mit dem wir uns an späterer Stelle noch ausgiebig zu beschäftigen haben werden –: Wie das Licht, das uns als ein weißes erscheint, sich nach dem Durchgang durch ein Prisma als aus zahllosen Farben zusammengesetzt entpuppt, so lässt eine genauere Betrachtung auch in der menschlichen Dauer, die wir bisher als ein in sich homogenes Fließen aufgefasst haben, eine Vielzahl von Schichten erkennen. Die Dauer artikuliert sich noch einmal, und diesmal in Gestalt von Schichten, die uns mit den vielfältigsten Aspekten der »äußeren« Wirklichkeit verbinden. Zunehmendes Selbstverständnis ist dann zunehmend bewusste Aneignung dieser zumeist unbewussten Schichten, ist »Vertiefung« oder »Erweiterung« unseres normalen Bewusstseins.

5.2.2 Der Instinkt 5.2.2.1 Tödliche Sympathie »Instinkt ist Sympathie.« 31 Dieser Satz aus dem zweiten Kapitel von L’évolution créatrice macht klar, warum wir uns hier mit dem Instinkt zu befassen haben. Der Instinkt kam bereits im zweiten Kapitel dieser Untersuchung zur Sprache. 32 Das geschah dort im Zuge einer Aneignung von Bergsons philosophischer Evolutionstheorie, die die Entwicklungsgeschichte der Lebewesen als Entwicklungsgeschichte des Bewusstseins rekonstruiert – eines Bewusstseins freilich, das nicht für sich allein, sondern stets im Kontext eines handelnden Bezugs zur Umwelt betrachtet wird, wie die von der Evolution hervorgebrachten grundlegenden Gestalten des Bewusstseins zeigen: Das – in Ermangelung eines besseren Begriffs so genannte – »Bewusstsein überhaupt« entwickelt sich nach Bergsons Auffassung einerseits zur

31 32

L’instinct est sympathie. – EC 645 | 177 | 181 Vgl. Abschnitt 2.3.1.3, S. 256.

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bewusstlosen Unbeweglichkeit der Pflanze, andererseits zur instinktgeleiteten Beweglichkeit des Tieres, schließlich zum durch die Intelligenz gesteuerten Verhalten des Menschen. Den philosophisch bedeutsamsten Aspekt dieser Interpretation hat Georg Simmel 1914 mit folgenden Worten zusammengefasst: »Es gehört zu Bergsons originellsten Gedanken, dass der Instinkt nicht eine Vorstufe ist, aus der sich der Intellekt entwickelt, ebenso wenig auch eine Nachfrucht des Intellekts, eine unbewusst gewordene Aufhäufung einzelner Erfahrungen der Gattung; sondern eine ursprüngliche, den eigentlichen Lebenszusammenhang bewahrende Art des Verhaltens neben der intellektuellen.« 33

Warum das der philosophisch bedeutsamste Aspekt ist, habe ich freilich in Kapitel 2 nur angedeutet. Es wird nun 34 darum gehen, jene vagen Umrisse zu präzisieren und mit Details anzureichern. Zu diesem Zweck soll zunächst der Instinkt, der ja bisher nur im Kontext einer Systematik der Gestalten des Bewusstseins und somit eher äußerlich erörtert wurde, gleichsam aus der Binnenperspektive betrachtet werden: Wie stellt sich die Wirklichkeit für ein instinktgeleitetes Lebewesen dar? Und was lehrt uns das – wenn man so sagen darf – »Weltbild des Instinkts« über die Bedeutung des Wortes »Sympathie«? (1) Dass Instinkt Sympathie ist, zeigt sich zunächst einmal an dessen spezifischem Gegenstandsbereich bzw. – vorsichtiger formuliert – an dessen spezifischem Wirklichkeitsbezug: Der Instinkt richtet sich auf Lebendiges. Dadurch unterscheidet er sich grundsätzlich von der Intelligenz, die sich bekanntlich auf Dinge richtet. Die Intelligenz, bemüht, Dinge zu finden, die sich durch den homo faber bearbeiten lassen, zeichnet sich aus durch eine »natürliche Verständnislosigkeit für das Leben« 35, während der Instinkt ratlos vor leblosen Dingen und Materialien stünde, da er weder neuartige Werkzeuge noch neuartige Handlungsweisen zu erfinden vermag. (2) Nun ist aber der Instinkt spezifisches Merkmal nicht des Menschen, sondern des Tieres. Somit muss man annehmen – und es zeigt sich dann in der Tat auch in sämtlichen von Bergson angeführ-

GSG[13] 66 Die ausformulierte Antwort wird freilich erst in Abschnitt 6.1.4, S. 711, gegeben. 35 L’intelligence est caractérisée par une incompréhension naturelle de la vie. – EC 635 | 166 | 170 33 34

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ten Beispielen –, dass das »Subjekt« der in L’évolution créatrice erörterten Sympathie ein Tier ist. Und da wir es nicht mit einer Abhandlung über domestizierte Tiere zu tun haben, die ihre Sympathie auf den Menschen richten können, muss man weiterhin annehmen, dass das »Objekt« der Sympathie ebenfalls ein Tier, wenn nicht gar eine Pflanze ist. Aus dieser Feststellung ergibt sich der zweite Grund dafür, dass ich hier von zwei Extremformen der Sympathie spreche: Auf der einen Seite steht Sympathie als Selbstverhältnis des Menschen, auf der anderen Seite Sympathie als Verhältnis zwischen zwei (oder mehr) Tieren, und dazwischen hat man allerlei »Mischformen« anzunehmen, wie insbesondere das sympathisierende Verhältnis zwischen zwei (oder mehr) Menschen und das sympathisierende Verhältnis zwischen Mensch(en) und Tier(en). Aus der Perspektive von L’évolution créatrice ergibt sich also: Sympathie ist ein spezifisches Verhältnis, das ausschließlich zwischen Lebewesen, aber doch zwischen beliebigen Lebewesen bestehen kann. (3) Die Sympathie, die den Instinkt ausmacht, ist nicht nur eine subjektive Befindlichkeit. Vielmehr beinhaltet sie Wissen, wie sich an dem diesem Wissen gemäßen Handeln zeigt. Das ist so offensichtlich, dass es immer wieder Anlass zur Verwunderung gibt, weil nicht wenige Instinkte Wissensinhalte einschließen und Leistungen ermöglichen, für die sich auch die modernen Wissenschaften interessieren, die diese sich aber entweder erst in jüngster Zeit oder überhaupt noch nicht angeeignet haben. Man sieht die Leistungsfähigkeit des Instinkts, aber man versteht nicht, »wie das Tier das macht«. (4) Nach Bergsons Auffassung ergibt sich die Schwierigkeit aus dem Glauben, Wissen könne nur in der Weise erworben werden, wie die Wissenschaft es erwirbt: von außen beobachtend, Fakten und Merkmale sammelnd, diese nachträglich zu einem Gesamtbild zusammenfügend. Lebendiges dagegen kann nicht nur, sondern muss sogar von innen her und ganzheitlich erkannt werden. Solches Erkennen ist möglich durch Sympathie. In der Introduction à la métaphysique hatte Bergson davon gesprochen, dass wir uns im Selbstverhältnis »von innen her erfassen«. Die gleiche Formel begegnet uns in L’évolution créatrice wieder: Das eine der beteiligten Lebewesen »erfasst« das andere »von innen her«. 36 Man muss im Falle des Instinkts eine »Sympathie (im etymologischen Sinne des Wortes)« annehmen,

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le saisit-il du dedans – EC 644 | 176 | 180

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die ein Lebewesen »sozusagen von innen her« über ein anderes »unterrichtet«. 37 (5) Da Menschen zutiefst durch die Intelligenz geprägt sind, können wir das »Weltbild des Instinkts« nicht wirklich nachvollziehen. Gleichwohl verfügen wir über Reste instinkthafter Sympathie, die uns einen gewissen Eindruck vermitteln. Bergson erwähnt zunächst »Gefühlsphänomene«; sodann wieder jene »unreflektierten Sympathien und Antipathien«, die wir bereits aus dem Text über die verschiedenen Wirklichkeitsbereiche, in denen es möglicherweise eine Dauer gibt, kennen 38; und wie er dort die Sympathien und Antipathien als »divinatorisch« bezeichnet, so verweist er auch in L’évolution créatrice auf das, »was bei uns divinatorische Sympathie genannt wird«. 39 (6) Ich habe bisher darauf verzichtet, die angeführten Punkte durch Beispiele zu veranschaulichen, weil ich für den letzten hier zu diskutierenden Aspekt ausführlicher auf das berühmteste und meistdiskutierte unter den von Bergson angeführten Beispielen eingehen möchte und weil darin auch alle anderen Punkte wiederzufinden sind: »Man weiß, dass verschiedene Arten von paralysierenden Hymenopteren ihre Eier auf Spinnen, Käfern oder Raupen ablegen, die während einer gewissen Zahl von Tagen unbeweglich weiterleben und den Larven als frische Nahrung dienen, nachdem sie durch die Wespe einer kunstreichen chirurgischen Operation unterzogen worden sind. Dabei richten sich diese verschiedenen Hymenopteren-Arten bei dem Stich, den sie den Nervenzentren ihres Opfers zwecks Lähmung ohne Tötung versetzen, durchaus nach den verschiedenen Arten von Beute, mit denen sie es zu tun haben. Die Stechwespe, die eine Goldkäferlarve angreift, sticht sie nur an einem einzigen Punkte; einem Punkt aber, in dem die motorischen Ganglienzellen – und nur diese – konzentriert sind: der Stich in andere Ganglien könnte Tod und Fäulnis, die es zu vermeiden gilt, herbeiführen. Die gelbflügelige Grabwespe, die sich die Grille als Opfer ersieht, weiß, dass die Grille drei Nervenzentren besitzt, die ihre drei Paar Beine in Bewegung setzen – oder wenigstens: sie geht so vor, als ob sie dies wüsste. […] Die haarige Ammophila trifft ihre Raupe neunmal nacheinander mit dem Stachel in neun Nervenzentren, erschnappt schließlich ihren Kopf und beißt gerade nur so weit in ihn hinein, um Lähmung ohne Tod herbeizuführen.« 40 37 […] une sympathie (au sens étymologique du mot) qui le renseignât du dedans, pour ainsi dire, sur […]. – EC 642 | 175 | 178 38 Vgl. Anm. 12. 39 EC 643 f. | 176 f. | 179 f. 40 On sait que les diverses espèces d’Hyménoptères paralyseurs déposent leurs œufs

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Dass dieses Beispiel Zweifel hervorgerufen und Diskussionen ausgelöst hat, kann nicht überraschen. Zwar illustriert es anschaulich, was mit der Beziehung zwischen zwei Lebewesen, dem vom Instinkt bereitgestellten Wissen sowie dem an die moderne Naturwissenschaft erinnernden Niveau der daraus entspringenden Leistungen gemeint ist. Zugleich aber schlägt es allem ins Gesicht, was man gemeinhin mit dem Wort »Sympathie« verbindet. Schon Max Scheler ist diese sonderbare Form von »Sympathie« aufgefallen, die dazu führt, dass ihr – wie man doch wohl sagen muss – Opfer zunächst gelähmt und dann verspeist wird: »Es ist klar, dass hier ›Sympathie‹ etwas ganz anderes bedeutet nicht nur als ›Mitgefühl‹ – handelt es sich doch hier um eine mehr feindliche und das fremde Wesen für eigene Lebensziele der Art ausnützende und gar nicht ›fremddienliche‹ Handlung –, sondern auch als Nachfühlen und Verstehen.« 41

Wir haben es hier nicht, wie man argwöhnen könnte, mit einem schlecht gewählten Beispiel zu tun, sondern mit einer für Bergsons Darstellungsweise charakteristischen Figur, die ich als dialektischhermeneutisches Bild bezeichnen möchte. Ihre Struktur und ihr Sinn werden am leichtesten verständlich, wenn man von dem in Kapitel 1 bereits erwähnten Gedanken Bergsons ausgeht, dass sich eine Intuition sprachlich weder durch einen einzigen Begriff noch durch ein einziges Bild, wohl aber durch eine aus mehreren, konkurrierenden Bildern bestehende Konstellation darstellen lässt. 42 Man kann dann dans des Araignées, des Scarabées, des Chenilles qui continueront à vivre immobiles pendant un certain nombre de jours, et qui serviront ainsi de nourriture fraîche aux larves, ayant d’abord été soumis par la Guêpe à une savante opération chirurgicale. Dans la piqûre qu’elles donnent aux centres nerveux de leur victime pour l’immobiliser sans la tuer, ces diverses espèces d’Hyménoptères se règlent sur les diverses espèces de proie auxquelles elles ont respectivement affaire. La Scolie, qui s’attaque à une larve de Cétoine, ne la pique qu’en un point, mais en ce point se trouvent concentrés les ganglions moteurs, et ces ganglions-là seulement, la piqûre de tels autres ganglions pourrait amener la mort et la pourriture, qu’il s’agit d’éviter. Le Sphex à ailes jaunes, qui a choisi pour victime le Grillon, sait que le Grillon a trois centres nerveux qui animent ses trois paires de pattes, ou du moins il fait comme s’il le savait. Il pique l’insecte d’abord sous le cou, puis en arrière du prothorax, enfin vers la naissance de l’abdomen. L’Ammophile hérissée donne neuf coup d’aiguillon successifs à neuf centres nerveux de sa Chenille, et enfin lui happe la tête et la mâchonne, juste assez pour déterminer la paralysie sans la mort. – EC 641 | 173 f. | 176 f. 41 Scheler[1973] 40 42 Vgl. Abschnitt 1.3.2, S. 117, insbesondere Anm. 113.

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sagen, dass ein dialektisch-hermeneutisches Bild eines ist, das zwei konkurrierende Bilder in sich vereinigt. In der Regel bewerkstelligt Bergson das, indem er in ein an sich völlig »harmloses« – d. h. vermeintlich mühelos zu verstehendes – Bild als Fremdkörper einen »unpassenden« Begriff einimpft. 43 Dadurch entsteht ein Widerspruch zwischen dem vermeinten Sinn des Bildes und dem gängigen Sinn des Begriffs, und wenn der Leser gewillt ist, sich auf die dafür erforderliche Anstrengung einzulassen, bringt dieser Widerspruch eine zwischen Bild und Begriff kreisende, um ein mutual adjustment (Brougham) bemühte Bewegung in Gang. Im vorliegenden Fall bildet das Beispiel der Raupen oder Käfer lähmenden Hautflügler die Basis. Was Bergson in diesem Zusammenhang über die Leistungsfähigkeit des Instinkts zu berichten weiß, ist gewiss eindrucksvoll, aber durchaus nicht überraschend, wenn man bedenkt, dass Instinkte das Überleben derjenigen Tiere sicherstellen sollen, die über sie verfügen. Der Instinkt gleicht hierin völlig der Intelligenz des homo faber. Wie diese, so muss auch jener pragmatistisch aus der Perspektive des Lebens und Überlebens betrachtet werden: primum vivere. 44 Freilich geht ein haarfeiner Riss durch dieses Beispiel, weil der Leser vermutlich einerseits das »technische Können« des Insekts bewundert, andererseits aber einen Hauch von Mitleid für das gequälte Opfer empfindet. Wenn Bergson nun das Wort »Sympathie« ins Spiel bringt, so meint man für einen Augenblick, dieses Wort an das eigene Mitleidsgefühl anknüpfen zu können, sieht dann aber die anfängliche Sinnerwartung enttäuscht, weil die Sympathie nicht mit der gestochenen Raupe, sondern mit dem stechenden Insekt in Verbindung gebracht wird. Eben daraus entspringt die Irritation: Was hat die Sympathie auf der Seite des sein Opfer so mitleidlos quälenden Hautflüglers zu suchen? Zwei Beispiele: Als »Zerstreutheit« (distraction) bezeichnet Bergson zunächst jene fehlende Aufmerksamkeit auf die Erfordernisse des Lebens, die den Lächerlichen lächerlich macht, um später festzustellen, dass bedeutende Künstler – also schöpferische Menschen, die am wenigsten in Gefahr sind, als lächerlich zu erscheinen – ihre Genialität einer »Zerstreutheit der Natur« verdanken. – [R 391,461 | 7,118 | 10,104] – Nachdem er angekündigt hat, das Lachen wie »etwas Lebendiges« behandeln zu wollen, das aus einfachsten Anfängen zu einer komplexen Gestalt heranwächst, stellt er anschließend die Frage, »durch welchen Druck und Stoß« man sich die Ausdehnung des Lachens auf immer mehr Gegenstände zu erklären habe. – [R 387,417 | 1,49 | 5,46] – Es ist vielleicht kein Zufall, dass diese Figur gerade in Le rire besonders häufig anzutreffen ist, da sie in mehrfacher Hinsicht der romantischen Ironie gleicht. 44 Vgl. Abschnitt 2.3.1.3, S. 256. 43

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Versucht man nun, das Bild des stechenden Insekts und den Begriff der Sympathie zu einem Ausgleich zu bringen, dann wird man Scheler zunächst in negativer Hinsicht Recht geben müssen: Zu einem Sinn gelangt man nicht, wenn man unterstellt, dass »Sympathie« hier so etwas wie »Mitgefühl« oder gar »Mitleid« bedeutet. Man wird ihm aber auch in positiver Hinsicht Recht geben können: Das, worauf Bergson hier abzielt, ist eine »erkenntnistheoretische Funktion der Sympathie« 45. Der Begriff soll erklären, wieso das Insekt »weiß«, wie oft und wo es zu stechen hat. Dieses Wissen ist – wir haben es soeben erörtert – kein gegenständlich-repräsentiertes Wissen im Sinne der Wissenschaft. Es ist freilich auch – wie Scheler zutreffend anmerkt – »etwas ganz anderes als Verstehen«. Es ist ein Wissen in dem Sinne, in dem Menschen »wissen«, wie man atmet. Nur: Was eigentlich bedeutet dann das Wort »Sympathie«? 5.2.2.2 Sympathie und Partizipation Hätte Bergson lediglich das Wort »Sympathie« in das Beispiel der Raupen lähmenden Insekten eingeschleust, so dürften wir sagen, dass ihm eine hübsche kleine Provokation gelungen ist – aber was sonst noch? Insbesondere wäre zu fragen, ob dieses Beispiel irgendwelche Einsichten in die »erkenntnistheoretische Funktion der Sympathie« vermittelt, die über das hinausgehen, was schon die Hinweise auf die unreflektierten Sympathien/Antipathien und die divinatorische Sympathie »bei uns« vermitteln. Aber Bergson hat sich nicht mit der Darstellung dieses Beispiels (und anderer Beispiele) begnügt, sondern gefragt, wie die Leistung der »divinatorischen Sympathie« näherhin zu bestimmen und zu erklären ist. Ein erster wichtiger Punkt ist bereits an den Beispielen ablesbar. Vergleicht man diese miteinander, so fällt zunächst auf, dass Bergson in keinem einzigen Fall ein rasch sich vollziehendes Ereignis beschreibt, sondern immer über mehrere Tage, Wochen oder gar Monate sich erstreckende Verläufe. Diese werden nicht einfach durch eine initiale Aktion in Gang gebracht und durch ein abschließendes Ergebnis beendet, sondern durch mehrere Aktionen gegliedert. Die Aktionen gehen nicht alle vom gleichen Akteur aus, sondern verteilen sich auf mehrere Akteure. Da viele Beispiele – ebenso wie das der Larven durch Stiche lähmenden Insekten – aus dem Bereich der Nahrungs45

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vorsorge von Eltern für ihre Nachkommen stammen, treten in der Regel mindestens die Eltern, die Nachkommen sowie die – keineswegs immer gelähmten und damit zur Handlungsunfähigkeit verdammten – Opfer auf. Schließlich sind Zeitpunkt und Reihenfolge der Aktionen durchaus nicht beliebig. Zwischen ihnen bestehen Abhängigkeiten, so dass sich der Gesamtverlauf aus der Sicht eines jeden der beteiligten Akteure als ein Wechsel von Warten und Handeln darstellt. »Wenn die Pferdebremse ihre Eier auf Bein oder Schulter des Pferdes ablegt, so handelt sie, als ob sie wüsste, dass ihre Larve sich im Pferdemagen entwickeln soll, und dass das Pferd sie, noch während ihres Entstehens, durch Lecken in seinen Verdauungskanal befördern werde. […] Was aber müsste nicht erst jener kleine Scarabäus, der Sitaris, alles wissen, dessen Geschichte so oft erzählt worden ist? Dieser Käfer legt seine Eier am Eingang unterirdischer Gänge ab, die eine Bienenart, die Anthophore gräbt. Nach langer Wartezeit nun belauert die Sitarislarve die männliche Anthophore beim Hervorkriechen aus der Höhle, klammert sich an sie fest und bleibt bis zum ›Hochzeitsflug‹ an ihr hängen; dann ergreift sie die Gelegenheit, vom Männchen auf das Weibchen überzuwandern, wartet ruhig ab, dass dieses seine Eier lege, springt dann auf das Ei, das ihr später im Honig als Stütze dienen soll, verzehrt das Eiinnere in wenigen Tagen und erfährt, auf seiner Schale ruhend, die erste Verwandlung. So ausgerüstet, um auf dem Honig schwimmen zu können, verspeist sie nun diesen Nahrungsvorrat, bis sie zur Nymphe und endlich zum fertigen Insekt wird.« 46

Fasst man den gemeinsamen Kern der von Bergson angeführten Beispiele in dieser Weise, dann ist der nächste Schritt seiner Denkbewegung leicht zu verstehen. Im Grunde wird in diesem Schritt nur etwas explizit ausgesprochen, was im Muster der miteinander verschränkten Handlungssequenzen bereits implizit enthalten ist. Auf die ihre Quand I’Œstre du Cheval dépose ses œufs sur les jambes ou sur les épaules de l’animal, il agit comme s’il savait que sa larve doit se développer dans l’estomac du cheval, et que le cheval, en se léchant, transportera la larve naissante dans son tube digestif. […] Mais que ne devrait pas savoir le petit Scarabée dont on a si souvent raconté l’histoire, le Sitaris? Ce Coléoptère dépose ses œufs à l’entrée des galeries souterraines que creuse une espèce d’Abeille, l’Anthophore. La larve du Sitaris, après une longue attente, guette l’Anthophore mâle au sortir de la galerie, se cramponne à elle, y reste attachée jusqu’au « vol nuptial » ; là, elle saisit l’occasion de passer du mâle à la femelle, et attend tranquillement que celle-ci ponde ses œufs. Elle saute alors sur l’œuf, qui va lui servir de support dans le miel, dévore l’œuf en quelques jours, et, installée sur la coquille, subit sa première métamorphose. Organisée maintenant pour flotter sur le miel, elle consomme cette provision de nourriture et devient nymphe, puis insecte parfait. – EC 618 f. | 146 f. | 150 f.

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Opfer lähmenden Insekten sowie den Unterschied zwischen ihrem Wissen und demjenigen der Wissenschaft zurückkommend, schreibt Bergson: »Ganz anders dagegen, wenn man zwischen der Grabwespe und ihrem Opfer eine Sympathie (im etymologischen Sinn des Wortes) annimmt; eine Sympathie, die sie gewissermaßen von innen her über die Verletzbarkeit der Raupe unterrichtet. Der äußeren Wahrnehmung braucht dieses Gefühl der Verletzbarkeit nichts zu verdanken, es ergäbe sich einfach aus dem Zusammentreffen von Wespe und Raupe – beide nicht länger mehr als zwei Organismen, sondern als zwei Aktivitäten angesehen. Und dieses Gefühl würde nur der konkrete Ausdruck für die Beziehung zwischen beiden sein.« 47

Bergson geht davon aus, dass seine Schilderung des Vorgangs beim Leser das Bild eines Zusammentreffens mehrerer tierischer Individuen hervorgerufen hat. Aber mit diesem Bild ist er nicht zufrieden. Deshalb versucht er, es in Bewegung zu bringen, indem er die Vorstellung vom Individuum als körperlich-psychischer Einheit (Organismus) aufbricht. Stellen wir uns den tierischen Organismus als Einheit von Körper (Organe) und »Geist« (Interpretations- und Handlungsmuster) vor, so läuft die von Bergson angeregte Akzentverschiebung vom Organismus hin zur Aktivität darauf hinaus, den Körper auszublenden und die Handlungen bzw. Handlungsmuster für sich zu betrachten. Eben diese Ausklammerung des Körpers ist in der Auffassung, das alle Beispiele für instinktives Verhalten prägende gemeinsame Muster sei die Verschränkung von Handlungssequenzen, bereits implizit enthalten, und sie wird hier von Bergson explizit formuliert. Nun ist ein derartiges Aufbrechen der organischen Einheit eines konkreten Individuums eine für Lebensphilosophen eher untypische Operation. Wir werden nach allem, was wir bisher über den Körper als Vermittler zwischen innerer und äußerer Wirklichkeit ermittelt haben, auch nicht erwarten, dass Bergson ernsthaft dessen Bedeutung zu leugnen beabsichtigt. Eher werden wir erwarten, dass die AusMais il n’en serait plus de même si l’on supposait entre le Sphex et sa victime une sympathie (au sens étymologique du mot) qui le renseignât du dedans, pour ainsi dire, sur la vulnérabilité de la Chenille. Ce sentiment de vulnérabilité pourrait ne rien devoir à la perception extérieure, et résulter de la seule mise en présence du Sphex et de la Chenille, considérés non plus comme deux organismes, mais comme deux activités. Il exprimerait sous une forme concrète le rapport de l’un à l’autre. – EC 642 f. | 175 | 178 – Hervorhebungen von mir [C. K.]. 47

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klammerung eine methodische Einklammerung ist. Aber zu welchem Zweck? In der bereits zitierten Textpassage über die Wirklichkeitsbereiche, in denen die Dauer anzutreffen sein könnte, schreibt Bergson: »Zwischen unserem Bewusstsein und denjenigen der Anderen ist die Trennung weniger scharf als zwischen unserem Körper und den anderen Körpern, denn der Raum allein bewirkt die scharfen Abgrenzungen. Die unreflektierte Sympathie und Antipathie, die oft so divinatorisch sind, bezeugen eine mögliche gegenseitige Durchdringung der menschlichen Bewusstseinssphären. Es gäbe also Erscheinungen psychologischer Endosmose.« 48

Interpretatorische Vorsicht ist geboten, denn in diesen Sätzen geht es um das Verstehen von Menschen durch Menschen, während wir uns hier mit dem tierischen Instinkt befassen. Dennoch scheint mir die Tendenz übertragbar zu sein: Bergson begreift den Körper als principium individuationis, und das heißt hier: als Ursprung der Vereinzelung von Lebewesen. Er ist allerdings der Ansicht, dass ein Bild, das lediglich vereinzelte Individuen zeigt, weder die menschliche noch die tierische Wirklichkeit angemessen darstellt. Er klammert die individuellen Körper ein und verschiebt den Akzent auf die Vollzüge, weil er erwartet, an diesen Vollzügen eine überindividuelle, Gemeinsamkeit stiftende Dimension aufweisen zu können. Anders formuliert: Er zerstört (methodisch) die individuellen Organismen, um überindividuelle Organismen sichtbar machen zu können. Genau dies nämlich geschieht nun. Schon in dem Text, in dem Bergson die zwischen Insekt und Raupe bestehende Sympathie diskutiert, führt die Denkbewegung, nachdem sie sich von den Organismen ab- und den Vollzügen zugewandt hat, im nächsten Schritt auf die »Beziehung« (rapport) zwischen den beteiligten Individuen. Der Gedanke, die Beziehung als solche zum Subjekt der Handlungssequenz und somit die aus stechendem Insekt und gestochener Raupe bestehende Konstellation zu einem überindividuellen Organismus zu machen, schwebt im Raum, bleibt aber hier unausgesprochen. Anders in einer Textpassage, in der Bergson das friedliche Zusammenleben der Bienen beschreibt: Entre notre conscience et les autres consciences la séparation est moins tranchée qu’entre notre corps et les autres corps, car c’est l’espace qui fait les divisions nettes. La sympathie et l’antipathie irréfléchies, qui sont si souvent divinatrices, témoignent d’une interpénétration possible des consciences humaines. Il y aurait donc des phénomènes d’endosmose psychologique. – PM 1273 | 28 | 44

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»Wenn man sieht, wie die Bienen eines Stockes ein derart organisches System bilden, dass keines der Individuen über eine bestimmte Zeit hinaus allein zu leben vermag, selbst dann nicht, wenn es mit Nahrung und Wohnung versehen wird – wie da nicht erkennen, dass der Stock, und nicht nur bildlich, sondern tatsächlich, ein einziger Organismus ist; jede Biene aber eine, allen übrigen mit unsichtbarem Bande verknüpfte Zelle?« 49

Man sieht, wie wenig es darauf abgesehen ist, die Körper der Individuen aus der Betrachtung herauszuhalten. Die Bienen können für den Stock nur nützlich sein, indem sie körperliche Arbeit verrichten. Noch deutlicher wird das, wenn Bergson – gleichsam auf der Stufenleiter der Lebewesen einige Stufen hinabsteigend – schildert, »wie im lebenden Körper tausende von Zellen zu gemeinsamem Ziele zusammenarbeiten, wie sie sich in ihre Aufgabe teilen, wie eine jede für sich und zugleich für alle übrigen lebt« 50 oder wie zahlreiche Muskeln »sich sympathetisch zusammenziehen« 51, um das Gesamtergebnis einer Körperbewegung zu erzeugen. Es geht vielmehr darum, dass das Verhalten, ja sogar die körperliche Gestalt 52 der einzelnen Biene oder der einzelnen Zelle nicht verständlich wird, wenn man die Individuen für sich allein betrachtet. Was also hier in Wahrheit zerstört werden soll, ist die Auffassung, der gemäß vereinzelte Individuen die anfängliche und eigentliche Realität darstellen, zu der Sympathie und Kooperation nachträglich hinzutreten (oder auch nicht). Und was sichtbar gemacht werden soll, ist die Gemeinschaft als eine Realität sui generis, ja als die Realität schlechthin, von der aus Individualität überhaupt erst verständlich wird. Bergson macht das deutlich, indem er das Beispiel der Körperzellen anführt, die getrennt vom Körper gar […] quand on voit les Abeilles d’une ruche former un système si étroitement organisé qu’aucun des individus ne peut vivre isolé au delà d’un certain temps, même si on lui fournit le logement et la nourriture, comment ne pas reconnaître que la ruche est réellement, et non pas métaphoriquement, un organisme unique, dont chaque Abeille est une cellule unie aux autres par d’invisibles liens? L’instinct qui anime l’Abeille se confond donc avec la force dont la cellule est animée, ou ne fait que la prolonger. Dans des cas extrêmes comme celui-ci, il coïncide avec le travail d’organisation. – EC 636 | 167 | 171 – Hervorhebung von mir [C. K.]. 50 Quand on voit, dans un corps vivant, des milliers de cellules travailler ensemble à un but commun, se partager la tâche, vivre chacune pour soi en même temps que pour les autres […]. – EC 636 | 167 | 171 51 le nombre des muscles qui se contractent sympathiquement – DI 19 | 18 | 25 52 Bergson verweist mehrfach auf den Polymorphismus der Insekten, d. h. die verschiedenen körperlichen Gestalten der Individuen in Abhängigkeit von ihrer Funktion innerhalb der Gemeinschaft. – EC 614,628 | 141,158 | 145,162 49

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nicht lebensfähig sind, und indem er feststellt, dass auch einzelne Bienen außerhalb des Stocks nicht lange zu überleben vermögen. Gemeinschaft ist kein nachträglicher Zusammenschluss von Monaden, sondern vorgängige Einheit. 53 Das hat Konsequenzen für den Sympathiebegriff. Das Wissen des stechenden Insekts, schreibt Bergson, »braucht der äußeren Wahrnehmung nichts zu verdanken«. Es ist nicht dasjenige Wissen, das ein unbeteiligter Beobachter von außen erwirbt. Aber auch die Sympathie, die Bergson als Kern der instinktiven Leistung ansieht, darf nicht als innere Regung eines einzelnen, vereinzelten Individuums verstanden werden, die sich zufällig einstellt und sich zufällig auf diesen Gegenstand richtet. Sympathie »drückt in einer konkreten Form die Beziehung aus«, die zwischen den beteiligten Lebewesen besteht. In umgekehrter und richtiger Reihenfolge: Zuerst besteht die Beziehung, und dann drückt sie sich als Sympathie aus. Daraus ergibt sich, dass jede Beschreibung von Sympathie zwei Dimensionen berücksichtigen muss: • Sympathie basiert auf einer objektiven Grundlage – das Wort »objektiv« hier in dem Sinne genommen, in dem man von »objektivem Geist« oder »objektiver Hermeneutik« spricht. Körper existieren zwar ohne Zellen, Bienenstöcke existieren ohne Bienen so wenig wie Gesellschaften ohne Menschen. Zugleich aber sind sie doch mehr als die Summe der individuellen Handlungen. Sie sind überindividuelle Ganzheiten, die sich als Realitäten sui generis betrachten und beschreiben lassen. Das Verhältnis des einzelnen Individuums zu dieser umgreifenden Totalität ist dann als In-Sein 54 oder Partizipation zu charakterisieren. Es ist dies die Dimension des παθειν. • Sympathie drückt sich subjektiv aus als Erfahrung eines Miteinander. Das Wort »subjektiv« ist hier nicht im Sinne von »relativ« oder gar »imaginär« zu verstehen. Es bezeichnet vielmehr den Umstand, dass der objektiv gegebene GesamtzusammenDass das eine gewagte Aussage ist, liegt auf der Hand, wenn man sich daran erinnert, welche Konsequenzen solche Auffassungen über »Einheit von unten« und »Einheit von oben« für den gesellschaftlich-politischen Bereich haben können. Man muss freilich auch berücksichtigen, dass wir hier Bergsons Analyse der Verhältnisse in der nicht-menschlichen Natur folgen. Ob und ggf. wie diese Analyse nach seiner Ansicht für den Bereich des menschlichen Zusammenlebens zu modifizieren ist, soll im Abschnitt 5.3, S. 594 untersucht werden. 54 Jorland[2010] 11 53

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hang sich nicht notwendigerweise vollständig in der individuellen Erfahrung »ausdrücken«, d. h. nicht vollständig gegeben sein muss. Zwischen dem Tatbestand als solchem und dem, was davon in der individuellen Erfahrung thematisch wird, kann eine mehr oder weniger große Differenz bestehen. Insbesondere kann sich das Interesse ausschließlich auf das individuelle Gegenüber richten, während die umgreifende Totalität unthematisch bleibt. Sympathie erscheint dann ausschließlich als Mit-Sein oder Einfühlung. In Wahrheit aber handelt es sich um die zweite Dimension der Sympathie, die Dimension des σύν. Nun bleibt diese Strukturbeschreibung der Sympathie allerdings zu formal, wenn man nicht noch eine dritte Dimension berücksichtigt – eine Dimension, die uns seit langem vertraut ist, die hier aber dennoch eigens angeführt werden muss: • Sympathie erfordert ein vitales Interesse. Sie tritt nicht auf bei neutralen, interesselosen Beobachtern, sondern nur bei strebenden und handelnden Lebewesen. Sympathie ist das spezielle Verhältnis eines aktiven Lebewesens L1 zu einem aktiven Lebewesen L2, bei dem L2 zwar für die Verwirklichung eines Zieles von L1 bedeutsam ist, dabei aber nicht als Ding – d. h. weder als Material noch als Werkzeug – in Betracht kommt, sondern als mit-lebendes Wesen, d. h. die Handlung während des gesamten Verlaufs oder zumindest während einer Etappe begleitendes Lebewesen. Aus einem derartigen Konzept folgt offenkundig weder, dass Sympathie bei L1 zu uneigennützigem Verhalten führt (sie tut es nicht), noch, dass die begleitende Aktivität von L2 den Bestrebungen von L1 immer förderlich sein muss (L2 kann auch Gegner sein, wird in jedem Fall eigene Interessen verfolgen). Es folgt daraus lediglich, dass L1 gut daran tut, die Begleitung durch L2 zur Kenntnis zu nehmen, sich darauf einzustellen und die eigene Handlungsweise den Besonderheiten und Interessen von L2 anzupassen. Dieser letztere Gesichtspunkt kommt bei Bergson deutlich zum Ausdruck, wenn er das allgemeine Handlungsmuster von der Ausführung im konkreten Fall unterscheidet. Das Handlungsmuster ist Ausdruck eines generellen vitalen Interesses, Lösungsschema für ein allgemeines Lebensproblem, während die Leistung der Sympathie gerade darin besteht, dasjenige Wissen bereitzustellen, das es dem Lebewesen L1 ermöglicht, das allgemeine Schema der konkreten Situation anzupassen: 587 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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»Wir stehen hier einem gewissen musikalischen Thema gegenüber, das sich zuerst selbst als Ganzes in eine gewisse Anzahl von Tonlagen transponiert hat, und worüber dann weiter, und ebenfalls als Ganzes, mannigfaltige Variationen ausgeführt worden sind; einfach die einen, unendlich kunstvoll die anderen. Das ursprüngliche Thema selbst aber ist überall und nirgends. […] Das gemeinsame Thema ist ›Notwendigkeit von Lähmung ohne Tod‹; die Variationen sind der Struktur des Gegenstandes, mit dem man arbeitet, unterworfen.« 55

Aber wenn man die Konstellation so betrachtet – trifft es dann noch zu, dass wir es, wie anfänglich behauptet, mit mehreren gleichberechtigten Akteuren zu tun haben? Rücken nicht das Handlungsmuster des lähmenden Stechens und das Eigeninteresse des stechenden Insekts in den Vordergrund? Es könnte so scheinen. Nur: Welches wäre denn das Eigeninteresse des Insekts? Das Insekt sticht ja nicht, um sein Opfer zu töten und es anschließend zu verspeisen. Dies wäre eine Handlung im eigenen Interesse und zudem eine rasch abgeschlossene Handlung. Aber das Insekt sticht im Interesse seines Nachwuchses. Nur deshalb muss sich der Gesamtvorgang über einen so langen Zeitraum erstrecken, nur deshalb darf die Raupe nicht sterben, und nur deshalb sind das sympathetische Wissen über die Anatomie des Opfers sowie die Präzision beim Stechen überhaupt erforderlich. Völlig zu Recht schreibt also Scheler, dass die Handlungsweise des stechenden Insekts nicht »fremddienlich« sei, sondern das Opfer für eigene Interessen, nur eben: »eigene Interessen der Art« 56 ausnutze. Das aber bedeutet, dass wir das Insekt (als Individuum) in einen weiteren übergreifenden Zusammenhang einordnen müssen, nämlich in den der durch die Abfolge von Generationen realisierten Erhaltung der Art. Die Operation, die darin besteht, vereinzelte Individuen auf eine überindividuelle Totalität hin zu überschreiten, fördert also ganz verschiedene Totalitäten zutage. Wir sind zunächst auf Konstellationen gestoßen, in denen verschiedenartige Lebewesen (Insekt, Raupe) oder Nous nous trouvons bien plutôt devant un certain thème musical qui se serait d’abord transposé lui-même, tout entier, dans un certain nombre de tons, et sur lequel, tout entier aussi, se seraient exécutées ensuite des variations diverses, les unes très simples, les autres infiniment savantes. Quant au thème originel, il est partout et il n’est nulle part. […] Le thème général est « la nécessité de paralyser sans tuer » : les variations sont subordonnées à la structure du sujet sur lequel on opère. – EC 641 | 172–174 | 176–177 56 Scheler[1973] 40 – Hervorhebung von mir [C. K.]. 55

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zumindest verschiedene Phänotypen (Polymorphismus der Insekten) zu einer übergeordneten Struktur oder einem übergeordneten Organismus zusammengeschlossen sind, und zwar entweder durch Kooperation oder durch Antagonismus. Wir haben festgestellt, dass es übergeordnete Lebensprobleme gibt, die von verschiedenen Arten – möglicherweise sogar von der gleichen Art – modifiziert werden müssen, um sie dem jeweiligen Gegenüber anzupassen. Und wir sind schließlich auf übergeordnete zeitliche Zusammenhänge aufmerksam geworden, wie sie sich in der Fürsorge der Eltern für ihre Nachkommen dokumentieren. Auf alle diese umgreifenden Ganzheiten lässt sich nun aber nach Bergsons Auffassung die gleiche, jedoch auf eine höhere Stufe transponierte Operation noch einmal anwenden. Die von uns bislang aufgedeckten Ganzheiten – wenn man so will: Ganzheiten ersten Grades – verweisen ihrerseits auf eine Ganzheit zweiten Grades, so dass sie nicht als miteinander konkurrierend oder gar einander widersprechend, sondern als einander ergänzend zu bewerten sind. Die Gesichtspunkte, auf die es dabei ankommt, werden am schnellsten deutlich, wenn man vom dritten Typus übergeordneter Ganzheiten ausgeht. Der Zusammenhang von Erhaltung der Art, Generationenfolge und Fürsorge für die Nachkommen wird im Beispiel der durch Stiche lähmenden Insekten nur implizit vorausgesetzt. An anderer Stelle allerdings geht Bergson explizit auf die Fürsorge der Eltern für ihre (schon geborenen) Nachkommen ein: »[Die Lebewesen] sind also verhältnismäßig starr, ja ahmen das Unbewegliche so vortrefflich nach, dass wir sie eher als Dinge denn als Fortschritte behandeln; ganz vergessend, dass diese ihre beharrende Form selbst nichts anderes als die Nachzeichnung einer Bewegung ist. Zuweilen indes und in flüchtiger Erscheinung verleiblicht sich vor unserem Auge der unsichtbare Odem, der die Wesen trägt. Solch plötzliche Erleuchtungen haben wir angesichts mancher Formen der Mutterliebe, die so auffallend, auch bei den meisten Tieren so rührend und bis hinein in die Fürsorge der Pflanze für ihr Samenkorn wahrnehmbar ist. Diese Liebe, in der viele das große Mysterium des Lebens haben sehen wollen, erschließt uns vielleicht dessen Geheimnis. Sie zeigt uns jede Generation jeder nachfolgenden zugeneigt. Sie lässt uns ahnen, dass jedes Lebewesen vor allem eine Durchgangsstation ist und dass das Wesentliche des Lebens in der Bewegung liegt, die es weiterträgt.« 57 [Les vivants] sont donc relativement stables, et contrefont même si bien l’immobilité que nous les traitons comme des choses plutôt que comme des progrès, oubliant que la permanence même de leur forme n’est que le dessin d’un mouvement. Parfois

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Dass die Individuen nur »Durchgangsstationen« sind, verschiebt zunächst einmal den Akzent von diesen auf die Art als solche, d. h. auf die Erhaltung der Art im Verlauf der Zeit. Da aber die Art auch über längere Zeiträume hinweg vergleichsweise stabil bleibt, könnte der Eindruck entstehen, als komme es bei der Arterhaltung durch Generationenfolge wesentlich auf die Konstanz der Art an. Darum geht es allerdings nach Bergsons Auffassung überhaupt nicht. Wie zuvor schon die an ihre Körper gebundenen Individuen zu Dingen im Raum zu werden drohten, so drohen nun die Arten zu unveränderlichen Dingen zu werden. Wie zuvor diese Konsequenz dadurch vermieden werden konnte, dass die Individuen als Aktivitäten gedacht und in einem übergreifenden Ganzen integriert wurden, so werden nun auch die Arten als Aktivitäten gedeutet und in einem übergreifenden Ganzen vereinigt. Und wie schließlich die Individuen dadurch – zumindest unter diesem Gesichtspunkt – zu bloßen »Durchgangsstationen« für den Lebensstrom der Art wurden, so werden nun die Arten zu Durchgangsstationen für »das große Geheimnis des Lebens« überhaupt. Daraus ergibt sich: • Der überindividuelle Vorgang der Erhaltung der Art muss seinerseits im Kontext des artübergreifenden Lebens, d. h. der Natur gesehen werden. • Auch diese Natur darf aber nicht statisch, sie muss vielmehr als Aktivität interpretiert werden. Sie ist nicht natura naturata, sondern natura naturans. Sie ist nicht ein System von Gattungen und Arten, sondern die Evolution des Lebendigen. Diese Sicht ist nun aber lediglich die Umkehrung einer Perspektive, die wir uns bereits in Kapitel 2 angeeignet hatten. 58 Wir hatten dort gesehen, dass Bergson der traditionellen Auffassung, Unbeweglichkeit der Pflanze, Instinkt des Tieres und Intelligenz des Menschen seien Stationen eines einzigen, linearen Entwicklungsverlaufs, das Modell einer Evolution durch Teilung entgegenstellt. Und wir hatten cependant se matérialise à nos yeux, dans une fugitive apparition, le souffle invisible qui les porte. Nous avons cette illumination soudaine devant certaines formes de l’amour maternel, si frappant, si touchant aussi chez la plupart des animaux, observable jusque dans la sollicitude de la plante pour sa graine. Cet amour, où quelquesuns ont vu le grand mystère de la vie, nous en livrerait peut-être le secret. Il nous montre chaque génération penchée sur celle qui la suivra. Il nous laisse entrevoir que l’être vivant est surtout un lieu de passage, et que l’essentiel de la vie tient dans le mouvement qui la transmet. – EC 603 f. | 129 | 133 58 Vgl. Abschnitt 2.2.2.3, S. 210.

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dies genauer betrachtet am Beispiel jener Spaltung, die dazu führte, dass die Nachfolger der anfänglich noch undifferenzierten Lebewesen teils den Entwicklungspfad der Pflanze, teils denjenigen des Tieres beschritten. Bergson hatte das als Arbeitsteilung und Spezialisierung gedeutet: Die Pflanzen sind Spezialisten für das Sammeln und Speichern, die Tiere für das zu Bewegung werdende Verausgaben von Energie. Wie nun aber nicht sehen, dass die Beziehung zwischen Insekt und Raupe von gleicher Art ist wie diejenige zwischen (pflanzenfressenden) Tieren und Pflanzen? Man muss dem Tier nicht erklären, wozu eine Pflanze zu gebrauchen ist, weil Tiere und Pflanzen aus einer ursprünglichen Einheit hervorgegangen sind und das Tier sich – sei es auch noch so dunkel; sei es auch nur gespielt, nicht vorgestellt – an diese Ganzheit »erinnert«. Ebenso muss man auch dem Insekt nicht erklären, an welchen Stellen eine Raupe verletzbar ist, weil beide aus der Evolution und Koevolution des Lebendigen hervorgegangen sind. Mit anderen Worten: Auch der erste Typus übergeordneter Ganzheiten verweist auf die natura naturans als Totalität zweiten Grades. 59 Auf diese verweist übrigens sogar das instinktgesteuerte Handeln, das sich an einzelnen Individuen beobachten lässt. Das Leben eines Individuums weist Phasen (insbesondere die vorgeburtliche) und Aspekte (Stoffwechsel, nachgeburtliches Wachstum) auf, in denen offenkundig eine anonyme, unpersönliche und vom Bewusstsein völlig unabhängige Kraft am Werke ist. Andererseits lassen sich Vorgänge beobachten, die eindeutig eine persönliche Initiative erfordern. Nicht wenige Vollzüge insbesondere der Tiere (etwa solche, die mit Metamorphosen oder der Geburt im Zusammenhang stehen) spielen sich nun aber in einem Zwischenbereich ab, in dem man als Beobachter kaum zu entscheiden vermag, ob man es mit vegetativ gesteuerten

Der Zusammenhang, auf den ich hier abziele, kommt sehr deutlich zum Ausdruck, wenn Bergson in Les deux sources de la morale et de la religion die Formel »zwei Aktivitäten«, die er benutzt hatte, um die Konstellation Insekt-Raupe zu charakterisieren, auf Instinkt und Intelligenz als zwei von der Evolution durch Teilung erzeugte Gestalten des Bewusstseins anwendet: On peut conjecturer qu’ils commencèrent par être impliqués l’un dans l’autre, et que, si l’on remontait assez haut dans le passé, on trouverait des instincts plus rapprochés de l’intelligence que ceux de nos insectes, une intelligence plus voisine de l’instinct que celle de nos vertébrés. Les deux activités, qui se compénétraient d’abord, ont dû se dissocier pour grandir; mais quelque chose de l’une est demeuré adhérent à l’autre. – DS 1075 | 122 f. | 92 f. 59

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Vorgängen oder individuellen Aktivitäten zu tun hat. Schließlich setzen selbst diejenigen Instinkte, die eine Aktivität des Individuums steuern, die Existenz ganz bestimmter Körperorgane voraus, deren Ausbildung aber unabhängig von persönlicher Initiative erfolgt: »Oft schon hat man darauf verwiesen, dass die meisten Instinkte eine bloße Fortsetzung, oder besser Vollendung der organschaffenden Energie selber seien. Wo beginnt die Tätigkeit des Instinkts? Wo endet die der Natur? Man könnte es nicht sagen.« 60

Sogar der zweite Typus überindividueller Totalitäten verweist auf die Evolution des Lebendigen. Nehmen wir an, irgendeine Art von Lebewesen (A) sei im Laufe der Evolution dazu gelangt, eines ihrer grundlegenden Lebensprobleme durch Einbeziehung einer anderen Art (B) zu lösen. Da nun die Evolution des Lebendigen nicht nur immer neue Arten schafft, sondern auch bestehende Arten verändert oder gar auslöscht, kann man sich eine Situation denken, in der die Art B durch die weiterentwickelte Art B’ oder gar durch eine andere Art C ersetzt wurde. Die Art A ist dann aufgefordert, sich an die neue Situation anzupassen, wenn sie nicht aussterben will. Anders formuliert: Jede Art muss in ständigem Kontakt mit den anderen Arten bleiben, um auf deren Entwicklungen mit eigenen Weiterentwicklungen reagieren zu können. Noch einmal anders – und nun aus einer ganz anderen Perspektive – formuliert: Die Entwicklung des Lebens muss sich als synchrone Weiterentwicklung aller (Arten von) Lebewesen vollziehen, alle (Arten von) Lebewesen müssen an der Gesamtentwicklung partizipieren, damit die Harmonie des Ganzen nicht verlorengeht. Da das aber auch heißt, dass jedes Lebewesen die Entwicklung aller anderen Lebewesen, jede Art die Entwicklung aller anderen Arten begleiten muss, und da wir in Abschnitt 5.2.1 bereits festgestellt haben, dass das Begleiten ein Wesensmerkmal der Sympathie darstellt, sind wir einigermaßen darauf vorbereitet, nach einem kurvenreichen Weg von Bergson wieder mit dem Begriff konfrontiert zu werden, um den es uns hier geht: »Die instinktive Kenntnis, die eine Art von der andern in bestimmten Punkten besitzt, hat also ihre Wurzel in der Einheit des Lebens selber, das

On a bien souvent fait remarquer que la plupart des instincts sont le prolongement, ou mieux l’achèvement, du travail d’organisation lui-même. Où commence l’activité de l’instinc ? où finit celle de la nature ? On ne saurait le dire. – EC 613 | 140 | 144

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– um den Ausdruck eines alten Philosophen zu gebrauchen – ein mit sich selber sympathisierendes Ganzes ist.« 61

Wir sind inzwischen darüber unterrichtet, dass wir uns dieses Sympathisieren nicht so vorstellen dürfen, als herrsche in der Welt eitel Harmonie, Mitgefühl und Uneigennützigkeit. Und wir haben gerade festgestellt, dass das Leben, die Natur, das lebendige Universum nicht als statische Ordnung, sondern als dynamischer, evolutiver Prozess verstanden werden müssen. Sympathie ist demnach das Mitvollziehen dieses Prozesses im ständigen Kontakt mit allen anderen Beteiligten. Einen Punkt freilich gilt es zum Schluss noch hervorzuheben: Wenn Bergson – und sei es auch Plotin zitierend – der Auffassung ist, dass das Leben (= das lebendige Universum) als Prozess »ein mit sich selber sympathisierendes Ganzes« ist, dann präsentiert er uns eine von Sympathie geprägte Ganzheit, die der Sache nach in denkbar größtem Gegensatz zu dem mit sich selbst sympathisierenden menschlichen Individuum steht, ihm jedoch strukturell vollkommen gleicht. Beide Aspekte sind dafür verantwortlich, dass ich das Selbstverhältnis des (menschlichen) Individuums sowie das sympathetische Verhalten der Individuen und Arten in der Natur als Extremphänomene der Sympathie bezeichnet habe. Was aber folgt aus dieser Polarität? Bisher sehr wenig, denn das mit sich sympathisierende menschliche Individuum blieb bisher bei sich und die Sympathie der Tiere erwies sich als bloßer Ausdruck allgemeinster Lebenskräfte, für die die Individuen nur Durchgangsstationen darstellen. Denkbar ist freilich, dass sich das ändert, wenn wir uns nun dem Bereich menschlichen Zusammenlebens zuwenden. Denkbar ist, dass wir dieses angesiedelt finden in einem Spannungsfeld, dessen Pole das Selbstverhältnis des Einzelnen und das Selbstverhältnis des Ganzen darstellen.

La connaissance instinctive qu’une espèce possède d’une autre espèce sur un certain point particulier a donc sa racine dans l’unité même de la vie, qui est, pour employer l’expression d’un philosophe ancien, un tout sympathique à lui-même. – EC 637 | 168 | 172

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5.3 Phänomenologie der Partizipation II: Individuum und Gesellschaft Die beiden Extreme sympathisierenden Begleitens – das Selbstverhältnis des menschlichen Individuums einerseits, die Koevolution innerhalb der Natur andererseits – gleichen sich darin, dass die Sympathie »ganz gewiss« auftritt, weil es sich um selbstbezügliche Sympathie handelt. 62 Wenn nun das Extrem einer selbstbezüglichen Individualität, die Anderes und Andere nur als Bestandteil der eigenen Erfahrung kennt, und einer selbstbezüglichen äußeren Wirklichkeit, die alle Individualität gleichsam in sich hineinsaugt, – wenn also diese Extreme zu Polen eines Spannungsfeldes werden, was hat man dann zu erwarten? In einem derartigen Spannungsfeld sind verschiedenartige Konstellationen denkbar, in denen Sympathie auftreten könnte, aber es gibt nur eine, für die sich Bergson wirklich interessiert: die Beziehung zwischen dem menschlichen Individuum und der menschlichen Gesellschaft. 63 Nun ist das menschliche Individuum, wie wir bereits wissen, dadurch charakterisiert, dass es nur mit sich selbst ganz gewiss sympathisiert, mit allen anderen Wesen oder Gruppen von Wesen dagegen zwar sympathisieren kann, aber nicht sympathisieren muss. 64 Wir betreten also einen Bereich, in dem Sympathie zwar vorkommt, aber nicht im Voraus schon garantiert ist. Aus dieser neuartigen Situation ergeben sich die neuartigen Fragen, mit denen wir uns im zweiten Teil dieser »Phänomenologie der Partizipation« konDiese auf der Selbstbezüglichkeit beruhende allgemeine Regel kann im Detail durchaus verletzt werden. Ein (menschliches) Individuum kann mit sich selbst »nicht im Einklang sein«, die Gesellschaft kann innere Widersprüche aufweisen, eine (biologische) Art kann erstarren, zurückbleiben, den Zusammenhang mit dem Rest der Natur verlieren und deshalb aussterben. Freilich widerlegt eine solche Ausnahme nicht die Regel. 63 Phänomene wie die Sympathie zwischen Menschen und Tieren kommen bei Bergson nur äußerst selten und in sehr allgemeiner Form zur Sprache. So deutet er etwa an, gewisse »natürliche Tendenzen« verschiedener Tierarten könnten den Ausschlag dafür gegeben haben, dass der Mensch manche Arten für die Domestikation in Betracht gezogen hat, andere dagegen nicht (EC 563 | 81 | 86). Diese Bemerkung ließe sich zwar durchaus mit Bergsons Theorie der Anmut als »Entgegenkommen« des Anderen (vgl. Abschnitt 5.3.2.4, S. 632) in Verbindung bringen und so zu einer Theorie der Sympathie im Mensch-Tier-Verhältnis ausbauen – nur eben: Das wären dann bestenfalls vom Interpreten im Geiste Bergsons entwickelte Überlegungen. 64 Vgl. Anm. 26. 62

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frontiert sehen werden: Wann und mit wem sympathisiert der Mensch, wann und mit wem nicht? Ist es gleichgültig, mit wem er sympathisiert, oder kann man fordern, dass er mit diesem oder jenem Gegenüber sympathisieren sollte? Sollte letzteres der Fall sein: Lässt sich das Sympathieverhalten des Menschen von außen beeinflussen? Schließlich: Hat das Wort »Sympathie«, wenn es das Verhältnis des menschlichen Individuums zu anderen Individuen oder zur Gesellschaft im ganzen bezeichnet, die gleiche Bedeutung wie im Hinblick auf das tierische Individuum, das mit Teilen seiner Umwelt sympathisiert, oder treten hier neu- und andersartige Aspekte in Erscheinung?

5.3.1 Hierarchie 5.3.1.1 Solidarität Zunächst einmal gilt es freilich, unseren Blick nicht auf das Andersartige, sondern auf das Ähnliche zu richten. Der Instinkt stellt dem Tier vordefinierte Handlungsmuster zur Verfügung, mit denen es auf die für sein eigenes Überleben sowie das Überleben der Art bedeutsamen Situationen reagieren kann. Nun greifen auch Menschen in der Mehrzahl der Fälle auf vordefinierte Handlungsmuster zurück, aber wenn man dies berücksichtigen, und vor allem: wenn man es im Rahmen der gegenwärtigen Fragestellung angemessen berücksichtigen will, gerät man in eine eigenartig widersprüchliche Situation: Auf der einen Seite nämlich deutet Bergson die von der Natur geschaffenen Instinkte als Sympathie, auf der anderen Seite erscheinen Tradition und Erziehung als Vorratskammer abgestorbener, sinnentleerter Automatismen, ihre Nutzung geradezu als das Gegenteil von Sympathie. Mag nun auch die Kritik an einer falsch verstandenen Erziehung und am gedankenlosen Wiederholen des Andressierten nachvollziehbar sein, so lässt sich doch irgendwann die Frage nicht mehr abweisen, ob es plausibel ist, dass man den einen Fall als Paradigma von Sympathie, den anderen als Paradigma von Anti-Sympathie zu deuten hat. Mir scheint nun, dass auch Bergson sich eines Tages mit dieser Frage konfrontiert sah, dass er sie durch eine Akzentverschiebung beantwortet hat und dass sich diese Akzentverschiebung besonders deutlich am Gebrauch des Wortes solidarité ablesen lässt. Ich hatte bereits darauf hingewiesen, dass Bergson sich in den frühen Werken 595 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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ausschließlich für das Selbstverhältnis des menschlichen Individuums interessiert, dass er aber in dem Moment, in dem er Idee und Begriff der Sympathie strategisch einzusetzen beginnt, um das Fremdverstehen untersuchen zu können, dieses Selbstverhältnis als eine Form von Sympathie umdeutet. Eine ähnliche Umdeutung lässt sich nun aber auch im Bereich des gesellschaftlichen Handelns beobachten. Kam dieses in den frühen Werken lediglich als soziale Mechanik, als zwar notwendiges – weil Kooperation ermöglichendes –, aber gleichwohl die Lebendigkeit des menschlichen Individuums bedrohendes Übel zur Sprache, so erscheint es unter dem Einfluss des SympathieGedankens in einem neuen Licht, das gewiss zu keiner völligen Umwertung, aber doch zu einer Akzentverschiebung und dadurch zu einer Abmilderung des schroffen Gegensatzes zwischen instinktund konventionsgesteuertem Handeln führt. Im Hinblick auf Bergsons Gebrauch des Wortes »Solidarität«, anhand dessen ich diese Akzentverschiebung darstellen möchte, lassen sich vier Phasen unterscheiden: (1) In den frühen Werken (bis hin zu Matière et mémoire) werden das Substantiv solidarité und das Adjektiv solidaire auf so verschiedenartige Gegenstände angewandt, dass es nicht ganz leicht ist, den gemeinsamen Nenner zu definieren. Um hier nur die beiden wichtigsten Beispiele herauszugreifen: Solidarität besteht zwischen einem Bewusstseinszustand und den gleichzeitigen materiellen Abläufen im Gehirn. 65 Solidarität besteht auch zwischen Vergangenheit und Zukunft, sofern diese als Ekstasen der Zeit gedacht werden. 66 Stützt man sich auf diese beiden Beispiele, so kann man sagen: (a) Bergson verwendet das Wort solidarité in Situationen, in denen es darum geht, die Beziehung zwischen zwei oder mehr Sachverhalten bzw. Erfahrungsinhalten zu erklären, und in denen herkömmliche Erklärungsmodelle (Kausalität, Teleologie, Parallelismus) versagen. Qu’il y ait solidarité entre l’état de conscience et le cerveau, c’est incontestable. […] car, si la science interprète la solidarité, qui est un fait, dans le sens du parallélisme, qui est une hypothèse […]. – MM 164 | 4 | IV. – Au contraire, dans la seconde hypothèse, il y aurait bien solidarité et interdépendance entre le cerveau et la conscience, mais non pas parallélisme […]. – EC 648 | 181 | 184. 66 Relégué dans l’espace, et dans l’espace abstrait, où il n’y a jamais qu’un instant unique et où tout recommence toujours, le mouvement renonce à cette solidarité du présent et du passé qui est son essence même. – MM 352 | 245 | 217 f. – […] je veux dire la solidarité ininterrompue de l’avant et de l’après qui est donnée à la conscience comme un fait indivisible […] – DSim 104 | 49 | –. 65

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(b) Die strategische Bedeutung des Wortes solidarité im Rahmen dieser Argumentationen besteht darin, dass es das Bild einer andersartigen Beziehung vor Augen stellt, an dem sich die weitere Analyse orientieren kann. Mit anderen Worten: Da, wo Bergson das Wort solidarité einsetzt, verlässt er sich erst einmal auf dessen Bildcharakter und auf das Vorverständnis des Lesers. (2) In den zwischen Matière et mémoire und L’évolution créatrice geschriebenen Texten findet man das Substantiv solidarité gar nicht, das Adjektiv solidaire nur in wenigen unspektakulären Fällen, die Rückverweise auf frühere Werke darstellen. Nun sind das diejenigen Texte, in denen Bergson beginnt, nach der Möglichkeit von Fremdverständnis zu fragen. Die Erklärung für diese Lücke dürfte demnach lauten, dass Bergsons Hauptinteresse in diesen Jahren anderen, höheren Formen der Sympathie 67 gilt und die Frage einer Neubewertung konventionsgesteuerten gesellschaftlichen Handelns sich entweder noch gar nicht stellt oder von nachrangiger Bedeutung zu sein scheint. (3) Wenn ich von »Akzentverschiebung« spreche, dann meine ich jenen neuartigen Aspekt, dem man bei der Lektüre von L’évolution créatrice begegnet. Bergson verknüpft in diesem Werk die Solidarität mit der Arbeitsteilung: »Sollte nun aber das, was sich weder von der Gesamtheit der Materie noch von der des Lebens behaupten lässt, nicht für jeden einzelnen, für sich genommenen Organismus gelten? Gewahrt man in ihm nicht eine bewundernswerte Arbeitsteilung, eine großartige Solidarität der Teile, die vollkommene Ordnung in der unendlichen Komplexität?« 68

Es ist klar, dass es sich hier nicht um einen vollkommen andersartigen, mit der früheren Verwendung des Wortes solidarité überhaupt nicht zu vereinbarenden Gesichtspunkt handelt. Zur Not kann man auch das Verhältnis von subjektiver Erfahrung und materiellen Prozessen im Gehirn oder die Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart als Arbeitsteilung beschreiben. Klar ist aber auch – und das ist meines Erachtens der entscheidende Punkt –, dass der neue Vgl. etwa die Abschnitte 5.3.2.1, S. 610, bis 5.3.2.4, S. 632, zur Rolle der Sympathie in Le rire. 68 Mais ce qui n’est affirmable ni de l’ensemble de la matière, ni de l’ensemble de la vie, ne serait-il pas vrai de chaque organisme pris à part? N’y remarque-t-on pas une admirable division du travail, une merveilleuse solidarité entre les parties, l’ordre parfait dans la complication infinie ? – EC 529 | 41 | 46 f. 67

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Gesichtspunkt deshalb hervortritt, weil die Solidarität in den Einflussbereich des Sympathie-Gedankens gerät. Die Deutung des tierischen Instinkts als Sympathie hatte sich ja als Antwort auf die Frage nach dem Zusammenspiel individueller (Teil-)Handlungen im Rahmen überindividueller Handlungsmuster ergeben, und diese Frage konnte sich nur stellen, weil es auch im Tierreich Arbeitsteilung gibt. Bergson hat in L’évolution créatrice zahlreiche Beispiele dafür untersucht: die Arbeitsteilung zwischen Pflanze und Tier, die Arbeitsteilung in den Insektenstaaten, das Zusammenspiel von stechendem Insekt und zu stechender Raupe. Das heißt auch: Bergson appelliert hier nicht mehr nur an das Vorverständnis des Lesers. Zwar ist die Bezeichnung »Arbeitsteilung« aus dem Bereich menschlichen Arbeitens und Zusammenarbeitens entnommen, aber L’évolution créatrice geht sofort von Bezeichnung und Bild zu detaillierten Sachanalysen über. Eher schon könnte man sagen, dass hier im Bereich des tierischen Verhaltens eine Klärung des Zusammenhangs von Arbeitsteilung, Solidarität und Sympathie durchgeführt wird, die dann im weiteren Verlauf für die Untersuchung entsprechender Verhältnisse im Bereich menschlicher Gesellschaften von Nutzen sein kann. (4) Denn eben dies geschieht in Les deux sources de la morale et de la religion. Die Analyse traditioneller, geschlossener Gesellschaften unter dem Gesichtspunkt der »Verpflichtung« (obligation) macht eine Analogie zwischen dem Einrücken von Tieren und dem von Menschen in vorab existierende übergeordnete Handlungsmuster sichtbar: »So werden wir immer wieder auf denselben Vergleich geführt, der zwar in vieler Hinsicht hinken mag, aber dennoch für den Punkt, auf den es uns ankommt, durchaus annehmbar ist: Die Glieder des Gemeinwesens halten sich gegenseitig wie die Zellen eines Organismus. Die Gewohnheit, der Intelligenz und Imagination zu Hilfe kommen, richtet unter ihnen eine Disziplin auf, die – durch die Solidarität, die sie unter sonst geschiedenen Individualitäten herstellt – grob die Einheit eines Organismus von verbundenen Zellen nachahmt.« 69

Ainsi nous sommes toujours ramenés à la même comparaison, défectueuse par bien des côtés, acceptable pourtant sur le point qui nous intéresse. Les membres de la cité se tiennent comme les cellules d’un organisme. L’habitude, servie par l’intelligence et l’imagination, introduit parmi eux une discipline qui imite de loin, par la solidarité qu’elle établit entre les individualités distinctes, l’unité d’un organisme aux cellules anastomosées. – DS 985 | 6 | 10 f.

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Halten wir drei Aspekte dieser kurzen Textpassage fest. Zum einen: Bergson behauptet nicht, dass die bei der Untersuchung tierischen, instinktgesteuerten Verhaltens gewonnenen Ergebnisse vollständig und unverändert auf die Verhältnisse in menschlichen Gesellschaften übertragen werden können. Der Vergleich muss behutsam vorgenommen werden, denn er ist »in vielerlei Hinsicht mangelhaft«, weil die Natur zwar vom menschlichen Individuum als Teil der Gesellschaft »enge Solidarität«, zugleich aber auch den Einsatz seiner Intelligenz erwartet. 70 Sodann: Gleichwohl ist der Vergleich akzeptabel und fruchtbar im Hinblick auf »den Punkt der uns hier interessiert«, nämlich auf das Verhältnis von instinkt- und konventionsgesteuertem gemeinschaftlichem Verhalten. Das ist so, weil es im Bereich des menschlichen ebenso wie in dem des tierischen Verhaltens Situationen gibt, in denen sich übergeordnete Handlungsmuster aufdrängen und von den betroffenen Individuen Unterordnung fordern. Auf diesen Aspekt verweist das Stichwort »Disziplin«. »Disziplin« aber bedeutet, wie wir wissen, »Hierarchie« und »absolute Autorität«. 71 Der Vergleich verweist also auf hierarchische Strukturen in menschlichen Gesellschaften oder zumindest auf Situationen, in denen die überindividuellen Verhaltensmuster den beteiligten Individuen als äußerliche und fremde Mächte erscheinen. Schließlich: Als äußerlich und fremdartig aber erscheinen sie, weil sie nicht Verständnis und Anteilnahme, sondern Unterordnung und Gehorsam fordern. Dies gilt für alle beteiligten Individuen in gleichem Maße. Von jedem einzelnen wird verlangt, dass es die ihm im Rahmen der sozialen Arbeitsteilung zugewiesene Rolle fehlerfrei spiele, sich aber zugleich auf diesen Beitrag zum unverstandenen Ganzen beschränke. Eben diese Gleichartigkeit, diesen an alle ergehenden Aufruf zur Unterordnung, diese Rolle des bloßen Rädchens innerhalb eines komplexen Getriebes bezeichnet das Wort solidarité. Eine solche Feststellung könnte verwirren, erschrecken, Anlass zu Zweifel und Widerspruch geben, wären wir nicht durch unsere Analysen der Sympathie im Bereich tierischen Verhaltens vorberei-

La nature, en faisant de l’homme un animal sociable, a voulu cette solidarité étroite, en la relâchant toutefois dans la mesure où cela était nécessaire pour que l’individu déployât, dans l’intérêt même de la société, l’intelligence dont elle l’avait pourvu. – DS 1044 | 83 | 65 – Vgl. dazu Abschnitt 5.3.2.1, S. 610. 71 Vgl. Kap. 2, Anm. 146. 70

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tet. Auch dort hatten wir ja festgestellt, dass das instinktgesteuerte Verhalten des stechenden Insekts nicht »fremddienlich« ist und dass das Wort »Sympathie« weder auf einen affektiven noch auf einen verstehenden Bezug zum Gegenüber verweist. Sympathie in dem für diesen Fall relevanten »etymologischen Sinn des Wortes«, so hatte Bergson erklärt, heißt nicht Mit-Leiden, sondern MiteinanderLeiden, gemeinsam hilf- und widerstandslos das Sich-Vollziehen des überindividuellen Handlungsmusters erleiden. Dass das auch die Bedeutung von solidarité ist, lässt sich daran ablesen, dass der Gegenstandsbereich, auf den dieses Wort angewandt werden kann, keinerlei Einschränkungen unterliegt. Es bezeichnet das Zusammenspiel von menschlichen Individuen ebenso wie den Zusammenhalt der Teilbewegungen, aus denen der Übende die Gesamtbewegung des Walzer-Tanzens schafft, das Zusammenwirken von Tieren oder Zellen ebenso wie die Zusammengehörigkeit der materiellen Dinge in einer umgreifenden Welt. Es besagt also nicht mehr, als dass ein jedes Einzelne seine Stelle und seine Funktion im »Ganzen einer an sich unerkennbaren Realität« 72 hat und dass alle Einzelnen in dieser Hinsicht gleich sind. Im Hinblick auf das Handeln in menschlichen Gesellschaften heißt das: Das Wort »Solidarität« bezeichnet jene Formen des Handelns, bei denen menschliches und tierisches Verhalten vergleichbar, weil übergeordneten und unverstandenen Mustern unterworfen sind. 5.3.1.2 Formen der Sympathie Diese Beobachtungen legen eine Schlussfolgerung nahe, die ich in einer ersten, vergleichsweise lokalen These so formulieren möchte: Das Wort »Solidarität« bezeichnet bei Bergson eine Form der Sympathie. Ich habe bereits erläutert, dass damit nicht ein affektiver, einfühlender oder verstehender Bezug zum Gegenüber gemeint ist, sondern jenes sym-pathein als Gemeinsam-Erleiden eines überindividuellen Handlungsmusters, das Bergson bei stechendem Insekt und gestochener Raupe angetroffen hatte. Solidarität ist (eine Form von) Sympathie – diese These ergibt sich also aus dem sachlichen Zusammenhang, den ich im vorigen Abschnitt skizziert habe: »Solidarität« ist ein Wort, das spezifisch jene Form des Miteinander-Handelns bezeichnet, auf die die Formulierung 72

le tout d’une réalité inconnaissable en elle-même – ES 968 | 202 | 181.

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»Instinkt ist Sympathie« unspezifisch verweist. Gestützt wird diese Auffassung dann durch all die Fälle, in denen Bergson die Worte sympathie und solidarité alternierend in gleichen oder ähnlichen Kontexten verwendet. So schreibt er einerseits, dass sich zum Zwecke einer Körperbewegung mehr oder weniger viele Muskeln »sympathetisch kontrahieren« müssen, andererseits schließt er sich der Hypothese an, dass im Schlaf die für das Tagesbewusstsein erforderliche »Solidarität der Neuronen« nicht gegeben ist. 73 Festzuhalten ist, dass das Wort »Solidarität« die hier gemeinte Form der Sympathie aus der Perspektive der beteiligten Individuen, nicht aus der des übergeordneten Ganzen (le tout sympathique à luimême) meint. Solidarität lässt sich deshalb auch in zwei Teilperspektiven zerlegen. Deren erste ist ein vertikaler, nach »oben«, d. h. auf das verbindliche Handlungsmuster (und gegebenenfalls auch auf dessen Urheber) gerichteter Blick, auf den, wenn er besonders herausgehoben werden soll, Worte wie autorité oder discipline verweisen. Der zweite Blick ist dann ein horizontaler, »seitwärts« auf die »MitLeidenden« gerichteter, den man aber keinesfalls als compassion verstehen darf, sondern auf die eher Worte wie coopération 74 verweisen – Worte also, die lediglich den Umstand bezeichnen, dass jedes beteiligte Individuum seine Rolle innerhalb des übergreifenden Geschehens spielt. Aber eine solche lokale, lediglich mit dem Sinn des Wortes solidarité befasste These ist nicht lange haltbar. Wir waren an früherer Stelle bereits auf Bergsons Auskunft gestoßen, unter Intuition verstehe er »jene Art von intellektueller Sympathie, durch die man sich in das Innere eines Gegenstandes versetzt, um mit dem, was er Einzigartiges und infolgedessen Unaussprechliches an sich hat, zu koinzidieren«. 75 Weil Bergson später die klare Formulierung »jene Art von« durch das neutralere »die« ersetzte und weil es einige Belege gibt, die einen gewissen Gegensatz zwischen Sympathie und Intuition vorauszusetzen scheinen, hatte ich es dort offengelassen, ob das plus un effort donné nous fait l’effet de croître, plus augmente le nombre des muscles qui se contractent sympathiquement – DI 19 | 18 | 25 – la récente hypothèse qui attribue le sommeil à une interruption de la solidarité entre neurones – MM 312 | 194 | 170. 74 Or, quelle est la fonction primitive du langage ? C’est d’établir une communication en vue d’une coopération. Le langage transmet des ordres ou des avertissements. – PM 1320 f. | 86 | 98. 75 Vgl. Anm. 24. 73

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Wort »Sympathie« als (die Intuition umfassender) Oberbegriff oder als Alternative zur Intuition zu verstehen ist. Aber wenn man vorschlägt, Solidarität als Form der Sympathie aufzufassen, dann liegt es zumindest sehr nahe, dieser Unentschlossenheit ein Ende zu setzen, in der Intuition eine weitere Form der Sympathie zu sehen und die eben aufgestellte These in eine solche mit größerer Reichweite zu transformieren: Der Begriff »Sympathie« bezeichnet bei Bergson kein einheitliches Phänomen, sondern eines, das in verschiedenen Formen auftritt. Solidarität und Intuition sind zwei dieser Erscheinungsformen. 76 Mir scheint nun, dass es nicht notwendig ist, diese These als solche ausführlich zu begründen. Gewiss, es mag für Bergson-Leser, die davon ausgegangen waren, dass zwischen Sympathie und Intuition kein wesentlicher Unterschied besteht, und die aufgrund des bisher Erörterten vielleicht bereit sind, einen solchen Unterschied einzuräumen, irritierend sein, wenn man mit diesem einen Zugeständnis nicht zufrieden ist, sondern gleich noch ein weiteres fordert. Auf der anderen Seite deuten aber zahlreiche Indizien darauf hin, dass die These von der Vielförmigkeit der Sympathie Bergsons Intentionen trifft und dass das Verhältnis von Sympathie und Intuition überhaupt nur auf dieser Basis plausibel dargestellt werden kann. Ich erinnere hier – abgesehen von der bereits erwähnten Formel »jene Art von Sympathie« – zunächst einmal nur an Bergsons Skepsis gegenüber der Auffassung, Sympathie sei ein stabiler und von anderen deutlich abgrenzbarer Gefühlszustand 77; an die Textpassagen, in denen er Sympathie als eine sich entwickelnde darstellt und die Entwicklungsstufen durch hinzugefügte Adjektive wie physique, morale oder spirituelle zu charakterisieren versucht 78; schließlich an weitere Adjektive, durch die offenbar verschiedene Modalitäten (wie etwa die beim

Das heißt nicht, dass der Eindruck, die Worte »Sympathie« und Intuition« würden gelegentlich Gegensätzliches bezeichnen, trügt. Es gibt in der Tat in Bergsons Texten eine Verwendungsweise, in der das Wort sympathie soviel besagt wie »alle Formen der Sympathie, die nicht Intuition sind« (was, wie ich in Kapitel 6 zeigen möchte, äquivalent ist mit: »alle naturwüchsigen, nicht von Reflexion begleiteten Formen des Verstehens«). Aber man sieht, dass es sich hierbei um einen sekundären Sinn handelt, der die Vielförmigkeit der Sympathie nicht bestreitet, sondern gerade voraussetzt. 77 Ce serait oublier que joie, tristesse, pitié, sympathie sont des mots exprimant des généralités […]. – DS 1009 | 37 | 32. 78 Zu sympathie physique/morale vgl. Abschnitt 5.3.2.4, S. 632, zu sympathie spirituelle Anm. 112 [B6]. 76

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Theaterpublikum auftretende »künstliche« 79 im Gegensatz zur »echten«, lebensweltlichen Sympathie) unterschieden werden sollen. Ganz anders verhält es sich allerdings mit der Frage, wie viele und welche Formen der Sympathie im Detail zu unterscheiden sind und was das Wort »Formen« genau besagen soll (gleichursprüngliche Aspekte?, einander fundierende Stufen?). Mögen auch mancherlei Indizien nahelegen, dass Bergsons Denken so etwas wie eine Theorie über »Wesen und Formen der Sympathie« impliziert, so hat er diese jedenfalls nie systematisch expliziert, und deshalb gibt es in seinen Texten nichts, was sich mit Schelers unter diesem Titel erschienenen Werk auch nur annähernd messen könnte. Es gibt nicht einmal die Skizze eines Modells, an dem man sich orientieren könnte, wenn man versuchen will, die verstreuten Fragmente zu einem Ganzen zu verbinden. Oder vielmehr: Es gibt mehrere verschiedene Modelle, die sich als Grundlage für eine derartige Rekonstruktion anbieten. Ich greife drei von ihnen heraus: • Zunächst einmal liegt es nahe, die erwähnten Adjektive, die Bergson dem Wort sympathie beifügt, zu nutzen. Bei der Ausarbeitung dieses Gedankens stößt man allerdings schnell auf Schwierigkeiten. Zum einen sind viele der hier in Betracht kommenden Formulierungen aus der Tradition übernommen, so dass erst einmal geklärt werden müsste, wie sie sich in Bergsons Denken einfügen. Zum anderen sind sie über verschiedene Texte verteilt, so dass auch sie erst zu einem systematischen Ganzen zusammengefügt werden müssten. • Überraschenderweise scheint sich das in Kapitel 2 erarbeitete Schema fonction – signification – sens als Basismodell zu eignen. Das ist gerade im gegenwärtigen Zusammenhang, in dem es darum geht, den Sinn des Wortes solidarité zu klären, leicht nachvollziehbar: Wenn »Solidarität« bedeutet, dass jedes Individuum die ihm zugedachte Rolle innerhalb eines übergreifenden Ganzen spielt, dann ist Solidarität die realisierte – d. h. in die Tat umgesetzte – Funktion. Es wäre dann zu erwarten, dass es weitere Formen der Sympathie gibt, die den Stufen »Bedeutung« und »Sinn« entsprechen. • Man kann aber auch den Eindruck haben, dass das von Bergson in L’intuition philosophique verwendete und hier in Kapitel 1 79

sympathie artificielle – R 453 | 107 | 94.

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diskutierte Modell architecture – organisme – image (médiatrice) – intuition als Basismodell in Betracht kommt. Nicht der geringste Vorteil dieses Modells wäre es, dass in ihm die Intuition bereits als oberste Stufe genannt wird. Die Aufgabe würde dann darin bestehen, die Stufen »Architektur«, »Organismus« und »Bild« so zu deuten, dass darin Formen der Sympathie erkennbar und verständlich werden. Überschaut man diese »Angebote« 80, so fällt zuerst auf, dass es sich in allen drei Fällen um Stufenmodelle handelt. Ich kenne kein Modell, das geeignet wäre, die Formen der Sympathie als gleichursprüngliche Aspekte darzustellen. Es scheint mir allerdings auch nicht notwendig, nach einem solchen Modell zu suchen, weil Bergson, wie bereits angedeutet, die statische Auffassung der traditionellen Psychologie verwirft und Sympathie als etwas Dynamisches betrachtet, das auf verschiedenen Entwicklungsstufen in Erscheinung tritt. Ich werde deshalb ab sofort nicht mehr neutral von »Formen«, sondern präziser von »Stufen« der Sympathie sprechen. Ich habe bereits angedeutet, weshalb ich eine Stufenfolge wie etwa sympathie physique – sympathie morale – sympathie spirituelle für wenig hilfreich halte. Scheidet dieses Modell aus, bleiben aber immer noch zwei Kandidaten übrig, zwischen denen man sich entscheiden muss. Indessen: Muss man wirklich? Hatte nicht Bergson die Ansicht vertreten, dass sich eine Intuition in mehreren, stofflich verschiedenen, aber strukturell äquivalenten Bildern darstellen lässt? Und hatte er nicht selbst in Bezug auf Berkeleys Philosophie zwei Bilder vorgeschlagen? Könnte es also nicht sein, dass wir hier einen ähnlichen Fall vor uns haben, dass demnach die Stufenmodelle architecture – organisme – image (médiatrice) – intuition und fonction – signification – sens gleichermaßen geeignet sind, die wesentlichen Entwicklungsstufen der Sympathie zu erläutern? Es ist jedenfalls genau dies, was ich nachfolgend versuchen möchte. Nun springt freilich sofort ins Auge, dass dieser Versuch irgendIch schlage hier ausschließlich Modelle vor, die ich Bergsons Texten entnehme. Eine ganz andere Möglichkeit würde natürlich darin bestehen, sich an Scheler zu orientieren. Wenn ich das hier nicht ernsthaft in Erwägung ziehe, so einerseits aus den gleichen, in der Einleitung dargelegten Gründen, aus denen diese Untersuchung sich nicht auf ein fertig vorliegendes Konzept von Hermeneutik stützt. Zum anderen scheint mir, dass der von Romanòs vorgelegte Versuch, Bergsons Texte zur Sympathie durch die Brille Schelers zu lesen (Romanòs[1988], insbesondere Kap. 5) nicht zu überzeugenden Resultaten geführt hat.

80

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wann in Schwierigkeiten geraten muss, weil das eine Modell vier, das andere nur drei Schichten umfasst. Ich habe nicht die Absicht, hier sämtliche in Betracht kommenden Strategien zur Lösung dieses Problems zu diskutieren. Es gibt lediglich eine einzige Frage, die jetzt schon gestellt werden muss: Wäre es nicht sinnvoll, der Stufenfolge sens – signification – fonction noch eine weitere Schicht als unterste Schicht hinzuzufügen? Wir könnten dann für den Gang der Untersuchung die Entsprechungen xxx = architecture, fonction = organisme, signification = image und sens = intuition einplanen, statt uns sorgenvoll auf den Weg zu machen, weil wir schon wissen, dass uns auf der einen Seite irgendwann die Optionen ausgehen werden. Intuition

Humanité | Fraternité (Abschnitt 6.2.4.6)

Sens (2)

Image

Analogie | Amitié (Abschnitt 5.3.3)

Sens (1)

Organisme

Empathie | Camaraderie (Abschnitt 5.3.2)

Signification

Architecture

Hiérarchie | Solidarité (Abschnitt 5.3.1)

Fonction

Abbildung 7: Sympathie – Übersicht über die Formen und den Gang der Erörterung

So reizvoll die Aussicht auf eine sorglose Reise wäre – mir scheint, dass die hier angedeutete Vorgehensweise der Sache nicht gerecht würde. Gewiss, der Gedanke einer Entsprechung von fonction und organisme ist plausibel, insofern ja Organe eine bestimmte Funktion innerhalb eines Organismus haben. Die Konsequenz eines derartigen Ansatzes wäre freilich, dass man als Entsprechung zu architecture ein xxx finden müsste, das einer Funktion ähnlich, aber doch unorganisch, mithin rein mechanisch wäre. Der Gebrauch des Wortes solidarité bei Bergson lässt jedoch nichts erkennen, was zu einem solchen Versuch ermuntern würde. Vielmehr zeichnet er sich ja gerade dadurch aus, dass das Wort unterschiedslos auf unbelebte Dinge und belebte Wesen, auf unselbständige Zellen und vollständige Individuen, auf Tiere und auf Menschen angewendet wird. Entscheidend ist für Bergson in allen diesen Fällen das Moment der bloßen Unterordnung, des – und hier gibt es kein geeigneteres Wort als das von Ga605 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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damer so häufig verwendete: des »Einrückens« in ein bereits fertig vorgegebenes Schema. Wir werden demnach davon auszugehen haben, dass sich Funktion und Architektur entsprechen: Die Architektur des überindividuellen Handlungsmusters legt die Funktionen fest, in die die beteiligten Individuen »einrücken« müssen. Und wir werden davon auszugehen haben, dass dies für Bergson die unterste Stufe der Sympathie darstellt. 5.3.1.3 Mitleid Gleichsam auf der Schwelle zwischen der untersten, durch gemeinsames Erdulden eines übergeordneten Handlungsplans charakterisierten und der nächsthöheren, auf Einfühlung basierenden Stufe der Sympathie findet man bei Bergson das Mitleid, dem er eine kurze Passage im ersten Kapitel des Essai sur les données immédiates de la conscience gewidmet hat. 81 Es ist dies einer jener Texte, in denen die Sympathie (hier sogar: eine Form von Sympathie) als etwas Dynamisches, sich Entwickelndes beschrieben wird. Betrachten wir also die verschiedenen Entwicklungsstufen: »[Das Mitleid] besteht zunächst darin, dass man sich in Gedanken an die Stelle der Anderen versetzt, ihr Leid erleidet. Wäre es aber nichts als dieses, wie behauptet worden ist, so würde es uns eher auf den Gedanken bringen, die Unglücklichen zu meiden als ihnen beizustehen, denn das Leiden erregt in uns naturgemäß Widerwillen. Es ist möglich, dass dies Gefühl des Widerwillens dem Mitleid zugrunde liegt […]« 82

Wie die früher angeführten Beispiele für den tierischen Instinkt und für die bis in das menschliche Zusammenleben hineinreichende Solidarität zeigt auch das Bild, das Bergson hier entwirft, Individuen, die einem übermächtigen Geschehen unterworfen sind. Neu aber ist, dass diese Individuen in den Hintergrund rücken und im Vordergrund ein menschliches Individuum erscheint, das außerhalb jener »Sympathie im etymologischen Sinne des Wortes« steht. Die Frage, um die die zitierten Sätze kreisen – Weglaufen oder Sich-EinDI 16 f. | 14 f. | 21 f. [La pitié] consiste d’abord à se mettre par la pensée à la place des autres, à souffrir de leur souffrance. Mais si elle n’était rien de plus, comme quelques-uns l’ont prétendu, elle nous inspirerait l’idée de fuir les misérables plutôt que de leur porter secours, car la souffrance nous fait naturellement horreur. Il est possible que ce sentiment d’horreur se trouve à l’origine de la pitié […]

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mischen? – kann sich ja nur einem Menschen stellen, der nicht ohnehin schon in das überindividuelle Geschehen verstrickt ist. Wir haben es hier im Grunde erstmals mit dem Phänomen des Zuschauers zu tun, das uns noch in mehreren Beispielen begegnen, aber immer einen ambivalenten Status behalten wird. Neu ist weiterhin, dass einige oder alle in das übergeordnete Geschehen eingebundene Individuen an diesem Geschehen bzw. an der Rolle, die sie darin zu spielen haben, leiden. Davon war bisher nirgends – nicht einmal im Hinblick auf die gestochenen, gelähmten und dann langsam verspeisten Raupen – die Rede. Vielmehr haben wir bisher stets betont, dass die Worte sympathie und solidarité lediglich auf die Arbeitsteilung zwischen den Individuen sowie die daraus resultierende Synchronisation ihrer (Teil-)Aktivitäten verweisen und von jeder affektiven Konnotation freizuhalten sind. Erst aufgrund dieses neuen Aspektes kann sich dem »Zuschauer« das Problem einer möglichen Anteilnahme, die nicht Teilnahme am übergeordneten Geschehen ist, stellen. Neu ist schließlich der Vorgang, »dass man sich in Gedanken an die Stelle der Anderen versetzt«. Wir hatten zwar im Bild der Solidarität bereits eine »horizontale«, auf die Mit-Involvierten gerichtete Perspektive entdeckt, doch war auch diese frei von jeglicher affektiven Tönung. Hier tritt nun als neues Element die Einfühlung auf, und damit jener Aspekt, der mich zu der Bemerkung veranlasst hat, das Mitleid sei auf der Schwelle zur nächsthöheren Stufe der Sympathie anzusiedeln. Die Einfühlung des »Zuschauers« in den/die Leidenden könnte in der Tat zu einer neuartigen Form von Sympathie führen – wenn sie sich denn entwickeln würde. »[…] doch es kommt alsbald ein neues Element hinzu, ein Bedürfnis, unsresgleichen zu helfen und ihr Leid zu lindern. Werden wir nun mit La Rochefoucauld sagen, diese angebliche Sympathie sei Berechnung, ›eine schlaue Voraussicht künftiger Übel‹? Es mag sein, dass die Furcht tatsächlich auch noch in das Mitgefühl eingeht, das uns beim Anblick des Leidens unsres Nächsten befällt; doch sind das immer nur untergeordnete Formen des Mitleids. Das wahre Mitleid besteht weniger darin, dass man das Leiden fürchtet, […]« 83

[…] mais un élément nouveau ne tarde pas à s’y joindre, un besoin d’aider nos semblables et de soulager leur souffrance. Dirons-nous, avec La Rochefoucauld, que cette prétendue sympathie est un calcul, « une habile prévoyance des maux à venir » ? Peut-être la crainte entre-t-elle en effet pour quelque chose encore dans la compas-

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Bergson bestätigt hier durch seinen Wortgebrauch, dass sich eine neue Gestalt der Sympathie vorbereitet oder dass doch jedenfalls die bisher einzige Gestalt der Sympathie ihre Selbstverständlichkeit verloren hat. Diese Selbstverständlichkeit bekommt einen Riss, und Bergson verleiht ihm sprachlichen Ausdruck, indem er – das Wort sympathie verwendet. Das Irritierende dieses Wortgebrauchs besteht darin, dass hier »Sympathie« eine Etappe innerhalb der Entfaltung von »Mitleid«, dieses aber seinerseits nur eine Erscheinungsform von »Sympathie« ist. Bergson beeilt sich denn auch, den speziellen Sinn, den das Wort sympathie hier aufweist, dadurch zu betonen, dass er ihm das Wort compassion zur Seite stellt. Mit anderen Worten: Das Wort »Sympathie« bedeutet hier genau das, was wir gemeinhin mit ihm verbinden, was aber bisher stets kategorisch ausgeschlossen wurde: die emotionale Anteilnahme am Leiden des Anderen. Dadurch entsteht eine Differenz zwischen dem allgemeinen und dem speziellen Sinn von »Sympathie«. »[…] als darin, dass man es wünscht. Es ist dies ein flüchtiger Wunsch, dessen Verwirklichung man kaum begehren würde und den man doch wider Willen in sich aufkommen lässt, gleich als ob die Natur irgendeine große Ungerechtigkeit beginge und es gelte, jeden Verdacht der Komplizenschaft mit ihr zu beseitigen. Das Wesen des Mitleids ist also ein Bedürfnis nach Demütigung, ein Aufstreben zur Erniedrigung. Dieses schmerzliche Aufstreben hat übrigens seinen Reiz, da es uns in unserer eigenen Wertschätzung erhöht und bewirkt, dass wir uns über jene sinnlichen Güter erhaben fühlen, von denen sich unser Denken in diesem Augenblick abwendet.« 84

Dieser kurze Text erweist sich als wahre Fundgrube, wenn man die Formen der Sympathie bzw. das Wortfeld »Sympathie« bei Bergson untersuchen möchte: pitié, se mettre à la place de, sympathie (im engeren Sinne), compassion wurden bereits erwähnt, und nun gesellt sich mit der complicité nicht nur ein weiteres Wort, sondern noch ein ganz neuer Aspekt hinzu: Sympathie lässt sich moralisch bewerten. sion que les maux d’autrui nous inspirent; mais ce ne sont toujours là que des formes inférieures de la pitié. La pitié vraie consiste moins à craindre la souffrance […] 84 […] qu’à la désirer. Désir léger, qu’on souhaiterait à peine de voir réalisé, et qu’on forme pourtant malgré soi, comme si la nature commettait quelque grande injustice, et qu’il fallût écarter tout soupçon de complicité avec elle. L’essence de la pitié est donc un besoin de s’humilier, une aspiration à descendre. Cette aspiration douloureuse a d’ailleurs son charme, parce qu’elle nous grandit dans notre propre estime, et fait que nous nous sentons supérieurs à ces biens sensibles dont notre pensée se détache momentanément.

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Erscheint sympathie als compassion mit den Leidenden in einem positiven Licht, so sympathie als complicité mit der das Leiden verursachenden Instanz (hier der Natur) in einem negativen, nämlich als Mittäterschaft und Mitschuld. Mag dieser Text aber auch für eine Erkundung des Wortfelds ergiebig sein, so wird man doch sagen müssen, dass er am Ende eigentümlich folgenlos bleibt. Das gilt einerseits für das textinterne Entwicklungspotential. Obwohl nämlich Bergson das Mitleid als Einfühlung und als »Bedürfnis, unseresgleichen zu helfen«, darstellt und obwohl er resümierend meint, eine Dynamik des Mitleids vom Widerwillen über Furcht und Mit-Leiden bis zur Demut aufgewiesen zu haben 85, bremst er in der hier zitierten Analyse genau diese Dynamik permanent aus: zunächst den Gedanken der Anteilnahme durch Verweis auf die viel näher liegende Option der Flucht; sodann die Möglichkeit tätiger Hilfe durch die Frage, ob sie nicht lediglich auf »schlauer Voraussicht« und Angst beruhe; schließlich das sich abzeichnende Wünschen des Leidens durch die Bemerkung, es sei dies »ein flüchtiger Wunsch, dessen Verwirklichung man kaum begehren würde«, durch die Vermutung, man wolle sich primär vom Verdacht der Komplizenschaft befreien, sowie durch den an Nietzsche gemahnenden Hinweis auf den »Reiz« des Leidens im Hinblick auf unser Selbstwertgefühl. Davon, dass es wirklich zu tätiger Hilfe oder gar zu gemeinsamem Widerstand gegen die Ursache des Leidens kommt, ist dagegen mit keinem Wort die Rede. Versucht man nun, durch Vergleich mit ähnlichen Textstellen zu prüfen, ob diese Sichtweise nicht auf einem Missverständnis beruht, so stößt man auf den zweiten Aspekt jener eigentümlichen Folgenlosigkeit. Sie betrifft das intertextuelle Entwicklungspotential. In keinem einzigen der späteren Texte Bergsons findet sich eine Passage, in der die hier zitierten Überlegungen ausgebaut oder auch nur aufgegriffen würden. Wenn das Wort pitié überhaupt auftaucht, dann in der Regel nur als Element in einer Liste von Gefühlen. 86 Und bezeichnend für die geringe Bedeutung des Mitleids bei Bergson 87 ist L’intensité croissante de la pitié consiste donc dans un progrès qualitatif, dans un passage du dégoût à la crainte, de la crainte à la sympathie, et de la sympathie ellemême à l’humilité. 86 Vgl. z. B. Anm. 77. 87 Wie wenig der Gedanke einer Entfaltung inneren Erlebens in äußere Praxis Bergson fremd, wie zentral er vielmehr für ihn war, lässt sich an zahlreichen Beispielen von Matière et mémoire (bon sens als Vermittlung von verträumter Innerlichkeit und 85

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der Umstand, dass in dem einzigen Text, in dem pitié und complicité noch einmal von strategischer Bedeutung sind, eine vollständige Umwertung der Werte vollzogen wird: Le rire schildert den Lachenden als jemand, der das (mögliche) Mitleid für den Ausgelachten unterdrückt und seine Komplizenschaft mit anderen Lachenden ostentativ zur Schau stellt. Wenden wir uns also diesem Werk zu.

5.3.2 Empathie 5.3.2.1 Die Dauer der Gesellschaft Im Gegensatz zu allen früheren und manchen späteren Werken Bergsons ist Le rire, so hat man gesagt 88, kein »psychologisches«, sondern ein »soziologisches« Werk. In der Tat fragt Bergson nicht, wie das Lachen im Individuum ausgelöst wird, und er bedient sich auch nicht der Introspektion. Er fragt vielmehr nach der Bedeutung des Lachens für die Gesellschaft, und er wertet allgemein verfügbares Material – von Anekdoten bis zu Komödien – aus. Gleichwohl empfiehlt Bergson seinen Lesern zu Beginn ein kleines Exerzitium: »Versuchen Sie für einen Augenblick, an allem, was gesagt und getan wird, Anteil zu nehmen; handeln Sie in der Vorstellung mit den Handelnden, empfinden Sie mit den Empfindenden, geben Sie Ihrer Sympathie die größtmögliche Ausdehnung: Sie werden sehen, dass die gleichgültigsten Dinge wie unter der Berührung eines Zauberstabs wichtig werden und dass ein dunkler Schatten über alles gleitet. Stellen Sie sich nun abseits und betrachten Sie das Leben als unbeteiligter Zuschauer: So manches Drama verwandelt sich in eine Komödie.« 89

unbedachtem Handeln) bis zu Les deux sources de la morale et de la religion (praktische Initiative als Kennzeichen wahrer Mystik) zeigen. Dies kann also nicht der Grund für die geringe Bedeutung des Mitleids sein. Eher schon wird man sie auf eine Ablehnung der hauptsächlich von Schopenhauer inspirierten Mitleidsethik zurückführen. 88 Billig[2005] 111 ff. 89 Essayez, un moment, de vous intéresser à tout ce qui se dit et à tout ce qui se fait, agissez, en imagination, avec ceux qui agissent, sentez avec ceux qui sentent, donnez enfin à votre sympathie son plus large épanouissemen : comme sous un coup de baguette magique vous verrez les objets les plus légers prendre du poids, et une coloration sévère passer sur toutes choses. Détachez-vous maintenant, assistez à la vie en spectateur indifféren : bien des drames tourneront à la comédie. – R 389 | 4 | 7

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Diese Vorübung macht deutlich, worauf es Bergson ankommt, wenn er von Sympathie – und es sei hier gleich gesagt: von einer neuen Form der Sympathie – im Bereich menschlichen Zusammenlebens spricht. Wer sie mitvollzieht, erfährt, dass sich diese Sympathie gleichsam an- und ausschalten, dass sie sich ausdehnen und einschränken lässt. Sympathie in dem hier gemeinten Sinne des Wortes ist demnach nicht (oder jedenfalls: nicht primär) eine Wirkung des »Gegenstandes« – als gäbe es Wesen, die per se Sympathie hervorrufen, und andere, die das nicht tun. Sympathie ist aber auch keine bloß subjektive, nachträgliche Zutat zu einer objektiven Wahrnehmung – als würde ein menschliches Individuum willkürlich diesem Gegenüber seine Sympathie zuwenden, sie jenem aber verweigern. Sympathie ist eine Haltung, ein Verhältnis und ein Sich-Verhalten zur Wirklichkeit – freilich eines, das zumindest innerhalb gewisser Grenzen bewusst ist und gesteuert werden kann. Dieses Verhältnis zeichnet sich durch Teilnahme und Anteilnahme aus. Von der Erfahrung des Anteil-nehmen-und-sich-entziehenKönnens her werden nun das Lachen und dessen Bedeutung verständlich. Bergson fasst nämlich das Lachen als Bestandteil eines umfassenderen Vorgangs auf, der aus mehreren Phasen wechselseitigen Sich-Entziehens (Isolation) und Anteil-Nehmens (Partizipation) besteht. Dieser Vorgang lässt sich durch eine aus vier Bildern bestehende Sequenz darstellen: • Um das Lachen verstehen zu können, schreibt Bergson, darf man es nicht als isoliertes Phänomen betrachten, sondern muss es in sein »natürliches Milieu« einordnen. 90 Dieses Milieu ist die menschliche Gesellschaft. Nur Menschen lachen. Nur über Menschen wird gelacht. Gelacht wird aber auch immer nur in einer Gruppe von Menschen. »Treffen sich zwei …« – so mögen Witze beginnen, aber keine vollständige Beschreibung einer Situation, in der gelacht wird. Das erste der vier Bilder zeigt deshalb stets eine aus mehreren Menschen bestehende Gruppe. Diese kann mit der Gesellschaft im strengen Sinne des Wortes zusammenfallen, bildet aber in der Regel nur einen Ausschnitt. Insofern die Menschen ihren Pour comprendre le rire, il faut le replacer dans son milieu naturel, qui est la société ; il faut surtout en déterminer la fonction utile, qui est une fonction sociale. […] Le rire doit répondre à certaines exigences de la vie en commun. Le rire doit avoir une signification sociale. – R 390 | 6 | 9

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alltäglichen Tätigkeiten nachgehen, kann man allerdings sagen, dass die Gruppe repräsentativ ist für die Gesellschaft als übergreifende Gesamtheit sich ergänzender Tätigkeiten. Das zweite Bild dagegen zeigt immer nur ein einzelnes Individuum. Auf den ersten Blick unterscheidet sich dieser Mensch nicht von den anderen. Er verrichtet die gewohnten und von ihm erwarteten Tätigkeiten, und er richtet sich dabei nach früher erworbenen, längst vertrauten, »in Fleisch und Blut übergegangenen« Handlungsmustern. Das funktioniert meist viele Jahre lang problemlos und zur allgemeinen Zufriedenheit. Irgendwann aber kann es geschehen, dass das gedankenlos wiederholte Muster auf eine Situation angewandt wird, auf die es nicht passt. Und just in diesem Augenblick schwenkt die Kamera auf das Individuum, dessen Handlungsweise in Widerspruch mit der gegebenen Situation geraten ist. Ich erinnere an den Zollbeamten 91, der vermutlich seit vielen Jahren in irgendeiner Hafenstadt klaglos und ohne Anlass zu Klagen zu geben seine Pflicht erfüllt hat. Eines Tages aber erscheinen diese Schiffbrüchigen. Sie kommen an Land, wie so viele andere Menschen zuvor, und deshalb stellt er ihnen die Frage, die er so vielen Menschen zuvor schon gestellt hat: Haben Sie etwas zu verzollen? Das Lachen ist die Antwort auf diesen Widerspruch zwischen Handlungsmuster und Situation. Das dritte Bild zeigt folglich die Lachenden, und zwar auf eine Weise, an der Bergson zweierlei wichtig findet: – Man lacht nicht allein. Dem ausgelachten Individuum steht nicht ein lachendes Individuum gegenüber, sondern die lachende Gruppe, zu der freilich das ausgelachte Individuum nun nicht mehr gehört. Das Lachen spaltet also die zuvor homogene Gruppe. Es trennt das ausgelachte Individuum vom lachenden Rest der Gruppe. Es isoliert das eine Individuum, aber es verbindet alle anderen Individuen in einer Weise, für deren Charakterisierung Bergson auf das uns bekannte Wort »Komplizenschaft« 92 zurückgreift. Kurz: Es schließt das ausgelachte Individuum aus der Gruppe aus.

Vgl. Abschnitt 2.3.2.2, S. 276. Si franc qu’on le suppose, le rire cache une arrière-pensée d’entente, je dirais presque de complicité, avec d’autres rieurs, réels ou imaginaires. – R 390 | 5 | 8

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Dazu passt, was Bergson die »Empfindungslosigkeit« bzw. »Gleichgültigkeit« der Lachenden, das »Verstummen-Lassen des Mitleids« 93 nennt. In dem Moment, in dem sie zu lachen beginnt, vollzieht die Gruppe jenes Umschalten in eine andere Haltung, dessen Vergegenwärtigung die von Bergson angeregte Vorübung dienen sollte. Die Lachenden ziehen die Sympathie vom Ausgelachten ab. Dass das vereinzelte Individuum zum Gegenstand des Lachens wird, ist ganz wörtlich zu verstehen: Es wird von der Gruppe letztlich mit jener gleichgültigen Haltung betrachtet, mit der man sich einem leblosen Ding zuwendet. 94 • Diese Haltung der Lachenden ist freilich nicht Ausdruck eines endgültigen, vernichtenden Urteils, sondern eine Erziehungsmaßnahme. Das Lachen soll durch die darin enthaltene Bedrohlichkeit dem gedankenlos, ja unbewusst handelnden Individuum die Differenz zwischen einem angemessenen und dem tatsächlichen Handeln zu Bewusstsein bringen, und es soll das Individuum zur Korrektur seiner Handlungsweise auffordern. Das Lachen ist also verbunden mit der Erwartung, dass das vierte und letzte Bild die Reintegration des zuvor ausgeschlossenen Individuums in die Gruppe zeigen kann. Diese Bilderfolge dürfte plausibel sein, und das dürfte auch daran liegen, dass wir den Vorgang, um den es hier geht, in früheren Kapitel bereits aus anderen Perspektiven beleuchtet haben. Und doch wird man sagen müssen, dass das, was hier geschildert wird, eine Überraschung darstellt. Man bedenke: Ein Mensch handelt gemäß den Normen, die in der Gesellschaft, zu der er gehört, gelten, aber er wird dafür ausgelacht. Und er wird nicht etwa deshalb ausgelacht, weil er unbeholfen und stümperhaft wie ein Anfänger handelt, sondern deshalb, weil er die geforderte Handlungsweise längst perfekt beherrscht und sie ihm zur Gewohnheit geworden ist. Noch überraschender: Die Instanz, die ihn auf das Unangemessene seines Handelns aufmerksam macht, ist nicht etwa – wie in Heideggers »Sein und Zeit« oder auch bei dem uns aus Kapitel 1 bekannten Philosophen – eine innere Stimme. Es ist noch nicht einmal ein guter Freund. Bergsons Insistieren Je ne veux pas dire que nous ne puissions rire d’une personne qui nous inspire de la pitié, par exemple, ou même de l’affection : seulement alors, pour quelques instants, il faudra oublier cette affection, faire taire cette pitié. – R 388 | 3 | 7 94 R 388–390 | 3–5 | 7–9 93

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darauf, dass das Lachen eine Gruppe von Lachenden erfordert, kann doch wohl nur bedeuten: Die im Lachen liegende Kritik zielt nicht darauf ab, den Standpunkt des Individuellen und Authentischen gegen den Standpunkt der Konvention stark zu machen. Die Kritik geht von der Gesellschaft aus, und sie will ein berechtigtes Interesse der Gesellschaft zur Geltung bringen. Das ist die erste Überraschung, die Le rire bereithält. Denn worin sollte das Interesse der Gesellschaft bestehen, wenn nicht darin, dass die Konventionen, auf die man sich geeinigt hat, allgemein befolgt werden? So jedenfalls wird der Sinn von Gesellschaft häufig verstanden, und so versteht ihn auch Bergson in seinen frühen Werken, insbesondere im Essai sur les données immédiates de la conscience: Das Zusammenleben in der Gesellschaft ist geprägt durch erstarrte Konventionen, und das moi social ist eine über dem lebendigen Tiefen-Ich liegende Schicht, die sich durch die Aneignung konventioneller Handlungsmuster gebildet hat. Gewiss, Bergsons Formulierung, das aus Gewohnheiten und Automatismen sich zusammensetzende Oberflächen-Ich sei Folge einer »übel verstandenen Erziehung« 95 lässt die Möglichkeit einer anders gearteten Erziehung offen, und die gymnasialen Festreden lassen Umrisse einer solchen Erziehung erkennen, aber der Gedanke einer nicht nur starre Handlungsmuster vermittelnden Erziehung hängt in der Luft, solange er nur auf die Authentizität, d. h. die Dauer des Tiefen-Ich gegründet wird und man nicht sieht, welches Interesse die Gesellschaft daran haben sollte. Ist es denn, so kann man fragen, nicht gleichsam ein ewiges Gesetz, dass die individuellen Interessen allgemeinen Regeln untergeordnet werden müssen, damit ein Zusammenleben möglich ist? Muss also nicht – und mag das »Unbehagen in der Kultur« noch so groß sein – jedes Individuum lernen, seine persönliche Perspektive mit derjenigen der Gesellschaft in Übereinstimmung zu bringen? Und muss deshalb die Gesellschaft nicht darauf bestehen, ihren Mitgliedern die geltenden Normen ein- und aufzuprägen? In Le rire nun zeigt Bergson, dass die menschliche Gesellschaft durchaus Interesse daran hat, ihre Mitglieder zu mehr als nur zu blindem Befolgen vorgegebener Normen zu erziehen. Die Gesellschaft, schreibt er zunächst etwas kryptisch, »will nicht nur leben, sie will gut leben«. Um dann zu erläutern: Jede menschliche Gesellschaft muss befürchten, dass die zu ihr gehörenden Individuen die 95

Vgl. Kap. 2, Anm. 259.

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endliche Menge von Aufmerksamkeit und Anstrengung, über die sie verfügen, den für ihr eigenes, privates Leben wesentlichen Problemen und Zielen zuwenden, sich im Hinblick auf das Zusammenleben aber mit dem »mühelosen Automatismus erworbener Gewohnheiten« begnügen. Geschieht dies, so kann die Gesellschaft nicht mehr erwarten als die Erhaltung eines bestehenden »Gleichgewichts« zwischen den Individuen. Aber sie erwartet mehr. Sie erwartet ein »immer feineres Gleichgewicht«, sie erwartet ein »fortwährendes Bemühen« der Individuen »um gegenseitige Anpassung«, sie erwartet, dass die individuellen Willensanstrengungen »immer exakter ineinandergreifen«. Kurz: Sie erwartet ein Streben statt bloßen Respekts für das Bestehende. 96 Besteht das Hauptziel der Gesellschaft nicht in einer bloßen Fortdauer des Erreichten, sondern in einer Vertiefung der Integration, dann ist aber jedes individuelle Verhalten, in dem sich lediglich gedankenloses Repetieren eines erlernten Musters zeigt, »der Gesellschaft verdächtig«, weil es auf eine »einschlafende« und »sich isolierende« Aktivität hindeutet, auf eine Aktivität, »die dazu tendiert, sich von dem Zentrum, um das die Gesellschaft gravitiert, zu entfernen«, also auf eine »Exzentrizität«. Das bedeutet im Hinblick auf die vier Bilder, in denen sich der Kontext des Lachens darstellen lässt: Man darf das dritte Bild nicht so verstehen, als würden die übrigen Mitglieder der Gruppe die ausgelachte Person aus Bosheit oder auch nur aus eigener Initiative isolieren. Die »Initiative« geht hier gar nicht von der Gruppe aus. Die (Rest-)Gruppe reagiert vielmehr nur darauf, dass sich eines ihrer Mitglieder selbst isoliert, indem es sich vom gemeinsamen Streben abkoppelt und meint, ein »Dienst nach Vorschrift« sei genug. Das Lachen soll dem betroffenen Individuum zeigen, dass dies eine Fehleinschätzung ist. Es soll ihm bewusst machen, Mais la société demande autre chose encore. Il ne lui suffit pas de vivre ; elle tient à vivre bien. Ce qu’elle a maintenant à redouter, c’est que chacun de nous, satisfait de donner son attention à ce qui concerne l’essentiel de la vie, se laisse aller pour tout le reste à l’automatisme facile des habitudes contractées. Ce qu’elle doit craindre aussi, c’est que les membres dont elle se compose, au lieu de viser à un équilibre de plus en plus délicat de volontés qui s’inséreront de plus en plus exactement les unes dans les autres, se contentent de respecter les conditions fondamentales de cet équilibre : un accord tout fait entre les personnes ne lui suffit pas, elle voudrait un effort constant d’adaptation réciproque. Toute raideur du caractère, de l’esprit et même du corps, sera donc suspecte à la société, parce qu’elle est le signe possible d’une activité qui s’endort et aussi d’une activité qui s’isole, qui tend à s’écarter du centre commun autour duquel la société gravite, d’une excentricité enfin. – R 395 f. | 14 f. | 16 f.

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dass es im Begriff ist, sich zu isolieren. Es soll ihm zeigen, wohin die Fortsetzung seines Weges führen würde. Vor allem aber soll es ihm zeigen, dass es nicht wesentlich Individuum und nebenher auch noch Mitglied in einer Gesellschaft, dass es vielmehr als Individuum organischer Bestandteil einer Gesellschaft ist – oder doch jedenfalls sein sollte. Wenn aber das gleichförmige Wiederholen des Eingeübten als Sich-Abkoppeln, wenn der Stillstand als Sich-Entfernen von der Gesellschaft gedeutet wird, dann muss die Gesellschaft in Bewegung sein. In der Tat scheint mir das der neue Gedanke zu sein, den Bergson mit Le rire ins Spiel bringt und danach weiter ausarbeitet. 97 Dabei werden die früheren Überlegungen nicht völlig verworfen. Es bleibt dabei, dass Denk- und Handlungsmuster erstarren und zu Automatismen werden können. Es bleibt auch dabei, dass ein freies, um Authentizität bemühtes Individuum in Gegensatz zu den geltenden Normen geraten kann. 98 Zugleich aber erschließt Bergson Zug um Zug eine Dimension, in der gilt, dass das Individuum auf die Gesellschaft und die Gesellschaft auf die Individuen angewiesen ist. Nur verbirgt sich in diesem »Zugleich« das für jede menschliche Gesellschaft wesentliche und unvermeidliche Problem, dass sie eine »Gesellschaft der Individuen« ist. In Bezug auf einzelne Tiere kann der Begriff »Individuum« nur in einem weiten Sinne angewendet werden, da sie – man denke an den Polymorphismus – schon von ihrer natürlichen Ausstattung her in ein übergreifendes Ganzes eingepasst sind. Menschen sind in einem sehr viel strengeren Sinne Individuen, d. h. selbständige Ganzheiten. Daraus aber entspringt die menschlichen Gesellschaften eigentümliche Schwierigkeit, dass die »WirIch-Balance« 99 nicht mehr vorab garantiert ist. Das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen »ist voll von Widersprüchen, von Spannungen und Explosionen« 100. In einem gewissen Sinne ist die menschliche Gesellschaft also unvollkommener, als es tierische GeDie wichtigsten Stufen der weiteren Ausarbeitung sind (a) das Konzept einer »fortschreitenden und dennoch stets im Gleichgewicht befindlichen Gesellschaft« in L’évolution créatrice [vgl. Anm. 102] sowie (b) das Konzept der »offenen Gesellschaft« in Les deux sources de la morale et de la religion. 98 Das wird im dritten Kapitel von Le rire deutlich, wenn Bergson die Komödie mit dem Drama vergleicht und im Drama die Darstellung eines authentischen individuellen Strebens sieht, das mit der Gesellschaft in Konflikt gerät. 99 Elias[2001] 12 100 Elias[2001] 29 97

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meinschaften sind. Aber eben weil sie unvollkommen sind, können sie sich mit dem erreichten status quo nicht zufriedengeben, sondern müssen bestrebt sein, die Integration zu vervollkommnen: »Daher gibt es im gesamten Bereich des Lebens ein Schwanken zwischen Individuation und Assoziation. Individuen treffen in einer Gesellschaft zusammen. Aber die Gesellschaft, kaum dass sie gebildet ist, möchte die zusammengetroffenen Individuen zu einem neuen Organismus verschmelzen, um selbst ein Individuum zu werden, das seinerseits integraler Bestandteil einer neuen Vereinigung sein könnte.« 101 »Diesen Eindruck gewinnen wir, wenn wir zum Beispiel die Gesellschaften der Bienen und Ameisen mit den menschlichen Gesellschaften vergleichen. Jene sind in bewundernswerter Weise diszipliniert und einig, aber starr; diese sind für jeden Fortschritt offen, aber gespalten und in unaufhörlichem Kampf mit sich selbst. Das Ideal wäre eine stets voranschreitende und [dennoch] stets im Gleichgewicht befindliche Gesellschaft, aber dieses Ideal lässt sich vielleicht nicht verwirklichen […].« 102

Tierische Gemeinschaften sind gleichsam »von oben« her gestaltet. Maßgeblich ist der Entwurf des Ganzen. Natürlich können auch diese Gemeinschaften nicht existieren ohne die Existenz und die Aktivitäten der tierischen Individuen. Aber die Individuen werden von der Natur so gestaltet, dass sie immer schon in den Gesamtentwurf eingefügt sind, und deshalb können sowohl der Entwurf des Ganzen als auch die Individuen über lange Zeiträume hinweg unverändert bleiben. Menschlichen Gesellschaften fehlt diese »prästabilierte Harmonie«. Einerseits werden sie »von unten« her gestaltet, insofern sich in ihnen selbständige Individuen zusammenfinden. Was die Gesellschaft ist und wie sie funktioniert, hängt also immer von den beteiligten Individuen ab. Andererseits ist auch eine menschliche Gesellschaft mehr als nur die Summe der individuellen Meinungen und

101 De là, dans tout le domaine de la vie, un balancement entre l’individuation et l’association. Les individus se juxtaposent en une société ; mais la société, à peine formée, voudrait fondre dans un organisme nouveau les individus juxtaposés, de manière à devenir elle-même un individu qui puisse, a son tour, faire partie intégrante d’une association nouvelle. – EC 714 f. | 259 f. | 263 102 Nous avons cette impression quand nous comparons les sociétés d’Abeilles ou de Fourmis, par exemple, aux sociétés humaines. Les premières sont admirablement disciplinées et unies, mais figées ; les autres sont ouvertes à tous les progrès, mais divisées, et en lutte incessante avec elles-mêmes. L’idéal serait une société toujours en marche et toujours en équilibre, mais cet idéal n’est peut-être pas réalisable […]. – EC 580 | 101 f. | 106

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Handlungen. Auch sie ist eine Realität sui generis. Aber was heißt das? Was für eine Realität ist die Gesellschaft? Mehr und mehr bewegen wir uns auf die Einsicht zu, dass Bergsons Philosophie eine Ontologie einschließt, die zwei grundsätzlich verschiedene Arten von Seienden kennt: Da gibt es einerseits die Dinge im Raum, andererseits die Verläufe oder Prozesse, d. h. die Dauern. Nun spricht wenig dafür, dass man der Sache gerecht wird, wenn man eine menschliche Gesellschaft als ein Ding im Raum betrachtet. Soll man also sagen, dass eine menschliche Gesellschaft eine Dauer hat – oder vielmehr, dass sie eine Dauer ist? Genau das ist die neue These, die Bergson in Le rire erstmals zur Sprache bringt. Nicht nur dem Ich kommt eine Dauer zu. Das gilt auch für die Anderen. Und es gilt schließlich sogar für die Gesellschaft als ganze. Der Gesellschaft ist eine eigenständige Dauer zuzusprechen, die nicht mit der Dauer eines einzelnen Individuums und auch nicht mit der Dauer aller Individuen zusammenfällt. Die Frage, wie sich eine derartige Auffassung rechtfertigen lässt, soll hier noch nicht untersucht werden. Zur Debatte stehen im Moment lediglich die Konsequenzen für die Mitglieder der Gesellschaft. Beginnen wir mit dem, was Bergson in der zweiten zitierten Passage als »Ideal« bezeichnet. Es lässt sich recht gut am Beispiel eines im Flug begriffenen Vogelschwarms veranschaulichen: Man kann den Schwarm als ganzen betrachten, seine Flugroute beschreiben, und man kann in diesem Zusammenhang sagen, dass der Schwarm seine Richtung geändert hat. Einen derartigen Gesamteindruck erhält man allerdings nur dann, wenn sämtliche Mitglieder des Schwarms gleichzeitig und in einer koordinierten Weise ihre Flugrichtung verändern. Nun ist auch eine menschliche Gesellschaft gewissermaßen im Fluge, d. h. in Bewegung und Veränderung begriffen, und auch hier bestünde das Ideal darin, dass eine Veränderung der Gesellschaft sofort durch jedes einzelne Individuum in eine entsprechende Änderung seines Denkens und Verhaltens umgesetzt wird. Man könnte dann sagen, dass menschliche Gesellschaften sich zwar von tierischen Gemeinschaften dadurch unterscheiden, dass sie in ständiger Veränderung begriffen sind, dass aber auch bei ihnen eine Harmonie zwischen dem übergeordneten Entwurf und dem Handeln der Individuen besteht. Soweit das Ideal. Die Praxis sieht, wie man weiß, etwas anders aus, und als einen Grund dafür haben wir hier die Neigung der Individuen zu gedankenloser Anwendung erlernter Handlungsmuster 618 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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kennengelernt. Aber selbst wenn man unterstellt, dass alle Mitglieder der Gesellschaft zu flexiblerem Handeln bereit sind, so folgt daraus weder, dass ihnen die Gesellschaft als Totalität, noch gar, dass ihnen die Bewegungsrichtung dieser Totalität bewusst ist. Bergson spricht denn auch in Le rire nicht davon, dass die Individuen aufgefordert sind, sich der Gesellschaft anzupassen. Das Lachen kritisiert die fehlende Aufmerksamkeit den Anderen gegenüber. Es zielt darauf ab, der ausgelachten Person in Erinnerung zu rufen, dass sie nicht allein ihren Weg geht, dass sie begleitet wird und begleiten soll. Kurz: Es zielt darauf ab, die ausgelachte Person zu einer »Anstrengung der Sympathie« 103 zu ermuntern, weil eine menschliche Gesellschaft ohne Sympathie – und das heißt hier: ohne ein Sich-Einfühlen in und ein Sich-Abstimmen mit den Anderen – zwar »leben«, aber nicht »gut leben« kann. Halten wir als wesentliche Merkmale dieser Skizze einer neuen, von der Solidarität sich absetzenden Stufe der Sympathie fest: (1) Es bleibt dabei, dass auch Menschen immer schon und notwendigerweise in einem übergreifenden Ganzen, der Gesellschaft, leben. (2) Allerdings wird die Gesellschaft nun nicht mehr statisch, sondern dynamisch gedacht. Als Garanten für den Zusammenhalt der Gesellschaft genügen deshalb die fertig vorgegebenen Handlungsmuster nicht mehr. (3) Zugleich kommen die Mitglieder der Gesellschaft als Individuen mit eigenen Interessen in den Blick. Soll das Zulassen der Individualität die Gesellschaft nicht zerstören, so ist ein Kontakt zwischen den je ihrer eigenen Bewegungsrichtung folgenden Individuen notwendig. (4) Das einfühlende Sich-Anpassen charakterisiert die neue Stufe der Sympathie. (5) Diese Form der Sympathie soll kein plötzlich und kurzzeitig auftretender Zustand, sondern eine über lange Zeit sich erstreckende, ja eine permanente Haltung sein. (6) Diese Form der Sympathie soll weiterhin nicht – wie etwa das Mitleid eines Gesunden für einen Kranken – ein einseitiges Verhältnis zwischen ungleichen Partnern sein, sondern auf Gegenseitigkeit beruhen 104, denn nur so können ein immer besseres Ausbalancieren und eine

103 Die Formel effort de sympathie kommt in Le rire noch nicht vor, sondern erst in L’évolution créatrice (vgl. Kap. 3, Anm. 180). Formulierungen wie un effort constant d’adaptation réciproque (vgl. Anm. 96) bezeichnen jedoch mit anderen Worten die gleiche Sache. 104 compénétration réciproque – EC 646 | 179 | 182

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immer stärkere Integration der individuellen Willensrichtungen erreicht werden. Ich hatte in Abschnitt 5.3.1 die unterste Stufe der Sympathie im Bereich menschlichen Zusammenlebens anhand von Bergsons Gebrauch des Wortes solidarité erörtert und als umfassende Bezeichnung dafür den Begriff Hierarchie vorgeschlagen. Auf jener Stufe hat man es – wie im Bereich instinktgesteuerten tierischen Verhaltens – mit »von oben« gestalteten Gesellschaften zu tun, insofern die vorgegebenen Verhaltensmuster den Individuen übergeordnet sind und von ihnen in der Regel nicht verstanden werden. Man könnte auch sagen: Die Verhaltensmuster sind dem lebensweltlichen Verhalten und Verstehen der Individuen transzendent. Will man sich auf diese Formulierung einlassen, dann kann man weiterhin sagen: Auf der zweiten, hier zur Diskussion stehenden Stufe wird – in einer typisch lebensphilosophischen Operation 105 – die Transzendenz als solche beseitigt, dabei aber nicht die restlose Vernichtung, sondern das Hineinziehen der Transzendenz in die Immanenz (als »relative Transzendenz«) angestrebt. Aus dieser Operation resultiert zunächst das Konzept einer »von unten« gestalteten Gesellschaft, d. h. einer »Gesellschaft der Individuen«, die durch stetigen Kontakt untereinander den Zusammenhalt sicherstellen. Da der gegenseitige Kontakt von Bergson als Sich-Hineinversetzen, Sich-Einfühlen und Sich-Anpassen beschrieben wird, schlage ich als umfassende Bezeichnung für diese zweite Stufe der Sympathie den Begriff Empathie 106 vor. Wir werden demnach Bergsons Konzept der Empathie genauer zu untersuchen haben. Dabei werden wir einerseits verschiedene Erscheinungsformen der Empathie betrachten und die von Bergson dafür verwendeten Bezeichnungen dem Wortfeld »Sympathie« einreihen. Andererseits werden wir zu prüfen haben, ob es der Empathie Vgl. Abschnitt 2.2.3, S. 220. Bergson selbst verwendet das Wort »Empathie« nicht. In den Texten findet man einerseits stufenübergreifende Worte wie sympathie oder s’insérer, die uns hier nicht weiterhelfen, da wir eine stufenspezifische Bezeichnung suchen. Und man findet andererseits auf Einzelphänomene der zweiten Stufe beschränkte Bezeichnungen (wie etwa das im nächsten Abschnitt zu erörternde Wort camaraderie), die sich nicht als Bezeichnungen für die Stufe in ihrer Gesamtheit eignen. Wenn ich nachfolgend die Worte »Einfühlung« und »Empathie« verwende, so möchte ich also einerseits dem Mangel einer übergreifenden Bezeichnung abhelfen, andererseits aber auch Bergson an die gesamte Theorie der und Diskussion über Einfühlung anschließen. Zur Berechtigung eines derartigen Anschlusses vgl. Abschnitt 5.3.2.6, S. 649 ff., insbesondere Anm. 161. 105 106

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nach Bergsons Auffassung gelingt, das angestrebte Ziel einer Neubegründung menschlichen Zusammenlebens zu erreichen. 5.3.2.2 Kameradschaft Dass man eine menschliche Gesellschaft nicht nur als starres System von Normen, sondern auch als ein »Lebewesen« mit einer ihm eigentümlichen Dauer betrachten kann, ist die erste Überraschung, die Le rire zu bieten hat. Aber es ist durchaus nicht die einzige. Auf eine weitere überraschende Auskunft stoßen wir, wenn wir nun fragen, was eigentlich das Lachen bei der ausgelachten Person bewirkt. Wir wissen, dass es eine Änderung der Einstellung und des Verhaltens erreichen will – aber wie genau soll sich das vollziehen? In einer Passage, in der sich Bergson mit dieser Frage beschäftigt, geht er von dem bereits erwähnten Umstand aus, dass es verschiedenartige Konflikte zwischen Individuum und Gesellschaft gibt. Die eine Art entspringt daraus, dass ein Individuum nicht gemäß den geltenden Normen handeln kann, wenn es sich selbst treu bleiben, d. h. authentisch handeln will. Derartige Konflikte sind nach Bergsons Auffassung Gegenstand der Tragödie. Die andere Art entspringt daraus, dass ein Individuum die »Anstrengung der Sympathie« vermeiden und sich mit einer oberflächlichen Beachtung der Normen begnügen will. Die daraus entspringenden Missgriffe sind Gegenstand der Komödie. Und nun schreibt Bergson: »Eine Person in der Tragödie würde ihr Betragen nicht ändern, nur weil sie erführe, wie wir es beurteilen. Sie könnte dabei bleiben, auch bei vollem Bewusstsein davon, was sie ist, auch bei einem deutlichen Gefühl des Schreckens, den sie uns einflößt. Ein lächerliches Fehlverhalten dagegen ist, sobald es sich als lächerlich empfindet, bestrebt, sich zu verändern – zumindest äußerlich. Wenn Harpagon uns über seinen Geiz lachen sähe, würde er – ich sage nicht: ihn ablegen, aber ihn uns doch weniger offen oder auf eine andere Art zeigen. Sagen wir also, dass vor allem in diesem Sinne ›das Lachen die Sitten geißelt‹. Es bewirkt, dass wir sofort versuchen, das zu scheinen, was wir sein sollten und was wir ohne Zweifel eines Tages wirklich sein werden.« 107 107 Un personnage de tragédie ne changera rien à sa conduite parce qu’il saura comment nous la jugeons ; il y pourra persévérer, même avec la pleine conscience de ce qu’il est, même avec le sentiment très net de l’horreur qu’il nous inspire. Mais un défaut ridicule, dès qu’il se sent ridicule, cherche à se modifier, au moins extérieurement. Si Harpagon nous voyait rire de son avarice, je ne dis pas qu’il s’en corrigerait,

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Das Lachen führt zu einer Änderung des Verhaltens. Dabei ist nicht sichergestellt, dass diese Veränderung wirklich »von innen« (bzw. aus der Tiefe) kommt. Es kann sich auch um eine ganz äußerliche (oberflächliche) Änderung des Verhaltens handeln, der gar keine Änderung der Gesinnung entspricht. Und nun sagt Bergson: Das macht nichts. Darüber müssen wir uns nicht aufregen, denn die bloß scheinbare Änderung wird eines Tages zu einer Änderung des Seins führen. Nun müssen wir uns über diese Einschätzung aber sehr wohl wundern, denn sie entspricht so gar nicht dem Muster, das wir bisher überall vorgefunden haben. Erinnern wir uns etwa an Bergsons Theorie des Verstehens von Texten: Dieses darf man sich, so hatte er betont, keinesfalls so vorstellen, als würde der Sinn durch die Worte – also äußerlich – vermittelt. Vielmehr beginnt das Verstehen mit einem eigenen – also inneren – Sinnentwurf, und von diesem aus erst erschließt der Hörer/Leser den Sinn der Sätze und der Worte. Nun aber scheint Bergson zu sagen: »Sprecht einstweilen die Formeln nach, die man Euch vorspricht. Der Sinn wird sich dann irgendwann einstellen.« Kann das sein Ernst sein? Einerseits ist es von Bergson durchaus nicht so gemeint. Denn es spricht ja niemand der ausgelachten Person irgendetwas vor. Schon das lächerliche Verhalten ist bei Bergson oft ein sprachloses Verhalten 108, und wenn – wie im Beispiel des Zollbeamten – doch gesprochen wird, so handelt es sich um ein uneigentliches, formelhaftes und gedankenloses Sprechen. Vor allem aber ist das Lachen eine Äußerung, die mit der Wortsprache nichts zu tun hat. Das Lachen unterscheidet sich zwar von der inneren Stimme (des Philosophen) dadurch, dass es nicht von innen, sondern von außen – von den Anderen – kommt, ansonsten aber gleicht es ihr in vielfacher Hinsicht: Es ist eine kritische Äußerung (»Unmöglich!«), es beschränkt sich auf Kritik, und es macht keinerlei positive Aussagen oder gar Vorschriften. Die betroffene Person kann also aus dem Lachen nur entnehmen, dass das von ihr gezeigte Verhalten für die Gesellschaft nicht akzeptabel ist. Sie erhält aber keinerlei Informationen darüber, wie sie stattdessen handeln sollte.

mais il nous la montrerait moins, ou il nous la montrerait autrement. Disons-le dès maintenant, c’est en ce sens surtout que le rire « châtie les mœurs ». Il fait que nous tâchons tout de suite de paraître ce que nous devrions être, ce que nous finirons sans doute un jour par être véritablement. – R 394 f. | 13 | 15 108 Billig[2005] 135 ff.

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Wenn nun die ausgelachte Person – und sei es auch nur zum Schein – ihr Verhalten ändert, so kann die Gesellschaft daraus zwei hoffnungsvoll stimmende Schlussfolgerungen ziehen: Zum einen zeigt das bloße Faktum der Verhaltensänderung, dass das Ausgelacht-Werden dem betreffenden Individuum nicht gleichgültig ist. Es hat sich also innerlich nicht ernsthaft von der Gemeinschaft losgelöst. Zum anderen aber muss dieses Individuum sich in den Standpunkt der Anderen hineinversetzen, sich selbst aus deren Perspektive betrachten und sich fragen, was die Anderen denn eigentlich erwarten, um nicht einfach auf gut Glück irgendeine Handlungsalternative zu ersinnen, sondern eine, die Aussicht auf die Zustimmung der Anderen hat. Selbst wenn diese Handlungsalternative anschließend ohne Überzeugung und Begeisterung in die Tat umgesetzt wird, ist also eine »Anstrengung der Sympathie« erforderlich, um eine sinnvolle, der Situation besser angemessene Handlungsweise entwerfen zu können. Selbst eine solch lustlose Betätigung der Sympathie ist eine Pflege, eine Übung der Sympathie. Sie sorgt dafür, dass die Fähigkeit zu einfühlendem Sich-Anpassen nicht vollends einschläft. Und genau das führt Bergson zu der Einschätzung, dass die anfangs noch etwas schläfrige Sympathie zu einem späteren Zeitpunkt vollständig erwachen könnte. Aber es ist hier noch ein anderer Gesichtspunkt zu erwähnen. Prüft man nämlich, ob dieser Gedanke des Anfangens beim Äußerlichen eine nur in Le rire anzutreffende Besonderheit darstellt oder ob er sich auch in anderen Texten und Kontexten nachweisen lässt, so fördert man einerseits einen recht umfangreichen und wichtigen Theoriestrang zutage, der letztlich um die Fragen der Lehrbarkeit von Tugenden und des Sinnes von Erziehung kreist, andererseits einen neuen Teilbereich des Wortfeldes »Sympathie«, auf den Bergson zurückgreift, wenn es gilt, jene zweite, von der Solidarität sich absetzende Stufe der Sympathie zu beschreiben, die hier im Mittelpunkt unseres Interesses steht. Im Hinblick auf diese beiden Aspekte möchte ich zunächst das Wort camaraderie 109 betrachten. Diesem Wort begegnet der Leser von Le rire gleich zu Beginn des ersten Kapitels. Bergson erklärt dort, er habe nicht die Absicht, eine (starre) Definition des »Komischen« zu liefern. Er betrachte das Komische als »etwas Lebendiges« und beabsichtige deshalb, »zuzu109 Darauf, dass das Wort camaraderie in den Kontext des Sympathie-Problems gehört, hat bereits Lapoujade hingewiesen (Lapoujade[2007] 430 = Lapoujade[2010] 54).

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sehen«, wie es, von einem ursprünglichen Impuls ausgehend, »wächst und sich entfaltet«, »von Form zu Form« sich entwickelt. 110 Und Bergson fügt hinzu: »Vielleicht vermittelt uns dieser fortwährende Kontakt etwas Geschmeidigeres als eine theoretische Definition – eine praktische und intime Kenntnis, wie sie sich aus einer langen Kameradschaft ergibt.« 111

Das Bild der Kameradschaft ist offenkundig dem alltäglichen sozialen Leben entnommen. Da das deutsche Wort »Kameradschaft« zweideutig ist, gilt es zunächst einmal festzuhalten, dass das Wort camaraderie nicht eine organisierte Gruppe bezeichnet, sondern eine Aktivität bzw. eine die Aktivität prägende Haltung. Bergson verwendet deshalb auch alternativ die Wendung »[jemanden] als Kameraden behandeln« (traiter en camarade). Gemeint ist also ein kameradschaftliches Verhalten zwischen Menschen. Damit ist klar, warum camaraderie in das Wortfeld »Sympathie« gehört. Eine der Besonderheiten, durch die es sich bei Bergson von verwandten Worten – und hier insbesondere von dem Wort solidarité – abhebt, besteht darin, dass es sehr stark dazu tendiert, ein besonderes Verhältnis zwischen zwei Menschen, d. h. zwischen zwei Individuen zu bezeichnen. Die in dem Wort liegende Betonung einer konkreten Zweierbeziehung erklärt vermutlich auch eine auffallende Lücke in der Reihe der »Objekte«, die als Kamerad behandelt werden können. Mag nämlich der Begriff auch ursprünglich nur das Verhältnis zwischen zwei Menschen bezeichnen, so nimmt Bergson, wie die Belege 112 zeigen, noch mancherlei Anderes in den Bereich möglicher Gegenstände auf. 110 Notre excuse, pour aborder le problème à notre tour, est que nous ne viserons pas à enfermer la fantaisie comique dans une définition. Nous voyons en elle, avant tout, quelque chose de vivant. Nous la traiterons, si légère soit-elle, avec le respect qu’on doit à la vie. Nous nous bornerons à la regarder grandir et s’épanouir. – R 387 | 2 | 5 111 Peut-être gagnerons-nous d’ailleurs à ce contact soutenu quelque chose de plus souple qu’une définition théorique, – une connaissance pratique et intime, comme celle qui naît d’une longue camaraderie. – R 387 | 2 | 5 112 In keiner Ausgabe, sei es nun der publizierten oder der nicht publizierten Werke Bergsons haben die Herausgeber das Wort camaraderie für würdig befunden, in den Index aufgenommen zu werden. Ich führe deshalb hier einige mir wichtig erscheinende Belege an: [B1] La nature procède par suggestion comme l’art, mais ne dispose pas du rythme. Elle y supplée par cette longue camaraderie que la communauté des influences subies a créée entre elle et nous, et qui fait qu’à la moindre indication d’un sentiment nous sympathisons avec elle, comme un sujet habitué obéit au geste du magnétiseur. – DI 14 f. | 12 | 19

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Dass das Lachen, als sich entwickelndes Lebewesen betrachtet, kameradschaftlich begleitet werden kann, haben wir bereits dem angeführten Zitat aus Le rire entnommen. In anderen Texten können dann aber auch von der Natur oder vom Menschen verursachte Ereignisse (Erdbeben, Krieg) [B4] 113, ja die Natur insgesamt [B1,B2] zu Kameraden werden. Mir ist allerdings kein Beleg bekannt, in dem diese Rolle der Gesellschaft als ganzer zugesprochen würde. Was das Subjekt der Kameradschaft betrifft, so ist prinzipiell von einer Gegenseitigkeit auszugehen. 114 Während andere Verhältnisse ein Herrschen und Gehorchen voraussetzen, basiert Kameradschaft auf der Vorstellung der Gleichrangigkeit [B5]. Selbst da, wo – wie im Falle einer ausgelachten Person – eine gewisse Unterlegenheit objektiv gegeben ist, führt die kameradschaftliche Haltung gerade zu einer Anerkennung des Anderen als eines gleichartigen und gleichberechtigten Wesens [B3]. Dennoch kommt es vor, dass das Subjekt von Bergson explizit hervorgehoben wird, so etwa das (künstlerische) Genie [B2] oder der Philosoph [B5,B6]. Und es sind vor allem diese Fälle, die uns hier interessieren müssen, weil sie zeigen, dass die Kameradschaft eine gewisse methodologische Rolle im Rahmen von Bergsons Philosophie spielt. Prüft man die Belege unter diesem Gesichtspunkt, so wird zwei[B2] Si le génie devine la nature, c’est qu’il a vécu dans une étroite camaraderie avec elle. – Mél. 362 | Écr. 155 [B3] Le personnage comique est souvent un personnage avec lequel nous commençons par sympathiser matériellement. Je veux dire que nous nous mettons pour un très court instant à sa place, que nous adoptons ses gestes, ses paroles, ses actes, et que si nous nous amusons de ce qu’il y a en lui de risible, nous le convions, en imagination, à s’en amuser avec nous : nous le traitons d’abord en camarade. – R 480 | 148 | 130 [B4] Les perturbations auxquelles nous avons affaire, et dont chacune est toute mécanique, se composent en un Événement qui ressemble à quelqu’un, qui peut être un mauvais sujet mais qui n’en est pas moins de notre monde, pour ainsi dire. Il ne nous est pas étranger. Une certaine camaraderie entre lui et nous est possible. – DS 1108 | 164 | 123 [B5] Tandis que le savant […] est obligé de ruser avec la nature, d’adopter vis-à-vis d’elle une attitude de défiance et de lutte, le philosophe la traite en camarade. La règle de la science est celle qui a été posée par Bacon : obéir pour commander. Le philosophe n’obéit ni ne commande il cherche à sympathiser. – PM 1362 | 139 | 145 [B6] Car on n’obtient pas de la réalité une intuition, c’est-à-dire une sympathie spirituelle avec ce qu’elle a de plus intérieur, si l’on n’a pas gagné sa confiance par une longue camaraderie avec ses manifestations superficielles. – PM 1432 | 226 | 225 113 Die Nummern beziehen sich auf die in Anm. 112 angeführten Belege. 114 Siehe aber die einschränkenden Bemerkungen in Abschnitt 5.3.2.6, S. 649.

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erlei deutlich. Zum einen ist das kameradschaftliche Verhältnis zu einem Gegenüber ein Vorgang, der sich über eine lange Zeit erstreckt. Das Substantiv camaraderie wird oft von einem Adjektiv begleitet, und in der Mehrzahl der Fälle ist dies das Adjektiv longue [B1,B6]. Die Kameradschaft darf keine nur kurzzeitige sein, wenn sie ihre spezifische Leistung erbringen soll. In der zitierten Passage aus dem ersten Kapitel von Le rire wird dies noch zusätzlich unterstrichen durch die parallele Formulierung »fortwährender Kontakt« – eine Formulierung, angesichts derer man sich an Bergsons Rede vom »häufig wiederholten Kontakt« mit den Texten eines Philosophen 115 erinnert fühlen mag. Das zweite wichtige Merkmal ist, wenn man es negativ formulieren will, eine gewisse Äußerlichkeit und Oberflächlichkeit. Positiv formuliert, ist eine vorbereitende Rolle zu erkennen: »Denn man erhält von der Wirklichkeit keine Intuition, d. h. keine geistige Sympathie mit ihrem innersten Wesen, wenn man nicht durch eine lange Kameradschaft mit ihren oberflächlichen Bekundungen ihr Vertrauen gewonnen hat.« [B6]

Liest man diesen Satz im Zusammenhang, so stellt man fest, dass Bergson die methodische Relevanz der Kameradschaft zum Ausdruck bringt, indem er sie mit dem Sammeln von Material vergleicht. Auch in dieser Hinsicht kann man wieder an das oberflächliche Lesen und Vergleichen erinnern, mit dem laut L’intuition philosophique das Studium philosophischer Texte beginnt. Und wie dort der Leser nicht auf der Ebene der Begriffe und Denkfiguren stehenbleiben, sondern zum vermittelnden Bild und zur Intuition aufsteigen soll, so stellt auch hier das kameradschaftliche Zusammenleben als Form der Sympathie eine Vorstufe dar für die Intuition als höhere Stufe der Sympathie: Die lange Kameradschaft »macht«, dass wir den kleinsten vom Gegenüber empfangenen Hinweis richtig zu deuten und darauf angemessen zu reagieren verstehen [B1]. Das gleiche Verhältnis finden wir in [B2], wo Bergson die dem Genie zugesprochene Fähigkeit eines ahnenden Verstehens der Natur (deviner) darauf zurückführt, dass es zuvor in einer »engen Kameradschaft« mit dieser gelebt habe. Nun gleichen sich die beiden Fälle, die ich hier zusammengestellt habe, zwar darin, dass sie eine gewisse oberflächliche und vorläufige Verfahrensweise beschreiben, aber sie sind offenkundig nicht iden115

Vgl. Kap. 1, Anm. 32.

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tisch. Bemühen wir uns, den Unterschied präzise zu erfassen: Er besteht nicht darin, dass bei der ausgelachten Person ein oberflächliches Handeln, in der Kameradschaft dagegen ein oberflächliches Verstehen zu beobachten wäre. Auch die Kameradschaft zielt letztlich auf gemeinsame Praxis ab. Der Unterschied besteht auch nicht darin, dass die oberflächlich handelnde Person als (freilich Probleme bereitendes) Objekt, die Kameradschaft anstrebende Person dagegen als Subjekt des Verstehens aufzufassen wäre. Auf der Basis unserer Analyse der camaraderie lässt sich der Unterschied vielmehr so formulieren: Die ausgelachte Person ist durch das Lachen zum Kontakt mit und zum einfühlenden Sich-Anpassen an die Anderen, d. h. zu einer einmaligen Verhaltensänderung genötigt worden. Aber sie hofft, dass die Angelegenheit damit erledigt ist. Die »Anstrengung der Sympathie«, die sie sich (nach unserer ersten Formulierung) ersparen möchte, ist (wie sich nun zeigt) gerade diejenige einer langen Kameradschaft, eines immer wieder neuen, und das heißt letztlich: eines dauerhaften Kontakts mit den Anderen. So gesehen, lässt sich sagen, dass das Verhalten der ausgelachten sowie der kameradschaftlich handelnden Person zwei Unterformen der Empathie darstellen. Dabei ist das Verhalten der ausgelachten Person offenkundig als die niedrigere, weniger entwickelte Unterform zu bewerten, insofern sie versucht, mit dem geringstmöglichen Aufwand an Empathie auszukommen. Das Oberflächliche ihres Verhaltens ist letztlich die Konsequenz des Versuchs, den wiederholten Kontakt, die Länge der Kameradschaft, die Dauerhaftigkeit der Empathie zu vermeiden. Das kameradschaftliche Handeln erweist sich als höhere, entwickeltere Unterform, insofern es die Forderung der Länge akzeptiert. Wenn es dennoch als unvollkommen und (in einem anderen Sinne) oberflächlich erscheint, so wird man den Grund dafür vorerst dadurch andeuten können, dass man sagt: Dauerhaftigkeit ist noch nicht Dauer. Kameradschaft ist ein zwar lange anhaltendes und enges [B2] Verhältnis zu einem Menschen oder einem menschenähnlichen Gegenüber, das aber im Bereich des Äußerlichen und Vereinzelten verbleibt. Eine gewisse Unsicherheit der Deutung mag mit fortschreitender Bekanntschaft ausgeräumt werden. Aber selbst dann, wenn – mit Dilthey gesprochen – der Ausdruck des Anderen bis in kleinste Nuancen hinein leicht und zuverlässig gedeutet werden kann, bleibt die Deutung doch im Augenblick befangen. Sicherheit der Deutung und der reagierenden Handlung im Einzelnen können durchaus mit einem Unverständnis in Bezug auf den Sinn des Ganzen 627 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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einhergehen, wie insbesondere Bergsons Hinweis auf die Hypnose [B1] zeigt. Anders formuliert: Fortgesetzter, wiederholter Kontakt liefert eine Fülle von Material, aber keine Einsicht in das Ganze, erfasst Momente, aber nicht die Dauer. Das führt uns zu der Frage: Sind mit dem, was die camaraderie leistet, die Möglichkeiten der Empathie erschöpft? Erfordert – wie es die in einigen Belegen enthaltenen Verweise auf die Intuition anzudeuten scheinen – die weitere Entfaltung der Sympathie den Übergang zu einer höheren Stufe? Oder bietet die Empathie noch unausgeschöpftes Potential? 5.3.2.3 Lebendigkeit und Ausdruck Ich habe in den vorangehenden Ausführungen von Äußerlichkeit und Oberflächlichkeit gesprochen und damit die Erziehung zur Sympathie sowie das konkrete Sich-vertraut-Machen recht negativ charakterisiert. Positiv könnte man von einem ethischen Aspekt der Sympathie sprechen, und dies in zweierlei Hinsicht. Zum einen geht es um ein Sollen: Es ist der (dynamisch gedachten) Gesellschaft nicht gleichgültig, ob ihre Mitglieder miteinander sympathisieren oder nicht. Bergsons Deutung des Lachens ergäbe keinen Sinn, wenn das Sympathisieren nur ein faktisch feststellbares, aber kein zu forderndes Verhalten wäre. Zum anderen geht es um Brauch, Gewohnheit und Übung (ἔϑοϚ): Das, was hier mit Sympathie gemeint ist, äußert sich nicht als kurzfristige Anwandlung, sondern als langfristige Haltung bzw. als Einübung in eine Haltung. Günther Pflug stellt einen ganz anderen Aspekt in den Mittelpunkt seiner Interpretation von Le rire. 116 Mit den nun bereits mehrfach angesprochenen Vorbehalten kann man sagen, dass es sich dabei um den erkenntnistheoretischen Aspekt der Sympathie handelt: Wenn wir mit Menschen – vielleicht auch mit Lebewesen überhaupt – sympathisieren, nicht dagegen mit leblosen Dingen im Raum, so stellt sich die Frage, woran wir mögliche »Gegenstände« der Sympathie erkennen. Gewiss, wir haben einen privilegierten Zugang zu unserer eigenen inneren Wirklichkeit. Aber begegnen uns nicht alle anderen Menschen als Elemente der äußeren Wirklichkeit und damit letztlich als Dinge im Raum?

116

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Phänomenologie der Partizipation II: Individuum und Gesellschaft

Pflug blickt zunächst noch einmal zurück auf die vor Le rire liegenden Hauptwerke Bergsons. Im Essai sur les données immédiates de la conscience findet der Leser eine »topologische« Unterscheidung von Innen und Außen: Räumliche Dinge sind in der äußeren, die Dauer als psychischer Zusammenhang sowie das damit einhergehende freie Handeln in der inneren Wirklichkeit anzutreffen. Matière et mémoire untersucht zwar die in der materiellen Welt existierende und freies Handeln in ihr realisierende Dauer, aber es ist dies, wie auch wir bereits festgestellt haben, die einsame Dauer des interpretierenden Ich. Im Hinblick auf den – die bloße Kooperation bei der Bearbeitung der Materie überschreitenden – sozialen Aspekt menschlichen Lebens hat Matière et mémoire nicht nur wenig zu bieten, es bleibt sogar noch hinter dem Essai zurück. Es gibt kein zweites Werk Bergsons, in dem Worte wie sympathie oder camaraderie gar nicht, damit verwandte Begriffe (bon sens, émotion) nur ganz am Rande vorkommen. 117 Und es gibt auch kein zweites Werk Bergsons, in dem das Seelenleben anderer Menschen lediglich anhand von Studien über »pathopsychologische und physiologische Grenzerscheinungen« in den Blick kommt. Weder mit den im Essai noch mit den in Matière et mémoire erarbeiteten Konzepten lässt sich also das MitSein des Menschen angemessen thematisieren. Dennoch verläuft der vom Essai zu Matière et mémoire führende Weg prinzipiell in die richtige Richtung. Verfolgt man ihn weiter, wird nämlich ein Ansatz erkennbar, der geeignet ist, zumindest einige der angesprochenen Defizite zu beseitigen: »Der einleitende Gedanke von Matière et mémoire, dass die Freiheit durch das lebende Bewusstsein auch in der Außenwelt verwirklicht wird, findet [in Le rire] seine konsequente Fortführung. […] Das Komische als eine Form des sozialen Lebens setzt eine Weise des Psychischen voraus, die den Rahmen der Introspektion, so wie ihn die Données immédiates abgesteckt haben, überschreitet. So kann der Gegensatz, auf den Bergson die Komik aufbaut, nicht länger ein Gegensatz von Wahrnehmungsbereichen sein. […] Bergson muss also zu diesem Zweck dem Psychischen ein Gegenbild in der äußeren Welt geben, das heißt, eine Möglichkeit der Wahrnehmung des Psychischen außerhalb der Introspektion annehmen.« 118

Das gilt – man möchte es kaum glauben – selbst dann, wenn man Durée et simultanéité in die Betrachtung einbezieht. 118 Pflug[1959] 202 117

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Pflug stimmt also mit Hyppolite 119 darin überein, dass Bergson in Matière et mémoire bestrebt ist, die reine Dauer aus ihrer Isolation in der inneren Erfahrung zu befreien, und zu untersuchen, wie sie sich in der äußeren Welt verwirklicht. Schon bei der Diskussion der von Hyppolite vorgetragenen Überlegungen haben wir festgestellt, dass dieses Projekt Bergson von einem Modell, das zwei Schichten der Erfahrung kennt (Pflugs »Topologie«), zu einem anderen Modell führt, das eine zweischichtige Erfahrung (Pflug: »Verschiedenheit zweier Objekte in der gleichen Seinsebene«) annimmt. Und wir sind bei Hyppolite auch schon auf einen Begriff gestoßen, der aufgrund der Eigentümlichkeiten von Matière et mémoire vorerst ungenutzt bleiben musste, der aber nun wichtig wird: Der geistige Elan, der wir sind, drückt sich in der äußeren Wirklichkeit aus (s’exprime) 120. Der Begriff des Ausdrucks kommt zwar bei Pflug nur ganz am Rande vor 121, bezeichnet aber dennoch am besten den Schritt, von dem auch Pflug meint, dass er den Fortschritt von Le rire gegenüber Matière et mémoire darstellt: Wenn es der individuellen Dauer wirklich gelingt, sich in der äußeren, materiellen Welt zu verwirklichen, wenn die Freiheit über eine gewisse Kraft verfügt, den Gang der Dinge zu prägen, dann kann man sich fragen, ob diese Gestaltungskraft sich nicht in der wahrnehmbaren Wirklichkeit so ausdrückt, dass sie für andere Menschen erkennbar ist. Dies ist, so können wir vorläufig sagen, die Grundfrage, um die es in Le rire geht. Dass wir, wenn wir den für andere lebensphilosophische Hermeneutiken (Dilthey, Klages) so wichtigen Begriff des Ausdrucks aufgreifen, durchaus bei unserer eigenen Sache bleiben, lässt sich – besser als an Hyppolites und Pflugs Interpretationen – an Bergsons Texten selbst zeigen. Bergson zitiert nicht nur Texte anderer Autoren, in denen Fragen des Ausdrucks erörtert werden (genannt seien Charles Darwins The Expression of the Emotions in Man and Animals und Theodor Piderits »Mimik und Physiognomik«) 122, er befasst Vgl. Abschnitt 4.2.2.1, S. 483. Vgl. Kap. 4, Anm. 124. 121 Pflug[1959] 202 122 Beide Werke sind ursprünglich in der von Bergson selbst zusammengestellten Literaturliste am Anfang von Le rire enthalten, im Zuge einer 1923 vorgenommenen Überarbeitung aber gestrichen und durch neuere Werke (etwa Freuds Abhandlung über den Witz) ersetzt worden. Diese Streichung deutet nicht etwa darauf hin, dass Bergson das Interesse am Problem des Ausdrucks verloren hätte, sie zeigt lediglich eine Akzentverschiebung an. Beide Werke betonen sehr stark die physiologischen 119 120

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Phänomenologie der Partizipation II: Individuum und Gesellschaft

sich auch selbst mit verschiedenen Aspekten des Ausdrucksproblems. Seine Ausführungen dazu finden sich vom Essai sur les données immédiates de la conscience bis hin zu Les deux sources de la morale et de la religion und zu La pensée et le mouvant in fast allen Werken, und sie bewegen sich innerhalb eines Horizonts, der von unwillkürlichem körperlichem Ausdruck (Physiognomik) über willkürliche Ausdrucksbewegungen (Mimik, Pantomime) und den Ausdruck von Gefühlen in der nicht-sprachlichen Kunst (Musik) bis hin zum symbolischen Ausdruck (Sprache) reicht. Dass Bergson sich nicht damit begnügt, den Ausdruck als Übersetzung eines geistigen Gehalts in ein körperliches oder dinghaftes Medium darzustellen, sondern auch die Schwierigkeiten des Sich-Ausdrückens thematisiert, ist aus Kapitel 1 bereits bekannt. So ist denn auch Le rire keine auf das Ausdrucksproblem direkt zugehende Abhandlung. Bergson fragt nicht unverzüglich, wie sich die freie Gestaltungskraft des Menschen in seiner äußeren Erscheinung sowie in seinen Produkten ausdrückt und auf welche Weise andere Menschen das Ausgedrückte verstehen. Ausdruck und Verstehen erscheinen vielmehr in einer eigenartig gebrochenen Form: Der Ausdruck wird indirekt greifbar im Lachen als Protest gegen ein Verhalten, das nicht Ausdruck ist, und das Verstehen kommt in den Blick, wenn es an Unverständlichem scheitert. Den Grund dafür hat Pflug klar herausgearbeitet: Wenn die scharfe Trennung zwischen der inneren Wirklichkeit des Psychischen und der äußeren Wirklichkeit der Dinge fällt, dann muss sich das Psychische auch in der äußeren Wirklichkeit zeigen. Das bedeutet allerdings nicht, dass nunmehr in der äußeren Wirklichkeit zwei Arten von Gegenständen anzutreffen wären, deren eine lediglich lebloses Ding, deren andere lediglich lebendiger Ausdruck ist. Vielmehr ist davon auszugehen, dass wir neben den Gegenständen, die lediglich materielle Dinge sind, Gegenstände vorfinden, die außerdem auch noch Ausdruck eines lebendigen Elans sind. Diese letzteren wären also durch eine »doppelte Form der äußeren Gegebenheit« gekennzeichnet 123. Aspekte des Ausdrucks (vgl. dazu auch die Darwin-Zitate, die bereits im ersten Kapitel von Les données immédiates de la conscience zu finden sind). Ihre Streichung vollzieht somit nur eine Entwicklung im Denken Bergsons nach, die derjenigen Freuds um 1900 gleicht, nämlich eine Verlagerung des Schwerpunkts von einer physiologischen hin zu einer hermeneutischen Betrachtung des psychischen Geschehens und seines Ausdrucks. 123 Pflug[1959] 203

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Soweit die Spekulation. Aber handelt es sich hier um mehr als eine Hypothese? Eben das ist die Frage, die Le rire klären soll. Wir können also unsere vorläufige Formulierung der Leitfrage von Le rire präzisieren, indem wir hinzufügen, dass es Bergson insbesondere auf eine empirische Prüfung der These von der doppelten Gegebenheit ankommt. Gibt es in der äußeren Wirklichkeit Gegenstände, die sich sowohl als Ding wie auch als Ausdruck zeigen? Führt man sich die Leitfrage in dieser konkreten Gestalt vor Augen, dann wird verständlich, warum Bergson sich dafür entschieden hat, sie am Beispiel des Komischen zu klären. Was ihn am Lachen und an dem Gesamtvorgang, der es einschließt, interessieren musste, ist das Wechselspiel von Sympathiezuwendung und Sympathieentzug, von Anerkennung und Ausstoßung, von Behandeln-als-Mensch und Behandeln-wie-ein-Ding. Das Hin-und-Her, das die Welt nicht ein für alle Mal aufteilt, sondern den gleichen Menschen bald so, bald anders erscheinen lässt, demonstriert die doppelte Gegebenheit des konkreten Menschen als materielles Ding und als Ausdruck lebendiger Energie. Das Lachen als Kritik an einem Verhalten, durch das der (ausgelachte) Mensch wie ein lebloser Mechanismus, mithin wie ein Ding erscheint, demonstriert, dass Menschen schon vor jeder Belehrung durch Geisteswissenschaften, Hermeneutik oder Lebensphilosophie im Hinblick auf andere Menschen eine andersartige Form der Gegebenheit erwarten. Und das Umschalten der Lachenden in den Modus der nur Dinge erfassenden Intelligenz demonstriert, sofern es als Umschalten bewusst wird, dass es noch einen anderen, Menschen angemessenen Erkenntnismodus geben muss. Die Gebrochenheit, auf die ich hingewiesen habe, resultiert also daraus, dass Bergson den Bruch als den entscheidenden Beleg betrachtet. Einmal mehr beginnt Erkenntnis mit einem Riss in der erfahrenen Wirklichkeit. Mag das Ausdrucksverstehen noch so gebrochen erscheinen – es erscheint jedenfalls. Mag es im Kontext des Komischen und des Lachens auch nur deshalb in den Blick kommen, weil es sich am Nicht-Ausdruckhaften bricht – es kommt jedenfalls in den Blick. 5.3.2.4 Der Eindruck des Lebendigen Wenn – so argumentiert Pflug – der geistige Elan, der wir sind, sich auf die materielle Wirklichkeit einlässt, dann muss seine Aktivität in dieser Wirklichkeit – und das heißt insbesondere: im Körper des 632 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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Menschen und in den von ihm hervorgebrachten Dingen – zum Ausdruck kommen. Derartige Ausdrucksphänomene müssen dann, damit die Fragestellung von Le rire plausibel wird, bei anderen Menschen ganz spezifische Eindrücke hervorrufen, die von den Eindrücken, die unbelebte Dinge hervorrufen, grundsätzlich verschieden sind. Geist und Leben müssen im Körperlichen und Materiellen sichtbar werden. Anders gesagt: Es muss – wie Philipp Lersch bereits 1932 im Hinblick auf Bergson formuliert hat 124 – der Übergang vollzogen werden vom naturwissenschaftlichen, auf die Kategorie des Gegenstandes beschränkten zu einem »physiognomischen«, auf »ausdruckhafte Gestalt« gerichteten »Weltbild«. Pflug beklagt nun, dass Bergson »für diese Form der Wahrnehmung eines Geistigen in der körperlichen Erscheinung keinerlei systematische Fundierung [gibt]. Die Erörterungen bleiben durchweg im Allgemeinen, und nur an einer Stelle gibt Bergson beispielhaft einen Realitätsbegriff dieser Wahrnehmungsform in dem Begriff der Grazie, so dass wenigstens eine Vorstellung von der Richtung entstehen kann, in die Bergson diese Phänomenbetrachtung tendieren lässt.« 125

Pflugs Enttäuschung ist nachvollziehbar. Bergson präsentiert in Le rire die Imagination als das zur Erfassung von Ausdrucksphänomenen befähigte Vermögen. Er sieht folglich ein Phantasiebild als Kern des Eindrucks an, beschreibt und analysiert aber fast ausschließlich Phantasiebilder, die sich daraus ergeben, dass lebendiger Elan und Körper beim Lächerlichen nicht im Einklang stehen. Diese Phantasiebilder sind nun nicht nur durch ihre Komik, sondern oft auch durch eine gewisse erkenntnistheoretische Zweideutigkeit und Fragwürdigkeit charakterisiert: »Der Satz: ›Mein Alltagskleid ist ein Bestandteil meines Körpers‹ klingt für den Verstand absurd. Die Imagination hält ihn trotzdem für wahr. ›Eine rote Nase ist eine bemalte Nase‹, ›Ein Neger ist ein verkleideter Weißer‹ – ebenfalls lauter Absurditäten für den logisch arbeitenden Verstand und felsenfeste Wahrheiten für die reine Imagination. Es gibt demnach eine Logik der Imagination, die mit der Logik des Verstandes nichts gemein hat, ja die bisweilen deren Gegenteil bedeutet. Dennoch muss die Philosophie mit ihr rechnen, und zwar nicht nur bei der Erforschung des Komischen, sondern auch bei anderen gleichartigen Untersuchungen. Sie hat etwas von der Logik des Traums – eines Traums allerdings, der nicht der Laune der individu-

124 125

Lersch[1932] 20 f. Pflug[1959] 204 – Einige Druckfehler wurden korrigiert.

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ellen Phantasie überlassen bleibt, da er ein von der gesamten Gesellschaft geträumter Traum ist.« 126

Mehr noch: All diese Beispiele lehren uns wenig oder nichts über das Thema, das uns hier eigentlich beschäftigt, denn der Eindruck des Widerspruchs zwischen Körper und Geist, den das Gegenüber vermittelt, verhindert gerade die Einfühlung: »Man könnte sagen […], dass eine Emotion dramatisch, dass sie kommunikativ ist, wenn in ihr alle Obertöne zusammen mit dem Grundton gegeben sind. Daran, dass der Darsteller ganz und gar schwingt, liegt es, dass das Publikum seinerseits mitschwingen kann. Im Gegensatz dazu gibt es in der Emotion, die uns gleichgültig lässt und die komisch wirkt, eine Starrheit, die sie hindert, mit dem ganzen übrigen Teil der Seele, der sie angehört, in Beziehung zu treten. Diese Starrheit kann sich irgendwann durch hölzerne Bewegungen äußern und dann das Lachen hervorrufen, aber schon vorher verhinderte sie unsere Sympathie: Wie soll man sich mit einer Seele in Einklang bringen, die mit sich selbst nicht im Einklang ist?« 127

Es ist im Hinblick auf unser Ziel, zumindest die wesentlichsten Elemente des Wortfeldes »Sympathie« zusammenzutragen, von erheblichem Interesse, wie Bergson hier das Adjektiv communicatif einsetzt. Und fügen wir gleich hinzu, dass er es nicht nur hier, sondern auch in anderen Texten, sowie, dass er nicht nur das Adjektiv, sondern auch das Substantiv communication so einsetzt: Kommunikativ in diesem Sinne ist ein Ausdrucksphänomen dann, wenn es den psy126 Une proposition comme celle-ci : « mes vêtements habituels font partie de mon corps », est absurde aux yeux de la raison. Néanmoins l’imagination la tient pour vraie. « Un nez rouge est un nez peint », « un nègre est un blanc déguisé », absurdités encore pour la raison qui raisonne, mais vérités très certaines pour la simple imagination. Il y a donc une logique de l’imagination qui n’est pas la logique de la raison, qui s’y oppose même parfois, et avec laquelle il faudra pourtant que la philosophie compte, non seulement pour l’étude du comique, mais encore pour d’autres recherches du même ordre. C’est quelque chose comme la logique du rêve, mais d’un rêve qui ne serait pas abandonné au caprice de la fantaisie individuelle, étant le rêve rêvé par la société entière. – R 406 f. | 31 f. | 31 f. 127 On pourrait dire […] qu’une émotion est dramatique, communicative, quand tous les harmoniques y sont donnés avec la note fondamentale. C’est parce que l’acteur vibre tout entier que le public pourra vibrer à son tour. Au contraire, dans l’émotion qui nous laisse indifférents et qui deviendra comique, il y a une raideur qui l’empêche d’entrer en relation avec le reste de l’âme où elle siège. Cette raideur pourra s’accuser, à un moment donné, par des mouvements de pantin et provoquer alors le rire, mais déjà auparavant elle contrariait notre sympathie : comment se mettre à l’unisson d’une âme qui n’est pas à l’unisson d’elle-même ? – R 454 | 107 f. | 94 f. – Hervorhebung von mir [C. K.].

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chischen Zustand eines Gegenüber (z. B. eine Emotion) mitteilbar macht, wenn es einem zur Einfühlung bereiten Ich diesen Zustand vermittelt. Communication ist dann gerade keine sprachliche Kommunikation, sondern emotionale, d. h. vorsprachliche Wirkung. Nur verhält es sich leider so, dass wir in Le rire fast ausschließlich mit Situationen konfrontiert werden, in denen sich das Gegenüber gerade nicht als kommunikativ erweist, weil die Art seiner Gegebenheit die Einheit vermissen lässt, und dass die Umrisse einer gelingenden, auf vorsprachlicher communication basierenden Einfühlung sich nur in der Ferne, am Horizont abzeichnen. Das mag daran liegen, dass dies der erste Text ist, in dem Bergson ernsthaft die Untersuchung der Sympathie in Angriff nimmt. Es mag auch daran liegen, dass Bergson mit dem Komischen bewusst einen Bereich ausgewählt hat, in dem Sympathie als Empathie sich nur in gebrochener Form darstellen kann. Es könnte freilich auch daran liegen, dass die Frage nach einer gelingenden vorsprachlichen Kommunikation auf der Stufe der Empathie gar nicht befriedigend zu beantworten ist. – Lassen wir indessen diese Frage zunächst offen und betrachten wir stattdessen jene sich am Horizont abzeichnenden Umrisse. Eine erste in diesem Zusammenhang relevante Beobachtung besagt, dass das Bild des lebendigen Menschen durch eine Mittelstellung zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit charakterisiert ist: »Lächerlich wird derjenige Gesichtsausdruck sein, der uns an etwas Verkrampftes, etwas Starres in der gewöhnlichen Beweglichkeit der Physiognomie denken lässt. Ein chronischer Tick, eine verfestigte Grimasse – das ist es, was wir darin sehen werden. Wendet man ein, dass jeder gewohnheitsmäßige Gesichtsausdruck – auch ein anmutiger und schöner – uns den gleichen Eindruck einer verfestigten Gewohnheit vermittelt? Hier muss man aber eine wichtige Unterscheidung machen. Wenn wir von einer ausdrucksvollen Schönheit oder auch Hässlichkeit sprechen, wenn wir sagen, dass ein Gesicht einen Ausdruck aufweist, dann handelt es sich vielleicht um einen Ausdruck, der unveränderlich ist, dessen Beweglichkeit wir aber gleichwohl erahnen. Er bewahrt bei aller Festigkeit eine Unbestimmtheit, in der sich undeutlich all die möglichen Nuancen des Seelenzustands, den er ausdrückt, abzeichnen – wie man im Dunst des Frühlingsmorgens schon die Wärme des Mittags atmen kann. Ein komischer Gesichtsausdruck aber ist einer, der nicht mehr verspricht als er zeigt.« 128 128 Donc, une expression risible du visage sera celle qui nous fera penser à quelque chose de raidi, de figé, pour ainsi dire, dans la mobilité ordinaire de la physionomie. Un tic consolidé, une grimace fixée, voilà ce que nous y verrons. Dira-t-on que toute

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Ein unbelebtes Ding ist festgestellt. Klar und deutlich zeigt es sich als das, was es ist. Ein lebendiger Mensch dagegen ist nicht festgestellt. Er ist nicht fertig, nicht endgültig bestimmt und deshalb auch nicht abschließend bestimmbar. Dergleichen mag ein gewisses Problem für begriffliches Denken darstellen, aber nicht für das, wovon hier die Rede ist, also für die durch Ausdrucksphänomene hervorgerufenen Eindrücke. Die bestimmte Unbestimmtheit lässt sich gut in einigen Bildern erfassen, die Bergson gerne benutzt: so in dem der Kindheit oder in dem des Morgens. Die bestimmte Unbestimmtheit wird erfahrbar im Zauber des Anfangs, von dem bei einem wirklich lebendigen Menschen selbst dann immer etwas bleibt, wenn der absolute Anfang längst Vergangenheit zu sein scheint. Leben heißt, dass der Anfang in jedem Moment gegenwärtig bleibt, weil vieles noch offen und mancherlei möglich ist. Daraus ergibt sich ganz von selbst der zweite wichtige Punkt, der besagt, dass der von einem lebendigen Menschen vermittelte Eindruck einen Menschen in Bewegung, einen sich entwickelnden Menschen zeigt. Der lebendige Mensch belässt es nicht bei der Unbestimmtheit, sondern ist bestrebt, Unbestimmtes zu bestimmen, Unklares zu klären, Mögliches zu verwirklichen. Es ist dies ein Punkt, der es möglich macht, die von Pflug gesehene Materialbasis deutlich zu erweitern. Ein lebendiger Mensch ist – mögen ihm auch einige spezifische Merkmale zukommen – zunächst einmal ein Lebewesen, und über den von Lebendigem überhaupt vermittelten Eindruck erfährt man in Le rire sehr viel, weil Bergson ja auch das Lachen als »etwas Lebendiges« betrachtet. Untersucht man nun, wie es schon die junge Jeanne Hersch in ihrer Diplomarbeit getan hat, die (didaktischen) Bilder, in denen Bergson die Lebendigkeit des Lachens einfängt, so zeigt sich, dass es sich ausnahmslos um »Bewegungsbilder« (images motrices) handelt, und zwar näherhin um solche, die eine Richtung ausdrücken: Da ist die Rede von sich kreuexpression habituelle du visage, fût-elle gracieuse et belle, nous donne cette même impression d’un pli contracté pour toujours ? Mais il y a ici une distinction importante à faire. Quand nous parlons d’une beauté et même d’une laideur expressives, quand nous disons qu’un visage a de l’expression, il s’agit d’une expression stable peut-être, mais que nous devinons mobile. Elle conserve, dans sa fixité, une indécision où se dessinent confusément toutes les nuances possibles de l’état d’âme qu’elle exprime : telles, les chaudes promesses de la journée se respirent dans certaines matinées vaporeuses de printemps. Mais une expression comique du visage est celle qui ne promet rien de plus que ce qu’elle donne. – R 398 | 18 | 20

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zenden Wegen im Wald, von Durchblicken und Abzweigungen, von Labyrinthen und Leitfäden, von Hängen und Steigungen. 129 Leben ist also Bewegung, aber nicht im Sinne eines gleichförmigen Verlaufs, sondern im Sinne von Krise, Zweifel und Entscheidung. Aber auch speziell im Hinblick auf den Menschen kommt dieser Aspekt in Le rire zur Sprache. So schreibt Bergson etwa im Hinblick auf das Ausmaß der Lächerlichkeit: »Wir lachen schon über die Zerstreutheit, die man uns als einfache Tatsache präsentiert. Noch lächerlicher aber kommt uns die Zerstreutheit vor, die wir mit eigenen Augen haben entstehen und wachsen sehen, deren Ursprung wir kennen und deren Geschichte wir nachvollziehen können.« 130

Deutlich sind hier Werden und Wachsen, Entwicklung und Entfaltung als Grundzüge des lebendigen Menschen erkennbar. Daneben zeichnet sich der Eindruck der »Zerstreutheit« ab. Mit diesem Begriff bezeichnet Bergson seit dem ersten von ihm angeführten Beispiel für das Komische überhaupt – dem Beispiel eines laufenden Menschen, der stolpert und hinfällt, weil er, in seine Gedanken versunken, mechanisch voranschreitet und nicht auf etwaige Hindernisse achtet 131 – ein starres, (im Sinne des physikalischen Trägheitsgesetzes) träges, nur auf die einmal festgelegte Bahn fixiertes Verhalten. Der Eindruck des Kreisens in der immer gleichen Bahn ist nun aber nicht mit dem Eindruck des Sich-Entwickelns und -Entfaltens vereinbar, den der Beobachter zuvor gewonnen hatte und der ihm die Anwesenheit eines lebendigen Menschen anzeigte. Die Fixierung – und sei es auch die Fixierung auf ein Bewegungsmuster – widerspricht der Dynamik des Lebens. Aber das Wort »Zerstreutheit« verweist nicht nur darauf, dass die betreffende Person einmal ausgeprägten Denk- und Handlungsmustern gedankenlos folgt, statt sie und sich weiterzuentwickeln, es verweist auch auf den fehlenden Kontakt zur Um- und Mitwelt. Insofern ist »Zerstreutheit« einerseits das Gegenteil der »Aufmerksamkeit auf das Leben«, andererseits das Gegenteil der »Kameradschaft«. Der im eben zitierten Text erwähnte Beobachter hat vermutlich verHersch[1931] 114 Nous rions déjà de la distraction qu’on nous présente comme un simple fait. Plus risible sera la distraction que nous aurons vue naître et grandir sous nos yeux, dont nous connaîtrons l’origine et dont nous pourrons reconstituer l’histoire. – R 392 | 9 f. | 12 131 R 391 | 7 | 10 129 130

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sucht, die Entwicklung seines Gegenübers über einen längeren Zeitraum hinweg kameradschaftlich zu begleiten. Umso größer aber ist dann der Kontrast, wenn er feststellen muss, dass die andere Person nur noch auf bestimmte Ideen fixiert ist und bleibt. Damit ist der Kameradschaft als gemeinsamer Entwicklung der Boden entzogen. Der Eindruck des lebendigen Menschen zeigt also auch einen Zusammenhang zwischen individueller Entwicklung und Offenheit für die äußere Wirklichkeit. Die Art dieses Zusammenhangs wird in den Erörterungen über die »Anmut« (grâce) deutlich, von denen Pflug meint, dass Bergson nur in ihnen Konkretes darüber gesagt hat, wie sich die Lebendigkeit im menschlichen Körper ausdrückt. Betrachten wir zunächst jene Sätze aus Le rire, auf die sich Pflug bezieht. In ihnen ist von dem sozialen Aspekt noch gar nichts zu bemerken. Sie beschreiben die lebendige Dynamik des Individuums im Gegensatz zur körperlichen Trägheit: »In jeder menschlichen Form nimmt [unsere Imagination] die Anstrengung einer Seele wahr, die die Materie gestaltet – einer unendlich zarten, ewig beweglichen Seele, der Schwerkraft entrückt, weil nicht die Erde sie anzieht. Etwas von ihrer Beschwingtheit teilt die Seele dem Körper mit, den sie belebt: Das Unkörperliche, das so in den Körper eingeht, ist das, was man Anmut nennt. Aber die Materie widersteht und beharrt. […] Wo es der Materie gelingt, das Leben der Seele an ihrer Oberfläche zäh werden, ihre Beweglichkeit erstarren zu lassen, schließlich ihre Anmut zu stören, da erzielt sie im Körper einen komischen Effekt. Wenn man also das Komische definieren wollte, indem man es zu seinem Gegenteil in Bezug setzt, dann müsste man es eher der Anmut als der Schönheit entgegensetzen. Es ist eher Starre als Hässlichkeit.« 132

Vor uns sehen wir die menschliche Seele, wenn nicht als ein Geistwesen, so doch jedenfalls als einen unbeschwerten Vogel, der sich in die Höhe aufschwingt, angezogen nicht von der Erde, sondern vom Himmel. Vor uns sehen wir auch den von Trägheit und Schwere ge132 […] dans toute forme humaine [notre imagination] aperçoit l’effort d’une âme qui façonne la matière, âme infiniment souple, éternellement mobile, soustraite à la pesanteur parce que ce n’est pas la terre qui l’attire. De sa légèreté ailée cette âme communique quelque chose au corps qu’elle anime : l’immatérialité qui passe ainsi dans la matière est ce qu’on appelle la grâce. Mais la matière résiste et s’obstine. […] Là où la matière réussit ainsi à épaissir extérieurement la vie de l’âme, à en figer le mouvement, à en contrarier enfin la grâce, elle obtient du corps un effet comique. Si donc on voulait définir ici le comique en le rapprochant de son contraire, il faudrait l’opposer à la grâce plus encore qu’à la beauté. Il est plutôt raideur que laideur. – R 400 | 21 f. | 22 f.

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prägten Körper, der den Aufschwung be- oder gar verhindert. Die Seele strebt nach oben, der Körper zieht nach unten – das ist das bekannte Bild des Komischen. Nun entwirft Bergson aber als Gegenbild dasjenige der Anmut. Es zeigt eine Seele, der es gelingt, die Materie zu »gestalten« und so eine organische Einheit zu schaffen, bei der der Körper in Harmonie mit der Seele ist und an ihrem Aufschwung teilnimmt. Glücklicherweise muss man als Interpret nicht mühsam die letzten Tropfen aus diesen wenigen Sätzen herauspressen, wenn man das Bild des lebendigen Menschen noch mit einigen weiteren Details anreichern möchte. Das Thema der Anmut war Bergson wichtig genug, um darauf auch in anderen Texten einzugehen, so dass man die entsprechenden Passagen als Ergänzungen heranziehen kann. Die ausführlichste und interessanteste unter ihnen findet sich bemerkenswerterweise bereits im Essai sur les données immédiates de la conscience, also in einem Werk, das die Anderen und die Gesellschaft fast ausschließlich als Hindernisse für die individuelle Authentizität (Dauer) kennt. So erschließt sich denn auch das Potential dieser Passage erst aus der Perspektive späterer Werke – wie Le rire – und der Fragestellung Pflugs. Die im Essai sur les données immédiates de la conscience zu findende Analyse 133 zieht nur die Anmut selbst, nicht auch die ihr entgegenstehenden Tendenzen – wie den zur Komik führenden Widerstand des Körpers – in Betracht. Dafür präsentiert sie die Anmut – oder vielmehr: unsere Wahrnehmung der Anmut – wie das Mitleid als ein entwicklungsfähiges, d. h. lebendiges Phänomen. Bergson führt die Entwicklung in vier Schritten vor. Er erläutert sie an dem speziellen Beispiel anmutiger Bewegungen von Tänzern oder Schauspielern im Theater, das sich jedoch mit geringer Mühe verallgemeinern lässt. Wo wir Bewegungen oder den sie ausführenden Menschen Anmut zusprechen, da nehmen wir zunächst nur »eine gewisse Ungezwungenheit, eine gewisse Leichtigkeit in den äußerlichen Bewegungen« wahr. 134 Dieser Eindruck der Mühelosigkeit und Natürlichkeit ergibt sich aus der Harmonie von seelischem Elan und körperlicher Bewegung, während zackige, ruckweise, gebrochene, hölzern-marioDI 12–13 | 9–10 | 16–18 Ce n’est d’abord que la perception d’une certaine aisance, d’une certaine facilité dans les mouvements extérieurs. 133 134

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nettenhafte Bewegungen 135 auf den Kampf zwischen geistigem Wollen und körperlicher Trägheit hindeuten. Die fließenden Körperbewegungen bereiten aber dem Beobachter nicht nur ästhetisches Vergnügen in einem banalen Sinne. Ihre Stetigkeit führt vielmehr dazu, dass jede einzelne Stellung des Körpers »diejenigen ankündigt, die ihr folgen werden«, dass sie die nachfolgenden »vorbereitet«, »anzeigt« und »gleichsam präformiert«. Wenn Bergson in diesem Zusammenhang von den Bewegungsverläufen spricht, die »sich voraussehen ließen«, so ist hier das Missverständnis fernzuhalten, es handele sich um eine Stetigkeit, die es möglich macht, den weiteren Verlauf vorauszuberechnen. Im ersten Kapitel eines Werkes, dessen drittes Kapitel die menschliche Freiheit verteidigt und gegen jeglichen Determinismus polemisiert, wird man eine derartige Auffassung nicht unterstellen. Dass die These so nicht gemeint ist, zeigt das Auftreten der uns inzwischen bekannten Formel von der »Kurve, die ihre Richtung in jedem Augenblick ändert«, ebenso wie die Formulierung, dass wir die kommende Körperhaltung »gleichsam vorausahnen« 136. Nicht um einen Determinismus also geht es, sondern darum, dass der Eindruck eines lebendigen Menschen durch eine Körperhaltung vermittelt wird, die nicht isoliert und in sich abgeschlossen ist, sondern »in der Gegenwart schon die Zukunft bereithält«, mithin eine (zeitliche) Spannung erkennen lässt, durch die sich das gegenwärtig wahrgenommene Bild als Symbol eines Verlaufs zu erkennen gibt. Dieser Aspekt weist zurück auf die unbestimmt Bestimmtheit, die wir als erstes Merkmal des MenschenBildes festgehalten haben. Während aber dort Unbestimmtheit und Offenheit betont wurden, verweist Bergson hier darauf, dass eine Gerichtetheit, eine Tendenz schon in der bildhaften Wahrnehmung des Menschen als Indiz der Selbstbestimmung erkennbar ist. Das Element des Erahnens verstärkt sich, wenn die Bewegungen »von Musik begleitet« werden und somit »einem Rhythmus gehorchen«. 137 Man ahnt dann nicht mehr nur den weiteren Verlauf voraus, sondern auch die Zeitpunkte, an denen sich Veränderungen vollziehen werden. Das liegt daran, dass »die Regelmäßigkeit des Vgl. Anm. 127. nous devinons presque l’attitude qu’il va prendre 137 Man könnte meinen, dies sei ein Aspekt, der nur im Bereich des Theaters eine Rolle spiele und sich nicht auf das Bild des lebendigen Menschen überhaupt übertragen lasse. Vgl. aber Abschnitt 5.3.3.1, S. 655, zur »Musik des Lebens« in übertragener Bedeutung. 135 136

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Rhythmus« zwischen beobachteter und beobachtender Person »eine Art von Kommunikation« etabliert, eine Synchronisation zwischen – so kann man, über den Text hinausgehend, sagen – der Dauer des fremden und derjenigen des eigenen Ich. Diese Synchronisation deutet die Möglichkeit gemeinsamen Handelns an – eine Möglichkeit, die freilich auf dieser Stufe des Eindrucks noch etwas unbeholfen auftritt in Gestalt des Glaubens, dass die Bewegungen des Anderen unserem Willen gehorchten, sowie in Gestalt von unwillkürlichen Gesten, durch die »unsere ungeduldig gewordenen Hand« meint, die andere Person, sollte sie für einen Moment innehalten, »antreiben« und »in Bewegung zurückversetzen« zu müssen. Bis hierher hält sich die Synchronisation auf der Ebene des Äußerlichen und Körperlichen. Die Begleitung durch die rhythmisch strukturierte, für beobachtende und beobachtete Person gleichermaßen wahrnehmbare Musik ermöglicht es der beobachtenden Person, die körperlichen Bewegungsvollzüge der beobachteten Person durch Bewegungserwartungen zu begleiten. Da wir hier das »Begleiten« als Bedeutungskern von »Sympathie« verstehen, überrascht es nicht, dass Bergson nun im letzten Schritt den Sympathiebegriff ins Spiel bringt und näherhin von »physischer Sympathie« (sympathie physique) spricht. Aber das ist nur eine andere Formulierung für den bereits auf der vorhergehenden Stufe erreichten Stand. Indessen geht von der physischen Sympathie ein erstaunlicher »Zauber« aus, der unerklärlich bliebe, wenn nichts als die Synchronisation von Bewegungsmustern im Spiel wäre. Untersucht man diesen Zauber genauer, so zeigt sich, dass die physische, also körperliche Sympathie eine gewisse Affinität zur »geistigen Sympathie« (sympathie morale) aufweist und dass die Vorstellung der einen uns die Vorstellung der anderen »unmerklich suggeriert«: »Die Wahrheit ist, dass wir in allem, was große Anmut besitzt, außer der Leichtigkeit, die auf Beweglichkeit hinweist, auch das Anzeichen einer möglichen Bewegung auf uns zu, einer virtuellen, vielleicht sogar schon im Entstehen begriffenen Sympathie zu erkennen glauben.« 138

Anmut suggeriert Sympathie. Das ist nicht diejenige Sympathie, die vom einzelnen Ich – insbesondere durch das Lachen – gefordert wird, die das Ich investieren muss. Es ist die Sympathie auf der Seite des 138 Mais la vérité est que nous croyons démêler dans tout ce qui est très gracieux, en outre de la légèreté qui est signe de mobilité, l’indication d’un mouvement possible vers nous, d’une sympathie virtuelle ou même naissante.

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oder der Anderen, ein Entgegenkommen, das – und hier wird die Vorstellung, der Andere gehorche dem eigenen Willen, überschritten – die Perspektive einer gegenseitigen Sympathie eröffnet. Gewiss, die geistige Sympathie »wird uns suggeriert«, und das Entgegenkommen »glauben wir« in der Anmut »zu erkennen«. Gesichert ist hier nichts, und gesichert wird auch nichts. Es geht um eine Beschreibung dessen, was gemeinhin geschieht, nicht um eine Rechtfertigung von Geltungsansprüchen. Immerhin aber steht fest: Das Bild des lebendigen Menschen zeigt ein Wesen, das uns entgegenkommt. Es zeigt nicht ein lebloses Ding, das keine eigene Bewegungstendenz aufweist und das man deshalb als Material verwenden kann. Es zeigt ein lebendiges Individuum, das über einen eigenen Willen und einen eigenen Elan verfügt, gleichwohl aber in der Lage und womöglich auch bereit ist, unseren Intentionen so entgegenzukommen, dass sich die verschiedenen individuellen Bestrebungen zu einem harmonischen Ganzen vereinigen. 5.3.2.5 Eindruck und Hypnose Diese Analyse der Anmut bietet – so sollte man meinen – den Höhepunkt dessen, was die als Empathie verstandene Sympathie zu leisten vermag. In gewissem Sinne verhält es sich auch wirklich so. Allerdings würde man die in Bergsons Texten anzutreffende Konstellation falsch beschreiben, wenn man sie als lineare Entwicklung darstellte. In den Texten findet sich nämlich noch ein Theoriestrang, der irritiert, weil er nicht zu der bisher skizzierten Entwicklungslinie zu passen, ja diese geradezu zu dementieren scheint. Der wohl früheste Beleg dafür ist eine Passage aus dem Essai sur les données immédiates de la conscience, die sich unmittelbar an die gerade referierten Ausführungen über die Anmut anschließt. 139 Bergson untersucht dort, wie Kunst wirkt. Er erörtert zunächst die Frage, ob man das Schöne, das die Kunst erzeugt, vom Schönen, das die Natur hervorbringt, oder umgekehrt das Naturschöne vom Kunstschönen her verständlich machen soll, entscheidet sich für die zweite Option, weil das Kunstschöne durch eine bewusste Bemühung des Menschen hervorgebracht wird, uns also leichter zugänglich sein sollte, und fährt dann fort:

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»Indem man sich auf diesen Standpunkt stellt, wird man, glauben wir, gewahr werden, dass der Zweck der Kunst darin liegt, die aktiven oder vielmehr widerstrebenden Kräfte unserer Persönlichkeit einzuschläfern und uns auf solche Weise in einen Zustand vollendeter Fügsamkeit überzuführen, in dem wir die Vorstellungen, die man uns suggeriert, verwirklichen und das zum Ausdruck gebrachte Gefühl mitfühlen. In den Verfahrungsweisen der Kunst werden wir in abgeschwächter Form, verfeinert und gewissermaßen vergeistigt, die Verfahrungsweisen wiederfinden, durch die gewöhnlich der hypnotische Zustand erzielt wird.« 140

Diese beiden Sätze enthalten schon fast die ganze These, die Bergson im weiteren Verlauf nur noch anhand verschiedener Künste erläutert. Sie besagt zweierlei. Zunächst: Die Wirkung der Kunst besteht aus zwei Teilwirkungen, deren erste auf die Einschläferung der Persönlichkeit und deren zweite auf die Übertragung irgendeines Inhalts gerichtet ist. Sodann: Die doppelte Wirkungsweise der Kunst lässt sich mit dem vergleichen, was in einer Hypnose geschieht. Betrachtet man diese These genauer, so zeigt sich, dass sie aus einigen völlig plausiblen Elementen besteht, daneben aber auch einige enthält, die Schwierigkeiten bereiten. Plausibel dürfte der Ausgangspunkt von Bergsons Überlegungen sein: Ein Kunstwerk trifft nicht überall auf diejenige Aufnahmebereitschaft, die es erwartet und benötigt. Jeder kennt das: Man sitzt in einem Konzertsaal oder in einem Theater, die Musik beginnt, aber man ist noch so in die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit und die Pläne für die nähere Zukunft verstrickt, dass das äußere Spektakel Mühe hat, sich gegenüber dem inneren zur Geltung zu bringen. Die Kunst muss sich also erst einmal den Zugang zur Aufmerksamkeit der Zuhörer und Zuschauer bahnen. Bergson ist nun der Auffassung, dass – und dies ist das einzige Element der These, das in den eben zitierten Sätzen noch nicht vorkommt – einmal mehr in Takt und Rhythmus 141 das entscheidende Mittel gesehen werden muss, über das die Kunst verfügt. Der »Rhythmus« bewirkt also nicht nur die 140 En se plaçant à ce point de vue, on s’apercevra, croyons-nous, que l’objet de l’art est d’endormir les puissances actives ou plutôt résistantes de notre personnalité, et de nous amener ainsi à un état de docilité parfaite où nous réalisons l’idée qu’on nous suggère, où nous sympathisons avec le sentiment exprimé. Dans les procédés de l’art on retrouvera sous une forme atténuée, raffinés et en quelque sorte spiritualisés, les procédés par lesquels on obtient ordinairement l’état d’hypnose. 141 Bei Bergson ist, wie Fujita[2006] gezeigt hat, prinzipiell zu unterscheiden zwischen dem regelmäßigen und deshalb einschläfernden Takt, um den es sich hier handelt, und dem lebendigen Rhythmus, der eine weitere Form der Artikulation der

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Synchronisation von Darsteller und Zuschauer/Zuhörer, sondern er schafft auch die Empfänglichkeit für das Kunstwerk und seine Botschaft. Und er tut das, indem er die »aktiven Kräfte unserer Persönlichkeit«, die, wenn das Kunstwerk Aufmerksamkeit begehrt, zu »widerstrebenden« werden, »einschläfert« und so »das Gewebe jener psychologischen Vorgänge, die unsere [persönliche] Geschichte ausmachen«, zertrennt 142. Es ist deutlich, dass Bergson im Bereich der Kunst vor allem von der Musik sowie von der gebundenen Sprache ausgeht und dann eine Brücke schlägt zum Bereich der Hypnose 143. In der Hypnose soll dem Hypnotisanden etwas suggeriert werden, aber man hat bald bemerkt, dass verschiedene Individuen eine unterschiedliche Empfänglichkeit für diesen Vorgang, eine verschieden stark ausgeprägte suggestibilité aufweisen. Bergson knüpft an dieses Problem der »Suggerierbarkeit«, anders formuliert: an das des Überwindens von Widerständen, an. Er betrachtet die Techniken, die die Hypnose entwickelt hat, um den Hypnotisanden langsam in die gewünschte Trance hinübergleiten zu lassen, und entdeckt eine Gemeinsamkeit zwischen den monoton-regelmäßigen Vorgängen, durch die die hypnotische Trance induziert, und den monoton-regelmäßigen Phänomenen des Takts oder des Versmaßes, durch das ganz ähnliche Widerstände ausgeschaltet werden sollen. Hat diese – wenn man so sagen darf – »untere« Schicht des Kunstwerks die von ihr erwartete Wirkung erzielt, dann ist der Boden bereitet, dann ist der Weg frei für das, was die »obere« Schicht transportieren will. Dann befinden wir uns »in einem Zustand vollendeter Fügsamkeit, in dem wir die Vorstellungen, die man uns suggeriert, verwirklichen und das zum Ausdruck gebrachte Gefühl mitfühlen«. Dann erhält – durch die Beseitigung aller Hindernisse – der künstlerische Ausdruck eine solche Kraft, »dass die Nachahmung einer schluchzenden Stimme, so diskret sie irgend sein mag, schon genügt, um uns in eine tief traurige Stimmung zu versetzen«. 144 Die leiseste

Dauer darstellt (zu letzterem vgl. Abschnitt 5.3.3.2, S. 660). In DI ist jedoch die terminologische Trennung noch nicht vollzogen. 142 interrompt […] le tissu serré des faits psychologiques qui composent notre histoire 143 Vgl. dazu Gauld[1995]. 144 […] une telle force que l’imitation, même infiniment discrète, d’une voix qui gémit suffira à nous remplir d’une tristesse extrême.

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Andeutung im Kunstwerk genügt dann, um vom rezipierenden Individuum verstanden zu werden. Ich habe an früherer Stelle einige Sätze zitiert, in denen Bergson – auf das Verhältnis von Kunst- und Naturschönem zurückkommend – davon spricht, dass die Natur sich ebenso der Suggestion bediene wie die Kunst, dass sie aber nicht über den Rhythmus verfüge und diesen »durch jene lange Kameradschaft ersetze«, die dazu führt, dass wir »bei der geringsten Andeutung eines Gefühls mit ihr mitfühlen, nicht anders als ein wiederholt Hypnotisierter den Gebärden des Magnetiseurs Folge leistet«. 145 Die Kunst verfügt also mit Takt und Rhythmus über Mittel, die es ermöglichen, die lange Zeit, die die camaraderie braucht, um Vertrautheit zu schaffen, erheblich abzukürzen. Nur deshalb kann es Künstlern gelingen, in ihren Werken ganz neue, bisher unbekannte Gefühle auszudrücken und Anderen nahezubringen. Wenn nun aber Takt und Rhythmus der Kunst eine größere Ausdruckskraft verleihen, andererseits aber selbst gar nichts ausdrücken, sondern lediglich die erforderliche Empfänglichkeit – die sensibilité und suggestibilité – schaffen, dann folgt daraus, dass Bergson das Hauptproblem der Wirkung von Kunst nicht darin sieht, die angemessenste Darstellungsweise für einen gegebenen Inhalt zu finden, sondern darin, die Widerstände, die den Mit- und Nachvollzug behindern, zu beseitigen. Will man das, was der hier betrachtete Text vermittelt, in einem Satz zusammenfassen, so kann man sagen: Der Ausdruck wirkt von ganz allein, wenn nur erst einmal die den Eindruck behindernden Widerstände beseitigt sind. Damit kommen jene Elemente von Bergsons These in den Blick, die Schwierigkeiten bereiten. Mann kann sie in zwei Gruppen einteilen. Die eine Gruppe betrifft Bergsons These, insofern sie eine – zumindest rudimentäre – ästhetische Theorie sein will. So kann man etwa fragen, ob Bergsons Versuch, das von der Musik abgelesene Phänomen des Rhythmus in allen anderen Künsten wiederzufinden, überzeugend ist. Aber es geht mir hier nicht um eine ästhetische Theorie, und deshalb meine ich, dass wir diese Fragen beiseitelassen können. Die zweite Gruppe dagegen betrifft die Relevanz dieser Ästhetik-Skizze für eine allgemeine Theorie des Zusammenlebens, Sich-Verständigens und Sich-Verstehens. Aus der Perspektive einer solchen Theorie – mithin: aus der Perspektive einer hermeneutischen Philosophie – wäre auch und gerade dann, wenn Bergsons Auffas145

Vgl. Anm. 112 [B1].

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sung von der Ubiquität des Rhythmus-Phänomens sich nicht als überzeugend erweisen sollte, zu fragen: Was treibt ihn eigentlich zu einer solchen These? Welches Bild von Verständigung und Verstehen liegt ihr zugrunde? Von dieser Frage aus ist dann weiter zu fragen: Was bedeutet es, wenn Bergson als wichtigste Voraussetzung des Sich-Verstehens die Beseitigung jener Widerstände sieht, die aus den individuellen Bestrebungen resultieren? Was für ein Bild leitet eine Theorie, die als ideale Bedingung des Verstehens einen »Zustand vollendeter Fügsamkeit« ansieht? Ist das ein Bild, das wir uns zu eigen machen können oder auch nur wollen? Wie sollen wir damit umgehen, dass Bergson uns Fälle »radikaler Unfreiheit wie Hypnose und Suggestion« 146, Vorgänge, in denen sich ein fremder Wille an die Stelle des eigenen setzt, als modellhaft vorstellt? Klären wir aber zunächst, ob Bergsons These überhaupt den Geltungsanspruch erhebt, den wir unterstellen. Könnte es, zum Beispiel, nicht sein, dass Bergson nur eine regionale Theorie über die Wirkung des Kunstschönen bieten will, nicht aber eine Theorie des Verstehens von Ausdruck überhaupt? Nun trifft es zwar zu, dass wir uns hier den an konkreten Beispielen festgemachten Überlegungen Bergsons zum Schönen – wie zuvor schon denjenigen zur Anmut – mit einer sehr allgemeinen Fragestellung nähern, aber alles spricht dafür, dass wir uns, wenn wir so verfahren, im Einklang mit Bergson Intentionen befinden. Bergson selbst weitet den Blickwinkel, indem er die Verbindung zum Naturschönen und zur Hypnose herstellt. Und er spricht deutlich aus, dass er nicht an einem vereinzelten Phänomen, sondern an einem Typus von Erfahrung interessiert ist: »Aus dieser Analyse ergibt sich, dass das Gefühl des Schönen kein Gefühl eigener Art ist, sondern dass jedes von uns erlebte Gefühl einen ästhetischen Charakter annehmen kann, vorausgesetzt, dass es suggeriert und nicht verursacht worden ist.« 147

Wie bei anderen Lebens- und anderen hermeneutischen Philosophen, so wird auch bei Bergson die Ästhetik zur Modellwissenschaft. 148 Der Begriff »Ästhetik« gewinnt hier wieder jene Allgemeinheit, die er bei Kant hatte, allerdings einen völlig anderen Inhalt, da er gerade nicht Worms[2004] 81 Il résulte de cette analyse que le sentiment du beau n’est pas un sentiment spécial, mais que tout sentiment éprouvé par nous revêtira un caractère esthétique, pourvu qu’il ait été suggéré, et non pas causé. – DI 15 | 12 | 20 148 Vgl. etwa Jung(M)[1996] 90 ff. zu Dilthey. 146 147

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die Wahrnehmung der gegenständlichen Wirklichkeit, sondern das Erfassen von Ausdruck bezeichnet. Aber mag auch das Konzept des Ausdrucksverstehens ein allgemeines, mag es zwar an der Erfahrung des Kunstschönen orientiert, aber nicht auf diese beschränkt sein – wäre es nicht möglich, dass wir es hier nur mit einer frühen Fassung dieses Konzepts zu tun haben und dass spätere, durchdachtere Fassungen weniger stark auf die Hypnose als Erklärungsprinzip fixiert sind? Indessen scheitert auch dieser Versuch einer Relativierung. In Le rire bietet Bergson – elf Jahre nach dem Essai sur les données immédiates de la conscience – die gleiche, sogar präziser ausgearbeitete Erklärung: »Ein dunkler Instinkt kann hier selbst Laien einige der subtilsten Resultate wissenschaftlicher Psychologie erahnen lassen. Es ist bekanntlich möglich, in einem Hypnotisierten durch einfache Suggestion Halluzinationen zu erregen. Man sagt ihm, dass ein Vogel auf seiner Hand sitze: Er wird den Vogel bemerken und wird ihn dann fortfliegen sehen. Aber durchaus nicht immer wird die Suggestion so folgsam aufgenommen. Oft gelingt es dem Hypnotiseur nur durch allmähliches, stufenweises Vorgehen, sie durchzusetzen. Er geht alsdann von Gegenständen aus, die der Hypnotisand wirklich wahrnimmt, und er wird zunächst versuchen, deren Wahrnehmung immer unschärfer werden zu lassen: daraufhin lässt er Schritt für Schritt aus dieser Unschärfe die genaue Form des Gegenstandes erstehen, den er zum Inhalt der Halluzination machen will. Ähnlich geschieht es vielen Menschen beim Einschlafen, dass sie in ihrem Gesichtsfeld ungestalte farbige Massen durcheinanderfließen sehen, die sich unmerklich zu bestimmten Gegenständen verdichten. In dem graduellen Übergang vom Unscharfen zum klar Bestimmten besteht also ganz eigentlich das Verfahren der Suggestion. Sicherlich würde es sich auch als vielen komischen Suggestionen zugrunde liegend nachweisen lassen, besonders in der derben Komik, wo sich vor unseren Augen die Verwandlung einer Person in eine Sache zu vollziehen scheint. Aber es gibt andere, diskretere Verfahren, in der Dichtung zum Beispiel, wo oft vielleicht unbewusst dasselbe Ziel erstrebt wird. Man kann durch gewisse Rhythmen, Reime und Assonanzen unsere Einbildungskraft einwiegen, durch immer neue Gleichklänge sie in ein regelmäßiges Schaukeln bringen und sie so zu einer willigen Aufnahme des Bildes, das man ihr suggeriert, vorbereiten.« 149 149 Un obscur instinct peut faire pressentir ici à des esprits incultes quelques-uns des plus subtils résultats de la science psychologique. On sait qu’il est possible d’évoquer chez un sujet hypnotisé, par simple suggestion, des visions hallucinatoires. On lui dira qu’un oiseau est posé sur sa main, et il apercevra l’oiseau, et il le verra s’envoler. Mais il s’en faut que la suggestion soit toujours acceptée avec une pareille docilité. Souvent le magnétiseur ne réussit à la faire pénétrer que peu à peu, par insinuation

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Und selbst wenn Bergson in Les deux sources de la morale et de la religion das Problem der Wirkung von Kunst noch einmal aufgreift 150 und diese nunmehr auf die fonction fabulatrice zurückführt, so klingt seine Erklärung zwar anders, hat sich aber der Sache nach kaum verändert. Die scheinbar neue Erklärung erweist sich bei näherer Betrachtung nur als Erweiterung, insofern sie die Möglichkeit der Suggestion (durch andere Personen) nunmehr im Faktum der Autosuggestion begründet sieht: Das fiktive Leben, das uns im Theater oder im Roman gezeigt wird, ist nur eine besondere Gestalt jenes fiktiven Lebens, das uns unsere eigene fabulatorische Funktion vorgaukelt. Die Geschichten, die uns andere Personen erzählen, können unsere Imagination anregen, weil sie denjenigen gleichen, die wir selbst erfinden. Wir entkommen also der These vom hypnotischen Charakter der Einfühlung (und damit vom hypnotischen Fundament des Verstehens) nicht. Aber wie verträgt sich diese Auffassung mit derjenigen von der Vollendung der Einfühlung im freiwilligen Entgegenkommen? Hat man es hier mit einer Regression auf die Stufe der Hierarchie, mit einem echten Bestandteil der Empathie oder mit dem Vorschein einer höheren Stufe zu tun? – Ich schlage vor, dass wir uns dieser Frage nicht durch eine vorschnell-eindeutige Antwort entledigen, sondern sie weiter für Unruhe sorgen lassen. Gewiss, derartige Fragen erwecken leicht den Verdacht, dass wir den Text, mit dem wir uns befassen, noch nicht richtig verstanden haben. Aber könnte nicht auch das Gegenteil zutreffen? Könnte es nicht sein, dass sich gerade in solchem Fragen ein angemessenes Verständnis äußert? graduelle. Il partira alors des objets réellement perçus par le sujet, et il tâchera d’en rendre la perception de plus en plus confuse : puis, de degré en degré, il fera sortir de cette confusion la forme précise de l’objet dont il veut créer l’hallucination. C’est ainsi qu’il arrive à bien des personnes, quand elles vont s’endormir, de voir ces masses colorées, fluides et informes, qui occupent le champ de la vision, se solidifier insensiblement en objets distincts. Le passage graduel du confus au distinct est donc le procédé de suggestion par excellence. Je crois qu’on le retrouverait au fond de beaucoup de suggestions comiques, surtout dans le comique grossier, là où parait s’accomplir sous nos yeux la transformation d’une personne en chose. Mais il y a d’autres procédés plus discrets, en usage chez les poètes par exemple, qui tendent peut-être inconsciemment à la même fin. On peut, par certains dispositifs de rythme, de rime et d’assonance, bercer notre imagination, la ramener du même au même en un balancement régulier, et la préparer ainsi à recevoir docilement la vision suggérée. – R 415 f. | 46 f. | 43 f. 150 DS 1141 f. | 206 f. | 152 f.

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5.3.2.6 Leistung und Grenzen der Empathie Ich hatte vorgeschlagen, die Formen der Sympathie anhand der Stufenmodelle Architektur – Organismus – (vermittelndes) Bild – Intuition sowie Funktion – Bedeutung – Sinn verständlich zu machen. Nachdem ich das »Einrücken« in ein vorgegebenes, überindividuelles Handlungsmuster den Stufen Architektur bzw. Funktion zugeordnet habe, wäre nun zu prüfen, ob die Zuordnung der Einfühlung zu den Stufen Organismus bzw. Bedeutung nicht nur möglich, sondern auch für das Textverständnis ertragreich ist. Nun könnte es zunächst scheinen, als würden wir uns beim Versuch, eine Beziehung zwischen Einfühlung und Organismus herzustellen, erneut in das Problem verstricken, wie sich ein Vier-Schichten-Modell mit einem Drei-Schichten-Modell kombinieren lässt: Zeichnet sich der Organismus nicht dadurch aus, dass jedem seiner Organe eine bestimmte Funktion zukommt? Hätten wir also nicht doch nach einer Schicht unterhalb der Funktion suchen sollen, um nun organisme und fonction auf der gleichen Ebene ansiedeln zu können? Indessen: »Organismus« ist nur ein Wort. Es ist vielleicht kein ganz beliebiges Wort, aber letztlich doch bloß ein Name für eine Schicht. Unser Hauptaugenmerk sollte aber nicht den Worten gewidmet sein, sondern den Merkmalen, die Bergson veranlassen, zwischen zwei Schichten zu unterscheiden, statt nur eine einzige anzusetzen. Diese Merkmale kennen wir bereits: Während das, was Bergson »Architektur« nennt, darauf beruht, dass alle Elemente eine feste Gestalt aufweisen und sich »kaum verändert« in das vorgegebene Raster einfügen lassen, geht das als »Organismus« bezeichnete Konzept davon aus, dass die Elemente sich »aneinander annähern« und sich schließlich »gegenseitig durchdringen«, sich gegenseitig beeinflussen, um schließlich miteinander zu verschmelzen. 151 Eben das aber ist die Revolution, die die Empathie im Bereich der Sympathie bewerkstelligt. Die menschlichen Individuen starren nicht mehr nur auf die gleichsam transzendenten Handlungsmuster, um alsbald in die ihnen bestimmte Position »einzurücken«, sondern richten ihren Blick auf die in der Immanenz anzutreffenden übrigen Mitglieder der Gemeinschaft, um sich an ihnen zu orientieren. Durch gegenseitigen Kontakt, gegenseitige Einfühlung und Anpassung aneinander schaffen die Individuen ein Geflecht, eine offene Struktur, 151

Vgl. Abschnitt 1.2.1, S. 54.

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wenn man so will: ein Netzwerk, kurz: eine »Gesellschaft der Individuen«. Dies ist der erste und wichtigste Schritt auf dem Weg von der geschlossenen »Gesellschaft von oben« zur offenen »Gesellschaft von unten«. Das heißt aber: Die Sympathie ist auch in ihrer Erscheinungsform als Empathie nicht ein privates Gefühl, sondern das Band, das die Gemeinschaft zusammenhält. Was das Verhältnis von Einfühlung und Bedeutung angeht, so möchte ich diese Zuordnung nicht, wie es naheliegend wäre, auf Bergsons Bemerkung stützen, dass das Lachen »eine gesellschaftliche Bedeutung hat« 152. Auch hier lohnt es sich, genauer hinzusehen. Wir hatten ja festgestellt, dass Bergsons Theorie der Bedeutung zunächst den Standpunkt des Pragmatismus einnimmt, um dann durch langsame Akzentverschiebung die Bedeutung ins Bedeutsame hinübergleiten zu lassen, das es nur im menschlichen Leben gibt. 153 Dieses Bedeutsame nun finden wir auf zweierlei Weise mit der Empathie verknüpft. Zum einen: Wenn als bedeutsam diejenigen Situationen gelten, die nicht mit einem standardisierten Verhaltensmuster, sondern nur mit einer kreativen Anstrengung angemessen zu beantworten sind, dann kann man sagen, dass Vorgänge wie die Sequenz Lachen ! Ausgelacht-Werden ! Verhaltensänderung im Kontext einer »Gesellschaft der Individuen« dazu dienen, die bedeutsamen Situationen auszuhandeln, d. h. ein gemeinsames Verständnis darüber zu erzielen, welche Situationen als bedeutsam zu betrachten sind und welche nicht. Indem der Zollbeamte die Schiffbrüchigen unverzüglich nach zu verzollenden Waren fragt, lässt er erkennen, dass er das, was vorgeht, für eine Routineangelegenheit hält. Das Lachen der Anderen bekundet, dass sie gegenteiliger Auffassung sind. Zum anderen: Die Sympathie als unwillkürliches Sich-hineinVersetzen in den Anderen (»unreflektierte Sympathie«) »entdeckt« – um mit Heidegger zu reden – die bedeutsamen Wesen. Das können – wie im Fall der Anmut – einzelne Menschen sein, die sich als besonders bedeutsam (weil entgegenkommend) aus der Masse der übrigen herausheben. Das kann aber auch – wie im berühmten Beispiel des Zuckerwassers, das der Philosoph zubereitet – die Entdeckung einer ganz neuen Kategorie bedeutsamer Wesen sein: Indem hier eine spontane Sympathie das Warten auf das Sich-Auflösen des Zuckers 152 153

Vgl. Anm. 90. Vgl. Abschnitt 2.2.2.2, S. 199.

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als »Begleiten« enthüllt 154, erweist sie das Universum als eines, das dauert 155, und transformiert zugleich diese alltägliche, ja triviale Situation in eine bedeutsame 156. Die Sympathie als Empathie strukturiert eine offene menschliche Welt – dies ist ihre Leistung. Indessen sind auch ihre Grenzen nicht zu übersehen. In dieser Hinsicht möchte ich ebenfalls zwei Punkte hervorheben. Die offenkundigste Schwachstelle besteht in dem, was ich im Hinblick auf die Gedanken von Norbert Elias 157 als Wir-Schwäche bezeichnen möchte. Diese Schwachstelle ist nicht nur offenkundig, sie ist auch verständlich: Das Projekt einer auf dem einfühlenden Sich-Anpassen ihrer Mitglieder basierenden Gemeinschaft war hervorgegangen aus dem Widerstand gegen die starre Architektonik der geschlossenen Gesellschaft. Die Architektonik nun mochte für die Individuen, von denen sie nichts als das »Einrücken« in vorab feststehende, partikulare Rollen erwartete, in vielfacher Hinsicht unbefriedigend sein – sie sorgte dennoch dafür, dass die Gesellschaft ein systematisch verfasstes Ganzes war. Und wie so oft bei Revolutionen, erweist sich das Neue auch hier genau an der Stelle als schwach und unbefriedigend, an der das Alte seine größte Stärke besessen hatte. Das offene Netzwerk der miteinander im Kontakt stehenden Individuen ist im Hinblick auf die Schaffung einer Ganzheit, die es aufnehmen könnte mit jener ganzheitlichen Ordnung, in die die Instinkte das Tier einbetten, auch nicht annähernd so leistungsfähig wie die geschlossene Gesellschaft. In allen von mir angeführten Beispielen ist es mit Händen zu greifen, dass die menschlichen Individuen sich bestenfalls an anderen Individuen orientieren, dass ihnen aber die Vorstellung eines umfassenden Ganzen oder gar von für dieses Ganze konstitutiven Werten völlig fehlt. Das Wir ist eine mehr oder weniger konsistente Verknüpfung von Individuen, keine Totalität. Die Folgen dieses Mangels sind eine Unsicherheit und ein Schwanken, auf die Bergson insbesondere in Le rire unsere Aufmerksamkeit lenkt. Das Lachen ist, wie er zeigt, eine naturwüchsige Äußerung, der Bedeutung für die Gesellschaft zukommt. Da nun aber die im Entstehen begriffene »Gesellschaft der Individuen« über keine 154 155 156 157

Il coïncide avec mon impatience […]. – EC 502 | 10 | 16 L’univers dure. – EC 503 | 11 | 17 Ce petit fait est gros d’enseignements. – EC 502 | 9 | 16 Vgl. Anm. 99.

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Vorstellung vom Ganzen verfügt, an der sie sich orientieren könnte, gerät das Lachen bald in den Sog des Naturhaften, bald in denjenigen der von der (geschlossenen) Gesellschaft definierten Normen, und hat Mühe, seinen eigenen Weg zu finden: »[Das Lachen] geht ganz von allein los und pariert ganz von selbst Stoß auf Stoß. Es hat keine Zeit, jedes Mal nachzusehen, wohin es trifft. Es straft gewisse Fehler beinahe so, wie eine Krankheit gewisse Exzesse straft, trifft Unschuldige, schont Schuldige, geht nur aufs Gesamtresultat und kann nicht jedem einzelnen Fall die Ehre antun, ihn für sich zu untersuchen. Es gehört zu den Dingen, die sich auf natürlichem Wege regulieren und nicht durch bewusste Überlegung.« 158 »Wer sich isoliert, setzt sich der Lächerlichkeit aus, weil das Komische eben zum großen Teil in dieser Isolierung besteht. So erklärt es sich, dass das Komische so oft von den Sitten, den Ideen und – sagen wir es geradeheraus: den Vorurteilen einer Gesellschaft abhängt.« 159

Erstaunlicher, weil weniger leicht verständlich, ist die in den betrachteten Beispielen zu Tage tretende Ich-Schwäche. Man sollte eigentlich meinen, an dieser Stelle die Stärke des Empathie-Konzeptes anzutreffen, das ja die Einfühlung in und die Kameradschaft zwischen Individuen fordert. Die Texte freilich konfrontieren uns mit einer anderen Situation. Das beginnt bereits bei der Person, auf die die Sympathie gerichtet ist. Sie sollte ausdruckhaftes Verhalten zeigen, aber das tut sie durchaus nicht immer, vielleicht sogar nur ausnahmsweise, wie das Phänomen des Komischen lehrt. Sie sollte im Äußeren ein inneres Streben erkennen lassen, auf das sich die Empathie stützen kann, aber ein solches Streben fehlt oft entweder gänzlich oder es ist nicht stark genug, die Trägheit der körperlichen und geistigen Gewohnheiten zu besiegen und so ein einheitliches Ausdrucksbild zu schaffen. Immerhin aber ließe sich hier noch einwenden, dass das vielleicht nur die

158 [Le rire] part tout seul, véritable riposte du tac au tac. Il n’a pas le loisir de regarder chaque fois où il touche. Le rire châtie certains défauts à peu près comme la maladie châtie certains excès, frappant des innocents, épargnant des coupables, visant à un résultat général et ne pouvant faire à chaque cas individuel l’honneur de l’examiner séparément. Il en est ainsi de tout ce qui s’accomplit par des voies naturelles au lieu de se faire par réflexion consciente. – R 482 | 151 | 132 159 Quiconque s’isole s’expose au ridicule, parce que le comique est fait, en grande partie, de cet isolement même. Ainsi s’explique que le comique soit si souvent relatif aux mœurs, aux idées – tranchons le mot, aux préjugés d’une société. – R 453 | 106 | 93

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Schwierigkeiten des Anfangs sind und dass der Anteil echten Ausdrucks im Laufe der Zeit zunehmen wird. Prinzipieller Natur ist dann freilich das Problem, dem wir auf der Seite der sympathisierenden, d. h. der sich einfühlenden Person begegnen. Die Theorie geht davon aus, dass es sich bei der Einfühlung um einen auf Gegenseitigkeit beruhenden Vorgang handelt und dass die Partner sich auf Augenhöhe begegnen. In der Praxis aber finden wir auch hier Unsicherheit und Schwanken: Bald meint das sympathisierende Individuum (wie im vorletzten Stadium der Anmut), sein Gegenüber beherrschen zu können oder gar zu sollen, bald strebt es nach einer widerstandslosen Unterordnung unter den Anderen, nach einer Auslöschung des eigenen Ich, die in der Angleichung von Empathie und Hypnose ihren Höhepunkt erreicht, aber schon vorher in der dem Augenblick verhafteten – im Einzelfall hellsichtigen (divinatrice), aber für das Ganze blinden – kameradschaftlichen Sensibilität zum Ausdruck kommt. Dies ist, wie gesagt, kein auf Anfänger beschränktes, sondern ein prinzipielles Problem 160 der Einfühlung: Fordert sie nicht die möglichst vollständige Angleichung an das andere, die möglichst vollständige Auslöschung des eigenen Ich? So gesehen, verliert die Diagnose der Ich-Schwäche viel von ihrem anfangs überraschenden Charakter. Dieser Versuch, die zunächst im Detail analysierten Beispiele zusammenfassend zu bewerten, wird gestützt durch eine Gesprächsnotiz, die sich in Isaak Benrubis tagebuchartigen »Erinnerungen an Henri Bergson« findet. Benrubi – in Griechenland geborener Jude, der in Deutschland und Frankreich studiert hatte, mit der deutschen und der französischen Philosophie seiner Zeit gleichermaßen vertraut war und sich um den Gedankenaustausch zwischen beiden Ländern bemühte –, Benrubi also war über viele Jahre hinweg ein enger Vertrauter Bergsons und hat in seinem Buch die wichtigsten Gespräche mit ihm festgehalten. Unter dem 27. 3. 1910 notiert er: »Dann sprachen wir über die Theorie der ›Einfühlung‹ von Lipps. Ich sagte, dass wir uns in den Seelenzustand eines Anderen nur teils durch den Nachahmungsinstinkt (Lipps), teils durch Assoziation ›einfühlen‹ können. Was die metaphysische Einfühlung (Bergsons ›Anstrengung der intellektuellen Sympathie‹) angeht, so ›ist anzumerken‹, sagt Bergson, ›dass sie sich auf 160 Wenn ich hier von einem prinzipiellen Problem spreche, so meine ich auch: Dies ist nicht bloß ein Problem der bei Bergson anzutreffenden Einfühlung, sondern ein Problem des Einfühlungsgedankens überhaupt.

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eine ganz andere Weise vollzieht. Wir erkennen die Wirklichkeit nur deshalb durch ›Sympathie‹, weil wir keine Monster innerhalb der Natur sind und weil wir uns in gewisser Weise in ihr wiederfinden. Dies macht den Anteil des Mystizismus in der bergsonschen Erkenntnistheorie aus.‹« 161

1910: Sieben Jahre zuvor hatte Bergson Introduction à la métaphysique (woraus Benrubi die Formel effort de sympathie intellectuelle zitiert), drei Jahre zuvor hatte er L’évolution créatrice publiziert. Bergson blickt schon voraus auf den Philosophenkongress in Bologna, wo er den Vortrag über L’intuition philosophique halten wollte, um das Missverständnis seiner Philosophie als eines puren Intuitionismus auszuräumen 162. Ein Buch über Moral und Religion, worin er sich auch mit der Mystik befassen wollte, war geplant, doch sollten bis zur Publikation von Les deux sources de la morale et de la religion noch mehr als 20 Jahre vergehen. Dies ist die Situation, in der Benrubi mit Bergson über die Theorie der Einfühlung spricht und Bergsons Antwort in gewisser Weise alle erwähnten Publikationen miteinander verbindet. Man wird hier nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen dürfen: Benrubi rekapituliert das Gespräch aus dem Gedächtnis, komprimiert es auf wenige Sätze und mischt Bergsons Äußerungen mit eigenen Bewertungen. Wenn wir aber annehmen, dass die Darstellung im Kern korrekt ist, dann können wir einerseits festhalten, dass sich Bergson bereitwillig auf das Thema einlässt. Er fragt nicht (wie es die Verfechter der These von den grundverschiedenen intellektuellen Situationen in Frankreich und Deutschland gerne hören würden): Wer ist denn eigentlich dieser Lipps, von dem Sie mir da erzählen? Und er fragt auch nicht: Wieso sollte ich mich überhaupt mit deutschen Einfühlungstheorien beschäftigen? Er zeigt sich mit der Sache vertraut und an dem Problem interessiert. Andererseits aber gibt er just in dem Moment, in dem er das Thema als auch ihn beschäftigen161 Puis nous parlâmes de la théorie de l’« Einfühlung » de Lipps. J’ai dit que nous n’arrivons à nous « einfühlen » dans l’état d’âme d’autrui qu’en partie par l’instinct d’imitation (Lipps), en partie par association. Pour ce qui est de l’Einfühlung métaphysique (« effort de sympathie intellectuelle » de Bergson), « il convient de faire remarquer, dit Bergson, qu’elle a lieu d’une manière toute différente ; nous ne connaissons la réalité par « sympathie » que parce que nous ne sommes pas des monstres dans la nature et que nous nous y retrouvons en quelque sorte. C’est cela qui constitue la part de mysticisme dans l’épistémologie bergsonienne. » – Benrubi[1942] 45 f. – Auf diese Textpassage hat bereits Taki[2009] 93, Anm. 6, hingewiesen. 162 Benrubi[1942] 45

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des anerkennt, zu Protokoll, dass er eine bloß individualpsychologische Einfühlungstheorie nicht für überzeugend, sondern eine »metaphysische« (ontologische) Grundlegung für erforderlich hält. Die Pointe von Bergsons Stellungnahme bleibt uns vorerst verschlossen. Diese klingt ja teilweise so, als ob Bergson gegen den unbefriedigenden Psychologismus die – jedenfalls im Hinblick auf menschliche Sympathie – nicht weniger unbefriedigende These der umgreifenden Ordnung zu reaktivieren und ins Feld zu führen gedenkt. Deutlich ist jedoch zumindest, dass Bergsons Kritik sich gegen die Vorstellung wendet, das Einfühlungsgeschehen sei angemessen zu beschreiben, wenn man zwei Individuen aufeinandertreffen, den Rahmen, in dem dies geschieht, aber außer Acht lässt. Wir werden demnach zu fragen haben, ob die Formeln, dass »wir [Menschen] keine Monster innerhalb der Natur sind« und dass »wir uns in gewisser Weise in ihr wiederfinden«, anderes meinen könnten als den Rückfall in die geschlossene Ordnung. Jedenfalls aber werden wir erwarten, dass die Einsicht in die mit der bloßen Empathie verbundene WirSchwäche die Entwicklung vorantreibt und dass die nächste Stufe der Sympathie im Bereich menschlichen Zusammenlebens uns einen Fortschritt im Hinblick auf die Vorstellung vom umgreifenden Ganzen zeigt.

5.3.3 Analogie 5.3.3.1 Musikalischer Paradigmenwechsel Wir haben im Abschnitt 5.3.2 einige Aspekte dessen betrachtet, was man Bergsons Theorie der Kunst nennen könnte. Die Erfahrung von Kunst stellt für ihn einerseits etwas allen Menschen Vertrautes, andererseits aber etwas noch Unverstandenes, der Aufklärung Bedürftiges dar. Der zweite Gesichtspunkt erklärt, warum es in Bergsons Werken eine Theorie der Kunst – oder jedenfalls: Fragmente einer solchen Theorie – gibt. Der erste Gesichtspunkt erklärt, wie es sein kann, dass Bergson zugleich (und in den gleichen Werken) dem ausgedehnten und vielfältigen Gebiet unseres Umgangs mit Kunst didaktische Bilder entnimmt – Bilder mithin, die als »selbstverständlich« gelten und dazu bestimmt sind, anderes verständlich zu machen. Besonders häufig greift Bergson dabei auf das Teilgebiet unseres Umgangs mit Musik zurück. 655 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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In der Überschrift dieses Abschnitts spreche ich von einem musikalischen Paradigmenwechsel. Diese Formulierung soll besagen, dass sich parallel zu jener inhaltlichen Erweiterung von Bergsons Fragestellung, der wir in diesem Kapitel nachgehen, auch eine Veränderung seiner Bildwelt vollzieht und dass diese Veränderung sich da, wo Bergson die Musik als didaktisches Bild nutzt, als grundsätzlicher Wandel dokumentiert. Dem philosophischen Ansatz der Frühwerke, demgemäß lediglich die individuelle Dauer von Interesse ist, entspricht die individuelle Erfahrung einer Kunst, deren Aufgabe die Darstellung von Individualität ist. Die für die mittlere und späte Phase charakteristische Erweiterung der Fragestellung auf die Mit- und Umwelt wird begleitet durch das Auftreten von Bildern, die auf die gemeinschaftliche Erfahrung und die Gemeinschaft stiftende Funktion von Kunst abheben. Freilich ist der Begriff »Paradigmenwechsel« cum grano salis zu nehmen. Gemeint ist nicht ein radikaler Bruch, sondern eine Tendenz. Da der individuelle Aspekt noch in den späten, der soziale Aspekt gelegentlich auch schon in den frühen Werken auftritt, kann man ebenso gut auch von Schichten der Kunsterfahrung sprechen. Das Paradigma einer Kunst des Individuellen und des Individuums ist uns bereits mehrfach begegnet. Für dieses Paradigma stehen das Bild, die Skulptur und der Roman. Bei dem Wort »Bild« denkt Bergson fast immer an das Porträt einer Person, bei dem Wort »Skulptur« an die Figur eines Menschen, bei dem Wort »Roman« an die Lebensgeschichte eines Helden. Von entscheidender Bedeutung ist dabei für ihn das, was ich im Abschnitt 5.3.2.4 als »Spannung« und »Gerichtetheit« bezeichnet habe. Bergson sucht in der Kunst – und zwar auch und gerade in den Werken der nicht-diskursiven bildenden Kunst – den Eindruck der Gespanntheit als Ausdruck der Dynamik: »So ziehen sich die tausend aufeinanderfolgenden Stellungen eines Läufers in eine einzige symbolische Haltung zusammen, die unser Auge wahrnimmt, die die Kunst darstellt und die für jedermann das Bild eines laufenden Menschen wird.« 163

163 C’est ainsi que les mille positions successives d’un coureur se contractent en une seule attitude symbolique, que notre œil perçoit, que l’art reproduit, et qui devient, pour tout le monde, l’image d’un homme qui court. – MM 343 | 234 | 207

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Dieses Interesse an der Spannung als Ausdruck der Dauer im gegenwärtigen Moment ist meist auch dafür verantwortlich, dass Bergson bestimmte Formen der Kunst ablehnt. So bewertet er die »kinematographische Methode« nicht, wie man denken könnte, als verbündete Kunst, sondern als Ausdruck der homogenen, mathematischen Zeit. 164 Das liegt eben daran, dass die »bewegten Bilder« den Eindruck der Bewegung nicht einer inneren Spannung verdanken, sondern der Mechanik des Projektionsapparates. Auf den gleichen Grund lässt sich die äußerst kühle Art zurückführen, mit der Bergson auf den Vorschlag reagierte, die kubistische Kunst als Ausdruck seiner Philosophie zu begreifen. 165 Bevorzugtes Bild für die dynamische Kontinuität der Dauer, für die Spannung im Augenblick ist dagegen seit dem Essai sur les données immédiates de la conscience die Melodie bzw. das Hören einer Melodie. Ich habe auf die generelle Affinität der Lebensphilosophie zur Musik hingewiesen und Bergsons Melodie-Beispiel in diesen Kontext eingeordnet. 166 Aber diese unbegleitete Melodie, von einem vereinzelten Musiker hervorgebracht und von einem vereinzelten Hörer wahrgenommen, stellt doch nur einen sehr kleinen Ausschnitt dessen dar, was Musik ausmacht. Und eben deshalb kann und muss der erweiterten philosophischen Thematik ein umfassenderes Bild der Musik entsprechen. In der Tat trifft man in den Texten, die den interpretierenden Menschen aus seiner Vereinzelung zu befreien suchen, didaktische Bilder an, die gleichsam schrittweise die zuvor einsame Melodie in eine ganze Welt der Musik einbetten. Diese Eroberung des Kontextes steht in engem Zusammenhang mit den bisher beschriebenen Stufen der Sympathie, so dass ich hier von einem Paradigma der musikalischen Kontaktaufnahme sprechen möchte. Die Steigerung der Komplexität beginnt damit, dass die Töne der Melodie – teils konsonante, teils dissonante – Obertöne zugeordnet bekommen. Wir haben gesehen, dass dieses Bild in engem Zusammenhang steht mit Bergsons Theorie des Ausdrucks. 167 Dann ist von einer Begleitung die Rede, wenn auch – man befindet sich in Le rire – bedauerlicherweise zu berichten ist, dass die Melodie hinter der Be164 165 166 167

Vgl. Kap. 3, Anm. 179. Antliff[1993] 3 Vgl. Abschnitt 4.1.2, S. 443 f. Vgl. Abschnitt 5.3.2.4, S. 634, insbesondere Anm. 127.

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gleitung hinterherhinkt wie der zu schwerfällige Körper hinter der beflügelten Seele. 168 Schließlich hört man von einem ganzen Orchester, das mit verschiedenartigsten Instrumenten eine vielstimmige Musik erklingen lässt. 169 Aber diese zunehmend komplexe Musik entsteht nicht von selbst. Sieht man einmal von den Obertönen ab, so ist die gesteigerte Komplexität nur erreichbar, wenn sich eine Gemeinschaft von Musikern bildet, die sie erzeugt. Im Fall von Melodie und Begleitung genügen dafür zwei, im Fall des Orchesters dagegen sind deutlich mehr Menschen erforderlich. In jedem Fall müssen sie sich zusammenfinden, jeweils einen bestimmten Teil der Aufgabe übernehmen und mit den Anderen so zusammenarbeiten, dass ein konsistentes Gesamtergebnis entsteht. Es ist dabei ohne weiteres verständlich, dass gerade das Bild des Orchesters, dessen Mitglieder jeweils nur ihr eigenes Instrument beherrschen und nur ihre eigene Stimme kennen, noch starke Bezüge zum hierarchischen Modell der Gesellschaft aufweist, um dann mit dem Hören auf die Anderen sowie dem Sich-Anpassen an das gemeinsame Tempo die Stufe der Empathie zu erklimmen und vermittels gelegentlicher Blicke auf den Dirigenten zumindest eine Ahnung des Ganzen zu ermöglichen. Schließlich entwickelt sich auch die Zuhörer-Seite – und sie entwickelt sich im Grunde am eindrucksvollsten, denn hier kommt eine Bewegung in Gang, die schließlich zum Kunsterlebnis als Gemeinschaft stiftendem Erlebnis führt. Aber wie die Möglichkeiten einer vielstimmigen Musik experimentierend erschlossen und das Zusammenspiel der Musiker geprobt werden müssen, so erfordert auch der Übergang von der individuellen zur sozialen Erfahrung von Kunst Übung. Den Repräsentanten einer solchen übenden Vorbereitung haben wir im Tanzschüler kennengelernt. Einerseits ist er noch ganz im alten Paradigma befangen, denn die Situation, die Bergson beschreibt, ist ja nicht diejenige eines gemeinschaftlich absolvierten Tanzkurses, sondern diejenige eines ganz für sich allein übenden, mit nichts als der Erinnerung an den beobachteten Tanz ausgestatteten Schülers. Andererseits aber unternimmt er die Anstrengung, um sich auf die gemeinschaftliche Erfahrung der Musik in Gestalt des gemeinsamen Tanzens vorzubereiten. Denn wenn Bergson als drittes Paradigma das der gemeinschaft168 169

comme une mélodie qui retarderait sur son accompagnement – R 392 | 8 | 11 Vgl. Kap. 6, Anm. 5.

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lichen und Gemeinschaft stiftenden Erfahrung von Kunst entwickelt, dann hat er nicht das Bild eines Konzertsaales vor Augen, in dem die Zuhörer – jeder für sich in seinem Sitz – andächtig lauschen, sondern das Bild eines Balls oder eines Volksfestes. Im Anschluss an das schon erörterte Exerzitium des Zuwendens und Abziehens von Sympathie regt Bergson zu Beginn von Le rire noch eine zweite Vorübung an: »Es genügt, dass wir in einem Salon, in dem man tanzt, unsere Ohren gegen den Klang der Musik verschließen, um alsbald die Tänzer lächerlich erscheinen zu lassen.« 170

Das Verstummen der Musik macht deren Leistung deutlich – jedenfalls dann, wenn nur man selbst (wie weiland Odysseus) sich die Ohren zustopft, während alle anderen anwesenden Personen die Musik weiterhin hören und sich von ihr zum Tanz anregen lassen: Die Musik verleiht den Schwung, und sie stiftet den Sinn. Und weil dies kein Sinn ist, den jede(r) Einzelne sich ganz allein zusammenreimen müsste, sondern ein Sinn, der gleichsam in der Musik als solcher steckt und mit ihr aufgenommen wird, stiftet die Musik einen kollektiven, einen gemeinsamen Sinn, der die Handlungsweise der Anderen verständlich und deshalb Sympathie möglich macht. Sobald man, sich die Ohren verstopfend, aus diesem gemeinsamen Sinngeschehen heraustritt, erscheint das, was die Anderen treiben, absurd. Wo aber steckt hier – so möchte man fragen – der Schein? In der Selbstverständlichkeit des von Allen geteilten Sinns oder im Eindruck der Absurdität? Auf welcher Seite ist die Wahrheit, auf welcher die Illusion? Das bleibt vorerst offen. Deutlich wird lediglich, dass die Musik in diesem Satz über sich hinausweist. Anders als in Bergsons Ausführungen über die Anmut, die sich ganz konkret auf die im Theater zu hörende Musik und die dort anzutreffenden Tänzer beziehen, richtet sich der Blick hier alsbald auf die »menschlichen Handlungen« überhaupt sowie die musique de sentiment, und damit letztlich auf die »Musik«, die das Leben für uns spielt. Solche Tanzmusik kann Gemeinsamkeit stiften, weil sie etwas Vorgängiges und Überindividuelles ist. Der Tanz, den die Musiker gerade spielen, existierte schon, als die jetzt Tanzenden beim Fest erschienen. Er existierte schon, als die Musiker ihn zu spielen, ja als sie ihn zu proben begannen: 170 Il suffit que nous bouchions nos oreilles au son de la musique, dans un salon où l’on danse, pour que les danseurs nous paraissent aussitôt ridicules. – R 389 | 4 | 7

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»Ob die Musik nun Freude, Trauer, Mitleid oder Sympathie ausdrückt, wir sind in jedem Augenblick das, was sie ausdrückt. Nicht nur wir allein, sondern viele andere, alle anderen auch. Wenn die Musik weint, ist es die Menschheit, ist es die ganze Natur, die mit ihr weint. In Wirklichkeit trägt sie diese Gefühle nicht in uns hinein; vielmehr trägt sie uns in sie hinein, wie man vorübergehende Spaziergänger in einen Tanz hineinzieht.« 171

Gemeinsame Erfahrung von Musik und gemeinsamer Tanz, die Musik des Lebens und das Sich-hineinziehen-Lassen in den großen Reigen – wenn jene Bilder, in denen die Komplexität der Musik erst langsam erkundet und erobert wird, auf die Sympathie als Empathie verweisen, dann lässt sich vermuten, dass wir es hier mit dem Leitbild einer neuen Stufe der Sympathie zu tun haben. Versuchen wir also zu klären, was es mit diesem Leitbild auf sich hat. 5.3.3.2 Die »Musik unter dem Text« Der junge, selbst als Gymnasiallehrer tätige Bergson war bekanntlich der Ansicht, dass die »übel verstandene« schulische Erziehung zumeist Fremdkörper einimpfe, die sich nie organisch in das Seelenleben der Schüler integrieren. 172 Aber noch im Alter, als berühmter Professor der Philosophie, kam er immer wieder zurück auf die Frage einer lebendigen Vermittlung von Wissen und Kultur. Im 1921/22 geschriebenen und 1934 publizierten zweiten Teil der Einleitung zu La pensée et le mouvant benennt Bergson zunächst die Gefahr, die ihn veranlasst, Kritik zu üben und Reformvorschläge zu unterbreiten: Das bestehende Bildungswesen tendiere dazu, den »schwätzenden Menschen« (homo loquax) zu züchten, der sich vom »sprechenden Menschen« (homo loquans) dadurch unterscheidet, dass er zwar eingeübte Floskeln geläufig aneinanderzureihen, zu kombinieren und zu rekombinieren versteht, im Übrigen aber nicht weiß, wovon die Rede ist. 173 Er unterscheidet sich übrigens auch vom homo faber, der durch seine Arbeit im Kontakt mit der Wirklichkeit Que la musique exprime la joie, la tristesse, la pitié, la sympathie, nous sommes à chaque instant ce qu’elle exprime. Non seulement nous, mais beaucoup d’autres, mais tous les autres aussi. Quand la musique pleure, c’est l’humanité, c’est la nature entière qui pleure avec elle. A vrai dire, elle n’introduit pas ces sentiments en nous ; elle nous introduit plutôt en eux, comme des passants qu’on pousserait dans une danse. – DS 1008 | 36 | 32 172 Vgl. Kap. 2, Anm. 259. 173 Ich beziehe mich nachfolgend vor allem auf PM 1325–1327 | 92–95 | 102–105. 171

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ist, und vom homo sapiens, der über das, was er tut, reflektiert. Diesen beiden legitimen Ausprägungen des Menschlichen – im Gegensatz zum homo loquax, der nur eine Karikatur des Menschen darstellt – entspricht nun eine Zweiteilung der Reformvorschläge. Bergson beginnt mit dem praktischen und für die Praxis relevanten Wissen, das die Gesellschaft im Laufe ihrer Geschichte hervorgebracht und aufgespeichert hat. Er schlägt vor, in demjenigen Teil des Unterrichts, der dieses Wissen vermitteln soll, weniger über den Stoff zu reden, die Schüler weniger auswendig lernen zu lassen, sondern sie, wo immer das möglich ist, in direkten, praktischen Kontakt mit den Dingen und den Verfahren zu bringen, um sie so eigene Erfahrungen machen zu lassen: »Man vergisst, dass die Intelligenz wesentlich eine Fähigkeit ist, die Materie zu handhaben, dass sie wenigstens so begann, dass dies die Absicht der Natur war. Wie sollte daher die Intelligenz nicht von der Erziehung der Hand profitieren? […] Ein einseitiges Buchwissen lähmt und unterdrückt eine Aktivität, die nur darauf wartet, sich entfalten zu können. Lassen wir also das Kind sich in Handarbeit üben und überlassen wir diese Lehre nicht einem Handlanger. Wenden wir uns an einen wirklichen Meister, damit er aus dem Berühren der Dinge ein Taktgefühl entwickele: Das Verständnis (intelligence) wird dann aus der Hand in den Kopf aufsteigen.« 174

Schon dieser Teil der Reformvorschläge, von dem man denken könnte, dass er für unser Thema von geringem Interesse ist, verweist einerseits zurück auf früher erörterte Themen (ich erinnere insbesondere an die ausgelachte Person, die ihre Handlungsweise zunächst ohne innere Überzeugung verändert und von der Bergson behauptet hatte, dass ihr äußerliches Tun im Laufe der Zeit zu einer veränderten Haltung führen werde); er weist andererseits voraus auf einen Prozess der aneignenden Verarbeitung jener ursprünglichen Erfahrungen, die in der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit gewonnen Bergson beschreibt den homo loquax ausführlicher auf den dieser Textpassage vorausgehenden Seiten. 174 On oublie que l’intelligence est essentiellement la faculté de manipuler la matière, qu’elle commença du moins ainsi, que telle était l’intention de la nature. Comment alors l’intelligence ne profiterait-elle pas de l’éducation de la main ? […] Un savoir tout de suite livresque comprime et supprime des activités qui ne demandaient qu’à prendre leur essor. Exerçons donc l’enfant au travail manuel, et n’abandonnons pas cet enseignement à un manœuvre. Adressons-nous à un vrai maître, pour qu’il perfectionne le toucher au point d’en faire un tac : l’intelligence remontera de la main à la tête.

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werden: Das »Taktgefühl« – hier eine vortheoretische Haltung gegenüber dem in der Praxis des homo faber Begegnenden – verweist auf den bon sens, den wir später betrachten werden, während die schöne Formel, dass das Verständnis »aus der Hand in den Kopf aufsteigt«, von einem Klärungs- und Reflexionsprozess spricht, der auf bewusste und theoretische Einsicht zielt. Es entspricht diesem Aufstieg aus der Hand in den Kopf, dieser Transformation des Begriffenen ins Verstandene, dass Bergson den homo sapiens definiert als den homo faber – also den tätigen Menschen –, der über sein Tun reflektiert. 175 Kulturen speichern und tradieren nun auch die Ergebnisse, zu denen solche Reflexion gelangt, und die Vermittlung dieser Tradition obliegt jenem Unterricht, dem Bergson den zweiten Teil seiner Reformvorschläge widmet. Bergson zieht dabei zunächst die (schöne) Literatur als Beispiel heran: »Würde man nicht Fehler derselben Art bei unserem literarischen Unterricht […] finden? Es kann nützlich sein, das Werk eines großen Schriftstellers zu kommentieren – das Verständnis und der Genuss werden dadurch gefördert. Immerhin aber muss der Schüler erst einmal angefangen haben, es zu genießen und infolgedessen zu verstehen. Das heißt, dass das Kind es zunächst neu erfinden, dass es, mit anderen Worten, sich die Inspiration des Autors bis zu einem gewissen Punkt aneignen muss.« 176

Konfrontiert man Schüler zu früh mit Kommentaren – d. h. mit historischem und grammatischem Faktenwissen –, so erschwert man nicht nur, sondern verhindert das, was nach Bergsons Auffassung einzig und allein die Bezeichnung »Verstehen« verdient. Wenn Bergson im zweiten zitierten Satz die Wortfolge comprendre – goûter verwendet und diese Wortfolge dann im dritten Satz umkehrt, so ist das nicht bloß rhetorisches Ornament, sondern Programm: Beruht der gängige Lehrbetrieb auf der Ansicht, erst ein intellektuelles, auf solidem Wissen beruhendes Verstehen ermögliche das Genießen des klassischen Textes, so vertritt Bergson den Standpunkt, das »Genießen« im Sinne einer unmittelbaren Erfahrung müsse am Anfang stehen, und das Verstehen sich aus dieser Erfahrung entwickeln. In der L’Homo sapiens, né de la réflexion de l’Homo faber sur sa fabrication […]. Ne trouverait-on pas des défauts du même genre à notre enseignement littéraire […] ? Il pourra être utile de disserter sur l’œuvre d’un grand écrivain ; on la fera ainsi mieux comprendre et mieux goûter. Encore faut-il que l’élève ait commencé à la goûter, et par conséquent à la comprendre. C’est dire que l’enfant devra d’abord la réinventer, ou, en d’autres termes, s’approprier jusqu’à un certain point l’inspiration de l’auteur. 175 176

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zitierten Passage verschränkt Bergson den Grundgedanken für die Reform des praxisrelevanten Unterrichts (das Verständnis beginnt in der Hand und endet im Kopf) mit der aus Kapitel 1 bekannten These vom Entwurfscharakter des Verstehens (das Kind eignet sich den literarischen Text an, indem es ihn »neu erfindet«). Aber noch ein dritter Gesichtspunkt kommt hinzu: Das, was es hier anzueignen gilt, ist nicht irgendeine historische oder psychologische Individualität, sondern die »Inspiration des Autors«. Wir hatten bereits in Kapitel 1 177 jene (damals) überraschenden Formulierungen aus L’évolution créatrice zur Kenntnis genommen, in denen Bergson angesichts eines Dichters, der seine Verse vorliest, zunächst, von den Versen ablenkend, fordert, dass man Interesse »für ihn« – den Dichter – hege, dann aber umso nachdrücklicher betont, dass man, wenn dies der Fall ist, in Sympathie sei mit dessen Inspiration. Schon damals hatten wir daraus geschlossen, dass es Bergson nicht um irgendein psychologisches Verstehen geht, sondern um das Erfassen der Sache, die den Dichter bewegt. Wenn wir nun hier auf eine ganz ähnliche Formulierung stoßen, so werden wir wiederum annehmen, dass das unmittelbare Beeindruckt-Sein durch den Text letztlich zu deuten ist als Eindruck der Sache, die der Text zum Ausdruck bringen will. Wir werden aber nun hinzufügen, dass, insofern die Gesellschaft den Autor des Textes als einen klassischen, der schulischen Vermittlung würdigen anerkennt, die Sache des Autors zugleich eine Sache sein muss, die die Gesellschaft insgesamt bewegt. Damit stellt sich die Frage, auf welche Weise der Schüler diese Sache als eine gemeinsame im Sinne einer auch ihn selbst angehenden erfassen kann. Das Verfahren, das Bergson vorschlägt, klingt zunächst – vorsichtig formuliert – ungewöhnlich: »Aber wie anders soll [das Kind] das machen, als dadurch, dass es in die Fußstapfen [des Autors] tritt, dass es seine Gesten, seine Haltung, seine Vorgehensweise übernimmt? Genau dies tut es, wenn es mit lauter Stimme liest. Das Verständnis (intelligence) wird später folgen und Nuancen setzen. Aber Nuance und Farbe sind nichts ohne die Zeichnung. Vor dem Verstehen im eigentlichen Sinne gibt es die Wahrnehmung der Struktur und der Bewegung: Es gibt auf der Seite, die man liest, die Zeichensetzung und den Rhythmus. Diese richtig zu markieren, die zeitlichen Beziehungen zwischen den verschiedenen Sätzen eines Abschnitts und den verschiedenen Gliedern des Satzes zu berücksichtigen, ohne Unterbrechung dem crescen-

177

Vgl. Abschnitt 1.3.1, S. 101.

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do des Gefühls und des Gedankens bis hin zu dem Punkt, der den musikalischen Höhepunkt darstellt, zu folgen – darin besteht die Kunst des Vortrags.« 178

Bergson setzt noch einmal mit dem Bild des äußerlichen Handelns ein (in vorfindliche Fußstapfen treten, Gesten und Haltungen nachahmen), gibt dann aber den Überlegungen eine neue Richtung, indem er die – wie wir doch wohl sagen dürfen – Mimesis aus dem Gebiet körperlichen Handelns in das Gebiet eines vorsprachlichen Sinns verschiebt, für den sich die von Mallarmé geprägte Formel von der »Musik unter den Worten« 179 geradezu aufdrängt. Bergson lenkt die Aufmerksamkeit auf jene Stufe des Hörens oder Lesens, auf dem die Rede lediglich Musik und das »Verstehen« – ein primitives Verstehen im eigentlichen Sinne des Wortes – noch ein Mitvollzug, ein »Mitsingen« oder »Einstimmen« ist. Ermöglicht wird dieser Übergang durch das beiden Bereichen gemeinsame Merkmal der strukturierten Bewegung. Der Weg eines Vorläufers kann mimetisch mit- oder nachvollzogen werden, weil er als Schrittfolge strukturiert ist, weil diese Schrittfolge Fußstapfen hinterlassen hat und man seine eigenen Füße in diese Fußstapfen setzen kann. Die Musik unter dem Text kann mimetisch mitvollzogen werden, weil man von den einzelnen Worten absehen und den Sprechakt als strukturierte Dynamik wahrnehmen kann, bei der die Satzzeichen die Rolle der Fußstapfen übernehmen. 180

178 Comment le fera-t-il, sinon en lui emboîtant le pas, en adoptant ses gestes, son attitude, sa démarche ? Bien lire à haute voix est cela même. L’intelligence viendra plus tard y mettre des nuances. Mais nuance et couleur ne sont rien sans le dessin. Avant l’intellection proprement dite, il y a la perception de la structure et du mouvemen : il y a, dans la page qu’on lit, la ponctuation et le rythme. Les marquer comme il faut, tenir compte des relations temporelles entre les diverses phrases du paragraphe et les divers membres de phrase, suivre sans interruption le crescendo du sentiment et de la pensée jusqu’au point qui est musicalement noté comme culminant, en cela d’abord consiste l’art de la diction. 179 Mallarmé spricht am Ende seines Essais Le mystère dans les lettres vom air ou chant sous le texte, der bezeichnenderweise die Ahnung (divination) leitet. – Vgl. dazu Kristeva[1978] 40 f. 180 Es scheint mir im Hinblick auf die insbesondere von Derrida ausgegangenen Diskussionen über das Verhältnis von Sprache und Schrift nicht ohne Interesse, dass hier (Anm. 178 und 184) und an verschiedenen anderen Stellen das Geschriebene nicht als minderwertiges Abbild des Gesprochenen, sondern – aufgrund der Satzzeichen – als eine Darstellungsform mit einer spezifischen eigenen Leistung auftritt. – Vgl. auch Kap. 4, Anm. 144, wo sich die Änderung des als Gegenwart betrachteten Zeitintervalls in einer veränderten Zeichensetzung dokumentiert.

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Bergsons Hinweis auf das vorsprachliche Erfassen der Dynamik von Texten gilt nun aber nicht einer naiven, durch Vermittlung von Wissen möglichst schnell zu beseitigenden Vorform des Verstehens. Bergson sagt nicht: Kinder fangen nun einmal so an, damit muss die Schule sich abfinden, aber sie muss ihnen auch helfen, diese Ahnungslosigkeit und Unbeholfenheit zu überwinden. Bergson sagt vielmehr: Kinder – und übrigens nicht nur Kinder – müssen so anfangen. Die Schule darf dieses primitive Verstehen zwar aus-, sie darf es aber nicht abbauen, weil keine von den höheren Stufen des Verstehens mehr zu leisten vermag, was diese Stufe leistet: die Herstellung eines partizipativen Mitvollzugs, der noch keine Differenz kennt zwischen der Sache aller und der eigenen Sache, dem allgemeinen und dem individuellen Sinn; die Herstellung einer communication im Sinne von Abschnitt 5.3.2.4, die mehr communio als communicatio ist. Bergson sagt sogar: Dieses vorsprachliche Erfassen der Dynamik des Textes ist genau das, was wir gesucht haben, als wir die Frage stellten, wie das Neuschaffen des Sinns durch den Rezipienten zugleich ein Nachschaffen des vom Autor gemeinten Sinnes sein kann. 181 Die schon am Anfang der Lektüre fertig gegebene Sinnhypothese, von der aus die Rekonstruktion des Textes unternommen wird, ist kein »Schuss ins Blaue«, sondern die Frucht einer Partizipation am vorsprachlichen Sinngeschehen. Eine weitere Anknüpfung verbindet die zitierte Textpassage mit den uns aus dem Essai sur les données immédiates de la conscience bekannten Überlegungen zur Funktion des Metrischen in der Kunst. Während Bergson aber dort Takt und Rhythmus noch kaum unterscheidet, gelangt er, wie Fujita 182 gezeigt hat, später dazu, die einschläfernde Wirkung des regelmäßigen Takts zu trennen von der unregelmäßigen Strukturierung, die der Rhythmus bewirkt, und den Rhythmus jener Artikulation anzunähern, die in Texten durch die Zeichensetzung ausgedrückt wird. Der Rhythmus ist hier gerade nicht einschläfernd, gerade nicht bloß Hindernisse wegräumend, sondern Träger einer noch wenig entwickelten, vorsymbolischen Bedeutung. Ein Musikstück ist keine amorphe Klangmasse. Man erlebt es als strukturierte Dynamik. Bergson verweist darauf, wenn er vom crescendo oder vom musikalischen Höhepunkt spricht. Ebenso erfasst das vorsymbolische, auf die »Musik der Rede« gerichtete Verstehen 181 182

Vgl. Abschnitt 1.4.2, S. 126. Fujita[2006]

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Spannungsbögen und Einschnitte, Zu- und Abnahmen, Höhe- und Wendepunkte, Atmosphären und atmosphärische Veränderungen. Eine derartige Wahrnehmung ähnelt derjenigen eines Kindes, das etwa einen Streit zwischen seinen Eltern miterlebt. Das Kind erfasst die bedrückende und bedrohliche Grundatmosphäre, es erfasst das Entstehen, die Steigerung, den Höhepunkt und die Auflösung des Streits als Phasen des Vorgangs, und es erfasst all dies auch dann, wenn es den Grund des Streits nicht kennt und die gesprochenen Worte nicht versteht. Eine Fußnote Bergsons schützt uns vor dem naheliegenden Irrtum, die Empfehlung, ganz bewusst die vorsprachliche, »musikalische« Erfahrungsschicht in Anspruch zu nehmen, gelte nur dann, wenn literarische Texte verstanden werden sollen. Wir hatten zwar früher schon festgestellt, dass Bergson es für legitim hält, sogar naturwissenschaftliche Gesetze auf eine in ihnen zum Ausdruck kommende ursprüngliche, vorsymbolische Erfahrung zu befragen 183, und wir werden im nächsten Abschnitt erfahren, dass politische Reden nicht anders wirken, nicht anders aufgenommen werden als literarische Texte. Gleichwohl ist es erwähnenswert, dass Bergson seine These sogar auf die sprachlich dokumentierte und überlieferte Reflexion par excellence, d. h. auf philosophische Texte angewandt wissen möchte: »Über die Tatsache, dass der Rhythmus in groben Zügen den Sinn eines wirklich geschriebenen Satzes nachzeichnet, dass er uns die unmittelbare Kommunikation mit dem Gedanken des Schriftstellers geben kann, bevor mit dem Studium der Worte Farbe und Nuance hinzukommen, haben wir uns schon früher einmal […] geäußert. Wir beschränkten uns übrigens darauf, eine früher einmal im Collège de France gehaltene Vorlesung zusammenzufassen. In dieser Vorlesung hatten wir als Beispiel eine oder zwei Seiten aus dem Discours de la méthode genommen und hatten zu zeigen versucht, wie das Kommen und Gehen der Gedanken, von denen jeder eine bestimmte Richtung hat, aus dem Geiste Descartes auf den unseren übergeht allein durch die Wirkung des Rhythmus, wie die Gliederung des Satzes ihn andeutet, und wie ein korrektes Lesen mit lauter Stimme ihn heraushebt.« 184 Vgl. Abschnitt 3.3.2.2, S. 380. Sur le fait que le rythme dessine en gros le sens de la phrase véritablement écrite, qu’il peut nous donner la communication directe avec la pensée de l’écrivain avant que l’étude des mots soit venue y mettre la couleur et la nuance, nous nous sommes expliqué autrefois […]. Nous nous bornions d’ailleurs à résumer une leçon antérieurement faite au Collège de France. Dans cette leçon nous avions pris pour exemple 183 184

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Man würde nun gern erfahren, wie Bergson diese These ausgerechnet im Hinblick auf Descartes’ Prosa konkret ausgeführt hat. Leider ist es aber bisher nicht gelungen, ein Vorlesungsmanuskript oder eine Mitschrift zu entdecken, auf die die in der Fußnote gegebene Beschreibung passt. Halten wir also lediglich fest: Bergson ist der Ansicht, dass sprachliche Äußerungen, ja dass symbolisch vermittelter Ausdruck überhaupt nur dann wirklich verstanden, d. h. angeeignet werden kann, wenn die symbolisch vermittelte Kommunikation in einer vorsymbolischen Kommunikation gründet, weil Verständnis nicht aus der Allgemeinheit der Wortbedeutungen, sondern aus einer Partizipation am Sinngeschehen erwächst. 5.3.3.3 Quellen der Freundschaft Im Jahre 1917 bemühte sich Frankreich darum, die Vereinigten Staaten von Amerika zum Kriegseintritt auf der Seite der Entente zu bewegen. Zu diesem Zweck reisten mehrere Delegationen in die USA, darunter eine französische unter der Leitung des ehemaligen Premierministers René Viviani und des Marschalls Joseph Joffre. Im gleichen Jahr noch publizierte Viviani die von ihm während dieser Reise gehaltenen Reden, und Bergson, der sich ebenfalls in diplomatischer Mission in den USA aufgehalten hatte, steuerte ein Vorwort bei, das, wie man in erster Annäherung sagen könnte, einige Gedanken über die Wirkung politischer Reden enthält. 185 Bergson erwähnt zunächst, dass er zumindest in einigen Fällen selbst anwesend war, als die im Buch abgedruckten Reden vor einem Publikum gehalten wurden. Diese Bemerkung soll freilich nicht einen Bericht über die eigenen Eindrücke einleiten, sondern erklären, warum Bergson der Auffassung ist, er könne sich kompetent über die Wirkung der Reden auf Andere äußern. So schwenkt der Scheinwerfer denn auch alsbald hin zum Publikum: zunächst zu den zahlenmäßig begrenzten Zuhörergruppen der vor verschiedenen Parlamenten gehaltenen Reden, sodann zu den »beispiellosen« Massen, die Vivianis une page ou deux du Discours de la méthode, et nous avions essayé de montrer comment des allées et venues de la pensée, chacune de direction déterminée, passent de l’esprit de Descartes au nôtre par le seul effet du rythme tel que la ponctuation l’indique, tel surtout que le marque une lecture correcte à haute voix. – PM 1327 | 94 | 105, Anm. 1 – Bei dem von Bergson erwähnten »früheren« Text handelt es sich um ES 849–850 | 45–47 | 41–43. 185 Viviani[1917] – Bergsons Vorwort auch in Mél. 1249–1253.

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öffentliche Reden miterleben wollten. Bergson beschreibt den »Enthusiasmus« der Bevölkerung, die begeisterte Aufnahme, die die Reden fanden, und die Anteilnahme der amerikanischen Zuhörer am Kampf des französischen Volkes. Aber dann kommt das eigentliche Thema in den Blick, denn es gab da eine kleine Schwierigkeit: »Durch welche magische Operation gelang es Herrn Viviani, seine Zuhörer zu fesseln und sie mitzureißen, obwohl doch die meisten von ihnen der französische Sprache unkundig waren?« 186

Dieser Satz genügt, um klarzumachen, dass wir es hier mit einer Variation des bei Bergson häufig auftauchenden Themas »Verstehen sprachlicher Äußerungen bei mangelhafter Kenntnis der fremden Sprache« zu tun haben. Den meisten französischen Gesandten – Bergson stellte bekanntlich in dieser Hinsicht eine Ausnahme dar – fehlten Kenntnisse der englischen, und der Mehrheit der amerikanischen Zuhörer fehlten Kenntnisse der französischen Sprache. Das aber tat der Sympathie keinen Abbruch – Bergson ist bei seinem Thema. Es folgt nun zunächst eine Analyse des »magischen« Geschehens, das Bergson – ganz ähnlich wie im Essai sur les données immédiates de la conscience – in mehreren Phasen sich vollziehen lässt: • In der ersten Phase – d. h. zu Beginn der Rede – wirkt lediglich die Stimme des Redners. Die »Musik der Rede« hat die bekannte, vorbereitende Aufgabe des Einschläferns der individuellen Bestrebungen und Sorgen. 187 • In der zweiten Phase geben Gestik und Mimik des Redners gleichsam Takt und Tempo der zu übermittelnden Gedanken und Gefühle vor. Indem die Zuhörer sich darauf einlassen, geraten sie in den Sog der neuen Gedankenbewegung wie – in einem früher zitierten Bild – die Passanten in den Tanz der Menge. Auf diese Weise erfassen die Zuhörer die Struktur der Sätze und den Verlauf der Rede, nicht aber den Sinn der einzelnen Worte. 188 Par quelle opération magique M. Viviani arrivait-il à captiver, à entraîner des auditeurs dont beaucoup ignoraient le français ? 187 C’était, dès les premiers mots, une adhésion en quelque sorte physique de l’auditoire, qui se laissait bercer par la musique du discours. 188 A mesure que l’orateur s’animait, et que ses gestes dessinaient plus fortement sa pensée et son émotion, les assistants, attirés à l’intérieur de ce mouvement, adoptaient le rythme de l’émotion, emboîtaient le pas à la pensée, et comprenaient en gros la phrase, lors même qu’ils n’en saisissaient pas les mots. 186

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In der dritten Phase schließlich gelangen die Zuhörer, nachdem sie die Rede als Klang und als Geste erfasst haben, auf die Ebene der artikulierten Sprache. Worte, die der englischen und der französischen Sprache gemeinsam sind, sowie Namen bekannter Personen wirken wie Lampen in der Nacht, die zwar da, wo sie sich befinden, am hellsten leuchten, zugleich aber – wenn auch weniger stark – die Zwischenräume erhellen. 189 Zurückkommend auf seine Ausgangsfrage nach der »magischen« Operation, fasst Bergson zusammen, aus diesen drei Phasen hätte die Operation bestanden, durch die »sich das, was Herr Viviani dachte, den Geistern [seiner Zuhörer] direkt mitteilte, ohne durch ein materielles Medium hindurchzugehen«. 190 Diese Formulierung macht deutlich, dass wir hier nicht einen Gelegenheitstext in eine philosophische Debatte hineinzerren, sondern dass vielmehr Bergson selbst beim Schreiben an die Frage der vorsymbolischen Verständigung dachte. Und wie um auch den letzten Zweifel auszuräumen, fügt er noch hinzu: •

»Ich erinnere mich, wie einer meiner Nachbarn, der die französische Sprache nicht beherrschte, der aber alles verstanden hatte, mir mit Begeisterung sagte: ›Hier spricht die Seele zur Seele.‹« 191

Als Thema von Bergsons Vorwort hatte ich eingangs die Wirkung politischer Reden bezeichnet und dann präzisiert, dass es Bergson um die Wirkungskraft politischer Reden unter den Bedingungen schwerwiegender sprachlicher Barrieren geht. Das Vorwort verpflanzt das bekannte Motiv des Verstehens sprachlicher Äußerungen trotz mangelhafter oder mangelnder Sprachkenntnisse zunächst aus dem Bereich weniger, direkt miteinander kommunizierender Individuen in den Bereich jener Prozesse und Resonanzphänomene, die auftreten, wenn größere Menschenmengen im Spiel sind. Das ist zwar durchaus nicht ohne Interesse, geht aber doch nicht über jenes Stiften von Gemeinschaft hinaus, von dem bereits im ZusammenMais bientôt les mots prenaient chacun leur sens, parce que des termes communs aux deux langues ou des noms propres auréolés de gloire brillaient de loin en loin et prolongeaient alors leur luminosité tout le long des intervalles […]. 190 Tel était, je crois, le mécanisme de l’opération par laquelle on eût dit que la pensée de M. Viviani se communiquait directement aux esprits, sans passer par un intermédiaire matériel. 191 Et je me rappelle comment un de mes voisins qui ne savait pas le français mais qui avait tout compris, me dit avec émerveillemen : « C’est l’âme qui parle à l’âme. » 189

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hang mit der Wirkung der Kunst die Rede war. Aber Bergson geht noch weiter: »Unvergessliche Tage! Man muss diese herausragenden Stunden erlebt haben, um sich vorstellen zu können, dass sich in der Menschheit von morgen zwischen Nationen die gleiche Inbrunst der Liebe entzündet wie zwischen Personen.« 192

Der Fall, den Bergson hier betrachtet, ist ja nicht – wie der französische Leser der französischen Reden meinen könnte – der, dass Viviani zu einer gewissen – und sei es auch noch so großen – Zahl von Landsleuten spricht. Vivianis Reden richten sich an ein anderes Volk, das auf einem anderen Kontinent lebt und eine andere Sprache spricht. Es geht also gar nicht mehr (nur) um die gemeinsame Erfahrung einer Rede oder einer Musik zum Zwecke der Stärkung des Zusammenhalts innerhalb einer bestehenden Gruppe. Es geht um das Überschreiten der Gruppengrenze, um die Kooperation verschiedener Gruppen. Vor diesem Hintergrund lehrt Bergsons Text zweierlei. Zum einen: Sprache ist und schafft das Eigene. Das ist freilich selbst wiederum eine ambivalente Formulierung. Man kann das betrachten, was die Sprache leistet, und dann sagen: Sprache ist die Schöpferin einer eigenen Welt. Oder präziser, besser auf den aktuellen Kontext zugeschnitten: Die Sprache einer Gruppe schafft die dieser Gruppe eigene Welt. Man kann aber auch das ins Auge fassen, was die Sprache nicht leistet, und dann muss man sagen: Die Sprache bildet die Grenze der eigenen Welt. Wiederum präziser: Jede Sprache definiert die Grenze derjenigen Welt, die der Gruppe ihrer Sprecher zugänglich ist. Das zeigt sich, wenn Franzosen versuchen, zu Amerikanern zu sprechen, aber es zeigt sich nicht minder, wenn Vertreter verschiedener philosophischer Schulen, die verschiedene Begrifflichkeiten ausgebildet haben, versuchen, miteinander zu sprechen. 193 Indem Bergson die Sprache als Grenze thematisiert, rückt er in die Nähe zahlreicher Linguisten und Sprachphilosophen, die sich ebenfalls mit dem einschränkenden Charakter der Sprache befasst haben. Genannt sei – um nur ein einziges Beispiel anzuführen – die Sapir-Whorf-Hypothese. Aber wie jene Sprachdenker nicht selten da192 Journées inoubliables ! Il faut avoir vécu ces heures privilégiées pour imaginer comment, dans l’humanité de demain, pourra s’allumer entre nations la même ferveur d’amour qu’entre des personnes. 193 Et bien des philosophies différentes surgiront, armées de concepts différents. Elles lutteront indéfiniment entre elles. – PM 1369 | 147 | 153

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zu gelangt sind, die Wortsprache als »oberflächliches«, wenn auch »in einem bestimmten operativen Sinn« unverzichtbares Werkzeug aufzufassen und daneben die Existenz »sublinguistischer« oder »supralinguistischer« Schichten in Erwägung zu ziehen 194, so bleibt nun auch Bergson nicht dabei stehen, die Begrenztheit der Wortsprache zu konstatieren, sondern geht zu der Frage über, ob die so beschaffene Sprache wirklich unhintergehbar ist. Zum anderen also: Bergson stellt fest, dass trotz der trennenden Sprachen Verständnis und Verständigung, Enthusiasmus und Sympathie zwischen Amerikanern und Franzosen möglich sind. Die symbolisch vermittelte Kommunikation bildet eine unverzichtbare Schicht menschlichen Lebens. Zugleich aber gilt, dass es – teils sie ergänzend, teils quer zu ihr stehend – eine andere Schicht gibt, in der gilt: Man kann gleiche Gefühle und Werte haben, man kann Hoffnungen und Träume teilen, obwohl man verschiedene Sprachen spricht. Und: Man kann verschieden fühlen und werten, man kann Gegensätzliches erhoffen und erträumen, obwohl man die gleiche Sprache spricht. Es geht hier – der »Magie« von Vivianis Reden ungeachtet – nicht darum, jemanden von der Realität irgendwelcher okkulten oder mystischen Phänomene zu überzeugen. Man schreibt das Jahr 1917. Man befindet sich seit drei Jahren in einem der grauenhaftesten Kriege, die die Menschheit je erlebt hat. Und man hat die Mühen einer langen Reise nicht deshalb auf sich genommen, weil man mit den Amerikanern über außergewöhnliche geistige Phänomene zu disputieren wünscht, sondern weil man sich von ihnen sehr handfeste Unterstützung im Kampf gegen Deutschland erhofft. Wenn angesichts derartiger Nöte der Zauber von Vivianis Reden überhaupt erwähnenswert ist, dann nur deshalb, weil er nicht Spekulation, sondern ein empirisch zu beobachtendes, in der rauen Wirklichkeit zum Erfolg führendes Faktum darstellt. Aber wie hat man sich das vorzustellen? Hat Viviani die Amerikaner eingeschläfert wie der Hypnotiseur den Hypnotisanden? Davon kann keine Rede sein. Bergsons Text führt uns vielmehr zu jener Frage zurück, die wir beim Übergang von der Erörterung der instinktbasierten Sympathie im Tierreich (Abschnitt 5.2.2) zur Erörterung der Sympathie beim von prägenden Instinkten weitestgehend freien Menschen (Abschnitt 5.3) gestellt haben: Wenn sich Sympathie beim Tier aus der zwangsläufigen Partizipation an einer übergreifenden 194

Vgl. die Thesen in Whorf[1978] 39

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Ordnung ergibt, der Mensch aber in diese Ordnung nicht immer schon eingefügt ist und deshalb mit allem, das nicht er selbst ist, sympathisieren oder auch nicht sympathisieren kann – was heißt das für die zwischenmenschliche Sympathie? Wird sie – wie das Exerzitium zu Beginn von Le rire nahelegen könnte – willkürlich verteilt, oder gibt es auch für den Menschen so etwas wie ein zwangsläufiges Inund Mit-Sein? Bergsons Antwort lautet: Sympathie und Verstehen entspringen aus einer gemeinsamen Sache. In einer Rede, die Bergson selbst während seines Amerika-Aufenthalts gehalten hat, heißt es: »Die Sympathie zwischen den beiden Nationen ist durchaus nicht zufällig. Sie wurde nicht aus den gegenwärtigen Umständen geboren, obwohl die gegenwärtigen Umstände ihr eine sichtbarere und greifbarere Gestalt verliehen haben mögen. Die Quelle der Sympathie liegt tiefer, und zwar so tief wie die Quelle wahr- und dauerhafter Freundschaft.«

Bergson referiert dann die aristotelische Theorie, der gemäß Freundschaft entweder aus gemeinsamem Vergnügen oder aus einem gemeinsamen Interesse oder aber aus einer gemeinsamen Tugend entspringen könne. Die ersten beiden Formen seien vergänglich, die dritte Form dagegen nicht. Bergson fährt fort: »Wenn dies die Quelle wahr- und dauerhafter Freundschaft ist, so muss dauerhaft und wahr auch die Freundschaft zwischen Frankreich und Amerika sein; denn es sind dies zwei Nationen, die auf der gleichen geistigen Stufe stehen und die dem gleichen Ideal mit dem gleichen Idealismus folgen.« 195

Was also ist die gemeinsame Sache? Es könnte zunächst scheinen, als ob damit der gemeinsame Kampf oder zumindest die gemeinsame Bedrohung durch die Mittelmächte gemeint ist. Eine solche Einschätzung passt aber nicht nur schlecht zu den historischen Umständen – die Amerikaner sollten ja gerade erst zum Eintritt in den Kampf bewegt werden –, es würde sich auf diese Weise auch nur eine temporäThe sympathy between the two nations is by no means accidental. It was not born out of the present circumstances, although the present circumstances may have given it a more visible and more palpable form. The source of the sympathy lies deeper, as deep as the source of true and lasting friendship. […] If such be the source of true and lasting friendship, lasting and true must be the friendship between France and America; for they are two nations which stand on the same moral level, with the same ideal and the same idealism. – Mél. 1243 f. – Ähnliche Formulierungen finden sich bereits in einer 1916 in Madrid gehaltenen Rede (Mél. 1197–1199 | Écr. 484–487). 195

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re – auf einem gemeinsamen Interesse beruhende, mit dem Verschwinden der Bedrohung ihre Basis verlierende – Partnerschaft begründen lassen. Bergson gräbt deshalb weiter und legt eine noch tiefere Schicht frei: Die Sympathie der beiden Völker beruht auf einem gemeinsamen Ideal, und diese Gemeinsamkeit besteht unabhängig von dem gerade tobenden Krieg. Ganz ähnlich argumentiert Bergson im Vorwort zu Vivianis Buch: Vivianis Reden trafen nicht auf gleichgültige, unbeteiligte Beobachter eines im fernen Europa sich abspielenden Krieges. Sie trafen auf eine seit dem Beginn des Krieges bestehende »Spannung«, so dass der enthusiastische Empfang der französischen Delegation als »Explosion« dieser Spannung zu verstehen ist. 196 Mit dieser Bemerkung weitet Bergson die Perspektive bereits von der bloß punktuellen Betrachtung der französischen Mission auf den gesamten Kriegsverlauf aus. Aber auch in diesem Text geht er weiter. Anknüpfend an den Gedanken, zwischen Nationen müsse eine Freundschaft möglich sein, die derjenigen zwischen individuellen Personen an Intensität nicht nachsteht, schreibt er: »Überall, wo Herr Viviani das Wort ergriff, beschwor er wahrhaftig diese beiden großen Persönlichkeiten – Frankreich und Amerika – herauf und erinnerte daran, dass sie durch eine Gemeinschaft der Traditionen und der Bestrebungen miteinander verbunden seien. Er zeigte, dass sie durch den ganzen Lauf ihrer Geschichte hindurch getragen wurden von der gleichen Bewegung hin zum gleichen Ziel.« 197

Die Basis der Sympathie wird hier noch präziser bestimmt als in der zuvor zitierten Rede. Sie beschränkt sich nicht auf den gemeinsamen Ursprung im Sinne einer gemeinsamen Vergangenheit, sondern schließt auch gemeinsame Erwartungen und Hoffnungen für die Zukunft ein. Die gemeinsame Vergangenheit und die gemeinsam angestrebte Zukunft aber stiften eine gemeinsame Bewegung. Das ist nicht die Bewegung von zwei Personen, die im gleichen Bus sitzen. Es ist – um auf ein bereits zuvor benutztes Bild zurückzugreifen – die gemeinsame Bewegung von zwei Vögeln, die im gleichen Schwarm 196 […] c’était l’explosion formidable de sentiments qui étaient restés à l’état de tension depuis le commencement de la guerre […]. 197 Partout où M. Viviani prenait la parole, il évoquait en effet ces deux grandes personnalités, la France et l’Amérique, et rappelait comment elles étaient liées l’une à l’autre par une communauté de traditions et d’aspirations. Il les montrait, à travers tout le cours de leur histoire, emportées du même mouvement vers le même idéal.

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fliegen. Es ist die gemeinsame Bewegung von zwei Arbeitern, die am gleichen Projekt arbeiten. Es handelt sich dabei nicht um absolute Identität, sondern um Analogie der Bewegungen. Und eben diese Analogie der Entwicklungsbewegungen ist die (neue Stufe der) Sympathie. Dieser Gedanke muss weiter entfaltet werden. Hier ist zunächst festzuhalten, dass Bergsons Interesse an den verschiedenen Formen und Wirkungsweisen vorsymbolischer Kommunikation aus der Einsicht entspringt, dass die Grenzen der Sprache die Grenzen der eigenen Welt, insbesondere aber auch die Grenzen der Mitwelt festlegen. Daraus ergibt sich die Frage, ob man diese Grenzen als gegeben hinnehmen muss oder ob man hoffen darf, sie verschieben zu können. Erfahrungen wie diejenigen der Franzosen in Amerika stellen nach Bergsons Ansicht wertvolles Material für die Beantwortung dieser Frage zur Verfügung, weil sie auf eine Schicht des Miteinander hinweisen, die nicht sprachlich geprägt ist und deshalb über Sprachgrenzen hinausreicht. Es ist nicht Spekulation, sondern Erfahrung, dass Verstehen über physische Ozeane und sprachliche Gräben hinweg möglich ist. Das heißt für Bergson: Sympathie und Verstehen gibt es nicht nur innerhalb einer Gruppe, insbesondere nicht nur innerhalb einer Sprachgemeinschaft. Sympathie und Verstehen können die vorgefundenen Grenzen sprengen, und zwar immer dann, wenn eine gemeinsame Sache in den Blick kommt. Das Verstehen schafft aber diese gemeinsame Sache nicht. Es macht sie nur sichtbar. 5.3.3.4 Übersetzbarkeit Selbst im Rahmen eines Projekts, in dem es um den hermeneutischen Charakter von Bergsons Philosophie geht, würde man, wenn gezeigt werden soll, dass das von Bergson konzipierte Individuum ein soziales Individuum ist, schwerlich auf den Einfall kommen, Hans-Georg Gadamer als Zeugen aufzurufen. Indessen: Gadamer steht als Zeuge bereit. Hören wir also, was er zu sagen hat. »Wahrheit und Methode« ist durch eine doppelte Absetzbewegung geprägt. Auf der einen Seite distanziert sich Gadamer – wie noch jede Begründung der Geisteswissenschaften seit Vico und Dilthey – vom Universalitätsanspruch der naturwissenschaftlichen Methodik. Auf der anderen Seite kritisiert er aber auch eine »romantische« Hermeneutik, die – jedenfalls seiner Ansicht nach – auf der individuellen Genialität des Erlebens, Darstellens und Verstehens be674 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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ruht. Dem methodisch erzeugten Wissen der Naturwissenschaften stellt er die praktische Klugheit, der unkontrollierbaren Genialität die prägende Kraft der Tradition gegenüber, und so verwundert es nicht, dass Gadamer den Stützpunkt, von dem aus er operieren will, zunächst durch einige »humanistische Grundbegriffe« markiert und sichert. Dazu gehört der sensus communis, dessen Facettenreichtum Gadamer andeutet, indem er je einen Vertreter der italienischen, der englischen, der französischen und der deutschen sensus–communisTheorie zu Wort kommen lässt. Der Repräsentant Frankreichs ist Bergson. 198 Allein das ist überraschend. Mindestens ebenso überraschend aber ist die Textbasis, auf die sich Gadamer bezieht. Während Bergson-Experten sich oft damit begnügen, gleichsam in jedem Frühjahr die vier sogenannten »Hauptwerke« aufs Neue umzupflügen, wählt Gadamer einen zu Bergsons Lebzeiten unpublizierten und weithin unbekannten Text mit dem Titel Le bon sens et les études classiques 199, der vorzüglich zu seinem Thema passt. Es ist dies eine der vier überlieferten gymnasialen bzw. universitären Festreden, deren erste (über das Spezialistentum) wir in Kapitel 1 erörtert haben. Aber übertreiben wir nicht: Nachdem Bergson als Sprecher der französischen sensus-communis-Tradition aufgetreten ist, hat er aus Gadamers Sicht seine Schuldigkeit getan. Über die These, dass Bergsons Philosophie insgesamt als eine hermeneutische zu bewerten ist, wäre er vermutlich sehr erstaunt gewesen. Immerhin: Über die These, dass Bergson das Individuum isoliert und aus seinen sozialen Bezügen herausreißt, wäre er nicht minder erstaunt gewesen. Und das ist es, was uns hier interessiert. Daraus, dass Gadamer sich ausschließlich auf einen wenig bekannten Text stützt, folgt nun nicht, dass der bon sens in Bergsons Denken nur ganz am Rande vorkäme oder dass gar »Wahrheit und Methode« einen völlig falschen Eindruck von Bergsons Intentionen vermitteln würde. Ganz im Gegenteil: Es gibt kaum ein Werk Bergsons, in dem der bon sens nicht irgendwann zur Sprache käme. Weil das so ist, möchte ich zunächst einige Stichworte aus Gadamers Darstellung herausgreifen und ihnen ergänzende Zitate aus anderen Werken Bergsons zur Seite stellen. Auf diese Weise können wir uns Gadamer[1990] 31 f. Mél. 360–372 | Écr. 152–164 – Gadamer zitiert nach dem ersten, 1957 erschienenen Band der von Rose-Marie Mossé-Bastide herausgegebenen Écrits et paroles. 198 199

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sowohl einen Eindruck davon verschaffen, was Gadamer an Bergsons Konzept des bon sens wichtig findet, wie auch davon, warum der Begriff in Bergsons Texten so häufig auftaucht. (1) Gadamer beginnt mit der Beobachtung, dass die Formel bon sens zwar das Wort »Sinn« – im Sinne von »Wahrnehmungsorgan« – enthält, dass aber »im Unterschied zu den Sinnen der bon sens auf das milieu social geht«. Um das näher zu erläutern, zitiert er einen Satz aus Bergsons Festrede: »Während die anderen Sinne uns mit den Dingen in Verbindung bringen, leitet der bon sens unsere Beziehungen zu Personen.« 200

Es ist nun leicht zu zeigen, dass das ein Bergson auch sonst geläufiger Gedanke ist. In einer Passage aus Les deux sources de la morale et de la religion wird diese Gegenüberstellung genauer ausgeführt: »Das ist unserer Psychologie nicht eingefallen, als sie vor gewissen Unterteilungen zurückgeschreckt ist. Zum Beispiel nimmt sie allgemeine Fähigkeiten des Wahrnehmens, des Interpretierens, des Verstehens an, ohne sich zu fragen, ob nicht verschiedene Mechanismen im Spiele sind, je nachdem ob diese Fähigkeiten auf Personen oder auf Sachen angewendet werden, je nachdem die Intelligenz in das soziale Milieu eingetaucht ist oder nicht. Dabei wird diese Unterscheidung sogar vom Laien empfunden und hat sogar in seiner Sprache ihren Niederschlag gefunden: neben die Sinne (sens), die uns über die Dinge unterrichten, setzt der den Gemeinsinn (bon sens), der unsere Beziehungen zu Personen betrifft. Wie konnte man die Tatsache übersehen, dass man ein tiefgründiger Mathematiker, ein kenntnisreicher Physiker, ein – jedenfalls im Hinblick auf die Selbstanalyse – feinsinniger Psychologe sein und doch die Handlungen Anderer missverstehen, die eigenen Handlungen falsch berechnen, sich nie richtig der Umgebung anpassen, kurz: nicht genug Gemeinsinn haben kann? Der Verfolgungswahn, genauer: das Delirium der Interpretation, zeigt, dass der Gemeinsinn beschädigt sein kann, während die Fähigkeit des Schlussfolgerns intakt bleibt.« 201 200 Tandis que les autres sens nous mettent en rapport avec des choses, le bon sens préside à nos relations avec des personnes. – Mél. 361 | Écr. 154 201 C’est de quoi notre psychologie ne s’est pas avisée quand elle a reculé devant certaines subdivisions. Par exemple, elle pose des facultés générales de percevoir, d’interpréter, de comprendre, sans se demander si ce ne seraient pas des mécanismes différents qui entreraient en jeu selon que ces facultés s’appliquent à des personnes ou à des choses, selon que l’intelligence est immergée ou non dans le milieu social. Pourtant le commun des hommes esquisse déjà cette distinction et l’a même consignée dans son langage : à côté des sens, qui nous renseignent sur les choses, il met le bon sens, qui concerne nos relations avec les personnes. Comment ne pas remarquer

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Die Sinnesorgane gelten hier – der Musik zum Trotz – als Organe der Dingwahrnehmung, und somit letztlich als Gehilfen der Naturwissenschaften. Der bon sens dagegen wird als ein Organ bestimmt, das Menschliches (Personen oder Situationen) erfasst. Wenn Gadamer den bon sens als Sinn für das Soziale bestimmt, dann hat er zweifellos Recht. Aber der Rückblick auf die Erörterungen dieses Kapitels zeigt, dass man noch weiter gehen kann. Gadamer entwickelt ja, vom sensus communis und der praktischen Klugheit ausgehend, seine Überlegungen weiter in Richtung auf Kunst und Ästhetik, Geisteswissenschaften und Hermeneutik. Diese Tendenzen aber sind nun ebenso in Bergsons Konzept des bon sens zu erkennen. Als sozialer Sinn ist der bon sens eher (interpretierende) Wahrnehmung als (nachträgliche, bewusste) Interpretation, und insofern lässt er sich an das Ausdrucksverstehen im Allgemeinen, die Erfahrung der Anmut im Speziellen und die Ästhetik als Modellwissenschaft anschließen. Und insofern Bergson die durch den bon sens vermittelten angemessenen Einschätzungen im sozialen Bereich vom Wissen des Mathematikers und des Physikers absetzt, stehen sie in Verbindung mit der besonderen Weise, in der nach Bergson Mitmenschen erfahren werden, lenken damit aber auch den Blick zurück auf die Forderungen nach einem »anderen« Wissen und einer anderen, die Dauer und das Werden thematisierenden Wissenschaft. (2) Gadamer stellt zweitens fest, der bon sens sei »eine Art Genie für das praktische Leben, aber weniger eine Gabe als […] beständige Aufgabe […]«. Die folgenden Sätze aus Matière et mémoire, die zu zitieren wir ebenfalls bereits Anlass hatten, zeigen, dass er für Bergson in der Tat beides ist: »In der reinen Gegenwart leben, auf einen Reiz mit einer unmittelbaren, den Reiz fortsetzenden Reaktion antworten, ist das Zeichen eines niederen Tieres: ein Mensch, welcher so vorgeht, ist eine impulsive Natur. Aber der ist kaum weniger zum Handeln geeignet, der in der Vergangenheit aus bloßer Freude an ihr lebt und bei dem die Erinnerungen zum Licht des Bewusstseins auftauchen ohne Nutzen für die gegenwärtige Situation: das ist dann keine impulsive Natur mehr, sondern ein Träumer. Zwischen diesen que l’on peut être profond mathématicien, savant physicien, psychologue délicat en tant que s’analysant soi-même, et pourtant comprendre de travers les actions d’autrui, mal calculer les siennes, ne jamais s’adapter au milieu, enfin manquer de bon sens ? La folie des persécutions, plus précisément le délire d’interprétation, est là pour montrer que le bon sens peut être endommagé alors que la faculté de raisonner demeure intacte. – DS 1064 f. | 109 f. | 83

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beiden Extremen steht die glückliche Beschaffenheit eines Gedächtnisses, das biegsam genug ist, den Konturen der gegenwärtigen Situation präzise zu folgen, und energisch genug, jedem anderen Appell zu widerstehen. Der Gemeinsinn (bon sens) oder praktische Sinn ist wahrscheinlich nichts anderes.« 202

In dieser Passage zeigt sich erstmals eine für Bergsons Konzeption charakteristische Mittel- und Vermittlerstellung des bon sens. Hier geht es konkret um die aus Kapitel 4 bekannte Notwendigkeit der Vermittlung zwischen träumerischer Erinnerung an Vergangenes und Orientierung an der gegenwärtigen Situation mitsamt der Notwendigkeit, auf sie zu reagieren (attention à la vie, aver-da-corrispondere). Die zitierte Passage scheint zwar darauf hinzudeuten, dass Bergson den bon sens eher als Gabe (heureuse disposition) auffasst; es wird sich aber bald zeigen, dass genau die Frage, ob man sich mit dieser Sicht der Dinge zufriedengeben kann, im Mittelpunkt seiner Festrede steht. (3) Mit dem dritten Stichwort, das ich hier herausgreifen möchte, führt uns Gadamer auf die Fährte, der wir folgen sollten, wenn wir das, was ich gerade die charakteristische Mittel- und Vermittlerstellung des bon sens genannt habe, genauer bestimmen wollen. Gadamer spricht von einer »Arbeit der Anpassung der allgemeinen Prinzipien an die Wirklichkeit«. Als Illustration bietet sich ein Ausschnitt aus L’évolution créatrice an: »Man hat nicht genug beachtet, wie gering die Tragweite der Deduktion in Psychologie und Geisteswissenschaften ist. Aus einem durch die Tatsachen bestätigten Satz kann man hier nur bis zu einem bestimmten Punkt und in einem gewissen Maße verifizierbare Schlussfolgerungen ziehen. Sehr bald schon muss man an den bon sens, d. h. an die kontinuierliche Erfahrung des Wirklichen, appellieren, um die deduzierten Konsequenzen zu modifizieren und sie den Windungen des Lebens gemäß zurechtzubiegen.« 203

Die menschliche Welt – Personen, individuelles und gemeinschaftliches Handeln – ist anders verfasst als die Welt der materiellen, unbe-

Vgl. Kap. 4, Anm. 135. On n’a pas assez remarqué combien la portée de la déduction est faible dans les sciences psychologiques et morales. D’une proposition vérifiée par les faits on ne peut tirer ici des conséquences vérifiables que jusqu’à un certain point, dans une certaine mesure. Bien vite il faut en appeler au bon sens, c’est-à-dire à l’expérience continue du réel, pour infléchir les conséquences déduites et les recourber le long des sinuosités de la vie. – EC 675 | 213 f. | 217 202 203

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lebten Dinge. Menschen unterliegen nicht (nur) allgemeinen und unveränderlichen Gesetzen, sie sind (auch) frei. Ihre Freiheit kommt in der materiellen Wirklichkeit als schöpferische Tätigkeit zum Ausdruck, so dass die spezifisch menschliche Wirklichkeit eine in stetigem Wandel befindliche ist. Nun orientieren sich bekanntlich die Kategorien und Prozeduren der Intelligenz, die Worte und die Konstruktionsregeln der Sprache sowie jedenfalls die im geschlossenen Zirkel arbeitende Erinnerung an den Verhältnissen in der Welt der Dinge. Der bon sens auf der anderen Seite ist ausgerichtet auf die menschliche, insbesondere auf die soziale Welt. Daraus folgt nun aber einmal mehr nicht, dass die für die Erkenntnis der materiellen Welt entwickelten Mittel und Methoden in der menschlichen Welt gar nicht gelten. Es folgt vielmehr, dass sie – wie Gadamer formuliert – an den ihnen fremden Bereich der Wirklichkeit »angepasst« bzw. – wie Bergson an anderer Stelle im gleichen Werk formuliert – vom bon sens »überwacht« werden müssen. 204 Das vergegenständlichende Denken kann sich allein orientieren, solange es sich in der statischen Welt der unbelebten Dinge bewegt. Sobald es aber mit der dynamischen Wirklichkeit menschlichen Lebens konfrontiert wird, muss es gleichsam vom bon sens an die Hand genommen, an jeder Biegung und Kreuzung auf die neue Richtung hingewiesen werden. Unschwer ist zu erkennen, dass die zitierte Passage aus L’évolution créatrice nur eine weitere Variation jenes Themas darstellt, das uns bereits in Kapitel 1 in Gestalt der »Zickzacklinie« 205 begegnet ist. Die Logik der gegenständlichen Welt ist eine Logik der geraden Linien. Die menschliche Wirklichkeit aber zeichnet eine immer wieder die Richtung verändernde Kurve. Intelligenz, Sprache und eine Erinnerung, die meint, es müsse alles so bleiben, wie es immer schon war, verzerren oder verfehlen die menschliche Wirklichkeit. Gleichwohl ist die Orientierung in der menschlichen Welt auf ihre Mitwirkung angewiesen. Man wird sich also »bis zu einem bestimmten Punkt und in einem gewissen Maß« an das halten, was sie leisten können, sich aber immer dann, wenn die Abweichung zu groß zu werden droht, vom bon sens neu ausrichten lassen.

204 Géométrie et logique sont rigoureusement applicables à la matière. Elles sont là chez elles, elles peuvent marcher là toutes seules. Mais, en dehors de ce domaine, le raisonnement pur a besoin d’être surveillé par le bon sens, qui est tout autre chose. – EC 631 f. | 162 | 166 205 Vgl. Abschnitt 1.2.4, S. 81.

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(4) Gadamer verschweigt, dass Bergson in Le bon sens et les études classiques einen weiteren Aspekt der Mittel- und Vermittlerstellung zur Sprache bringt: Der bon sens steht zwischen Instinkt und Intelligenz. Dass Gadamer mit diesem Aspekt nicht viel anzufangen wusste, ist verständlich; aber Leser, denen die Formel »Instinkt ist Sympathie« noch in den Ohren klingt, werden anders urteilen. Bergson schreibt: »Wenn [der bon sens] sich dem Instinkt durch die Schnelligkeit seiner Entscheidungen und die Spontaneität seines Wesens annähert, so unterscheidet er sich zutiefst von ihm durch die Vielfalt seiner Mittel, die Anpassungsfähigkeit seiner Form und die eifersüchtige Wachsamkeit, mit der er uns umgibt, um uns vor dem intellektuellen Automatismus zu bewahren. Wenn er der Wissenschaft ähnelt durch seine Bemühung um das Wirkliche und seine Entschlossenheit, in Kontakt mit den Tatsachen zu bleiben, so unterscheidet er sich von ihr durch die Art der Wahrheit, nach der er strebt; denn er zielt nicht, wie sie, auf die allgemeine Wahrheit ab, sondern auf diejenige der gegenwärtigen Stunde, und es liegt ihm weniger daran, ein für allemal Recht zu haben, als daran, stets wieder mit dem Recht-Haben zu beginnen.« 206

Der bon sens ist, wie Arnaud Bouaniche formuliert 207, ein Vermögen des Erfassens von Wirklichkeit, das auf einer Stufe operiert, auf der die Trennung zwischen Theorie und Praxis noch nicht erfolgt ist. Er stellt gewissermaßen das menschliche Pendant des Instinkts dar, insofern er der menschlichen Wirklichkeit angepasst ist und nicht theoretische Wahrheit, sondern handlungsleitende Orientierungen liefert. Aber gerade weil er das Äquivalent des tierischen Instinkts im Hinblick auf die menschliche, veränderliche Wirklichkeit ist, muss er jene Flexibilität (»Vielfalt der Mittel«) aufweisen, die das eigentümliche Merkmal der menschlichen Intelligenz darstellt. Der bon sens als Analogon des Instinkts verankert den Menschen, der mit nichts und niemandem sympathisieren muss, in einer menschlichen Wirk-

206 S’il se rapproche de l’instinct par la rapidité de ses décisions et la spontanéité de sa nature, il s’y oppose profondément par la variété de ses moyens, la souplesse de sa forme, et la surveillance jalouse dont il nous entoure, pour nous préserver de l’automatisme intellectuel. S’il ressemble à la science par son souci du réel et son obstination à rester en contact avec les faits, il s’en distingue par le genre de vérité qu’il poursui ; car il ne vise pas, comme elle, à la vérité universelle, mais à celle de l’heure présente, et ne tient pas tant à avoir raison une fois pou toutes, qu’à toujours recommencer d’avoir raison. – Mél. 362 | Écr. 155 207 Écr. 168, Anm. 25

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lichkeit, die in ständiger Veränderung begriffen ist. Er vereint die »Aufmerksamkeit auf das Leben« mit dem Gefühl des »Entsprechen-Müssens«, d. h. das Gefühl der Relevanz von Um- und Mitwelt, mit der Einfühlung in Personen und Situationen, dem Erfassen des jeweils Besonderen und Relevanten. Aber er liefert nur eine allgemeine Orientierung und muss deshalb ergänzt werden durch die Intelligenz, die in der Lage ist, das Einzigartige der Situation in Worte zu fassen und konkrete Handlungsweisen zu entwickeln. Leicht ließe sich übrigens auch zu diesen Sätzen aus der Festrede ein den Hauptwerken entnommenes Gegenstück liefern. Dass der Mensch sich im Spannungsfeld von Instinkt und Intelligenz bewegt und aufgefordert ist, ein Mittleres, die Einseitigkeiten dieser beiden Erkenntnisweisen Überwindendes zu entwickeln, ist eine der zentralen Schlussfolgerungen von L’évolution créatrice. Aber das Neue heißt dort Intuition, und deshalb sollen diese mit den Thesen der Festrede eng verbundenen Überlegungen erst in Kapitel 6 betrachtet werden. 208 (5) Das letzte mir wichtig erscheinende Stichwort verdeutlicht noch einmal konkret den Zusammenhang zwischen Bergsons bonsens-Konzeption und der Thematik, die uns in Abschnitt 5.3.4 beschäftigt. Man wird sagen müssen, dass Gadamer in diesem Fall den Punkt erkennt, aber die Pointe verfehlt. Er hält es nämlich zu Recht für erwähnenswert, dass Bergson über »die Bedeutung der klassischen Studien für die Ausbildung dieses bon sens« spricht, glaubt aber bemängeln zu müssen, dass er »nicht die umgekehrte Frage [stellt], wie weit zu den klassischen Studien selber bon sens erforderlich ist«. Ich hatte bereits angekündigt, dass wir noch einmal auf die Frage, ob der bon sens Gabe oder Aufgabe sei, zurückkommen müssten. An diesem Punkt sind wir nun angelangt. Bergson hält seine Rede über den bon sens in einer höheren Bildungsanstalt, und insofern liegt es nahe, die Frage zu stellen, ob die Bildung einen Beitrag zur Ausbildung des bon sens zu leisten vermag. Man kann – Bergson zufolge – den Eindruck haben, dass es auf diese Frage gar keine befriedigende Antwort gibt. Ist nämlich der bon sens ein Ergebnis der schulischen Bildung, dann hängt er vom Bildungsniveau ab, und dann ergibt sich ein Widerspruch zwischen der Tatsache, dass nur wenige eine höhere Bildung genießen, und dem Prinzip der allgemeinen Par208

Vgl. Abschnitt 6.1.4, S. 711.

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tizipation in einer demokratischen Gesellschaft. Handelt es sich aber um eine Begabung, dann hat die Gesellschaft keine Möglichkeit, das zu fördern, dessen sie am meisten bedarf. 209 Aber Bergson glaubt, dass es noch eine dritte mögliche Antwort gibt und dass diese die Wahrheit trifft: Der bon sens ist allen Menschen angeboren, aber er kann durch die höhere Bildung geübt (trainiert) werden. Um diese These zu illustrieren, zieht er das Beispiel der »klassischen Studien«, d. h. der Beschäftigung mit der antiken Kultur, insbesondere aber mit den antiken Sprachen heran. Damit wählt er ganz gewiss kein leichtes, unmittelbar einleuchtendes Beispiel, denn die klassischen Studien scheinen keine direkte Relevanz für die Erziehung der Schüler zu Bürgern moderner Gesellschaften zu haben. Aber Bergson ist der Ansicht, dass dieser Schein trügt: »Jenseits der Ideen, die in der Sprache erkaltet und erstarrt sind, müssen wir die Wärme und die Beweglichkeit des Lebens suchen. Gerade in der klassischen Erziehung sehe ich vor allem ein Bemühen, das Eis der Worte zu brechen und unter ihm den freien Strom des Denkens wiederzufinden. Indem [die klassische Erziehung] Sie, meine lieben jungen Studenten, darin übt, die Ideen aus einer Sprache in eine andere zu übersetzen, gewöhnt sie Sie daran, diese sozusagen in mehreren unterschiedlichen Systemen kristallisieren zu lassen; dadurch löst sie [die Ideen] von jeder endgültig festgelegten sprachlichen Form und ermuntert Sie, die Ideen als solche, unabhängig von den Worten, zu denken.« 210

Das sprachliche Vermögen dehnt sich durch das Erlernen einer Fremdsprache erst einmal in die Breite aus. Da aber das Übersetzen kein mechanisches Ersetzen eines Wortes aus der Sprache S1 durch sein Äquivalent aus der Sprache S2 ist, sondern teilweise verlangt, komplexe Konstruktionen durch ganz andersartige Konstruktionen widerzugeben, kommt außerdem eine Tiefendimension in den Blick, die es uns erlaubt, davon zu sprechen, dass eine Übersetzung treffend oder nicht treffend ist, dass sie Sinn und Atmosphäre erfasst oder Mél. 360 | Écr. 153 Par-delà les idées qui se sont refroidies et figées dans le langage, nous devons chercher la chaleur et la mobilité de la vie. Je vois justement dans l’éducation classique, avant tout, un effort pour rompre la glace des mots et retrouver au-dessous d’elle le libre courant de la pensée. En vous exerçant, jeunes élèves, à traduire les idées, d’une langue dans une autre, elle vous habitue à les faire cristalliser, pour ainsi dire, dans plusieurs systèmes différents ; par là, elle les dégage de toute forme verbale définitivement arrêtée, et vous invite à penser les idées mêmes, indépendamment des mots. – Mél. 367 f. | Écr. 160 209 210

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verfehlt hat. Eben das aber ist nach Bergsons Auffassung die Funktion jener vorsymbolischen Schicht, die wir im gegenwärtigen Abschnitt 5.3.3 schrittweise freilegen. Während nun in den zuvor untersuchten Texten die vorsymbolische Verständigung einspringen musste, weil die symbolisch vermittelte nicht möglich war, oder doch zumindest den Anfang bildete, dessen sprachliche Ausarbeitung »später« immer noch folgen konnte, geschieht hier geradezu die Einübung in die vorsymbolische Dimension des Verstehens, und sie geschieht im Rückgang aus der Sprache. Die Aufgabe des Übersetzens reißt den Menschen – wie die Reise in ein fernes Land – aus den vermeintlichen Selbstverständlichkeiten der eigenen Sprache heraus. Sie zwingt ihn in eine Dimension, in der man sich nicht mehr einbildet, dass der Andere Falsches oder gar Unsinniges redet, nur weil er nicht die Worte wählt, die man selbst wählen würde. Sie zwingt ihn, kurz gesagt, in die Dimension des bon sens, der ein gemeinschaftlicher und Gemeinschaft stiftender Sinn ist, weil er Verstehen und Sympathie auch über Sprachgrenzen hinweg ermöglicht. Noch die kleinste Übersetzungsübung ist ein Training, also eine Stärkung und Weiterentwicklung des in dieser weiten Perspektive gesehenen bon sens. Gadamer verfehlt, wie mir scheint, die Pointe dieser Auffassung, wenn er kritisch anmerkt, Bergson habe zwar nach dem Nutzen der klassischen Studien für die Ausbildung des bon sens und damit für das Leben der Gemeinschaft gefragt, aber nicht nach der unverzichtbaren hermeneutischen Funktion des bon sens für die klassischen Studien im Sinne philologischer Wissenschaften. 211 Abgesehen nämlich davon, dass die Schärfung eines Sinns für das Leben in der Gemeinschaft belanglos nur für eine Wissenschaft sein kann, die sich selbst jenseits dieses Lebens und jenseits dieser Gemeinschaft verortet; abgesehen davon, dass schon auf den ersten Seiten dieser Untersuchung deutlich geworden ist, wie wenig die Vorstellung, Bergson fehle der Bezug zur – sei es nun klassischen oder modernen – Philologie, die Wirklichkeit trifft; abgesehen schließlich auch davon, dass der im vorigen Abschnitt erörterte Text konkret ausführt, wie ein anfangendes Verstehen auf der vorsymbolischen Ebene die sich anschließende kommentierende Auslegung überwacht und leitet; 211 Bereits Kristian Bankov hat diese Kritik als ungerechtfertigt empfunden, insofern bei der Lektüre von Gadamers Ausführungen zur »hermeneutischen Aktualität des Aristoteles« deutlich werde, dass die aristotelische phronesis sich kaum von Bergsons bon sens unterscheide. – Bankov[2000] 62

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– abgesehen also von all dem, besteht die Pointe jener Denkfigur, die Le bon sens et les études classiques präsentiert, doch gerade darin, dass jede spezielle Übersetzungsübung den bon sens im Allgemeinen fördert und entwickelt, und dass dann der so geschärfte Sinn für das Passende und Angemessene, jenes Taktgefühl, das der bon sens eigentlich ist, in einem wahrhaft hermeneutischen Zirkel auf jeden Bereich des menschlichen Lebens – und damit auch auf die Geisteswissenschaften – zurückwirkt. Wie der praktische Unterricht nicht spezielle Verfahrensweisen vermitteln, sondern einen Takt, ein Gefühl für die materielle Wirklichkeit entwickeln soll, das von der Hand in den Kopf steigt, so soll auch das Übersetzen ein Gefühl für die vorsymbolische Tiefendimension der geistigen Wirklichkeit entwickeln, die zwar jenseits von Wortschatz und Grammatik liegt, die aber notwendig ist, um im konkreten Fall die richtigen, sach- und sinngemäßen Formulierungen wählen bzw. die von Anderen geäußerten Worte sinngemäß erfassen zu können. Dieser Sinn ist die Sache, die gemeinsame Sache; und weil erst die Partizipation an der gemeinsamen Sache das Verstehen des von Anderen Gesprochenen oder Geschriebenen ermöglicht, lassen sich gemeinsames Leben und Textverstehen nicht trennen. 5.3.3.5 Leistung und Grenzen der Analogie Ich hatte zu Beginn von Kapitel 5 explizit, implizit aber bereits durch die Formulierung der Kapitelüberschrift meine Zustimmung zu David Lapoujades These erklärt, »Sympathie« und »Intuition« seien nicht als Synonyme zu verstehen. Mit dieser ersten, negativen These verschafft Lapoujade sich freilich nur den Freiraum, der es ihm ermöglicht, weitere, nunmehr positive Thesen aufzustellen. Die Anschlussthesen kreisen einerseits um das je eigene Profil von Sympathie und Intuition, andererseits um das Verhältnis dieser beiden Phänomene zueinander. Beim derzeitigen Stand unserer eigenen Untersuchung sind insbesondere diejenigen Thesen von Interesse, die den Sinn von »Sympathie« klären sollen. 212 Deren Zentrum bildet die These, Sympathie basiere auf Analogie. Nun ist aber der Begriff »Analogie« aufgrund seiner Verwen-

212 Ich beziehe mich nachfolgend auf Lapoujade[2007] 434–436 = Lapoujade[2010] 59–61.

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dung in einer langen Denktradition nicht minder mehrdeutig als der Begriff »Sympathie«. Lapoujade nimmt deshalb eine Unterscheidung zwischen statischer und dynamischer Analogie vor. Die statische Analogie, mit der man es in der Tradition meist zu tun hat, behauptet ein gleichartiges Verhältnis zwischen jeweils zwei feststehenden Termen: Der Flügel ist für den Vogel das, was für den Fisch die Flosse ist. Die dynamische Analogie stellt dagegen eine Ähnlichkeit zwischen Bewegungen, Tendenzen bzw. Intentionen fest: Die Infinitesimalrechnung befasst sich auf ihre Weise mit dem gleichen Problem, mit dem sich auf eine andersartige Weise die Hermeneutik befasst. Auf dieser Basis kann Lapoujade der These, Sympathie basiere auf Analogie, die erläuternde These hinzufügen, wenn Bergson von Sympathie spreche, dann habe man es immer mit einer dynamischen Analogie zu tun. Diese beiden Thesen passen vorzüglich zu den Texten, die ich hier (in Abschnitt 5.3.3) vorgestellt habe. Am deutlichsten zeigt sich ihre Anwendbarkeit, wenn Bergson von den ähnlichen Tendenzen spricht, die in der französischen und der amerikanischen Geschichte zum Ausdruck kommen. Aber auch da, wo Bergson das »primitive« Verstehen als – im vorsprachlichen Bereich verankerte – Analogie zwischen Bewegung des Textes und Bewegung des Lesers fasst oder die Übersetzbarkeit von Texten auf ein – unabhängig von allen »gefrorenen« Worten sich vollziehendes – analoges Sinngeschehen gründet, wird die Analogie von Verläufen als das Neue erkennbar, das unsere dritte Stufe der Sympathie von ihrer Vorgängerin abhebt. Dass Lapoujades Thesen mit den hier ermittelten Ergebnissen harmonieren, sich sogar dafür anbieten, den besonderen Charakter der dritten Stufe von Sympathie auf den Begriff zu bringen, versteht sich umso weniger von selbst, als Lapoujade nicht zwischen verschiedenen Formen oder Stufen der Sympathie unterscheidet. 213 Es sind denn auch einige Einschränkungen notwendig. Aus Lapoujades Per213 Lapoujade spricht in seinen Überlegungen zur Sympathie mehrfach von niveaux. Eine Minderheit der Fälle (Mais l’essentiel se joue déjà à ce niveau. – 430/54 – À ce niveau, la sympathie se définit comme […]. – 432/56) deutet eine methodische Stufung im Sinne des Aufstiegs vom Materialsammeln zur Konzeption des Ganzen an, aber dieser Aspekt wird nicht weiter ausgearbeitet. In der Mehrheit der Fälle ist dagegen – wie schon aus der häufig verwendeten Formel niveaux de réalité hervorgeht – nicht von verschiedenen Formen, sondern von verschiedenen Gegenständen der Sympathie die Rede. Auf diesen Aspekt unseres Themas werde ich erst in Kapitel 6 eingehen.

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spektive müsste gelten: Jede Sympathie ist Analogie. Aus der Perspektive, die ich hier entwickele, ist dagegen festzustellen: Lapoujade berücksichtigt nur einen bestimmten Ausschnitt der von Bergson als »Sympathie« bezeichneten Phänomene. Für diesen (aber auch nur für diesen) ist seine Analyse korrekt. Wenn wir hier eine Übereinstimmung von Lapoujades Thesen und unseren eigenen Ergebnissen feststellen, so liegt das daran, dass unsere Analyse sich mehr und mehr demjenigen Teilbereich nähert, den auch Lapoujade betrachtet. Lapoujades begrenzter Blickwinkel wird deutlich, wenn er den beiden von mir zustimmend referierten Thesen über die Sympathie noch eine dritte hinzufügt. Sympathie beruht demnach auf einem »Analogieschluss« (raisonnement par analogie). Um verständlich zu machen, warum ich diese These nicht uneingeschränkt akzeptieren kann, genügt es wohl, auf Bergsons Feststellung zu verweisen: »Instinkt ist Sympathie«. Es ist wenig wahrscheinlich, dass Bergson das instinktgesteuerte Verhalten der Tiere oder das »solidarische« Verhalten der Menschen als Folge von Analogieschlüssen begreift. Freilich: Wie der Gedanke, der Kern der Sympathie sei in einer dynamischen Analogie zu sehen, auf der dritten Stufe unserer Analyse seinen Sinn enthüllt, so mag auch die in ihrer allgemeinen Formulierung fragwürdige These vom Analogieschluss auf einer höheren Stufe ihre Rechtfertigung erfahren. Wir werden deshalb später darauf zurückkommen. 214 Dies also sind die Vorbehalte, die mich dazu veranlasst haben, die Bereiche des tierischen Instinkts einerseits, der menschlichen »Solidarität« und Empathie andererseits ohne Rückgriff auf Lapoujade und ohne Einsatz des Analogiebegriffes zu durchqueren. Jetzt aber, auf der dritten Entwicklungsstufe menschlicher Sympathie, kann der Analogiebegriff zum Zuge kommen, denn er ist geeignet, das Neue, für diese Stufe Charakteristische zu erschließen. Worin also besteht es? Gehen wir von den in Abschnitt 5.3.2.6 erörterten Schwächen der Empathie aus, so lässt sich zunächst eine Stärkung des Ich feststellen. Das zeigt sich besonders eindrucksvoll, wenn Bergson Freundschaften zwischen Personen zum Leitbild und Maßstab für die Entwicklung von Freundschaften zwischen Völkern macht. 215 Das Wort »Person« bezeichnet in diesem Zusammenhang nicht einfach einen einzelnen Menschen, sondern einen homo historicus im Sinne von Kapitel 4: 214 215

Vgl. Abschnitt 6.2.3.2.4, S. 781. Vgl. Anm. 192.

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einen Menschen mit eigener Vergangenheit und mit Ausrichtung auf die durch ein Leitbild umrissene Zukunft, kurz: einen Menschen mit Dauer. Und in dem Maße, in dem sich Völker durch eine eigene Geschichte sowie ein eigenes Ideal definieren, gewinnen auch sie Dauer und Individualität. 216 Sodann ist eine Stärkung des Wir festzustellen, und diese Stärkung des Wir geht nun gerade nicht mehr – wie bei der Solidarität – auf Kosten des Ich, es ist hier nicht einmal ein Konflikt sichtbar, sondern die Stärkung des Ich geht einher mit der Stärkung des Wir bzw. die Stärkung des Wir ergibt sich aus der Stärkung des Ich. Das ist möglich, weil Sympathie als Analogie auf eine Ähnlichkeit (genauer: gleichartige Gerichtetheit) verweist: Zwei Individuen oder zwei Völker sympathisieren miteinander, wenn und weil sie »durch eine Gemeinschaft der Traditionen und Bestrebungen miteinander verbunden« sind, wenn und weil sie »auf der gleichen geistigen Stufe stehen und dem gleichen Ideal, mit dem gleichen Idealismus« folgen. 217 Damit ist dem Schwanken zwischen Beherrschen und Sichbeherrschen-Lassen, zwischen Übersteigerung und Auslöschung des eigenen Ich, das wir bei der reinen Empathie antrafen, ein Ende gesetzt: Sympathie als Analogie – genauer: Sympathie als Anerkennung der Analogie – kann sich nur da einstellen, wo zwei Individualitäten eine Ähnlichkeit des ihnen eigentümlichen Strebens zumindest »intuitiv« (im umgangssprachlichen Sinne des Wortes) erfassen. Jene Partnerschaft auf Augenhöhe, die auf der Stufe der Kameradschaft bloßes Postulat blieb, ist hier wirklich erreicht. Wenn Bergson im Gespräch mit Isaak Benrubi die Sympathie darauf zurückführt, dass »wir keine Monster innerhalb der Natur sind« und dass »wir uns in gewisser Weise in ihr wiederfinden« 218, so müssen wir zwar in der Sache feststellen, dass die Frage, wie die Natur in das hier gezeichnete Bild passt, noch ungeklärt ist, – die Formulierung als solche jedoch lässt sich auch hier schon mit Gewinn einsetzen: Wir sympathisieren mit dem Anderen, weil wir uns in gewisser Weise in ihm wiedererkennen. Das heißt, wie ich durch die Formulierung »intuitiv erfassen« bereits angedeutet habe, nicht, dass es sich um eine bewusste oder gar aufgeklärte Sympathie handeln würde. Hier stoßen wir an die 216 217 218

Vgl. Anm. 197. Vgl. Anm. 197, 196. Vgl. Anm. 161.

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Grenzen des auf dieser Stufe Möglichen. Wie der praktische Unterricht im Schüler einen »Takt« (ein Gespür) für die Wirklichkeit entwickeln soll, so äußert sich auch der bon sens des Übersetzenden als »Takt« (Gespür) für die Angemessenheit oder Unangemessenheit. Wie der »primitiv verstehende« Schüler sich von der Musik des Textes tragen lassen soll, so werden auch Amerikaner und Franzosen in die Dynamik des Geschehens – wie in einen Volkstanz (man erinnere sich an Bergsons Vergleich) – hineingezogen und lassen sich von der Dynamik tragen. Es ist der Philosoph Bergson, der in reflektierenden Reden oder gar rückblickend verfassten Texten das Geschehen auf den Begriff zu bringen versucht. An dieser Stelle werden wir also auf der vierten und letzten Stufe einen Fortschritt erwarten. Wenden wir uns abschließend der Frage zu, wie das Konzept der Sympathie als Analogie sich mit jenen Schichtenmodellen verträgt, auf denen unsere Darstellung basiert. Lässt sich – um mit dem aus L’intuition philosophique entnommenen Modell zu beginnen – ein Bezug zwischen den hier als Beispiele herangezogenen Phänomenen und dem Begriff des Bildes herstellen? Auf der Basis einer etwas oberflächlichen Lektüre könnte man antworten, dies sei problemlos möglich, da der hier in allen Fällen wesentliche »Gesang unterhalb des Textes« ebenso wie das vermittelnde Bild eine vorsprachliche Form des Sinnes darstelle. Es sei zwar etwas verwunderlich, dass Bergson bald die Malerei, bald die Musik heranziehe, um jene Dimension zu charakterisieren, die das sprachliche Kommunikationsgeschehen trägt, aber wichtiger als solche Unterschiede im Detail sei eben doch die Vorsprachlichkeit als gemeinsamer Nenner beider Künste. Dieser gemeinsame Nenner scheint mir in der Tat von großer Bedeutung zu sein. Indessen: Bild und Melodie einzig und allein aufgrund ihrer Vorsprachlichkeit in einen Topf zu werfen, hieße, den für Bergsons Philosophie so wesentlichen temporalen Aspekt zu unterschlagen. Das Bild tritt ja – wenn dieses Wort hier auch mit äußerster Vorsicht zu benutzen ist – als statische Struktur, die Melodie dagegen als dynamischer Verlauf in Erscheinung. Das Bild ist jenes in sich geschlossene Ganze, das erst durch die Rede in Diskursivität transformiert wird, die Melodie dagegen der in der Zeit sich erstreckende Verlauf der Rede selbst. Das Bild enthält alle wesentlichen Momente des Themas gleichzeitig, während die Melodie ihr zeitliches Nacheinander organisiert. Macht man sich diesen Unterschied in seiner ganzen Bedeutung klar, so könnte man argwöhnen, dass hier zusammengeworfen werden soll, was nicht zusammengehört. 688 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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Andererseits gibt es eine Beobachtung, die gegen den Verdacht spricht, hier entstehe nur deshalb ein Problem, weil Verschiedenartiges gewaltsam vereinheitlicht werden soll, und gegen die Empfehlung, solch willkürliche Gleichmacherei besser zu unterlassen: Das Problem entsteht gar nicht erst jetzt. Es ist überhaupt nicht neu. Vielmehr begleitet es uns – freilich unbeachtet und unerörtert – seit dem Beginn dieser Untersuchung. Ich hatte zwar in Kapitel 1 zunächst Bergsons Überlegungen zu dem zwischen Intuition und Text vermittelnden Bild aus L’intuition philosophique referiert, dann aber, ohne auf die Andersartigkeit einzugehen, auch Bergsons Beschreibung des Verhältnisses zwischen einem Zuhörer und einem seine Texte vorlesenden Dichter aus L’évolution créatrice zitiert: »Liest mir ein Dichter seine Verse vor, so kann ich genug Interesse für ihn hegen, um in sein Denken einzutreten, mich in seine Gefühle einzufügen und den einfachen Zustand nachzuerleben, den er in Sätze und Worte zersplittert hat. Ich sympathisiere dann mit seiner Inspiration, ich folge ihr in einer kontinuierlichen Bewegung, die, gleich der Inspiration selbst, ein einziger ungeteilter Akt ist.« 219

Bereits hier wird also ein zeitlicher Verlauf beschrieben. Darüber hinaus aber zeigt dieses Zitat, wie wenig naheliegend ein Rückzug ist, denn es präsentiert uns die kontinuierliche Bewegung der Sympathie und den einfachen Zustand der Inspiration in einem einzigen Atemzug. Hier besteht offenkundig ein Zusammenhang. Wie ist dieser zu verstehen? Versuchen wir die Frage zu beantworten, indem wir vom jetzigen Standort aus noch einmal auf die wesentlichen Konstellationen zurückblicken, die wir in Kapitel 1 angetroffen haben. Dabei fällt zweierlei auf. Zum einen: Das Bild gilt zwar als Ausgangspunkt sowohl der sprachlichen Äußerung wie auch des entwerfenden Verstehens, zugleich aber verbindet sich mit ihm eine gewisse Skepsis im Hinblick auf die Zugänglichkeit für Andere: »Wenn es nicht dieses war, dann war es eben ein anderes.« 220 Zum anderen: Die Melodie, d. h. die vorsprachlich-dynamische Basis des Sprechakts, ist zugleich die Basis des Verstehens: »Ich sympathisiere«, heißt es bei Bergson, »dann mit seiner Inspiration«, – und da, wo ich bisher übersetzt habe: »ich folge ihr [der Inspiration] in einer kontinuierlichen Bewegung«, heißt es wörtlich: »ich bin sie in einer kontinuierlichen Bewegung«. In der Mitte zwischen diesen zwei Positionen ist dann Bergsons trotz 219 220

Vgl. Kap. 1, Anm. 92. – Hervorhebungen von mir [C. K.]. Vgl. Kap. 1, Anm. 42.

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der Skepsis deutlich werdendes Vertrauen in die Verstehbarkeit angesiedelt: Wenn es nicht dieses Bild ist, dann eben ein anderes, aber selbst als anderes ist es kein falsches, irreführendes, sondern ein analoges, auf die gleiche Inspiration/Intuition verweisendes. Und es kann ein analoges sein, wenn und weil es aus dem sympathisierenden MitSein entspringt. Verallgemeinern wir das, dann können wir sagen: Das Bild ist ein je eigenes, in den individuellen Erfahrungsraum eingeschlossenes und nicht übertragbares Phänomen. Die Melodie als vorsprachliche Verzeitlichung des Bildes ermöglicht dagegen den Mitvollzug (das, wofür wir bisher das Wort »begleiten« verwendet haben) und stellt insofern den Ort dar, an dem sich Sprechender und Verstehender begegnen können. Sie ist das, was wir seit Kapitel 1 221 suchen, wenn wir fragen, wieso der Sinnentwurf, mit dem der Verstehende nach Bergsons Auffassung der sprachlichen Äußerung gleich am Anfang entgegentritt, kein völlig willkürlicher, in den meisten Fällen falscher ist. Das Entwerfen der Sinnhypothese geschieht – jedenfalls, wenn es sich um echtes Verstehen handelt – nicht im luftleeren Raum, sondern im Kontext jenes sympathisierenden Mitvollziehens der Melodie, das Bergson den Schülern empfiehlt und den Amerikanern attestiert. Zugleich zeichnet sich ab, wie sich Lapoujades zunächst so überraschende Analogieschluss-These mit unseren Erkenntnissen über die Bedeutung des vorsprachlichen Mitvollzugs für das Verstehen vereinbaren ließe: Die Melodie als Ort der Begegnung ermöglicht die Sympathie als unmittelbares, vorsprachliches Mit-Sein. Aus dem sympathisierenden Mitvollzug heraus entwirft der Verstehende dann ein Bild, das er vermittels eines Analogieschlusses auf den Urheber der sprachlichen Äußerung übertragt. Die Identität beider Bilder ist nicht gesichert, wohl aber – echte Sympathie vorausgesetzt – ihre Analogie. Kurz: Die Melodie ist die Verzeitlichung des Bildes und die Bedingung der Möglichkeit von dessen Übertragbarkeit. Bild und Melodie sind zwei unterschiedliche Erscheinungsformen einer lebendigen Intuition. 222 Wenden wir uns nun dem zweiten Basismodell zu, so ist zunächst festzustellen, dass wir in Kapitel 2, wo es entwickelt wurde, eine ganz ähnliche Ambivalenz antreffen wie in Kapitel 1. Ich hatte Vgl. Abschnitt 1.4.2, S. 126. La vie se présente à nous comme une certaine évolution dans le temps, et comme une certaine complication dans l’espace. – R 429 | 67 | 61 221 222

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dort 223 zwar unterschieden zwischen dem Sinn eines Textes (verstanden als »roter Faden«, »Linie«, »Richtung«, mithin als Dynamik) und dem (letztlich einem Bild vergleichbaren) Sinn eines Wortes, hatte dann aber den Text außer Acht gelassen und mich auf die Untersuchung des Wortsinnes beschränkt. Nun ist es eben der Begriff Sinn, mit dem wir jetzt die als Analogie verstandene Sympathie in Verbindung bringen müssen. Das aber lässt sich auf der Basis der Erörterungen über das Verhältnis von Bild und Melodie leicht durchführen. Wenn wir nämlich »Sinn« als »Richtung« verstehen, können wir sagen: Die von uns diagnostizierte Stärkung des Ich auf der dritten Stufe beruht darauf, dass nunmehr jede einzelne Individualität (Person oder Gesellschaft) eine ihr eigentümliche Richtung verfolgt, so dass ihr Denken, ihr Handeln, ihr Leben einen je eigenen Sinn erhält. Die ebenfalls diagnostizierte Stärke des Wir beruht dann darauf, dass die Individuen bei Anderen ähnliche, präziser: analoge Ausrichtungen »erkennen«, und die Sympathie ist Ausdruck dieser »Erkenntnis« (die, wie bereits erwähnt, durchaus nicht das Stadium einer bewussten Einsicht erreichen muss). Die Sympathie verweist also auf etwas, was man gemeinsamen Sinn nennen könnte, wobei freilich vorerst unklar ist, ob solche Gemeinsamkeit als Zufall angesehen werden muss oder aus einer angebbaren Quelle entspringt. Das bleibt auf dieser Stufe auch ungeklärt. Die Individuen leben den gemeinsamen Sinn und entwerfen die je eigenen Sinn-Bilder, fragen aber nicht nach dem Ursprung des gemeinsamen Sinns oder nach dem Verhältnis zwischen gemeinsamem und individuellem Sinn. Obwohl das Modell Funktion – Bedeutung – Sinn nur drei Stufen aufweist, ist demnach sein Potential an dieser Stelle noch nicht erschöpft. Es zeichnet sich eine Erweiterung ab, bei der es um den Ursprung des Sinns ebenso gehen wird wie um die gemeinsame Wurzel von Bild und Melodie.

223

Vgl. Abschnitt 2.2.2.1, S. 189.

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6 Intuition: Elend und Glanz der Philosophie

Die vorliegende Untersuchung kann und will nicht den Anspruch erheben, Bergsons hermeneutische Philosophie vollständig darzustellen. Ich habe mich von Anfang an darum bemüht, die These vom hermeneutischen Charakter dieser Philosophie als einen Impuls im Sinne Bergsons aufzufassen – einen Impuls, der klein und unscheinbar beginnt, um sich dann zu entfalten und im Zuge seiner Entfaltung immer mehr Werke und Thesen Bergsons, aber auch immer mehr Ansätze der Interpreten zu integrieren. Es kann demnach gar nicht mein Interesse sein, hier eine umfassende und endgültige Darstellung vorzulegen, würde ich doch damit zu Protokoll geben, dass ich die Kraft dieses Impulses für nunmehr erschöpft halte. Das ist nicht der Fall. Vielmehr hoffe und erwarte ich, dass, wie ich über Hyppolite und Ronchi, Bankov und Brougham, Fedi und Pflug hinausgegangen bin, andere Interpreten, den Impuls aufnehmend, über das von mir Erkannte und Dargestellte hinausgehen werden. Gleichwohl lässt sich sagen, dass das begrenzte Bild, das ich hier zu zeichnen versuche, drei weiße Flecken aufweist, die noch mit Inhalt zu füllen sind, bevor diese Untersuchung als ein konsistentes Ganzes bezeichnet werden kann: • Nachdem ich, Lapoujade folgend, die Sympathie von der Intuition getrennt, bisher aber nur erstere eingehend untersucht habe, wird es nunmehr um die Klärung des Intuitionsbegriffes gehen müssen. Was bedeutet »Intuition« bei Bergson? Wodurch unterscheidet sich diese Intuition von der Sympathie? Und wie gehören Sympathie und Intuition gleichwohl zusammen? Um eine erste Klärung des Intuitionsbegriffes geht es in Abschnitt 6.1. Die um das Verhältnis von Sympathie und Intuition kreisenden Fragen dagegen werden bis zum Ende des Kapitels immer wieder nach einer Präzisierung der Antworten verlangen. • Eine zweite Frage wartet schon seit den einleitenden Bemerkungen zu Kapitel 4 auf Erledigung. Die Dauer ist für Bergson 693 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

6 · Intuition: Elend und Glanz der Philosophie

Grundbegriff der Philosophie und Grundlage der philosophischen Methode. Wie aber lässt sich auf einem im Unbewussten sich vollziehenden Strömen – mag es sich inzwischen auch als artikuliert erwiesen haben – eine bewusste Methode aufbauen? Nun ist die Dauer zwar die Grundlage der philosophischen Methode, der Name der Methode aber lautet: Intuition. Demnach muss die aus Kapitel 4 ererbte Frage nunmehr so formuliert werden: Was haben wir uns unter einer Intuition vorzustellen, die als (philosophische) Methode gelten darf? Mit dieser Frage setzt sich Abschnitt 6.2 auseinander. • Zu Beginn von Kapitel 5 habe ich vorgeschlagen, die Frage nach dem Verhältnis von Hermeneutik und Natur bei Bergson erst einmal beiseite zu lassen und stattdessen Ronchis Ansatz durch eine Reintegration des einsamen Interpreten in die menschliche Gesellschaft zu erweitern. Wir haben gesehen, dass auf diesem Feld eine reiche Ernte einzubringen ist. Das kann aber nicht heißen, dass wir uns die Bestimmung der Rolle, die die Natur im Ganzen von Bergsons Philosophie spielt, hier ersparen dürfen. Vielmehr wird die Frage, warum Bergson die Berücksichtigung der Natur in seiner hermeneutischen Philosophie für notwendig hielt, über das gesamte Kapitel hinweg immer wieder aufgegriffen und so nach und nach beantwortet werden. Mit der Frage nach dem Sinn von »Intuition« schließt sich ein Kreis: Wir hatten einen großen Teil von Kapitel 1 einem Vortrag Bergsons mit dem Titel L’intuition philosophique gewidmet, aber wir hatten diesen Text benutzt, um aus ihm eine Texthermeneutik zu gewinnen. Nun kehren wir – nach einem langen Rundgang durch Bergsons Werke – in gewisser Weise zu unserem Ausgangspunkt zurück, der uns freilich in verändertem Licht erscheint: Wir haben es jetzt mit der »philosophischen Intuition« als der Sache zu tun, um die es diesem Text (und anderen Texten) geht. Gefragt wird jetzt nicht mehr nach einer Texthermeneutik. Gefragt wird nach Aufgabe und Methode der Philosophie – wobei freilich weiterhin die Erwartung besteht, dass die Sache, um die es nach Bergsons Auffassung geht, sich als die gemeinsame Sache von Lebensphilosophie und Hermeneutik erweisen wird.

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Bausteine zu einer allgemeinen Theorie der Intuition

6.1 Bausteine zu einer allgemeinen Theorie der Intuition 6.1.1 Dauer und Intuition Viel ist geschrieben worden über Bergsons Konzept der Intuition. Vieles von dem, was geschrieben wurde, ist bezweifelt und kritisiert worden. Nicht weniges ist sogar von Bergson selbst verworfen worden. Überall also schwankender Boden und trügerischer Halt. Gleichwohl gibt es einige unstrittige Grundsätze, die wir als Ausgangspunkte für unsere Erkundung von Bergsons Konzept der Intuition verwenden können. Die hier beginnende Sammlung von Bausteinen zu einer allgemeinen Theorie der Intuition soll eine Sammlung derartiger Grundsätze sein und dazu dienen, dem Intuitionsbegriff eine vorläufige, grobe Kontur zu verleihen, bevor geprüft wird, ob er sich als Ausgangspunkt für eine philosophische Methode eignet. Keine Publikation kommt umhin, den ersten dieser Grundsätze explizit zu formulieren, da Bergson ihn schon 1915 jedem Interpreten ins Pflichtenheft diktiert hat. Den ersten Teil der hier relevanten Passage aus einem Brief Bergsons an den dänischen Philosophen Harald Høffding habe ich bereits zitiert, als wir zu Beginn von Kapitel 3 den Versuch unternahmen, Bergsons persönliche Intuition zu erfassen: »Meiner Meinung nach wird jede Zusammenfassung meiner Ansichten sie in ihrer Gesamtheit verunstalten und sie – eben deshalb – einer Vielzahl von Einwänden aussetzen, wenn sie nicht anfängt bei und unentwegt zurückkehrt zu dem Punkt, den ich als den Mittelpunkt meiner Lehre betrachte: die Intuition der Dauer. Die Vorstellung einer durch ›gegenseitige Durchdringung‹ gekennzeichneten Mannigfaltigkeit – gänzlich verschieden von der numerischen Mannigfaltigkeit –, die Vorstellung einer heterogenen, qualitativen und schöpferischen Dauer, ist der Punkt, von dem ich ausgegangen und zu dem ich immer wieder zurückgekehrt bin.« 1

Bergson fügt hinzu: »Die Theorie der Intuition, die Sie viel stärker betonen als die der Dauer, hat sich mir erst sehr viel später erschlossen als diese letztere. Sie leitet sich von ihr ab, und man kann jene nicht ohne diese verstehen.« 2

Vgl. Kap. 3, Anm. 3. La théorie de l’intuition, sur laquelle vous insistez beaucoup plus que sur celle de la durée, ne s’est dégagée à mes yeux qu’assez longtemps après celle-ci : elle en dérive et ne peut se comprendre que par elle. – Høffding[1916] 160 = Mél. 1148 f.

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In der Einleitung zu La pensée et le mouvant kommt Bergson noch einmal auf Høffding und dessen Buch über die Intuition zurück. Er erinnert daran, dass Høffding vier verschiedene Bedeutungen des Wortes »Intuition« in seinen Schriften gefunden hatte, um zunächst einmal süffisant anzumerken, er selbst würde mehr gefunden haben, dann aber wiederum auf das Zentrum hinzuweisen, von dem aus diese Vielfalt als Einheit verständlich wird: »Dennoch gibt es eine Grundbedeutung: intuitiv denken heißt in der Dauer denken.« 3

Der erste Grundsatz lautet also: Jede Intuition ist die Intuition einer Dauer. Bergson betont, dass der Gedanke der durée die Grundlage ist, auf dem der Gedanke der intuition beruht. Diese Feststellung verweist nicht bloß auf eine – allenfalls biographisch oder philosophiehistorisch interessante – chronologische Abfolge von zwei Entdeckungen. Sie verweist vor allem auf ein systematisches Begründungsverhältnis: Die Intuition kann nur verstehen, wer die Dauer versteht, weil Bergsons Intuition »Intuition der Dauer« ist. Die Verknüpfung von Intuition und Dauer stellt gleichsam die differentia specifica dar, durch die sich Bergsons Intuitionsbegriff von anderen Intuitionsbegriffen unterscheidet. Immer wieder wehrt sich Bergson deshalb gegen voreilige Gleichsetzungen seines Intuitionsbegriffes mit anderen, aus der Tradition bekannten Konzepten gleichen Namens wie etwa demjenigen der intellektuellen Anschauung (intuition intellectuelle) des Deutschen Idealismus: »Weil ein Schelling, ein Schopenhauer und andere sich schon auf die Intuition berufen haben, weil sie mehr oder weniger die Intuition der Intelligenz entgegengestellt haben, konnte man glauben, dass wir dieselbe Methode anwendeten. Als ob ihre Intuition nicht der Versuch des unmittelbaren Erfassens des Ewigen wäre! Als ob es sich bei uns nicht gerade im Gegensatz dazu darum handelte, die wahre Dauer wiederzufinden.« 4

Qu’on ne nous demande donc pas de l’intuition une définition simple et géométrique. Il sera trop aisé de montrer que nous prenons le mot dans des acceptions qui ne se déduisent pas mathématiquement les unes des autres. Un éminent philosophe danois en a signalé quatre. Nous en trouverions, pour notre part, davantage. […] Il y a pourtant un sens fondamental : penser intuitivement est penser en durée. – PM 1274 f. | 29 f. | 46 4 Parce qu’un Schelling, un Schopenhauer et d’autres ont déjà fait appel à l’intuition, parce qu’ils ont plus ou moins opposé l’intuition à l’intelligence, on pouvait croire que nous appliquions la même méthode. Comme si leur intuition n’était pas une recher3

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Dieser erste Grundsatz ist unverzichtbar. Er hilft, den als »Intuition« bezeichneten, auf die Dauer gerichteten Erkenntnismodus zu unterscheiden vom Modus der Intelligenz, der die starren Dinge im Raum untersucht. Er warnt vor jedem Versuch, bei anderen Denkern erworbene Intuitionsbegriffe einfach auf Bergson zu übertragen. Er gibt schließlich einen Leitfaden für eine adäquate Rekonstruktion von Bergsons Denken an die Hand. Aber er hilft uns hier nicht weiter. Wir gehen ja seit Kapitel 4 bereits von der Dauer aus. Wir sind mit der Frage befasst – wenn auch mit ihr noch nicht zu Ende gekommen –, wo überall die Dauer anzutreffen sein mag. Wir haben mit Hyppolite und Ronchi die Interpretation aus der sich artikulierenden Dauer entwickelt. Und wir haben gesehen, dass die Sympathie als ein mitvollziehendes Sich-Verhalten zur Dauer der Anderen – sei das nun die Dauer anderer Individuen oder die Dauer einer Gesellschaft – zu begreifen ist. Wenn es sich aber so verhält, wenn, mit anderen Worten, die Intuition ebenso wie die Sympathie als ein Erfassen der Dauer verstanden werden muss, dann gibt der erste Grundsatz keine Antwort auf unsere Leitfrage, wodurch sich denn Sympathie und Intuition unterscheiden. Freilich: Der Eindruck, dass dieser erste Grundsatz uns nicht voranbringt, könnte auch daraus resultieren, dass wir ihn zu oft zu hören bekommen und deshalb nicht mehr genau genug hinhören. Treten wir also einen Schritt zurück und fragen wir uns, ob wir verstehen, was die Intuition einer Dauer sein soll. Treten wir dann (von diesem Standpunkt aus und mit dieser Frage) an Bergsons Texte heran – und im Nu wird die scheinbare Selbstverständlichkeit der Formel »Intuition der Dauer« verschwinden. Die Texte nämlich konfrontieren uns mit einer geradezu atemberaubenden Ambivalenz des Intuitionsbegriffes. Insbesondere kann das Wort intuition – wenn man sich der Kategorien traditioneller Erkenntnistheorie bedient – sowohl einen Erkenntnisinhalt wie auch ein Erkenntnisvermögen bezeichnen. Im ersten Fall bezeichnet der Begriff Intuition ein (wie auch immer geartetes) inhaltliches Wissen über die (bzw. eine) Dauer, im zweiten ein Vermögen, das uns in die Lage versetzt, nicht nur Dinge, sondern auch Dauern zu erkennen. Zumindest in einigen Fällen lässt sich zwischen beiden Bedeutungen unterscheiden. Oft genug aber

che immédiate de l’éternel ! Comme s’il ne s’agissait pas au contraire, selon nous, de retrouver d’abord la durée vraie. – PM 1271 | 25 f. | 42

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zeigt sich auch, dass eine derartige Unterscheidung Bergsons Denken nicht gerecht wird: Man versuche einmal zu entscheiden, ob es sich bei der Intuition des uns aus L’intuition philosophique bekannten Philosophen um einen Inhalt, ein Vermögen, eine Anschauung, einen Antrieb oder eine Methode handelt! Lassen wir uns von dieser Schwierigkeit leiten. Prüfen wir, was dabei herauskommt, wenn wir die Intuition der Dauer unter diesen verschiedenen Gesichtspunkten betrachten. Und beginnen wir mit der Frage, was »Intuition der Dauer« bedeuten kann, wenn Intuition als Erkenntnisinhalt aufgefasst wird: Wenn man die Intuition einer Dauer gewonnen hat – was weiß man dann über diese Dauer?

6.1.2 Intuition als Erkenntnisinhalt Um eine Basis für die Beantwortung dieser Frage zu erhalten, möchte ich zunächst zwei Textpassagen anführen, in denen Bergson auf sehr anschauliche Weise klarzumachen versucht, was es mit der Intuition auf sich hat. Den ersten Text entnehme ich der vierten und spätesten Festrede Bergsons, die er 1902 unter dem Titel L’intelligence gehalten hat. Mit intelligence ist hier, wie man gleich sehen wird, nicht das uns insbesondere aus den Kapiteln 2 und 3 bekannte Erkenntnisvermögen des homo faber gemeint. Die Hintergründe dieses überraschenden Wortgebrauchs bedürfen einer etwas ausführlicheren Erläuterung, die im Abschnitt 6.1.4 folgen wird. Bis dahin bitte ich den Leser, mir im Vertrauen auf die spätere Begründung zu folgen, wenn ich intelligence als »Verstehen« oder »Verständnis« – wie in der Formel l’intelligence des Écritures – und intelligence vraie als »Intuition« übersetze. Bergson beginnt mit einer kurzen Skizze des Verhaltens von Menschen innerhalb einer Gesellschaft. Die Schilderung enthält Anklänge an die frühere Rede über das Spezialistentum, erinnert aber auch an Formen arbeitsteiligen Zusammenlebens, die wir unter Stichworten wie Solidarität und Empathie erörtert hatten: »In dem großen Konzert, das die Mitglieder der menschlichen Gesellschaft gemeinsam aufführen, muss ohne Zweifel jeder von Grund auf seinen Part und den Mechanismus seines Instruments kennen; aber er könnte nicht einmal im richtigen Tempo spielen, wenn er die übrigen Instrumente so wenig beachten würde, dass er sie nicht begleiten kann, oder wenn er nicht

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gelernt hätte, zumindest von ferne – anhand der Bewegungen des Dirigenten – dem äußerlichen Verlauf der gesamten Partitur zu folgen. […]

Dieser Beschränkung aufs Spezialgebiet stellt Bergson dann die »wahre Intelligenz« als Erfassen des Ganzen entgegen: Aber die Intelligenz [= das Verständnis] ist etwas anderes. Die wahre Intelligenz [= die Intuition] ist das, was uns ins Innere dessen, was wir untersuchen, eindringen, uns dessen Grund berühren, dessen Geist einatmen, dessen Herzschlag hören lässt. Ob es sich nun um die Intelligenz [= das Verständnis] des Anwalts oder des Arztes, des Industriellen oder des Geschäftsmanns handelt – immer ist die Intelligenz [= das Verständnis] jener sympathetische Strom, der sich zwischen dem Menschen und der Sache entwickelt wie zwischen zwei Freunden, die sich auf die kleinste Andeutung hin verstehen und zwischen denen es keine Geheimnisse gibt. Schauen Sie, wie der erfahrene Literaturkritiker die verborgensten Intentionen des von ihm kommentierten Autors errät, wie der scharfsinnige Historiker zwischen den Zeilen der von ihm herangezogenen Dokumente liest, wie der geschickte Chemiker die Reaktionen der von ihm erstmals verwendeten Substanzen voraussieht, wie der gute Arzt den sichtbaren Symptomen der Krankheit vorauseilt, wie der gute Anwalt Ihre Angelegenheit besser versteht als Sie selbst. Alle diese Menschen zeigen – in diesen ganz verschiedenen Tätigkeitsbereichen – die gleiche Fähigkeit des Geistes: die Fähigkeit, sich den Sachen anzugleichen, ihnen in ihren feinsten Bewegungen zu folgen und im Einklang (sympathiquement) mit ihnen zu schwingen.« 5

Oui, dans le grand concert que les membres de la société humaine exécutent ensemble, chacun doit sans doute connaître à fond sa partie et le mécanisme de son instrument, mais il ne jouerait même pas en mesure s’il ignorait les autres instruments au point de ne pouvoir les accompagner, ou s’il n’avait pas appris à suivre de loin, sur les mouvements du chef d’orchestre, le dessin extérieur de la partition entière. […] Mais l’intelligence est autre chose. L’intelligence vraie est ce qui nous fait pénétrer à l’intérieur de ce que nous étudions, en toucher le fond, en aspirer à nous l’esprit et en sentir palpiter l’âme. Que ce soit l’intelligence de l’avocat ou celle du médecin, l’intelligence de l’industriel ou celle du commerçant, toujours l’intelligence est ce courant sympathique qui s’établit entre l’homme et la chose, comme entre deux amis qui s’entendent à demi-mot et qui n’ont plus de secrets l’un pour l’autre. Voyez comme le critique exercé devine les intentions les plus cachées de l’auteur qu’il commente, comme l’historien sagace lit entre les lignes des documents qu’il compulse, comme le chimiste habile prévoit les réactions du corps qu’il manipule pour la première fois, comme le bon médecin devance les symptômes visibles de la maladie, comme le bon avocat comprend votre affaire mieux que vous ne la comprenez vousmême. Tous ces hommes manifestent, dans ces domaines différents, une même puissance de l’esprit, la puissance de s’accorder sur les choses, de les suivre dans leurs mouvements les plus subtils et de vibrer sympathiquement avec elles. – Mél. 556 f. | Écr. 274 f.

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Der zweite, ein Jahr später publizierte Text ist – zumindest teilweise – bereits aus dem Abschnitt über die Kameradschaft bekannt: »Jeder, der sich erfolgreich mit dem Verfassen von Texten beschäftigt hat, weiß, dass, wenn man auch den Gegenstand lange untersucht, alle erforderlichen Dokumente gesammelt, alle Notizen gemacht hat, immer noch etwas hinzukommen muss, bevor man mit der eigentlichen Arbeit des Schreibens beginnen kann: eine – oft beschwerliche – Bemühung, sich mit einem Schlag ins Herz des Gegenstands zu versetzen und in einer möglichst tiefen Schicht einen Impuls aufzusuchen, dessen Antrieb man sich dann nur noch zu überlassen braucht. Hat man diesen Impuls einmal empfangen, so führt er den Geist auf einen Weg, auf dem er alle zuvor gesammelten Informationen wiederfindet und zudem noch neue entdeckt. […] Die metaphysische Intuition scheint etwas Derartiges zu sein. Was hier den Notizen und Dokumenten der Schriftstellerei entspricht, das ist die Gesamtheit der Beobachtungen und Erfahrungen, die durch die positive Wissenschaft, vor allem aber auch durch die Reflexion des Geistes auf sich selbst gesammelt wurden. Denn man erhält von der Wirklichkeit keine Intuition, d. h. keine geistige Sympathie mit ihrem innersten Wesen, wenn man nicht durch eine lange Kameradschaft mit ihren oberflächlichen Bekundungen ihr Vertrauen gewonnen hat.« 6

Befragt man diese zwei und weitere, ähnliche Texte 7 auf das ihnen Gemeinsame, so stellt man fest, dass Bergson in allen Fällen das Bild eines Sprunges suggeriert. Immer beginnt der Text mit der Darstellung einer Aktivität, die in einer gewissen Hinsicht partizipativ und in einem gewissen Maße von Verständnis begleitet ist, der jedoch volle Einsicht und volles Verstehen fehlen: Der Autor sammelt DoQuiconque s’est exercé avec succès à la composition littéraire sait bien que lorsque le sujet a été longuement étudié, tous les documents recueillis, toutes les notes prises, il faut, pour aborder le travail de composition lui-même, quelque chose de plus, un effort, souvent pénible, pour se placer tout d’un coup au cœur même du sujet et pour aller chercher aussi profondément que possible une impulsion à laquelle il n’y aura plus ensuite qu’à se laisser aller. Cette impulsion, une fois reçue, lance l’esprit sur un chemin où il retrouve et les renseignements qu’il avait recueillis et d’autres détails encore […]. […] L’intuition métaphysique paraît être quelque chose du même genre. Ce qui fait pendant ici aux notes et documents de la composition littéraire, c’est l’ensemble des observations et des expériences recueillies par la science positive et surtout par une réflexion de l’esprit sur l’esprit. Car on n’obtient pas de la réalité une intuition, c’est-à-dire une sympathie spirituelle avec ce qu’elle a de plus intérieur, si l’on n’a pas gagné sa confiance par une longue camaraderie avec ses manifestations superficielles. – PM 1431 f. | 225 f. | 224 f. 7 Ergänzend wäre hier insbesondere Bergsons Darstellung des intuitiven Verstehens einer Romanfigur anzuführen, wenn nicht Anlass bestünde, diesen Text für einen späteren Abschnitt aufzusparen (vgl. Abschnitt 6.2.2.1, S. 731, Anm. 49). 6

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kumente und Informationen, aber ihm fehlt noch der leitende Gesichtspunkt. Der Orchestermusiker spielt seine Stimme, passt sich äußerlich dem Tempo der Kollegen und dem vom Dirigenten gewünschten Ausdruck an, aber es bleibt bei dieser äußerlichen, oberflächlichen Partizipation. Der Leser 8 folgt dem Romanhelden von Abenteuer zu Abenteuer, bewundert den Einfallsreichtum des Autors, aber macht sich kein Bild von der Gesamtpersönlichkeit. Plötzlich erfolgt dann aber der Sprung auf eine ganz andere Ebene, auf der die Sache, mit der man es zu tun hat, nicht länger als Ansammlung von Details erscheint, sondern in ihrer Totalität und als Totalität in den Blick kommt, wobei freilich die Details nicht aus dem Blick geraten: Die einzelnen Abenteuer des Romanhelden werden nicht unwichtig, aber statt einer bunten Bilderfolge erscheint nun die organische Ganzheit eines Lebens, in der jede Episode ihre besondere Bedeutung hat. Ich möchte nun zunächst behaupten, dass dieser Sprung die entscheidende Differenz zwischen Sympathie und Intuition markiert. Blickt man von den eben zitierten Texten aus auf die in Kapitel 5 erarbeitete Phänomenologie menschlichen Sympathisierens zurück, so zeigt sich, dass alle dort erörterten Formen gleichsam in die Phase vor diesem Sprung gehören. Man muss ja nur den Versuch unternehmen, das Verb »verstehen« auf die dort beschriebenen Phänomene anzuwenden, um alsbald ein Zögern und Zweifeln zu bemerken: Soll man den gemeinsamen Tanz oder die »Einsfühlung« (Scheler) von Franzosen und Amerikanern uneingeschränkt als »Verstehen« bezeichnen, und soll man für das widerwillige Sich-Anpassen des Ausgelachten oder die folgsamen Handlungen des Hypnotisierten die Bezeichnung »Verstehen« auch nur in Erwägung ziehen? Will man sich Rechenschaft geben, warum man zögert, so wird die Antwort sicherlich in jedem Fall eine andere sein: Bald fehlt die innere Zustimmung, bald das Bewusstsein, bald die Einsicht in die Sache, um die es geht, bald das Verständnis für die Bedeutung der Details. Daneben gibt es aber, wie mir scheint, ein Merkmal, das alle in Kapitel 5 geschilderten Phänomene untereinander und diese mit den soeben erörterten Phänomenen unvollkommenen Verstehens verbindet. Dieses Merkmal bringt der erste Text – und deshalb habe ich ihn hier trotz seiner terminologischen Tücken herangezogen – besonders deutlich zur Sprache: Der um die Idee des Ganzen wenig sich sche8

Vgl. Anm. 49.

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rende Orchestermusiker »folgt« – wenn auch nur anhand der Bewegungen des Dirigenten – den Umrissen des ganzen Werks, und er »begleitet« seine Kollegen. Nun hatte ich in Kapitel 5, ausgehend von einer Formulierung Kants, vorgeschlagen, das »Begleiten« als Bedeutungskern von »Sympathie« zu verstehen. Sympathie ist Mitvollzug, d. h. eine Aktivität, die sich im Einklang mit anderen Aktivitäten befindet, so dass die Vereinigung dieser Aktivitäten ein organisches Ganzes ergibt. Mitvollzug aber benötigt Zeit, und so ist es nicht verwunderlich, dass die in Kapitel 5 erörterten Phänomene sich nicht nur allesamt über einen längeren Zeitraum erstrecken, sondern dass Bergson diesen Umstand sogar in vielen Fällen – man denke an die »lange Kameradschaft« – eigens hervorhebt. Die Kontinuität des begleitenden Handelns führt, wie wir gesehen hatten, zwar zu wachsendem Verständnis im Sinne von gesteigerter Sensibilität, aber nicht zu eigentlichem Verstehen im Sinne einer Einsicht in Ursprung und Sinn des Ganzen. Die lange Kameradschaft, die lange Zusammenarbeit eines Hypnotisanden mit einem Hypnotiseur oder eines Orchestermusikers mit einem Dirigenten können dazu führen, dass man die leiseste Andeutung des Anderen richtig deutet und in der gewünschten Weise reagiert. Aber dieses richtige Deuten im Detail ist auch dann – und für lange Zeit – möglich, wenn das Fundament der Freundschaft, die Intention des Hypnotiseurs, die Idee des Kunstwerks unerkannt bleiben. Kurz: Die (bloße) Sympathie ist ein Mitvollzug, der ins Konkrete verstrickt bleibt, sich nicht über die Fülle der Details erhebt. Die Intuition ist dann der Sprung auf eine höhere Ebene, von der aus die (gemeinsame) Sache als solche und als ganze erfasst werden kann. In den zitierten Textpassagen führt Bergson eine Fülle von Beispielen an, die diesen Sprung veranschaulichen: Aus den Worten wird eine Geschichte, aus den Noten ein Musikstück, aus den Symptomen ein Krankheitsbild. Mag nun auch der Theoretiker der Hermeneutik mit dem Beispiel des Chemikers ein wenig fremdeln, so wird man doch jedenfalls sagen können, dass es sich in allen anderen Fällen um klassische Beispiele der Hermeneutik handelt, und daraus folgern dürfen, dass Bergsons Intuition ein Verstehen im eigentlichen Sinne, d. h. ein Erfassen des Ganzen ist, aus dem sich die Bedeutung der Details ergibt. Zweitens möchte ich behaupten, dass Bergson in diesen und vielen anderen Texten von einer alten hermeneutischen Einsicht handelt. Schon in den frühen Texten, in denen Bergson den Intuitions702 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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begriff noch nicht verwendet, begegnet uns immer wieder der Gedanke eines organisierenden Zentrums. Wir finden ihn schon im LukrezKommentar (idée maîtresse du poème, conception poétique de l’univers); wir finden ihn im Aufsatz über die intellektuelle Anstrengung (schéma dynamique); wir finden ihn, wie eben gesehen, in der kurz vor Einführung des Intuitionsbegriffs gehaltenen Rede über die Intelligenz: die »wahre Intelligenz« ist das, »was uns ins Innere dessen, was wir untersuchen, eindringen [und] uns dessen Grund berühren« lässt. Die Intuition selbst erläutert Bergson dann durch Beispiele wie das des Autors, der eine leitende Idee benötigt, oder das des Lesers, der die vielfältigen Abenteuer eines Romanhelden aus dem Grund seiner Persönlichkeit verstehen möchte. Schleiermacher nannte das »Keimentschluss« 9, und er war der Ansicht, dass vom Verstehen eines Textes oder einer Gruppe von Texten die Rede sein könne, wenn es gelinge, einen solchen Keimentschluss zu erfassen (divinieren) und die Elemente sowie Merkmale der Texte auf diesen Ausgangspunkt zurückzubeziehen. Nun ist das Wort »Keimentschluss« nicht in jeder Hinsicht glücklich gewählt. Auf der einen Seite kann es suggerieren, als Ausgangspunkt allen Schaffens sei ein bewusster Entschluss anzunehmen. Wir haben gesehen, dass Lebensphilosophie und Psychoanalyse dagegen die gänzliche oder teilweise Unbewusstheit des kreativen Impulses betonen. Aus ganz ähnlichen Gründen übersetzt Wolfram Hogrebe Schleiermachers »Keimentschluss« als »Energiezentrum«: »Tatsächlich, und darin hat Schleiermacher Recht, kann aber nur verstanden werden, wenn man sich in das Energiezentrum, aus dem heraus ein Text produziert wird, zurückversetzt. Dieser Rücksprung in das vorsprachliche mantische Energiezentrum des Sprechens ist ja gerade die divinatorische Seite des Verstehens.« 10

Auf der anderen Seite könnte das Wort »Keimentschluss« die Vermutung nahelegen, es handele sich dabei um eine fertige, nur noch nicht in allen Einzelheiten ausgearbeitete Zielvorstellung. Neuere Vertreter hermeneutischen Philosophierens wie Gadamer oder Marquard betonen dagegen Offenheit und Ungewissheit, indem sie den »Entschluss« in eine »Frage« transformieren. Einen Text (oder ein

9 10

Schleiermacher[1977] 189 Hogrebe[1992] 191

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beliebiges anderes Produkt kreativen Schaffens) zu verstehen, heißt dann, die Frage zu erfassen, die er/es beantworten will. Beide Denktendenzen finden sich auch bei Bergson. Schon in Kapitel 1 hatten wir gehört, wie er die Intuition des Philosophen beschreibt: sie sei »weniger eine Schau als ein Kontakt«, und dieser Kontakt habe seinerseits einen »Antrieb« (impulsion) erzeugt. 11 Und im zweiten Teil seiner Einleitung zu La pensée et le mouvant erklärt er unter dem Titel De la position des problèmes, Aufgabe des Philosophen sei weniger das Lösen als vielmehr das Auffinden und angemessene Formulieren von Problemen. Die Intuition als Erkenntnisinhalt leistet, so können wir sagen, in Bergsons mit dem Lebendigen und Geistigen befasster Philosophie das, was im Rahmen des vergegenständlichenden Denkens der Begriff leistet. Sie erfasst ein Element der Wirklichkeit. Aber sie erfasst es auf ganz andere Weise. Während der Begriff seinen Gegenstand begrenzt und stillstellt, belässt die Intuition der Dauer ihre Offenheit, der Entwicklung ihre Unabgeschlossenheit, ermittelt jedoch Ursprung und Tendenz der Dynamik. Die Intuition als Erkenntnisinhalt erfasst – wir hatten bereits zuvor Anlass, an diese von Simmel geprägte Formel zu erinnern – das »individuelle Gesetz«, das eine gegebene Dynamik in dem Maße prägt, in dem sie sich frei entfalten kann. Für unsere Frage nach dem Verhältnis von Intuition und Sympathie heißt das: Die Intuition unterscheidet sich dadurch von der Sympathie, dass sie nicht im Verlauf einer langen Zeit begleitet, sondern das Ganze einer Dauer auf einen Schlag erfasst. Sie bleibt gleichwohl eine Art von Sympathie, insofern aus dem so erfassten individuellen Gesetz heraus die gesamte Dauer verstanden werden kann.

6.1.3 Intuition als Reflexion Beim Übergang von Hyppolites Aufsatz über das Konzept des Gedächtnisses bei Bergson zu Ronchis Buch über Bergsons Interpretationsphilosophie hatte ich angemerkt, dass Hyppolite sich genötigt fühlte, seine Ausführungen über die »Aufmerksamkeit auf das Leben« um den Hinweis zu ergänzen, es gebe bei Bergson noch eine andere Art der Aufmerksamkeit, obwohl dieser Hinweis zur Sache

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Vgl. Kap. 1, Anm. 49.

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gar nichts beitrug. 12 So verhielt es sich damals in der Tat. Jetzt aber haben wir Anlass, uns an Hyppolites Hinweis zu erinnern, denn jetzt sind auch wir mit demjenigen Aspekt von Bergsons Philosophie beschäftigt, den Hyppolite im Auge hatte. Es gibt bei Bergson eine Aufmerksamkeit, die nicht – wie die Aufmerksamkeit auf das Leben – nach außen gerichtet ist, die aber auch nicht – wie der Traum – zu einem Sich-Verlieren in den Weiten der inneren Wirklichkeit führt, sondern gerade zu einem Sich-Erfassen des Geistes. Diese nicht zerstreute, sondern zentrierte Aufmerksamkeit des Geistes auf sich selbst ist die Intuition. Genauer gesagt: Es handelt sich hier um den zweiten Aspekt dessen, was Bergson »Intuition« nennt. Die Intuition ist eine Aufmerksamkeit des Geistes auf sich selbst – das klingt, als hätten wir es hier mit einem weiteren Grundsatz zu tun. Den Eindruck, dass der Satz so gemeint ist, gewinnt man auch bei der Lektüre von Bergsons Texten. Gleichwohl müssen wir vorerst darauf verzichten, ihn als einen weiteren, mit den beiden ersten gleichwertigen Grundsatz zu charakterisieren. Unzweifelhaft ist, dass Bergson seinen Begriff der Intuition in genau dieser Weise eingeführt hat. Indessen wissen wir auch bereits, dass er die Dauer zunächst einzig und allein im Geist, später dann auch außerhalb des Geistes anzutreffen hoffte. Ob wir feststellen dürfen, dass jede Intuition Aufmerksamkeit des Geistes auf sich selbst ist, oder ob wir sagen müssen, dass dies nur eine erste, vorläufige Fassung des Gedankens war, die in dem Maße modifiziert werden musste, in dem Bergson die Dauer auch in anderen Bereichen der Wirklichkeit fand, muss mithin offen bleiben, solange grundlegende ontologische und erkenntnistheoretische Fragen noch ungeklärt sind. Begnügen wir uns also vorerst mit dem leicht zu verteidigenden Standpunkt der Frühphilosophie, dass Dauer immer die Dauer des (menschlichen) Geistes und Intuition die Aufmerksamkeit dieses Geistes auf sich selbst, mithin auf seine Dauer ist. Wie gestaltet sich unter dieser Maßgabe die Aufmerksamkeit? Man kann, wie mir scheint, in Bergsons Beschreibungen verschiedene Aspekte ausmachen, die durch unterschiedliche Bilder charakterisiert werden. Das erste – auch in den Texten zuerst auftretende – Bild ist das der Schau. Der Geist kann nicht nur nach außen, sondern auch nach innen blicken, und dann sieht er sich selbst:

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Abschnitt 4.2.3.1, S. 506.

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»Die Intuition, von der wir sprechen, […] ist die direkte Schau des Geistes durch den Geist. […] Intuition bedeutet also zunächst Bewusstsein, aber ein unmittelbares Bewusstsein, eine Schau, die sich kaum vom geschauten Gegenstand unterscheidet, eine Erkenntnis, die Kontakt und sogar Koinzidenz ist.« 13

Die Vorstellung des Selbstverhältnisses als Schau, die sicherlich maßgeblich zur Wahl des Wortes intuition beigetragen hat, konnte an eine lange philosophische Tradition anknüpfen, rief aber eben deshalb bei den Lesern zahleiche Missverständnisse hervor. Sie meinten, die Intuition als Absinken in eine entspannte Passivität, als müheloses Hinnehmen einer unvermittelten Wahrheit verstehen zu dürfen, und rückten damit die Intuition gefährlich nahe an den Traum heran. Im Gegenzug gegen solche Interpretationen betont Bergson, dass die Intuition eine Aktivität ist: »Besteht dann die Philosophie nicht einfach darin, dem eigenen Lebensfluss zuzusehen, ›wie ein Schäfer traumverloren in das fließende Wasser schaut‹? So zu reden, hieße, […] die einzigartige Natur der Dauer ebenso zu verkennen wie den wesentlich aktiven Charakter der metaphysischen Intuition.« 14

Das Bild der Schau in Verbindung mit einigen – im nächsten Abschnitt zu besprechenden – Äußerungen, in denen Bergson eine Beziehung zwischen Intuition und Instinkt herstellt, führten zudem zu dem bekannten Missverständnis, Bergson propagiere ein irrationales, auf Gefühl und Instinkt beruhendes Verhältnis zur Wirklichkeit, bei dem es auf eigentliche Erkenntnis gar nicht abgesehen sei. Bergson ergänzt deshalb, ohne es völlig aufzugeben, das Bild der Schau durch die stärker auf eine rationale Philosophie hindeutende Vorstellung der Reflexion. Die Intuition ist ein Selbstverhältnis des Geistes, insofern der Geist sich auf sich selbst zurückwendet und über sich selbst reflektiert: »Wir verlieren kein Wort über denjenigen, der meint, dass unsere Intuition Instinkt oder Gefühl wäre. Keine Zeile von dem, was wir geschrieben haben, L’intuition dont nous parlons […] est la vision directe de l’esprit par l’esprit. Intuition signifie donc d’abord conscience, mais conscience immédiate, vision qui se distingue à peine de l’objet vu, connaissance qui est contact et même coïncidence. – PM 1272 f. | 27 | 44 14 La philosophie ne va-t-elle pas consister à se regarder simplement vivre, « comme un pâtre assoupi regarde l’eau couler » ? Parler ainsi serait […] méconnaître la nature singulière de la durée, en même temps que le caractère essentiellement actif de l’intuition métaphysique. – PM 1416 | 206 | 207 13

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legt eine solche Interpretation nahe. Und in allem, was wir geschrieben haben, liegt die Behauptung des Gegenteils: Unsere Intuition ist Reflexion.« 15

Aber selbst das genügt Bergson noch nicht. Selbst das klingt noch zu mühelos. Man kann ja Anderen leicht unbemerkt über die Schulter schauen, aber man kann sich nicht selbst unbemerkt über die Schulter schauen. Reflexion erfordert Bewusstsein und Bemühung. Intuition als Reflexion ist anstrengend, ja schmerzhaft. Das klang schon an in dem zitierten Text über den Autor, der über eine lange Zeit hinweg Material gesammelt hat, dem aber, damit er mit dem Schreiben beginnen kann, noch der Leitgedanke fehlt. Bergson sagt nicht: In einer glücklichen Stunde wird ihm ein Leitgedanke einfallen. Vielmehr spricht er von einer »beschwerlichen Bemühung« um einen solchen leitenden Gesichtspunkt. Die Auffassung von der Beschwerlichkeit kommt in zwei Bildern zum Ausdruck, die Bergson häufig verwendet, wenn er von der Intuition spricht. Das eine ist das des Berghangs. Dieser Hang gleicht jener schiefen Ebene, auf der nach einer früher zitierten Formulierung Bergsons die neue Naturwissenschaft Galileis vom Himmel auf die Erde herabkam. Indessen konnte Galileis Naturwissenschaft – und können alle Unternehmungen der Intelligenz – bequem den Hang hinabgleiten, während die Intuition sich in der umgekehrten Richtung bewegen, nämlich den Hang »erklimmen«, ihn »wieder hinaufklettern« muss. Das andere Bild entnimmt Bergson dem Bereich der Medizin: Aus der réflexion wird eine torsion. Dass der Geist sich nicht nach außen richtet, sich nicht mit der äußeren Wirklichkeit, sondern mit sich selbst befasst, ist unnatürlich. Der Geist muss sich »verrenken«, um sich selbst in den Blick zu bekommen, er muss den natürlichen Strukturen und Abläufen »Gewalt antun«, und das ist schmerzhaft. »Wir wissen, während wir unseren Charakter schaffen, nur sehr wenig von unserem schöpferischen Vermögen. Um etwas darüber zu erfahren, müssten wir auf uns selbst zurückkommen, philosophieren und den Hang der Natur wieder hinaufklettern, denn die Natur wollte die Handlung, an die Spekulation hat sie nicht gedacht. Sobald es nicht mehr einfach nur darum geht, in sich einen Elan zu spüren und sich des eigenen HandlungsverNous ne dirons rien de celui qui voudrait que notre « intuition » fût instinct ou sentiment. Pas une ligne de ce que nous avons écrit ne se prête à une telle interprétation. Et dans tout ce que nous avons écrit il y a l’affirmation du contraire : notre intuition est réflexion. – PM 1328 | 95 | 106

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mögens zu vergewissern, sondern darum, das Denken auf sich selbst zurückzuwenden, damit es dieses Vermögen begreife und diesen Elan erfasse, wird die Schwierigkeit groß, als müsste man die normale Richtung des Erkennens verkehren.« 16 »Damit unser Bewusstsein mit irgendetwas von seinem Prinzip zusammenfalle, muss es sich vom Fertigen, Bestehenden ab- und sich dem Werdenden, Entstehenden zuwenden. Das Vermögen des Schauens müsste, indem es sich umwendet und sich zu sich selbst hin verrenkt, eins werden mit dem Akt des Wollens – eine schmerzhafte Anstrengung, die wir zwar abrupt und die Natur vergewaltigend vollziehen, aber nicht länger als einige Augenblicke aufrecht erhalten können.« 17

Diese Texte bringen nicht nur das Unnatürliche und Schmerzhafte der Reflexion zum Ausdruck, sie machen auch deutlich, warum Bergson diesen Aspekt so betont. Die Rückwendung des Geistes auf sich selbst soll zu einer Schau des Geistes führen. Aber der Geist ist kein unbewegliches, festgestelltes Ding, das man in Ruhe betrachten könnte. Er ist in Bewegung. Er ist sogar das Prinzip der Bewegung. Vor allem aber: Er soll gerade als Prinzip der Bewegung, als lebendige Dynamik und schöpferische Kraft in den Blick kommen. Die Intuition als Reflexion des Geistes auf sich selbst zielt nicht darauf ab, irgendwelche Konstanten im Denken, Fühlen, Wollen oder Handeln des Menschen zu erkennen, sondern darauf, den Geist – und das heißt hier wie in jeder Lebensphilosophie: die Einheit von Fühlen, Wollen und Denken – als dasjenige schöpferische Prinzip in den Blick zu nehmen, das die am Denken, Fühlen und Wollen ablesbaren Regelmäßigkeiten und Strukturen überhaupt erst hervorbringt. Die Schau zielt auf ein Bild des Geistes, aber der Geist steht nicht still, so dass man in Ruhe ein Bild anfertigen könnte. Das Streben des Willens und die Ruhe der Betrachtung sind miteinander nicht kompatibel. De même, dans la création de notre caractère, nous savons fort peu de chose de notre pouvoir créateur: pour l’apprendre, nous aurions à revenir sur nous-mêmes, à philosopher, et à remonter la pente de la nature, car la nature a voulu l’action, elle n’a guère pensé à la spéculation. Dès qu’il n’est plus simplement question de sentir en soi un élan et de s’assurer qu’on peut agir, mais de retourner la pensée sur elle-même pour qu’elle saisisse ce pouvoir et capte cet élan, la difficulté devient grande, comme s’il fallait invertir la direction normale de la connaissance. – PM 1334 | 103 | 113 f. 17 Pour que notre conscience coïncidât avec quelque chose de son principe, il faudrait qu’elle se détachât du tout fait et s’attachât au se faisant. Il faudrait que, se retournant et se tordant sur elle-même, la faculté de voir ne fît plus qu’un avec l’acte de vouloir. Effort douloureux, que nous pouvons donner brusquement en violentant la nature, mais non pas soutenir au delà de quelques instants. – EC 696 f. | 238 | 242 16

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Dieses Problem der Verschränkung von Dauer und Ganzheit ist der hermeneutischen Philosophie seit langer Zeit bekannt, und es ist immer wieder diskutiert worden. Berühmt ist Diltheys Formel, das Verstehen sei »an sich eine dem Wirkungsverlauf selber inverse Operation«. 18 Liest man übrigens nicht nur diesen einen Satz, sondern die ganze Textpassage, so findet man darin auch den Ausdruck des »Mitlebens«, der an Bergsons »Sympathie« erinnert. Dieses Aufeinandertreffen von »Mitvollzug« und (dem Vollzug entgegengesetztem) »Verstehen« führt sehr deutlich einen wichtigen Unterschied zwischen »Sympathie« und »Intuition« vor Augen: Dem Lebensvollzug entgegengesetzt ist zwar die Intuition, nicht aber die Sympathie. Die Sympathie ist ein »Mitleben« (Dilthey) und Mitvollziehen – eben ein Begleiten –, und erst die Intuition verlangt das Heraustreten aus dem lebendigen Vollzug. Insofern die Intuition wahrhaftes Verstehen sein soll, gilt für sie: Man kann nur entweder leben oder verstehen. Um sein Leben zu verstehen, muss man aufhören zu leben. Nun ist das wohl – zumindest in gewisser Hinsicht – nicht eigentlich ein Problem, sondern schlicht die Wahrheit. Auf der Darmstädter Mathildenhöhe, auf der man die Epoche, in der Bergsons Ruhm besonders hell erstrahlte, gründlich studieren kann, steht, neben vielen anderen Gebäuden, der sogenannte »Hochzeitsturm«. Auf ihm befindet sich eine als Mosaik ausgeführte Sonnenuhr, und in diese ist folgendes Gedicht von Rudolf G. Binding integriert: Der Tag geht über mein Gesicht die Nacht sie tastet leis vorbei und Tag und Nacht ein Gleichgewicht und Nacht und Tag ein Einerlei und ewig kreist die Schattenschrift leblang stehst Du im dunklen Spiel bis Dich des Spieles Deutung trifft die Zeit ist um – Du bist am Ziel.

Wenn Dilthey und Misch die Autobiographie als Paradigma des Verstehens betrachten, so ist das nicht gar zu weit von dem hier ausgesprochenen Gedanken entfernt: Am Lebensabend blickt man zurück, ordnet die Erlebnisse und Erfahrungen, und weist ihnen ihre Bedeutung im Ganzen des Lebens zu. Aber die Hermeneutik kennt 18

Dilthey[1981] 264

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noch ein anderes Modell. Wenn dem Leser, nachdem er einem Text ein Stück weit gefolgt ist, eine Idee des Gesamtsinnes aufblitzt und er die Lektüre abbricht, um über seine Idee nachzudenken, so ist dieses Abbrechen kein Beenden, sondern nur ein Unterbrechen. Nichts hindert, nach einiger Zeit die Lektüre wieder aufzunehmen. In gleicher Weise geht der Blick des Malers hin und her zwischen der Betrachtung des Modells und der Darstellung des Gesehenen auf der Leinwand. Auf eben dieses Modell führen auch Bergsons Überlegungen. Wenn das Erfassen des Geistes als einer schöpferischen Kraft nur für wenige Augenblicke möglich ist, so hindert zum einen nichts, das Geschaute anschließend nach-denkend auszulegen, zum anderen aber steht auch nichts einer weiteren, späteren Schau im Wege – so dass man also zu sagen hätte, dass sich der Geist immer nur für wenige Augenblicke als schöpferische Kraft zu betrachten vermag. Es ergibt sich dann ein Lebensrhythmus, der durch den stetigen Wechsel von Tätigkeit und Besinnung, von Schau und Auslegung geprägt ist. Indem wir uns zu dieser Einsicht vorgearbeitet haben, haben wir die Wurzel ausgegraben, aus der eine Vielzahl von Bildern und Vergleichen herauswächst, die über Bergsons Texte verstreut sind wie Blumen über eine Wiese. Vom Herzschlag der Seele bis zum Zickzackweg des Philosophen, vom immer wiederholten Schauen und Nachvollziehen des Tanzschülers bis zum Hin und Her zwischen Differentialund Integralrechnung haben wir es überall mit dem Wechsel von lange währender Empirie und plötzlicher Erhellung, dem Wechsel von kurzfristiger Schau und anschließender Auslegung bzw. mit einer Verkettung dieser Elemente zu tun, die letztlich nichts anderes ist als der hermeneutische Zirkel. Das Problem, das sich aus der Verschränkung von Dauer als lebendigem Vollzug und Intuition als Schau des Ganzen ergibt, kann also nicht gelöst werden, sofern man unter Lösung eine Auflösung versteht. Aber die Diskrepanz zwischen, der Widerstreit von Vollzug und Besinnung kann als rhythmische Abfolge produktiv und zum Prinzip bewussten Lebens gemacht werden. Ein solches Leben wäre die »glückliche Mischung von Spontaneität und Reflexion« 19.

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heureux mélange de spontanéité et de réflexion – PM 1433 | 230 | 226

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6.1.4 Intuition als Erkenntnisvermögen Zu der bereits diskutierten Mehrdeutigkeit des Intuitionsbegriffs gesellt sich erschwerend der Umstand, dass Bergsons Ansichten im Hinblick auf die Frage, ob die Intuition ein eigenständiges Erkenntnisvermögen darstelle, sich im Laufe seines Denkwegs mindestens einmal drastisch verändert haben. Der Wandel, auf den ich mich hier beziehe, ist seit langer Zeit bekannt, gut erforscht, recht genau datierbar und leicht in wenigen Worten zusammenzufassen: In der 1903 publizierten Introduction à la métaphysique, in der Bergson den Begriff intuition als Kernbegriff seiner philosophischen Terminologie einführt, erscheint das intuitive Erkennen noch als eine zweite Leistung der Intelligenz neben dem gegenständlichen Erkennen. In der 1907 erschienenen Évolution créatrice dagegen tritt die Intuition als eigenständiges Erkenntnisvermögen neben Instinkt und Intelligenz auf. Ich kann mich demnach darauf beschränken, einige Aspekte dieses Wandels hervorzuheben, die für unser Thema von Belang sind. Was die Konzeption der Intuition als Leistung der Intelligenz angeht, so erklärt sich aus ihr zunächst einmal jene überraschende Terminologie, auf die wir in Abschnitt 6.1.2 gestoßen sind, als wir einige Sätze aus De l’intelligence heranzogen, um den Begriff Intuition zu klären. 20 Nur ein Jahr vor dem Erscheinen von Introduction à la métaphysique gehalten, darf Bergsons Festrede über die Intelligenz als Vorabversion oder als populäre Fassung der späteren Schrift gelten. Gleichwohl kommt das Wort intuition darin nicht vor. An dessen Stelle tritt die »wahre Intelligenz« auf, die sich von der ins Detail verstrickten Erkenntnis des Spezialisten durch die Fähigkeit, das Ganze zu erfassen, unterscheidet. In dieser Rede gibt es also weder eine eigenständige Bezeichnung für den andersartigen Erkenntnisinhalt noch eine solche für ein besonderes Erkenntnisvermögen. Introduction à la métaphysique führt zwar intuition als Bezeichnung einer besonderen Art von Erkenntnisinhalten ein, belässt diese Erkenntnisse aber im Zuständigkeitsbereich der Intelligenz. Als Bergson sich dann 1934 – also lange nach dem Wandel seiner Auffassung – entschloss, diesen Text in den Sammelband La pensée et le mouvant aufzunehmen, stand er vor der Frage, wie er mit den alten Aussagen über das Erkenntnisvermögen verfahren sollte, und entschied sich – obwohl er eigentlich dazu neigte, ältere Texte bei einer Wiederver20

Vgl. Anm. 5.

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öffentlichung unverändert zu lassen – für eine Überarbeitung. So entstanden jene Textvarianten, auf die ich in Kapitel 5 21 bereits anhand einiger Beispiele eingegangen bin: »Man nennt Wir nennen hier Intuition die jene Art von intellektueller Sympathie, durch die man sich in das Innere eines Gegenstandes versetzt, um mit dem, was er Einzigartiges und infolgedessen Unaussprechliches an sich hat, zu koinzidieren.«

Man versteht nun, warum aus der sympathie intellectuelle der frühen Fassung später eine bloße sympathie werden musste. Aber Bergson wurde noch deutlicher. Er musste ja damit rechnen, dass es unter seinen Lesern einige gab, die sich noch an den alten Wortlaut erinnerten und die den Wandel miterlebt hatten. Deshalb nahm er in der Einleitung explizit dazu Stellung: »Man darf die Dinge benennen wie man will, und ich sehe keinen großen Nachteil darin, dass die Erkenntnis des Geistes durch den Geist ebenfalls Intelligenz heißt, wenn man daran festhalten möchte. Aber dann muss man deutlich sagen, dass es zwei einander entgegengesetzte intellektuelle Funktionen gibt, denn der Geist denkt den Geist nur, indem er den Hang der im Kontakt mit der Materie eingeübten Gewohnheiten rückwärts hinaufsteigt, während es doch genau diese Gewohnheiten sind, die man für gewöhnlich als intellektuelle Tendenzen bezeichnet. Ist es dann also nicht besser, für eine Funktion, die ganz gewiss nicht das ist, was man üblicherweise Intelligenz nennt, eine andere Bezeichnung zu wählen? Wir jedenfalls sprechen hier von der Intuition. Sie stellt die Aufmerksamkeit dar, die der Geist, während er sich auf die Materie als seinen Gegenstand richtet, zusätzlich noch sich selbst widmet.« 22

Léon Husson hat in einer erst 1947 publizierten, aber bereits vor dem Zweiten Weltkrieg geschriebenen, von Bergson noch gelesenen und gelobten Monographie diese und zahlreiche weitere Details zum GeVgl. Abschnitt 5.2.1, S. 569. On peut donner aux choses le nom qu’on veut, et je ne vois pas grand inconvénient, je le répète, à ce que la connaissance de l’esprit par l’esprit s’appelle encore intelligence, si l’on y tient. Mais il faudra spécifier alors qu’il y a deux fonctions intellectuelles, inverses l’une de l’autre, car l’esprit ne pense l’esprit qu’en remontant la pente des habitudes contractées au contact de la matière, et ces habitudes sont ce qu’on appelle couramment les tendances intellectuelles. Ne vaut-il pas mieux alors désigner par un autre nom une fonction qui n’est certes pas ce qu’on appelle ordinairement intelligence ? Nous disons que c’est de l’intuition. Elle représente l’attention que l’esprit se prête à lui-même, par surcroît, tandis qu’il se fixe sur la matière, son objet. – PM 1319 | 85 | 96 f.

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samtbild einer »intellektuellen«, d. h. rationalen Philosophie vereinigt. Seine Monographie 23 gehört nicht nur zu den handwerklich solidesten Bergson-Interpretationen, über die wir heute verfügen 24, sondern auch zu den Gründungsdokumenten der zeitgenössischen Bergson-Forschung. Indem er zeigt, dass Bergsons Intuitionsbegriff nicht gegen die Intelligenz entwickelt wurde, sondern zum Zweck einer Differenzierung ihrer Erkenntnisweisen, zielt er ins Herz des Irrationalismusvorwurfs. Aber warum wandelt sich Bergsons Auffassung? Warum promoviert er die Intuition zu einem eigenständigen Erkenntnisvermögen? Es gibt ein Indiz, das uns die Richtung weist, in der wir die Antwort zu suchen haben: Die Introduction à la métaphysique kennt nur – oder jedenfalls: spricht nur über – ein einziges Erkenntnisvermögen, nämlich die Intelligenz. L’évolution créatrice aber kennt dann nicht – wie man erwarten sollte – zwei, sondern drei Erkenntnisvermögen, nämlich außer Intelligenz und Intuition noch den Instinkt. Nun könnte es natürlich sein, dass der Instinkt nur ein unbedeutendes, aus der Trennung von Intelligenz und Intuition nebenbei hervorgehendes Zerfallsprodukt ist. Denkbar ist freilich auch, dass wir im Instinkt den eigentlich für die Spaltung Verantwortlichen vor uns haben. Gehen wir dieser Spur nach. Es ist bekannt, dass sich Bergson, nachdem er zunächst die Dauer als spezifische Form des lebendigen menschlichen Geistes erkannt hatte, die Frage stellte, ob die Dauer ausschließlich im menschlichen Geist oder auch in anderen Bereichen der Wirklichkeit anzutreffen sei. Ich hatte bereits angedeutet, dass Bergson zu der Auffassung gelangt, die Dauer sei nicht auf die innere, psychische Wirklichkeit beschränkt, sondern trete auch in verschiedenen Bereichen der »äußeren« Wirklichkeit auf. Will man sich noch einmal der traditionellen Kategorien bedienen, so kann man sagen, dass Bergson den Bereich

Husson[1947] Husson hatte ursprünglich geplant, einen Index zu Bergsons Werken zu veröffentlichen, und dies Bergson mitgeteilt. Dessen Antwort ist bezeichnend: Ein Index sei doch nichts Schöpferisches. Husson sei in einem Alter, in dem der Mensch schöpferisch tätig sein müsse. So etwas wie ein Index könne dann »später immer noch« folgen. – Corr. 1574 f. – Ob nun durch Bergson umgestimmt oder nicht: Husson schrieb eine Untersuchung über Bergsons Intuitionsbegriff. Aber durch jede Fußnote hindurch erblickt man den sorgfältig zusammengestellten und säuberlich sortierten Zettelkasten.

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erweitert, in dem die Dauer als Objekt einer Erkenntnis anzutreffen ist. Aber Bergson geht noch einen Schritt weiter. Er fragt nicht nur, ob die Objekt-Seite, sondern auch, ob die Subjekt-Seite erweitert werden kann. Wenn andere Dauern als die des individuellen menschlichen Geistes »Objekt« einer Intuition sein können, können dann vielleicht auch andere Erkenntnisvermögen als das des menschlichen Geistes »Subjekt« des Erfassens einer Dauer sein? Auch die Antwort auf diese Frage kennen wir bereits: der (tierische) Instinkt kann die Dauer von Lebendigem erfassen. Damit ist freilich Bergsons Schema der Erkenntnisformen und Erkenntnisvermögen gründlich durcheinandergeraten. Es ist ein Mitspieler auf der Bühne erschienen, der im ursprünglichen Plan des Stückes gar nicht vorgesehen war. Die Rollen müssen also neu verteilt werden, und diese Aufgabe löst Bergson folgendermaßen: • Die größte Stärke des Instinkts besteht in seiner engen Verbindung mit dem Leben. Er verdinglicht nicht, sondern bezieht sich auf die Dauer des Lebendigen. Die größte Schwäche des Instinkts besteht darin, dass er nicht über Bewusstsein verfügt und somit auch nicht eigentlich Erkenntnis ist. Der Instinkt kann nicht denken. Er kann nicht nach-denken. Und er kann schon gar nicht über das Gegebene hinausdenken. Der Instinkt könnte »uns den Schlüssel zum Lebensgeschehen reichen«, wenn er »seinen Gegenstand erweitern« 25 und »über sich selbst reflektieren« könnte. Sobald die Dauer nicht mehr nur im menschlichen Geist, sondern im Lebendigen überhaupt gesucht wird, muss man sagen, dass kein anderes Erkenntnisvermögen mit diesem Gegenstand so vertraut ist wie der Instinkt: Instinkt ist Sympathie. Aber der Instinkt denkt sein Wissen nicht, er spielt es nur. • Die Intelligenz zielt auf die Erkenntnis der unbelebten Dinge. Dagegen verfügt sie – und das macht ihre größte Schwäche aus – über keinerlei Kategorien, die dem Lebendigen angemessen wären. Gewiss, sie macht an der Grenze zum Leben nicht Halt, aber sie kann Lebendiges nur erkennen, indem sie es verdinglicht. In Bergsons Worten: »Die Intelligenz ist charakterisiert durch ein natürliches Unverständnis für das Leben.« 26 Aber étendre son objet – EC 645 | 177 | 181 L’intelligence est caractérisée par une incompréhension naturelle de la vie. – EC 635 | 166 | 170

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nicht nur in dieser Hinsicht ist sie als Gegenteil des Instinkts zu betrachten: Sie zeigt ihre größte Stärke genau da, wo der Instinkt besonders schwach ist, insofern sie bewusstes Wissen, ja bewusstes Wissen-Wollen ist. Sie fragt, über das phänomenal Gegebene hinausgehend, nach Strukturen und Gesetzen, nach Ursachen und Prinzipien. Aus dieser Gegenüberstellung ergibt sich im Hinblick auf die Frage nach der Erkennbarkeit des Lebens eine Situation, die Bergson in der folgenden, berühmt gewordenen Formel zusammenfasst: »Es gibt Dinge, die einzig die Intelligenz zu suchen vermag, die sie jedoch für sich allein niemals finden wird. Diese Dinge finden könnte nur der Instinkt; er aber wird sie niemals suchen.« 27

Diese Einschätzung könnte bedeuten, dass das Leben als Leben nicht erkennbar ist, dass es keinen erkennenden Zugang zur Dauer des Lebendigen gibt. Aus ihr könnte aber auch die Frage entspringen, ob man sich eine Kooperation von Intelligenz und Instinkt vorstellen kann. Wenn jeweils das eine Erkenntnisvermögen da stark ist, wo das andere eine Schwäche aufweist, dann liegt die Frage nahe, ob nicht ein Zusammenwirken möglich wäre, in dem beide Vermögen ihre Stärken vereinigen und gegenseitig ihre Schwächen kompensieren. Bergson ist der Meinung, dass eine derartige Kooperation möglich und dass die Intuition als die gesuchte Verbindung von Instinkt und Intelligenz zu betrachten ist: »Geradewegs ins Innere des Lebens aber würde uns die Intuition führen – ich meine: der uninteressierte, seiner selbst bewusst gewordene Instinkt, der fähig wäre, über seinen Gegenstand zu reflektieren und ihn ins Unendliche zu erweitern.« 28

Der zuletzt zitierte Satz macht verständlich, wie frühe Leser den Eindruck gewinnen konnten, Bergson definiere die Intuition wesentlich als Instinkt. Meine Erläuterungen machen aber, wie ich hoffe, auch Il y a des choses que l’intelligence seule est capable de chercher, mais que, par ellemême, elle ne trouvera jamais. Ces choses, l’instinct seul les trouverai ; mais il ne les cherchera jamais. – EC 623 | 152 | 156 28 Mais c’est à l’intérieur même de la vie que nous conduirait l’intuition, je veux dire l’instinct devenu désintéressé, conscient de lui-même, capable de réfléchir sur son objet et de l’élargir indéfiniment. – EC 645 | 178 | 181 27

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verständlich, warum Bergson sich – und zwar zu Recht – gegen eine derartige Interpretation zur Wehr setzte. Die Pointe des Intuitionsbegriffs, den er in L’évolution créatrice präsentiert, besteht darin, dass der Instinkt, wenn er Erkenntnis des Lebens sein soll, reflexiv werden muss, dass er dies aber nicht allein, sondern nur in einer Kooperation mit der Intelligenz werden kann. Wir stehen hier an einem entscheidenden Wendepunkt von Bergsons Denken. Worin besteht seine Bedeutung? Man könnte diese Frage mit Formulierungen beantworten, wie ich sie in der Einführung zu diesem Kapitel benutzt habe. Man könnte sagen, es sei nun, nachdem wir zu Beginn von Kapitel 5 die Frage nach der Natur methodisch ausgeklammert haben, der Punkt erreicht, an dem sich die Natur ganz offenkundig nicht mehr ausklammern lässt und an dem wir uns darum bemühen müssen, sie in das Ganze von Bergsons hermeneutischer Philosophie zu reintegrieren. Aber das wäre zu sehr vom Gang unserer eigenen Untersuchung her gedacht. Aus der Perspektive Bergsons ist festzustellen, dass es nichts zu reintegrieren gibt, weil zuvor nichts ausgeschlossen wurde. Für Bergson selbst gilt vielmehr, dass er Leben und Natur als eine unverzichtbare Dimension seiner Philosophie in L’évolution créatrice gerade erst entdeckt. Bergson war, wie wir gesehen haben, nicht von Anfang an Vertreter der Lebensphilosophie, wenn dieser Begriff eine Philosophie bezeichnet, in deren Zentrum der Lebensbegriff steht. Er hatte in seinen frühen Werken als beschreibender Psychologe und Philosoph des Geistes begonnen, und er hatte sich zunächst nur für die Dauer als Form der individuellen inneren Erfahrung interessiert. Dann aber hatte er die Dauer anderer Menschen und – wenn auch noch vorsichtig tastend – die Dauer der Gesellschaft in den Blick genommen. In L’évolution créatrice nun baut er den Geltungsbereich der Dauer weiter aus: Wenn wir anderen Menschen eine Dauer zusprechen und mit ihnen sympathisieren können, wie verhält es sich dann mit Tieren? Und wenn die Gesellschaft eine Dauer aufweist, wie verhält es sich mit der Evolution des Lebendigen? Ist es angemessen, in dieser Evolution, die doch den menschliche Geist erst hervorgebracht hat, nichts als ein Spiel physikalischer und chemischer Gesetzmäßigkeiten zu sehen? Kommen wir unserer Erfahrung von Lebendigem nicht näher, wenn wir sowohl einzelnen Lebewesen wie auch der Evolution ebenfalls eine Dauer zuschreiben? Diese Frage ist nicht unmittelbar zu beantworten. Stattdessen drängt zunächst eine zweite Frage in den Vordergrund: Gesetzt, die 716 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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Erweiterung des Bereiches, in dem die Existenz von Dauern unterstellt wird, ginge als plausibel durch – kann die Intuition (verstanden als Reflexion, als Rückwendung des individuellen menschlichen Geistes auf sich selbst) überhaupt leisten, was ihr hier zugemutet wird? Ist sie in der Lage, Dauern in der äußeren Wirklichkeit zu erfassen? Soll sie es sein, dann müsste das Konzept der Intuition erweitert werden. Aber ist der Vorschlag, die Intuition als Kooperation von (menschlicher) Intelligenz und (tierischem) Instinkt zu deuten, überzeugend? Müssten nicht auch dafür zwei Komponenten aus ganz verschiedenartigen Bereichen vereinigt werden? Versuchen wir, uns Bergsons Antwort auf diese Fragen zu nähern, indem wir das Bild betrachten, auf dem sie beruht. Genauer: Versuchen wir, die Bedeutung dessen, was ich als Wendepunkt in Bergsons Denken bezeichnet habe, zu erschließen anhand eines Wandels, der sich an einem der wichtigsten der von Bergson verwendeten Bilder beobachten lässt. Wir hatten insbesondere im Essai sur les données immédiates de la conscience und in Le rire ein Bild gefunden, von dem man nicht recht weiß, ob es lediglich ein didaktisches ist oder nicht doch ein veritables Leitbild darstellt: Die eigentlich heiße, flüssige und bewegliche Erde erkaltet an der Oberfläche und überzieht sich mit einer starren, alles Fließen verhindernden Kruste. Das de jure »unmittelbare Bewusstsein« (das Fließen der Dauer) wird verdeckt durch eine Schicht erstarrter Denk- und Verhaltensmuster, so dass es de facto zum (persönlichen) Unbewussten wird. Aber die sozial nützlichen Gewohnheiten liegen nicht nur so auf dem Bewusstsein der Dauer, dass sie es durch schiere Materialfülle verdecken, sie leisten auch aktiven Widerstand gegen alle Versuche unbewusst gewordener Tendenzen, ins Bewusstsein zu gelangen oder gar das Handeln zu steuern. So wird die Verdeckung zur Verdrängung. Diese erzeugt im Inneren einen Druck, der sich in Eruptionen entlädt, die Bergson schon in den frühesten Schriften mit Vulkanausbrüchen vergleicht. Freilich steht der Mensch diesen unerwarteten Ausbrüchen etwas ratlos gegenüber, da sie störende, wenn nicht gar zerstörende Einbrüche in seine geregelte Alltagswelt darstellen. 29 Mit L’évolution créatrice verändert sich dieses Leitbild. In gewissem Sinne stellt die zweite Version geradezu die Umkehrung der ersten dar, insofern das Innere nach außen gewendet wird. Jetzt befindet

29

Vgl. Abschnitt 2.3.2.3, S. 281.

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sich das Feste im Zentrum, und das Flüssige (oder Gasförmige) bildet eine Hülle um den festen Kern. Die Umkehrung spiegelt Bergsons neue Bewertung der Intelligenz im Zuge seiner Hinwendung zur Lebensphilosophie: Zwar wird sie auch in dieser Version durch das Feste repräsentiert, aber das Feste bildet nun nicht mehr die Grenze, in die das Flüssige eingeschlossen, sondern einen Kern, der vom Flüssigen umflossen wird. 30Als wesentlich erscheint nicht mehr, dass das als Intelligenz auftretende Bewusstsein ein persönliches Unbewusstes verdrängt, sondern dass es von einem unpersönlichen Unbewussten umhüllt wird, das als Überrest jenes hypothetischen »Bewusstseins überhaupt« zu gelten hat, aus dem sich alle Gestalten des Bewusstseins entwickelt haben. Worauf es bei dieser Umkehrung des Bildes ankommt, zeigt sich, wenn man nach der daraus folgenden Umgestaltung der philosophischen Methode fragt. Bergson sucht nach der Dauer – daran ändert sich nichts. Aber im ersten Fall wird die Dauer – nämlich die persönliche Dauer – nur dadurch zugänglich, dass man – wie ein Archäologe – die obere Schicht der erstarrten Denk- und Verhaltensmuster abträgt. Bewerkstelligt man das gründlich genug, so bleibt vom verdinglichenden Denken der Intelligenz nichts mehr übrig, während die reine Dauer als solche und für sich allein in den Blick kommt. Im zweiten Fall dagegen stellt sich die philosophische Methode auf den Standpunkt der Intelligenz und bemüht sich darum, die in der Hülle enthaltenen Überreste einer unpersönlichen Dauer zu aktivieren, zu stärken, in die Intelligenz zu integrieren und die Intelligenz so – mit einem Wort, das Bergson seit L’évolution créatrice häufig einsetzt – zu »erweitern«. Es geht nun also nicht mehr darum, eine Schicht zugunsten einer anderen abzutragen, sondern darum, eine Kooperation zwischen beiden Schichten zu fördern in der Hoffnung, dass sich die Intelligenz durch das Bewusst-, mehr noch: durch das NutzbarMachen ihrer instinkthaften »Hülle« weiterentwickeln lässt. Und weiterentwickelt werden soll sie in der Richtung auf ein Verstehen des Lebendigen, mithin auf das, was Gegenstand einer hermeneutischen Philosophie wäre.

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Vgl. Kap. 2, Anm. 171.

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6.1.5 Arten der Intuition Bevor wir das Zusammenspiel von Sympathie und Intelligenz innerhalb der Intuition im Detail betrachten, muss noch auf eine weitere Unterscheidung aufmerksam gemacht werden, die ein angemessenes Verständnis von Bergsons Aussagen über die Intuition erschwert. Der zu klärende Sachverhalt lässt sich zunächst auf eine sehr einfache Weise beschreiben: Dem Substantiv »Intuition« kann ein Adjektiv hinzugefügt werden. Nun verwendet Bergson an dieser Stelle ganz unterschiedliche Adjektive, und es ist leicht zu erkennen, dass sie das Substantiv in ganz verschiedener Hinsicht näher bestimmen sollen. Präzisieren wir also, dass es hier um einen einzigen Typ von Adjektiven geht, für den beispielhaft dasjenige steht, das wir bereits in Kapitel 1 kennengelernt haben: philosophische Intuition. Es scheint demnach Besonderheiten zu geben, durch die sich die Intuition eines Philosophen von anderen Intuitionen unterscheidet, und wenn es sich in der Tat so verhält, dann muss es auch andere Intuitionen geben, die ihre jeweils eigenen Merkmale aufweisen. In De l’intelligence präsentiert Bergson einen bunten Bilderbogen, auf dem verschiedene Beispiele für »wahre Intelligenz« = Intuition dargestellt sind: Da gibt es den Literaturkritiker und den Historiker, aber auch den Anwalt, den Arzt und den Chemiker. Man könnte also von einer literaturwissenschaftlichen oder einer historischen Intuition ebenso sprechen wie von einer juristischen, einer medizinischen oder einer chemischen. Bergson allerdings spricht nicht so, und das liegt, wie man wohl annehmen muss, daran, dass all diese Intuitionen sich lediglich im Hinblick auf das Tätigkeitsfeld unterscheiden, nicht aber in ihrer Art. Trifft das zu, dann muss man umgekehrt schließen, dass Bergson, wenn er tatsächlich von einer »künstlerischen«, »philosophischen« oder »mystischen« Intuition spricht, dies nicht deshalb tut, weil da jemand Kunst oder Philosophie (oder gar Mystik) als Beruf ausübt, sondern weil er diese Gestalten der Intuition als unterschiedliche Typen auffasst. Ich möchte die mystische Intuition vorerst beiseitelassen 31 und mich darauf beschränken, den typbildenden Unterschied zwischen künstlerischer und philosophischer Intuition anhand von zwei Textpassagen zu erläutern. Der erste Text stammt aus L’évolution créatrice, wo er sich un31

Vgl. dazu Abschnitt 6.3.2, S. 867.

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mittelbar an die Ausführungen über die Intuition als Verschränkung von Instinkt und Intelligenz anschließt. Bergson zielt allerdings nicht sofort auf den Unterschied, sondern stellt erst einmal eine Verbindung zwischen der zuvor entworfenen Intuition und der ästhetischen Erfahrung her: »Dass eine Anstrengung solcher Art [d. h. eine Intuition] nicht unmöglich ist, wird schon durch das beim Menschen neben der normalen Wahrnehmung auftretende ästhetische Vermögen bewiesen.« 32

Bergson beschreibt nun, wie die ästhetische Erfahrung – anders als die nur isolierte Sinnesdaten liefernde normale Wahrnehmung – ihren Gegenstand als organisierte Gestalt erfasst, und fährt dann fort: »Es ist wahr, dass diese ästhetische Intuition – wie übrigens auch die nach außen gerichtete [normale] Wahrnehmung – lediglich das Individuelle erfasst. Aber man kann sich eine Forschung vorstellen, die zwar die gleiche Richtung verfolgte wie die Kunst, die aber als ihren Gegenstand das Leben im Allgemeinen ansähe, und dies in dem Sinne, in dem die Physik, indem sie der durch die äußerliche Wahrnehmung markierten Richtung bis zum Ende folgt, die individuellen Tatsachen in allgemeine Gesetze überführt.« 33

Den zweiten Text entnehme ich dem bereits mehrfach erwähnten Brief Bergsons an Harald Høffding: »Die philosophische Intuition geht, nachdem sie die gleiche Richtung eingeschlagen hat wie die künstlerische Intuition, weit über diese hinaus. Sie ergreift das Lebendige, bevor es sich in Bilder vervielfältigt, während die Kunst sich auf die Bilder konzentriert.« 34

Ästhetische (bzw. künstlerische) und philosophische Intuition sind zwei verschiedene Typen der Intuition. Beide gehen sie über die bloße Mannigfaltigkeit der Wahrnehmungsdaten hinaus, beide erfassen sie ihren Gegenstand als Gestalt, beide beziehen sie diese Gestalt auf ein Qu’un effort de ce genre n’est pas impossible, c’est ce que démontre déjà l’existence, chez l’homme, d’une faculté esthétique à côté de la perception normale. – EC 645 | 178 | 181 33 Il est vrai que cette intuition esthétique, comme d’ailleurs la perception extérieure, n’atteint que l’individuel. Mais on peut concevoir une recherche orientée dans le même sens que l’art et qui prendrait pour objet la vie en général, de même que la science physique, en suivant jusqu’au bout la direction marquée par la perception extérieure, prolonge en lois générales les faits individuels. – EC 645 | 178 | 182 34 L’intuition philosophique, après s’être engagée dans la même direction que l’intuition artistique, va beaucoup plus loin : elle prend le vital avant son éparpillement en images, tandis que l’art porte sur les images. – Mél. 1148 32

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Bausteine zu einer allgemeinen Theorie der Intuition

organisierendes Prinzip, zu dem sie Zugang gewinnen, indem sie mit dem Gegenstand sympathisieren. Deshalb heißen sie beide Intuition. Zugleich aber erweisen sich ästhetische und philosophische Intuition als zwei verschiedene Typen der Intuition, insofern die Kunst sich auf das Individuelle, die Philosophie dagegen sich auf das Allgemeine richtet. Immer noch gilt zwar der allgemeine Satz, dass unter »Intuition« die Schau einer Totalität zu verstehen ist, differenzierend und spezifizierend aber wird nun hinzugefügt, dass es sich dabei entweder um eine individuelle Totalität (»Bild«) oder um eine allgemeine Totalität (Gesamtheit) handeln kann. Der Maler malt das Porträt eines einzelnen Lebewesens, während der Philosoph nach dem Lebewesen – oder gar: dem Leben – überhaupt fragt. Begreift man ästhetische und philosophische Intuition in dieser Weise als Typen, dann kann man sagen, dass die ästhetische Intuition, mag sie als Intuition des Künstlers auch in einer Hinsicht ganz spezifische Züge aufweisen, in anderer Hinsicht ein Paradigma darstellt, das auch die »literaturwissenschaftliche«, die »historische«, die »juristische«, die »medizinische« und die »chemische« Intuition repräsentiert. 35 Alle diese Intuitionen nämlich sind Intuitionen einer individuellen Totalität. Sie zeigen jeweils das Gesamtbild eines einzelnen, konkreten Falls. Dann kann man aber auch sagen, dass »Intuition einer individuellen Totalität« genau das ist, was ich in Kapitel 2 36 Verstehen genannt habe. Ich habe dort von »naturwüchsigen, vorphilosophischen Verstehensleistungen« gesprochen. Die Intuitionen des Historikers, des Juristen, des Mediziners oder des Künstlers sind sicherlich die höchsten derartigen Verstehensleistungen, aber sie sind gleichwohl vorphilosophische Verstehensleistungen, insofern sie ihr Ziel erreicht haben, wenn es gelungen ist, eine individuelle Totalität als solche zu verstehen. Die philosophische Intuition begleitet all diese Bemühungen zunächst sympathisierend. Sie schlägt die gleiche Richtung ein, folgt auch dem gleichen Weg, bleibt aber da, wo die ästhetische Intuition ihr Ziel erreicht hat, nicht stehen, sondern geht über den erreichten Punkt hinaus und nimmt noch eine zusätzliche Etappe in Angriff, die vom Individuellen zum Allgemeinen führt. Die philosophische Intuition verhält sich, so Bergson, zur ästhetischen wie die Physik zur vorVgl. in diesem Zusammenhang den Hinweis auf die Ästhetik als Modellwissenschaft in Abschnitt 5.3.2.5, S. 646, insbesondere Anm. 148. 36 Vgl. Abschnitt 2.2.5, S. 241. 35

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wissenschaftlichen Wahrnehmung der äußeren Wirklichkeit. Wenn aber die Physik, von einzelnen Dingen und konkreten Situationen absehend, allgemeine Gesetzmäßigkeiten ermittelt, die anschließend auf die Einzelfälle zurückbezogen werden können – was sollte dann eine philosophische Intuition, die das Allgemeine im Bereich des Lebendigen aufsucht, anderes sein als eine Hermeneutik oder zumindest ein Beitrag zur Hermeneutik, die dann ihrerseits aus der Verbindung vieler Intuitionen hervorginge? Hinderlich könnte hier die Meinung sein, Bergson definiere als Ziel der Philosophie das Auffinden allgemeiner Strukturen im Reich des Lebendigen, und zwar im Sinne einer »philosophischen Biologie«. Aber wir wissen seit Kapitel 2, welche Allgemeinheiten Bergson für philosophisch relevant hält: Zum einen sind das Prozesse, die durchaus unbewusst ablaufen können. Prozesse im Reich des Lebendigen aber sind Dauern. Zum anderen sind das Erkenntnisleistungen verschiedenster Art, durch die Lebewesen sich in ein Verhältnis zu diesen Prozessen setzen. Diese Erkenntnisleistungen können bewusst oder unbewusst (»vorgestellt« oder »gespielt«), sie können dem Charakter des Lebendigen mehr oder weniger angemessen sein. Idealerweise sind es Intuitionen. Nun ist aber das Reich des Lebendigen ein vielschichtiges und vielgestaltiges. Es gibt in ihm vielerlei Dauern und vielerlei Intuitionen. Die Philosophie ist die Theorie dieser Vielfalt. Sie ist die Theorie der verschiedenen Dauern, der verschiedenen Intuitionen und der verschieden gearteten Korrespondenzen zwischen Dauer und Intuition. Wenn aber Dauer »Sinn« und Intuition »Verstehen« – oder wenn jedenfalls Sinn eine Form von Dauer und Sinnverstehen eine Form von Intuition – ist, dann ist eine Philosophie, die sich als Theorie der (Formen von) Dauer und der (Formen von) Intuition begreift, eine hermeneutische Philosophie. Dies näher auszuführen, ist die Aufgabe der folgenden Erörterungen.

6.2 Die philosophische Intuition 6.2.1 Vorbemerkung: Philosophische Disziplinenlehre Kristian Bankov fasst in seiner Monographie, in der er nach der Relevanz Bergsons für die zeitgenössische Semiotik fragt, den effort intellectuel als Zentrum von Bergsons Philosophie und gliedert, davon 722 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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ausgehend, Bergsons Denken in drei Teilbereiche. Er unterscheidet eine »Ethik«, eine »Praxis« und eine »Theorie« der intellektuellen Anstrengung. 37 Nun erscheint mir Bankovs Darstellung in mancherlei Hinsicht als unbefriedigend. Zu deutlich lässt der Text erkennen, dass der Abschnitt über die »Ethik« aus der Lektüre von Mossé-Bastide[1955], der Abschnitt über die »Theorie« aus der Lektüre von Ronchi[1990] und der Abschnitt über die »Praxis« aus Bankovs eigener, unveröffentlichter Master-Arbeit über die Sprache bei Bergson 38 hervorgegangen ist. Zu wenig sind diese Elemente miteinander zu einer Einheit verschmolzen, innerhalb deren ihre Bedeutung für das Ganze und ihr Verhältnis zu den anderen Elementen deutlich wird. Andererseits meine ich, dass Mängel im Detail der Ausführung den Grundgedanken als solchen nicht entwerten. Und ich greife Bankovs Versuch vor allem deshalb auf, weil an dem Punkt, an dem unsere eigene Untersuchung steht, der Versuch, Bergsons Konzeption der Philosophie zu erläutern, ganz von selbst auf eine ähnliche Dreiteilung führt: • Auszugehen ist vom Begriff der Dauer. Wir haben ausführlich nachvollzogen, dass Bergson die Dauer zunächst in der Selbsterfahrung des menschlichen Individuums findet und sie für die besondere Form des psychischen Geschehens hält, sich dann aber veranlasst sieht, den Geltungsbereich des Begriffs »Dauer« sukzessive zu erweitern. So kommen nach und nach die Dauer des anderen Menschen, die Dauer der Gesellschaft und die Dauer der Natur (Evolution) in den Blick. Angesichts einer solchen Erweiterung kann aber nicht länger – wie noch im Essai sur les données immédiates de la conscience – davon die Rede sein, dass die Dauer den Forschungsgegenstand einer »aufmerksamen Psychologie« darstelle. Spätestens dann, wenn man behauptet, dass sie sich auch in der äußeren Wirklichkeit antreffen lässt, wird man sich die Frage stellen müssen, in welcher Weise – oder in welchen unterschiedlichen Weisen – Dauer ist. Nun gilt seit jeher die Ontologie als die für derartige Fragen zuständige philosophische Disziplin. Bergson ist also genötigt, eine Ontologie auszuarbeiten, die erläutert, was der Begriff Dauer in den verschiedenen Bereichen der Wirklichkeit, in denen diese seiner Bankov[2000] 53–101 Das Wort »Praxis« bedeutet bei Bankov »Sprachpraxis«, »Praxis des sprachlichen Ausdrucks«.

37 38

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Ansicht nach auftritt, bedeuten soll. Aus Gründen, die ich im Abschnitt 6.2.2.1 erläutern werde, stelle ich die Analyse dieser Ontologie unter den Titel Metaphysik. • Die meisten Dauern, mit denen es der Mensch zu tun hat, findet er bereits vor. Er findet sie freilich nicht vor wie ein unbeteiligter Beobachter, sondern als jemand, der in sie involviert ist. Die Dauer der Gesellschaft ist nur ein Beispiel dafür. Da diese Dauern den Menschen etwas angehen, muss er sich irgendwie zu ihnen verhalten. Aber damit er das kann, muss er sie überhaupt erst einmal als solche erfassen und ihren Sinn verstehen. Diejenige Erkenntnisoperation, die eine Dauer als solche erfasst, heißt bei Bergson Intuition. Wenn es nun aber verschiedene Dauern in verschiedenartigen Bereichen der Wirklichkeit gibt und man unterstellt, dass alle einer Erkenntnis zugänglich sind, dann muss der Ontologie eine Erkenntnistheorie zur Seite gestellt werden, die für jede Form von Dauer angibt, was der Ausdruck »Intuition dieser Dauer« bedeuten soll und welche Tragweite die Intuition hat. Aus Gründen, die ich im Abschnitt 6.2.3.1 erläutern werde, spreche ich in diesem Zusammenhang von der Methode der Philosophie. • Nicht nur findet der Mensch die Dauern nicht vor wie ein unbeteiligter Beobachter, er findet sie auch nicht als fertige vor. Die Entwicklungen, zu denen der Mensch sich verhalten muss, sind, wenn er auf sie trifft, nicht abgeschlossen. Und selbst dann, wenn der Mensch sie erkannt hat, sind sie nicht erledigt. Das ist so, weil der Sinn einer vorgefundenen Wirklichkeit diese Wirklichkeit übersteigt. Nicht nur für Texte gilt, dass der Interpret den Sinn besser verstehen kann, ja soll als der Autor. Ähnliches gilt in allen Bereichen der menschlichen Wirklichkeit. Der erkannte Sinn macht zwar das Bestehende verständlich, aber auch das Misslungene und Fehlende sichtbar. Insofern geht von jedem Sinn ein Appell aus, ein Aufruf zur Neu- und Umgestaltung. Um diesem Appell entsprechen, auf ihn antworten zu können, ist eine in die Zukunft gerichtete Praxis notwendig. Bergson bezeichnet diesen Teil der Philosophie als Moral. Nun hatte ich in Kapitel 2 vorgeschlagen, Bergsons Philosophie in eine Phänomenologie der vorphilosophischen Verstehensleistungen und eine Philosophische Anthropologie zu gliedern. 39 Diese Eintei39

Vgl. Abschnitt 2.2.5, S. 241.

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lung scheint sich selbst dann, wenn man ihre Vorläufigkeit und Unvollständigkeit in Rechnung stellt, so stark von der hier skizzierten zu unterscheiden, dass die Frage entsteht, ob und wie beide Gliederungen zusammenpassen. Was die Phänomenologie der vorphilosophischen Verstehensleistungen angeht, so scheint es mir auf der Hand zu liegen, dass sie mit der hier entworfenen philosophischen Disziplinenlehre nicht in Konflikt gerät. Hermeneutik, so hatte ich in Kapitel 2 geschrieben, erfindet das Verstehen nicht. Sie findet es in der Lebenswelt bereits in zahlreichen unterschiedlichen Ausprägungen vor. Sie sammelt diese verschiedenen Formen des Verstehens, beschreibt, systematisiert, begründet und kritisiert sie (im Sinne einer kantischen Kritik). Und ich hatte hinzugefügt, dass Bergson als Meister in diesem Fach gelten darf, weil er wie kaum ein anderer hermeneutischer Denker die ganze Fülle der Verstehensleistungen berücksichtigt: vom Textverstehen bis zur handlungsrelevanten Interpretation, von der Empathie bis zum bon sens, vom Instinkt bis zur künstlerischen Intuition. Er befragt all diese Leistungen auf ihre ontologischen, erkenntnistheoretischen und handlungsleitenden Implikationen. Insofern kann man zwar sagen, dass die Einbeziehung immer neuer Verstehensleistungen die Ausarbeitung der philosophischen Theorie in all ihren Disziplinen vorantreibt, aber nicht, dass sie die Disziplinenlehre in irgendeiner Weise stört oder dass sie als eigene Disziplin angesehen werden müsste. Letztlich gilt das auch für die Philosophische Anthropologie. Allerdings hat diese einen besonders stark ausgeprägten Bezug zur Morallehre. In Kapitel 2 40 hatte ich gezeigt, wie die Vergangenheit (die in der Vergangenheit liegende Evolution des Lebendigen) das gegenwärtige Denken und Handeln des Menschen – mithin die conditio humana – prägt, und ich hatte diese vergangenheitsorientierte Fragestellung stillschweigend mit der Philosophischen Anthropologie identifiziert. In Abschnitt 6.2.4 möchte ich nun den handlungsleitenden Zukunftsentwurf einer Überschreitung der conditio humana als höchsten Punkt der Morallehre und damit zugleich der gesamten Philosophie Bergsons vorstellen. Der Zusammenhang zwischen diesen beiden Perspektiven liegt auf der Hand: Wird im ersten Fall der Mensch als Produkt der natürlichen Evolution des Lebendigen begriffen, so erscheint er im zweiten Fall als nur durch sein eigenes Han40

Vgl. Abschnitt 2.3.1, S. 245.

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deln realisierbares Projekt. Diesen Zusammenhang zu sehen, ist entscheidend für das Bergson-Verständnis. Ob man der hier angewandten Unterscheidung zwischen einer Philosophischen Anthropologie und einer Morallehre folgen oder lieber von zwei Teilen der Philosophischen Anthropologie bzw. zwei Teilen der Morallehre sprechen möchte, ist dagegen eine zweitrangige terminologische Frage.

6.2.2 Metaphysik 6.2.2.1 Metaphysik und Hermeneutik Diese Untersuchung hat behutsam und vorsichtig begonnen: Zwar überzeugt davon, dass es in Bergsons Denken jedenfalls irgendwelche hermeneutischen Elemente gibt, hat sie sich darangemacht, solche Elemente zu suchen, zu sammeln und zu inventarisieren, sich dabei aber bewusst im Hinblick auf den Umfang des Hermeneutischen bei Bergson nicht festgelegt. Dass man in Bergsons Werken zwar einige texthermeneutische Elemente, danach aber gar nichts mehr findet – dies ließ sich nicht von Anfang an ausschließen. Indessen gelang es uns, immer weiter vorzudringen, die Begriffe der Handlung, des Unbewussten und des Bewusstseins, der Dauer und der Sympathie als Grundbegriffe einer hermeneutischen Philosophie verständlich zu machen und zumindest anzudeuten, dass dies wohl auch für den Intuitionsbegriff möglich sein wird. Damit aber ist ein Punkt erreicht, an dem man Stellung beziehen muss. Wer behauptet, dass die Begriffe der Dauer und der Intuition – also das Herz von Bergsons Philosophie – sich als Begriffe einer hermeneutischen Philosophie deuten lassen, der behauptet implizit, dass Bergsons gesamte Philosophie als eine hermeneutische zu lesen ist. Es ist an der Zeit, dies offen auszusprechen: Die Hermeneutik tritt in Bergsons Philosophie nicht nur als ein Bereich oder eine Disziplin in Erscheinung. Hermeneutisches Denken durchdringt seine gesamte Philosophie, die deshalb insgesamt als eine hermeneutische bezeichnet werden kann. Diese Auffassung klar formuliert zu haben, bedeutet freilich nicht, alles abschließend geklärt zu haben. Es bleiben unbeantwortete Fragen, ungeklärte Schwierigkeiten, nicht überwundene Hindernisse. Unter diesen ragt ein Zweifel hervor, der geeignet scheint, unsere durch die Erörterung vielfältigster Aspekte erprobte und gefestigte Auffassung noch einmal grundsätzlich in Frage zu stellen. Bergson 726 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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selbst verwendet, wie ich bereits in der Einleitung dargelegt hatte, den Begriff »Hermeneutik« nicht. Das Wort findet sich bei ihm weder als Bezeichnung für eine einzelne philosophische Disziplin noch als Charakterisierung eines gewissen Typs von Philosophie. Das allein stellt freilich noch kein schwerwiegendes Problem dar, sofern sich zeigen lässt, dass, wenn auch das Wort abwesend, so doch die Sache selbst in seinem Denken anwesend ist. Nun verhält es sich freilich nicht so, als ob Bergson eine Denkweise praktizieren würde, ohne ihr einen Namen zu geben. Die Sache trägt durchaus einen Namen. Der Name lautet: Metaphysik. Und diese Feststellung kann – muss wohl sogar – zu der Frage führen, ob es legitim ist, ein Denken, das sich selbst als Metaphysik versteht, als Hermeneutik zu deuten. Fragt man sich zunächst, was einen derartigen Zweifel motiviert, so wird man zum Beispiel auf Wilhelm Dilthey geführt. Dilthey hatte schon im ersten Band seiner »Einleitung in die Geisteswissenschaften« unmissverständlich klargemacht, dass die Metaphysik aus seiner Sicht eine »geschichtlich begrenzte Erscheinung« darstellt, eine zwar »große geistige Tatsache«, aber eben doch eine solche, die »sich überlebt hat«, die die Tradition nur noch »mit sich fortschleppt« und die durch Begreifen überwunden werden muss. 41 Begriffen aber wird sie durch geschichtliches Denken und hermeneutisches Verstehen. Spätestens seit dieser Stellungnahme Diltheys erscheinen eine Metaphysik, die »universale und überzeitliche Verbindlichkeit« beansprucht 42, und eine Hermeneutik, die sich mit geschichtlichem Denken verbrüdert, als Gegensätze. Und eine derartige Auffassung vom Verhältnis der Hermeneutik zur Metaphysik dürfte hinter der Befürchtung stehen, dass die Umdeutung von Bergsons »Metaphysik« in »Hermeneutik« sein Denken entstellt. Nun gibt es freilich Anlass genug, diese simple Opposition von Hermeneutik und Metaphysik ihrerseits mit Skepsis zu betrachten. Blickt man zunächst auf die Entwicklung nach Dilthey, so ist festzustellen, dass hermeneutisches Denken im Kontakt mit der Metaphysik bleibt, ja dass die Hermeneutik – wie bei Heidegger und Gadamer – »einen ontologischen Status erlangen« kann. 43 Der Prozess des Verstehens und Auslegens wird hier zur eigentlichen Realität. Blickt man sodann auf Bergson, so ist schwer vorstellbar, dass ein 41 42 43

Dilthey[1922] 126,133 Klun[2010] 86 Klun[2010] 86

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Philosoph, der mit großem Nachdruck immer wieder die Dauer – und das heißt: Dynamik, Veränderung, Entwicklung – als Zentrum seines Denkens herausgestellt hat, seine Philosophie als Metaphysik im Sinne einer universalen und überzeitlichen Wahrheit versteht. Eher schon ließe sich denken, dass Bergson, hierin mit Heidegger und Gadamer völlig einig, ein Werden, das als Auslegen zu begreifen ist, als das Wahrhaft Wirkliche auffasst. Dann aber wäre seine Metaphysik eine solche des Werdens und Auslegens. Will man sich davon überzeugen, dass Bergson eine sehr differenzierte Auffassung von Metaphysik hat und dass diese Auffassung jedenfalls Affinitäten zur Hermeneutik aufweist, so empfiehlt sich ein Blick in die Introduction á la métaphysique. Diese Schrift besteht aus zwei Teilen, deren erster die Intuition als Selbstverhältnis untersucht und deren zweiter die knappe Skizze einer auf dem Konzept der Dauer aufbauenden Ontologie bietet. Ich möchte hier zunächst die diesen beiden Teilen vorangestellte Einleitung, in Abschnitt 6.2.2.3 dann den Übergang vom ersten zum zweiten Teil untersuchen. In der Einleitung macht Bergson vom ersten Satz an klar, dass »Metaphysik« ein der philosophischen Tradition entnommener Begriff ist. Ob das bedeuten soll, dass die Tradition das Projekt einer Metaphysik nur noch »mit sich fortschleppt«, ob also die Idee einer Metaphysik nur noch tote Hülle oder ob noch Leben in ihr ist, das ist dennoch nicht die erste Frage, die Bergson stellt. Die Schwierigkeit, die er für so erheblich hält, dass er sie ebenfalls gleich im ersten Satz zur Sprache bringt, besteht vielmehr in der Vielstimmigkeit und Widersprüchlichkeit der Tradition. Es gibt verschiedene »Definitionen der Metaphysik«, es gibt verschiedene »Vorstellungen vom Absoluten«, es gibt »offenkundige Divergenzen«. 44 Allein schon diese Kakophonie macht es unmöglich, die Aufgabe einer Metaphysik unverzüglich zu über- und in Angriff zu nehmen. Bergson sieht sich genötigt, die Sinnfrage zu stellen: Die Einleitung fragt nach dem Sinn des Wortes »absolut«. Die Uneinigkeit der Tradition und die daraus resultierende Notwendigkeit der Sinnfrage bilden die eine Seite, von der her die Metaphysik als fragwürdig erscheint. In dem Maße, in dem es Bergson gelingt, einen Sinn des Ausdrucks »absolute Erkenntnis« freizulegen, stellt sich dann freilich zusätzlich die Frage, ob das, was diese Worte

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PM 1392 | 177 | 180

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zu bezeichnen vorgeben, in der menschlichen Erfahrung überhaupt vorkommt. Durch diesen doppelten Zweifel rückt das Projekt einer Metaphysik in zunehmende Distanz, und es ist diese bis in den ersten Teil der Abhandlung sich hineinziehende Distanz, auf die man, wie mir scheint, als Leser zunächst einmal aufmerksam werden sollte: Bergson betrachtet Status und Geltungsansprüche der Metaphysik als ungeklärt, somit als klärungsbedürftig. Seine Distanz kommt in unpersönlichen Verbformen 45, Konjunktivformen 46 sowie allerlei Einschränkungen und Vorbehalten 47 zum Ausdruck. Fassen wir das zusammen, dann können wir – unter Verwendung einer von Günter Figal geprägten Formel – sagen, dass Bergson sich in ein »hermeneutisches Verhältnis zur Metaphysik« bringt. 48 Dabei handelt es sich um den klassischen Fall einer hermeneutischen Verstehensbemühung: Ein vom Menschen hervorgebrachtes und durch die Tradition übermitteltes geistiges Gebilde ist fragwürdig geworden, so dass eine Übernahme oder Anknüpfung nicht mehr unmittelbar, sondern nur noch über die Erschließung seines Sinnes möglich ist. Diese Bemühung um den Sinn des Projektes Metaphysik und des Wortes »absolut« ist die eine Schicht des Hermeneutischen, die man in der Einleitung zu Introduction à la métaphysique entdecken kann. Welchen Sinn findet Bergson nun in der »Metaphysik« und im »Absoluten«? Bergson geht so vor, dass er die verschiedenen Meinungen vergleicht, Übereinstimmungen notiert, dann aber dem Leser nicht nur eine Liste der Gemeinsamkeiten anbietet, sondern versucht, den Sinn eines jeden Punktes zu klären. Bergson präsentiert also nicht eine einzige Bedeutung, einen einzigen Sinn von »absolut«, sondern ermittelt zunächst mehrere Teilbedeutungen und fragt dann erst nach einem übergeordneten Gesichtspunkt, in dem sich die Teilbedeutungen zusammenschließen lassen. Diese Darlegungen bilden die zweite Schicht des Hermeneutischen in der Einleitung, denn

les philosophes s’accordent – on dira que – on a souvent identifié – ceci posé, on verrait sans peine que 46 je serai dans l’objet lui-même – j’aurai renoncé à toute traduction – je coïncidais avec le personnage – un absolu ne saurait être donné que dans une intuition 47 là où elle est possible – s’il existe un moyen de posséder une réalité absolument – l’intuition, si elle est possible, est un acte simple – la métaphysique est la science qui prétend se passer de symboles 48 Figal[1999] 100 45

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Bergson erläutert die einzelnen Punkte anhand von Beispielen, die mehr oder weniger deutlich in den Bereich der Hermeneutik fallen. Bergson beginnt mit der Feststellung, die Tradition unterscheide zwischen zwei Arten der Erkenntnis. Die erste sei relativ, die zweite absolut. Die Relativität des ersten Erkenntnistypus aber sei darauf zurückzuführen, dass es sich um eine symbolisch vermittelte Erkenntnis handele: Die Erkenntnis hänge von dem verwendeten Symbolsystem ab. Die Absolutheit des zweiten Erkenntnistypus dagegen ergebe sich aus dem unvermittelten, vorsymbolischen Charakter der Erkenntnisse. Man könne also sagen, dass jede Erkenntnis des zweiten Typs – »da, wo sie möglich ist« – ein Absolutes erfasst. Aber wo ist sie möglich? Bergson bietet an dieser Stelle sogar zwei Beispiele an. Das erste ist das einer entweder von außen beobachteten oder von innen erfassten Bewegung, das zweite dasjenige des Romanhelden, auf das ich bereits bei der Einführung des Intuitionsbegriffes vorausverwiesen hatte: »Oder man nehme eine Romanfigur, deren Abenteuer man mir erzählt. Der Romanschreiber kann den Charakter seines Helden in noch so vielen Situationen und Handlungen sich entfalten lassen, so wird doch das alles nie der Einfachheit und Unteilbarkeit des Gefühls gleichkommen, das ich empfinden würde, wenn ich nur einen Augenblick mich mit der Persönlichkeit selbst identifizieren könnte. Dann würden alle Handlungen, alle Gesten und Worte ganz natürlich wie aus einer Quelle zu fließen scheinen. Sie würden dann nicht mehr nur Zufälligkeiten sein, die allmählich die Vorstellung, die ich mir von der Persönlichkeit gemacht habe, bereichern, ohne jemals in ihrer äußerlichen Summierung ein vollständig abgerundetes Ganzes zu ergeben. Die Persönlichkeit wäre ja dann mit einem Schlage in ihrer Ganzheit gegeben, und die tausend Zufälligkeiten, in denen sie sich bekundet, würden sich dann der Vorstellung nicht hinzufügen und sie bereichern, sondern im Gegenteil sich gleichsam davon loslösen, ohne jedoch das innere Wesen der Persönlichkeit erschöpfen oder auch nur verarmen zu können. Alles, was man mir von der Persönlichkeit erzählt, liefert mir ebenso viele Gesichtspunkte, von denen aus man sie betrachten kann. Alle Charakterzüge, die sie mir beschreiben, und die sie mir nur durch Vergleiche mit Personen und Dingen, die ich kenne, verständlich machen können, sind ebenso viele Zeichen, durch welche man sie mehr oder weniger symbolisch ausdrückt. Symbole und Gesichtspunkte versetzen mich also außerhalb der Persönlichkeit. Sie bieten mir nur das dar, was sie mit anderen gemeinsam hat und ihr nicht eigentümlich zugehört. Aber was ihr eigentliches Selbst, ihr innerstes Wesen ausmacht, kann man nicht von außen erkennen, da es nach Voraussetzung ein Innerliches ist, und man kann es auch nicht durch Symbole ausdrücken, da es mit allem anderen inkommensurabel ist. Be-

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schreibung, Geschichte und Analyse lassen mich hier im Bereich des Relativen. Nur die Identifizierung mit der Person selbst würde mir etwas Absolutes geben können.« 49

Es bleibt hier noch offen, ob es eine solche absolute Erkenntnis gibt. Aber jedenfalls: Wenn es sie gibt, dann muss sie so etwas sein wie die Einfühlung in eine Romanfigur. Der Eindruck, dass Bergson die von der Metaphysik angestrebte Erkenntnis eines Absoluten in die Nähe des von der Hermeneutik untersuchten Verstehens rückt, ergibt sich übrigens nicht allein aus der Wahl eines Beispiels, in dem Textverstehen und Fremdverstehen verknüpft sind, sondern aus der mit diesem Beispiel verbundenen Konsequenz, dass das Absolute als etwas Individuelles aufgefasst wird. Die Relativität symbolisch vermittelten Wissens ergibt sich – Bergsons Darstellung gemäß – daraus, dass Symbole immer Eigenschaften bezeichnen, die ein zu betrachtendes Phänomen mit andern Phänomenen gemeinsam hat, während ein Streben nach absoluter Erkenntnis gerade darauf abzielen müsste, das dem Phänomen Eigentümliche zu erfassen. Diese Individualisierung des Absoluten entnimmt Bergson ganz gewiss nicht der Tradition, und die Individualität zählt denn auch nicht zu jenen Bedeutungen des Wortes »absolut«, die er als allgemein akzeptiert auflistet. Sie markiert viel-

Soit encore un personnage de roman dont on me raconte les aventures. Le romancier pourra multiplier les traits de caractère, faire parler et agir son héros autant qu’il lui plaira : tout cela ne vaudra pas le sentiment simple et indivisible que j’éprouverais si je coïncidais un instant avec le personnage lui-même. Alors, comme de la source, me paraîtraient couler naturellement les actions, les gestes et les paroles. Ce ne seraient plus là des accidents s’ajoutant à l’idée que je me faisais du personnage, enrichissant toujours et toujours cette idée sans arriver à la compléter jamais. Le personnage me serait donné tout d’un coup dans son intégralité, et les mille incidents qui le manifestent, au lieu de s’ajouter à l’idée et de l’enrichir, me sembleraient au contraire alors se détacher d’elle, sans pourtant en épuiser ou en appauvrir l’essence. Tout ce qu’on me raconte de la personne me fournit autant de points de vue sur elle. Tous les traits qui me la décrivent, et qui ne peuvent me la faire connaître que par autant de comparaisons avec des personnes ou des choses que je connais déjà, sont des signes par lesquels on l’exprime plus ou moins symboliquement. Symboles et points de vue me placent donc en dehors d’elle ; ils ne me livrent d’elle que ce qui lui est commun avec d’autres et ne lui appartient pas en propre. Mais ce qui est proprement elle, ce qui constitue son essence, ne saurait s’apercevoir du dehors, étant intérieur par définition, ni s’exprimer par des symboles, étant incommensurable avec toute autre chose. Description, histoire et analyse me laissent ici dans le relatif. Seule, la coïncidence avec la personne même me donnerait l’absolu. – PM 1394 | 178 f. | 181 f.

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mehr die entscheidende Wendung, die Bergson den Begriffen »Metaphysik« und »Absolutes« gibt, um sie sich aneignen zu können. Noch deutlicher wird das bei der Erörterung der zweiten Bedeutung. »In diesem Sinne, und nur in diesem Sinne« – was wir zu verstehen haben als: im Sinne des Individualisierungsprogramms – kann man das Wort »Vollkommenheit« als Synonym für das Wort »Absolutheit« betrachten. 50 Als Beispiele dafür führt Bergson wiederum zwei höchst individuelle Gebilde an. Das eine ist »eine Stadt«, bei der späteren Wiederaufnahme des Beispiels 51 noch konkreter die Stadt Paris: Ein Künstler fertigt Zeichnungen oder Photographien der Stadt an, aber diese Bilder – und auch alle Bilder zusammen – können dem Betrachter nicht den Eindruck vermitteln, den er hätte, wenn er selbst in der Stadt herumspazierte. Das andere Beispiel ist ein Gedicht: Jede Übersetzung bleibt unvollkommen im Vergleich mit dem Original, denn nur dieses »ist vollkommen das, was es ist«. Drittens wird »absolut« oft mit »unendlich« identifiziert. 52 Das Beispiel dafür bleibt in der Region des Textverstehens: Die Lektüre eines »homerischen Verses« vermittelt ein einfaches, unteilbares Erlebnis. Wenn man aber nun – wie der Philosoph aus L’intuition philosophique – diesen Eindruck anderen Personen mitteilen will, so wird man den Vers zunächst übersetzen, die Übersetzung dann kommentieren und schließlich auch noch den Kommentar erläutern, um auslegend all das mitteilbar zu machen, was in dem anfänglichen, einfachen Erlebnis steckte. Unendlich ist ein individuelles Phänomen also, weil es ins Unendliche entfaltet und ausgelegt werden kann. Vom ersten bis zum letzten Satz verschränkt diese Einleitung Metaphysik und Hermeneutik. Sie wendet das Absolute ins Individuelle und die Erkenntnis des Absoluten ins Verstehen. Bergsons Aneignung der Metaphysik vollzieht sich also als deren Hermeneutisierung. 6.2.2.2 Exkurs: Metaphysik und Hermeneutik bei Schopenhauer Meine Anmerkungen zur Hermeneutisierung der Metaphysik bei Bergson zielen nicht darauf ab, Angemessenheit oder Fruchtbarkeit der Auffassung, es gebe in Bergsons Philosophie deutlich ausgeprägte 50 51 52

PM 1394 f. | 179 f. | 182 f. PM 1403–1404 | 191–192 | 192–194 PM 1395 | 180 | 183

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metaphysische Tendenzen, zu bestreiten. Das Wort »Hermeneutisierung« soll nicht eine Metamorphose bezeichnen, an deren Anfang man es mit einer Metaphysik und an deren Ende man es mit einer Hermeneutik zu tun hätte. Die Metaphysik ist nach abgeschlossener Hermeneutisierung – gesetzt, diese ließe sich abschließen – nicht verschwunden. Vielmehr entfaltet sich ein Denken, das zunächst nur Metaphysik zu sein schien, zu einem solchen, das sowohl einen metaphysischen wie auch einen hermeneutischen Aspekt zeigt. Was das bedeuten soll, lässt der Rückblick auf Bergsons – in Kapitel 3 diskutierte 53 – Hermeneutisierung der Infinitesimalrechnung zumindest erahnen: Die Infinitesimalrechnung ist und bleibt ein in der Mathematik beheimatetes Verfahren; zugleich aber versteht Bergson sie als Vorbild, von dem sich die Philosophie bei der Ausarbeitung einer Hermeneutik leiten lassen kann, und zwar deshalb, weil die Infinitesimalrechnung sich einem Leitbild verdankt, das weit über die Grenzen der Mathematik hinaus relevant ist. Ebenso ist und bleibt die Metaphysik eine in der vormodernen philosophischen Tradition beheimatete Denkweise; zugleich halten die Lebensphilosophen sie jedoch für erneuerungsfähig und präsentieren sie in einer Gestalt, die sich durch einen metaphysisch-hermeneutischen Doppelaspekt auszeichnet. Daniel Schubbe hat eine Schopenhauer-Interpretation 54 vorgelegt, die unserem Versuch einer Bergson-Lektüre in zweierlei Hinsicht gleicht: (1) Schubbe will zeigen, dass Schopenhauers Philosophie einen hermeneutischen Charakter aufweist. (2) Dabei stößt er auf ein Denken, das merkwürdig ambivalent zwischen Metaphysik und Hermeneutik schwankt. Es kann hier selbstverständlich nicht darum gehen, Schubbes Ausführungen als Schopenhauer-Interpretation angemessen nachzuvollziehen. Ich möchte aber aus seinem Versuch, die beobachtete Ambivalenz zu erklären, einige Punkte herausgreifen, von denen ich glaube, dass sie sich zu einer für die gesamte Lebensphilosophie – mithin auch für Bergson – relevanten, allgemeinen These umformulieren lassen. Schubbe sieht sich also mit dem metaphysisch-hermeneutischen Doppelaspekt von Schopenhauers Denken konfrontiert. Er interpretiert nun diesen Doppelaspekt nicht statisch, d. h. nicht einfach als Vgl. Abschnitt 3.3.2.4.3, S. 413. Ausführlich, aber in mancherlei Hinsicht noch zaghaft: Schubbe[2010]; zusammenfassend und forscher: Schubbe[2013].

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»hermeneutische Metaphysik« 55, so als ob gewisse Gegenstände – und sei es auch nur im Rahmen eines bestimmten Typs von Philosophie – sich notwendigerweise in doppelter Gestalt zeigen müssten. Er interpretiert ihn vielmehr dynamisch. Allerdings machen Schubbes Ausführungen den Leser zunächst etwas ratlos im Hinblick auf die Frage, um was für eine Art von Dynamik es sich dabei handelt. Einerseits nämlich spricht er von einer »hermeneutischen Wende« der Metaphysik 56, was doch wohl – analog zu dem zuvor von mir selbst gebrauchten Begriff »Hermeneutisierung« – auf das Projekt einer Umarbeitung der Metaphysik zur Hermeneutik verweisen soll; andererseits aber schildert er einen – ebenfalls als »Wende« oder als »Standpunktwechsel« bezeichneten – Denkweg, der Schopenhauer von der »Entzifferung« zur »indifferenten Einheit«, von der »Betrachtung des Willens als hermeneutischen ›Schlüssel‹« zu dessen Interpretation als »metaphysische Realität« führt, – einen Denkweg also, der eher als »metaphysische Wende« bzw. als »Metaphysizierung« der Hermeneutik bezeichnet werden müsste. In der Tat scheinen mir hier zwei gedankliche Entwicklungen wie zwei Fäden miteinander verschlungen zu sein: • Beim ersten Faden handelt es sich um eine überindividuelle, in allgemein philosophiegeschichtlicher Perspektive zu erfassende Entwicklung. Sie beginnt bei der traditionellen (vorkritischen) Metaphysik, die an eine absolute Transzendenz 57 und zugleich an deren Erkennbarkeit vermittels rationaler Argumentation (Erkenntnis aus dem Begriff) glaubte. Der zweite Schritt besteht in der Zertrümmerung dieses Erkenntnisanspruchs durch Kant. Er reißt die verifizierbare menschliche Erfahrung von der Wirklichkeit und die Wirklichkeit als solche – das Ding an sich – so radikal auseinander, dass danach Metaphysik im Sinne eines Wissens von den Grundstrukturen der Wirklichkeit selbst nicht mehr möglich ist. Dagegen revoltieren schließlich einige seiner Nachfolger. Sie akzeptieren zwar Kants Verschiebung vom Begriff zur Erfahrung als Organon der Erkenntnis, wollen aber zeigen, dass Metaphysik als Erkenntnis einer relativen Transzendenz auch nach dieser Verschiebung noch möglich ist. Das kann nur gelingen, wenn Erfahrung mehr beinhaltet als die von Kant 55 56 57

Birnbacher/Hallich[2012] 483 Schubbe[2013] 413 Vgl. Abschnitt 2.2.3, S. 220.

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ausschließlich beschriebene vergegenständlichende Erfahrung, auf der die Naturwissenschaften basieren, und wenn man unterstellt, dass sich in anderen Formen der Erfahrung das »Ding an sich« äußert. Sollte es überdies möglich sein, die Äußerungen des »Dinges an sich« eben als Äußerungen zu interpretieren, dürfte man im Hinblick auf diesen ersten Faden von einer Hermeneutisierung der Metaphysik sprechen. • Beim zweiten Faden handelt es sich um den persönlichen Denkweg Schopenhauers – oder jedenfalls: um den von den Interpreten rekonstruierten Weg von Schopenhauers Intuition zu deren Ausarbeitung in »Die Welt als Wille und Vorstellung«. Schopenhauers Ausgangspunkt ist die Einsicht in die »zweifache Gegebenheitsweise der eigenen Leiblichkeit«, nämlich zum einen als Körper-Ding (Vorstellung), zum anderen als Leib-Erfahrung (Wille). Im nächsten Schritt überträgt er vermittels der »Analogie« diese Grunderfahrung auf das »in der Welt Begegnende«, strebt also danach, das als Anderes Begegnende nicht zu erklären, sondern durch Übertragung der Selbsterfahrung zu verstehen. Im dritten und letzten Schritt schließlich wendet Schopenhauer den Blick vom einzelnen Begegnenden ab, betrachtet die Totalität der äußeren Wirklichkeit, fasst die Dinge als Erscheinungen, den verstehend in sie hineinprojizierten Willen als eigentlich »metaphysische Realität« und identifiziert schließlich diesen zum metaphysischen Prinzip avancierten Willen mit Kants »Ding an sich«. 58 Was immer man von diesem Denkweg in der Sache halten mag – wenn die hier von mir referierte, von Schubbe und anderen Interpreten vorgetragene Rekonstruktion Schopenhauers Denkweg angemessen beschreibt, dann ist es legitim, von einer Metaphysizierung der Hermeneutik zu sprechen. Die beiden von mir skizzierten Denkentwicklungen treffen da aufeinander, wo Schopenhauer sich bemüht, sein Vorgehen zu rechtfertigen, indem er auf Formen der Erfahrung verweist, die uns zur Übertragung unserer doppelten Selbsterfahrung nicht nur berechtigen, sondern geradezu auffordern. Wäre es wahr – so das Argument, das vom ersten zum zweiten Buch der »Welt als Wille und Vorstellung« überleitet –, dass die äußere Wirklichkeit uns nur als »Vorstellung« zugänglich ist, dann wäre zu erwarten, dass sie »wie ein wesenloser 58

Schubbe[2013] 415–417

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Traum, oder ein gespensterhaftes Luftgebilde, an uns vorüberziehn müßte, nicht unserer Beachtung werth«. 59 So verhält es sich aber nicht. Zumindest in einigen Fällen fühlen wir uns angesprochen. »Dieses Angesprochen-sein beschreibt Schopenhauer über die affektive Leiberfahrung, den Anspruch des Schönen und den Anspruch durch fremdes Leiden.« 60 »Es geht schlicht um Erfahrungen, Einsichten oder Kenntnisse, die nichtbegrifflich sind und heute vielleicht besser als praktisches Wissen, gestisches Verstehen, leibliches Spüren, ästhetische Einsicht, mitfühlendes Verstehen, vor allem aber als Weisen von Haltungen und Einstellungen des Menschen zur Welt beschrieben werden könnten.« 61

Wenn wir jemanden sehen, der blutend und schmerzverzerrt am Boden liegt, oder jemandem zuhören, der in einer als ausweglos empfundenen Situation steckt, dann wissen wir, dass die Frage: »Was können wir wissen?« der Situation ungefähr so angemessen ist wie die Frage nach zu verzollenden Waren beim Eintreffen von Schiffbrüchigen; dann wissen wir intuitiv, dass die Analogie zwischen uns und dem Anderen besteht und alle Skrupel hinsichtlich einer möglicherweise unzulässigen Projektion gegenstandslos sind. Es handelt sich – darauf insistiert Schopenhauer – in einem derartigen Fall nicht um eine Dingerfahrung, zu der noch subjektive Sympathie oder subjektives Mitleid hinzugefügt werden, sondern um eine von der Dingerfahrung verschiedene, ganz andersartige Erfahrung. Die Philosophie müsste, wenn sie sich denn mit dieser Erfahrung beschäftigen will, gerade deren Andersartigkeit auf den Begriff bringen. Die Intuition oder – wie wir hier bemerkenswerterweise auch sagen dürfen – die intuition-distinction der doppelten Gegebenheitsweise unserer Leiblichkeit und damit eines Pluralismus von Erfahrungstypen gilt weithin als die überzeugende und fruchtbare Seite von Schopenhauers Philosophie. Dagegen gestehen selbst eifrige Interpreten und Anhänger zu, dass Schopenhauers Darstellung seiner Intuition unter der noch viel zu stark an Kant angelehnten Begrifflichkeit leidet. Aus dem Widerspruch zwischen neuen, weiterführenden Ideen und »sprachlicher Unselbständigkeit« 62 resultiert eine Nicht-Übereinstimmung ganz ähnlich derjenigen, die Bergson bei 59 60 61 62

Schopenhauer[1977], Bd. 1, 141 Schubbe[2013] 421, Anm. 50 Schubbe[2013] 420 Schubbe[2013] 413

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Spinoza diagnostiziert. Dieser Widerspruch motiviert aber auch die Aufnahme und Weiterentwicklung von Schopenhauers ursprünglicher Einsicht durch andere, spätere Denker, und damit jene Bewegung, die wir heute »Lebensphilosophie« nennen. 63 Dass unsere Erfahrung nicht, wie Kant meinte, ein homogenes Gebilde ist; dass zumindest in einigen nicht-gegenständlichen und vorsprachlichen Erfahrungsformen ein »absolutes« Wissen vom Anderen verfügbar wird, das symbolisch vermittelte Erkenntnis nicht bereitzustellen vermag; dass die Aufgabe der Philosophie darin bestehen muss, die verschiedenen Erfahrungstypen zu untersuchen sowie ihre jeweilige Rolle im Ganzen der menschlichen Erfahrung zu bestimmen; dass schließlich diese Aufgabe im Spannungsfeld von Hermeneutik und Metaphysik angesiedelt ist – all das gilt nicht nur für Schopenhauer, sondern cum grano salis für die Lebensphilosophie insgesamt. Das Ziel einer Erneuerung der Metaphysik als Lehre von den verschiedenen Typen menschlicher Erfahrung und ihrer jeweiligen Leistung vereint sich – wenn auch auf je-eigene Weise – bei allen Lebensphilosophen mit dem Ziel einer Ausarbeitung der Hermeneutik als Lehre von der Interpretierbarkeit nicht-begrifflicher Erfahrung zu einer »hermeneutischen Metaphysik« oder »metaphysischen Hermeneutik«. Das wusste Philipp Lersch schon 1932: »Metaphysik ist für Schopenhauer wie für Bergson der Weg, die Welt von innen zu verstehen, nicht von außen zu begreifen.« 64

6.2.2.3 Prozessontologie Metaphysik ist die Wissenschaft von der Erkenntnis des wahrhaft Wirklichen. Bei Bergson präsentiert sie sich – wie bei Schopenhauer – im Doppelaspekt von Metaphysik und Hermeneutik. Um diese Ausprägung in einer Weise plausibel zu machen, die über die wenigen in der Einleitung zu Introduction à la métaphysique gebotenen Impressionen hinausgeht, muss Bergson in einem ersten Schritt klären,

Wohlgemerkt: Ich spreche hier von Weiterentwicklung, nicht von Beeinflusst-Sein oder gar Plagiat. Zu der primär aus nationalistischen (und damit philosophisch nicht relevanten) Motiven entspringenden These, Bergsons Philosophie sei nur ein Plagiat derjenigen Schopenhauers vgl. François[2005]. Für einen konstruktiven Vergleich zwischen Schopenhauer, Nietzsche und Bergson vgl. François[2008a]. 64 Lersch[1932] 89 63

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was das wahrhaft Wirkliche ist. Das bedeutet: Er muss eine Ontologie entwerfen. Begleiten wir ihn bei diesem Unternehmen. (1) Die traditionelle Ontologie, die für das Alltagsdenken ebenso maßgeblich ist wie für die Symbolismen und Methoden der Wissenschaft, beruht auf den Konzepten des Raumes und des Dinges: Klar abgegrenzte Dinge befinden sich im Raum. 65 Ich werde diese Ontologie deshalb nachfolgend als Dingontologie bezeichnen. Die traditionelle Ontologie geht zugleich davon aus, dass Dinge »in der Zeit« sind. Aber eben an dieser Stelle widerspricht Bergson und sieht sich veranlasst, eine alternative Ontologie zu entwickeln. Wenn Dinge als »in der Zeit« seiend gedacht werden sollen, so kann das nur heißen, dass die Zeit – wie der Raum – ein homogenes Medium ist und dass die darin befindlichen Dinge weitestgehend unveränderlich sind: Das Ding schwimmt durch die Zeit wie ein Stück Holz im Fluss. Bergsons Gegenentwurf beruht auf dem Grundsatz, dass die Zeit – oder vielmehr: die Dauer – »eine wirkende Kraft und eine eigene Realität« 66 ist. In der Dauer sind Ding und Medium zu einer Einheit verschmolzen. Das Leitbild, an dem sich Bergson orientiert ist nicht das Stück Holz, das nur zufälligerweise im Wasser schwimmt, wie sich zeigt, wenn es herausgeholt wird. Das Leitbild ist vielmehr die Welle oder die Strömung – Bewegungsphänomene, die mit ihrem Medium zusammenfallen. Jeanne Hersch hat sich über das melancholische Bild gewundert, mit dem Bergsons Schrift über das Komische und das Lachen ausklingt. 67 Warum gerade Le rire so endet, soll uns hier nicht beschäftigen, sehr wohl aber das Erstaunen eines Kindes angesichts solcher Bewegungsphänomene und die stumme Frage nach dem Wirklichen: »So kämpfen ohne Unterlass Wogen auf der Oberfläche des Meeres, während die unteren Schichten des Wassers in tiefem Frieden verharren. Die Wogen rennen und stoßen gegeneinander und suchen ihr Gleichgewicht. Ein leichter, weißer, lustiger Schaum folgt ihren wechselnden Linien. Die zurückfließende Flut lässt diesen Schaum auf dem Sande des Ufers zurück. Ein Kind, das in der Nähe spielt, kommt und sammelt sich eine Hand voll Vgl. Kapitel 3. une action efficace et une réalité propre – PM 508 | 16 | 23 67 Puis, sur le sable de la grève, une vague fuit, laisse un peu d’écume. Dans la main de l’enfant qui l’a ramassée, il reste un peu d’eau amère. Toute la vision disparai ; reste un goût d’amertume, la seule image gustative de tous les livres de M. Bergson. L’amertume. Et c’est le dernier mot d’un tableau aimable : la mer, un enfant qui joue. Et c’est le dernier mot d’un livre qui s’intitule : Le rire. – Hersch[1931] 115 65 66

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und wundert sich, wenn es im nächsten Augenblick nur wenige Wassertropfen in der hohlen Hand hat, die aber viel salziger, viel bitterer sind als das Wasser der Welle, die den Schaum mit sich führte.« 68

Nicht nur hier, sondern auch in vielen anderen Texten steht das Kind für das Erstaunen des Menschen angesichts von Phänomenen, die ohne Zweifel wirklich, aber doch mit der unbewussten Dingontologie, auf die er naiv vertraut, nicht zu vereinbaren sind. Ich wähle zwei ergänzende Belege aus der uns hier besonders interessierenden Introduction à la métaphysique: »Ist es erstaunlich, dass [die Wissenschaft] das Objekt vor sich fliehen sieht wie das Kind, das sich ein Spielzeug aus den Schattenumrissen an den Wänden herstellen möchte?« 69 »Ist es erstaunlich, dass die Philosophen so oft das Objekt, das sie zu umfassen streben, entgleiten sehen wie Kinder, die mit der Hand Rauch festhalten möchten?« 70

(2) Bergson löst die gegenständliche Welt auf und entwirft an deren Stelle eine aus Prozessen bestehende Wirklichkeit. Man könnte Bergsons Ontologie als eine Ontologie der Dauer(n) oder als eine Ontologie des Lebendigen bezeichnen. Ich werde sie hier Prozessontologie nennen, weil zum einen der Begriff »Prozess« neutral genug ist, um keine Widerstände hervorzurufen, wenn das Konzept der Dauer auf Gesellschaften, die Evolution des Lebendigen oder gar das ganze Universum ausgedehnt wird, und weil ich zum anderen auf die Beziehung zwischen Bergson und Whitehead wenigstens hinweisen möchte, wenn ich auch auf sie nicht im Detail eingehen kann. 71 Ursprung, C’est ainsi que des vagues luttent sans trêve à la surface de la mer, tandis que les couches inférieures observent une paix profonde. Les vagues s’entrechoquent, se contrarient, cherchent leur équilibre. Une écume blanche, légère et gaie, en suit les contours changeants. Parfois le flot qui fait abandonne un peu de cette écume sur le sable de la grève. L’enfant qui joue près de là vient en ramasser une poignée, et s’étonne, l’instant d’après, de n’avoir plus dans le creux de la main que quelques gouttes d’eau, mais d’une eau bien plus salée, bien plus amère encore que celle de la vague qui l’apporta. – R 483 | 152 | 133 69 Est-il étonnant qu’elle voie cet objet fuir devant elle, comme l’enfant qui voudrait se fabriquer un jouet solide avec les ombres qui se profilent le long des murs ? – PM 1406 | 194 | 195 f. 70 Est-il étonnant que les philosophes voient si souvent fuir devant eux l’objet qu’ils prétendent étreindre, comme des enfants qui voudraient, en fermant la main, capter de la fumée ? – PM 1416 | 206 | 206 71 Zur Beziehung Bergson – Whitehead vgl. Robinson[2009], zu Bergson im Kontext 68

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Kern und Schwierigkeit dieser Ontologie kommen gleichermaßen in den kompakten Formulierungen zum Ausdruck, in denen Bergson versucht, sie zusammenzufassen: »Diese Wirklichkeit ist reine Bewegung. Es existieren keine starren Dinge, sondern allein Dinge, die werden, keine bleibenden Zustände, sondern nur Zustände, die sich verändern. Die Ruhe ist nur scheinbar, oder vielmehr relativ. Das Bewusstsein, das wir von unserer eigenen Person haben, in seinem unaufhörlichen Fließen, führt uns in das Innere einer Wirklichkeit hinein, nach deren Muster wir uns alle andere Wirklichkeit vorstellen müssen.« 72 »Es gibt Veränderungen, aber es gibt unterhalb der Veränderung keine Dinge, die sich verändern: die Veränderung hat keinen Träger nötig. Es gibt Bewegungen, aber es gibt keinen unveränderlichen trägen Gegenstand, der sich bewegt: die Bewegung schließt also nicht etwas ein, was sich bewegt.« 73

Der Ursprung wird hier noch einmal in kompaktester Form in Erinnerung gerufen: Bergson hat nicht nur – biographisch oder philosophiegeschichtlich – die Dauer zuerst als Form des Bewusstseins entdeckt; jeder Versuch, Zugang zur Dauer zu finden, muss nach seiner Ansicht mit einer Betrachtung des eigenen Bewusstseins beginnen. Sobald aber Geist und Bewusstsein als Prozess gefasst werden, wird Schritt für Schritt offenbar, dass auch die »äußere« Wirklichkeit nicht als eine Ansammlung von Dingen, sondern als eine Vielfalt von Prozessen zu begreifen ist. Die Prozessontologie erwächst also aus der beschreibenden Psychologie. Den Kern der Prozessontologie kann man nicht deutlicher aussprechen als Bergson das 1911 vor seinen Zuhörern in Oxford getan hat (Zitat 2): Ein Prozess ist eine Abfolge von Veränderungen. Aber diese Veränderungen dürfen nicht gedacht werden als solche, die sich der Prozessphilosophie insgesamt die Literaturübersicht unter http://www.ctr4process.org/publications/Biblio/Thematic/Bergson.html. 72 Cette réalité est mobilité. Il n’existe pas de choses faites, mais seulement des choses qui se font, pas d’états qui se maintiennent, mais seulement des états qui changent. Le repos n’est jamais qu’apparent, ou plutôt relatif. La conscience que nous avons de notre propre personne, dans son continuel écoulement, nous introduit à l’intérieur d’une réalité sur le modèle de laquelle nous devons nous représenter les autres. – PM 1420 | 211 | 211 73 Il y a des changements, mais il n’y a pas, sous le changement, de choses qui changen : le changement n’a pas besoin d’un support. Il y a des mouvements, mais il n’y a pas d’objet inerte, invariable, qui se meuve : le mouvement n’implique pas un mobile. – PM 1381 f. | 163 | 167

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an einem Ding vollziehen. Sie müssen vom Ding abgelöst werden. Von einer Dingontologie zu einer Prozessontologie überzugehen, heißt, Ernst zu machen mit dem Grundsatz, dass »die Bewegung zur eigentlichen Wirklichkeit wird« 74. Bewegung, Veränderung, Entwicklung sind nicht akzidentelle Vorgänge an einer im Übrigen unveränderlichen Substanz. Der Prozess, die Dynamik ist die Substanz. 75 Das wahrhaft Seiende ist das Geschehen. Das wahrhaft Dauernde ist – die Dauer. Aber Bergson kennt und erwähnt auch die Schwierigkeit, die sich aus einer konsequent durchgeführten Prozessontologie ergibt, den Widerstand, den unser von der Dingontologie zutiefst durchdrungenes Denken leistet: Verliert man, wenn man die festen Dinge auflöst, nicht jeden Halt? Gerät man nicht ins Fahrwasser Heraklits? Wird es uns nicht gehen wie jenem Kind, das nach dem Schaum greifen wollte und am Ende nichts übrigbehielt als Bitterkeit? Diese Frage kann, wenn überhaupt, so jedenfalls jetzt noch nicht beantwortet werden. Festzuhalten ist aber, dass die Erweiterung der beschreibenden Psychologie zur Prozessontologie nicht als Bergsons ganz persönlicher Einfall bewertet werden darf. Indem Bergson diesen Pfad beschreitet, nimmt er die Entwicklungen auf, die sich spätestens seit dem 18. Jahrhundert im modernen Denken vollzogen haben. Ob nun in der Biologie oder in der Psychologie, ob in den Geistesoder in den Naturwissenschaften, ob in der Malerei oder in der Literatur – überall werden Form, Gegenständlichkeit, Gesetz, Statik aufgelöst oder jedenfalls durch Entwicklung, Ungegenständlichkeit, Kraft, Dynamik in den Hintergrund gedrängt. 76 Es war also an der Zeit, die Frage zu stellen, ob all diese Tendenzen auf ein ihnen gemeinsames Bild von der Wirklichkeit verweisen, ob sie alle auf eine neue Ontologie hinarbeiten. (3) Nach der Einleitung scheint die Introduction á la métaphysique fast im ganzen ersten Teil nicht über die bereits im Essai sur les données immédiates de la conscience und in Matière et mémoire erreichten Einsichten hinauszukommen. Bergson stellt fest, dass es jedenfalls eine Realität vom Typ Dauer gibt, die uns durch Intuition zugänglich ist, und führt dann breit aus, in welcher Weise sich die que la mobilité devient la réalité même – PM 1383 | 165 | 169 Vgl. in diesem Zusammenhang die Fußnote PM 1420 | 211 | 211, in der Bergson sich nachdrücklich gegen den Vorwurf verwahrt, er wolle die Substanz beseitigen. 76 Vgl. hierzu die in Kap. 2, Anm. 181 genannten Autoren. 74 75

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Intuition als Reflexion des Geistes auf sich selbst von anderen Arten der Erforschung des Selbst unterscheidet. Fast abrupt erfolgt dann im zweiten Teil der Übergang zu einer allgemeinen Ontologie. Dass da in der Tat etwas fehlt, zeigt die 20 Jahre später geschriebene Einleitung zu La pensée et le mouvant. Die hier relevante Passage, in der Bergson diejenigen Bereiche der Wirklichkeit aufzählt, in denen die Dauer anzutreffen ist, hatte ich in Kapitel 5 bereits referiert. 77 Die Abfolge lautet dort: eigene Dauer – Dauer anderer Menschen – Dauer beliebiger anderer Lebewesen – Dauer des Universums. Die Dauer der anderen Menschen, die in Bergsons spätem Text gleichsam zwischen der eigenen Dauer und den ganz andersartigen Dauern in verschiedenen Bereichen der äußeren Wirklichkeit vermittelt, kommt ohne Frage in der Introduction à la métaphysique zu kurz. Dass sie nicht völlig fehlt, kann man sich klarmachen, wenn man die Erörterungen des ersten Teils auf die Einleitung zurückbezieht, wo wir, wenn schon keinen Menschen aus Fleisch und Blut, so doch jedenfalls einen Romanhelden angetroffen hatten. Schon wenn Bergson den Leser dazu auffordert, das bunter Vielerlei der Abenteuer in – mit Dilthey gesprochen – einen Zusammenhang zu transformieren, dann meint er die Dauer. Vor allem aber ist die Dauer gemeint, wenn Bergson vom Individuellen, der Person Eigentümlichen, sie von anderen Personen Unterscheidenden, kurz: vom Absoluten spricht. Das, was das Individuum aus- und zu einem Selbst macht – das ist die Dauer. Will man Bergsons Prozessontologie systematisch rekonstruieren, kann man also sagen, dass in einem ersten, allgemeinen Teil die Prinzipien dargelegt werden und insbesondere die Dauer als Grundbegriff, aber auch als das wahrhaft Wirkliche herausgearbeitet wird. Auf diesen ersten, allgemeinen Teil folgen dann weitere, spezielle Teile, in denen verschiedene Aspekte der Dauer untersucht werden. Und wir haben soeben festgestellt, dass die individuelle Dauer das Thema des ersten speziellen Teils bildet. Das ist für das Verhältnis von Ontologie und Erkenntnistheorie von erheblicher Bedeutung, denn die individuelle Dauer ist genau das, was dann später das (auf die Individualität gerichtete) Verstehen erfassen soll.

77

Vgl. Abschnitt 5.1.2, S. 562.

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Die philosophische Intuition Allgemeiner Teil (Die Dauer als das wahrhaft Wirkliche)

Erster spezieller Teil: »Monadologie«

Zweiter spezieller Teil: »Stratigraphie«

Dritter spezieller Teil: »Physik«

(Die Dauer als Individualität)

(Schichten der Realität als Schichtung verschiedenartiger Dauern)

(Verhältnis von Prozess- und Dingontologie)

Abbildung 6: Bergsons Prozessontologie

(4) Erst kurz vor dem Ende des ersten Teils von Introduction à la métaphysique greift Bergson die Frage auf, die sich zu diesem Zeitpunkt wohl die meisten Leser bereits gestellt haben: Ist die von ihm propagierte Ontologie eigentlich nur Psychologie? Und ist seine neue Metaphysik nichts als Selbsterkenntnis? Auf diese Frage antwortet Bergson mit einer erkenntnistheoretisch-ontologischen Skizze, von der hier lediglich die ontologische Hauptthese interessiert. 78 Wir entdecken sie in dem Hinweis, dass »die Intuition […] nicht ein einziger Akt, sondern eine unbegrenzte Folge von Akten ist […] und diese Mannigfaltigkeit von Akten allen Stufen des Seins entspricht.« 79

Und wir entdecken sie ebenfalls in der Schlussfolgerung: »[…] so bringt die Intuition unserer Dauer, weit entfernt davon, uns – wie die reine Analyse – im leeren Raum hängen zu lassen, in Kontakt mit einem ganzen Kontinuum von Dauern, denen wir – sei es nun nach unten oder nach oben – zu folgen versuchen müssen.« 80 PM 1416–1419 | 206–211 | 207–211 – Für eine eingehendere Interpretation dieser Textpassage vgl. Abschnitt 6.2.3.2.2, S. 768. 79 […] comment l’intuition dont nous parlons n’est pas un acte unique, mais une série indéfinie d’actes […], et comment cette diversité d’actes correspond à tous les degrés de l’être. – PM 1416 | 207 | 207 – Hervorhebung von mir [C. K.]. 80 […] ainsi l’intuition de notre durée, bien loin de nous laisser suspendus dans le vide comme ferait la pure analyse, nous met en contact avec toute une continuité de durées que nous devons essayer de suivre soit vers le bas, soit vers le hau : dans les deux cas nous pouvons nous dilater indéfiniment par un effort de plus en plus violent, dans les deux cas nous nous transcendons nous-mêmes. – PM 1419 | 210 | 210 – Hervorhebung von mir [C. K.]. 78

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Den Kern des zweiten speziellen Teils der Ontologie bilden die Formeln »Stufen des Seins« und »Kontinuum von Dauern«. Im Mittelpunkt des ersten speziellen Teils steht die individuelle Dauer eines jeden Wesens, das in irgendeinem Sinne als lebendig – und das heißt letztlich: als Prozess – bezeichnet werden kann. Mit diesem Ansatz allein kommt man bis zu irgendeiner Art von Monadologie. Quer zu diesem Ansatz verläuft nun ein zweiter, der besagt, dass die einzelnen Dauern nicht alle von gleicher Art sind. Behauptet wird, dass sich verschiedene Typen von Dauern unterscheiden lassen, dass diese Typen verschiedene Bereiche der Realität konstituieren und dass die Typen bzw. die Wirklichkeitsbereiche sich als Schichtenfolge darstellen lassen. Liefert der erste, auf der individuellen Dauer beruhende Ansatz eine Monadologie, so liefert der zweite, auf der Typenlehre beruhende, etwas, was ein Archäologe als Stratigraphie der Realität bezeichnen würde: Die Wirklichkeit erweist sich weder als homogen, noch als in zahllose Monaden zersplittert, sondern als geschichtet. 81 Wie man sich das vorzustellen hat, macht der bereits mehrfach herangezogene Text über die Dauer in den verschiedenen Wirklichkeitsbereichen klar. Er schreitet von der eigenen Dauer des menschlichen Individuums fort zu den Dauern anderer Menschen, sodann zu denjenigen beliebiger Lebewesen und schließlich zur Dauer des ganzen Universums. Dass das nicht alle Schichten sind, die Bergson im Laufe seines Denkwegs erkundet hat, und dass es möglicherweise Schichten gibt, denen er überhaupt keine Untersuchung gewidmet hat, scheint mir hier weniger wichtig als das Prinzip: Die Ontologie verlagert den Fokus von der Individualität auf die Schichten der Realität. Ihre Leitfrage lautet nunmehr: Was bedeutet und wie zeigt sich Dauer in den verschiedenen Bereichen der Wirklichkeit? Damit wird sie zu einer veritablen Fundamentalontologie, insofern sie den Boden für die Hermeneutik bereitet, die dann ihrerseits fragen kann: Was bedeutet und was leistet in jedem einzelnen Bereich der Wirklichkeit die Intuition der schichtenspezifischen Dauer? (5) Es gibt noch einen dritten speziellen Teil der Ontologie, und das rührt daher, dass es außer der Prozessontologie noch die Dingon-

Dieser Ansatz wurde von vielen Interpreten untersucht. Verwiesen sei hier beispielhaft auf Georges Mourélos, bei dem die »Niveaus der Wirklichkeit« bereits im Titel vorkommen (Mourélos[1964]), sowie auf Camille Riquier, der neben ausführlichen Erörterungen auch einige sehr hilfreiche graphische Darstellungen bietet (Riquier[2009] 115,193,252).

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tologie gibt. Demnach muss das Verhältnis von Prozessontologie und Dingontologie geklärt werden. Es geht darum, die Geltungsansprüche der einen und der anderen Ontologie zuerst einmal zur Kenntnis zu nehmen und dann zu prüfen: Ist die eine Ontologie die Wahrheit, die andere dagegen die Unwahrheit? Oder handelt es sich um zwei gleichberechtigte Beschreibungen, von denen bald die eine, bald die andere zum Einsatz kommt? Angesichts dieser Fragen ist als erster wichtiger Gesichtspunkt hervorzuheben, dass Bergsons Prozessontologie die Dingontologie immer dann bekämpft, wenn diese als unbewusste Ontologie 82 auftritt. Selbstverständlich beginnt die Auseinandersetzung damit, dass die unbewussten Voraussetzungen der Gegenseite bewusst gemacht werden. Dabei bleibt es aber meist nicht, weil die unbewusste Metaphysik in der Regel dann auffällt, wenn sie etwas, was nicht in ihr Kategoriensystem passt, als a priori unmöglich ausgibt. In solchen Fällen ist zu zeigen, dass die Dingontologie unbewusst die Grenzen ihres Geltungsbereichs überschreitet, und es sind die unberechtigten Geltungsansprüche zurückzuweisen. Anders verhält es sich, wenn die Dingontologie als bewusste Ontologie auftritt und innerhalb der Grenzen ihres Geltungsbereichs bleibt. Wir haben in Kapitel 3 Bergsons Denkweg im Hinblick auf diese Frage nachvollzogen, der ihn von grundsätzlichem Misstrauen (Essai sur les données immédiates de la conscience) zu der Auffassung führte, dass die Dingontologie »an irgendetwas Absolutes rührt« (L’évolution créatrice), weil das Handeln des homo faber auf ihr beruht und »die Tat sich nicht im Irrealen bewegen kann« 83. So gesehen, wären Ding- und Prozessontologie zwei sich ergänzende Ontologien, deren eine die Welt der Dinge im Raum, die andere die lebendigen und geistigen Prozesse beschreibt. Aber Bergson begnügt sich mit dieser Gleichberechtigung nicht. Seiner Ansicht nach erweist sich die Prozessontologie als mächtiger, da sie das Entstehen einer Dingontologie erklären und die Dingontologie in sich aufnehmen kann, während dies in umgekehrter Richtung nicht möglich ist: Versteht die Prozessontologie das Seiende als Werdendes, so halten Dingontologie, praktisches Handeln und Naturwissenschaften den Prozess an einer bestimmten Stelle an und betrachten entweder ein einzelnes, »unveränderliches« Ding oder eine 82 83

Vgl. Abschnitt 3.2.4, S. 329. Vgl. Kap. 3, Anm. 46.

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aus mehreren Dingen bestehende Konstellation (simultanéité). Es ist dies freilich kein künstliches, nur imaginiertes Anhalten, sondern – und daher das Berühren eines »Absoluten« – eine Verlangsamung oder gar ein (temporärer) Stillstand in der Wirklichkeit selbst. Wie der Elan des einzelnen Menschen, so ist auch der Elan, der innerhalb von Gesellschaften oder in der Natur Prozesse in Gang bringt und trägt, ein endlicher, der immer wieder die Kraft verliert, auf Hindernisse stößt und ins Stocken gerät. Dass die Ontologie auch in diesem dritten speziellen Teil Fundamentalontologie ist, dass aber dieser Teil nicht, wie die beiden vorhergehenden, das Fundament für die Erkenntnistheorie (Methode), sondern dasjenige für die praktische Philosophie (Moral) liefert, ahnt man, wenn man die letzten Seiten von Les deux sources de la morale et de la religion liest: »Mit einem Schlage wird sich für die ganze Philosophie das Geheimnis der höchsten Verpflichtung enthüllen: Man hatte eine Reise begonnen, man hatte sie unterbrechen müssen; indem man sie wieder aufnimmt, tut man nichts anderes, als dass man weiter das will, was man schon wollte.« 84

6.2.3 Methode 6.2.3.1 Warum Methode? 6.2.3.1.1 Genie und Methode Im ersten Kapitel seines Buches über das Lachen gelangt Bergson bekanntlich zu der Auffassung, gelacht werde über komisches Verhalten, und komisch sei jedes Verhalten, das eine »Zerstreutheit«, d. h. fehlende »Aufmerksamkeit auf das Leben« erkennen lasse. Ironischerweise führt er aber, wenn er in Kapitel 3 den Künstler als Genie und als den am wenigsten lächerlichen Menschen auftreten lässt, dessen herausgehobenen Status auf eine »Zerstreutheit der Natur« zurück: »Aber von Zeit zu Zeit erzeugt die Natur – gleichsam aus Zerstreutheit – Seelen, die dem Leben distanzierter gegenüberstehen. Ich spreche nicht von jener gewollten, überlegten und systematischen Distanz, die das Werk der

Du même coup s’éclaircira pour toute philosophie le mystère de l’obligation suprême : un voyage avait été commencé, il avait fallu l’interrompre ; en reprenant sa route, on ne fait que vouloir encore ce qu’on voulait déjà. – DS 1241 | 333 | 243

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Reflexion und der Philosophie ist. Ich spreche von einer natürlichen, der Struktur der Sinne oder des Bewusstseins eingeborenen Distanz, die sich unmittelbar in einer irgendwie jungfräulichen Art zu sehen, zu hören oder zu denken äußert. Wenn diese Distanz vollständig wäre, wenn die Seele durch keine einzige Wahrnehmung mehr mit der Praxis verbunden wäre, dann wäre dies die Seele eines Künstlers, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat. […] Aber damit verlangt man zu viel von der Natur. Selbst für diejenigen von uns, die sie als Künstler geschaffen hat, hat sie den Schleier nur zufällig und an einer einzigen Stelle angehoben. […] Daher, von allem Anfang an, die Verschiedenheit der Künste.« 85

Ein Genie ist – so muss man es wohl sagen – das Ergebnis einer Schlamperei der Natur. Sie hat sich dafür entschieden, dem Menschen (als Art) die Intelligenz zu verleihen, ihn so zum homo faber zu machen, der, statt in eine fertig geformte Umwelt nahtlos eingefügt zu sein, sich seine Umwelt selbst schafft, und sie hat konsequenterweise alle Sinnes- und alle Bewegungsorgane des Menschen der Intelligenz unterstellt, damit einerseits Wahrnehmung und Erkenntnis, andererseits Veränderung des Gegebenen möglich sind. Beim Hervorbringen menschlicher Individuen aber vergisst die Natur gelegentlich, die erforderliche Verbindung zwischen einem Sinnesorgan und der Intelligenz herzustellen. Wenn dies geschieht, behält das betreffende Sinnesorgan seine eigentümlich »jungfräuliche« – und das heißt: nicht verdinglichende, nicht nur den praktischen Nutzen suchende – Weise der Wahrnehmung von Wirklichkeit, und der Mensch, dem es gehört, wird zu einem Künstler. Diese Ironie im Hinblick auf die Menschen schaffende Natur geht einher mit einem ambivalenten Lebensbegriff. Durch die fehlende Verknüpfung des Sinnesorgans mit der Intelligenz wird der Mensch »vom Leben abgelöst«, »aus dem Lebenszusammenhang herausgelöst«. Dieses Leben, in das der Künstler nicht so verstrickt ist wie andere Menschen, ist aber das praktische Leben des homo faber, und wenn er, vom Standpunkt dieses Lebens Mais de loin en loin, par distraction, la nature suscite des âmes plus détachées de la vie. Je ne parle pas de ce détachement voulu, raisonné, systématique, qui est œuvre de réflexion et de philosophie. Je parle d’un détachement naturel, inné à la structure du sens ou de la conscience, et qui se manifeste tout de suite par une manière virginale, en quelque sorte, de voir, d’entendre ou de penser. Si ce détachement était complet, si l’âme n’adhérait plus à l’action par aucune de ses perceptions, elle serait l’âme d’un artiste comme le monde n’en a point vu encore. […] Mais c’est trop demander à la nature. Pour ceux mêmes d’entre nous qu’elle a faits artistes, c’est accidentellement, et d’un seul côté, qu’elle a soulevé le voile. […] De là, à l’origine, la diversité des arts. – R 461 | 118 f. | 104

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aus gesehen, auch im Abseits steht, so hat er doch gerade deshalb Zugang zu einem anderen, vielleicht wahreren Leben. Zumindest an der Stelle, an der die Natur unaufmerksam war, siebt er seine Erfahrung nicht mit jenem Raster, das nur Nützliches festhält und alles Übrige entgleiten lässt, sondern erfasst das Leben im Lebendigen. Dieser kleine ironische Mythos ist Ausdruck für Bergsons gebrochenes Verhältnis zum Geniebegriff. Mit den Genietheoretikern des 18. und 19. Jahrhunderts hält er es für ausgemacht, dass es Menschen gibt, die sich durch besondere Begabungen von der Masse der Durchschnittsmenschen abheben. Er hält es für töricht, die Wirklichkeit auf das zu beschränken, was jeder sehen, hören und machen kann. Zugleich aber ist er der Ansicht, dass solche Menschen seltene Ausnahmen darstellen und dass man sich mit der Auskunft, nur wenige Privilegierte hätten Zugang zu lebendiger Erfahrung und wahrem Leben, nicht zufriedengeben kann. Bergson geht nicht so weit wie Gadamer. Er spricht nicht von einer »Geniedämmerung«. Aber er stellt fest: Wir alle – der sprechende oder schreibende Philosoph Henri Bergson ebenso wie seine Zuhörer oder Leser – sind jedenfalls keine Genies. Auf dieser Basis kann man sich vermutlich auch mit Gadamer verständigen. Das ist, so kann man sagen, das Elend der Philosophie: Der Philosoph ist kein Genie. Er ist ein Mensch wie jeder andere auch. Die Natur hat, als sie ihn schuf, sorgfältig gearbeitet, keine einzige Verbindung vergessen, und deshalb ist er ein lupenreiner homo faber, ein durch und durch von der Intelligenz beherrschter Mensch. Weil aber die menschliche Intelligenz sich aus einem umfassenderen, undifferenzierten Bewusstsein herausentwickelt hat, verfügt er – wie jeder Mensch – zumindest über die Ahnung eines anderen Verhältnisses zur Wirklichkeit. Er kann diese Ahnung ernstnehmen, er kann ihr sein Interesse zuwenden, und er kann dann mit den Mitteln arbeiten, die ihm die Intelligenz zur Verfügung stellt: Er kann suchen, forschen und schaffen. Das ist der Glanz der Philosophie: Der Philosoph kann eine Methode ersinnen, die es ihm ermöglicht, sich langsam zu jener Perspektive vorzuarbeiten, über die das künstlerische oder mystische Genie immer schon von Natur aus verfügt. Und weil das, was der Philosoph ersinnt, eine mit den Mitteln der Intelligenz operierende Methode ist, steht sie nicht nur ihm selbst, sondern allen Menschen zur Verfügung:

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»Nun wohl, was die Natur hin und wieder sozusagen aus Zerstreuung für einige privilegierte Menschen tut, könnte das nicht die Philosophie, wenn auch in anderem Sinne und auf andere Weise, für alle tun?« 86 »Der Mystiker, werden Sie sagen, das ist doch ein privilegierter Mensch. Gewiss, die großen Mystiker sind Genies. Aber das, was wir Methode nennen, ist gerade eine Weise, das Genie zum Teil zu ersetzen.« 87

Dass der Mensch, von der verdinglichenden Erkenntnis unbefriedigt, sich einen anderen, unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit wünscht, dass aber die Philosophie zwar einen anderen, nicht jedoch einen unmittelbaren, sondern nur einen vermittelten Zugang anzubieten vermag – das ist ein Topos, seit Platon den Sokrates von einer »Flucht in die λόγοι« als »zweitbester Fahrt« 88 sprechen ließ. Bergson reiht sich in diese Tradition ein. Er ist der Ansicht, dass die Dauer als andere, ja als wahre Wirklichkeit anzusehen ist. Er ist auch davon überzeugt, dass es einen unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit der Dauer gibt: Der tierische Instinkt gewährt einen solchen Zugang, ebenso – wenn auch in beschränktem Umfang – die künstlerische oder mystische Intuition. Aber der Mensch ist kein Tier, und die meisten Menschen sind weder künstlerische noch mystische Genies. Künstlern und Mystikern ist eine »natürliche Distanz« zur verdinglichenden Sicht der Wirklichkeit gegeben; allen anderen Menschen steht die »gewollte, überlegte und systematische«, kurz: die methodisch erzeugte Distanz, die die Philosophie anzubieten hat, als »zweitbeste Fahrt« zur Verfügung. Die ästhetische und die philosophische Intuition unterscheiden sich also nicht nur dadurch, dass – wie in Abschnitt 6.1.5 gezeigt – erstere auf ein Individuelles, letztere dagegen auf ein Allgemeines zielt. Sie sind auch – und vielleicht vor allem – deshalb verschieden geartet, weil die ästhetische Intuition einer naturwüchsigen Begabung, die philosophische Intuition dagegen einer methodischen Anstrengung entspringt. Das haben bereits die gründlichen unter den

Eh bien, ce que la nature fait de loin en loin, par distraction, pour quelques privilégiés, la philosophie, en pareille matière, ne pourrait-elle pas le tenter, dans un autre sens et d’une autre manière, pour tout le monde ? – PM 1373 | 153 | 158 87 Le mystique, direz-vous, c’est un homme privilégié. Certes, les grands mystiques sont des génies ; mais ce que nous appelons méthode, c’est précisément la manière de remplacer partiellement le génie […]. – Mél. 1201 | Écr. 489 88 Phaidon 99c 86

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frühen Lesern und Interpreten erkannt, wenn sie auch der Ansicht waren, dass Bergson den Unterschied nicht immer mit der wünschenswerten Klarheit herausgearbeitet hat. 89 Gleichwohl bleiben naturhaft-geniale und methodisch erzeugte Intuition aufeinander bezogen. Ganz am Anfang bezeugen Instinkt, Kunst und Mystik, dass eine vom Weltbild der Intelligenz verschiedene Sicht auf die Wirklichkeit möglich, d. h. keine Illusion ist. Sie ermutigen so die Philosophie, sich auf das Projekt »Philosophische Intuition als Methode« überhaupt einzulassen. Später liefert die Phänomenologie der vorphilosophischen Verstehensleistungen das Material, dessen Klärung die Ausarbeitung eines allgemeinen Verstehensbegriffs sowie eine rudimentäre Ontologie ermöglicht. Der Philosoph soll die Hinweise der traditionellen Metaphysik und der Mystik ebenso aufnehmen wie die Erkenntnisleistung des Instinkts. Schließlich aber bleibt die im Zirkel voranschreitende Kooperation von Genie und Methode, von Instinkt und Intelligenz, von Schau und diskursiver Rekonstruktion das Grundmuster der hermeneutischen Philosophie und begründet gerade ihre Hermeneutizität. 6.2.3.1.2 Intuition und Methode Wenn ich diesen Abschnitt über den erkenntnistheoretischen Teil von Bergsons hermeneutischer Philosophie unter den Titel »Methode« stelle, so ist also der wichtigste Grund dafür die Tatsache, dass Bergson selbst von einer Methode der Philosophie spricht und die philosophische Intuition als diese Methode ansieht: »Diese Untersuchungen über den Begriff der Dauer erschienen uns entscheidend. Schritt für Schritt ließen sie uns die Intuition auf das Niveau einer philosophischen Methode erheben.« 90

Der zweite Grund ist jener Paukenschlag, mit dem Gilles Deleuze 1966 alle Leser, die von Bergson als einem Philosophen der Unmittelbarkeit träumten, aus ihrem dogmatischen Schlummer aufschreckte: »Die Intuition ist die Methode des Bergsonismus. Die Intuition ist kein Gefühl, keine Inspiration und auch keine verworrene Sympathie, sondern sie ist eine ausgearbeitete Methode, ja eine der höchstentwickelten Metho-

Høffding[1916] 50 f.; Husson[1947] 13, 27 et passim. Ces considérations sur la durée nous paraissaient décisives. De degré en degré, elles nous firent ériger l’intuition en méthode philosophique. – PM 1271 | 25 | 42 – Meine Übersetzung orientiert sich an der englischen von Mabelle L. Andison.

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den der Philosophie. Sie verfügt über strenge Regeln, die die Grundlage für das bilden, was Bergson ›Präzision‹ in der Philosophie nennt.« 91

Deleuze ist einer jener Klassiker der Bergson-Forschung, die der Ansicht waren, dass die Bemühung um ein Verstehen von Bergsons Philosophie in erster Linie eine Bemühung um das Verständnis seiner Methode sein muss. Für die vergangenen 50 Jahre gilt zugleich, dass er aufgrund der Konsequenz, ja Radikalität, mit der er die Intentionen seiner Vorgänger aufgenommen und weitergedacht hat, der wirkmächtigste unter diesen Klassikern ist. Wenn es gilt, Bergsons Methode zu charakterisieren, dann werden oft 92 – mitunter in leicht modifizierter Form und fast immer ohne expliziten Verweis auf den Urheber – die von Deleuze formulierten Schritte oder Regeln angeführt: »Erste Regel: Das Wahrheitskriterium in die Probleme selbst hineinverlegen, falsche Probleme dingfest machen, Wahrheit und Erzeugung auf der Ebene der Probleme miteinander versöhnen.« »Zweite Regel: Gegen den Schein ankämpfen, die wahren Wesensunterschiede oder die natürlichen Artikulationen des Wirklichen wiederfinden.« »Dritte Regel: Die Probleme eher in ihrem Bezug zur Zeit als in demjenigen zum Raum stellen und lösen.« 93

Bergson selbst pflegte Derartiges als »pharmazeutische Rezeptur« 94 zu bezeichnen. Aber war es dies, was ihm vorschwebte, wenn er von »Methode« sprach? Hat er nicht stets vermieden, eine »Rezeptur«, eine Sequenz »strenger Regeln« zu formulieren? Mir scheint, dass sich der ambivalente Eindruck, der sich bei der Deleuze-Lektüre einstellt, folgendermaßen erklären lässt: Auf der einen Seite treffen sämtliche von Deleuze formulierte Regeln etwas Wahres, für Bergsons Vorgehensweise Zentrales. Auf der anderen Seite aber ist das Regelwerk zu »cartesianisch«, zu intellektualistisch. Es beschreibt den Beitrag der philosophischen Reflexion, verschweigt oder leugnet aber, dass in Bergsons Ansatz noch andere für eine erkenntnistheoretische Grundlegung wesentliche Aspekte vorkommen. Solche Aspekte findet man nicht nur in Bergsons eigenen Texten, Deleuze[1989a] 23 | Deleuze[2008] 1 Ich nenne hier beispielhaft Lawlor[2013], Abschnitt (3) The method of intuition, sowie Ricœur[2004] 659. 93 Deleuze[1989a] 25,34,45 | Deleuze[2008] 3,11,22 94 formule pharmaceutique – R 438 | 82 | 73 91 92

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sondern auch in den von anderen Autoren (vor ebenso wie nach Deleuze) vorgelegten Interpretationen. Ich führe, ohne Vollständigkeit anzustreben, vier mir wichtig erscheinende auf: • Schon Vladimir Jankélévitch hatte sein 1931 veröffentlichtes Bergson-Buch mit einem für den Sinn von Methode relevanten Paukenschlag eröffnet: »Der Bergsonismus ist eine jener seltenen Philosophien, in denen die Theorie der Forschung mit der Forschung selbst verschmilzt und jene Art von reflexiver Spaltung, die Gnoseologien, Propädeutiken und Methoden erzeugt, ausschließt. Auch von Bergsons Denken kann man in gewissem Sinne sagen, was man vom Spinozismus gesagt hat: dass es nämlich für ihn keine substantiell und bewusst vom Nachdenken über die Sachen verschiedene Methode gibt, dass die Methode vielmehr diesem Nachdenken immanent ist und gewissermaßen seinen allgemeinen Stil (allure) umreißt.« 95

Dass man es hier mit einem für Bergsons Denken wesentlichen Aspekt zu tun hat, lässt sich leicht zeigen: Jankélévitch wendet ja nur ins Positive, was uns als Bergsons Skepsis gegenüber jeder vor der Beschäftigung mit der Sache bereits fertig vorliegenden Erkenntnis- und Methodenlehre bereits bekannt ist. 96 Die Methode ist seiner Ansicht nach kein der Untersuchung vorgegebenes Regelwerk. Sie entsteht im Rahmen der Untersuchung, sie entwickelt und verändert sich zusammen mit den Sachergebnissen. Im Untertitel seines Buches charakterisiert Günter Pflug Bergsons Philosophie als »induktive Metaphysik« 97. Diese Formel soll auf die Kombination von, aber auch die Spannung zwischen empirischer Forschung und Geistmetaphysik hinweisen. Die entscheidende Rolle der Empirie ist demnach ein weiterer wichtiger Aspekt von Bergsons Forschungs- und Darstellungsweise. Sie zeigt sich nicht nur, wenn Bergson den Anspruch erhebt, die »wahre Metaphysik« sei der »wahre Empirismus« 98, sondern auch, wenn er den Dialog zwischen Philosophie und Wissenschaften fordert, um das geistlose Faktensammeln der Wissen-



95 96 97 98

Jankélévitch[1999] 5 Vgl. Kap. 1, Anm. 116. Pflug[1959] Vgl. Kap. 4, Anm. 211.

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schaft ebenso zu beenden wie das unergiebige Begriffsgezänk der Philosophen: »Wir hätten zu Beginn unserer Untersuchungen nicht geglaubt, dass irgendein Zusammenhang bestehen könne zwischen der Analyse des Gedächtnisses und den Fragen, die zwischen Realisten und Idealisten oder zwischen Mechanisten und Dynamisten über Existenz oder Wesen der Materie im Schwange sind. Und doch ist dieser Zusammenhang wirklich, ja er ist innig, und wenn man sich das klar vor Augen hält, so sieht man ein metaphysisches Hauptproblem auf das Gebiet der Beobachtung verpflanzt, wo es fortschreitend gelöst werden kann, anstatt dass es dem ewigen Streit der Schulen auf dem eingehegten Felde der reinen Dialektik immer neue Nahrung gibt.« 99



Man wird nicht behaupten wollen, dass es in dem von Deleuze formulierten Methodenkonzept gar keinen Platz für Empirie gibt. Aber man wird sagen müssen, dass sein Konzept diesen Platz auch nicht bestimmt, die Rolle der Empirie im Ganzen des philosophischen Verfahrens nicht klärt. Und man wird hinzufügen, dass eine solche Klärung für die Rekonstruktion von Bergsons erkenntnistheoretischer Grundlegung unverzichtbar ist. Camille Riquier gehört zu denjenigen unter den neueren Interpreten, die die von Deleuze vorgetragenen Thesen gründlich, und wo nötig auch kritisch überdenken. Er macht auf Feinheiten aufmerksam, wie etwa den Unterschied zwischen Bergson, der die Intuition »zur Methode« (en méthode) entwickeln wollte, und Deleuze, der die Intuition »als Methode« (comme méthode) ansieht. 100 Aber er meldet auch ganz grundsätzliche Zweifel an: »Denn genau genommen: Entweder hat man eine Intuition, und dann braucht man keine Methode; oder aber man folgt einer Methode, aber das liegt dann daran, dass man die Intuition nicht hat, die uns diese Mühe erspart haben würde.« 101

Nous n’aurions pas cru, au début de nos recherches, qu’il pût y avoir une connexion quelconque entre l’analyse du souvenir et les questions qui s’agitent entre réalistes et idéalistes, ou entre mécanistes et dynamistes, au sujet de l’existence ou de l’essence de la matière. Pourtant cette connexion est réelle : elle est même intime ; et, si l’on en tient compte, un problème métaphysique capital se trouve transporté sur le terrain de l’observation, où il pourra être résolu progressivement, au lieu d’alimenter indéfiniment les disputes entre écoles dans le champ clos de la dialectique pure. – MM 167 | 8 f. | VII f. 100 Riquier[2009] 133 f. 101 Riquier[2009] 144 99

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In diesem Zusammenhang verweist Riquier auf einen wichtigen, obgleich zu Lebzeiten unveröffentlichten Vortrag, in dem Bergson seine Methode im Überblick darstellt. »Die philosophische Methode, wie ich sie mir vorstelle«, wird dort zerlegt in »zwei Momente« bzw. »zwei aufeinander folgende geistige Vollzüge«. 102 Als erster Schritt wird eben jene empirische Forschung gefordert, von der gerade die Rede war, und erst im zweiten Schritt tritt das auf, »was ich Intuition nenne«. Das steht völlig im Einklang mit anderen Texten wie etwa demjenigen, in dem Bergson zwischen Materialsammlung und leitender Idee unterscheidet. 103 Aber gerade dann stellt sich die Frage: Ist also die Intuition nicht doch so etwas wie »eine Inspiration« 104? Und ist die Methode nicht lediglich die Hinführung zu dieser Inspiration? Und da wir gerade bei dem von Deleuze Bestrittenen sind: Wie verhält es sich denn eigentlich mit dem, was Deleuze »verworrene Sympathie« nennt? 105 Dass die Intuition nicht einfach Sympathie ist, dass sie mit ihr nicht identisch ist – das war ja auch die These Lapoujades, die wir hier übernommen und produktiv genutzt haben. Nur: Die von Deleuze gezogene Konsequenz, dass lediglich die Intuition als Methode zu betrachten und von der Sympathie weiter nichts zu sagen ist, können wir uns hier nicht erlauben, wenn wir nicht alles dementieren wollen, was in Kapitel 5 erarbeitet wurde. Vielmehr haben wir einmal mehr Anlass, Lapoujade zu folgen. Dessen Versuch nämlich, die Eigenständigkeit von Sympathie sowohl wie von Intuition aufzuweisen, richtet sich von Anfang an gegen die Vorstellung, die Intuition begründe eine »strenge Methode«, während die Sympathie nur als »psychologisches Korrelat«, »Illustration« oder »pädagogische Konzession« zu bewerten sei. Da Lapoujade nun aber die These vom Methodencharakter der Intuition nicht bestreitet, nimmt seine Ausgangsfrage eine eingeschränktere und präzisere Form an:

102 Car la méthode philosophique, telle que je me la représente, comprend deux moments et implique deux démarches successives de l’esprit. – Mél. 1197 103 Vgl. Anm. 6. 104 Deleuze[1989a] 23 | Deleuze[2008] 1 105 A. a. O.

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»Wodurch unterscheidet [die Sympathie] sich von den ›Akten‹ der Intuition im eigentlichen Sinne? Hat sie einen besonderen methodologischen Status?« 106

Diese Beispiele dürften ausreichend erläutern, was die Formel von den bei Deleuze nicht berücksichtigten Aspekten der Erkenntnis bedeuten soll: Eine dem Buchstaben und dem Geist gerecht werdende Rekonstruktion von Bergsons erkenntnistheoretischer Grundlegung ist nicht möglich, ohne (mindestens) die Rolle der Empirie, der Inspiration und der Sympathie sowie die Bedeutung des historischen Wandels zu berücksichtigen. 6.2.3.1.3 Der Sinn von »Methode« Untersucht man Bergsons Gebrauch des Substantivs méthode, des Adjektivs méthodique und des Adverbs méthodiquement, um den Sinn dieser Worte zu klären, so ergibt sich ein Gesamteindruck, für den sich das Bild konzentrischer Kreise anbietet. Weit davon entfernt, präzise definiert zu sein, weisen diese Worte zunächst einen sehr weiten und unspezifischen Sinn auf, um dann in mehreren Schritten eine Eingrenzung zu erfahren, durch die jener speziellere Sinn entsteht, den die meisten Leser mit dem Wort »Methode« verbinden. Wie weit das Feld ist, in dem Bergson die Verwendung des Wortes »Methode« für angemessen hält, mögen zwei Textpassagen zeigen, in denen beinahe nichts mehr übrig ist von all dem, was man gemeinhin damit verbindet. Im ersten Beispiel geht es um die Voraussetzungen für die von Lebewesen ausgeführten Bewegungen: »Wenn wir untersuchen, wie ein lebender Körper verfährt, um Bewegungen auszuführen, so finden wir, dass seine Methode immer die gleiche ist. Sie besteht in der Benutzung gewisser Substanzen, die man Explosivstoffe nennen könnte und die – ähnlich dem Schießpulver – nur einen Funken brauchen, um zu explodieren. Ich meine die Nahrungsstoffe […].« 107 106 En quoi se distingue-t-elle des « actes » d’intuition proprement dits ? A-t-elle un statut méthodologique distinc ? – Lapoujade[2007] 430 = Lapoujade[2010] 54 – Hervorhebung von mir [C. K.]. – In der Version von 2010 fügt Lapoujade den Satz hinzu: Une telle question décide de la place et de la fonction de l’affect dans une méthode strictement philosophique. 107 Si nous cherchons, en effet, comment un corps vivant s’y prend pour exécuter des mouvements, nous trouvons que sa méthode est toujours la même. Elle consiste à utiliser certaines substances qu’on pourrait appeler explosives et qui, semblables à la poudre à canon, n’attendent qu’une étincelle pour détoner. Je veux parler des aliments […]. – ES 825 | 14 | 13

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Diese Beschreibung trifft gewiss auf Menschen zu, ebenso aber auch auf Tiere, mit Einschränkungen sogar auf Pflanzen sowie auf jene hypothetischen Wesen, die vor der Aufspaltung in Pflanzen und Tiere lebten. Und der Vorgang, der beschrieben wird – die Umwandlung von Nahrungsstoffen in Energie –, ist durchaus kein methodisch gesteuerter oder auch nur mit Bewusstsein vollzogener, sondern einer, der sich im Grenzbereich von Chemie und Biologie abspielt. Der einzige Umstand, der die Verwendung des Wortes »Methode« rechtfertigt, ist der, dass der Vollzug »immer der gleiche ist«. – Das zweite, nicht minder überraschende Beispiel konfrontiert uns mit der Amnesie, näherhin mit dem Vergessen von Worten. Bergson unterscheidet eine erste Form dieser Krankheit, in der der Verlust plötzlich eintritt und nicht vorhersagbare Erinnerungen betrifft, und eine zweite Form, in der er, mit wenigen Worten beginnend, immer weiter um sich greift: »In der zweiten verschwinden die Worte nach einer bestimmten methodischen und grammatikalischen Ordnung, und zwar jener Ordnung, die das Ribotsche Gesetz aufstellt […] Wie ist es zu erklären, dass die Amnesie hier einen methodischen Verlauf nimmt, mit den Eigennamen anfängt und mit den Verben aufhört?« 108

Gewiss, der Wortverlust tritt nur beim Menschen auf. Gleichwohl handelt es sich um einen Vorgang, der ein wesentliches Element menschlicher Rationalität (nämlich das Sprachvermögen) zerstört und der sich keinesfalls bewusst vollzieht. Trotzdem verwendet Bergson – und zwar mehrfach, gleichsam insistierend – das Adjektiv »methodisch«. Es bezieht sich auf den Umstand, dass man es mit einer immer gleichen, somit vorhersagbaren Abfolge von Schritten zu tun hat. In einem zweiten, engeren Kreis tritt das Wort »Methode« im Zusammenhang mit Betrachtungen über das menschliche Handeln auf. Dies ist ein Kontext, in dem die Rede von einer Methode schon weniger überrascht. Indessen bleibt immer noch genug Raum für Überraschendes, wie eine Textpassage zeigt, in der Bergson die Erziehung zum Leben in einer offenen mit derjenigen zum Leben in einer geschlossenen Gesellschaft vergleicht: 108 Dans la seconde, les mots suivent, pour disparaître, un ordre méthodique et grammatical, celui-là même qu’indique la loi de Ribot […] Comment expliquer que l’amnésie suive ici une marche méthodique, commençant par les noms propres et finissant par les verbes ? – MM 264 f. | 132 f. | 112 f.

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»In Wahrheit handelte es sich hier nicht mehr um eine bestimmte Weisheit, die ganz in Maximen zu formulieren wäre. Vielmehr wurde eine Richtung gewiesen, eine Methode gebracht, höchstens wurde ein Ziel bezeichnet, das nur vorläufig sein sollte und daher eine immer erneute Anstrengung erforderte. Diese Anstrengung musste notwendigerweise, bei einigen wenigstens, eine schöpferische Anstrengung sein. Die Methode bestand darin, das als möglich vorauszusetzen, was in einer gegebenen Gesellschaft tatsächlich unmöglich ist, sich vorzustellen, was für die soziale Seele daraus folgen würde, und dann durch Lehre und Beispiel etwas von diesem Seelenzustand einzuflößen. Die Wirkung, wenn sie erst einmal erzielt war, würde dann rückwirkend die Ursache vervollständigen.« 109

Im ersten Teil dieser Textpassage stellt Bergson einer Lehre, die den zu Belehrenden ein fertig ausgearbeitetes System von »Maximen« bietet, eine andere Lehre gegenüber, die sich darauf beschränkt, eine Richtung und ein provisorisches Ziel anzudeuten. Der Moment der Überraschung ist derjenige, in dem Bergson die Methode ins Spiel bringt, denn sie erscheint nicht, wie man erwarten könnte, auf der Seite des fertigen Regelwerks, sondern auf derjenigen der andeutenden Hinweise. Was aber soll das Wort »Methode« dann besagen? In der englischen Fassung wird als Übersetzung angeboten: There was rather a pointing of the way, a suggestion of the means; at most an indication of the goal […]. 110 Ich selbst möchte fast übersetzen: »Vielmehr wurde eine Richtung gewiesen, ein Weg aufgezeigt, […] ein [provisorisches] Ziel bezeichnet«. Wie auch immer man sich im Hinblick auf die Einzelheiten entscheiden mag – es ist charakteristisch für die dem zweiten Kreis zuzuordnenden Belege, dass sie an die ursprüngliche Wortbedeutung (μἐϑοδοϚ = »Weg«) erinnern. Dass aber wohl auch der Gedanke an die Mittel etwas Richtiges trifft, werde ich gleich zu zeigen versuchen.

109 A vrai dire, il ne s’agissait plus ici d’une sagesse définie, tout entière formulable en maximes. On indiquait plutôt une direction, on apportait une méthode ; tout au plus désignait-on une fin qui ne serait que provisoire et qui exigeait par conséquent un effort sans cesse renouvelé. Cet effort devait d’ailleurs nécessairement être, chez quelques-uns au moins, un effort de création. La méthode consistait à supposer possible ce qui est effectivement impossible dans une société donnée, a se représenter ce qui en résulterait pour l’âme sociale, et à induire alors quelque chose de cet état d’âme par la propagande et par l’exemple : l’effet, une fois obtenu, compléterait rétroactivement sa cause […]. – DS 1041 | 78 | 61 f. 110 The two Sources of Morality and Religion, translated by R. Ashley Audra and Cloudesley Brereton with the assistance of W. Horsfall Carter, London 1935, S. 62.

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Erinnern wir uns zuvor an die aus Jankélévitchs Bergson-Buch zitierten Sätze. 111 Sie schließen mit der Bemerkung, die Methode umreiße bei Bergson die allure générale. Ich habe das in der deutschen Übersetzung mit »Stil« widergegeben. Man kann sich angesichts des Wortes allure aber auch an das Wort attitude erinnert fühlen, das uns bereits mehrfach in wichtigen Zusammenhängen begegnet ist und das eine »Haltung« oder »Einstellung« bezeichnet. Der Zusammenhang wäre dann dieser: Wenn eine Richtung gewiesen und ein (sei es auch vorläufiges) Ziel bezeichnet wird und wenn all dies nicht völlig fruchtlos bleibt, dann wird der/die so Belehrte gleichsam »ausgerichtet«. Es ist dann zu erwarten, dass er/sie konsequent in die angegebene Richtung marschiert und dabei das Ziel im Auge behält. Dem Kern der zitierten Passage kommen wir, wie ich meine, noch näher, wenn wir auf eine Formel im zweiten Teil achten: »Die Methode bestand darin, das als möglich vorauszusetzen, was in einer gegebenen Gesellschaft tatsächlich unmöglich ist«. Sie gehört zu einem Typus, den wir seit unserer Untersuchung der Interpretationsphilosophie kennen: »Wie könnte man«, so hatte Bergson im Hinblick auf den Erfinder gefragt, »ein Problem anders lösen als so, dass man zunächst einmal annimmt, es sei schon gelöst?« 112 Und in der Tat ist auch jetzt wieder von der »schöpferischen Anstrengung« die Rede. Das bedeutet: Während die in Maximen verfügbare Weisheit das Handeln in geschlossenen Zirkeln begründet, befasst sich Methode, wie Bergson sie versteht, mit demjenigen Handeln, das aus den geschlossenen Zirkeln ausbricht und neue Handlungsmuster entwirft. Die Methode gehört ins Reich der offenen Zirkel. »Methode« bezeichnet das konsequente Ausgerichtet-Sein und -Bleiben im Hinblick auf die eingeschlagene Richtung und das vorläufige Ziel. Insofern ist die Methode in der Tat der Weg. Nun hatte unsere Rekonstruktion von Bergsons Konzept der Interpretation ergeben, dass der kreative Mensch den Weg zweimal zurücklegen muss: zuerst durch einen »Sprung« zum vorauseilenden Entwurf, danach durch »ein Bemühen, den Graben, den man übersprungen hat, auszufüllen und noch einmal zu dem gleichen Ziel zu gelangen, aber diesmal, indem man dem fortlaufenden Faden der Hilfsmittel folgt, die es realisieren würden«. 113 Das Methodische, das 111 112 113

Vgl. Anm. 95. Vgl. Kap. 4, Anm. 187. Vgl. Kap. 4, Anm. 189.

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Ausrichtung und Konsequenz Erfordernde, das, mithin, was im eigentlichen Sinne ein Weg genannt werden kann, ist dieses zweite, in langsamen Schritten und mit den geeigneten Mitteln erfolgende Überwinden der Distanz. Insofern kann man sagen, dass sich im methodisch-kreativen Schaffen neuer Verhaltensmuster »Weg« und »Hilfsmittel« verbinden. Von hier aus wird verständlich, wie es im dritten, den Sinn von »Methode« weiter präzisierenden Kreis – gleichsam einem fließenden Übergang zwischen dem vorwissenschaftlichen Handeln einerseits und andererseits der wissenschaftlichen bzw. philosophischen Forschung – dazu kommen kann, dass das Adjektiv méthodique und das Adverb méthodiquement – denn es handelt sich fast immer um diese, beinahe nie um das Substantiv – einen Sinn annehmen, den man mit den Worten »konsequent« oder »systematisch« widergeben kann: »Waren der Romanschreiber und der Moralist in dieser Richtung nicht viel weiter vorgedrungen als der Philosoph? Vielleicht – aber nur gelegentlich unter dem Druck der Not hatten jene das Hindernis genommen. Keinem war es noch eingefallen, methodisch ›auf die Suche nach der verlorenen Zeit‹ zu gehen.« 114 »Diese Umkehrung [der Denkrichtung] ist noch niemals in einer methodischen Art und Weise gehandhabt worden; aber eine tiefer eindringende Geschichte des menschlichen Denkens könnte zeigen, dass wir ihr alles verdanken, was die Wissenschaften Großes geleistet haben, wie auch das, was in der Metaphysik lebensfähig ist.« 115

Das Methodische des Herangehens an die Erfahrung äußert sich hier in zweierlei Weisen bzw. Richtungen: Auf der einen Seite wird alles, was in der Erfahrung von sich aus begegnet, konsequent auf jenen Gesichtspunkt bezogen, auf den der Erfahrende ausgerichtet ist. Die Erfahrung wird mithin aus jenem Gesichtspunkt betrachtet, auf ihn hin zentriert und interpretiert. Sie erscheint nicht als Sammelsurium von Tatsachen, sondern als Material zu einem bestimmten Thema. Auf der anderen Seite aber kann das systematische Herangehen an Le romancier et le moraliste ne s’étaient-ils pas avancés, dans cette direction, plus loin que le philosophe ? Peut-être ; mais c’était par endroits seulement, sous la pression de la nécessité, qu’ils avaient brisé l’obstacle ; aucun ne s’était encore avisé d’aller méthodiquement « à la recherche du temps perdu ». – PM 1268 | 20 | 38 115 Cette inversion n’a jamais été pratiquée d’une manière méthodique ; mais une histoire approfondie de la pensée humaine montrerait que nous lui devons ce qui s’est fait de plus grand dans les sciences, tout aussi bien que ce qu’il y a de viable en métaphysique. – PM 1422 | 214 | 214 114

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die Erfahrung auch Fehlendes aufdecken. Wer derart methodisch vorgeht, beschränkt sich nicht mehr darauf, das aufzuraffen, was sich zufällig darbietet, sondern macht sich auch auf die Suche nach Erfahrungen, Erinnerungen und Hilfsmitteln, die geeignet sind, erkannte Lücken zu schließen. Im vierten, innersten Kreis schließlich kommen die in Wissenschaft und Philosophie angewandten Methoden zur Sprache. Da dieser Kreis der engste, die Sache aber die wichtigste ist, herrscht hier erhebliches Gedränge. Filtern wir deshalb zunächst einmal zwei Gruppen von Belegen heraus, die meines Erachtens nicht den Kern der Sache betreffen. Die erste dieser Gruppen wird mit einer Überschrift wie »Die Methoden der Anderen« recht gut charakterisiert. Bergson verschweigt nicht, dass es in den Wissenschaften und in der Philosophie eine Vielzahl von Methoden gibt. Wir werden bald sehen, dass er diesen Umstand nicht für eine Katastrophe, ja bis zu einem gewissen Punkt für problemlos akzeptabel hält. Gleichwohl gehört zur Ausarbeitung einer eigenen Methode auch die Auseinandersetzung mit anderen, konkurrierenden Methoden. Stark vereinfacht, kann man sagen, dass sich seine Polemik gegen überzogene Geltungsansprüche der mechanistischen Methode in den Wissenschaften sowie gegen die syllogistische Methode in der Philosophie richtet. Die eine isoliert Dinge im Raum und akzeptiert nur das als wirklich, was beliebig oft und von jeder beliebigen Person im Experiment reproduzierbar ist. Die andere glaubt, aus einigen wenigen Begriffen oder gar nur einem einzigen Prinzip das System der Wirklichkeit deduzieren zu können. Die zweite Gruppe herauszufilternder Belege betrifft Bezeichnungen für verschiedene Aspekte oder Leistungen der Methode. Tritt ein einziger Aspekt stark in den Vordergrund, setzt Bergson auch in diesem Fall das Wort »Methode« ein. 116 Meist aber verwendet er Synonyme wie »Vorgehensweise«, »Verfahren« oder »Hilfsmittel«, um die einzelne Leistung von der Methode als ganzer zu unterscheiden. 117 Hat man diese beiden Gruppen von Belegen herausgefiltert, dann bleibt eine dritte, nunmehr gut überschaubare übrig, und in

méthode expérimentale – PM 1433 | 229 | 226 – méthode d’observation intérieure – ES 842 f. | 37 | 34 – méthode historique ou critique – ES 877 | 82 | 74 117 manière empirique de procéder – R 428 | 67 | 60 – procédés de recherche et de vérification – ES 862 | 63 | 57 – instrument de découverte – DSim 213 | 178 | – – mode d’expression et d’application – PM 1423 | 215 | 215 116

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dieser zeichnet sich deutlich eine Untergruppe von Textpassagen ab, die durch ein gemeinsames Argumentationsmuster verbunden sind: »Die mechanistische Erklärung konnte universal bleiben, insofern sie sich auf so viele Systeme hätte erstrecken können, wie man nur aus der Kontinuität des Universums herausschneiden wollte; aber der Mechanismus wäre doch solcherart eher zu einer Methode als zu einer Lehre geworden. Er hätte zum Ausdruck gebracht, dass die Wissenschaft nach dem kinematographischen Verfahren vorgehen muss, dass ihre Rolle darin besteht, den Rhythmus des Flusses der Dinge zu skandieren, nicht aber darin, sich in ihn hineinzuversetzen.« 118 »Die leitende Idee dieser Wissenschaft bestand darin, im Inneren des Universums Systeme materieller Punkte zu isolieren, so dass, wenn die Position eines jeden dieser Punkte zu einem gegebenen Moment bekannt war, man sie danach für jeden beliebigen Moment hätte berechnen können. Da im übrigen die so definierten Systeme die einzigen der neuen Wissenschaft zugänglichen waren, und da man nicht a priori sagen konnte, ob ein System den erwünschten Bedingungen genüge oder nicht, war es nützlich, immer und überall so vorzugehen, als ob die Bedingungen erfüllt wären. Das war eine vollkommen angemessene und so evidente methodologische Regel, dass es nicht einmal nötig war, sie zu formulieren. Schon der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass wir, wenn wir im Besitz eines wirkungsvollen Forschungsinstruments sind und die Grenzen seiner Anwendbarkeit nicht kennen, so tun sollten, als ob seine Anwendbarkeit keine Grenzen habe: Wir werden später immer noch Zeit haben, Abstriche zu machen. Doch muss für den Philosophen die Versuchung groß gewesen sein, diese Hoffnung oder vielmehr diesen Elan der neuen Wissenschaft zu hypostasieren und eine allgemeine Methodenregel in ein fundamentales Gesetz der Dinge umzuwandeln.« 119 118 Enfin l’explication mécanistique pouvait rester universelle en ce qu’elle se fût étendue à autant de systèmes qu’on aurait voulu en découper dans la continuité de l’univers ; mais le mécanisme devenait alors une méthode plutôt qu’une doctrine. Il exprimait que la science doit procéder à la manière cinématographique, que son rôle est de scander le rythme d’écoulement des choses et non pas de s’y insérer. – EC 788 | 346 | 349 119 L’idée inspiratrice de cette science était d’isoler, au sein de l’univers, des systèmes de points matériels tels que, la position de chacun de ces points étant connue à un moment donné, on pût la calculer ensuite pour n’importe quel moment. Comme d’ailleurs les systèmes ainsi définis étaient les seuls sur lesquels la nouvelle science eût prise, et comme on ne pouvait dire a priori si un système satisfaisait ou ne satisfaisait pas à la condition voulue, il était utile de procéder toujours et partout comme si la condition était réalisée. Il y avait là une règle méthodologique tout indiquée, et si évidente qu’il n’était même pas nécessaire de la formuler. Le simple bon sens nous dit, en effet, que lorsque nous sommes en possession d’un instrument efficace de recher-

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»Ist das Lebensphänomen, so fragten wir, in physikalische und chemische Tatsachen auflösbar? Wenn der Physiologe das behauptet, dann meint er damit – bewusst oder unbewusst –, dass es die Aufgabe der Physiologie sei, zu erforschen, was es an Physikalischem und Chemischem im Lebendigen gibt, dass dieser Forschung nicht im Voraus eine Grenze gesetzt werden kann, und dass er folglich so verfahren müsse, als ob der Forschung gar keine Grenze gesetzt sei: nur so wird man vorankommen. Er stellt also eine methodische Regel auf; er stellt nicht eine Tatsache fest.« 120

Ich habe diese Texte so ausführlich zitiert, weil sie mir klar anzuzeigen scheinen, was Bergson meint, wenn er von einer ernst zu nehmenden wissenschaftlichen oder philosophischen Methode spricht. Ich versuche, den Kern in einigen Stichworten zusammenzufassen: • Ontologische Intuition: Der Keim einer jeden Methode ist eine Ontologie. Dies ist das Ontologie und Methodenlehre miteinander verbindende Scharnier. Der Keim einer jeden Methode ist allerdings keine fertig ausgearbeitete ontologische Lehre, sondern eine ontologische Intuition. Im Falle der modernen Naturwissenschaft ist das die Intuition des homogenen Raumes, im Falle der Philosophie Bergsons die Intuition der reinen Dauer. • Ontologie als Interpretament: Die ontologische Intuition rückt nun an die Stelle, die ich zuvor (in Anlehnung an die Interpretationsphilosophie) als vorauseilenden Entwurf bezeichnet habe. Alle übrigen Merkmale aber bleiben erhalten. Dies gilt insbesondere für die konsequente und systematische Ausrichtung. Die gesamte Erfahrung wird auf die ontologische Intuition hin interpretiert. Eben dies heißt »Methode«. • Geltungsbereich: Nun kommt freilich ein Aspekt ins Spiel, den wir so weder aus der Texthermeneutik noch aus der Interpretationsphilosophie kennen. In der Texthermeneutik konnte eine che, et que nous ignorons les limites de son applicabilité, nous devons faire comme si cette applicabilité était sans limite : il sera toujours temps d’en rabattre. Mais la tentation devait être grande, pour le philosophe, d’hypostasier cette espérance ou plutôt cet élan de la nouvelle science, et de convertir une règle générale de méthode en loi fondamentale des choses. – EC 789 | 347 | 350 120 Le phénomène vital est-il résoluble, disions-nous, en faits physiques et chimiques ? Quand le physiologiste l’affirme, il entend par là, consciemment ou inconsciemment, que le rôle de la physiologie est de rechercher ce qu’il y a de physique et de chimique dans le vital, qu’on ne saurait assigner d’avance un terme à cette recherche, et que dès lors il faudra procéder comme si la recherche ne devait pas avoir de terme : ainsi seulement on ira de l’avant. Il pose donc une règle de méthode ; il n’énonce pas un fait. – DS 1069 f. | 115 f. | 87 f.

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Sinnhypothese sich als angemessen oder unangemessen erweisen. Die Interpretationsphilosophie rechnete damit, dass die Idee eines Erfinders sich letztlich doch als unausführbar erweist. Jetzt aber ist es mit solch einfachem Ja oder Nein nicht mehr getan. Bergson muss der Tatsache Rechnung tragen, dass es, wenn man ins Detail geht, eine Vielzahl von Methoden gibt, von denen sich jedenfalls die meisten als Zugang zur gesamten Wirklichkeit präsentieren. Will man nicht unterstellen, dass nur eine Methode angemessen und nur eine Ontologie richtig sein kann, dann kann man nur einerseits die Universalitätsansprüche zurückweisen und andererseits annehmen, dass die verschiedenen Ontologien/Methoden immerhin unterschiedliche Teilbereiche der Wirklichkeit erfassen. Damit aber stellt sich die Frage nach ihrem jeweiligen Geltungsbereich, näherhin diejenige nach den Grenzen dieser Geltungsbereiche. Als ob: Nun lassen sich die Grenzen dieser Geltungsbereiche aber nicht vorab festlegen. Sie lassen sich, mit anderen Worten, nicht aus irgendwelchen Prinzipien deduzieren, sondern nur empirisch ermitteln. Dies ist die systematische Stelle des in Bergsons Texten so häufig auftretenden comme si: Der Forscher kann angesichts der Ungewissheit, in der er sich befindet, nur so verfahren, als ob der Geltungsbereich der Methode keine Grenzen hätte, um sich, wann immer er empirisch auf eine Grenze stößt, zurückzuziehen. Mit anderen Worten: Eine Methode ist eine Ontologie in der Probezeit. Ontologische Doktrin: Daraus, dass die Ontologie sich anfangs in einer Erprobungsphase befindet und nur im Modus des »Als ob« eingesetzt werden kann, folgt allerdings nicht, dass die Probezeit irgendwann einmal zu Ende sein müsste. Eine vorzeitig, d. h. ohne empirische Verifikation über die Grenzen spekulierende oder diese gar leugnende Lehre bezeichnet Bergson als ontologische Doktrin. Diesen Doktrinen gilt seine Polemik, nicht aber den Methoden, die sich ihres vorläufigen Charakters bewusst sind. Gerade der Gegensatz von Doktrin (abgeschlossene Lehre) und Methode (offener Forschungsprozess) macht deutlich, worin für Bergson das Wesentliche der Methode besteht: Sie ist der Versuch, eine ontologische Intuition auf die gesamte Erfahrung anzuwenden – ein Versuch freilich, der damit rechnet, an Grenzen zu stoßen und diese akzeptieren zu müssen.

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6.2.3.2 Die Methode einer Hermeneutik der gemeinsamen menschlichen Welt 6.2.3.2.1 Das methodologische Grundproblem Im Gegensatz zu den zahlreichen »Methoden der Anderen« steht in Bergsons Texten das, was er selbst immer wieder »unsere Methode« nennt. Bevor wir darangehen, Näheres über diese Methode zu ermitteln, sollten wir uns fragen: Wer ist mit diesem »Uns«, diesem »Wir« gemeint? Selbstverständlich handelt es sich um Bergsons eigene Methode. Aber er schreibt über sie, weil er sie auch Anderen empfehlen möchte. An wen also wendet er sich? Gerade weil ich hier vorschlage, Bergsons Philosophie als eine hermeneutische zu lesen, scheint mir zunächst die Bemerkung wichtig: Seine Methode zielt nicht darauf ab, das Verstehen als solches genauer, zuverlässiger oder schneller zu machen. Bergson präsentiert keine hermeneutische Methodenlehre, und das »Uns« seiner Methode ist nicht die große Gruppe der Verstehenden oder Verstehen-Wollenden. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die vorphilosophischen Verstehensleistungen, die Bergson untersucht, ausnahmslos auch ohne methodologische Belehrung funktionieren. Gewiss, manche von ihnen lassen sich bewusst trainieren, und der Philosoph kann sich deshalb veranlasst sehen, pädagogische Reformvorschläge zu unterbreiten. Methodisch wichtiger ist aber ein anderer Aspekt: Wo immer ein vorrationales und vorsprachliches Verstehen mit der Intelligenz zusammentrifft und wo immer daraus nicht Kampf, sondern Kooperation entsteht, da tritt die vorrationale Verstehensleistung als Führerin auf und die Intelligenz lässt sich von ihr führen. »Man hat nicht genug beachtet, wie gering die Tragweite der Deduktion in Psychologie und Geisteswissenschaften ist. […] Sehr bald schon muss man an den bon sens […] appellieren, um die deduzierten Konsequenzen zu modifizieren und sie den Windungen des Lebens gemäß zurechtzubiegen.« 121 »Es gibt Dinge, die einzig die Intelligenz zu suchen vermag, die sie jedoch für sich allein niemals finden wird. Diese Dinge finden könnte nur der Instinkt; er aber wird sie niemals suchen.« 122

121 122

Vgl. Kap. 5, Anm. 203. Vgl. Anm. 27.

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Bergsons Methode – oder vielmehr: die Methode, an der er unentwegt gearbeitet hat und die er seinen Lesern anbietet – ist vielmehr die Methode der Philosophie. Es ist dies freilich nicht die Methode der Philosophie überhaupt, sondern die Methode einer neuen Philosophie, die sich von derjenigen der philosophischen Tradition unterscheidet. 123 Es ist dies, wie ich weiterhin behaupten und plausibel machen möchte, die Methode einer hermeneutischen Philosophie, die es als ihre Aufgabe ansieht, eine Grundlegung des Verstehens zu liefern. Diese Philosophie kreist um zwei Kernfragen. Die erste Kernfrage kennen wir bereits. Es lohnt sich trotzdem, sie noch einmal, und diesmal unter Verwendung jener Stichworte, mit denen wir gerade das Wesen einer wissenschaftlichen oder philosophischen Methode umrissen haben, zu formulieren. • Der Keim einer jeden Methode ist eine ontologische Intuition. Wir kennen Bergsons Intuition: Es ist die Idee jener vom homogenen Raum, aber auch von der homogenen Zeit verschiedenen Mannigfaltigkeit, die er »wahre Dauer« nennt. • Die gesamte Erfahrung wird auf diese ontologische Intuition bezogen, d. h. von dieser her interpretiert. Das heißt: Bergson schlägt vor, in dem, was uns die Erfahrung darbietet, nicht nach Dingen, sondern nach Prozessen zu suchen. »Intuitiv denken heißt: in der Dauer denken.« 124 • Da es eine Vielzahl von Methoden gibt, ist der Geltungsbereich bzw. sind die Grenzen des Geltungsbereichs einer jeden Ontologie/Methode zu klären. Eben dies ist die erste Kernfrage, und wir haben bereits gehört, dass und wie Bergson sie stellt: »Die Intuition, von der wir sprechen, bezieht sich also vor allem auf die innere Dauer. […] Geht sie nicht noch weiter? Ist sie nur die Intuition unserer selbst?« 125 Mit anderen Worten: Gibt es Dauer nicht auch in der äußeren Wirklichkeit? Es ist dies die ontologische Kernfrage von Bergsons philosophischem Projekt. • Da sich die Grenzen des Geltungsbereichs nicht vorab feststellen lassen, muss der Forscher – hier: der Philosoph – so vorgehen, als 123 On ne renonce pas à l’ancienne méthode; mais on l’intègre dans une méthode plus générale, comme il arrive quand le dynamique résorbe en lui le statique, devenu un cas particulier. – DS 1025 | 58 | 47 124 Vgl. Anm. 3. 125 L’intuition dont nous parlons porte donc avant tout sur la durée intérieure. […] Ne va-t-elle pas plus loin ? N’est-elle que l’intuition de nous-mêmes ? – PM 1272 f. | 27 f. | 44 – Vgl. dazu Abschnitt 5.1.2, S. 562, und Abschnitt 6.2.2.3, S. 737.

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ob es keine Grenzen gäbe, d. h. als ob die Ontologie die gesamte Wirklichkeit beschreiben, die Methode die gesamte Wirklichkeit erfassen könnte. In der Tat geht Bergson so vor. Wir brauchen nur die Beschreibung der vom Physiologen angewandten Methode 126 ein wenig an Bergsons Fragestellung anzupassen, um eine erste, zwar noch sehr allgemeine, aber doch präzise Beschreibung seiner Methode zu gewinnen: Sind in der gesamten Wirklichkeit mit der inneren Dauer vergleichbare Prozesse zu finden? Wenn der Philosoph das behauptet, dann meint er, dass es die Aufgabe der Philosophie sei, zu erforschen, welche Dauern es in der Wirklichkeit gibt, dass dieser Forschung nicht im Voraus eine Grenze gesetzt werden kann, und dass er folglich so verfahren müsse, als ob ihr gar keine Grenze gesetzt sei. Er stellt also eine methodische Regel auf; er stellt nicht eine Tatsache fest. • Ein solches Vorgehen ist als Methode – und das heißt: als Forschungsprogramm – akzeptabel, nicht aber als ontologische Doktrin. Bergsons Insistieren darauf, dass jedes seiner Werke aus einem eigenständigen Forschungsprojekt, nicht aus der Übertragung früher gewonnener Ergebnisse auf ein neues Sachgebiet hervorgegangen ist, sowie seine generelle Polemik gegen die Bequemlichkeit des geradlinigen Schlussfolgerns 127 drücken die Weigerung aus, sich zu voreilig-allgemeinen Aussagen verleiten zu lassen. Das heißt nicht, dass er gar keine ontologischen Aussagen machen könnte oder wollte. Aber er will unterscheiden zwischen den Sachgebieten, die er untersucht, und denen, die er nicht untersucht hat: »Bis wohin reicht die Intuition? Sie allein wird es sagen können.« 128 Es könnte scheinen, als sei damit alles Wesentliche gesagt, haben wir doch gesehen, wie sich Bergsons ontologische Intuition unter Vermeidung einer voreiligen ontologischen Doktrin in eine philosophische Methode transformieren lässt. Nun habe ich allerdings Bergsons Frage, ob die Intuition mehr sein könne als die Intuition unserer inneren Erfahrung, ins Ontologische gewendet, indem ich sie reformuliert habe als die Frage, ob es nicht auch Dauern in der äußeren Wirklichkeit gibt. Das ist keine Verfälschung, wohl aber eine Vereinseitigung, denn neben dieser Frage stellt sich ja noch eine andere: 126 127 128

Vgl. Anm. 120. Vgl. Abschnitt 1.2.4, S. 81. Jusqu’où va l’intuition ? Elle seule pourra le dire. – PM 1292 | 50 | 65

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Gesetzt, es gebe diese anderen Dauern, könnten wir sie erfassen? Wären sie unserer Intuition zugänglich? Dies ist die eigentlich erkenntnistheoretische oder methodologische Kernfrage. Und es ist die schwierigere der beiden Fragen. In jener Periode, die durch Matière et mémoire und L’évolution créatrice begrenzt wird, kann man beobachten, wie die drei Begriffe Intuition, Sympathie und Methode, die alle drei bereits im Frühwerk auftreten, dort aber keine strategische Bedeutung haben, sich gemeinsam zu Zentralbegriffen des bergsonschen Philosophierens entwickeln. Das ist kein Zufall, sondern eine Koevolution im Sinne Bergsons, die angetrieben wird durch das Bestreben, den Geltungsbereich des Konzepts Dauer über die innere Erfahrung hinaus zu erweitern. Dieses Projekt freilich ist ständig vom Scheitern bedroht, denn in Bergsons Ansatz steckt ein Widerspruch, der kaum auflösbar scheint. David Lapoujade 129 weist nachdrücklich auf diesen Punkt hin: Auf der einen Seite durchquert die Intuition, die Bergson als philosophische Methode überhaupt etablieren will, das ganze Universum, erforscht den Bereich des Persönlichen ebenso wie den des Sozialen, den Bereich des Lebendigen wie den des Materiellen. Auf der anderen Seite aber bezeichnet Bergson die Intuition als »Betrachtung des Geistes durch den Geist«, präziser: als Betrachtung des menschlichen Geistes durch den menschlichen Geist, noch präziser: als Betrachtung des individuell-menschlichen Geistes durch eben diesen individuellmenschlichen Geist. Kann sich aber der individuell-menschliche Geist in einer Intuition nur auf sich selbst beziehen, dann gibt es keine direkte Intuition irgendeiner anderen Dauer als der jeweils eigenen. Selbst wenn die ontologische These, dass anderen Menschen, Gesellschaften oder der Natur eine Dauer zugesprochen werden kann, wahr sein sollte, so können doch diese Dauern jedenfalls als solche nicht in einer – wie auch immer gearteten – »Schau« erfasst werden. Bedenkt man diesen Widerspruch im Herzen seines Projekts, dann erscheint es nur recht und billig, dass Bergson kurz vor Ende des ersten Teils von Introduction à la métaphysique dem Leser einen Zwischenruf gestattet. Und es erscheint angemessen, dass er in diesem Zwischenruf, der sich an vergleichsweise lange Ausführungen über die Person als Dauer und die Intuition als Betrachtung dieser Dauer anschließt, eine gehörige Portion Skepsis mitschwingen lässt:

129

Lapoujade[2007] 431 = Lapoujade[2010] 55 f.

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»Wenn aber die Metaphysik durch Intuition vorgehen soll, wenn die Intuition die Beweglichkeit der Dauer zum Gegenstand hat, und wenn die Dauer von psychologischer Wesensart ist – beschränken wir dann den Philosophen nicht auf die ausschließliche Betrachtung seiner selbst?« 130

6.2.3.2.2 Philosophische Farbenlehre Weil die Frage nicht einem Informationsbedürfnis entspringt, sondern einem skeptischen Zweifel, präsentiert sich auch die Antwort nicht als sachliche Auskunft, sondern als Zurückweisung des Zweifels: »So zu reden, hieße, […] die einzigartige Natur der Dauer ebenso zu verkennen wie den wesentlich aktiven Charakter der metaphysischen Intuition. Es hieße, zu übersehen, dass einzig die Methode, von der wir sprechen, es erlaubt, über den Idealismus ebenso wie über den Realismus hinauszugelangen, die Existenz von uns untergeordneten wie auch übergeordneten, gleichwohl aber in einem gewissen Sinne uns innerlichen Gegenständen zu behaupten, diese Gegenstände problemlos miteinander koexistieren zu lassen und allmählich die Dunkelheiten zu zerstreuen, die die Analyse um die großen Probleme herum anhäuft.« 131

Es ist ein gewaltiger Anspruch, der hier verkündet wird: Die Intuition erlaubt es, über den Idealismus, den Realismus und den Streit zwischen beiden hinauszugelangen. Bei diesem Streit geht es um die Existenz der äußeren Wirklichkeit, wenn man so sprechen darf: um die Realität der Realität, oder vielmehr: um den Wirklichkeitsgehalt dessen, was wir als äußere Realität erfahren. Wie man sich ein solches Hinausgelangen vorzustellen hat, zeigt die Rede von den Gegenständen, die uns äußerlich und zugleich – wenn auch nur »in einem gewissen Sinne« – innerlich sind. Achten wir aber – wie es die Kürze von Bergsons Ausführungen erzwingt – genau auf seine Sprache, und achten wir insbesondere auf zwei Lücken. Zum einen: Bergson ver130 Mais si la métaphysique doit procéder par intuition, si l’intuition a pour objet la mobilité de la durée, et si la durée est d’essence psychologique, n’allons-nous pas enfermer le philosophe dans la contemplation exclusive de lui-même ? – PM 1416 | 206 | 207 131 Parler ainsi serait […] méconnaître la nature singulière de la durée, en même temps que le caractère essentiellement actif de l’intuition métaphysique. Ce serait ne pas voir que, seule, la méthode dont nous parlons permet de dépasser l’idéalisme aussi bien que le réalisme, d’affirmer l’existence d’objets inférieurs et supérieurs à nous, quoique cependant, en un certain sens, intérieurs à nous, de les faire coexister ensemble sans difficulté, de dissiper progressivement les obscurités que l’analyse accumule autour des grands problèmes. – PM 1416 | 206 f. | 207

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wendet zwar das Wort »innerlich« (intérieur), nicht aber das Wort »äußerlich« (extérieur). Dieses wird ersetzt durch das Wortpaar »untergeordnet« (inférieur) und übergeordnet (supérieur). Hier zeigt sich die zweite Lücke: Von gleichrangigen Gegenständen ist nicht die Rede. Was das näherhin bedeutet, wird etwas klarer, wenn Bergson fortfährt mit der Bemerkung, er wolle nun zeigen, »inwiefern die Intuition, von der wir sprechen, nicht ein einziger Akt, sondern eine unbegrenzte Folge von Akten ist, die zweifellos alle von der selben Gattung, aber doch in ihrer Art sehr verschieden sind, und inwiefern diese Mannigfaltigkeit von Akten allen Stufen des Seins entspricht.« 132

Ich habe diese Bemerkung bereits im Abschnitt über Bergsons Prozessontologie zitiert 133, und ich habe dort die ontologische These betont, dass es »Stufen des Seins« gibt, die näherhin als Kontinuum verschiedenartiger Dauern zu deuten sind. Zuvor – nämlich in der Vorstellung der Sympathie als menschliches Selbstverhältnis 134 – hatte ich bereits die erkenntnistheoretische These skizziert, dass jegliches Sympathisieren des menschlichen Individuums mit Anderen und Anderem darauf basiert, dass die je-eigene Dauer nicht homogen, sondern vielschichtig ist. Bergsons Ausführungen am Ende des ersten Teils von Introduction à la métaphysique zeigen, dass zwischen der Vielschichtigkeit der menschlichen Dauer und der Vielschichtigkeit des Seins ein enger, unauflösbarer Zusammenhang besteht. Diesen Zusammenhang hatte ich bisher ausgeblendet. Um genau diesen Zusammenhang muss es aber jetzt gehen, handelt es sich dabei doch um den Zusammenhang von Bergsons Ontologie und Bergsons Methode. Nun ist der Gedanke eines derartigen Zusammenhangs für den Autor der Introduction à la métaphysique fast so neu wie für uns. Bergson hatte zwar im dritten Kapitel von Matière et mémoire – anhand des Bildes vom auf der Spitze stehenden Kegel – eine Vielschichtigkeit des individuellen Seelenlebens konzipiert, und er hatte im vierten Kapitel den Gedanken einer durch verschiedenartige Dau-

132 […] comment l’intuition dont nous parlons n’est pas un acte unique, mais une série indéfinie d’actes, tous du même genre sans doute, mais chacun d’espèce très particulière, et comment cette diversité d’actes correspond à tous les degrés de l’être. – a. a. O. 133 Vgl. Anm. 79. 134 Vgl. Abschnitt 5.2.1, S. 569.

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ern konstituierten »Reihe der Wesen« erwogen, aber das war zu diesem Zeitpunkt, wie er selbst wusste, mehr »Imagination« als Resultat gründlicher Forschung. 135 Im Grunde ist Bergson – die vorsichtigen Formulierungen und die Kürze der Ausführungen zeigen es nur zu deutlich – in Introduction à la métaphysique noch nicht wesentlich über das Stadium der »Imagination« hinausgelangt. Das heißt: Er hat auch 1903 keine belastbarere ontologische Doktrin als 1896. Aber er hat gerade die Intuition als philosophische Methode eingeführt, und so stellt sich – in der neutralen Version – die Frage, was diese Methode zur Überführung der Imagination in ein gesichertes Wissen beizutragen vermag, bzw. – in der skeptischen Version – die Frage, ob man von einer Reflexion des Geistes auf sich selbst auch nur den kleinsten Beitrag zu einem derartigen Projekt erwarten darf. Bergson nimmt also noch einmal neu Anlauf, um seine These zu plausibilisieren. 136 Wie so oft, geht er dabei von einer Kritik der analytischen Methode aus. Diese zerlegt die Dauer zunächst in einzelne Punkte, um dann aus ihnen den Verlauf wieder zu rekonstruieren. Bergsons üblicher Einwand gegen dieses Verfahren lautet, dass man, wenn die Dauer einmal derart zerlegt ist, das Lebendige getötet, die Einheit des Verlaufs unwiederbringlich zerstört hat, weil sich die Vielzahl isolierter Punkte nicht mehr zu einem kontinuierlichen Ganzen verbinden lässt. Dieser Einwand klingt auch hier noch an, wenn die Synthese von abstrakter Vielheit und abstrakter Einheit als »geheimnisvoll« und »dunkel« bezeichnet wird, aber er nimmt alsbald eine andere Richtung: »Die Dauer wäre dann die ›Synthese‹ dieser Einheit und dieser Vielheit – eine geheimnisvolle Operation, bei der man nicht sieht, […] wie sie Nuancen oder Grade zulassen sollte. Für diese Hypothese gibt es nur, kann es

135 [Cette durée] n’est pas la nôtre, assurémen ; mais ce n’est pas davantage cette durée impersonnelle et homogène, la même pour tout et pour tous, qui s’écoulerait, indifférente et vide, en dehors de ce qui dure. […] En réalité, il n’y a pas un rythme unique de la durée ; on peut imaginer bien des rythmes différents, qui, plus lents ou plus rapides, mesureraient le degré de tension ou de relâchement des consciences, et, par là, fixeraient leurs places respectives dans la série des êtres. – MM 342 | 232 | 205 f. 136 Ich betrachte hier – wie schon am Ende des Abschnitts über die Prozessontologie – die Textpassage PM 1416–1419 | 206–211 | 207–211. Das, was ich als zweiten Anlauf (bzw. zweite Version der Entgegnung auf den skeptischen Einwurf) bezeichne, beginnt mit den Worten: Si je cherche à analyser la durée. Das, was ich als dritten Anlauf (bzw. dritte Version der Entgegnung) bezeichne, beginnt mit den Worten: Exprimons la même idée avec plus de précision.

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auch nur geben eine einzige Dauer, nämlich jene, in der unser Bewusstsein gewöhnlich arbeitet.« 137

Gesetzt also, das analytische Verfahren vermöchte aus der Vielzahl isolierter Punkte die Dauer zu synthetisieren, so hätte man sich das Ergebnis vorzustellen »wie einen Faden, der die Perlen einer Kette zusammenhält« 138. Ein solcher Faden kann die Perlen fester oder lockerer miteinander verbinden, er kann aber nicht gleichzeitig verschiedene Spannungsgrade aufweisen: Dies ist Bergsons neue Kritik an der aus Analyse und Synthese bestehenden Methode. Sie lässt erkennen, wie wichtig ihm jetzt die Vielschichtigkeit der Dauer ist. Aber warum eigentlich? Und mit welchem Recht die Kritik? Wir dürfen nicht nur, sondern wir müssen diese Fragen stellen, weil Bergson selbst zugesteht, dass »wir keinen logischen Grund finden würden, vielfache oder verschiedene Dauern anzunehmen« und dass »streng genommen keine Dauer außer der unseren existieren könnte«. 139 Das ist – einmal mehr – eine Absage an jegliche deduktive Methode in der Philosophie: Es gibt kein Prinzip, aus dem wir die Existenz verschiedener Dauern deduzieren könnten. Nun mussten wir freilich feststellen, dass auch die Intuition keinen direkten Zugang zu fremden Dauern hat. Somit ist dieser Weg ebenfalls ausgeschlossen. Aus welcher Quelle könnten dann aber als Stütze für Bergsons These geeignete Erkenntnisse stammen? Die Antwort auf unsere Nachfrage wird Verfechter eines an Deleuze orientierten Methodenbegriffes enttäuschen: Wir fühlen, dass es sich so verhält. Ich zitiere zunächst die zweite Version, danach einen Auszug aus der dritten Version von Bergsons Entgegnung auf den skeptischen Zweifel: »Wenn man dagegen, anstatt die Dauer analysieren zu wollen […], sich zunächst durch eine Anstrengung der Intuition in sie hineinversetzt, so hat man das Gefühl einer gewissen, genau bestimmten Spannung, deren Bestimmtheit wie eine aus einer Unendlichkeit von möglichen Dauern herausgegriffene erscheint. Von da an bemerkt man beliebig viele Dauern, alle La durée sera la « synthèse » de cette unité et de cette multiplicité, opération mystérieuse dont on ne voit pas, je le répète, comment elle comporterait des nuances ou des degrés. Dans cette hypothèse, il n’y a, il ne peut y avoir qu’une durée unique, celle où notre conscience opère habituellement. – PM 1416 f. | 207 | 208 138 comme un fil qui retiendrait ensemble les perles d’un collier – PM 1417 | 207 | 208 139 Certes, nous ne trouverons alors aucune raison logique de poser des durées multiples et diverses. À la rigueur il pourrait n’exister d’autre durée que la nôtre […]. – PM 1418 f. | 210 | 210 137

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sehr voneinander verschieden, obwohl jede von ihnen, auf Begriffe gebracht […], sich immer auf dieselbe unbestimmbare Kombination des Vielen und des Einen zurückführen lässt.« 140 »Streng genommen wäre es möglich, dass es keine andere Dauer als die unsere gäbe, wie es auch möglich wäre, dass es auf der Welt keine andere Farbe gäbe als – zum Beispiel – das Orange. Aber wie ein auf der Basis von Farben arbeitendes Bewusstsein, das innerlich mit dem Orange sympathisierte, statt es äußerlich wahrzunehmen, sich zwischen Rot und Gelb gestellt fühlen, vielleicht gar unterhalb dieser letzteren Farbe ein ganzes Spektrum erahnen würde, in das sich die vom Rot zum Gelb führende Kontinuität naturgemäß verlängert, so bringt uns die Intuition unserer Dauer, weit entfernt, uns – wie die reine Analyse – im Leeren hängen zu lassen, in Kontakt mit einer ganzen Kontinuität von Dauern, der wir – sei es abwärts, sei es aufwärts – zu folgen versuchen müssen. In beiden Fällen können wir uns durch eine immer gewaltsamere Anstrengung ins Unbegrenzte erweitern. In beiden Fällen gehen wir über uns selbst hinaus.« 141

Wie plausibel, wie nachvollziehbar, wie allgemeingültig kann ein solches Fühlen, ein solches Ahnen sein? Ruht hier nicht die gesamte Beweislast auf viel zu schwachen Schultern? Bergson kann diese Erfahrungen beim Leser nicht erzwingen. Aber er bietet das (didaktische) Bild des zwischen Rot und Gelb eingespannten Orange an, um klarzumachen, welche Art von Gefühl er meint, so dass der Leser zumindest prüfen kann, ob ihm ein derartiges Gefühl bekannt vorkommt. 140 Mais si, au lieu de prétendre analyser la durée […], on s’installe d’abord en elle par un effort d’intuition, on a le sentiment d’une certaine tension bien déterminée, dont la détermination même apparaît comme un choix entre une infinité de durées possibles. Dès lors on aperçoit des durées aussi nombreuses qu’on voudra, toutes très différentes les unes des autres, bien que chacune d’elles, réduite en concepts […] se ramène toujours à la même indéfinissable combinaison du multiple et de l’un. – PM 1417 | 208 | 208 – Hervorhebungen von mir [C. K.]. 141 À la rigueur il pourrait n’exister d’autre durée que la nôtre, comme il pourrait n’y avoir au monde d’autre couleur que l’orangé, par exemple. Mais de même qu’une conscience à base de couleur, qui sympathiserait intérieurement avec l’orangé au lieu de le percevoir extérieurement, se sentirait prise entre du rouge et du jaune, pressentirait même peut-être, au-dessous de cette dernière couleur, tout un spectre en lequel se prolonge naturellement la continuité qui va du rouge au jaune, ainsi l’intuition de notre durée, bien loin de nous laisser suspendus dans le vide comme ferait la pure analyse, nous met en contact avec toute une continuité de durées que nous devons essayer de suivre soit vers le bas, soit vers le hau : dans les deux cas nous pouvons nous dilater indéfiniment par un effort de plus en plus violent, dans les deux cas nous nous transcendons nous-mêmes. – PM 1419 | 210 | 210 – Hervorhebungen von mir [C. K.].

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6.2.3.2.3 Die Teilungsmethode Nun ist wohl das bei den meisten Lesern sich einstellende Gefühl erst einmal ungefähr dieses: Wenn es einen Preis zu verleihen gäbe für das unverständlichste unter den von Bergson verwendeten Bildern, dann wäre das Bild vom Sympathisieren mit der Farbe Orange ein aussichtsreicher Kandidat. Interpreten haben versucht, die Verständnisprobleme, die der Text bereitet, zu beseitigen, indem sie nach Parallelen Ausschau hielten. In der Tat hat man in anderen Werken Passagen gefunden, in denen Bergson ebenfalls mit der Konstellation Rot – Orange – Gelb operiert. 142 Allerdings stellte sich auch heraus, dass er in diesen Fällen das gleiche Bild als Illustration für verschiedene Thesen benutzt – ein Ergebnis, das die Interpreten, je nach Temperament, »frustrierend« 143 oder »amüsant« 144 fanden. Und dabei ist noch nicht einmal berücksichtigt, dass das Farbspektrum als didaktisches Bild bei Bergson nicht nur in Gestalt der hier erwähnten FarbTrilogie erscheint, sondern in einer Fülle von Varianten. So muss man nur einige Seiten weiterblättern, um auf eine andere Dreierkonstellation, nämlich das zwischen Weiß und Schwarz eingespannte Grau, zu stoßen. 145 Anderswo findet man Kombinationen von mehr als drei Farben (»alle Nuancen des Regenbogens«). 146 Und als Krönung dieser Farbenlehre breitet Bergson das gesamte Spektrum der sichtbaren Farben zwischen den Polen des unsichtbaren Infrarot und des unsichtbaren Ultraviolett aus. 147 Bergson hat – so müssen wir dieses Ergebnis doch wohl deuten – das Farbspektrum als ein ebenso faszinierendes wie erhellendes Bild empfunden. Leider überträgt sich das nicht unmittelbar auf seine Leser. Ich möchte deshalb hier einen anderen Weg gehen. Einer der zu Bergsons philosophischer Methodenlehre gehörenden Grundsätze besagt, dass ein Verfahren, das, wenn man es in allgemeinen Begriffen formuliert, unklar bleibt, an Deutlichkeit gewinnt, wenn es im Kontext eines konkreten Problems zum Einsatz kommt. 148 Statt also nach einem anderen (didaktischen) Bild zu suchen, schlage ich vor, ein

142 143 144 145 146 147 148

Vgl. dazu DS – | 499, Anm. 82 | – Moore(F)[1996] 92 DS – | 499, Anm. 82 | – PM 1430 | 224 | 223 PM 1455 | 259 f. | 251 f. Mél. 804 Vgl. Anm. 206.

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Beispiel für die Anwendung der »Teilungsmethode« – denn um diese handelt es sich hier letztlich – zu betrachten und die so gewonnenen Einsichten auf die allgemeinen Thesen von Introduction à la métaphysique sowie auf das Bild des Farbspektrums zurückzubeziehen. An geeigneten Beispielen besteht, da wir es mit einer von Bergson in allen Werken eingesetzten Methode zu tun haben, kein Mangel. Am einfachsten dürfte es aber sein, wenn wir uns einmal mehr auf die bereits in Kapitel 1 erörterte Texthermeneutik beziehen. Freilich geht es dabei nicht darum, die Hauptthesen von Bergsons Texthermeneutik einfach zu wiederholen. Vielmehr soll im Ausgang von diesen das Neuartige des hier zur Debatte stehenden Ansatzes herausgearbeitet werden. Das soll in vier Schritten geschehen. Schritt 1: Wir hatten in Kapitel 1 zunächst beobachtet, wie Bergson den Leser aus dem bloßen Vollzug des Lesens heraustreten und nach dem Sinn fragen, sodann verschiedene Stufen des Sinns erfassen lässt. Dabei waren die einzelnen Stufen als immer angemessenere Konzeptionen des Sinns erschienen. Später hatten wir beobachtet, wie das Nachlassen der Bemühung um den Sinn das sprachliche Material in den Vordergrund treten ließ: Der Text zerfiel zunächst in Sätze, dann in Worte, in Silben und schließlich in einzelne Laute. In der einen Richtung vereinfachte sich der Sinn immer weiter, um schließlich in der »unendlich einfachen« Intuition zu gipfeln. In der anderen Richtung vervielfachte sich das sprachliche Material, um schließlich in sinnlose Laute zu zersplittern. Von diesen Beobachtungen aus gelangen wir zu Bergsons neuem Modell, wenn wir (a) die verschiedenen Organisationsformen als gleichzeitig existierende Schichten auffassen und (b) die Bewertung der Schichten unterlassen. Tut man dies, dann erscheinen das bis zur Sinnlosigkeit zersplitterte Sprachmaterial und die absolute Einheit des Sinns als die in der Erfahrung nie auftretenden – und insofern mit dem Ultraviolett und dem Infrarot zu vergleichenden – Extreme, und zwischen diesen erscheint ein Spektrum sprachlicher Organisationsformen, in denen Material- und Sinnhaftigkeit sich verschiedenartig mischen. Das genügt eigentlich schon, um zu erkennen, was Bergson am Gleichnis des Farbspektrums so interessiert hat: Man kann – außer vielleicht beim Kleiderkauf – nicht sagen, dass das Rot »richtiger«, »angemessener« oder gar »wahrer« ist als das Gelb oder das Grün. Man kann nur sagen, dass die verschiedenen Farben sich durch unterschiedliche Wellenlängen auszeichnen. Solch unterschiedliche »Wellenlängen« – besser und näher an Bergsons Sprechweise: Spannungsbögen – lassen 774 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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sich nun aber auch bei den verschiedenen Organisationsformen oder Integrationsniveaus des Sprachlichen ausmachen: »Meine Gegenwart – das ist in diesem Augenblick der Satz, mit dessen Vortrag ich beschäftigt bin. Aber das ist so, weil es mir beliebt, das Feld meiner Aufmerksamkeit auf meinen Satz zu beschränken. Diese Aufmerksamkeit ist etwas, was man verlängern und verkürzen kann wie den Abstand zwischen den zwei Spitzen eines Zirkels.« 149

Alle beobachtbaren und unterscheidbaren Integrationsniveaus der sprachlichen Äußerung stellen Verschränkungen von Material und Sinn dar. Deshalb kann Bergson schreiben, dass, aus der Perspektive der analytischen Methode betrachtet, alle Stufen gleichermaßen als Kombinationen des Vielen und des Einen erscheinen. Sie unterscheiden sich lediglich im Hinblick auf die Integrationskraft: Auf der Stufe der Silben reicht der sinnstiftende Spannungsbogen nur vom Anfang bis zum Ende einer jeden Silbe, auf der Stufe der Worte vom Anfang bis zum Ende eines jeden Wortes, auf der Stufe der Sätze vom Anfang bis zum Ende eines jeden Satzes usw. Phänomenologisch – wenn man diesen Begriff im Zusammenhang mit Bergsons Philosophie verwenden will – erweisen sie sich trotzdem als »sehr voneinander verschieden«. Eine Untersuchung des Wortschatzes ist etwas anderes als eine Analyse der vom Autor herangezogenen Denkelemente oder eine Betrachtung des Leitbildes. Schritt 2: Obwohl es wichtig ist, die verschiedenen Integrationsniveaus herauszuheben, und obwohl es Texte gibt, die sich erst dann erschließen, wenn man mehrere Stufen gleichzeitig berücksichtigt und zueinander in Beziehung setzt, gilt es im Auge zu behalten, dass es sich um – oft nur virtuell oder implizit gegebene – Schichten eines einzigen, ganzheitlichen Sprechaktes handelt. In Bergsons Bild: Man darf über der Betrachtung der verschiedenen Farben nicht vergessen, dass sie aus der Zerlegung des weißen Lichts hervorgegangen sind. Und in Bergsons allgemeiner Begrifflichkeit: Die verschiedenartigen Dauern müssen als Schichten einer sie alle umgreifenden Dauer aufgefasst werden. Dieses Modell eines geschichteten Sinns kann man als hermeneutische Neuerung bezeichnen. Will man dies tun, so kann man hinzufügen, dass in Schritt 2 zusätzlich eine entscheidende ontologische Neuerung vollzogen wird.

149

Vgl. Kap. 4, Anm. 144.

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Dabei geht es darum, die Dauer – präziser: die dem weißen Licht entsprechende umgreifende Dauer – nicht mehr »im Inneren« des Menschen anzusiedeln, d. h. sie lediglich als Form des individuellen Bewusstseins aufzufassen, sondern sie »nach außen« zu verlegen, d. h. überindividuelle Dauern zu denken. Wir haben in Kapitel 5 bereits eine größere Zahl von Texten betrachtet, in denen Bergson überindividuelle Dauern (insbesondere Dauern von Gesellschaften) thematisiert. Wir haben auch bereits gesehen, wie Bergson das im Frühwerk leitende Bild eines heißen und flüssigen, aber von einer kalten und festen Kruste umgebenen Planeten transformiert in das Bild einer an sich festen, aber von einem flüssigen oder gasförmigen Saum umgebenen Kugel. 150 Es gilt nun, diese Beispiele und diese Wandlung des Leitbilds methodisch einzuholen, und das geschieht, indem die eigentlich maßgebliche Dauer als eine die Individuen umund übergreifende konzipiert wird. Versuchen wir wiederum, dies anhand der Texthermeneutik zu verstehen, so zeigt sich zunächst, dass uns der Aspekt des Überindividuellen nicht gänzlich fremd ist. Vorgegebene Denkelemente und sprachliches Material haben wir bereits in Kapitel 1 als vorpersönliche, der individuellen Ausdrucksbemühung vorausliegende Dimension thematisiert. Und wir haben auch festgestellt, dass die leitende Intuition eines Autors bei Bergson einen Doppelaspekt von persönlicher Intention und die Person übersteigendem Sinn aufweist. Man kann dies weiterdenken, wenn man Fälle betrachtet, in denen nicht nur ein einzelner Text, sondern etwa das Gesamtwerk eines Autors verstanden werden soll. Die Verstehensbemühung wird sich dann auf einen die einzelnen Werke übergreifenden, obschon immer noch individuellen Sinnzusammenhang richten. Mit einer wirklich überindividuellen Dauer haben wir es dagegen zu tun, wenn Bergson in der Introduction à la métaphysique schreibt: »Welches ist dieser latente Gedanke? Wie soll man dieses Gefühl ausdrücken? Wenn wir uns noch einmal der Sprache der Platoniker bedienen dürfen, dann möchten wir – indem wir den Worten ihren psychologischen Sinn nehmen und als »Idee« ein gewisses Vertrauen in die leichte Erkennbarkeit, als »Seele« aber eine gewisse Unruhe des Lebens bezeichnen – sagen, dass eine unsichtbare Strömung die moderne Philosophie dahin führt, die Seele über die Idee zu stellen.« 151 150 151

Vgl. Abschnitt 6.1.4, S. 711. Quelle est cette pensée latente ? Comment exprimer ce sentimen ? Pour emprunter

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Dieser »latente Gedanke«, diese »unsichtbare Strömung« durchzieht also nach Bergsons Auffassung die gesamte moderne Philosophie, vereint alle modernen Philosophen, schließt alle modernen Philosophien zu einem überindividuellen Projekt zusammen. Beeilen wir uns, dieser Feststellung zwei Anmerkungen hinzuzufügen. Zum einen: Überindividuelle, Sinn stiftende Tendenzen sind nach Bergsons Auffassung nicht nur im Bereich des menschlichen Zusammenlebens (Gesellschaft, Geschichte, Geistesgeschichte) anzutreffen, sondern auch im Bereich der Natur. Oder vielmehr: Die Wurzeln vieler – wenn nicht aller – den Menschen wirklich betreffenden »Lebensfragen« 152 reichen bis in die Natur, bis zu den ersten Anfängen des Lebens zurück. Dies ist zum Beispiel beim Problem des Verhältnisses von Individuum und umgreifender Ganzheit der Fall, für das zwar jede Gesellschaft eine Lösung finden muss, das sich aber schon in der Tier- und Pflanzenwelt stellt. Die Suche nach einer Individualität, die nicht nur ein Rädchen im großen Gesamtgetriebe, aber auch nicht nur ein isoliertes Einzelnes ist, ist demnach ein nicht nur die menschlichen Individuen und Gesellschaften, sondern sämtliche Arten und Gattungen des Lebendigen übergreifendes Projekt: »Schließen wir also, dass die Individualität niemals vollkommen ist, dass es oft schwierig, manchmal unmöglich ist, zu sagen, was Individuum ist und was es nicht ist, dass aber das Leben nichtsdestoweniger eine Suche nach der Individualität bekundet […].« 153

Zum anderen: Die Verlagerung der maßgeblichen Dauer in den Bereich des Überindividuellen dementiert nicht die These von der Existenz einer individuellen Dauer. Ohne die Anstrengungen der einzelnen Philosophen, denen der »latente Gedanke« mehr oder weniger bewusst sein kann, gibt es auch keine überindividuelle Tendenz. Hier deutet sich an, was es heißen kann, dass Bergsons Methodenlehre sich mit »uns untergeordneten wie auch übergeordneten, gleichwohl aber in einem gewissen Sinne uns innerlichen Gegenständen« zu befassen encore une fois aux platoniciens leur langage, nous dirons, en dépouillant les mots de leur sens psychologique, en appelant Idée une certaine assurance de facile intelligibilité et Ame une certaine inquiétude de vie, qu’un invisible courant porte la philosophie moderne à hausser l’Ame au-dessus de l’Idée. – PM 1426 | 219 | 219 152 Voilà des questions vitales, devant lesquelles nous nous placerions tout de suite si nous philosophions sans passer par les systèmes. – ES 815 | 2 | 2 153 Concluons donc que l’individualité n’est jamais parfaite, qu’il est souvent difficile, parfois impossible de dire ce qui est individu et ce qui ne l’est pas, mais que la vie n’en manifeste pas moins une recherche de l’individualité […]. – EC 506 | 14 f. | 21

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hat und dass es ihr gerade um die Klärung des Verhältnisses von innerer Erfahrung und äußerer Wirklichkeit, von individuellem Streben und überindividueller Tendenz geht. Schritt 3: Nach dem hermeneutischen und dem ontologischen folgt als dritter ein anthropologischer Schritt. Die »Stellung des Menschen im Kosmos« wird nun in Begriffen beschrieben, die sich vom Modell der geschichteten Dauer ableiten. In dem Maße, in dem Bergson immer konsequenter nach den umgreifenden Dauern fragt, gelangt er dazu, das Leben als die umfassendste Dauer anzusehen. Dieses Leben ist nicht dasjenige eines menschlichen Individuums, und es ist auch nicht – wie in Nietzsches Frage nach dem »Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben« – dasjenige menschlicher Gesellschaften. Es ist das Leben überhaupt; das Leben als Prinzip, das der Lebensphilosophie ihren Namen gegeben hat; das Leben als von einem ursprünglichen Impuls, einem Energiezentrum ausgehende Entwicklung, wie sie Bergson in L’évolution créatrice beschreibt. Und in dem Maße, in dem er Leben als Bewusstsein sowie die Evolution des Lebendigen als Realisierung des zunächst virtuell bleibenden Bewusstseins versteht, gelangt er dazu, das menschliche Bewusstsein als eine Schicht innerhalb dieser umgreifenden Dauer anzusehen. Darauf verweisen die Rede von der »Dauer, in der unser Bewusstsein gewöhnlich arbeitet« und die daran sich anschließende These, diese Dauer sei Bestandteil eines »Kontinuums« oder einer »Unendlichkeit« von Dauern. Zu der anthropologischen These, um die es hier geht, gehört die Feststellung, dass die dem Menschen eigentümliche Dauer innerhalb der im Leben angelegten Unendlichkeit verschiedenartiger Dauern eine mittlere Position einnimmt. Der Mensch – präziser: sein Bewusstsein – entspricht, um auf Bergsons Bild zurückzukommen, weder dem Rot noch dem Violett – und schon gar nicht dem Infrarot oder dem Ultraviolett. Man wird ihn irgendwo in der Mitte suchen: im Gebiet des Grün, des Gelb oder – wenn es hoch kommt – des Orange. Daraus folgt nun aber nicht, dass es Aufgabe der Philosophie wäre, die spezifisch menschliche Dauer säuberlich aus dem sie umgebenden Kontinuum herauszupräparieren und sie von anderen Dauern abzugrenzen. Ganz im Gegenteil: Die philosophische Anstrengung beginnt in dem Moment, in dem das, was gemeinhin homogen erscheint, sich als Mixtum erweist. Beim Suchen nach dem richtigen Wort oder dem Versuch, etwas mit anderen Worten noch einmal zu 778 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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sagen, wird man aufmerksam auf die Differenz zwischen Sinn und Sprachmaterial. Die Begegnung mit dem Komischen verweist auf einen Unterschied zwischen körpergesteuerten Gewohnheiten und bewusstem Handeln. Die Frage, was denn als moralisches Handeln zu gelten habe, erschließt den Unterschied zwischen dem Druck verpflichtender Normen und dem Streben nach einem Ideal. Und irgendwann stellt man vielleicht sogar verblüfft fest, dass die Farbe Orange sich in Rot und Gelb zerlegen lässt. Schritt 4: Wir kennen diese Phänomene längst. Wir haben sie in Kapitel 2 als »Risse in der Wirklichkeit« thematisiert und ihre Bedeutung für den Übergang vom Unbewussten zum Bewusstsein erörtert. Jetzt geht es um den vierten und letzten, den eigentlich methodologischen Schritt. Es geht darum, diese – eher einem glücklichen Zufall als systematischer Arbeit zu verdankenden – Risse aufzunehmen und sie methodisch konsequent zu erweitern. Wie man sich das vorzustellen hat, kann einmal mehr L’intuition philosophique zeigen: Ist alles erklärt, wenn wir die philosophische Rede als Mixtum von Denkelementen und Gedanken-Architektur beschreiben? Wäre es nicht angemessener, von einem Mixtum aus Sätzen und organischem Gesamtkonzept zu sprechen? Kann man den Zwischenraum nicht durch eine verstärkte Denkanstrengung erweitern, indem man Worte und Leitbild gegenüberstellt? Und muss man nicht letztlich Laute und Intuition als extreme Pole ansetzen? Charakteristisch für diese Methode ist der Umstand, dass Bergson nicht sagt: Wer wirklich mit dem Orange sympathisiert, der wird, wenn er Glück hat, irgendwann das Rot oder das Gelb, vielleicht aber auch das Grün oder das Blau entdecken. Bergson sagt vielmehr: Wer mit der Farbe Orange sympathisiert, der wird sich eingespannt fühlen, der wird sich in einer Zwischenposition fühlen zwischen Rot und Gelb. Die Entdeckung von bisher Unbekanntem oder Unbewusstem vollzieht sich gleichsam immer paarweise. Das ist so, weil die beiden äußersten im Moment gerade zugänglichen Grenzen – die »Grenze nach oben« und die »Grenze nach unten« – immer zusammengehören, weil es immer eine Entsprechung gibt zwischen einem »Gegenstand oberhalb« und einem »Gegenstand unterhalb von uns«. Man kann nicht den Sinn entdecken, aber das Sprachmaterial übersehen. Man kann nicht von der Freiheit des Geistes sprechen, ohne auf die Notwendigkeiten des Körpers aufmerksam zu werden. Man kann nicht den élan vital erfassen, aber die Materie ignorieren. Das ist Ausdehnung des Bewusstseins durch Vergröberung, Ver779 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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schärfung, Zuspitzung des Gegensatzes. Das ist bewusste Aneignung der normalerweise unbewusst bleibenden Schichten unseres Bewusstseins und anschließende Rekonstruktion der alltäglichen Erfahrung unter Verwendung der gewonnenen Extreme. Kurz: Das ist die von Deleuze und seinen Nachfolgern beschriebene »Teilungsmethode«, bei der es darum geht, »die Sphäre der Erfahrung auf die Bedingungen von Erfahrung hin zu überschreiten« 154 und dann »in einem aufgeschobenen Verstehen die zweideutigen und verworrenen Phänomene der alltäglichen Erfahrung als Mixta« zu rekonstruieren 155. Das ist aber auch die Implementierung dessen, was Paul Ricœur als Archäologie und Teleologie des Sinns bezeichnet hat. Bergson hat die Teilungsmethode zwar oft in der konkreten Anwendung vorgeführt, es aber stets vermieden, sie in einem Regelwerk zu formulieren, weil er befürchtete, die Regeln könnten zu schematisch klingen und dann gedankenlos angewandt werden. Trotzdem wird man Deleuze Recht geben müssen, wenn er schreibt, dass »alle anderen Unterscheidungen, alle anderen Begriffspaare« die »Generalunterscheidung von Dauer und Raum […] voraussetzen, von ihr abzuleiten sind oder auf sie abzielen«. 156 Nun treffen wir aber im Raum das Verfestigte und Erstarrte, das Vorpersönliche, das von anonymen Kräften Geschaffene an. Eine Hermeneutik des Gewordenen (in Bergsons Worten: eine Hermeneutik des tout fait) muss zwar nicht notwendigerweise eine »Hermeneutik des Verdachts«, aber sie muss eine Archäologie sein, die zu verstehen sucht, wie das Gewordene zu dem geworden ist, als das es uns jetzt begegnet und was sein Nutzen oder Nachteil für das Leben ist. Das geschieht in Les deux sources de la morale et de la religion paradigmatisch für die in geschlossenen Gesellschaften geltenden Normen, und es geschieht in L’évolution créatrice in eindrucksvoller Weise für die Denknormen der Intelligenz: »Die Intelligenz, die sich in ihr Prinzip auflöst, durchlebt in entgegengesetzter Richtung noch einmal ihr Werden.« 157

Die Archäologie ist gleichsam eine Hermeneutik im Rückwärtsgang. Sie verfolgt das Bestehende zurück bis zu dem Energiezentrum, aus Deleuze[1989a] 40 = Deleuze[2008] 17 Ricœur[2004] 659 156 Deleuze[1989a] 47 f. = Deleuze[2008] 23 157 L’intelligence, se résorbant dans son principe, revivra à rebours sa propre genèse. – EC 658 | 193 | 196 154 155

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dem es hervorgegangen ist, und verflüssigt es dabei zugleich. Sie macht es als kontingente und provisorische Gestalt sichtbar. Als Dauer dagegen kommt das Dynamische, Werdende, die Sinnintention, die nicht immer, aber oft eine persönliche ist, in den Blick. Wir begegnen ihr in Gestalt der unabgeschlossenen Evolution, der offenen Gesellschaft, der dynamischen Religion. Insofern das Verstehen (die Intuition) den Sinn als einen – jedenfalls teilweise – noch ausstehenden, im Bestehenden nur unvollkommen verwirklichten erfasst, konstituiert sie sich als Teleologie (im Sinne Ricœurs). Mit diesem Begriff ist kein Finalismus gemeint, sondern eine nach vorn, d. h in die Zukunft gerichtete Betrachtungsweise. Sie versucht das am Sinn zu erfassen, was über das Bestehende hinausreicht. 6.2.3.2.4 Die Zirkelbewegung zwischen Intuition und Sympathie Nun könnte man mit einem gewissen Recht sagen, dass die Teilungsmethode bzw. Archäologie/Teleologie uns nicht sehr weit über das als Texthermeneutik bzw. Interpretationsphilosophie Erörterte hinausführt und dass sie insbesondere keine Antwort gibt auf die uns hier leitende Frage, ob – und wenn ja: wie – die Intuition eine Dauer erfassen kann, die nicht die des eigenen Geistes ist. Wir haben die Transformation der persönlichen Dauer in eine überpersönliche, umgreifende Dauer verfolgt und wir haben angedeutet, dass zwischen umgreifender Dauer und individuellen Dauern ein Zusammenhang besteht. Da wir es hier aber mit einer Methodenlehre zu tun haben, stellt sich die Frage, ob das Thema mehr als Andeutungen zulässt. Dies ist der Zeitpunkt, an dem man gut daran tut, sich wieder an David Lapoujade und seine Untersuchungen zum Verhältnis von Intuition und Sympathie zu erinnern, die ja – wie erwähnt – gezielt nach der methodologischen Rolle der Intuition und Sympathie fragen. Den Kern seiner Antwort auf diese Frage fasst der folgende Satz zusammen: »Die Intuition ist das, wodurch wir mit dem Anderen in uns (dem Materiellen, dem Vitalen, dem Sozialen usw.) in Kontakt treten, während die Sympathie das ist, wodurch wir unsere Innerlichkeit in das Andere projizieren.« 158 158 […] l’intuition est ce par quoi l’on entre en contact avec l’autre en nous (le matériel, le vital, le social, etc.) tandis que la sympathie est ce par quoi l’on projette notre intériorité en l’autre […]. – Lapoujade[2007] 442 – Lapoujade[2010] 69 bietet eine durch Zusätze angereicherte, aber im Sinn unveränderte Version.

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»Ich« oder »Wir« – das sind nun nicht mehr unsere individuellen und homogenen Dauern. Es sind die geschichteten Dauern, die zwar das je eigene Ich ausmachen und doch zugleich »das Andere in uns« darstellen. Ich habe auf dieses Fundament von Bergsons Methode im bisherigen Verlauf der Kapitel 5 und 6 bereits mehrfach vorausgedeutet: Wir sind keine »Monster innerhalb der Natur« 159, wir sind keine Schüler, die der Lehrer »zur Strafe in die Ecke gestellt« hat 160; vielmehr gilt, dass wir »die Kräfte, die in allen Dingen wirken, auch in uns fühlen« 161, dass es »uns untergeordnete wie auch übergeordnete« Gegenstände gibt, die gleichwohl »in einem gewissen Sinne uns innerliche« sind 162. Diese in allem Lebendigen wirkenden Kräfte machen aus den vielen Individuen ein Wir und ermöglichen das Verstehen der und des Anderen. Solches Verstehen vollzieht sich nun nach Lapoujade in zwei gegenläufigen Operationen. Da ist auf der einen Seite die Intuition. Man braucht nur die erste Hälfte von Lapoujades Satz zu lesen, um sofort zu erkennen: Es bleibt dabei, dass die Intuition eine Rückwendung des individuellen Geistes auf sich selbst ist und nur die eigene Dauer erfassen kann. Von einer Ausweitung auf fremde Dauern ist weiterhin nicht die Rede. Da aber die eigene Dauer nun auch Schichten aufweist, die andersartige Aspekte des Lebens repräsentieren, ist es der Intuition immerhin möglich, »das Andere in uns« zu erfassen. Man beachte übrigens, dass bei Lapoujade – anders als in der Kapitelfolge dieser Untersuchung – die Intuition an erster Stelle erscheint. Das ist, wie sich gleich zeigen wird, kein Zufall. Die Sympathie stellt dann die »Projektion« des von der Intuition »in uns« Erfassten »nach außen« dar. 163 Rekapitulieren wir den Punkt, bis zu dem wir in Kapitel 5 gelangt waren: Sympathie basiert auf Analogie, näherhin auf einer dynamischen Analogie, d. h. einer Analogie nicht zwischen Sachverhalten, sondern zwischen BewegunVgl. Kap. 5, Anm. 161. Vgl. Kap. 5, Anm. 30. 161 A. a. O. 162 Vgl. Anm. 131. 163 Es ist bemerkenswert, dass schon das erste Auftreten des Wortes méthode in der ersten veröffentlichten Monographie Bergsons diese Operation betrifft: Sans même aller aussi loin, il semble plus conforme aux règles d’une saine méthode d’étudier d’abord le beau dans les œuvres où il a été produit par un effort conscient, et de descendre ensuite par transitions insensibles de l’art à la nature, qui est artiste à sa manière. – DI 13 | 11 | 18 159 160

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gen. »Die Analogie erscheint« – besser eigentlich: »vollzieht sich« – »immer zwischen unseren eigenen, inneren Bewegungen und den Bewegungen des Universums überhaupt«. 164 Nun lässt sich zunächst einmal leicht zeigen, dass Lapoujades Modell die Verhältnisse, die wir in Bergsons Texten antreffen, exakt beschreibt. Ich greife zwei aus den vielen möglichen Belegen heraus. Der erste betrifft religiöse Vorstellungen, also ein Thema aus dem Bereich der Geisteswissenschaften. Der zweite dehnt die Reichweite der Sympathie bis in die Natur hinein aus. Er handelt zwar von einer Publikation Ravaissons, harmoniert aber vollkommen mit Bergsons eigenen Vorstellungen: »Diese Glaubensvorstellungen sind nicht notwendigerweise primitiv, aber es besteht Aussicht, dass sie geradewegs aus einer der Grundtendenzen herstammen, die eine Anstrengung der Introspektion uns bei uns selbst entdecken ließe. Sie [die Glaubensvorstellungen] könnten uns also den Weg zu dieser Entdeckung [der Grundtendenzen] weisen und die innere Beobachtung leiten, die dann [im Gegenzug] dazu dienen wird, sie [die Glaubensvorstellungen] zu erklären.« 165 »Seinem Prinzip gemäß, erwartet Ravaisson die Lösung dieses sehr allgemeinen Problems von einer sehr konkreten Intuition, nämlich von jener, die wir von unserer eigenen Seinsweise haben, wenn wir eine Gewohnheit annehmen. Denn die einmal angenommene Gewohnheit ist ein Mechanismus, eine Folge von einander bedingenden Bewegungen. Sie ist derjenige Teil von uns, der in die Natur eingefügt ist und mit der Natur koinzidiert. Sie ist die Natur selbst. Nun zeigt uns aber unsere innere Erfahrung in der Gewohnheit eine Aktivität, die in unmerklichen Graden vom Bewusstsein zum Unbewussten und vom Willen zum Automatismus übergegangen ist. Müssen wir uns dann aber nicht in dieser Weise – als verdunkeltes Bewusstsein und eingeschlafenen Willen – auch die Natur vorstellen? Die Gewohnheit führt uns also deutlich jene Wahrheit vor Augen, dass der Mechanismus sich nicht selbst genügt: Er wäre sozusagen nur der versteinerte Überrest einer geistigen Aktivität.« 166 164 L’analogie ne se fait qu’entre nos propres mouvements intérieurs et les mouvements de l’univers en général. – Lapoujade[2007] 437 – L’analogie s’établit toujours dynamiquement entre nos propres tendances intuitivement perçues et celles de l’univers (social, vital, matériel, etc.) projectivement conclues. – Lapoujade[2010] 62 165 Ces croyances ne sont pas nécessairement primitives, mais il y a des chances pour qu’elles soient venues tout droit d’une des tendances fondamentales qu’un effort d’introspection nous ferait découvrir en nous-mêmes. Elles pourront donc nous mettre sur la voie de cette découverte et guider l’observation interne qui servira ensuite à les expliquer. – DS 1113 | 170 | 127 166 Conformément à son principe, M. Ravaisson demande la solution de ce problème

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In beiden Fällen ist deutlich zu erkennen, dass und wie Reflexion und Projektion miteinander verschränkt werden. Allerdings bemerkt man spätestens während der Beschäftigung mit Beispiel 2 auch, dass sich Bankov wieder zu Wort zu melden beginnt und an seine Frage erinnert, ob das alles nicht ein wenig unmodern, ob das nicht näherhin eine anthropomorphe Interpretation der Natur sei. Und in der Tat: Wenn wir einerseits Lapoujades Modell als angemessene Beschreibung von Bergsons Methode akzeptieren und andererseits Bergson nicht ins Wort fallen wollen, um ihm zu bedeuten, dass die Ausdehnung seiner Methode bis in den Bereich der Natur hinein ein Fehler sei, dann wird die Beantwortung von Bankovs Frage dringlich. Ich meine, dass die Antwort auf diese Frage mindestens drei Punkte umfassen muss. Die ersten zwei möchte ich jetzt ansprechen. Den letzten muss ich bis zum Ende dieses Kapitels verschieben. Zum einen also: Wir haben in gewissem Sinne gar keine Wahl. Wenn wir noch einmal die Texte rekapitulieren, die hier zur Erläuterung des Sympathiebegriffs herangezogen wurden, und wenn wir insbesondere noch einmal jenen Text lesen, in dem Bergson fragt, in welchen Bereichen der Wirklichkeit die Dauer anzutreffen sein mag 167, dann zeigt sich einmal mehr die führende Rolle unserer vorrationalen Einsichten. Bergson schreibt nicht: Wir sollten uns darüber verständigen, ob wir Sympathie und Verstehen auch in Bezug auf den nicht-menschlichen Bereich annehmen wollen. Er fragt: Sympathisieren wir denn nur mit bewussten Wesen? Und er stellt die Frage so, dass die Antwort nicht zweifelhaft sein kann. Es geht demnach aus Bergsons Sicht nicht darum, eine Lehre vom Sympathisieren und Verstehen am grünen Tisch zu entwerfen, sondern darum, die vorphilosophischen Verstehensleistungen, die wir in unserer Erfahrung vorfinden, philosophisch aufzuklären. Diese aber beschräntrès général à une intuition très concrète, celle que nous avons de notre propre manière d’être quand nous contractons une habitude. Car l’habitude motrice, une fois prise, est un mécanisme, une série de mouvements qui se déterminent les uns les autres : elle est cette partie de nous qui est insérée dans la nature et qui coïncide avec la nature ; elle est la nature même. Or, notre expérience intérieure nous montre dans l’habitude une activité qui a passé, par degrés insensibles, de la conscience à l’inconscience et de la volonté à l’automatisme. N’est-ce pas alors sous cette forme, comme une conscience obscurcie et une volonté endormie, que nous devons nous représenter la nature ? L’habitude nous donne ainsi la vivante démonstration de cette vérité que le mécanisme ne se suffit pas à lui-même : il ne serait, pour ainsi dire, que le résidu fossilisé d’une activité spirituelle. – PM 1461 f. | 267 | 258 167 Vgl. Kap. 5, Anm. 11.

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ken sich nicht auf den Bereich der Mitmenschen. Gewiss, eine philosophische Methodenlehre wird diese Verstehensleistungen erst einmal mit dem Index des »Als ob« versehen und sie wird prüfen, mit welchen Begriffen sie sich angemessen beschreiben lassen. Aber sie kann nicht die Augen vor den zahlreichen Phänomenen verschließen, die darauf hindeuten, dass wir Tiere, unbewusste Abläufe oder kollektive Vorgänge bis zu einem gewissen Grad verstehen. Zum anderen: Ich habe in Kapitel 5 gewisse Vorbehalte gegen den von Lapoujade verwendeten Begriff »Analogieschluss« angemeldet. Ich habe sie dort damit begründet, dass ein »Analogieschluss« allenfalls im Bereich des »höheren« menschlichen Sympathisierens möglich ist, nicht aber auf den unteren Stufen (insbesondere auf der Stufe der solidarité), und schon gar nicht jenseits des menschlichen Bereichs (insbesondere beim tierischen Instinkt). Ich füge jetzt hinzu, dass mir das Wort »Analogieschluss« – und bis zu einem gewissen Punkt sogar das Wort »Projektion« – unglücklich gewählt scheint, weil es ein Hineintragen und Hineinlegen der inneren Erfahrung in die äußere suggeriert und damit in der Tat die Gefahr des Anthropomorphismus heraufbeschwört. Glücklicherweise bleibt Lapoujade aber nicht beim »Analogieschluss« stehen. Er geht einen Schritt weiter und entdeckt – den Zirkel: »Wie aber nicht sehen, dass der Analogieschluss der Ausgangspunkt eines Zirkels ist – und zwar nicht eines geschlossenen, sondern eines offenen Zirkels, vergleichbar dem der intellektuellen Arbeit, die in Matière et mémoire, sodann in L’énergie spirituelle beschrieben wird?« 168

Lassen wir uns auch diese These Lapoujades zunächst von Bergson selbst bestätigen: Das Ergebnis der Selbstbeobachtung, d. h. die Intuition, »wäre gewiss nur ein erster Lichtschein – nichts weiter. Aber dieser Lichtschein gäbe uns Orientierung inmitten der unzähligen Tatsachen, über die Psychologie und Pathologie verfügen. Diese Tatsachen würden dann, indem sie korrigierten und ergänzten, was die innere Erfahrung an Mängeln und Unvollkommenheiten gehabt hätte, ihrerseits der Methode der Selbstbeobachtung zugute kommen. So bekämen wir durch ein Hin-und-Her zwischen zwei Beobachtungszentren (das eine draußen, das andere drinnen) eine immer weiter 168 Comment ne pas voir dans le raisonnement analogique l’instauration, non pas d’un cercle, mais d’un « circuit », comparable à celui du travail intellectuel décrit dans Matière et mémoire puis dans L’Energie spirituelle? – Lapoujade[2007] 443 = Lapoujade[2010] 69 f.

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angenäherte Lösung des Problems – eine Lösung, die zwar niemals vollkommen wäre, wie die Lösungen der Metaphysiker es nur zu oft sein wollen, die aber immer zu vervollkommnen wäre, wie die Lösungen des exakten Gelehrten. Freilich wäre der erste Anstoß von innen gekommen; von der inneren Einsicht hätten wir die wichtigste Erleuchtung verlangt, und deshalb wäre das Problem das geblieben, was es sein soll: ein Problem der Philosophie.« 169

Man sieht, welche Bedeutung dem Nachweis des Zirkels in Bergsons Methode für die Abwehr des Anthropomorphismusverdachts zukommt: Die Intuition (hier zu verstehen als »Erkenntnisinhalt«) ist kein aus der inneren Erfahrung stammendes Erklärungsmuster, das der äußeren Erfahrung unter Missachtung des Unterschieds zwischen beiden Wirklichkeitsbereichen aufgeprägt würde, sondern eine Hypothese, von der eine Aufforderung zu empirischer Forschung und zum zirkelhaften Hin-und-Her zwischen Empirie und diesem »ersten, orientierenden Lichtschein« ausgeht. Das gilt nicht nur dann, wenn sich – wie in dem hier zitierten Aufsatz – die Fragestellung noch im Bereich der Psychologie bewegt, sondern auch und gerade dann, wenn sie bis in jene Bereiche vordringen muss, in denen die Naturwissenschaften am Werk sind. »Erkenntnistheorie« (verstanden als Rückwendung des Geistes auf seine eigenen Strukturen) und »Lebenstheorie« (verstanden als empirische Erforschung der Evolution des Lebendigen) seien, so schreibt Bergson in der Einleitung zu L’évolution créatrice, nicht voneinander zu trennen, sondern müssten »sich verbünden und in kreisendem Prozess einander ins Unendliche vorwärts treiben«. 170 Nur durch das Hin-und-Her zwischen diesen beiden Perspektiven kann eine Theorie entstehen, die die Intelligenz 169 Ce ne serait sans doute qu’une première lueur, pas davantage. Mais cette lueur nous dirigerait parmi les faits innombrables dont la psychologie et la pathologie disposent. Ces faits, à leur tour, corrigeant et complétant ce que l’expérience interne aurait eu de défectueux ou d’insuffisant, redresseraient la méthode d’observation intérieure. Ainsi, par des allées et venues entre deux centres d’observation, l’un audedans, l’autre au-dehors, nous obtiendrions une solution de plus en plus approchée du problème – jamais parfaite, comme prétendent trop souvent l’être les solutions du métaphysicien, mais toujours perfectible, comme celles du savant. Il est vrai que du dedans serait venue la première impulsion, à la vision intérieure nous aurions demandé le principal éclaircissemen ; et c’est pourquoi le problème resterait ce qu’il doit être, un problème de philosophie. – ES 842 f. | 37 | 34 170 C’est dire que la théorie de la connaissance et la théorie de la vie nous paraissent inséparables l’une de l’autre. […] Il faut que ces deux recherches […] se rejoignent, et, par un processus circulaire, se poussent l’une l’autre indéfiniment. – EC 492 f. | IX | 5

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als Produkt der Evolution des Lebendigen zeigt und deren Nutzen und Nachteil für das Leben bestimmt. Und wenn Bergson daran erinnert, dass Ravaisson das Mechanische gewohnheitsmäßigen Verhaltens und den Mechanismus in der Natur miteinander in Beziehung gesetzt hat 171, so bezeichnet sein Ausdruck vivante démonstration nicht einen »Beweis«, sondern ein ad oculos demonstrare, ein Vor-Augen-Führen, dass es eine Alternative zum Erklärungsmodell des physikalischen Mechanismus gibt und dass man die empirische Forschung auch einmal auf diese andersartige Hypothese ausrichten könnte. Der letzte Satz der zitierten Passage zeigt allerdings, dass hier eine gewisse Einschränkung erforderlich ist. Gewiss, Bergson wehrt sich gegen den Anthropomorphismusverdacht, wenn Anthropomorphismus heißt, dass die äußere Wirklichkeit mit Kategorien erklärt werden soll, die nur für die innere Erfahrung Gültigkeit haben. Die Sympathie, formuliert Lapoujade drastisch, ist nicht ein Ableger jener »fabulatorischen Funktion«, die uns Feen, Geister und Gespenster vorgaukelt. 172 Andererseits aber will die Philosophie, wie sie von Bergson konzipiert wird, nicht auf andere Weise genau das leisten, was die Naturwissenschaften leisten. Sie will keine konkurrierende Erklärung jener Wirklichkeit liefern, mit der sich die Naturwissenschaften befassen. Ein Problem, dessen Lösung mit dem Rückgriff auf eine Intuition beginnt, schreibt Bergson, ist ein spezifisch philosophisches Problem. Und die Wirklichkeit, nach der darin gefragt wird, ist eine spezifisch menschliche Wirklichkeit, eine »menschliche Welt« 173. Wenn demnach das Wort »Anthropomorphismus« von jener negativen Konnotation des Fabulatorischen befreit und in die Nähe von »Anthropologie« gerückt würde, dann müsste man einschränkend sagen, dass Bergson sich jedenfalls nicht vollständig vom Anthropomorphismus befreien will. Aber das ist jener dritte Punkt der Antwort, der erst am Ende dieses Kapitels genauer erörtert werden kann. Vgl. Anm. 166. Bergson se défend ici de faire preuve d’anthropomorphisme. La sympathie n’est pas un auxiliaire de la « fonction fabulatrice ». Ce n’est pas l’univers qui est doté d’un mouvement, d’une mémoire, d’une conscience humaine, même altérés ; c’est au contraire l’homme qui, grâce à l’intuition, entre en « contact » avec les mouvements, les mémoires, les consciences non humaines qui sont au fond de lui. – Lapoujade [2007] 438 = Lapoujade[2010] 62 173 Les choses et les faits dont se compose notre expérience constituent pour nous un monde humain […]. – PM 1443 | 243 | 237 171 172

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Im Moment ist ein anderer Gesichtspunkt wichtiger. Man sieht, so hatte ich geschrieben, welche Bedeutung dem Nachweis des Zirkels innerhalb von Bergsons Methode für die Abwehr des Anthropomorphismusverdachts zukommt. Man sieht aber auch, welch entscheidende Bedeutung ihm für den Gang unserer Untersuchung zukommt. Denn der Nachweis der Zirkelstruktur innerhalb von Bergsons philosophischer Methode überhaupt erlaubt es uns, das dritte und umfassendste hermeneutische Modell, mit dessen Ausarbeitung wir in den Kapiteln 5 und 6 beschäftigt sind, jenes Modell also, das vorphilosophisches Fremdverstehen ebenso einschließt wie die Vorgehensweise der hermeneutischen Philosophie, an die Modelle der Texthermeneutik und der Interpretationsphilosophie anzuschließen und eine Kontinuität der Entfaltung in der Abfolge dieser Modelle festzustellen. Was hier Intuition heißt, entspricht in ihrer Mischung aus Vorwegnahme und Aufforderung der vorauseilenden Sinnhypothese in der Texthermeneutik und dem nicht minder vorauseilenden Entwurf der Interpretationsphilosophie. Was hier Sympathie heißt, entspricht der Konfrontation der Sinnhypothese mit dem konkreten Text in der Texthermeneutik bzw. der Konfrontation des Entwurfs mit dem verfügbaren Material in der Interpretationsphilosophie. Hier wie dort geht es dann darum, das Ersprungene Schritt für Schritt noch einmal zu erlaufen, und hier wie dort erweist sich dieser Weg als ein (offener) Zirkel. Während aber die Texthermeneutik trotz einiger eingestreuter Analogien auf sprachliche Äußerungen beschränkt blieb und die Interpretationsphilosophie nur einen einsamen Interpreten zu thematisieren vermochte, berücksichtigt die – wie ich sie von nun an nennen möchte – Hermeneutik der gemeinsamen menschlichen Welt auch andere Menschen, andersartige Lebewesen sowie vor- und überindividuelle Tendenzen in Natur und Gesellschaft, ohne die Errungenschaften der ihr vorausgehenden hermeneutischen Modelle opfern zu müssen. 6.2.3.2.5 Gemeinsame Erforschung der gemeinsamen menschlichen Welt Es gibt vor allem drei Gründe dafür, bei der Charakterisierung von Bergsons philosophischer Methode den Aspekt des Gemeinsamen in den Mittelpunkt zu stellen: (1) Der vorangehende Abschnitt hat gezeigt, dass der hermeneutische Zirkel, der Bergsons späte – in Introduction à la métaphysique vorbereitete und in L’évolution créatrice weitgehend ausgearbeitete – 788 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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Methodenlehre prägt, zwar durch Intuition und Sympathie konstituiert wird, aber nicht auf diese beiden Elemente beschränkt bleibt. Das ist insbesondere deshalb der Fall, weil die durch die Sympathie an die äußere Wirklichkeit herangetragene Sinnhypothese nur ein Leitbild bietet, das zwar einerseits Orientierung inmitten des Tatsachenmaterials verspricht, andererseits aber auch die Existenz eines solchen Tatsachenmaterials, mithin empirische Forschung fordert. Nun wird freilich durch die Kombination von philosophischer Frage und philosophischer Intuition einerseits sowie empirischer Forschung andererseits eine neue Spannung in Bergsons Methode hineingetragen: Philosophische Probleme pflegen sehr allgemeiner Natur zu sein, während empirische Untersuchungen sich immer nur mit einzelnen, speziellen Phänomenen befassen können. Demnach stellt sich die – in der Theorie der naturwissenschaftlichen Methode ebenfalls virulente – Frage, welchen Beitrag einzelne Beobachtungen zur Lösung allgemeiner Probleme leisten können. Bergson beleuchtet zunächst einmal das Verhältnis zwischen allgemeiner Frage und empirisch untersuchtem Einzelphänomen so, wie es sich dem individuellen Philosophen darstellt, und er tut dies in zwei Richtungen: Der Weg vom theoretischen Problem zur empirischen Praxis wirft die Frage einer möglichst geschickten Auswahl des zu untersuchenden Phänomens auf, während beim Rückweg vom empirischen Einzelergebnis zum Versuch einer allgemeinen Antwort der Aspekt der Interpretation in den Vordergrund rückt. Jeder Leser wird mühelos einige Textpassagen zitieren können, in denen Bergson sich mit der Frage der Auswahl des Untersuchungsgegenstandes beschäftigt. Am bekanntesten ist aber wohl – auch, weil Bergson selbst es mehrfach kommentiert hat – sein Vorgehen in Matière et mémoire: »Getreu unserer Methode, forderten wir, [das Problem des Verhältnisses von Freiheit und Determinismus] möge sich in weniger allgemeinen Begriffen stellen und – wenn möglich – eine konkrete Gestalt annehmen, sich den Umrissen einiger der direkten Beobachtung zugänglicher Tatsachen anschmiegen. Es ist unnötig, hier noch einmal zu berichten, wie sich das traditionelle Problem der ›Beziehung zwischen Geist und Körper‹ für uns so weit einschränkte, bis es nur noch die Lokalisierung des Gedächtnisses im Gehirn betraf, und wie diese letzte, immer noch zu umfangreiche Frage Schritt für Schritt dazu kam, nur noch das Wortgedächtnis zu betreffen, noch spezieller: die Krankheiten dieses besonderen Gedächtnisses, die Aphasien.« 174 174

Fidèle à notre méthode, nous lui demandâmes de se poser en termes moins géné-

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Den Worten resserrer und resserrement begegnet man, wann immer in Bergsons Texten der Übergang von der Theorie zur Empirie diskutiert wird. Sie verweisen darauf, dass es mit der bloßen Auswahl eines zu untersuchenden Phänomens nicht getan, sondern immer der Zusammenhang zwischen allgemeiner Frage und konkretem Untersuchungsgegenstand mitzubedenken ist. Das geschieht durch schrittweises Einschränken, Einengen, ja Zuspitzen der Fragestellung, im Fall von Matière et mémoire etwa durch das Zuspitzen der uferlosen Frage nach dem Verhältnis von Geist und Materie auf das konkrete Problem einer angemessenen Interpretation dessen, was man bei den an Aphasie erkrankten Patienten beobachtet. Die Worte resserrer und resserrement verweisen aber – und zwar nicht zufällig – auch auf das in Kapitel 4 diskutierte Modell des auf der Spitze stehenden Kegels. Wie dort die gesamte Vergangenheit, der gesamte durch das bisherige Leben geprägte Charakter sich in unendlich vielen Schichten immer weiter kontrahiert, um sich schließlich zu einer einzigen freien Handlung zu verdichten, so verdichtet sich hier das konturlos-allgemeine Problem zu einem einzigen – wenn man das Wort in diesem Zusammenhang verwenden möchte – Experiment. Das Experiment ist die Handlung des forschenden Philosophen. Eine derartige Bestimmung des Zusammenhangs hat Folgen für den Rückweg von der Empirie zur Theorie. Oder vielmehr: Eigentlich lassen sich Hin- und Rückweg gar nicht trennen. Weil der Zusammenhang zwischen allgemeiner Frage und einzelnem Phänomen nie aus dem Blick geraten ist, weil man während des Hinwegs immer schon an den Rückweg gedacht hat, muss, wenn das Ergebnis der empirischen Untersuchung vorliegt, nicht erst nach dessen Bedeutung gefragt werden: »Verallgemeinern heißt nicht, irgendwelche bereits gesammelten und aufgezeichneten Daten für ich weiß nicht welche Arbeit der [nachträglichen] Verdichtung zu benutzen. Die Synthese ist etwas ganz anderes. Sie ist weniger eine spezielle Operation als vielmehr eine gewisse Kraft des Denkens, das Vermögen, ins Innere einer Tatsache einzudringen, die man als bedeutraux et même, si c’était possible, de prendre une forme concrète, d’épouser les contours de quelques faits sur lesquels l’observation directe eût prise. Inutile de raconter ici comment le problème traditionnel de « la relation de l’esprit au corps » se resserra devant nous au point de n’être plus que celui de la localisation cérébrale de la mémoire, et comment cette dernière question, beaucoup trop vaste elle-même, en vint peu à peu à ne plus concerner que la mémoire des mots, plus spécialement encore les maladies de cette mémoire particulière, les aphasies. – PM 1314 f. | 79 | 91

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sam erahnt und in der man die Erklärung für eine unendliche Menge anderer Tatsachen finden wird.« 175

Weil schon die Auswahl des zu erforschenden Phänomens sich als Verdichtung des allgemeinen Problems vollzog, muss das Forschungsergebnis nicht nachträglich durch Verdichtung verallgemeinert werden. Der Rückweg vollzieht sich, wie Bergson unermüdlich einschärft, überhaupt nicht als »Verallgemeinerung« in dem Sinne, dass das Resultat einfach auf alle gleichartigen Fälle übertragen würde. Er vollzieht sich nicht als Induktion, sondern als Interpretation. Wenn der forschende Philosoph methodisch konsequent für die empirische Untersuchung ein Phänomen auswählt, das er »als bedeutsam erahnt«, dann wird das Resultat mit dem Problem »jene undefinierbare Ähnlichkeit« aufweisen, »die man manchmal zwischen dem Kunstwerk und dem Künstler findet« 176, dann wird es im Konkreten die allgemeine Antwort ausdrücken, wird – in einem sehr wenig an Bergson, sehr stark dagegen an Ricœur gemahnenden Sinne – ein Symbol dieser Antwort sein. Und dann wird der Rückweg vom speziellen Resultat zur allgemeinen Antwort sich vollziehen als Auslegung der Bedeutung dieses Resultats. In dem viel zu selten gelesenen, aber wohl nicht ohne Grund den Abschluss seines »Methoden-Buches« bildenden Aufsatz über Ravaisson zeigt Bergson, wie der Philosoph auch dann bei seinem Thema ist, wenn er sich scheinbar hoffnungslos in den Netzen der Empirie verfangen hat: »Als sie sahen, wie er die Arme der Göttin [aus den Bruchstücken] formte und [immer wieder] umformte, da lächelten einige. Wussten sie, dass das, was Ravaisson von der rebellischen Materie zurückgewinnen wollte, gerade die Seele Griechenlands war und dass der Philosoph dem Geist seiner Lehre treu blieb, wenn er die grundlegenden Bestrebungen der heidnischen Antike nicht einfach in den abstrakten und allgemeinen Formeln der Philosophie suchte, sondern in einer konkreten Gestalt, nämlich in jener, die zur Blütezeit Athens der größte und auf höchstmöglichen Ausdruck der Schönheit zielende unter seinen Künstlern schuf? […] Und so führte – auf einem

175 Généraliser n’est pas utiliser, pour je ne sais quel travail de condensation, des faits déjà recueillis, déjà notés : la synthèse est tout autre chose. C’est moins une opération spéciale qu’une certaine force de pensée, la capacité de pénétrer à l’intérieur d’un fait qu’on devine significatif et où l’on trouvera l’explication d’un nombre indéfini de faits. – PM 1435 | 231 | 228 176 Vgl. Kap. 4, Anm. 102.

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eigenartigen Umweg – die griechische Skulptur Ravaisson zurück zum Zentralgedanken seiner Philosophie.« 177

Mit viel Glück stößt der forschende Philosoph auf eine expérience décisive 178, d. h. ein Ergebnis, das über die Antwort auf die Ausgangsfrage insgesamt entscheidet. Aber derartige Ergebnisse sind selten. In der Regel erhellen sie nicht das ganze Problem, sondern nur einen kleinen Teilbereich. Das führt Bergson einerseits auf Überlegungen dazu, wie aus der Kombination mehrerer Ergebnisse eine wahrscheinliche Gesamtantwort erschlossen werden kann 179, andererseits – und für unsere gegenwärtige Fragestellung bedeutsamer – zum Überschreiten der Perspektive des individuellen Philosophen und zu der These, dass philosophische Forschung als gemeinschaftliches Projekt zu etablieren sei. »Aber dieses Projekt kann nicht mehr als ein einziger großer Wurf durchgeführt werden. Es muss sich notwendigerweise kollektiv und schrittweise vollziehen. Es wird in einem Austausch von Eindrücken bestehen, die, indem sie sich untereinander korrigieren und sich gegenseitig überlagern, letztendlich dazu führen werden, das Menschliche in uns zu weiten und zu erreichen, dass es sich selbst übersteigt.« 180 »Wir sprachen früher einmal von jenen ›Tatsachenlinien‹, von denen jede einzelne nur die Richtung der Wahrheit weist, weil sie nicht weit genug geht: Wenn man zwei von ihnen bis zu ihrem Schnittpunkt verlängert, wird man dennoch bis zur Wahrheit gelangen. Der Feldmesser misst die Entfernung eines unzugänglichen Punktes, indem er nacheinander von zwei zu177 À le voir modeler et remodeler les bras de la déesse, quelques-uns souriaient. Savaient-ils que ce que M. Ravaisson voulait reconquérir sur la matière rebelle, c’était l’âme même de la Grèce, et que le philosophe restait fidèle à l’esprit de sa doctrine en cherchant les aspirations fondamentales de l’antiquité païenne non pas simplement dans les formules abstraites et générales de la philosophie, mais dans une figure concrète, celle même que sculpta, au plus beau temps d’Athènes, le plus grand des artistes visant à la plus haute expression possible de la beauté ? […] Ainsi, par un détour singulier, la sculpture grecque ramenait M. Ravaisson à l’idée centrale de sa philosophie. – PM 1476 f. | 285 f. | 274 f. 178 Vgl. Abschnitt 1.4.1, S. 118. 179 Am wichtigsten sind in diesem Zusammenhang Bergsons Erörterungen über die lignes de faits im Aufsatz La conscience et la vie. – ES 815 ff. | 1 ff. | 2 ff. – Vgl. auch Anm. 181. 180 Mais l’entreprise ne pourra plus s’achever tout d’un coup ; elle sera nécessairement collective et progressive. Elle consistera dans un échange d’impressions qui, se corrigeant entre elles et se superposant aussi les unes aux autres, finiront par dilater en nous l’humanité et par obtenir qu’elle se transcende elle-même. – EC 658 | 193 | 196 f.

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gänglichen Punkten aus visiert. Wir sind der Meinung, dass diese Überschneidungsmethode die einzige ist, die die Metaphysik entscheidend voranbringen kann. Durch sie wird sich eine Zusammenarbeit zwischen den Philosophen einstellen. Die Metaphysik wird – wie die Wissenschaft – durch allmähliche Ansammlung von gesicherten Resultaten fortschreiten, statt ein abgeschlossenes System zu sein, das man nur annehmen oder ablehnen kann, das immer wieder bestritten und immer wieder von vorn begonnen wird.« 181

Bergson kritisiert hier die uneingelösten und uneinlösbaren Ansprüche der philosophischen Tradition, die sich in der Lage wähnte, die gesamte Wirklichkeit in einem einzigen, geschlossenen System darzustellen. Da dieses vermeintliche System aber gleichwohl von endlichen Menschen mit begrenzter Einsicht entworfen wurde, entstand in Wahrheit eine endlose Folge verschiedener Systeme, die man nur als ganze akzeptieren oder verwerfen konnte, und eine nicht minder unübersichtliche Folge miteinander im Streit liegender Schulen. Es ist, so meint Bergson, an der Zeit, diese Kakophonie partikularer Systeme mit gleichwohl universalen Geltungsansprüchen durch eine kollektive Anstrengung philosophischen Forschens zu ersetzen. Streng genommen, dürfte man hier allerdings gar nicht von einer »philosophischen Tradition« reden. Tut man es doch, so kann dieses Wort allenfalls besagen, dass die Texte der früheren Autoren sich erhalten haben und uns heute noch zugänglich sind. Bergson kritisiert nämlich auch, dass dieser sogenannten Tradition jegliche Kontinuität fehlt. Das ist, der Sache nach, nichts Neues. Schon Kant hatte die Metaphysik als »Kampfplatz endloser Streitigkeiten« 182 charakterisiert und den Mangel eines kontinuierlichen Fortschreitens beklagt. Bergson nun formuliert die gleiche Einschätzung mit seinen eigenen Worten und unter Verwendung seiner Denkkategorien: Der Philosophie fehlt die Dauer. Oder jedenfalls: Mag man ihr auch die individuelle Dauer – die Kontinuität des Strebens bei jedem einzelnen 181 Nous parlions jadis de ces « lignes de faits » dont chacune ne fournit que la direction de la vérité parce qu’elle ne va pas assez loin : en prolongeant deux d’entre elles jusqu’au point où elles se coupent, on arrivera pourtant à la vérité même. L’arpenteur mesure la distance d’un point inaccessible en le visant tour à tour de deux points auxquels il a accès. Nous estimons que cette méthode de recoupement est la seule qui puisse faire avancer définitivement la métaphysique. Par elle s’établira une collaboration entre philosophes ; la métaphysique, comme la science, progressera par accumulation graduelle de résultats acquis, au lieu d’être un système complet, à prendre ou à laisser, toujours contesté, toujours à recommencer. – DS 1186 | 263 | 193 182 KrV A VIII

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Philosophen – zugestehen und mag man bei der Betrachtung vieler Philosophen auch im Nachhinein einige Verbindungslinien konstruieren können, so fehlt ihr doch eine überindividuelle Dauer. Die Formulierung »immer wieder bestritten und immer wieder von vorn begonnen« weist deutliche Anklänge an die These auf, in der Bergson das Unbewusste als Fehlen jeglichen Gedächtnisses definiert: »Ein Bewusstsein, das nichts von der Vergangenheit behielte, das dauernd sich selbst vergäße, würde in jedem Augenblick vergehen und wieder neu erstehen: wie anders könnte man das Unbewusste definieren?« 183 Das Projekt gemeinsamen philosophischen Forschens zielt also darauf, der Philosophie eine wahrhafte überindividuelle Dauer zu geben. Nach den vorausgehenden Erläuterungen zum Zusammenhang zwischen allgemeiner Frage und Untersuchungsgegenstand kann man sich unschwer vorstellen, wie eine solche kollektive philosophische Forschung möglich ist: Ein Philosoph kann ein anderes empirisches Phänomen zur Klärung eines Problems heranziehen als sein(e) Vorgänger. Er kann aus diesem (oder auch bereits einem zuvor genutzten) Phänomen Schlüsse ziehen, die vorher übersehen wurden. Er kann da, wo man zuvor nur schwache empirische Phänomene kannte, ein fait décisif entdecken. Aber er kann natürlich auch eine Frage stellen und untersuchen, die noch nie zuvor gestellt wurde. (2) Die gemeinsame Arbeit am empirischen Material ist aber nur ein Aspekt des Gemeinsamen in der von Bergson vorgeschlagenen Methode. Der zweite Aspekt ist die gemeinsame Arbeit an der Methode selbst. Den in Madrid versammelten Studenten, vor denen er die philosophische Methode als zumindest teilweisen Ersatz des Genies gepriesen hatte, gestand er (vermutlich zu deren nicht geringer Enttäuschung): »Wir sind noch weit, sehr weit davon entfernt, diese Methode zu besitzen.« 184

Das soll natürlich nicht heißen, dass von der angekündigten Methode noch nicht das Geringste zu sehen wäre. Bergson hatte sie ja zu diesem Zeitpunkt bereits in mehreren Werken vorgeführt. Es soll vielmehr heißen, dass wir nicht über eine fertige Methode verfügen, die Vgl. Kap. 3, Anm. 90. Nous sommes encore loin, très loin, de posséder cette méthode. – Mél. 1202 | Écr. 489 183 184

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man einfach auf jedes beliebige empirische Phänomen anwenden könnte; dass vielmehr diese Methode noch in Arbeit und die Arbeit eine gemeinsame ist. Es soll auch nicht heißen, dass die Methode nur gleichsam zufälligerweise – etwa, weil Bergson ein wenig herumgebummelt hätte – noch nicht fertig ausgearbeitet ist. Sie wird nie fertig (tout fait, à prendre ou à laisser) sein, sondern sich mit jeder einzelnen Anwendung auf ein bestimmtes Problem und/oder Phänomen verändern. Anders gesagt: Die Rede ist hier von der Geschichtlichkeit nicht nur der philosophischen Erkenntnisse, sondern auch der philosophischen Methode – einer Geschichtlichkeit freilich, die die eben mühsam ins Spiel gebrachte Kontinuität der philosophischen Forschung nicht zerstören, sondern gerade verstärken soll. Nun stellt die Tatsache, dass die philosophische Methode der Geschichtlichkeit unterworfen ist, noch nicht dasjenige Merkmal dar, das sie von anderen Methoden abhebt. Bergson ist der Auffassung, dass alle Methoden einer geschichtlichen Entwicklung unterliegen: »Was […] selbst die Wissenschaft über den Ursprung gewisser von ihr angewandter Verfahren zu täuschen vermochte, ist der Umstand, dass die Intuition, nachdem sie einmal ergriffen wurde, eine Ausdrucks- und Anwendungsweise finden muss, die den Gewohnheiten unseres Denkens konform ist und die uns in wohldefinierten Begriffen jene sicheren Stützpunkte bietet, die wir so sehr brauchen. Hier liegt die Bedingung für das, was wir Strenge, Präzision und auch unendliche Ausdehnung einer allgemeinen Methode auf konkrete Einzelfälle nennen. Nun können aber diese Ausdehnung und diese Arbeit der logischen Vervollkommnung sich über mehrere Jahrhunderte erstrecken, während der Zeugungsakt, durch den die Methode ins Leben gerufen wird, nur einen Augenblick dauert. Deshalb halten wir so oft den logischen Apparat der Wissenschaft für die Wissenschaft selbst und vergessen die Intuition, aus der alles Übrige hervorgegangen ist.« 185

Es gibt also im Hinblick auf die Historizität keinen Unterschied zwischen der philosophischen und der wissenschaftlichen Methode. Jede 185 Ce […] qui a pu tromper la science elle-même sur l’origine de certains procédés qu’elle emploie, c’est que l’intuition, une fois prise, doit trouver un mode d’expression et d’application qui soit conforme aux habitudes de notre pensée et qui nous fournisse, dans des concepts bien arrêtés, les points d’appui solides dont nous avons un si grand besoin. Là est la condition de ce que nous appelons rigueur, précision, et aussi extension indéfinie d’une méthode générale à des cas particuliers. Or cette extension et ce travail de perfectionnement logique peuvent se poursuivre pendant des siècles, tandis que l’acte générateur de la méthode ne dure qu’un instant. C’est pourquoi nous prenons si souvent l’appareil logique de la science pour la science même, oubliant l’intuition d’où le reste a pu sortir. – PM 1423 | 215 f. | 215 f.

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Vorstellung von einer Methode, die vor aller empirischen Forschung fertig gegeben sein soll, beruht – sofern man nicht annehmen will, dass eine Methode vollständig ausgearbeitet vom Himmel fallen kann – auf einer Illusion, nämlich auf dem Vergessen bzw. dem bewussten Ausblenden ihrer geschichtlichen Entwicklung. Übrigens stellt man bei der Analyse der zitierten Sätze fest, dass sich der Sinn des Wortes »Methode« auszudifferenzieren beginnt und dass sich ein Spannungsfeld herausbildet. Auf der einen Seite erkennt man das als »Zeugungsakt« oder Geburtsstunde der Methode verstandene »Ergreifen der Intuition«: den festen Entschluss, fürderhin genau diese Intuition zum Bezugspunkt aller Forschung zu machen. Es ist dies jener Vorgang, den ich in Abschnitt 6.2.3.1.3 zu beschreiben versucht habe. Auf der anderen Seite aber findet man die mit der Anwendung auf unterschiedliche Phänomene bzw. Phänomenbereiche verbundene Ausarbeitung einer geregelten Begrifflichkeit sowie eine »logische Vervollkommnung«. Alle derartige Arbeit zielt letztlich auf ein Regelwerk, und im Hinblick auf Bergsons Methode ist zu sagen, dass wir genau dieses Regelwerk noch nicht oder nur in Bruchstücken besitzen. Was nun – um auf diesen Punkt zurückzukommen – die von Bergson propagierte philosophische Methode wirklich von anderen Methoden abhebt, ist der Umstand, dass die Reflexion auf ihre Geschichtlichkeit in sie selbst eingebaut ist. Die Methode ist so verfasst, dass in ihr – in Jankélévitchs Worten – »die Theorie der Forschung mit der Forschung selbst verschmilzt« 186 bzw. – in Bergsons Worten – »Erkenntnistheorie« und »Lebenstheorie […] in kreisendem Prozess einander ins Unendliche vorwärts treiben« 187. Die bewusste Arbeit an unserer Erfahrung teilt sich zwar in die Arbeit am empirischen Material und die Arbeit an der Methode (wie sich die ersten, undifferenzierten Lebewesen in Pflanzen und Tiere teilten, das Orange sich in Rot und Gelb teilt), aber beide Tendenzen bleiben stets aufeinander bezogen, so dass eine Erweiterung des Horizonts auf der einen Seite immer eine entsprechende Erweiterung oder Veränderung auf der anderen Seite mit sich bringt. Es bereitet keinerlei Mühe, Beispiele für derartige Wandlungen der Methode in den Werken Bergsons zu finden: Wir haben sie bereits in großer Zahl erörtert. Es sei – um hier nur die dramatischsten 186 187

Vgl. Anm. 95. Vgl. Anm. 170.

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zu berücksichtigen – erinnert an die Einführung der »wahren Intelligenz« und der Sympathie im Zusammenhang mit dem Bestreben, dem Verstehen nicht nur die eigene Dauer, sondern auch diejenige anderer Menschen zugänglich zu machen, oder an die Einführung des Instinkts und die Neukonzeption der Intuition als Zusammenarbeit von Instinkt und Intelligenz im Zusammenhang mit dem Versuch, Lebewesen überhaupt sowie die Evolution des Lebendigen in die Betrachtung einzubeziehen. 188 188 Man könnte darauf aufmerksam machen, dass all dies zwar methodische Revolutionen sind, aber eben doch solche, die Bergson selbst und ganz allein durchgeführt hat, und man könnte die Frage stellen, wie es denn um den Erfolg seines Projekts einer kollektiven philosophischen Forschung bestellt sei. In der Tat gehören ja die Ansichten, dass es Bergson nicht gelungen sei, eine Schule zu gründen, und dass der »Bergsonismus« in dieser Hinsicht von der Phänomenologie bei weitem in den Schatten gestellt wird, zu den hartnäckigsten Vorurteilen. Eine gründliche Auseinandersetzung mit derartigen Ansichten würde mindestens ein eigenes Kapitel in Anspruch nehmen und muss deshalb hier unterbleiben. Ich möchte aber doch den Punkt bezeichnen, an dem mir die meisten Beiträge zu dieser Diskussion zu kranken scheinen: Die Rede von einer »Bergson-Schule« oder gar einem »Bergsonismus« unterstellt, dass man Bergson als einen einsamen Gründer zu betrachten hätte, der aus dem Nichts eine neue Lehre geschaffen hat, und dass man von einem Erfolg seines Gedankens einer gemeinschaftlichen philosophischen Forschung nur dann sprechen kann, wenn sich eine hinlänglich große Zahl von Jüngern nachweisen lässt, die sich lautstark zu dieser neuen Lehre bekennen. Ich habe bei der Lektüre der Texte nicht den Eindruck, dass Bergson selbst sich so gesehen hat. Wenn er sich zu derartigen Fragen äußert, dann klingt das so: »Wir glauben, dass mehrere der großen Entdeckungen – derjenigen wenigstens, die die positiven Wissenschaften verwandelt oder neue ins Leben gerufen haben – ebenso viele Lotungen in die Tiefe der reinen Dauer gewesen sind.« – PM 1425 | 217 f. | 217 – »Wenn man versucht, die Intuitionen, um die herum die Systeme sich organisiert haben, durch fortlaufende Linien miteinander zu verbinden, dann […] möchte man sagen, dass eine unsichtbare Strömung die moderne Philosophie dahin führt, die Seele über die Idee zu stellen.« – PM 1426 | 219 | 219 – Wer sich vor Augen hält, dass Bergson die großen, inhaltsschweren und programmatischen Sentenzen in aller Regel ganz am Ende eines Kapitels präsentiert, der wird es nicht für einen Zufall halten, dass zwei seiner Werke mit methodengeschichtlichen Erörterungen schließen: Das vierte Kapitel von L’évolution créatrice beschreibt die Entfaltung einer dynamischen Betrachtung der Wirklichkeit seit den Tagen Galileis (vgl. Abschnitt 3.3.2.3, S. 388), und zwar bemerkenswerterweise im Wechselspiel zwischen Wissenschaft und Philosophie. La pensée et le mouvant schließt mit drei Aufsätzen, in denen Bergson Claude Bernard und Ravaisson als Vorläufer und William James als zeitgenössischen Gesprächspartner im Hinblick auf die Ausarbeitung einer philosophischen Methode vorstellt. Zudem enthält gerade das Methoden-Buch La pensée et le mouvant auch Hinweise auf wichtige Beiträge von Bergsons Schülern. – Vgl. insbesondere PM 1423, Anm. 1 | 216, Anm. 1 | 216, Anm. 1 – Gewiss, Bergson kritisiert die Ansätze seiner

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(3) Schließlich: Gemeinsame materiale Forschung ebenso wie gemeinsame Vervollkommnung der Methode zielen auf die Erforschung der gemeinsamen menschlichen Welt. Diese Formulierung sollte nicht überraschen, nachdem hier immer wieder außer ebenso wie in uns wirkende Kräfte, kollektive Tendenzen und überindividuelle Dauern zur Sprache gekommen sind. Immerhin aber lohnt es, im Hinblick auf das Folgende noch einmal zu betonen, dass aus der Sicht der von Bergson vorgeschlagenen Methode eben diese Kräfte, Tendenzen und Dauern die uns gemeinsame Wirklichkeit bilden, mithin: dass die Wirklichkeit, in der wir als Menschen leben, eine dynamische ist. Wir haben in Kapitel 5 gesehen, inwiefern dies eine menschliche Welt eröffnet: Jedes Verstehen von Anderen und Anderem basiert auf einer Analogie. Analogien aber sind bei Bergson immer dynamische, d. h. solche von Bewegungen und Bewegungsrichtungen. Genauer: Wir als Menschen, d. h. als Zwischenwesen, leben in zwei Wirklichkeiten. Der Welt des homo faber, der geschlossenen Zirkel und der geschlossenen Gesellschaften, den verfestigten Dingen und den erstarrten Handlungsmustern entkommen wir ja nicht. Vielmehr drängt sich diese Wirklichkeit sogar meistens in den Vordergrund. Von dieser statischen Wirklichkeit hebt sich dann die dynamische ab, und beide können uns zu sehr unterschiedlichem Denken oder Handeln auffordern. Noch genauer: Die menschliche Wirklichkeit ist – wie man völlig im Einklang mit Deleuze feststellen muss – ein Mixtum. Wir leben, ohne es zu merken, in einer Welt, die aus Dingen und Kräften, Körpern und Geistern, Charakteren und Biographien, Konventionen und Idealen bunt gemischt ist. Gelegentlich aber zeichnen sich Risse in dieser Wirklichkeit ab, die Bruchstellen erkennbar machen. Die Aufgabe des philosophischen Erkennens besteht dann – einmal mehr ist Deleuze Recht zu geben – darin, diese zu bemerken, sie zu vergrößern und so durch immer stärkere Zuspitzung des Gegensatzes die beiden verschiedenartigen (und doch immer zusammenhängenden) Wirklichkeiten voneinander abzuheben. Vorläufer und legitimiert durch deren Mängel seinen Neuansatz. Gleichwohl aber gewinnt man bei der Lektüre den Eindruck, dass er sich eher als Mitarbeiter an einem größeren, übergreifenden Projekt verstanden hat denn als einsamer Revolutionär. Und es ist, um auch das noch hinzuzufügen, genau dieser Eindruck, aus dem ich das Recht ableite, nach jenem übergreifenden, deutsche und französische Lebensphilosophen verbindenden Projekt zu fragen, das ich hier vorläufig Hermeneutik, Prozessphilosophie oder dynamische Betrachtung der Wirklichkeit nenne.

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Aber zerreißt das philosophische Erkennen dann nicht – wie im Begriff »Teilungsmethode« angedroht – unsere Wirklichkeit? Ohne allen Zweifel. Und gibt es eine Möglichkeit, dieser fragmentierten Welt zu entkommen? Die Antwort lautet, wie immer bei Bergson: Nur die freie Tat ist zu einer neuen Synthese fähig.

6.2.4 Moral 6.2.4.1 Moral – Untersuchungsgegenstand oder eigenständige Disziplin? Aus einer gewissen Perspektive betrachtet, ist die Moral nur einer von vielen möglichen Gegenständen der philosophischen Forschung. Damit meine ich nicht eine Perspektive, die dadurch zustande käme, dass man einen Standort außerhalb von Bergsons Philosophie bezieht. Gemeint ist vielmehr: Les deux sources de la morale et de la religion liest sich auf weite Strecken so, als befasse es sich zwar mit einem neuen Gegenstand, bediene sich dabei aber ausschließlich der in Abschnitt 6.2.3 dargestellten Methode. Das, was uns als Moral in der lebensweltlichen Erfahrung begegnet, wird als Mixtum aufgewiesen. Der Riss zwischen zwei Formen des Moralischen wird gemäß der Teilungsmethode schrittweise vergrößert, bis eine statische Moral der Pflicht und eine dynamische Moral des Strebens als Pole in den Blick kommen. Zwischen beiden wird ein Kontinuum aufgespannt, in dem sich verschiedene Schichten unterscheiden lassen. »Dass eine gute Hälfte unserer Moral Pflichten umfasst, deren zwingender Charakter sich letztlich aus dem Druck der Gesellschaft auf das Individuum erklärt, das wird man ohne allzu große Mühe zugeben […]. Aber dass die ganze übrige Moral einen gewissen Gefühlszustand wiedergebe, dass man hier nicht mehr einem Druck nachgebe, sondern einem Anreiz, das anzuerkennen werden viele zögern. […] Diese beiden aufeinandergepfropften Arten von Ethik scheinen jetzt nur eine einzige zu bilden […].« 189

189 Qu’une bonne moitié de notre morale comprenne des devoirs dont le caractère obligatoire s’explique en dernière analyse par la pression de la société sur l’individu, on l’accordera sans trop de peine, […]. Mais que le reste de la morale traduise un certain état émotionnel, qu’on ne cède plus ici à une pression mais à un attrait, beaucoup hésiteront à l’admettre. […] Ces deux morales juxtaposées semblent maintenant n’en plus faire qu’une, […]. – DS 1016 | 46 f. | 39

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»Wir haben eine Reihe von aufsteigenden und absteigenden Stufen vor uns, je nachdem man die Vorschriften der Ethik von dem einen oder anderen Grenzpunkte an durchläuft; was die beiden äußersten Grenzen betrifft, so haben sie eher ein theoretisches Interesse; es kommt kaum vor, dass sie wirklich erreicht werden.« 190

Je weiter aber die Analyse des dynamischen Pols – des Appells, des Strebens, der offenen Gesellschaft und der mystischen Religion – fortschreitet, desto deutlicher wird, dass es Bergson um die Beantwortung einer Frage geht, die nicht mehr die Frage der erkenntnistheoretischen Grundlegung ist. Jene Frage lautete: Falls es die von der Prozessontologie postulierten Dauern jenseits des eigenen Bewusstseinsstroms gibt – wie kann das menschliche Individuum sie in einer Intuition erfassen? Sie zielt auf ein Verstehen, das – wie auch in vielen anderen hermeneutischen Theorien – zwar ein Sich-Hineinversetzen, Nach- und Mitvollziehen kennt, letztlich aber doch die fremde Dauer als einen Erkenntnisgegenstand betrachtet und von einer gewissen Passivität geprägt bleibt. Dagegen wird in Les deux sources de la morale et de la religion eine ganz neue Frage gestellt, die Ernst macht mit der Rede von der für hermeneutisches Verstehen essentiellen Teilnehmerperspektive: Wie kann das menschliche Individuum eine – per definitionem unabgeschlossene – überindividuelle Dauer fortsetzen? Wie kann das Sich-Hineinversetzen zu einem Fortsetzen werden? Es ist diese neuartige Frage, die uns berechtigt, von der Moralphilosophie als einer eigenständigen Disziplin zu sprechen. Versuchen wir, das Profil dieser Frage zunächst durch Abgrenzung von anderen, ähnlich erscheinenden Fragen zu schärfen: • Wir haben es hier nicht mit der von der Interpretationsphilosophie gestellten und beantworteten Frage zu tun, wie der einzelne Mensch den geschlossenen Zirkel gewohnheitsmäßigen Denkens und Verhaltens aufbrechen und zu einem offenen, schöpferischen Zirkel gelangen kann. Oder vielmehr: Wir haben es nicht nur mit dieser Frage zu tun. Die Forderung an das Individuum, aus geschlossenen Zirkeln auszubrechen und in hermeneutische Zirkel hineinzukommen, bleibt selbstverständlich erhalten. Aber sie wird nun eingebettet in den neuen, auf dem Konzept 190 Nous sommes en présence d’une série de gradations ou de dégradations, selon qu’on parcourt les prescriptions de la morale en commençant par une extrémité ou par l’autre ; quant aux deux limites extrêmes, elles ont plutôt un intérêt théorique ; il n’arrive guère qu’elles soient réellement atteintes. – DS 1018 | 48 | 40

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überindividueller Dauern basierenden Ansatz. Gewiss, auch die Interpretationsphilosophie war davon ausgegangen, dass ein vom Interpreten entworfenes neues Handlungsmuster später von anderen Mitgliedern der Gesellschaft übernommen werden kann. Nur handelt es sich dann um ein fertiges, bereits erstarrtes Handlungsmuster. In diesem Modell verhält sich lediglich der Erfinder schöpferisch, während alle Anderen sich auf Nachahmung beschränken. Jetzt aber geht es um die Frage, wie man sich einen offenen, hermeneutischen und schöpferischen Zirkel vorzustellen hat, an dem mehrere – räumlich und möglicherweise auch zeitlich voneinander getrennte – Individuen als Schöpfer mitwirken. Andererseits haben wir es hier nicht mit dem Versuch zu tun, überindividuelle Entwicklungsprozesse in der Gesellschaft, der Geschichte oder der Natur als solche zu beschreiben. Ergebnis eines derartigen Versuchs wäre eine soziologische, historische oder biologische Theorie. Seit Introduction à la métaphysique und L’évolution créatrice geht Bergson zwar über die auf das individuelle Bewusstsein beschränkte Perspektive hinaus, aber er dementiert sie nicht. Wie schon die erkenntnistheoretische Grundlegung, so ist auch die moralphilosophische Fortsetzung geprägt durch jenes eigenartige Unter-Uns oder Über-Uns, das zugleich ein In-Uns ist, durch das Hin-und-Her zwischen überindividuellem Geschehen und individuellem Verstehen. Weiterhin haben wir es nicht mit der Frage zu tun, wie sich das überindividuelle Geschehen im individuellen Verstehen darstellt. Auch diese Frage ist nicht rundweg abzulehnen. Sie hat sowohl in der erkenntnistheoretischen wie auch in der moralphilosophischen Grundlegung ihren Platz. Aber in der Moralphilosophie geht es um mehr. Um die berühmte Formel aufzugreifen und ein wenig abzuwandeln: Es genügt nun nicht mehr, die Wirklichkeit anders zu interpretieren; es kömmt darauf an, sie zu verändern. Wenn aber hier schon an Marx erinnert wird, so sei auch gleich angemerkt: Wie sich eine solche Veränderung darstellt, hängt ab von der Ontologie, auf die man sich bezieht. Wer mit einer Prozessontologie operiert, wird die Veränderung als Fortsetzung erfahren, dem Verfechter einer Dingontologie dagegen wird sie als Revolution erscheinen. Insofern geht es Bergson schließlich auch nicht einfach um die Frage, wie der Mensch die Wirklichkeit, in der er lebt, nach 801 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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eigenem Belieben gestalten kann. Es geht ihm vielmehr um ein Umgestalten, das zugleich ein Fortsetzen ist, um einen Weltbezug, der durch kritische Distanz zum Bestehenden ebenso geprägt ist wie durch Partizipation an einem übergreifenden Projekt. Die Umgestaltung ist nicht Willkür, sondern (ein erneuter Versuch der) Realisierung eines immer schon angestrebten Sinns. Die moralphilosophische Grundlegung stellt und beantwortet also eine neue, ihr eigentümliche, zugleich aber eine die Denkbewegung von Bergsons Philosophie konsequent weiterführende Frage. Wie die Methodenlehre die Ontologie voraussetzt und fortführt, so beruft sich die Moralphilosophie einerseits auf die Methodenlehre und erschließt andererseits eine ganz neue Dimension. Ähnlich verhält es sich im Hinblick auf die Antwort. In ihr werden wir alle wesentlichen Elemente, die unsere Untersuchung bisher herausgearbeitet hat, wiederfinden: Entwurf und Material, Intuition und Sympathie, Genie und Methode, Analogie und Zirkelstruktur. Aber sie werden sich in einer Gesamtkonstellation zeigen, in der sie auf ein neues Ziel ausgerichtet sind. Das Ziel besteht nun nicht mehr (nur) darin, im Hinund-Her zwischen Intuition und Sympathie das überindividuelle Geschehen zu verstehen, sondern darum, in dieses Geschehen einzugreifen und es auf der Basis des in der Intuition Erfassten zu gestalten. Ist nun aber die Kontinuität der von der Ontologie über die Methodenlehre zur Moralphilosophie führenden Gedankenbewegung auch noch so deutlich ausgeprägt, so konfrontiert uns die Moralphilosophie dennoch mit einigen Überraschungen. Deren größte ist wohl die Rolle des Genies. Im Rahmen der erkenntnistheoretischen Grundlegung diente es als Indikator des von der Methode zu Leistenden und als Ermutigung im Hinblick auf die Realisierbarkeit des philosophischen Projekts, blieb aber letztlich außerhalb der Methode und war insofern im Grunde entbehrlich. Für Bergsons Moralphilosophie dagegen ist das Genie unverzichtbar. Es wird in das Modell des moralischen Handelns integriert, ohne dass deshalb die Unterscheidung zwischen den Wenigen, die Genies sind, und den Vielen (Philosophen eingeschlossen), die es nicht sind, aufgegeben würde. Dieser Schachzug hat Veränderungen an zahlreichen anderen Stellen zur Folge. So wird etwa der hermeneutische Zirkel deutlich komplexer, weil die Zirkelbewegung, die zwischen dem Leben und dem durch die einzelnen Genies geleisteten Verstehen des Lebens kreist, kombiniert wer802 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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den muss mit einer weiteren Zirkelbewegung, in der die Nicht-Genies sich bemühen, durch immer besseres Verstehen des von den Genies Erfassten dem Leben selbst auf die Spur zu kommen. Es wird nun darum gehen müssen, diese erste, sehr grobe Skizze mit Details anzureichern und so lebendig werden zu lassen. 6.2.4.2 Verstehen und Überschreiten Fortsetzen ist mehr als nur Sich-hinein-Versetzen. Fortsetzen ist sogar mehr als Übersetzen. Es begnügt sich nicht damit, das bereits Gesagte mit anderen, aber äquivalenten Worten noch einmal zu sagen, das bereits Getane in vergleichbarer Weise noch einmal zu tun. Es will auch nicht nur das ungesagt Gebliebene kommentierend aussprechen, das bereits Gestaltete ein wenig ergänzen oder verfeinern. Es will in der Sache grundsätzlich vorankommen. Deshalb muss es über das bereits Gesagte oder Getane hinausgehen. Deshalb muss es das, woran es verstehend anknüpft, kritisieren. Was sich verstehen lässt – so eine der Grundregeln in Bergsons hermeneutischer Philosophie –, das lässt sich auch kritisieren und überschreiten. Oder vielmehr: Verstehen ist immer schon Überschritten-Haben. Der Übergang von der erkenntnistheoretischen zur moralphilosophischen Grundlegung besteht dann darin, statt nach dem nur implizit oder doch nur im individuellen Bewusstsein sich vollziehenden Überschreiten nun nach einem Überschreiten der in der äußeren Wirklichkeit begegnenden Zustände zu fragen, das in die äußere Wirklichkeit zurückwirkt. In diesem Zusammenhang sind insbesondere zwei Aspekte hervorzuheben. Der erste ist die Kritikwürdigkeit der in der Lebenswelt anzutreffenden Zustände. In dem oft gezeichneten Bild eines zwar Naturwissenschaft und Sprache kritisierenden, ansonsten aber »heiteren«, Ernst und Dramatik der Existenz verkennenden oder zumindest unterschlagenden Philosophen kommt dieser Aspekt überhaupt nicht vor. Gleichwohl ist er für Bergsons Denken entscheidend. Der zweite Aspekt, ohne den der erste von geringem Wert wäre, ist dann die Kritikfähigkeit des menschlichen Individuums. Bergsons Moralphilosophie erklärt also einerseits, warum die lebensweltliche Wirklichkeit Kritik verdient, andererseits, wieso der einzelne Mensch überhaupt Kritik zu üben vermag. Beginnen wir mit einigen Beispielen für die Kritikwürdigkeit:

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Die Religion, (unbewusst) geschaffen, um Moral und Zusammenhalt der Gesellschaft zu fördern, schlägt in ihr Gegenteil um, wenn sie, die Naturhaftigkeit ihres Ursprungs offenbarend, Unmoralisches (z. B. Menschenopfer) fordert und wenn in ihrem Namen Krieg geführt wird: »Hält man sich vor Augen, was die Religionen waren und was gewisse Religionen heute noch sind, so ist das sehr demütigend für die menschliche Intelligenz. Welch ein Gestrüpp von Verirrungen! Mag die Erfahrung auch sagen: ›Das ist falsch‹, und die Vernunft: ›Das ist absurd‹ – die Menschheit klammert sich darum nur noch mehr an die Absurdität und den Irrtum. Und wenn es noch dabei bliebe! Aber man hat die Religion die Unmoral vorschreiben und Verbrechen gebieten sehen.« 191 »Der Krieg wurde ein Kampf zwischen rivalisierenden Gottheiten.« 192



Der Krieg verdient es nicht nur der Sache nach – als ärgstes Defizit des gängigen menschlichen Miteinander –, in der Liste des Kritikwürdigen an erster Stelle genannt zu werden, sondern auch deshalb, weil Frédéric Worms bereits nachdrücklich auf die Bedeutung der Kriegserfahrung für Bergsons moralphilosophische Grundlegung hingewiesen hat: Der Krieg demonstriert die Unfähigkeit der in geschlossenen Gesellschaften herrschenden, naturhaften Moral und Religion, das menschliche Miteinander in befriedigender Weise zu regeln. Er bringt das Bedürfnis nach einer anderen Gesellschaft hervor und treibt die Suche nach einer andersartigen Moral an. 193 Das Lachen, das die Integration innerhalb der Gesellschaft vertiefen soll, erweist sich nicht selten als ungerecht. Es tendiert dazu, sich mit den geltenden Normen zu verbünden und jede Abweichung zu bestrafen. Es lässt eine Neigung zu Demütigung und Erniedrigung erkennen. Es gibt sich mit bloßem Ungefähr zufrieden:

191 Le spectacle de ce que furent les religions, et de ce que certaines sont encore, est bien humiliant pour l’intelligence humaine. Quel tissu d’aberrations ! L’expérience a beau dire « c’est faux » et le raisonnement « c’est absurde », l’humanité ne s’en cramponne que davantage à l’absurdité et à l’erreur. Encore si elle s’en tenait là ! Mais on a vu la religion prescrire l’immoralité, imposer des crimes. – DS 1061 | 105 | 80 192 La guerre devenait une lutte entre divinités rivales. – DS 1140 | 204 | 151 193 Vgl. insbesondere Worms[2007].

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»Alles in allem leistet das Lachen ganz gewiss eine wichtige Arbeit. […] Daraus folgt aber nun weder, dass das Lachen stets gerecht verfährt, noch dass es aus Wohlwollen oder auch nur Billigkeit entspringt. Um stets gerecht zu verfahren, müsste es aus einem Akt der Reflexion hervorgehen. Das Lachen ist ja aber nur die Leistung eines in uns von der Natur oder, was ziemlich auf dasselbe hinausläuft, durch lange, lange Gewohnheit des sozialen Lebens erzeugten Mechanismus. Es geht ganz von allein los und pariert ganz von selbst Stoß auf Stoß. Es hat keine Zeit, jedes Mal nachzusehen, wohin es trifft. Es straft gewisse Fehler beinah so, wie eine Krankheit gewisse Exzesse straft, trifft Unschuldige, schont Schuldige, geht nur aufs Gesamtresultat und kann nicht jedem einzelnen Fall die Ehre antun, ihn für sich zu untersuchen.« 194



Die Intelligenz ist frei von inhaltlichen Bindungen, die den Instinkt einschränken. Sie geht deshalb davon aus, dass die gesamte Wirklichkeit ihrem Erkenntnisstreben offensteht. Aber sie scheitert bei dem Versuch, sich selbst zu verstehen, weil sie – im Verein mit der Begriffssprache – den Geist verdinglicht: »Auch wenn sie nicht mehr mit der toten Materie operiert, folgt die Intelligenz den Gewohnheiten, die sie bei diesen Operationen angenommen hat: Sie wendet Formen an, die jene der anorganischen Materie selbst sind. […] Um sich selbst deutlich und klar zu denken, muss sie sich also in Form von Diskontinuität erfassen.« 195



Die Philosophie betrachtet es als ihre Aufgabe, ein Gesamtbild der Wirklichkeit zu entwerfen. Weil sie aber, statt sich auf die Vielfalt des Wirklichen einzulassen, von allgemeinsten Begriffen ausgeht, ist sie genötigt, all das wegzulassen, was sich nicht aus

194 En général et en gros, le rire exerce sans doute une fonction utile. […] Mais il ne suit pas de là que le rire frappe toujours juste, ni qu’il s’inspire d’une pensée de bienveillance ou même d’équité. Pour frapper toujours juste, il faudrait qu’il procédât d’un acte de réflexion. Or le rire est simplement l’effet d’un mécanisme monté en nous par la nature, ou, ce qui revient à peu près au même, par une très longue habitude de la vie sociale. Il part tout seul, véritable riposte du tac au tac. Il n’a pas le loisir de regarder chaque fois où il touche. Le rire châtie certains défauts à peu près comme la maladie châtie certains excès, frappant des innocents, épargnant des coupables, visant à un résultat général et ne pouvant faire à chaque cas individuel l’honneur de l’examiner séparément. – R 481 f. | 150 f. | 131 f. 195 Ainsi l’intelligence, même quand elle n’opère plus sur la matière brute, suit les habitudes qu’elle a contractées dans cette opération : elle applique des formes qui sont celles mêmes de la matière inorganisée. […] Elle devra donc, pour se penser clairement et distinctement elle-même, s’apercevoir sous forme de discontinuité. – EC 631 | 161 | 165

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den gewählten Grundbegriffen entwickeln lässt. Und weil stets der eine Philosoph das für entscheidend hält, was der andere glaubte weglassen zu dürfen, entsteht ein Gezänk zwischen den philosophischen Schulen, das nicht nur von ferne an den religiös motovierten Krieg erinnert: »So entsteht eine Menge verschiedener Systeme, nämlich ebenso viele wie es äußere Gesichtspunkte gibt gegenüber der Wirklichkeit, die man untersucht, oder mehr oder weniger große Kreise, in denen man sie einschließt. Die einfachen Begriffe haben also nicht allein den Nachteil, dass sie die konkrete Einheit des Objektes in ebenso viele symbolische Ausdrücke teilen; sie teilen auch die Philosophie in verschiedene Schulen, von denen jede auf ihrem Standpunkt besteht, ihre Spielmarken wählt und mit den anderen eine Partie beginnt, die kein Ende findet.« 196 »Die Methode erreicht also das Gegenteil von dem, was sie beabsichtigt: Sie sollte der Theorie nach die Wahrnehmung erweitern und vervollständigen; in Wirklichkeit aber ist sie gezwungen, eine Fülle von Wahrnehmungen zu unterschlagen, damit diese oder jene unter ihnen repräsentativ für die anderen werden kann.« 197

Angesichts dieser Beispiele kann man zunächst einmal fragen: Was wird da eigentlich kritisiert? Kritikern wird auffallen, dass Bergson hier wieder die Sprache im Visier hat und dass auch Schwächen der Intelligenz Thema sind. Und in der Tat: Bergsons Kritik zielt auf die Schwächen der Intelligenz und ihrer Werkzeuge. Die Beispiele zeigen freilich, dass auch Instinkte und instinktähnliche Leistungen der Kritik nicht entgehen. Klassifiziert man die kritisierten Phänomene unter diesem Gesichtspunkt, so können wir vorläufig sagen, dass alle Kritik im Einzelnen auf die These der Notwendigkeit einer Verschränkung von Instinkt und Intelligenz abzielt: Die Betrachtung des Instinkts aus der Perspektive der Intelligenz sowie der Intelligenz Ainsi surgiront une multitude de systèmes différents, autant qu’il y a de points de vue extérieurs sur la réalité qu’on examine ou de cercles plus larges dans lesquels l’enfermer. Les concepts simples n’ont donc pas seulement l’inconvénient de diviser l’unité concrète de l’objet en autant d’expressions symboliques ; ils divisent aussi la philosophie en écoles distinctes, dont chacune retient sa place, choisit ses jetons, et entame avec les autres une partie qui ne finira jamais. – PM 1401 | 188 | 190 197 La méthode va donc contre le bu : elle devait, en théorie, étendre et compléter la perception ; elle est obligée, en fait, de demander à une foule de perceptions de s’effacer pour que telle ou telle d’entre elles puisse devenir représentative des autres. – PM 1370 | 148 | 154 f. 196

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aus der Perspektive des Instinkts zeigt die jeweiligen Schwächen auf und dokumentiert die Notwendigkeit einer Kooperation. Sodann kann man fragen: Wie wird kritisiert? In dieser Hinsicht lässt sich sehr deutlich ein gemeinsames Merkmal aller angeführten Beispiele erkennen: Die Kritik erfolgt immanent. Bergson trägt nicht irgendwelche Maßstäbe von außen an die Phänomene heran, sondern greift deren eigenen Anspruch auf und zeigt dann, dass sie gerade gegenüber diesem Anspruch versagen. Die Religion, geschaffen, um dem Leben zu dienen, wird Ursache der Vernichtung von Leben. Das Lachen, angetreten, um das gedankenlose Repetieren des Konventionellen zu strafen, verbündet sich mit den herrschenden Konventionen. Die Intelligenz, offen für die ganze Wirklichkeit, scheitert an sich selbst. Die Philosophie, bestrebt, die Lücken der Empirie zu schließen, verarmt die Wirklichkeit durch Abstraktion. Man kann das Prinzip dieser Kritik nicht besser formulieren, als Bergson das im Kontext des vierten Beispiels getan hat: Die Methode »erreicht das Gegenteil von dem, was sie wollte«. Das gilt nicht nur für die philosophische Methode, sondern für sämtliche angeführten Phänomene. Eine dritte Frage wird lauten: Gibt es hier eigentlich etwas Neues? Hatten wir nicht bereits in Kapitel 1 festgestellt, dass das Denken des Philosophen mit einem »Unmöglich!« beginnt? Und hatten wir nicht in Kapitel 2 von den Rissen gesprochen, die sich in der Wirklichkeit zeigen? Es scheint mir wichtig, diese Verbindungslinie zu ziehen, aber auch festzustellen, dass sich die Situation des Verstehenden seit Kapitel 1 verändert hat. In den Kapiteln 1 und 2 haben wir den Ausbruch des Menschen aus dem unbewussten Mit- und Nachvollzug fertiger Denk- und Verhaltensmuster, das Aufbrechen des Bewusstseins als Wahrnehmung einer Differenz mitvollzogen. Was wir dort beobachtet haben, war ein für die betroffene Person überraschendes Geschehen, das weder im Hinblick auf seinen Ursprung noch im Hinblick auf das angestrebte Ziel geklärt war. Nach mancherlei Zwischenstufen haben wir inzwischen das Niveau der Intuition erreicht, die – als Reflexion auf Zusammenhang und Ganzheit – ein Erfassen der Dauer als Verstehen von Sinn ermöglicht. Unter diesen neuen Umständen ist die Kritik nicht verschwunden, aber sie ist eine andere geworden. Sie ist nun kein bloßes, sich selbst nicht begreifendes Unbehagen mehr, sondern – wenn man so will – ein Maßnehmen, ein Vergleichen des vorgefundenen Phänomens mit dem erfassten Sinn. Und wenn man hier auch nicht vergessen darf, dass das Ver807 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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stehen selbst auf der Stufe der Intuition menschliches, d. h. unvollkommenes Verstehen bleibt, so gilt doch, dass die Kritik, mit der wir es jetzt zu tun haben, das bewusste Ergebnis einer bewussten Gegenüberstellung ist. Il/elle va contre le but – das heißt: Die Gestalt, in der sich die Sache hier zeigt, widerspricht (zumindest teilweise) ihrem Sinn. Damit befinden wir uns bereits mitten in der Diskussion des zweiten Aspekts. Eine der wesentlichsten Aufgaben, die Bergson der Moralphilosophie zuweist, besteht nämlich darin, die Kritikfähigkeit des menschlichen Individuums zu begründen. Das ist der Sinn jener programmatischen Sätze, die sich am Schluss des ersten Kapitels von Les deux sources de la morale et de la religion finden. 198 Bergson polemisiert dort – wie üblich, ohne Namen zu nennen – gegen eine Soziologie à la Durkheim, die glaubt, soziale Phänomene »fänden ihre endgültige Erklärung in dem als einfaches Faktum betrachteten sozialen Leben« (Soziologisches kann nur durch Soziologisches erklärt werden), ja es sei sogar für das Verständnis des individuellen Denkens und Handelns hinreichend, dieses auf eine Prägung durch kollektive Strukturen zurückzuführen. Bergson hält zunächst dagegen, dass »die Gesellschaft sich nicht von selbst erklärt«, denn »damit die Gesellschaft existiere, muss zunächst das Individuum ein Gesamt von eingeborenen Anlagen mitbringen«. Und dann verteidigt er den Spielraum des Einzelnen: »Man wird noch tiefer schürfen müssen, wenn man nicht allein verstehen will, wie die Gesellschaft das Individuum verpflichtet, sondern auch, wie das Individuum zum Richter über die Gesellschaft werden und von ihr eine 198 L’erreur serait de croire que pression et aspiration morales trouvent leur explication définitive dans la vie sociale considérée comme un simple fait. On se plaît à dire que la société existe, que dès lors elle exerce nécessairement sur ses membres une contrainte, et que cette contrainte est l’obligation. Mais d’abord, pour que la société existe, il faut que l’individu apporte tout un ensemble de dispositions innées ; la société ne s’explique donc pas elle-même ; on doit par conséquent chercher au-dessous des acquisitions sociales, arriver à la vie, dont les sociétés humaines ne sont, comme l’espèce humaine d’ailleurs, que des manifestations. Mais ce n’est pas assez dire : il faudra creuser plus profondément encore si l’on veut comprendre, non plus seulement comment la société oblige les individus, mais encore comment l’individu peut juger la société et obtenir d’elle une transformation morale. Si la société se suffit à elle-même, elle est l’autorité suprême. Mais si elle n’est qu’une des déterminations de la vie, on conçoit que la vie, qui a dû déposer l’espèce humaine en tel ou tel point de son évolution, communique une impulsion nouvelle à des individualités privilégiées qui se seront retrempées en elle pour aider la société à aller plus loin. – DS 1060 | 102 f. | 79

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moralische Umwandlung erreichen kann. Wenn die Gesellschaft sich selbst genügt, so ist sie die oberste Autorität. Ist sie aber nur eine von den Bestimmungen des Lebens, dann begreift man, dass das Leben […] gewissen […] Individualitäten einen neuen Anstoß verleiht, […] um neue Kraft zu schöpfen und der Gesellschaft zu weiterem Fortschreiten zu verhelfen.«

Man hat das wieder und wieder so missverstanden, als wolle Bergson die Prägung des Individuums durch die Gesellschaft bestreiten und die Soziologie durch irgendeine Art von Naturphilosophie ersetzen. Eine aufmerksame Lektüre der zitierten Sätze zeigt, wie verfehlt diese Interpretation ist. Bergson leugnet eine derartige Prägung durchaus nicht. Er nimmt sie, ganz im Gegenteil, sehr ernst. Aber gerade deshalb stellt er die Frage: Wenn also das Individuum in vielerlei Hinsicht durch die Gesellschaft geprägt wird, heißt das, dass es ihr wehrlos ausgeliefert ist? Wenn man das aber nicht behaupten will, müsste man dann nicht das Forschungsprogramm der Soziologie (Durkheims) ergänzen durch eine Untersuchung der Frage, wie das einzelne Mitglied (a) zum »Richter« der Gesellschaft werden, d. h. die Zustände kritisieren, und (b) eine »Umwandlung« erreichen, d. h. zu ihrer Veränderung beitragen kann? Bergson jedenfalls ist der Ansicht, dass das Individuum über Kritikfähigkeit verfügt, weil jede Gesellschaft ein Produkt des Lebens (überhaupt) ist, weil der Mensch die Dauer dieses überindividuellen Lebens (der Evolution alles Lebendigen) durch eine Intuition erfassen und ihr so einen Sinn abgewinnen kann. Solches Verstehen erfasst nicht eine Sache, sondern ein mit der Verwirklichung eines Sinnes befasstes Projekt. Deshalb kann das, was als Darstellung des Sinns auftritt, sich als unvollkommene Realisierung des Projekts erweisen. In Bergsons Worten: Die Dauer ist Elan. Aber der Elan ist erschlafft, die kreative Energie ist versiegt, und deshalb ist die Entwicklung zum Stillstand gekommen. Die Gestalt ist dieser Stillstand. Daraus folgt, dass das Projekt unterwegs unvollendet abgebrochen wurde. Verhält es sich so, dann muss der Blick auf die Gestalt vor dem Hintergrund des Projekts die Unvollkommenheit der Gestalt enthüllen. Daher die Kritik. Umgekehrt wird aber der von der Gestalt ausgehende Blick auf das Projekt zumindest die Ahnung einer anderen Gestalt, den »Vorschein« (Bloch) einer besseren Lösung aufkommen lassen. Weil dies geschieht, ist die Kritik nicht unfruchtbar. Sie weckt den eingeschlafenen Elan wieder auf, vermittelt also den Impuls für eine Fortsetzung des unterbrochenen Projekts. Aber eben deshalb gilt: Verstehen ist immer schon Überschritten-Haben. Das ist Berg809 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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sons Version des hermeneutischen Axioms, es komme darauf an, den Autor besser zu verstehen, als er sich selbst verstanden hat. 6.2.4.3 Analogie als Verschränkung von Partizipation und Distanz Bergsons moralphilosophische Grundlegung beschreibt also moralisches Verhalten – oder jedenfalls: diejenige Form des moralischen Verhaltens, die sich nicht auf die Pflicht, sondern auf das Ideal beruft – als Verschränkung von Partizipation und Distanz: Partizipation am Sinn und Distanz gegenüber der Gestalt, Anteilnahme und Teilnahme an einer als Projekt verstandenen Entwicklung und Kritik am bisher erreichten Resultat. Freilich gibt es nicht nur eine einzige mögliche Weise der Verschränkung von Partizipation und Distanz. Ich hatte bereits im ersten Teilabschnitt angedeutet, dass wir es in Bergsons Moralphilosophie mit einem – gegenüber den früher diskutierten Formen – komplexeren hermeneutischen Zirkel zu tun haben, weil es sich als nötig erweist, zwei Zirkelbewegungen ineinander zu schachteln. Beide Bewegungen erweisen sich als Verschränkungen von Partizipation und Distanz, unterscheiden sich jedoch im Hinblick auf die Details der Verschränkung. Jede Zirkelbewegung konzentriert sich in einer »Schlüsselszene«: die eine in der Begegnung eines Durchschnittsmenschen mit einem moralischen Vorbild, die andere im Rückgang des Mystikers zum Urquell des Lebens. Beginnen wir mit der unserer alltäglichen Erfahrung näher liegenden Szene. Ich möchte zu dieser Szene und ihrer Bedeutung hinführen, indem ich auf eine Frage zurückkomme, die wir in Kapitel 1 gestellt, aber seither etwas aus den Augen verloren hatten: Was heißt eigentlich Übernehmbarkeit? Anlass für unsere Frage waren zwei Feststellungen: (1) Bergson betrachtet die Lehre eines Philosophen einerseits als ganz persönliche Perspektive auf die Wirklichkeit, andererseits aber als eine von Anderen übernehmbare Wahrheit. (2) Bergson hatte zuvor das Übernehmen gleichgesetzt mit dem bloßen Einüben von fertigen Denk-, Sprech- oder Handlungsmustern, also mit der Übernahme des toten Materials, das den Gegenpol zur lebendigen Intuition bildet. Wenn es sich nun aber so verhält, muss dann nicht auch eine übernommene Intuition eine tote Intuition sein? Oder gibt es ein Übernehmen, bei dem das Übernommene lebendig bleibt? 199 Dass die Befürchtung, eine Intuition könne durch Übernahme 199

Vgl. Abschnitt 1.2.5, S. 90.

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ihre Lebendigkeit einbüßen, nicht grundlos ist, wird in Bergsons Schriften immer wieder deutlich. Als Paradigma des in diesem Sinne misslingenden Übernehmens tritt Don Quijote auf: »Hier ist nun Don Quijote, der in den Krieg zieht. Aus seinen Romanen weiß er, dass der Ritter auf seinem Wege feindlichen Riesen begegnet. Was er also braucht, ist ein Riese. Die Vorstellung eines Riesen ist eine Idee, die sich besonders fest in sein Gehirn gesetzt hat, drinnen auf der Lauer liegt und gespannt die Gelegenheit erspäht, wo sie hervorstürzen und sich in einem Gegenstand der Außenwelt verkörpern kann. […] Es ist dies eine ganz besondere Art, den gesunden Menschenverstand auf den Kopf zu stellen: statt dass man sich von den Gegenständen Vorstellungen bildet, schafft man sich zu seinen Vorstellungen Gegenstände; statt an das zu denken, was man vor sich sieht, sieht man das vor sich, was man denkt.« 200

Nun misslingt hier nicht alles. Erst einmal gelingt ziemlich viel. Don Quijote liest Ritterromane, und wir dürfen davon ausgehen, dass er die gelesenen Texte versteht. Wahrscheinlich wäre er sogar ein vorzüglicher Spezialist für Ritterromane. Auch Sympathie für die Romanhelden wird man ihm nicht absprechen wollen. Und überdies tut Don Quijote genau den Schritt, auf den es mir hier ankommt: Er belässt es nicht bei der Auffassung, Texte seien eben Texte, sondern entnimmt den Romanen ein Leitbild für sein Handeln. Ritterliches Handeln ist für ihn nicht ein Phänomen aus einer fernen und/oder imaginären Welt, sondern ein übernehmbares Ideal. Die Auseinandersetzung mit dem Text ist nicht beendet, wenn man die letzte Seite gelesen hat, weil von ihm ein Appell ausgeht, der eine Antwort fordert. Diese Auffassung vom Wesen eines Textes oder vom angemessenen Umgang mit einem Text ist – jedenfalls nach Bergsons Einschätzung – nicht Don Quijotes Fehler. Texte sollen wirken. Sie sollen nach- und weiterwirken, und zwar so, dass nicht nur eine Botschaft weitergetragen, sondern ein Handlungsimpuls übermittelt wird. Don Quijotes Fehler ist die Art und Weise des Übernehmens, die an den Voici maintenant Don Quichotte qui part en guerre. Il a lu dans ses romans que le chevalier rencontre des géants ennemis sur son chemin. Donc, il lui faut un géant. L’idée de géant est un souvenir privilégié qui s’est installé dans son esprit, qui y reste à l’affût, qui guette, immobile, l’occasion de se précipiter dehors et de s’incarner dans une chose. […] C’est une inversion toute spéciale du sens commun. Elle consiste à prétendre modeler les choses sur une idée qu’on a, et non pas ses idées sur les choses. Elle consiste à voir devant soi ce à quoi l’on pense, au lieu de penser à ce qu’on voit. – R 475 | 140 f. | 123 200

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äußerlichen, oberflächlichen Details hängen bleibt: Ein Ritter muss gegen einen feindlichen Riesen kämpfen. Dass man auch Ritter sein, sich ritterlich betragen könnte, ohne je Riesen und Zauberer besiegt zu haben – das ist ein Gedanke, auf den Don Quijote nicht verfällt und den man ihm auch kaum plausibel machen könnte. Deutlicher fällt das Moment des von verstandenen Personen oder Texten ausgehenden Appels da aus, wo – wie etwa in Les deux sources de la morale et de la religion – die Übernahme einer leitenden Idee diese nicht zur leblosen Formel macht: Die Art dieses Appells haben nur diejenigen ganz erkannt, die die Gegenwart einer großen moralischen Persönlichkeit erlebt haben. Aber jeder von uns hat sich in Stunden, wo die gewöhnlichen Grundsätze seines Betragens ihm unzureichend erschienen, gefragt, was diese oder jene Persönlichkeit in einer solchen Situation von ihm erwarten würde. Es mochte ein Verwandter, ein Freund sein, den wir so im Gedanken heraufbeschworen. Aber es mochte auch ein Mensch sein, den wir nie gesehen hatten, von dem man uns nur das Leben erzählt hatte, und dessen Urteil wir nun im Geiste unser Verhalten unterwarfen, dessen Tadel wir fürchteten und dessen Zustimmung uns stolz machte. Es mochte sogar eine aus dem Grund unserer eigenen Seele ans Licht des Bewusstseins gezogene Persönlichkeit sein, die in uns entstand, die wir imstande fühlten, uns später ganz zu erfüllen, und der wir uns im Augenblick anschließen wollten, wie der Schüler dem Meister.« 201

Die Andersartigkeit dieser Konstellation rührt nicht daher, dass der »Schüler« – der sich am Ideal ausrichtende Mensch – hier mit einem »Meister« konfrontiert ist, dessen Gegenwart er erlebt hat, während Don Quijote die Beschreibung des Ritter-Ideals aus Büchern entnehmen musste. Bergson macht ja sehr deutlich, dass der Meister jemand sein kann, den wir nie gesehen haben, so dass man also auch in die201 La nature de cet appel, ceux-là seuls l’ont connue entièrement qui se sont trouves en présence d’une grande personnalité morale. Mais chacun de nous, à des heures où ses maximes habituelles de conduite lui paraissaient insuffisantes, s’est demandé ce que tel ou tel eût attendu de lui en pareille occasion. Ce pouvait être un parent, un ami, que nous évoquions ainsi par la pensée. Mais ce pouvait aussi bien être un homme que nous n’avions jamais rencontré, dont on nous avait simplement raconté la vie, et au jugement duquel nous soumettions alors en imagination notre conduite, redoutant de lui un blâme, fiers de son approbation. Ce pouvait même être, tirée du fond de l’âme à la lumière de la conscience, une personnalité qui naissait en nous, que nous sentions capable de nous envahir tout entiers plus tard, et à laquelle nous voulions nous attacher pour le moment comme fait le disciple au maître. – DS 1003 f. | 30 | 28

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sem Fall auf Berichte angewiesen wäre. Das hier geschilderte Übernehmen unterscheidet sich vielmehr dadurch von demjenigen Don Quijotes, dass eine Übertragungsleistung stattfindet, die sich auf echte Sympathie gründet. Beginnen wir mit der Sympathie. Die Textpassagen, in denen Bergson von der Ausrichtung des eigenen Verhaltens an einem Vorbild spricht, heben noch einmal Aspekte des Sympathisierens hervor, die wir in Kapitel 5 unterschieden haben. Sympathie beschränkt sich nicht auf ein einseitiges Sich-Einstellen auf, Sich-Einfühlen in die Intentionen des Anderen (Empathie), sondern setzt sich fort im Bemerken einer Analogie: Man erkennt sich im Anderen wieder. Wenn eine Person eine andere als vorbildhaft erlebt, so entdeckt sie nicht nur etwas am Anderen, sondern auch – und vor allem – in sich selbst. Der vom Anderen ausgehende Appell kann nur deshalb in mir ein Echo auslösen, weil ich – unentwickelt und unbewusst – das schon selbst bin, wozu mich der Appell des Anderen auffordert. Zu den Bildern, die Bergson einsetzt, um diesen Gedanken zu veranschaulichen, gehört das – im Zeitalter der digitalen Photographie nur noch mühsam nachvollziehbare – der Entwicklung eines photographischen Negativs. Der Aspekt, auf den es ihm dabei ankommt, ist das Sichtbarmachen von zuvor Unsichtbarem: »Der Dichter und der Romanschriftsteller, die einen Seelenzustand ausdrücken, schaffen ihn sicherlich nicht in allen Einzelheiten; sie würden nicht von uns verstanden werden, wenn wir nicht bis zu einem gewissen Grade in uns das beobachteten, was sie von anderen sagen. In demselben Maße, wie sie zu uns sprechen, erscheinen Nuancen des Fühlens und Denkens, die seit langem in uns gleichsam schlummerten und unsichtbar blieben, ähnlich wie ein photographisches Bild, das noch nicht in das Bad getaucht worden ist, in dem es sich enthüllen wird.« 202

Ein weiteres Bild ist die Wirkung eines Magneten. Diesem Bild liegt weniger der Gegensatz von Unsichtbarem und Sichtbarem als vielmehr derjenige von Unausgerichtetheit und Ausgerichtetheit zugrunde: 202 Le poète et le romancier qui expriment un état d’âme ne le créent certes pas de toutes pièces ; ils ne seraient pas compris de nous si nous n’observions pas en nous, jusqu’à un certain point, ce qu’ils nous disent d’autrui. Au fur et à mesure qu’ils nous parlent, des nuances d’émotion et de pensée nous apparaissent qui pouvaient être représentées en nous depuis longtemps, mais qui demeuraient invisibles : telle, l’image photographique qui n’a pas encore été plongée dans le bain où elle se révélera. – PM 1370 f. | 149 f. | 155

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»Es kommt vor, dass überlegene Geister sich in demselben Maße mehr und mehr selbst erkennen, wie sie tiefer ins Innere eines verehrten Meisters eindringen. Ähnlich wie die zerstreuten Eisenfeilspäne sich unter dem Einfluss des Magneten nach den Polen orientieren und sich in harmonischen Kurven anordnen, so erwachen, so vereinigen und konzentrieren sich die hier und dort in einer Seele schlummernden Virtualitäten beim Appell eines Genius, den man verehrt, zu einer gemeinsamen Wirkung. Durch diese Konzentration aller Vermögen des Geistes und des Herzens in einem einzigen Punkte bildet sich eine Persönlichkeit.« 203

Beide Bilder lassen sich durchaus zusammendenken: Die Unsichtbarkeit (Unbewusstheit) der im Selbst angelegten Tendenzen würde dann gerade daher rühren, dass sie chaotisch in die verschiedensten Richtungen streben, und ihre Bewusstheit käme dadurch zustande, dass es gelingt, sie auf ein einigendes Ziel auszurichten. Die Sympathie mit dem Anderen ist, so gesehen, eigentlich die Sympathie mit den neu entdeckten Aspekten des Ich. Oder auch: Sie ist die Sympathie mit dem uns beide Verbindenden. Wie schon das Begegnen des Vorbilds als vorbildhaft weniger eine Fremdorientierung als vielmehr die Orientierung eines zuvor orientierungslosen Ich ist, so vollzieht sich nun auch die weitere Ausrichtung des Denkens und Handelns, weit davon entfernt, bloßes Kopieren fremder und äußerlicher Muster zu sein, als Konkretisierung und Entfaltung der gerade dem Unbewussten entrissenen Aspekte des Ich. Das Ich wird also seine Aufgabe nicht darin sehen, Situationen aufzusuchen, die den ihm vom Vorbild her bekannten gleichen, sondern darin, auf die Situationen, in die es gerät, im Geiste des Vorbilds zu antworten. Sagen wir es deutlich: Das Ich wird sich darum bemühen, den in den Taten des Vorbilds zum Ausdruck kommenden Sinn zu erfassen und dann sein eigenes Leben diesem Sinn gemäß zu gestalten. Man kann dann Ritter sein, ohne jemals einen Riesen gesehen, und man kann Christ sein, ohne jemals Wasser in Wein verwandelt zu haben.

Il arrive que des hommes supérieurs se découvrent de mieux en mieux eux-mêmes à mesure qu’ils pénètrent plus avant dans l’intimité d’un maître préféré. Comme les grains éparpillés de la limaille de fer, sous l’influence du barreau aimanté, s’orientent vers les pôles et se disposent en courbes harmonieuses, ainsi, à l’appel du génie qu’elle aime, les virtualités qui sommeillaient çà et là dans une âme s’éveillent, se rejoignent, se concertent en vue d’une action commune. Or, c’est par cette concentration de toutes les puissances de l’esprit et du cœur sur un point unique que se constitue une personnalité. – PM 1458 f. | 263 | 255 203

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Die Frage, ob eine Idee, ein Ideal, eine Lebensform von einem Anderen übernommen werden kann, ohne ihr ursprüngliches Leben abzutöten, erweist sich also als die Frage nach dem Sinn. Wo nur die äußeren, fertig gegebenen Formen übernommen werden, da sind diese Formen leer und tot. Wo dagegen die Übernahme von einer Bemühung um den Sinn und der Übertragung des Sinnes in die eigenen, andersartigen Lebensumstände begleitet wird, da bleibt die ursprüngliche Intuition lebendig. Daraus folgt aber zwingend, dass das eigene Handeln demjenigen des Vorbilds nur analog sein kann. Hier entspringt der Analogiebegriff, und hier ist offenkundig, was er besagen soll: Ein durch den verstandenen Sinn vermitteltes Übernehmen ergibt keine äußerlich deckungsgleiche Kopie, sondern eine Analogie des vorbildhaften Denkens und Handelns. So wird verständlich, wie die aus einer philosophischen Intuition entwickelte Lehre persönliche Sicht und überpersönliche Wahrheit zugleich sein kann: Sie ist persönliche Sicht und historisch kontingent im Hinblick auf ihre individuelle Ausprägung. Sie ist aber Wahrheit im Hinblick auf ihren Sinn. Ihre Wahrheit besteht in ihrer Übernehmbarkeit, und diese beruht ihrerseits auf einer »Unschärfe« oder »Unvollständigkeit« des Sinns, die unterschiedlichste konkrete Ausgestaltungen zulässt. Zugleich wird deutlich, was diese »Schlüsselszene« zur Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis von überindividueller Dauer und individueller Initiative beitragen kann: Wenn ein Schüler das Verhalten des moralischen Vorbilds nicht einfach kopiert, sondern nach einer analogen Verhaltensweise sucht, die der Situationen, in der er sich befindet, angemessen ist, dann gilt das auch für das Verhältnis mehrerer Schüler zu ihrem Lehrer, ja sogar für das Verhältnis der Schüler untereinander. Wenn jeder Schüler seiner individuellen Situation angemessen und zugleich dem überindividuellen Sinn gemäß handelt, dann sind auch die Handlungsweisen der verschiedenen Schüler nicht identisch, sondern analog. In dieser Analogizität verschränken sich Partizipation und Distanz, aber man sieht, dass die Distanz hier weniger einer Kritik am Meister oder an den Mitschülern entspringt als vielmehr der Notwendigkeit einer Anpassung des allgemeinen Sinns an die besonderen Umstände. Und so pflanzt sich jener ursprüngliche Impuls, der das Energiezentrum dieser Lebensform ausmacht, von Mensch zu Mensch, von Situation zu Situation fort und enthüllt im Verlauf seiner »Wirkungsgeschichte« nach und nach seine vollständige Bedeutung. 815 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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6.2.4.4 Die hermeneutische Funktion der Emotion Die Konzeption des Auslegens als überindividuelle Dauer einer »Wirkungsgeschichte« wird ergänzt durch die Konzeption des Auszulegenden als Emotion. Der lange Zeit unbeachtet gebliebene Emotionsbegriff ist in der jüngsten Vergangenheit mehrfach Gegenstand des Interesses von Bergson-Interpreten gewesen. 204 Ich beschränke mich hier auf vier Punkte, die im Kontext unserer gegenwärtigen Fragestellung besonders relevant sind. (1) Bergson unterscheidet in Les deux sources de la morale et de la religion zwei Arten der Emotion. »Man muss zwei Arten von Emotionen unterscheiden, zwei Varietäten des Gefühls, zwei Erscheinungsformen der Empfindsamkeit […]. Im ersten Falle folgt die Emotion einer Idee oder einem vorgestellten Bild; der Gefühlszustand resultiert aus einem intellektuellen, der ihm nichts schuldet, der sich selbst genügt, und der, wenn er die Wirkung dieses Zustandes durch Rückprall erleidet, dabei mehr verliert als gewinnt. […] Die andere Emotion dagegen wird nicht durch eine Vorstellung ausgelöst, der sie folgte und von der sie unterschieden bliebe. Eher wäre sie – im Verhältnis zu den intellektuellen Zuständen, die dazukommen werden – eine Ursache und nicht ein Effekt; sie ist von Vorstellungen trächtig, deren keine eigentlich geformt ist, die sie aber durch eine organische Entwicklung aus ihrer Substanz herauszieht oder herausziehen könnte.« 205

Eine derartige Unterscheidung nimmt Bergson allerdings nicht nur im Hinblick auf Emotionen vor. In der Einleitung zu La pensée et le mouvant unterscheidet er in analoger Weise zwischen zwei Typen der »Klarheit« von Ideen: Eine Idee kann klar sein, weil sie bereits bekannte Ideen nachträglich zu einer neuen Idee verbindet. Hier stellt sich der Eindruck der Klarheit sofort und unmittelbar ein, weil sämtliche elementaren Ideen bereits vertraut sind und die aus der Kom204 Caeymaex[2006] – François[2008b], S. 65 ff. – Schick[2012] – Njoh Mouelle[2013], S. 177 ff. 205 Il faut distinguer deux espèces d’émotion, deux variétés de sentiment, deux manifestations de sensibilité […]. Dans la première, l’émotion est consécutive à une idée ou à une image représentée ; l’état sensible résulte bien d’un état intellectuel qui ne lui doit rien, qui se suffit à lui-même et qui, s’il en subit l’effet par ricochet, y perd plus qu’il n’y gagne. […] Mais l’autre émotion n’est pas déterminée par une représentation dont elle prendrait la suite et dont elle resterait distincte. Bien plutôt seraitelle, par rapport aux états intellectuels qui surviendront, une cause et non plus un effet; elle est grosse de représentations, dont aucune n’est proprement formée, mais qu’elle tire ou pourrait tirer de sa substance par un développement organique. – DS 1011 f. | 40 f. | 35

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bination hervorgegangene Idee nichts wirklich Neues hinzufügt. Es gibt aber auch »radikal neue und unreduzierbare« Ideen, die den – hier nur uneigentlich so zu bezeichnenden – elementaren Ideen vorausgehen. Sie entsprechen der Sinnhypothese in der Texthermeneutik, dem vorauseilenden Entwurf in der Interpretationsphilosophie, der ontologischen Intuition in der philosophischen Methode. Eine solche Idee stellt den noch unentwickelten Ursprung dar, aus dem die elementaren Ideen allererst entspringen bzw. durch Auslegung entwickelt werden. Das geschieht – gemäß dem Zusammenspiel von ontologischer Intuition und Empirie in der Methodenlehre – dadurch, dass wir die Idee »in den verschiedenen Bezirken unseres Wissens erproben«. Die neue Idee wird dann, obwohl anfänglich selbst »unverständlich«, zur Klärung der untersuchten Gegenstände beitragen und dann – gleichsam durch Reflexion des Lichtes, das sie im Bereich der Empirie verbreitet – selbst an Deutlichkeit und Klarheit gewinnen. Die Klarheit steht also in diesem Falle nicht am Anfang, und sie tritt auch nicht plötzlich auf, sondern sie entsteht langsam (à la longue) im Verlauf jener Zeit, die die empirische Forschung erfordert. 206 Die Spitze dieser Unterscheidung richtet sich gegen Theorien, die psychische Phänomene reduktionistisch als bloße Epiphänomene deuten. Bergson geht solchen Positionen zunächst einen Schritt entgegen: Eine Idee kann ein bloß nachträgliches Konstrukt, eine Emotion kann ein bloß subjektiver, für den Gehalt des Gedankens bedeutungsloser Zusatz sein. Dann folgt eine Einschränkung: Dies wird nur für einige Fälle zugestanden. Schließlich der Aufbau einer Gegenposition: Wirklich neue Ideen, wirklich schöpferische Emotionen, sind keineswegs Epiphänomene, sondern, ganz im Gegenteil, ursprüngliche Kräfte, »Energiezentren« im Sinne Hogrebes. Es verläuft 206 Il en est une autre [clarté], que nous subissons, et qui ne s’impose d’ailleurs qu’à la longue. C’est celle de l’idée radicalement neuve et absolument simple, qui capte plus ou moins une intuition. Comme nous ne pouvons la reconstituer avec des éléments préexistants, puisqu’elle n’a pas d’éléments, et comme, d’autre part, comprendre sans effort consiste à recomposer le nouveau avec de l’ancien, notre premier mouvement est de la dire incompréhensible. Mais acceptons-la provisoirement, promenons-nous avec elle dans les divers départements de notre connaissance : nous la verrons, elle obscure, dissiper des obscurités. Par elle, des problèmes que nous jugions insolubles vont se résoudre ou plutôt se dissoudre, soit pour disparaître définitivement soit pour se poser autrement. De ce qu’elle aura fait pour ces problèmes elle bénéficiera alors à son tour. […] elle dissipera […] l’obscurité qui les entourait, et elle en deviendra ellemême plus claire. – PM 1276 | 31 f. | 47 f.

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ein deutlich erkennbarer Weg vom dritten Kapitel des Essai sur les données immédiates de la conscience, in dem Bergson bestrebt ist, die Dauer des Ich als »eine Kraft von eigener Art« zu erweisen 207, zum ersten Kapitel von Les deux sources de la morale et de la religion mit seiner erstaunlich detailliert ausgearbeiteten Theorie der schöpferischen Emotion. Gemeinsam ist den Thesen von der Freiheit des Tiefen-Ich, vom erhellenden Licht dunkler Ideen und von der schöpferischen Potenz der Emotionen jene Verteidigung der Wirklichkeit und Wirksamkeit des Geistigen, die Bergson – wie Fedi zu Recht meint – mit den Geisteswissenschaften verbindet. Mehr noch: Wir haben hier auch das Energiezentrum dessen vor uns, was ich als »lebensphilosophische Hermeneutik« bezeichne. Die Lebensphilosophie gehört zu jenen Theorien, denen es um die ganze Erfahrung des ganzen Menschen geht, die also menschliche Erfahrung – und insbesondere: das, was diese Erfahrung an Bedeutsamem enthält – nicht beschränken wollen auf das, was »der Fall ist«. Ahnungen und Träume, Sympathien und Antipathien, Triebe und Emotionen gehören für die Lebensphilosophie zu den bedeutsamen – um nicht zu sagen: zu den bedeutsamsten – Elementen menschlicher Erfahrung. Eben deshalb fragt die Lebensphilosophie nach der Seele, nicht (nur) nach dem Intellekt. All diesen seelischen Phänomenen fehlt aber die – für Nachträgliches charakteristische – unmittelbare Klarheit. Im Spannungsfeld von Kraft und Sinn sind sie meist sehr nahe beim Kraft-Pol anzutreffen und von einem geklärten, ausgelegten Sinn noch weit entfernt. In Ricœurs Worten: Sie sind »Kräfte auf der Suche nach einem Sinn« 208. Aber eben weil menschliches Leben auf diesen Kräften beruht und auf eine Klärung ihres Sinnes nicht verzichten kann, braucht jede Lebensphilosophie eine Hermeneutik bzw. nimmt jede Lebensphilosophie einen hermeneutischen Charakter an. 209 Vgl. Abschnitt 4.2.1, S. 468. Vgl. Kap. 2, Anm. 31. 209 Im Grunde hat das schon Lersch[1932] klar erkannt und ausgesprochen. Lersch unterscheidet zwischen »Gegenständlichkeit« – bei Bergson: Erkennen von begrenzten und starren Dingen im leeren Raum – und »Zuständlichkeit« – bei Bergson die Emotion, aber auch die Dauer des Seelenlebens überhaupt, also gerade nicht Stillstand, sondern Dynamik. Die Lebensphilosophie zeichnet sich für ihn dadurch aus, dass sie nicht – wie die Naturwissenschaften – nur die Gegenständlichkeit oder – wie gewisse Arten der Psychologie – nur die Zuständlichkeit untersucht, sondern beide Aspekte in der menschlichen Erfahrung verbunden sieht. Das führe dazu, dass die Lebensphilosophie ein »physiognomisches Weltbild« entwirft und »die Probleme des 207 208

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Die philosophische Intuition

(2) Bleiben wir noch einen Augenblick bei den Gemeinsamkeiten zwischen der Emotion und den ihr ähnlichen seelischen Zuständen: Wie die »Musik unter dem Text« und – mit gewissen Einschränkungen – das »vermittelnde Bild« ist auch die Emotion ein vorgegenständliches und vorsprachliches psychisches Phänomen. Wir haben bereits mehrfach beobachtet, wie derartige Gegebenheiten eines impliziten, unausgearbeiteten, der Auslegung bedürftigen Sinns die Vielfalt verschiedener, aber gleichwohl äquivalenter Interpretationen zur Folge hat: Die Intuition kann durch verschiedene vermittelnde Bilder dargestellt werden, ein solches Bild wiederum durch unterschiedliche Kombinationen von Denkelementen, und in der Interpretationsphilosophie folgt auf den vorgreifenden Entwurf eine Rekonstruktion unter Zuhilfenahme derjenigen Mittel, die eben gerade zur Verfügung stehen. Nun könnte das im Rahmen der Texthermeneutik und der Interpretationsphilosophie Erörterte den Eindruck erwecken, als stelle die Nicht-Eindeutigkeit der Beziehung zwischen Sinn und Auslegung eine Schwäche des hermeneutischen Verstehens dar. In der Tat gilt es hier, eine Schwäche zu konstatieren, nämlich die Unfähigkeit des bewussten menschlichen Denkens und Sprechens, einen implizit gegebenen Sinn vollständig zu explizieren. Wird diese Unfähigkeit aber als nicht zu beseitigende Grenze menschlichen Verstehens akzeptiert, dann erweist sich die Nicht-Eindeutigkeit der Beziehung zwischen allgemeinem Sinn und individueller Auslegung, erweisen sich die individuell verschiedenen Perspektiven der Auslegenden auf den Sinn als Vorteil und als Bedingung der Möglichkeit von »Wirkungsgeschichte« im Sinne einer von zahlreichen Individuen nach und nach vollzogenen schrittweisen Ausarbeitung eines komplexen, aber nur implizit gegebenen Sinns. Wenn ein überindividueller Prozess des Auslegens möglich sein soll, dann darf das Wesentliche einer sprachlichen Äußerung nicht in den benutzten Worten liegen und dann darf sich das Verstehen nicht Ausdrucks, der Einfühlung und des Verstehens« für sie »zu Zentralproblemen werden«. Bemerkenswert ist im Kontext der gegenwärtigen Untersuchung, dass Lersch einen erheblichen Teil dieser Überlegungen im Rahmen seiner Darstellung der Philosophie Bergsons (a. a. O., S. 9–25) entwickelt. – Die Frage nach der Bedeutung der Zuständlichkeit für den Aufbau einer Hermeneutik hat dann Fellmann[1991] wieder aufgegriffen, wobei Fellmann sich auf eine Auseinandersetzung mit Dilthey beschränkt, viele seiner Überlegungen aber für die gesamte Lebensphilosophie relevant sind.

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in den Netzen der sprachlichen Oberfläche verfangen. Ebenso darf das Wesentliche einer Moral – oder allgemeiner: einer Lebensform – nicht in einzelnen Handlungen liegen und darf die Übernahme dieser Moral nicht – wie bei Don Quijote – im Kopieren solcher Handlungen steckenbleiben. Dort wie hier ist Verstehen für Bergson das Durchstoßen der Oberfläche, das Vordringen bis zum Sinnimpuls und die Auslegung des Sinnimpulses im Hinblick auf die Besonderheiten der individuellen Situation. So – aber auch nur so – kann sich der Sinn des Impulses nach und nach erschließen. (3) Die Emotion unterscheidet sich aber vom Bild oder von der Melodie durch den in ihr liegenden Antrieb zum Handeln: »Die vom Gefühl ausgehende Triebkraft kann übrigens der Verpflichtung sehr ähnlich sehen. Analysieren wir die Liebesleidenschaft, besonders in ihren Anfängen: Zielt sie etwa auf das Vergnügen ab? Nicht ebenso auf den Schmerz? Vielleicht bereitet sich eine Tragödie vor, ein ganzes Leben zerstört, verdorben, verloren, man weiß es, man fühlt es – unwichtig! Es muss sein, weil es sein muss. Es ist gerade die große Perfidie der aufkeimenden Leidenschaft, dass sie die Maske der Pflicht anlegt. Aber wir brauchen gar nicht bis zur Leidenschaft zu gehen. In die ruhigste Emotion kann eine gewisse Tat-Forderung eingehen, die sich von der […] Verpflichtung darin unterscheidet, dass sie keinen Widerstand findet und nur bereits Bewilligtes auferlegt, die aber darum nicht weniger der Verpflichtung gleicht, insofern sie etwas auferlegt.« 210

Nun ist es nicht wirklich überraschend, dass eine Moralphilosophie – mithin: eine praktische Philosophie – nach dem fragt, was Kant die »Triebfedern« menschlichen Handelns nannte. 211 Überraschend und – im Hinblick auf Bergsons energischen Widerstand gegen den Verdacht einer »Gefühlsethik« – wichtig ist die Komplexität, ja Spannungsgeladenheit jener Emotionen, die Bergson als Triebfedern betrachtet. Auf der einen Seite haben die Emotionen etwas Triebhaftes. 210 La propulsion exercée par le sentiment peut d’ailleurs ressembler de près à l’obligation. Analysez la passion de l’amour, surtout à ses débuts : est-ce le plaisir qu’elle vise ? ne serait-ce pas aussi bien la peine ? Il y a peut-être une tragédie qui se prépare, toute une vie gâchée, dissipée, perdue, on le sait, on le sent, n’importe ! il faut parce qu’il faut. La grande perfidie de la passion naissante est justement de contrefaire le devoir. Mais point n’est besoin d’aller jusqu’à la passion. Dans l’émotion la plus tranquille peut entrer une certaine exigence d’action, qui diffère de l’obligation définie tout à l’heure en ce qu’elle ne rencontrera pas de résistance, en ce qu’elle n’imposera que du consenti, mais qui n’en ressemble pas moins à l’obligation en ce qu’elle impose quelque chose. – DS 1008 | 35 f. | 31 f. 211 KpV A 126

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Die soeben zitierte Passage erinnert in mehrfacher Hinsicht an die aus dem Frühwerk bekannten Ausbrüche des Tiefen-Ich mit ihren so verheerenden Folgen für die geordnete Welt des Oberflächen-Ich. 212 Auf der anderen Seite zeigen sie einen systematischen, geradezu an unsere Bestimmung des Sinns von Methode erinnernden Charakter, insofern sie die in verschiedenste Richtungen strebenden seelischen Energien auf ein übergeordnetes Ziel hin ausrichten und »durch diese Konzentration aller Vermögen des Geistes und des Herzens in einem einzigen Punkte eine Persönlichkeit bilden«. 213 Auch diese Perspektive knüpft an frühe Thesen Bergsons an. So zeigt er etwa im ersten Kapitel des Essai sur les données immédiates de la conscience, dass unter der Intensität eines Gefühls nicht die messbare Größe eines isoliert auftretenden psychischen Zustands zu verstehen ist, sondern dessen Kraft, andere Zustände zu »durchdringen«, auf sie »abzufärben«, diesen Einfluss schrittweise auszudehnen und so eine immer umfassendere Gesamtorganisation der psychischen Tendenzen zu schaffen. 214 Aber damit nicht genug: Jede Emotion ist für Bergson »Neugier, Wunsch und die vorweggenommene Freude an der Lösung eines bestimmten Problems«. Sie ist »das Feuer der ursprünglichen und einmaligen Erregung […], die aus einem Verschmelzen des Autors mit einem Stoff geboren wurde«. 215 Die Emotion erweist sich also einerseits als subjektives Interesse oder individuelle Motivation, andererVgl. Abschnitt 2.3.2.3, S. 281. Vgl. Anm. 203. 214 DI 9 ff. | 5 ff. | 13 ff. – Man sieht hier, wie wenig gerechtfertigt die Kritik ist, Bergson propagiere eine viel zu simple und zu harmlose Vorstellung vom menschlichen Leben, wenn er die Parole ausgebe, der Philosoph habe sich sein ganzes Leben lang nur mit einer einzigen Sache beschäftigt, und das so verstehen will, als unterstelle Bergson die Einheit des Lebenszusammenhanges oder des Denkwegs als immer schon gegeben (vgl. Kap. 3, Anm. 2). Die Brüche, Umwege und Sackgassen, die Fragmentierung der Welt und des Selbst sind Bergson durchaus nicht fremd. Freilich denkt er Sinn und Person als durch Zusammenhang der Elemente vermittelte Einheit. Aber er meint damit: aktive Organisation des Zusammenhangs, aktive Herstellung der Einheit, kurz: Arbeit an der Person sowohl wie am Sinn. 215 Disons que le problème qui a inspiré de l’intérêt est une représentation doublée d’une émotion, et que l’émotion, étant à la fois la curiosité, le désir et la joie anticipée de résoudre un problème déterminé, est unique comme la représentation. […] Quiconque s’exerce à la composition littéraire a pu constater la différence entre l’intelligence laissée à elle-même et celle que consume de son feu l’émotion originale et unique, née d’une coïncidence entre l’auteur et son sujet, c’est-à-dire d’une intuition. – DS 1013 f. | 43 | 36 f. 212 213

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seits als die Sache selbst in ihrer Allgemeinheit. Oder vielmehr: Die Emotion ist für Bergson die Koinzidenz von individuellem Interesse und überindividuellem Thema, von persönlichem Streben und übergreifendem Projekt, die uns schon im Rahmen unserer Lektüre von L’intuition philosophique aufgefallen (freilich als rätselhaft aufgefallen) war. 216 In ihr verschmelzen das Streben des Einzelnen und die Allgemeinheit der Sache so, dass es dem Streben um diese Sache geht, das Allgemeine von existenzieller Bedeutung für den Einzelnen wird. Wenn dies geschieht, sind aber auch Trieb und Methode keine Gegensätze mehr. Auch sie verschränken sich in der Emotion dergestalt, dass der Trieb zum Antrieb wird für eine konsequente Ausrichtung des menschlichen Wollens, wobei es freilich dabei bleibt, dass die Konsequenz nicht aus einem vorab definierten Ziel entspringt, sondern aus der Kontinuität der Anstrengung und der Richtung. Und man sieht auch, dass sich beide Koinzidenzen noch einmal verbinden können: Unbewusster Antrieb und bewusste Methode, persönliches Interesse und allgemeine Sache treffen sich dann im Knotenpunkt der Emotion und setzen einen schöpferischen Prozess in Gang, in dem sich die Selbstwerdung des Individuums als das Vorantreiben eines überindividuellen Projekts gestaltet. Eine derartige Verknotung ist möglich, weil die Emotion, wie die Schlussworte der zuletzt zitierten Textpassage 217 zeigen, die ins Praktische transformierte Intuition ist. Von der Intuition wissen wir, dass sie sich als Erkenntnisvermögen, aber auch als Erkenntnisinhalt, als Reflexion und als Methode präsentieren kann. Wir wissen aber auch – und zwar schon sehr viel länger –, dass die Intuition »weniger eine Schau als ein Kontakt« sein und dass »diesem Kontakt ein Antrieb, diesem Antrieb eine Bewegung entspringen« kann. 218 Die vollständig beschriebene Intuition ist also nicht nur »Idee«, sondern auch »Kraft« 219, nicht nur »Einsicht«, sondern auch »Leidenschaft« 220. (4) Es gilt nun, die Punkte (2) und (3) zusammenzudenken, um daraus den vierten und letzten Punkt zu entwickeln. In Punkt (2) hatten wir festgestellt, dass die Nicht-Eindeutigkeit der Beziehung zwischen Sinn und Auslegung die überindividuelle »WirkungsVgl. Abschnitt 1.2.5, S. 90. Vgl. den französischen Text in Anm. 215. 218 Vgl. Kap. 1, Anm. 49. 219 Vgl. den bei Alfred Fouillée zentralen Begriff der idée-force. 220 Vgl. Gerhard Krügers unter dem Titel »Einsicht und Leidenschaft« erschienene Interpretation von Platons Symposion. 216 217

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geschichte« im Sinne einer schrittweisen, auf beliebig viele Personen verteilten Ausarbeitung des im impliziten Sinn Enthaltenen möglich macht. Das aber ist – in der Sprache der Mathematiker geredet – nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung. Wir können daraus nur entnehmen, dass »Wirkungsgeschichte« nicht unmöglich ist, nicht aber, wie sie sich wirklich vollzieht. Die Frage, was die »Wirkungsgeschichte« zusammenhält, tragen wir übrigens nicht mutwillig an Bergsons Texte heran. Sie bildet vielmehr die Leitfrage, aus der sich der »Traktat über die Emotionen« im ersten Kapitel von Les deux sources de la morale et de la religion entwickelt, und sie wird sogar in zwei aufeinander folgenden Anläufen gestellt: »Weshalb haben die Heiligen Nachahmer, und warum haben die edlen, großen Männer die Massen hinter sich hergezogen? Sie verlangen nichts, und doch empfangen sie. Sie brauchen nicht zu ermahnen; sie brauchen nur zu existieren; ihre Existenz ist ein Appell.« 221 »Wie kommt es dann aber, dass die Menschen, die das Beispiel dafür gegeben haben, andere Menschen gefunden haben, die ihnen nachfolgten? Und welches ist die Kraft, die hier dem gesellschaftlichen Druck entspricht? – Wir haben keine Wahl. Außer dem Instinkt und der Gewohnheit gibt es keine andere direkte Einwirkung auf den Willen als die des Gefühlslebens.« 222

In Punkt (3) hatten wir die Wirkungen der Emotion im Bereich des individuellen Denkens und Handelns beschrieben: Ihr ist es zu verdanken, dass sich durch die »Konzentration aller Vermögen des Geistes und des Herzens in einem einzigen Punkte eine Persönlichkeit bildet«. Aus der Kombination der Punkte (2) und (3) geht nun die 221 Pourquoi les saints ont-ils ainsi des imitateurs, et pourquoi les grands hommes de bien ont-ils entraîné derrière eux des foules ? Ils ne demandent rien, et pourtant ils obtiennent. Ils n’ont pas besoin d’exhorter; ils n’ont qu’à exister; leur existence est un appel. – DS 1003 | 30 | 27 222 D’où vient que les hommes qui en ont donné l’exemple ont trouvé d’autres hommes pour les suivre ? Et quelle est la force qui fait pendant ici à la pression sociale ? Nous n’avons pas le choix. En dehors de l’instinct et de l’habitude, il n’y a d’action directe sur le vouloir que celle de la sensibilité. – DS 1007 f. | 35 f. | 31 – Bergson fällt hier terminologisch nicht gleich mit der Tür ins Haus. Er beginnt mit dem Wort sensibilité. In der unmittelbar anschließenden Textpassage (zitiert in Anm. 210) erscheint zunächst das Wort sentiment, erst einige Sätze später dann das Wort émotion. Auch im weiteren Verlauf des »Traktats« bleibt das gesamte – aus den Substantiven sensation, sentiment, sensibilité und émotion, Verben wie éprouver und goûter sowie den von ihnen abgeleiteten Partizipien bestehende – Wortfeld im Spiel. – Zur Einwirkung der Emotion auf den Willen vgl. François[2008b] 65 ff.

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These von der Kommunikabilität der Emotionen hervor, die, so wichtig sie für Les deux sources de la morale et de la religion auch sein mag, zu diesem Zeitpunkt doch nicht wirklich neu für Bergson ist. Im Hinblick auf den Bereich der Ästhetik macht er schon in dem 32 Jahre zuvor publizierten Le rire von ihr Gebrauch: »Im allgemeinen greift ein intensives Gefühl auf alle anderen seelischen Zustände über und taucht sie in die ihm eigene Färbung. Lässt man uns diese allmähliche Durchdringung miterleben, so werden wir schließlich selbst von der entsprechenden Emotion durchtränkt. Man könnte sagen […], dass eine Emotion dramatisch, dass sie kommunikativ ist, wenn in ihr alle Obertöne zusammen mit dem Grundton gegeben sind. Daran, dass der Darsteller ganz und gar schwingt, liegt es, dass das Publikum seinerseits mitschwingen kann. Im Gegensatz dazu gibt es in der Emotion, die uns gleichgültig lässt und die komisch wirkt, eine Starrheit, die sie hindert, mit dem ganzen übrigen Teil der Seele, der sie angehört, in Beziehung zu treten. Diese Starrheit kann sich irgendwann durch hölzerne Bewegungen äußern und dann das Lachen hervorrufen, aber schon vorher verhinderte sie unsere Sympathie: Wie soll man sich mit einer Seele in Einklang bringen, die mit sich selbst nicht im Einklang ist?« 223

Ich hatte einen Teil dieses Textes an einer früheren Stelle 224 bereits zitiert, und ich hatte dort auch bereits auf Bergsons Gebrauch des Adjektivs communicatif aufmerksam gemacht. Nur ließ sich dieser Hinweis damals nicht weiterentwickeln, weil Le rire uns überall mit Situationen konfrontiert, in denen die Emotionen gerade nicht kommunikativ sind. Die Antwort auf die Frage, warum sie es dort nicht sind, und auf die andere, wie sie es denn sein könnten, ergibt sich eben aus dem Rückgriff auf Punkt (2): Kommunikativ sind nur lebendige, schöpferische, d. h. den ganzen Menschen prägende Emotionen. 223 En général, un sentiment intense gagne de proche en proche tous les autres états d’âme et les teint de la coloration qui lui est propre : si l’on nous fait assister alors à cette imprégnation graduelle, nous finissons peu à peu par nous imprégner nousmêmes d’une émotion correspondante. On pourrait dire […] qu’une émotion est dramatique, communicative, quand tous les harmoniques y sont donnés avec la note fondamentale. C’est parce que l’acteur vibre tout entier que le public pourra vibrer à son tour. Au contraire, dans l’émotion qui nous laisse indifférents et qui deviendra comique, il y a une raideur qui l’empêche d’entrer en relation avec le reste de l’âme où elle siège. Cette raideur pourra s’accuser, à un moment donné, par des mouvements de pantin et provoquer alors le rire, mais déjà auparavant elle contrariait notre sympathie : comment se mettre à l’unisson d’une âme qui n’est pas à l’unisson d’ellemême ? – R 454 | 107 f. | 94 f. 224 Vgl. Kap. 5, Anm. 127.

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Bleiben sie innerhalb des gesamten seelischen Geschehens isoliert, können sie auch nicht kommunikativ wirken. Und für die Vervollständigung des in Punkt (2) über die »Wirkungsgeschichte« Gesagten ergibt sich: Die auf viele Individuen verteilte und dennoch einen Zusammenhang bildende Auslegung eines noch unentwickelten Sinnes ist dann möglich, wenn der Zusammenhang nicht durch eine ausgearbeitete Lehre und deren oberflächliche Übernahme gestiftet wird, sondern durch Weitergabe des initialen, emotionalen Sinnimpulses. Dies nämlich ist ein Punkt, den Bergson einzuschärfen nicht müde wird: Die moralischen Vorbilder »lehren« und »ermahnen« nicht. Sie »existieren« einfach, und »ihre Existenz ist ein Appell«. Wie ist das zu verstehen? Es ist, zunächst einmal, nicht als Abwertung der Sprache, der Intelligenz oder des Bewusstseins zu verstehen. Das wird sich gleich zeigen. Schon eher ist es zu verstehen im Sinne jener handlungshermeneutischen Maxime, die wir in Kapitel 2 erörtert hatten: »Höre nicht auf das, was sie sagen, sondern schau auf das, was sie tun«. 225 Freilich gilt es dann, die Wendung zu einer »Hermeneutik des Verdachts«, die wir in Kapitel 2 erwogen hatten, zu vermeiden. Es ist zu verstehen im Sinne der Wendung gegen eine Übernahme à la Don Quijote: Verfange dich nicht im Netz der Worte oder der Handlungsdetails, sondern dringe vor bis zu dem Energiezentrum, aus dem diese Ausdrucksformen entspringen. Die Emotion ist dieses Energiezentrum, und deshalb erfordert eine Tradition, die mehr sein soll als das Weiterreichen erstarrter Formeln, die Übermittlung der schöpferischen Emotion. Aber wie hat man sich die »Übermittlung einer Emotion« vorzustellen? Soll man den Vorgang so verstehen, wie es Roswitha Plancherel-Walter nahelegt, wenn sie in ihrer Neuübersetzung von Le rire das Wort communicatif – formal korrekt und inhaltlich interessant – mit »ansteckend« widergibt? 226 Soll man also eine unmittelbare, unterhalb aller Symbole sich vollziehende Gefühlsübertragung annehmen? Oder soll man, wie es Johannes Schick tut, den Umstand betonen, dass Künstler nicht unmittelbar, sondern durch Kunstwerke wirken, bei deren Schöpfung sie sich gewisser formaler Mittel bedienen, und dass auch moralische Vorbilder nicht bloß durch ihr Anwesend-Sein wirken, sondern durch gewisse Handlungen und die darin

225 226

Vgl. Kap. 2, Anm. 203. Vgl. Literaturverzeichnis, S. 892, Anm. 2.

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zum Ausdruck kommenden Haltungen? 227 Bis zu einem gewissen Punkt sind, wie ich meine, beide Positionen richtig. Natürlich wirken Menschen durch das, was sie tun und durch ihr Tun ausdrücken. Ebenso richtig ist, dass man es bei der kommunikativen Ausstrahlung von Emotionen mit einer vorsprachlichen und vorbewussten Gefühlsresonanz zu tun hat. Zu vermeiden ist allerdings die Vorstellung eines Hinüber- oder Hineintragens, eines Transports vom einen Menschen zum anderen, eines Einimpfens von zuvor nicht Vorhandenem. Die emotionale Resonanz kommt dadurch zustande, dass der »Empfänger« beim Kontakt mit dem »Sender« in sich etwas entdeckt, was ihm zuvor unbekannt war, sich einer zuvor unbewussten, aber in ihm selbst angelegten Tendenz bewusst wird, kurz: sich im Anderen wiedererkennt: »Der Dichter und der Romanschriftsteller, die einen Seelenzustand ausdrücken, […] würden nicht von uns verstanden werden, wenn wir nicht bis zu einem gewissen Grade in uns das beobachteten, was sie von anderen sagen.« 228 »Der Wunsch, ähnlich zu werden, der ideell der Erzeuger einer von uns anzunehmenden Form ist, ist bereits Ähnlichkeit; das Wort, das man sich zu eigen macht, ist das Wort, von dem man ein Echo in sich gespürt hat.« 229 »Wenn das Wort eines großen Mystikers oder eines seiner Nachfolger bei dem oder jenem unter uns ein Echo findet, ist es dann nicht so, dass in uns ein Mystiker wohnt, der nur schlummert und nur auf eine Gelegenheit wartet, um zu erwachen?« 230

Diese emotionale Resonanz bildet für Bergson das Fundament einer jeden »Wirkungsgeschichte«. Durch sie wird der emotionale, vorsprachliche Sinnimpuls kommuniziert und der Zusammenhang der »Wirkungsgeschichte« gestiftet. Emotion, schreibt Florence Caeymaex, ist »Kommunikation« (communication) und dadurch »Herstellung neuer Gemeinschaft« (communauté). 231 In gewissem Sinne – so Schick[2012] 270 f. Vgl. Anm. 202. 229 […] le désir de ressembler, qui est idéalement générateur d’une forme à prendre, est déjà ressemblance; la parole qu’on fera sienne est celle dont on a entendu en soi un écho. – DS 1004 | 30 f. | 28 230 Si la parole d’un grand mystique, ou de quelqu’un de ses imitateurs, trouve un écho chez tel ou tel d’entre nous, n’est-ce pas qu’il peut y avoir en nous un mystique qui sommeille et qui attend seulement une occasion de se réveiller ? – DS 1060 | 102 | 79 231 Caeymaex[2006] 8 227 228

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wäre im Hinblick auf das soeben Dargestellte zu sagen – ist freilich die Gemeinschaft weder neu, noch wird sie hergestellt. Sie ist alt und wird nur entdeckt. Aber aus diesem Entdecken der Gemeinschaft, diesem Sich-im-Anderen-Wiedererkennen, entspringt, wenn der emotionale Appell ernst genommen wird, in der Tat die Bewegung jener neuen, schöpferischen Gemeinschaft, die ich hier mit dem Gadamer entlehnten Begriff »Wirkungsgeschichte« bezeichne. Allerdings beruht die neue Gemeinschaft nicht nur auf der vorsprachlichen Resonanz. Diese bewirkt zwar im »Empfänger« das Auftreten des emotionalen Impulses, eines Impulses jedoch, der – mag die vorausgegangene Wirkungsgeschichte auch lang sein – erst einmal so dunkel ist wie jeder andere Impuls. Der »Empfänger« sieht sich deshalb genötigt, nach dem Sinn dieser ihm unbekannten Kraft zu fragen, die Emotion auf eigene Rechnung – im Hinblick auf die eigene Situation und die ihm verfügbaren Mittel – interpretierend auszulegen und so eine Perspektive auf das Energiezentrum zu entwickeln, die sich von derjenigen des »Senders« unterscheidet. Bewusstsein, Intelligenz, Sprache und Handlungsweisen sind also die zweite Säule, auf der die »Wirkungsgeschichte« beruht. Bergson blendet sie keineswegs aus. Nur braucht er ein Modell, das es ihm gestattet, Fortsetzen (Tradition) nicht nur als gedankenloses Kopieren zu denken. Wo aber gelehrt wird, da liegt die Gefahr des Nachplapperns nahe, und wo sich eine Lebensform durch konkrete Handlungsweisen definiert, da droht der Kampf gegen imaginäre Riesen. Deshalb entwickelt Bergson ein zweistufiges Modell: Einerseits pflanzt sich der emotionale Impuls durch Resonanz fort wie ein unterirdisches Wurzelwerk, andererseits entspringen daraus wie Schösslinge die individuellen Interpretationen. Das heißt nicht, dass jedes Individuum wieder bei Null anfangen müsste. Anders als pflanzliche Schösslinge können Menschen auf ihre Vorgänger blicken, sich an ihnen orientieren und Nutzen aus ihren Erfahrungen ziehen. Wäre es anders, dürfte man nicht von einer Tradition oder einer Geschichte sprechen. Aber der Blick auf die Vorgänger ist erst nach dem »Empfang« des emotionalen Impulses fruchtbar. Nur unter dieser Bedingung führt er nicht zu oberflächlicher Nachahmung, sondern zur »Wiederbelebung« 232 des

232 Le souvenir de ce qu’elles [les âmes mystiques] ont été, de ce qu’elles ont fait, s’est déposé dans la mémoire de l’humanité. Chacun de nous peut le revivifier, surtout s’il

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Überlieferten. Nur unter dieser Bedingung kann es eine Sympathie im Sinne von Abschnitt 6.2.3.2.4, d. h. im Sinne eines von der eigenen Erfahrung ausgehenden Analogieschlusses geben. Und nur auf dieser Basis spricht übrigens auch Bergson selbst von seinen Vorgängern. Das bedeutet, dass Bergson eigentlich ein dreistufiges Modell für seine Hermeneutik der gemeinsamen Welt entwirft: Auf der untersten Stufe wirkt die emotionale Resonanz. Auf der zweiten Stufe folgen die individuellen Interpretationen des emotionalen Impulses. Auf der dritten Stufe schließlich werden die je-eigenen Interpretationen der schöpferischen Emotion in Beziehung gesetzt zu den Taten und Lehren der Vorgänger oder der Zeitgenossen, und zwar durch Interpretationen jener Taten und Lehren, die den selbst empfangenen emotionalen Impuls als Interpretament verwenden. 6.2.4.5 Die hermeneutische Funktion des Genies Ich hatte in Abschnitt 6.2.4.1 angekündigt, dass das Genie in der Moraltheorie eine wichtigere Rolle spielen würde als in der Methodenlehre. In Abschnitt 6.2.4.3 haben wir jene Schlüsselszene untersucht, in der mehrere »Schüler« einem Moral-»Lehrer« begegnen, und wir haben in dieser Szene eine Grundstruktur entdeckt, die, wenn man nur das Verhältnis der »Schüler« untereinander berücksichtigt, der aus Kapitel 5 bekannten Analogie des Strebens gleicht, die aber über das im Hinblick auf die Begegnung von Franzosen und Amerikanern Erörterte durch das neue Moment des »Lehrers« hinausgeht. In Abschnitt 6.2.4.4 ist uns dann das Genie in der doppelten Gestalt des initialen Impulsgebers und des durch Interpretation wiederzubelebenden Vorgängers begegnet. Das Angekündigte ist also eingetreten. Aber daraus folgt nicht, dass das Eingetretene auch verstanden ist. Ist das Auftreten des Genies auf der Bühne von Bergsons Moralphilosophie Zufall, oder entspringt es aus einer in der Sache liegenden Notwendigkeit? Ist das Inspiriert- und Belehrt-Werden durch das Genie ein hübsches, aber verzichtbares Element, oder bricht ohne dieses Element Bergsons Moralphilosophie zusammen? Was treibt Bergson, der am Ende von Les deux sources de la morale et de la religion ein glühendes Plädoyer für die Demokratie hält, ein so undemokratisches Element, wie es das privilegierte Genie ist, in den Vordergrund zu le rapproche de l’image, restée vivante en lui, d’une personne qui participait de cette mysticité et la faisait rayonner autour d’elle. – DS 1046 | 85 | 66

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rücken? Kurz: Welche Rolle spielt eigentlich das Genie? Ich will versuchen, der Antwort auf diese Frage in drei Anläufen näherzukommen. (1) Eine erste Antwort kann und muss lauten: Es ist einfach so, dass es Genies gibt. Zugegeben: Das ist eine banal klingende Antwort. Aber daraus folgt nicht, dass sie bedeutungslos wäre. Noch einmal also: Bergson kann darauf verweisen, dass Genies in unserer Erfahrung vorkommen. Wir können sie beim Namen nennen und mit dem Finger auf sie zeigen. Das gilt übrigens durchaus nicht nur im Bereich der Moralphilosophie. Es gilt bereits in der Welt des homo faber. Erinnern wir uns an das bereits in Kapitel 3 untersuchte Beispiel der Dampfmaschine. 233 Es ist einfach so, dass die meisten von uns keine Dampfmaschine und auch sonst nichts von der Bedeutung her mit der Dampfmaschine Vergleichbares erfinden. Solche Leistungen sind selten, und es ist zunächst einmal dies, was die Verwendung des Geniebegriffes rechtfertigen kann. Die Antwort verliert bereits einen Teil ihrer scheinbaren Banalität, wenn man berücksichtigt, dass Bergson sich nicht darauf beschränkt, die wenigen Genies zu rühmen. Seine Darlegungen über die Bedeutung der Dampfmaschine münden ja nicht in den Seufzer: Ach, wären wir doch alle Genies! Eher schon ließen sie sich zusammenfassen in Bergsons Replik auf den Vorwurf, er wolle die Geisteswissenschaften fördern und die Naturwissenschaften vernachlässigen: »Wenn man sagt, dass das 17. Jahrhundert das Jahrhundert Ludwigs XIV. war, meint man damit, dass Ludwig XIV. der einzige Mensch war, der im 17. Jahrhundert gelebt hat?« 234 Bergsons Darlegungen über die Bedeutung der Dampfmaschine laufen, bei Licht betrachtet, darauf hinaus, dass es geradezu verheerende Folgen hätte, wenn wir alle Genies wären: Der Erfinder hat ein ganz bestimmtes Problem in einem Teilgebiet menschlicher Technologie und Industrie vor Augen, und er ist bestrebt, dieses Problem zu lösen. Mag er noch so genial sein – er betrachtet die Dinge doch, wie jeder andere Mensch auch, aus einer beschränkten Perspektive. Auf ihn, genauer: auf seine initiale Tat, seine eigene, beschränkte Realisierung der anfänglichen Idee folgen andere Menschen, die die Erfindung perfektionieren, die demonstrieren, dass die Erfindung auch in anderen Teilgebieten der Technologie und Industrie eingesetzt werden kann, die schließlich 233 234

Vgl. Abschnitt 3.3.1.4, S. 363. Vgl. Kap. 3, Anm. 186.

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erkennen, welche Konsequenzen die Erfindung außerhalb von Technologie und Industrie hat. Bedeutung braucht Zeit, hatten wir in Kapitel 3 festgestellt. Bedeutung braucht aber auch Menschen, viele Menschen – und zwar Menschen, die keine Genies sind. Würde jeder Mensch die Menschheit mit einer eigenen, gänzlich neuartigen Erfindung konfrontieren, so hätte keine Erfindung die Möglichkeit, ihre Bedeutung zu entfalten. Mit anderen Worten: Die Genies und die Nicht-Genies gehören zusammen und sind aufeinander angewiesen. 235 Einmal mehr entwirft Bergson ein zweistufiges Modell: Die Nicht-Genies brauchen die Genies, um durch die Konfrontation mit neuartigen Impulsen aus ihrem »dogmatischen Schlummer« geweckt, aus dem »Das-haben-wir-schon-immer-so-gemacht« herausgerissen zu werden. Die Genies brauchen die Nicht-Genies, weil sie allein nicht in der Lage sind, die ganze Bedeutung ihrer Erfindungen zu enthüllen. Bergson will also nicht auf »Geniekult« oder auf »Heldenverehrung« hinaus, sondern auf das Modell einer – Wirkungsgeschichte. (2) Bleiben wir nicht in der Welt des homo faber und im Bereich der materiellen Dinge stehen, berücksichtigen wir auch die schöpferische Tätigkeit im Bereich der Naturwissenschaften und der Mathematik, der Kunst, der Religion und der Philosophie, dann kommt es immer seltener vor, dass wir auf etwas so Handfestes wie eine Dampfmaschine zeigen können. Je ursprünglicher wir den Impuls fassen, je weiter wir – sei es nun im Bereich der persönlichen oder der überindividuellen Geschichte – zu den Anfängen zurückgehen, desto schwieriger wird es, anzugeben, von was eigentlich die Wirkungsgeschichte eine Wirkungsgeschichte ist, d. h. den schöpferischen Impuls zu benennen und zu charakterisieren. Das gilt sowohl für die unmittelbar Betroffenen wie für die nachträglichen Betrachter. Der Philosoph aus L’intuition philosophique, dessen innere Stimme erstmals »Unmöglich!« ruft, steht vor der Schwierigkeit, dass ihm der schöpferische Impuls dunkel, unbestimmt und richtungslos erscheint. Der nachträgliche Betrachter ist dagegen ständig in Gefahr, den Sinn mit einer der Gestalten zu verwechseln, die er im Laufe seiner Wirkungsgeschichte angenommen hat. Nun wissen wir aus L’intuition philosophique, wie es gelingt, 235 Bref, la science exige un double effort, celui de quelques hommes pour trouver du nouveau, celui de tous les autres hommes pour adopter et s’adapter. – DS 1120 | 179 f. | 134 f.

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einen schöpferischen Impuls, der als solcher nicht recht fassbar ist, dennoch produktiv werden zu lassen: Man benötigt ein Bild, das, insofern es als nicht-diskursive Ganzheit betrachtet werden kann, die Ganzheit des Impulses repräsentiert, insofern es Gegenständliches oder Symbolisches enthält, zugleich auf die Welt des Gegenständlichen und des Symbolischen verweist und so als vermittelndes Bild den Übergang bzw. das Hin-und-Her zwischen Ungegenständlichem und Gegenständlichem, zwischen Vorsymbolischem und Symbolischem ermöglicht. 236 Ebenso lässt sich in moralphilosophischer Perspektive die Rolle des Genies – und hier insbesondere des Mystikers als eines moralischen Genies – beschreiben. Moralische Genies wenden sich zwar zunächst vom gemeinsamen, praktischen Leben ab, um die Reise ins vorpersönliche Unbewusste anzutreten, kehren dann aber in dieses Leben zurück und betätigen sich als Architekten neuartiger Lebensformen. Deshalb können sie zu Vorbildern für andere Menschen werden. Dieses Vorbild ist ein Vor-Bild im Sinne von L’intuition philosophique: Der Leser, verwirrt durch das Neben- und Durcheinander von konventionellen Worten und traditionellen Formeln, kann den Sinn eines Textes nur erfassen, wenn er die Worte auf die Intuition des Philosophen bezieht. Die aber ist ihm als solche nicht zugänglich, und so muss er sich begnügen mit einem »vermittelnden Bild«, von dem er annehmen darf, dass es das Leitbild des Autors gewesen sei. Hier nun also: Der Mensch, verstrickt in das, was naturhafte Triebe und gesellschaftliche Konventionen verlangen, soll die Frage nach dem Sinn von Leben stellen, verfügt aber nur über eine mäßige Begabung zur Erforschung der eigenen Tiefe und ist deshalb darauf angewiesen, sich an einem Vorbild zu orientieren, das auch hier als image médiatrice fungieren kann, weil das unanschauliche Prinzip des »Lebens überhaupt« eine anschauliche Gestalt gewonnen hat. Dass dies mehr ist als ein hübsches Wortspiel und ein bedeutungsloses Ornament, zeigt sich, wenn Bergson sein vielleicht wichtigstes Bild ein letztes Mal umgestaltet: »Die großen sittlichen Helden, und zumal diejenigen unter ihnen, deren Heroismus, ebenso genial wie einfach, dem Sittlich-Guten neue Wege gebahnt hat – sie offenbaren uns metaphysische Wahrheit. Zwar stehen sie auf dem Scheitelpunkt der Entwicklung – und doch sind sie den Quellen am nächsten und lassen uns die drängende Kraft spüren, die aus der Tiefe 236

Vgl. Kapitel 1, Abschnitte 1.2.1, S. 54, und 1.2.2, S. 66.

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kommt. Wenn wir durch einen Akt der Intuition bis zum Urquell des Lebens vordringen wollen, so müssen wir sie fest ins Auge fassen, so müssen wir versuchen, durch Sympathie zu fühlen, was sie fühlen. Um das Geheimnis der Tiefen zu durchdringen, muss man manchmal zu den Höhen blicken. Das Feuer, das im Innern der Erde glüht, erscheint nur auf dem Gipfel der Vulkane.« 237

Wir hatten in Abschnitt 6.1.4 eine erste wesentliche Transformation dieses Bildes verfolgt: Aus dem flüssigen, jedoch durch eine harte Schale eingeengten und eingeschlossenen Kern (Version 1) wird später ein fester, von einer flüssigen oder gasförmigen Hülle umgebener Kern (Version 2). In der eben zitierten Passage nun tritt uns die dritte Version des Bildes entgegen: Ohne die Existenz einer umgreifenden Hülle zu leugnen, kehrt Bergson zurück zur ursprünglichen Konstellation der durch eine Kruste überzogenen flüssigen Masse und des Vulkans als eines Ortes, an dem das Flüssige in der Welt des Festen in Erscheinung treten kann. Und es tritt in Erscheinung, freilich nun nicht mehr als zerstörerischer Lavastrom, sondern als ein heller Feuerschein – und dieser Feuerschein symbolisiert das moralische Genie. Da, wo sonst nur das gestaltlos Flüssige – und deshalb schwer zu Fassende – des unpersönlichen Unbewussten anzutreffen war, steht nun die Gestalt eines Menschen. Durch sie wird verständlich, was sich zuvor nur in vagen Zweifeln und Hoffnungen geäußert hatte. 238 Zugleich kann sie als Orientierung bei der Deutung und Gestaltung des individuellen Lebens dienen, sofern man sich nur nicht – wie Don Quijote – auf eine äußerliche Nachahmung beschränkt, sondern durch Sympathie und Intuition in den Sinn des neuartigen Handelns

237 Les grands hommes de bien, et plus particulièrement ceux dont l’héroïsme inventif et simple a frayé à la vertu des voies nouvelles, sont révélateurs de vérité métaphysique. Ils ont beau être au point culminant de l’évolution, ils sont le plus près des origines et rendent sensible à nos yeux l’impulsion qui vient du fond. Considérons-les attentivement, tâchons d’éprouver sympathiquement ce qu’ils éprouvent, si nous voulons pénétrer par un acte d’intuition jusqu’au principe même de la vie. Pour percer le mystère des profondeurs, il faut parfois viser les cimes. Le feu qui est au centre de la terre n’apparaît qu’au sommet des volcans. – ES 834 | 25 | 24 – Vgl. Mél. 365: C’est ainsi que pour découvrir les couches profondes de l’écorce terrestre, celles que les grands soulèvements ont tirées de l’âme même de la terre, il faut monter sur les sommets. 238 C’est son apparition à un moment précis qui nous fait assister rétrospectivement à sa préparation, comme le volcan qui surgit tout d’un coup éclaire dans le passé une longue série de tremblements de terre. – DS 1168 | 240 | 176

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eindringt, um sodann sein eigenes Denken und Handeln in Analogie zu dem des Vorbilds zu gestalten. (3) Allerdings: Das von Bergson angebotene Bild ist und bleibt ambivalent. Es hatte sich immer im Bereich des Geologischen bewegt – im Bereich eines Naturgeschehens also, in dem der Mensch nicht vorkommt –, und es bleibt weiterhin auf diesen Bereich beschränkt: erstarrte Kruste, flüssiger Kern, Vulkan, Feuer. In einer Variante: in die Tiefe abgesunkene Sedimentschichten, die durch Gebirgsbildung zu Berggipfeln werden. 239 Das entspricht sehr genau dem Umstand, dass die durch die Bildelemente symbolisierten Aspekte menschlicher Erfahrung – wenn auch in jeweils anderem Sinne – als anonyme gefasst werden müssen. Die Intelligenz streicht aus der Erfahrung, was immer auf Individualität hindeutet, und präpariert das dem homo faber dienliche Ding- und Materialhafte heraus. Bei den vor- und überpersönlichen Schichten handelt es sich um im Unbewussten wirkende Kräfte, die zwar »in einem gewissen Sinne in uns«, der Sache nach aber doch eher einer unpersönlichen Natur 240 zuzurechnen sind. Es passt zu dieser von der Natur aus auf die menschliche Erfahrung gerichteten Perspektive, wenn Bergson das sukzessive Erscheinen von Genies mit dem sukzessiven Hervorbringen verschiedener Arten durch die Evolution des Lebendigen vergleicht. 241 Andererseits sind sie nicht (passiv, als Produkte der Evolution), sondern erschließen vielmehr (aktiv) dem Menschen »neue Wege« des Handelns und Denkens. Sie hinterlassen »Spuren in der Geschichte« 242, oder, wie Eugen Lerch übersetzt, sie »machen Epoche«. Das ist – philologisch betrachtet – eine so freie Übersetzung, dass man zögert, darauf ein Argument aufzubauen. Und doch trifft sie – philosophisch betrachtet – den entscheidenden Punkt, wenn man sie nur wörtlicher nimmt als Lerch selbst sie verstanden wissen wollte: Jedes 239 C’est ainsi que pour découvrir les couches profondes de l’écorce terrestre, celles que les grands soulèvements ont tirées de l’âme même de la terre, il faut monter sur les sommets. – Mél. 365 240 »Natur« steht hier sowohl für natura naturata wie für natura naturans. Mehr dazu in den beiden folgenden Abschnitten. 241 L’apparition de chacune d’elles [des âmes privilégiées] était comme la création d’une espèce nouvelle composée d’un individu unique, la poussée vitale aboutissant de loin en loin, dans un homme déterminé, à un résultat qui n’eût pu être obtenu tout d’un coup pour l’ensemble de l’humanité. – DS 1056 | 97 | 75 242 les grandes figures morales qui ont marqué dans l’histoire – DS 1032 | 67 | 54

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Genie macht Epoche, nämlich genau eine, seine Epoche. Das ist die andere, die entgegengesetzte oder ergänzende Perspektive auf die Reihe der Genies: Ihr Auftreten strukturiert Geschichte, gliedert sie in Epochen, markiert die entscheidenden Knoten- und Wendepunkte. 243 »Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus«, sprach einst Goethe in Valmy. Von Napoleon sprach er nicht, aber das war auch nicht nötig; die Anwesenden verstanden ohnehin. Anders Bergson, der ja die verschiedensten Epochen benennen muss: »Man muss sich nicht an die Stoiker wenden, sondern an den, der alle großen Philosophien Griechenlands inspiriert hat, ohne dass er eine Lehre gebracht, ohne dass er irgend etwas geschrieben hätte: an Sokrates.« 244 »Mystik und Christentum bedingen einander in unendlichem Fortgang. Doch muss es wohl einen Anfang gegeben haben. In der Tat steht am Ursprung des Christentums Christus.« 245 243 Wir verdanken Ernst Troeltsch ein grandioses Plädoyer für Bergson als einen Hegel ebenbürtigen Geschichtsdenker. Troeltsch war allerdings der Meinung, Bergson habe zwar eine im Hinblick auf die Geschichte fruchtbare Theorie der Entwicklung formuliert, sich jedoch für die materiale Geschichtsforschung kaum interessiert und es deshalb versäumt, die »schöpferischen Knotenpunkte« der Geschichte herauszuarbeiten. Wenn ich hier die Genies als Repräsentanten der entscheidenden Knotenund Wendepunkte interpretiere, so soll das anzeigen, dass ich in dieser zweiten Hinsicht nicht mit Troeltsch einig bin. Freilich ist zu berücksichtigen, dass Troeltsch seine Thesen bereits 1922 (also 10 Jahre vor dem Erscheinen von Les deux sources de la morale et de la religion) formuliert hat und dass er immerhin fand, Bergson habe zwar selbst keine materiale Darstellung der Knotenpunkte gegeben, »seine Begriffe [enthielten jedoch] die Aufforderung« dazu und sie liege »zwingend in der Konsequenz seiner Gedanken«. – Troeltsch[1977] 644, 647 244 […] ce n’est pas aux stoïciens qu’il faudrait s’adresser, mais plutôt à celui qui fut l’inspirateur de toutes les grandes philosophies de la Grèce sans avoir apporté de doctrine, sans avoir rien écrit, à Socrate. – DS 1026 | 59 | 48 245 Mysticisme et christianisme se conditionnent donc l’un l’autre, indéfiniment. Il faut pourtant bien qu’il y ait eu un commencement. Par le fait, à l’origine du christianisme il y a le Christ. Du point de vue où nous nous plaçons, et d’où apparaît la divinité de tous les hommes, il importe peu que le Christ s’appelle ou ne s’appelle pas un homme. Il n’importe même pas qu’il s’appelle le Christ. Ceux qui sont allés jusqu’à nier l’existence de Jésus n’empêcheront pas le Sermon sur la montagne de figurer dans l’Évangile, avec d’autres divines paroles. A l’auteur on donnera le nom qu’on voudra, on ne fera pas qu’il n’y ait pas eu d’auteur. Nous n’avons donc pas à nous poser ici de tels problèmes. Disons simplement que, si les grands mystiques sont bien tels que nous les avons décrits, ils se trouvent être des imitateurs et des continuateurs originaux, mais incomplets, de ce que fut complètement le Christ des Évangiles. – DS 1178 f. | 253 f. | 186

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»Die Metaphysik beginnt an dem Tag, an dem Zenon von Elea auf die Widersprüche hinwies, die der Bewegung und Veränderung – wie unsere Intelligenz sie sich vorstellt – innewohnen.« 246 »Die moderne Wissenschaft beginnt an dem Tag, an dem man die Bewegung als unabhängige Wirklichkeit anerkannte. Sie beginnt an dem Tag, an dem Galilei, während er eine Kugel eine schiefe Ebene hinabrollen ließ, den festen Entschluss fasste, diese Bewegung von oben nach unten für sich und an sich selbst zu studieren, statt ihren Grund in den Begriffen des Oben und des Unten zu suchen […].« 247

Name, Datum, nähere Umstände – deutlicher lässt sich der Übergang zur Geschichte nicht anzeigen. Es mag sein, dass man – etwa im Hinblick auf die Kanonade von Valmy oder die Erfindung der Dampfmaschine – den Namen nicht nennen muss, weil jeder ihn kennt. Es mag sein, dass der Name umstritten, dass er in den Bereich des Mythischen hinabgesunken ist oder dass man es nicht für der Mühe wert hält, ihn herauszufinden. Prinzipiell aber »könnte der genügend unterrichtete Historiker« jeden historischen Knotenpunkt »mit einem Eigennamen bekleiden«. 248 Indessen handelt es sich hier auch weiterhin nicht um einen Personenkult. Die Person und ihr Name stellen gleichsam nur die helle, »erdzugewandte« Seite des historischen Knotenpunktes dar, der von ihr ins Leben gerufene schöpferische Impuls die dunkle, »erdabgewandte« Seite. Beide – Person und Impuls – bilden aber eine Einheit. Deshalb bleiben sie im Fortgang der »Wirkungsgeschichte« miteinander verbunden und können einander vertreten: »Noch heute ist es Rousseau, der uns [jene spezielle Emotion] empfinden lässt, ebenso sehr und mehr noch als das Gebirge.« 249 Oder: »Selbst diejenigen, die so weit gegangen sind, die Existenz des [historischen] Jesus zu leug-

246 La métaphysique date du jour où Zénon d’Élée signala les contradictions inhérentes au mouvement et au changement, tels que se les représente notre intelligence. – PM 1259 | 8 | 27 f. 247 La science moderne date du jour où l’on érigea la mobilité en réalité indépendante. Elle date du jour où Galilée, faisant rouler une bille sur un plan incliné, prit la ferme résolution d’étudier ce mouvement de haut en bas pour lui-même, en lui-même, au lieu d’en chercher le principe dans les concepts du haut et du bas […]. – PM 1425 | 217 | 217 248 Mais ces agrandissements non plus ne se sont pas faits tout seuls. Sur chacun d’eux l’historien suffisamment renseigné mettrait un nom propre. – DS 1039 | 76 f. | 60 249 Vgl. Kap. 1, Anm. 87.

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nen, können nichts daran ändern, dass in den Evangelien die Bergpredigt steht.« 250 Dass aus dem Namen und dem Impuls, dass aus diesem unendlich kleinen historischen Knoten-Punkt dann eine ganze Epoche werden kann, ist allerdings nicht dem Genie zu verdanken, sondern den Nachfolgern. Diese erscheinen bei Bergson – je nach Kontext – als kleine Geister, die die Größe des Vorbilds nicht erreichen 251, oder als Zwerge, die auf den Schultern von Riesen stehen und deshalb die Auslegung des schöpferischen Impulses weiter vorantreiben können. Immer aber sind sie nur deshalb Nachfolger (und nicht bloße Nachahmer), weil sie vom Vorbild die »Haltung« übernehmen, die es geschaffen hat. 252 Wo aber stehen die Genies? Sind sie, wofür sich die Dichter der deutschen Sturm-und-Drang-Zeit hielten: »Naturgenies«? Oder sind sie epoche-machende historische Ereignisse? Bergsons Ausführungen lassen nur einen Schluss zu: Die Genies – und hier insbesondere die moralischen Genies – stehen mit einem Bein im Bereich der Natur und mit einem Bein im Bereich der Geschichte. Sie stehen an der Grenze, zugleich aber verschränken sich in ihnen Natur und Geschichte. Die Genies sind – noch immer gilt ja, dass sie einer »Schlamperei« der Natur entspringen – »den Quellen«, der »drängenden Kraft, die aus der Tiefe kommt,« am nächsten; zugleich aber setzen sie sich »an die Spitze der Entwicklung«, nämlich der kulturellen und – sofern man Geschichte als Entfaltung der vom Menschen geschaffenen Kultur verstehen will – der historischen Entwicklung. 253 In den und durch die Genies artikuliert sich – einmal mehr – die Dauer. Nur handelt es sich diesmal nicht um eine individuelle, sondern um eine überindividuelle Dauer. Versuchen wir, das Subjekt dieser Dauer in den Blick zu bekommen.

Vgl. Anm. 245. So verständlicherweise im Hinblick auf Jesus – oder jedenfalls: auf den »Christus der Evangelien«. – Vgl. Anm. 245. 252 Stoïciens, épicuriens, cyniques, tous les moralistes de la Grèce dérivent de Socrate, – non pas seulement, comme on l’a toujours dit, parce qu’ils développent dans ses diverses directions la doctrine du maître, mais encore et surtout parce qu’ils lui empruntent l’attitude qu’il a créée […], l’attitude du Sage. – DS 1027 | 61 | 49 253 Vgl. Anm. 237. 250 251

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6.2.4.6 Der Mensch als Produkt und Projekt (1) In Kapitel 5 wurde der Versuch unternommen, zu zeigen, dass der Sympathiebegriff bei Bergson ein mehrschichtiger ist und dass sich die Mehrschichtigkeit durch Rückgriff auf die Stufenmodelle architecture – organisme – image – intuition sowie fonction – signification – sens rekonstruieren lässt. Der Parcours durch die einzelnen Schichten wurde dann allerdings vorzeitig abgebrochen, weil die Untersuchung der letzten, obersten Schicht die vorherige Klärung des Intuitionsbegriffs erforderte. Nun hatten wir im Verlauf von Kapitel 6 mehrfach Anlass, uns zum Verhältnis von Sympathie und Intuition zu äußern, und man könnte meinen, dass insbesondere durch die Ausführungen in Abschnitt 6.2.3.2.4 alles Wesentliche zu dieser Frage gesagt und der Parcours abgeschlossen sei. Die dortigen Ausführungen hatten – im Kontext einer erkenntnistheoretischen Grundlegung – gezeigt, wie man sich den Zusammenhang von Intuition und Sympathie in der obersten Schicht vorzustellen hat und dass die Intuition im Erfassen des »Energiezentrums« eine neue, von Verlauf und Zusammenhang verschiedene Gestalt des Sinns erschließt. Indessen hatte ich in Kapitel 5 auch versucht, eine Vorstellung vom Wortfeld »Sympathie« bei Bergson zu vermitteln, indem ich solidarité, camaraderie und amitié als Synonyme von sympathie bzw. als Bezeichnungen der für die einzelnen Schichten charakteristischen Formen des Wir untersuchte. An dieser Stelle zeigt sich eine Lücke, weil wir bisher noch von keinem derartigen Synonym, keiner eigenständigen Form des Wir im Bereich der obersten Schicht gehört haben. Zugleich verhält es sich so, dass Bergson keines der Synonyme so deutlich und mit so viel Nachdruck präsentiert wie dieses letzte, uns hier noch fehlende, und dass es einen engen Zusammenhang aufweist mit dem gesuchten Subjekt der überindividuellen Dauer. Schließen wir also die Lücke und klären wir den Zusammenhang. Als Ausgangspunkt dafür eignen sich zwei kurze Zitate: »In einem ganz anderen Sinne täuscht der Mensch die Natur, wenn er die soziale Solidarität zur humanen Brüderlichkeit erweitert […].« 254 254 C’est dans un tout autre sens que l’homme trompe la nature quand il prolonge la solidarité sociale en fraternité humaine […]. – DS 1023 | 55 | 45 – Dass prolonger hier als »erweitern« zu übersetzen ist, zeigen die vorangehenden Sätze, in denen analoge Vorgänge mit dem Wort extension bezeichnet werden. Es handelt sich dabei aber nicht um eine Erweiterung des Umfangs in dem Sinne, der im nachfolgend zitierten Text (vgl. Anm. 257) abgelehnt wird. Vielmehr geht es um die Ausweitung des durch die

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»Indem wir von der sozialen Solidarität zur humanen Brüderlichkeit übergehen, brechen wir also mit einer bestimmten Natur, aber nicht mit jeglicher Natur. Man könnte, wenn man den spinozistischen Ausdrücken einen anderen Sinn gibt, sagen, dass wir uns von der natura naturata ablösen, um zur natura naturans zurückzukehren.« 255

Konzentrieren wir uns zunächst auf die in beiden Zitaten auftretende Formel de la solidarité à la fraternité. Wenn wir – was ich in der Tat behaupten möchte – in der fraternité die höchste Stufe der Sympathie vor uns haben, dann können wir die Formel »Von der Solidarität zur Brüderlichkeit« als Stütze für das in Kapitel 5 begonnene und hier zu Ende zu führende Unternehmen der Rekonstruktion einer mehrstufigen Sympathie betrachten. Zugegeben: Die Formel verrät uns nichts über Anzahl und Charakter der Zwischenstufen. Aber sie zeigt immerhin, dass auch Bergson ein Parcours vorschwebt, der von der Solidarität 256 zur Brüderlichkeit (in einem noch zu klärenden Sinn) führt. Der Antwort auf die Frage, was für eine Art von Weg das ist, kommen wir einen Schritt näher, wenn wir die Adjektive berücksichtigen, durch die Bergson Anfangs- und Endpunkt näher bestimmt. Die Solidarität ist näherhin eine solidarité sociale. Man kann das als »soziale« oder »gesellschaftliche Solidarität« übersetzen. Ich meine allerdings, dass wir den Sinn der Formel besser treffen, wenn wir das Adjektiv in eine Nominalkonstruktion verwandeln: »an der Gesellschaft (société) orientierte Solidarität«. Entsprechend wäre dann fraternité humaine nicht einfach eine »humane« oder »menschliche Brüderlichkeit«, sondern eine »an der Menschheit (humanité) orientierte Brüderlichkeit«. Der Parcours schließlich würde dann mit einem Zustand beginnen, in dem der Mensch als Mitglied einer Gesellschaft sich der vorgegebenen Ordnung unterwirft, deren Vorschriften gemeinsam mit allen anderen Mitgliedern erleidet (sympathein) und diese bestenfalls als Mit-Leidende sieht, um mit einem Zustand zu enden, in dem jeder Mensch sich als Mitglied einer Menschheit und alle anderen Menschen als Brüder oder Schwestern begreift. So verhält es sich in der Tat. Dass der Parcours der SymIntelligenz entworfenen und durch kulturelle Tradition weitergegebenen Verhaltens zuungunsten des natur- bzw. instinkthaften Verhaltens beim Menschen. 255 En allant de la solidarité sociale à la fraternité humaine, nous rompons donc avec une certaine nature, mais non pas avec toute nature. On pourrait dire, en détournant de leur sens les expressions spinozistes, que c’est pour revenir à la Nature naturante que nous nous détachons de la Nature naturée. – DS 1023 f. | 56 | 46 256 Vgl. Abschnitt 5.3.1.1, S. 595.

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pathie in der geschlossenen Gesellschaft beginnt, wissen wir seit Kapitel 5. Das, was wir hier an Neuem erfahren, besteht einerseits darin, dass »Brüderlichkeit« die vierte, noch fehlende Gestalt des Wir ist, andererseits darin, dass es sich bei der »Menschheit« um das gesuchte Subjekt der überindividuellen Dauer handelt. Inwiefern wird durch die Orientierung an der Menschheit eine neue Stufe der Sympathie konstituiert? Das ist eine Frage, auf die Bergson in den Kapiteln 1 und 3 von Les deux sources de la morale et de la religion immer wieder zurückkommt. Dabei wehrt er eine falsche Vorstellung ab und setzt ihr eine angemessenere entgegen: »Man sagt gerne, dass das Einüben der Bürgertugenden sich in der Familie vollzieht und dass man wiederum, indem man sein Vaterland liebt, sich auf die Liebe zum [ganzen] Menschengeschlecht vorbereitet. Unsere Sympathie würde sich so durch einen kontinuierlichen Fortschritt vergrößern, sie würde wachsen, dabei aber die selbe bleiben, und würde schließlich die gesamte Menschheit umfassen. Das ist eine Schlussfolgerung a priori, hervorgegangen aus einer rein intellektualistischen Konzeption der Seele. […] Aber zwischen der Gesellschaft, in der wir leben, und der Menschheit insgesamt besteht […] der gleiche Unterschied wie zwischen dem Geschlossenen und dem Offenen; diese beiden Gegenstände sind der Natur, nicht bloß dem Grad nach verschieden.« 257 »[Familien- und Vaterlandsliebe] implizieren eine Wahl und folglich ein Ausgrenzen: sie können zum Kampf auffordern; sie schließen den Hass nicht aus. [Die Menschheitsliebe dagegen] ist nichts als Liebe.« 258

Alle bisher erörterten Formen der Sympathie treten innerhalb von geschlossenen Gruppen oder Gesellschaften auf. Das ist bei der Solidarität offenkundig. Die Kameradschaft soll den Zusammenhalt zwischen den Mitgliedern stärken, den Umfang der Gruppe aber nicht verändern. Die Freundschaft schließlich kann zwar – man denke an Franzosen und Amerikaner – Völker verbinden, doch geschieht dies – 257 On se plaît à dire que l’apprentissage des vertus civiques se fait dans la famille, et que de même, à chérir sa patrie, on se prépare à aimer le genre humain. Notre sympathie s’élargirait ainsi par un progrès continu, grandirait en restant la même, et finirait par embrasser l’humanité entière. C’est là un raisonnement a priori, issu d’une conception purement intellectualiste de l’âme. […] Mais entre la société où nous vivons et l’humanité en général il y a […] le même contraste qu’entre le clos et l’ouver; la différence entre les deux objets est de nature, et non plus simplement de degré. – DS 1001 f. | 27 f. | 26 258 Ceux-là impliquent un choix et par conséquent une exclusion : ils pourront inciter à la lutte ; ils n’excluent pas la haine. Celui-ci n’est qu’amour. – DS 1007 | 35 | 31

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man denke an die angestrebte Allianz gegen Deutschland – vor dem Hintergrund des Kampfes gegen andere Völker; der Umfang des Wir wird hier – wie beim Übergang von der Familie zum Vaterland – vergrößert, bleibt aber gleichwohl begrenzt. Kurz: Geschlossene Gruppen und Gesellschaften verdanken sich einem Prozess des Ab- und Ausgrenzens. Die nach innen gerichtete Sympathie geht einher mit einer nach außen gerichteten Antipathie. Genau dies ändert sich nach Bergsons Auffassung, wenn die Liebe sich nicht mehr nur auf die eigene Familie oder das eigene Vaterland richtet, sondern auf die Menschheit. Die Menschheit wird nicht durch Ausschluss konstituiert, weil sie auch nicht auf Einschluss basiert. »Menschheit« heißt nicht »alle Menschen«, sondern der »Mensch überhaupt«. Hermeneutisch bedeutet das: Es geht auf dieser vierten Stufe nicht mehr um den durch eine bestimmte Volks- oder Kulturzugehörigkeit definierten Menschen, auch nicht mehr nur um eine Begegnung von Angehörigen verschiedener Kulturen, sondern um den Menschen jenseits der Kultur. Es geht um den Sinn von Mensch. Das ist nicht so zu verstehen, als wollte Bergson die Prägung des einzelnen Menschen durch die je-eigene Kultur oder die entscheidende Rolle der Kultur überhaupt für Entstehung und Entwicklung der Spezies Mensch leugnen und so etwas wie eine unveränderliche »Natur des Menschen« verfechten. Vielmehr geht es ihm um die Klärung der Frage, von welchem Standpunkt aus es möglich ist, Kulturen zu beurteilen. Ich erinnere an Bergsons bereits diskutierte Frage, »wie das Individuum zum Richter über die Gesellschaft werden kann« 259. Wie kann es gelingen, aus den vermeintlichen Selbstverständlichkeiten herauszutreten, die unbewussten Voraussetzungen und Beschränkungen der eigenen Kultur, aber auch eines gewissen Typs von Kultur überhaupt in den Blick zu bekommen? Bergsons Antwort lautet: Das ist nur möglich, wenn wir Kultur und Kulturen nicht als etwas »sich selbst Genügendes« betrachten, sondern sie in einer übergeordneten Dynamik verorten. (2) Nun könnte man finden, dass das, was ich soeben über Bergsons Intentionen ausgeführt habe, sich nicht recht mit den Aussagen von Les deux sources de la morale et de la religion deckt. Spricht Bergson dort nicht von einer »fundamentalen Natur« 260 des Menschen, und kommt dieser These nicht sogar strategische Bedeutung 259 260

Vgl. Anm. 198. nature fondamentale – DS 1206 | 289 | 211

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für seine gesamte Argumentation zu? Das sei zugestanden. Wenn man sich aber nicht darauf beschränkt, diese These zu registrieren, sondern, den Kontext einbeziehend, fragt, wie Bergson sie strategisch einsetzt, dann zeigt sich: • Bergsons These richtet sich gegen die von Lévy-Bruhl vertretene Konzeption einer »primitiven Mentalität«, näherhin gegen die Annahme, dass sich diese Mentalität bei »den Primitiven« bis heute erhalten habe und daher bei ihnen im Reinzustand beobachtet und erforscht werden könne. Bergson bestreitet nicht die Annahme einer primitiv-naturhaften Basis des Menschen, aber er bestreitet, dass sich »der Zivilisierte« im Laufe seiner Geschichte weiterentwickelt habe, »der Primitive« dagegen nicht. Naturhaft, primitiv und weitestgehend unveränderlich ist für Bergson eine in jedem Menschen anzutreffende, jeden Menschen prägende Grundschicht. Alle Völker – und deshalb alle Menschen – haben dann aber im Laufe einer langen Geschichte außerdem eine kulturelle Schicht geschaffen, die sich über dem naturhaften Boden abgelagert hat. Mit anderen Worten: Die These vom naturhaft-primitiven Substrat dient dazu, der Geschichte Raum zu verschaffen – und zwar einer Geschichte, über die nicht nur wenige, sich selbst für »zivilisiert« haltende, sondern auch alle anderen, vermeintlich »primitiven« Völker verfügen. • Bergsons These richtet sich weiterhin gegen die von manchen Biologen vertretene Möglichkeit einer Vererbung erworbener Eigenschaften. Bergson bestreitet auch hier nicht, dass das naturhafte Substrat durch Vererbung weitergegeben wird, aber er bestreitet, dass die von der menschlichen Intelligenz geschaffenen Verhaltensweisen ebenfalls auf diesem Wege an die Nachkommen übermittelt werden. Eine gründliche Lektüre der Texte zeigt, dass Bergson überall, wo er vom naturhaften Substrat des Menschen spricht, auf die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen naturhafter Vererbung und kultureller Tradition abzielt. Mit anderen Worten: Diese These dient dazu, der Tradition Raum zu verschaffen. Das Gedächtnis der Menschheit ist nicht nur in ihrem Erbgut zu finden, sondern auch – und vielleicht mehr noch – in den kulturellen Überlieferungen. • Freilich richtet sich Bergsons These schließlich auch gegen alle Ansätze, die – wie etwa Durkheims Soziologie – glauben, das naturhafte Substrat des Menschen ausblenden und sich auf Ge841 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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sellschaft, Kultur oder Geschichte beschränken zu dürfen. Bergson bestreitet, dass es dem Selbstverständnis des Menschen dienlich ist, wenn er gesellschaftliche, kulturelle oder sprachliche Strukturen als selbstgenügsam betrachtet und versucht, diese aus sich heraus, ohne Berücksichtigung der Probleme, die die Natur dem Menschen stellt, und der Hilfsmittel, die sie ihm zur Verfügung stellt, zu begreifen. Es geht Bergson also durchaus auch darum, eine »schlecht angebrachte Eigenliebe« des Menschen zu bekämpfen und der Natur Raum zu verschaffen. Indem er die Autonomie von Kultur und Gesellschaft bestreitet, indem er auf deren naturhafter Basis insistiert, will er einerseits vermeiden, dass der Mensch sich kritiklos mit den vorgefundenen gesellschaftlichen Zuständen identifizieren muss, andererseits vor »oberflächlichem Optimismus und Unkenntnis der wahren Natur des Fortschritts« 261, mithin vor einer zu simplen Antwort auf die Frage nach der Veränderbarkeit gesellschaftlicher Zustände warnen. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Um was für eine Natur handelt es sich hier? Erinnern wir uns angesichts dieser Frage zunächst an den bereits in Kapitel 2 erörterten Umstand, dass der Mensch nur noch über virtuelle Instinkte verfügt. 262 Diese nötigen den Menschen, sich mit gewissen Problemen überhaupt zu befassen, gewisse Aufgaben überhaupt zu lösen; sie geben aber im Detail keine fertigen Lösungen vor. Der Sprachinstinkt nötigt die Menschen, zu sprechen; dagegen ist die konkrete Ausgestaltung des Sprechens keine Wirkung des Instinkts, wie schon die Existenz einer Vielzahl von Sprachen zeigt. Der Sozialinstinkt nötigt die Menschen, in relativ kleinen, auf Verwandtschaft oder persönliche Loyalität gegründeten Gesellschaften zu leben; über die Details des Zusammenlebens entscheiden die Menschen jedoch unabhängig von diesem Instinkt. Natur und Kultur sind also aufeinander angewiesen und ergänzen sich gegenseitig. Die Natur stellt Aufgaben und liefert in Gestalt der virtuellen Instinkte für jede von ihnen das »vage und unvollständige Schema« 263 der Lösung. Die detaillierte Ausgestaltung der Lösungen obliegt dann der Kultur bzw. den Kulturen. Diese Komple261 un amour-propre mal placé, un optimisme superficiel, une méconnaissance de la vraie nature du progrès – DS 1206 f. | 289 f. | 212 262 Vgl. Kap. 2, Anm. 237. 263 schéma vague et incomplet – DS 1208 | 292 | 213

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mentarität von Natur und Kultur erklärt ein Phänomen in Bergsons Texten, das man – wenn man Ricœurs Ausdruck einen anderen Sinn gibt – als »gemischte Rede« bezeichnen kann: »Das Lachen ist die Auswirkung eines in uns durch die Natur oder, was ziemlich auf dasselbe hinausläuft, durch sehr lange Gewohnheit des sozialen Lebens erzeugten Mechanismus.« 264

Als Zugang zu dieser Denk- und Sprechweise Bergsons empfiehlt sich Freuds sogenannte zweite Topologie. Darin beschreibt Freud das Ich eines jeden Menschen als eingeschlossen zwischen dem vorindividuellen Es und dem überindividuellen Über-Ich. Das Es bezieht seine Macht aus naturhaften Trieben, das Über-Ich dagegen aus gesellschaftlichen Normen. Von Freuds Modell der Person aus gelangt man zu demjenigen Bergsons, wenn man die gesellschaftlichen Normen aus der Schicht des Über- in diejenige des Vorindividuellen verschiebt. Da die Natur durch diese Operation nicht verdrängt wird, finden wir bei Bergson zwei Bewohner vor, die sich die unterste Schicht teilen. Das ist möglich, weil Bergson Natur und Kultur nicht, wie Freud, primär als Gegner, sondern als Verbündete denkt. Die kulturellen Normen schließen nur die Lücken, die dadurch entstanden sind, dass der Mensch nicht mehr über inhaltlich bestimmte Instinkte verfügt. Sie realisieren nur das, was die virtuellen Instinkte fordern, und insofern lässt sich sagen, dass beide auf das gleiche Ziel hinarbeiten. Die Antwort auf die Frage, was für eine Natur das ist, der Bergson durch sein Insistieren auf dem naturhaften Substrat des Menschen Raum verschafft, umfasst aber noch einen zweiten Teil, wie eine bereits zitierte Textpassage zeigt: Das naturhafte Substrat ist die natura naturata. Es ist diejenige Natur, »mit der wir brechen« und »von der wir uns ablösen«. 265 Diese Aussagen bestätigen einerseits noch einmal meine These, dass Bergson nicht eine von Kultur und Geschichte unabhängige Menschennatur propagiert. Andererseits: Was gilt denn nun? Ist das naturhafte Substrat unveränderlich, wie können wir uns dann von ihm lösen? Können wir uns aber von ihm lösen, welchen Sinn hat dann die Rede von einem unveränderlichen

264 Or le rire est simplement l’effet d’un mécanisme monté en nous par la nature, ou, ce qui revient à peu près au même, par une très longue habitude de la vie sociale. – R 481 f. | 150 f. | 132 265 Vgl. Anm. 255.

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Substrat? Bergson ist sich dieses Problems bewusst. Er macht aber auch deutlich, dass er keine der beiden Positionen zu räumen gedenkt: »Da die Anlagen der Spezies in jedem von uns unveränderlich erhalten bleiben, ist es unmöglich, dass der Ethiker und der Soziologe dem nicht Rechnung zu tragen hätten. Gewiss, nur einer kleinen Zahl war es gegeben, zunächst durch das Erworbene, dann durch das Naturhafte hindurchzustoßen und sich in den Schwung des Lebens selbst zurückzuversetzen. Wenn eine derartige Anstrengung sich [leicht] verallgemeinern könnte, dann hätte der Schwung nicht bei der menschlichen Spezies, folglich auch nicht bei der geschlossenen Gesellschaft haltgemacht wie in einer Sackgasse. Und doch ist es nicht weniger wahr, dass diese Auserwählten die Menschheit mit sich reißen möchten; […]. Das gelingt ihnen freilich nur insoweit, wie sie die Natur in Rechnung stellen. Selbst die Menschheit in ihrer Gesamtheit könnte diese Natur nicht brechen. Aber sie kann sie biegen. Und sie wird sie nur biegen, wenn sie ihre Gestaltung kennt.« 266

Man beachte Bergsons Wortwahl: Es gibt naturhafte Anlagen, die die »Spezies Mensch«, d. h. die biologische Art prägen, aber das Sich-Ablösen von diesen Anlagen ist Aufgabe der »Menschheit«, geschieht mithin durch eine kulturell-geschichtliche Anstrengung. Die Art ist Produkt der Evolution, mithin erstarrte Form. Da nun aber die geschlossenen Gesellschaften Realisierungen des im naturhaften Substrat Angelegten sind, setzt eine grundlegende Umgestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens auch eine Umgestaltung des Substrats, eine Verflüssigung des Erstarrten voraus. Bergson nennt drei Voraussetzungen für die Möglichkeit eines derartigen Prozesses: • Die Umgestaltung wird angeführt von einigen wenigen moralischen Genies, denen es gelingt, sich sowohl durch die Kruste der erstarrten kulturell-gesellschaftlichen Normen wie auch durch die Schicht der natürlichen Anlagen hindurchzuarbeiten und Kontakt mit dem in der Tiefe entspringenden »Lebensschwung« aufzunehmen. 266 Puisque les dispositions de l’espèce subsistent, immuables, au fond de chacun de nous, il est impossible que le moraliste et le sociologue n’aient pas à en tenir compte. Certes, il n’a été donné qu’à un petit nombre de creuser d’abord sous l’acquis, puis sous la nature, et de se replacer dans l’élan même de la vie. Si un tel effort pouvait se généraliser, ce n’est pas à l’espèce humaine, ni par conséquent à une société close, que l’élan se fût arrêté comme à une impasse. Il n’en est pas moins vrai que ces privilégiés voudraient entraîner avec eux l’humanité ; […]. Or, ils n’y réussiront que dans la mesure où ils auront pris en considération la nature. Cette nature, l’humanité dans son ensemble ne saurait la forcer. Mais elle peut la tourner. Et elle ne la tournera que si elle en connaît la configuration. – DS 1207 f. | 291 | 213

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Der schöpferische Elan kann, ausgehend von den Genies, auf andere Menschen übergreifen, sofern erstere berücksichtigen, dass das naturhafte Substrat sich nicht »brechen«, sondern nur »biegen« lässt. Das besagt zweierlei. Zum einen: Weil die virtuellen Instinkte nur Umrisse der Gesellschaftsstruktur liefern, lassen sie eine gewisse Freiheit, die die Freiheit zur Aus-, aber auch zur Umgestaltung ist. Zum anderen: Die Genies müssen der Existenz und der Macht des naturhaften Substrats Rechnung tragen. Sie müssen der Masse der Nicht-Genies entgegengehen und neue Formen des Zusammenlebens vorschlagen, die keine Revolutionen, sondern Evolutionen sind. • Dass aber überhaupt die Genies die Krusten nicht nur der gesellschaftlichen, sondern auch der natürlichen Prägungen durchstoßen und dass ihr Anliegen von den Nicht-Genies verstanden werden kann, liegt an der wichtigsten aller Voraussetzungen: Auch der »Lebensschwung« ist Natur. Es geht, so Bergson, nicht darum, aus der Natur auszubrechen und sich auf eine ganz andere Basis zu stellen. »Wir brechen nicht mit jeglicher Natur, sondern nur mit einer ganz bestimmten Natur.« Wir gehen auf Distanz zur natura naturata, zur erstarrten Form, aber das können wir nur durch Partizipation an der natura naturans. Und diese ist nicht minder Natur als jene. Mit anderen Worten: Der Versuch, das Gegebene zu überwinden, ist nicht aussichtslos, weil jene Kraft, die das Gegebene geschaffen hat, in sich gespalten ist. Damit können wir den Vergleich zwischen Freuds und Bergsons Modell der Person vervollständigen: Bergson verschiebt die gesellschaftlichen Normen in die Schicht des Vorpersönlichen, kombiniert sie mit den von der Natur geschaffenen virtuellen Instinkten und gelangt so zu einem Konzept der menschlichen Verhaltensmuster als natura naturata. Die Schicht des Überindividuellen wird dadurch allerdings nicht überflüssig, sondern vielmehr frei für die natura naturans, die schöpferische Energie des Lebens. Mit anderen Worten: Die Kraft, die den Menschen geschaffen hat, ist in sich gespalten. Aber der Mensch ist es auch, weil er an beiden Aspekten dieser Kraft partizipiert. (3) Wir müssen von diesen beiden Dimensionen des Lebens sprechen, weil sie »in uns« und weil wir von ihnen abhängig sind. Der Mensch mag ein bewusstes Individuum, er mag ein schöpferisches Selbst sein, und doch weiß er ganz genau, dass er nicht allein und dass er nicht der Schöpfer seiner Lebendigkeit ist. Er kann sein •

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Leben gestalten, aber er kann es nicht schaffen. Wenn der Mensch anfängt, zu denken, ist das Leben immer schon da. Die Vorgängigkeit des allgemeinen Lebens vor dem individuellen ist eine Grundbedingung, die der Mensch mit allen anderen Lebewesen teilt. Alle Lebewesen sind Produkte einer übergreifenden Lebensdynamik, die gleichsam hinter ihrem Rücken wirksam ist. Während aber die anderen Lebewesen, obgleich zu eigener Initiative fähig, durch ihre Instinkte in das umgreifende Leben nahtlos eingefügt und einer vorgefertigten Lebensform untergeordnet bleiben, gilt dies für den Menschen nicht. Die Intelligenz ist ein Werkzeug, mit dessen Hilfe der Mensch seine Umwelt gestalten und eine Lebensform entwerfen kann. Die spezifisch menschliche Erfahrung zeichnet sich dadurch aus, dass »Leben« in ihr in doppelter Gestalt vorkommt: einerseits als etwas Vorgängiges, nicht Hintergehbares, weitgehend unbewusst sich Vollziehendes, andererseits als Gegenstand bewussten Nachdenkens, Entwerfens und Gestaltens. Was folgt aus dieser besonderen Konstellation? Bergson diskutiert die Frage aus zwei Perspektiven. In L’évolution créatrice fragt er: Was bedeutet es für die Evolution, dass sie ein Wesen hervorgebracht hat, welches nicht nur von Gnaden einer vorgängigen schöpferischen Energie existiert, sondern selbst über schöpferische Energie verfügt, ja schöpferische Energie ist? 267 Und in Les deux sources de la morale et de la religion fragt er: Was bedeutet es, dass sich dem Menschen Aufgaben stellen, die zwar Kulturaufgaben sind, aber doch nicht Aufgaben einer einzelnen Kultur, Aufgaben der gesamten Menschheit, nicht einer von allen übrigen abgegrenzten Gruppe von Menschen? Der Punkt, an dem sich die beiden Teilantworten zu einer einzigen vereinen, lässt sich so formulieren: Es gibt ein »Projekt Mensch«. Dabei geht es darum, vom bloßen Objekt zum Subjekt lebendiger Schöpfung zu werden. Den hohen Anspruch ebenso wie die wichtige Rolle, die das »Projekt Mensch« 268 in seinem Denken spielt, macht Bergson auch sprachlich deutlich:

267 Vgl. den Abschnitt mit der Überschrift Signification de l’évolution in EC 708 ff. | 251 ff. | 255 ff. 268 Der Ausdruck »Projekt Mensch« stammt nicht von Bergson, sondern von mir. Gleichwohl scheint er mir sehr nahe an derjenigen Ausdrucksweise zu bleiben, deren sich Bergson selbst – etwa in den nachfolgenden Zitaten – bedient.

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»Alles geht so vor sich, als ob ein unbestimmtes und vages Wesen, mag man es nun Mensch oder Übermensch nennen, nach Verwirklichung getrachtet, diese aber nur dadurch erreicht hätte, dass es einen Teil seines Wesens unterwegs aufgab.« 269 »Bis wohin reicht die Intuition? Nur sie allein wird es sagen können. […] Auf jeden Fall wird uns die Philosophie über die conditio humana emporgehoben haben.« 270 »Die Philosophie sollte eine Anstrengung sein, die conditio humana zu überschreiten.« 271 »Die Menschheit seufzt, halb erdrückt, unter der Last der Fortschritte, die sie erzielt hat. Es ist ihr nicht hinlänglich klar, dass ihre Zukunft von ihr selbst abhängt. Es ist an ihr, zunächst zu entscheiden, ob sie weiterleben will. Und es ist an ihr, sich weiterhin zu fragen, ob sie nur leben oder außerdem noch die nötige Anstrengung vollbringen will, damit sich auch auf unserem widerspenstigen Planeten die wesentliche Funktion des Weltalls erfülle, das ja eine Maschine zum Herstellen von Göttern ist.« 272

Bergson betrachtet den Zustand des bloßen Geschöpf-Seins als identisch mit der conditio humana. Aus dieser Perspektive betrachtet, ist der Mensch ein Produkt der Evolution wie jedes andere Lebewesen auch. Nimmt der Mensch aber die Gestaltung seiner Welt und seiner Lebensform selbst in die Hand, übernimmt er also die Aufgabe des Schaffens von Neuem von jenem anonymen, vorgängigen Leben, so wird er gewissermaßen zum »Übermenschen« 273, d. h. zu einer ganz neuen Stufe in der Entwicklung des Lebendigen. Der Ausbruch aus dem bloß bedingten Mensch-Sein wird als Aufgabe – nicht nur, aber auch – der Philosophie bezeichnet. Schließlich wird, wenn man so 269 Tout se passe comme si un être indécis et flou, qu’on pourra appeler, comme on voudra, homme ou sur-homme, avait cherché à se réaliser, et n’y était parvenu qu’en abandonnant en route une partie de lui-même. – EC 721 | 266 f. | 270 270 Jusqu’où va l’intuition ? Elle seule pourra le dire. […] De toute manière, la philosophie nous aura élevés au-dessus de la condition humaine. – PM 1292 | 50 f. | 65 271 Mais la philosophie devrait être un effort pour dépasser la condition humaine. – PM 1425 | 218 | 218 272 L’humanité gémit, à demi écrasée sous le poids des progrès qu’elle a faits. Elle ne sait pas assez que son avenir dépend d’elle. A elle de voir d’abord si elle veut continuer à vivre. A elle de se demander ensuite si elle veut vivre seulement, ou fournir en outre l’effort nécessaire pour que s’accomplisse, jusque sur notre planète réfractaire, la fonction essentielle de l’univers, qui est une machine à faire des dieux. – DS 1245 | 338 | 247 273 Es wird allgemein angenommen, dass Bergson an dieser Stelle bewusst auf Nietzsche anspielt. Vgl. EC – | –– | 498, Anm. 279.

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will, sogar der traditionelle Mythos vom Kopf auf die Füße gestellt: Nicht Götter schaffen das Universum. Das (naturwissenschaftlichmechanistisch gedachte) Universum ist vielmehr eine »Maschine«, die die Aufgabe hat, »Götter« hervorzubringen. Diese Götter freilich sind die schaffenden, vor allem aber: die – im Sinne der Autopoiesis, der Selbstorganisation – sich selbst schaffenden Menschen. Bergsons Philosophie thematisiert also das vorgängige Leben, ohne dem Menschen totale Abhängigkeit zu attestieren. Sie thematisiert das menschliche Leben als Entwurf und Gestaltung, ohne in die Illusion absoluter Autonomie zu verfallen. Sie thematisiert das »Projekt Mensch« als die Frage nach dem Sinn von wahrhaft menschlichem Leben. Diese Frage kann nicht von einem imaginären Nullpunkt ausgehen. Sie muss berücksichtigen, dass wir immer schon Menschen sind, dass wir unser Leben immer schon im Spannungsfeld von Geprägtheit und Entwurf führen. Eben deshalb ist diese Frage eine hermeneutische Frage. Es ist für Bergson die Grundfrage der hermeneutische Philosophie, von der her alle anderen Fragen und Antworten Bedeutung gewinnen. (4) Als »Solidarität« bezeichnet Bergson, wie wir gesehen hatten, diejenige Form der Sympathie, die in geschlossenen, d. h. von anderen abgegrenzten, aber auch sich als abgeschlossen – d. h. keiner Weiterentwicklung bedürftig – betrachtenden Gesellschaften auftritt. Es ist im Bereich menschlichen Zusammenlebens diejenige Form, die dem, was uns das Tierreich in Gestalt des durch den Instinkt garantierten Aufeinander-abgestimmt-Seins darbietet, am nächsten kommt. In Analogie zum – Disharmonien nicht ausschließenden – harmonischen Ganzen der Natur, in das die Tiere durch den Instinkt nahtlos eingefügt sind, will auch die geschlossene Gesellschaft ein harmonisches Ganzes sein, in dem jedes Individuum eine vorgegebene Rolle zu spielen hat. Indessen scheitert die Gesellschaft mit diesem Anspruch, und sie muss scheitern, weil menschliches Verhalten nicht durch den Instinkt, sondern durch die Intelligenz bestimmt wird. Die Gesellschaft gerät in Widerspruch mit sich selbst, wenn sie, ihre eigenen Unvollkommenheiten bemerkend, ihre Mitglieder auffordert, nach verstärkter »gegenseitiger Anpassung« und »immer exakterem Ineinandergreifen« der Handlungen zu streben. Diese Aufforderung enthüllt zum einen den Widerspruch zwischen verlautbartem Anspruch auf Beharrung und uneingestandener Notwendigkeit der Weiterentwicklung, zum anderen den Widerspruch zwischen der Forderung nach Unterordnung unter unpersönliche 848 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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Verhaltensregeln und der hier in Anspruch genommenen individuellen Initiative. Die Gesellschaft als starrer Rahmen zerbricht, wenn die Individuen ihr Augenmerk auf die zwischen ihnen sich abspielenden Sympathien vom Typ der »Kameradschaft« richten, doch erkaufen sie die Befreiung der Individualität mit einer Wir-Schwäche ebenso wie mit einer Ich-Schwäche, weil der Empathie die Dauer fehlt. Ein Vorschein der Dauer zeigt sich beim Übergang zur »Freundschaft«. Individuen oder Gruppen entdecken Analogien des Strebens. Das impliziert eine Stärkung des Ich, weil es ein konsequentes eigenes Streben voraussetzt, aber auch eine Stärkung des Wir, weil es mehr unterstellt als ein nur momentanes Zusammenfallen der Interessen. Zugleich wird die Möglichkeit der Übersetzbarkeit von Kulturen ineinander deutlich. Jedoch bleibt ungeklärt, ob die Analogie des Strebens als gelegentlich auftretender Zufall zu betrachten ist oder ob sie sich unter bestimmten, genau angebbaren Bedingungen einstellt. Das ist deshalb so, weil die Analogie des Strebens auf dieser Stufe den weitesten zur Verfügung stehenden Horizont bildet, weil immer noch ein Rahmen fehlt, in den sich die Bestrebungen einordnen ließen. Das »Projekt Mensch« liefert diesen Rahmen. Es stellt die übergreifende Ordnung einer gemeinschaftlichen Welt wieder her. Diese Ordnung, die in der Welt des Instinkts vollkommen und in der geschlossenen Gesellschaft unvollkommen als Rahmen fungierte, war beim Übergang zur individuellen Empathie zerbrochen. Insofern kann man angesichts des »Projekts Mensch« von einer Restauration, von einer Wiederherstellung des seit Stufe 2 Fehlenden sprechen. Man könnte auch sagen, dass sich hiermit ein Kreis schließt. Die neue Ordnung aber ist keine statische, sondern eine dynamische, der neue Rahmen präsentiert sich nicht als geschlossene Struktur, sondern als offenes Projekt. Es handelt sich also nicht um einen geschlossenen Kreis. Es handelt sich nicht um eine neue Ordnung des alten Typs. Das »Projekt Mensch« als Rahmen erwartet vom Individuum nicht Unterordnung, sondern Mitwirkung, und das heißt: Aufbau einer Distanz zur fertigen, erstarrten Form und zugleich Partizipation an der gemeinsamen schöpferischen Anstrengung. Die Menschheit erweist sich als das neue Wir, durch das die Schwächen, die wir dem Wir auf den Stufen 2 und 3 attestieren mussten, überwunden sind. Zugleich aber bietet das »Projekt Mensch« auch dem Ich das denkbar festeste Fundament, insofern auch das Streben des Individuums von der Frage nach dem Sinn von Mensch und dem Sinn von Leben geleitet ist. Zwischen den so strebenden 849 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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Individuen und der als strebend gedachten Menschheit vermittelt die Brüderlichkeit, die im Streben eines jeden anderen Ich eine Analogie zum eigenen Streben und zugleich einen Beitrag zum Streben der Menschheit erkennt. Im Grunde rumort diese Vorstellung unterirdisch, verfolgt sie uns »wie ein Gespenst« 274 seit Le rire: Das Lachen der Menschen über ihre Mitmenschen ist Ausdruck einer Erwartung, die sich selbst noch nicht recht versteht. In Les deux sources de la morale et de la religion begreift sie sich als Erwartung der Mitarbeit am »Projekt Mensch« und der Mitarbeit bei der Schaffung einer lebenswerten gemeinsamen Welt. Zugleich ist »der Mensch« oder – wenn man das vorzieht – der »Übermensch« die (gemeinsame) Intuition, auf die das Projekt so ausgerichtet ist, wie im Rahmen der Interpretationsphilosophie die Rekonstruktion auf den vorauseilenden Entwurf ausgerichtet ist und bleibt. Dieses Projekt wird konstituiert durch die Frage, was den Menschen und was eine menschliche Welt ausmacht. Insofern steht das Wort humanité nicht nur für die »Menschheit« als das Subjekt der Dauer dieses Projektes, sondern auch für die »Menschlichkeit«, d. h. das wahrhaft Menschliche als den Sinn des gesamten Unternehmens.

6.3 Zwischen Philosophie und Religion 6.3.1 Natura naturata und natura naturans (1) Wir hatten die Natur in Kapitel 2 ins Spiel gebracht, dort ein Arbeitsprogramm skizziert, das auf der These einer in jeder Lebensphilosophie steckenden Polarität von Biologie und Hermeneutik basierte, und daraus die Forderung abgeleitet, unsere eigene Untersuchung hätte zu zeigen, dass Bergsons Philosophie sich im Spannungsfeld von Biologie und Hermeneutik, von unbewusstem Lebensvollzug und bewusstem Sinn ansiedelt. 275 Nicht nur aber haben wir uns im Verlauf unserer Fedi-, Hyppolite- und Ronchi-Lektüren unvermerkt immer weiter von diesem Programm entfernt; wir haben die Frage nach der Rolle der Natur sogar zu Beginn von Kapitel 5 bewusst ausgeklammert, weil sie – in Gestalt von Bankovs Unmodernitätsverdacht – unser Teilprojekt, Bergsons Philosophie auch nach Matière 274 275

Vgl. Kap. 1, Anm. 74. Vgl. Abschnitt 2.2.1, S. 179.

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et mémoire und L’effort intellectuel noch als hermeneutische zu lesen, eher zu behindern als zu fördern schien. Heißt das, dass wir die Frage nach der Natur seither vollends aus den Augen verloren haben und nun – gleichsam in letzter Minute – noch eine Stellungnahme dazu aus dem Hut zaubern müssen? Davon kann keine Rede sein. Wenn wir unter »Natur« die Gesamtheit der Lebewesen, deren Verhaltensmuster und Verhaltenssteuerung, die (Um-)Welt, in der sie leben, und die Kräfte, die ihre Entwicklung steuern, verstehen, dann ist festzustellen, dass sich die Natur in den Kapiteln 5 und 6 immer wieder ins Spiel gebracht hat. Wo immer wir Anlass hatten, von Bewusstsein, Gesellschaft, Kultur und Geschichte zu sprechen, da sahen wir uns ebenfalls veranlasst, von der Natur zu reden. Aber auch: Wo immer wir genötigt waren, die Natur ins Spiel zu bringen, da erschienen zugleich Bewusstsein, Gesellschaft, Kultur und Geschichte auf der Bühne. Die Sympathie zeigte sich uns zunächst im Extrem des menschlichen Selbstverhältnisses, dann im anderen Extrem des mit sich sympathisierenden Ganzen der Natur. Die Intuition wurde konzipiert als Kooperation von tierischem Instinkt und menschlicher Intelligenz. Das Lachen trat auf als naturhafter Vollzug, dem gleichwohl Bedeutung für das Zusammenleben in der Gesellschaft zukommt. Und gerade erst haben wir gesehen, dass Bergsons These vom naturhaften Substrat des Menschen Raum schaffen soll nicht nur für die Natur, sondern auch für Geschichte und kulturelle Tradition. Was bedeutet es, dass Bergson weder von Kultur noch von Natur sprechen kann, ohne auch vom jeweils Anderen sprechen zu müssen, und dass es uns ebenso ergeht, wenn wir Bergsons Denken nach- und mitvollziehen wollen? Wie sollen wir die angeführten Beobachtungen auf den Begriff bringen? Ich meine, dass wir auch dies im Grunde schon getan haben. Darauf weist uns eine weitere, in der eben zusammengestellten Liste noch nicht enthaltene Beobachtung hin: Die Genies – insbesondere die moralischen – sind durch die »Unaufmerksamkeit der Natur« privilegiert worden, aber eben deshalb können sie zu Gründern historischer Epochen werden. Daraus hatten wir geschlossen, dass die Genies mit einem Bein im Bereich der Natur, mit dem anderen im Bereich der Geschichte stehen, dass sie an der Grenze zwischen Natur und Geschichte angesiedelt sind und dass beide Bereiche sich in ihnen verschränken. Gehen wir nun einen Schritt weiter: Das gilt nicht nur für die Genies. Zwischen Natur und Kultur bzw. Natur und Geschichte steht die Sympathie ebenso wie die Intui851 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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tion, das Lachen ebenso wie die »primitive Mentalität« des Menschen. Und eben deshalb, eben weil sich darin Natur und Kultur/Geschichte verschränken, interessiert sich Bergson für die Genies, die Sympathie, die Intuition, das Lachen, die primitive Mentalität. Diese und weitere, ähnlich geartete Phänomene sind für ihn von eminenter Bedeutung, weil sich Bergsons Philosophie selbst und als ganze an der Grenze zwischen Natur und Kultur/Geschichte ansiedelt, weil sie – wie jede Lebensphilosophie – diese Grenze zu ihrem Thema macht. Und das wiederum ist deshalb so, weil sie nach dem »Sinn von Mensch« fragt, dieser Sinn aber nur im Spannungsfeld von Natur und Kultur, von Geprägtheit und Entwurf, von Produkt und Projekt bestimmt werden kann. Von dieser Einsicht aus können wir zu Bankovs Unmodernitätsverdacht Stellung beziehen. Rekonstruieren wir Bergsons Philosophie von ihrem Gipfel – vom »Projekt Mensch« – her, so lässt sich feststellen: Bergsons Philosophie will weder eine »Naturhermeneutik« 276 sein noch eine fragwürdige »Kosmologisierung« hermeneutischer Kategorien 277 betreiben. In einem gewissen Sinne könnte man sogar sagen, dass es ihr gar nicht um die Natur geht. In allen relevanten Texten zieht Bergson eine Grenze zwischen Naturwissenschaften und Philosophie, macht er klar, dass er selbst und dass die Philosophie insgesamt kein Recht und keinen Anlass hat, sich in das Geschäft der Naturwissenschaften einzumischen: »Wie? Hier ist ein Mann, der, nachdem er lange eine bestimmte wissenschaftliche Methode praktiziert sowie in mühsamer Arbeit seine Resultate ermittelt hat, nun zu uns sagt: ›Die Erfahrung, unterstützt durch das 276 Vgl. Kap. 2, Anm. 160. – Wenn ich behaupte, dass Bergsons Philosophie keine Naturhermeneutik sein will, so denke ich dabei an eindimensionale Modelle wie dasjenige Blumenbergs, der lediglich die Metapher »Natur als Buch« untersucht (Blumenberg[1989]), oder dasjenige Hunemans, bei dem »Naturhermeneutik« zum Synonym für »Naturphilosophie« wird (Huneman[2006]). Wenn dagegen Gusdorf ergänzend beschreibt, wie stark seit der Romantik das biologische Konzept »Organismus« die Vorstellung davon prägt, was ein »Text« ist (Gusdorf[1988] 345 ff.), oder Gens[2008], ausgehend von einigen bei Dilthey und Gadamer am Rande auftretenden Äußerungen über den Menschen als Natur, zu erklären versucht, warum die Natur in einer vollständigen Hermeneutik vorkommen muss, dann entstehen mehrdimensionale Modelle, wie auch ich hier eines zu entwickeln versuche; allerdings gibt es dann (außer der polemischen Hervorhebung dessen, was man über die traditionelle Hermeneutik hinaus als Gegenstand zu akzeptieren gedenkt) keinen Grund, diese umfassende Hermeneutik (letztlich einschränkend) als Naturhermeneutik zu bezeichnen. 277 Vgl. Kap. 1, Anm. 103.

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Schließen, führt bis zu diesem Punkt. Die wissenschaftliche Erkenntnis beginnt hier, sie endet dort. Dies sind meine Schlussfolgerungen.‹ Und nun sollte der Philosoph das Recht haben, ihm zu antworten: ›Das ist ja alles schön und gut, aber überlassen Sie mir das mal, und dann werden Sie sehen, was ich daraus machen kann! Die Erkenntnis, die Sie mir unvollständig übergeben haben, werde ich vervollständigen. Das, was Sie mir in Bruchstücken vorlegen, werde ich zu einer Einheit zusammenfügen. […]‹ Eine seltsame Anmaßung, wahrhaftig!« 278

Gewiss, Bergson nimmt eine Fülle naturwissenschaftlicher Ergebnisse auf; aber dabei handelt es sich um jene Empirie, deren Bedeutung für die philosophische Methode wir erörtert haben. Gewiss, Bergson schlägt gelegentlich andere Interpretationen der Ergebnisse vor; aber dann argumentiert er als Wissenschaftler, d. h. er tut das, was jeder andere Wissenschaftler auch tun würde oder jedenfalls tun könnte. Gewiss, Bergson bietet überdies »anthropomorphisierende« Interpretationen von Naturprozessen an; aber er verleiht ihnen einen provisorischen Status, indem er sie im Modus des »Als ob« präsentiert: »Von dieser Seite aus betrachtet, gewinnt die Evolution des Lebens einen klaren Sinn, wenn man sie auch nicht einer wirklichen [Leit-]Idee unterstellen kann. Alles spielt sich so ab, als ob ein gewaltiger Bewusstseinsstrom in die Materie eingedrungen wäre, der – wie jedes Bewusstsein – mit einer ungeheuren Vielfalt sich durchdringender Virtualitäten aufgeladen war.« 279 »Alles geht so vor sich, als ob ein unbestimmtes und vages Wesen, mag man es nun Mensch oder Übermensch nennen, nach Verwirklichung getrachtet, diese aber nur dadurch erreicht hätte, dass es einen Teil seines Wesens unterwegs aufgab.« 280

278 Commen ! voici un homme qui a longuement pratiqué une certaine méthode scientifique et laborieusement conquis ses résultats, qui vient nous dire : « l’expérience, aidée du raisonnement, conduit jusqu’en ce poin ; la connaissance scientifique commence ici, elle finit là ; telles sont mes conclusions » ; et le philosophe aurait le droit de lui répondre : « Fort bien, laissez-moi cela, vous allez voir ce que j’en saurai faire ! La connaissance que vous m’apportez incomplète, je la compléterai. Ce que vous me présentez disjoint, je l’unifierai. […] » Étrange prétention, en vérité ! – PM 1359 | 135 | 141 f. 279 L’évolution de la vie, envisagée de ce côté, prend un sens plus net, encore qu’on ne puisse pas la subsumer à une véritable idée. Tout se passe comme si un large courant de conscience avait pénétré dans la matière, chargé, comme toute conscience, d’une multiplicité énorme de virtualités qui s’entrepénétraient. – EC 649 | 182 | 186 – Hervorhebung von mir [C. K.]. 280 Vgl. Anm. 269 – Hervorhebung von mir [C. K.].

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Noch einmal: Diese »anthropomorphisierenden« Deutungen sind als Provisorien gemeint, genauer: als Zwischenstadien. Auf dem Weg wohin? Zunächst einmal erschließen diese Deutungen etwas, was den Naturwissenschaften fremd ist: Dauern. Es handelt sich dabei um Tendenzen, die der Deutung bedürfen, weil sie zwar den Eindruck von Projekten erwecken, aber kein handelndes Subjekt und keinen leitenden Entwurf, sondern nur eine »unbestimmte und vage« Zielrichtung erkennen lassen. Was diese Tendenzen nun auszeichnet, ist nicht, dass sie als alternative wissenschaftliche Interpretationen in Betracht kämen, sondern dass sie sich als für menschliches Handeln, und insbesondere für die Frage nach moralischem Handeln als bedeutsam erweisen. Sie umreißen Arbeitsfelder, in Bezug auf die man Kants Frage stellen kann: Was sollen wir tun? Sie konstituieren eine menschlich bedeutsame Welt, insofern von ihnen ein Appell ausgeht. Sie zeigen unabgeschlossene Entwicklungen, die der Mensch als offene Projekte, mithin als Aufforderung zur Fort- und Weiterführung verstehen kann. Die provisorischen, scheinbar Menschliches in die Natur hineintragenden Deutungen wollen nicht etwas über die Natur als solche aussagen, sondern etwas über den Menschen an der Grenze von Natur und Kultur. Dass man die Entwicklung des Lebendigen so »lesen« kann, als wäre sie, von primitivsten Gestalten ausgehend, unterwegs zur Realisierung eines »Übermenschen«, ist nicht als alternative Evolutionstheorie gemeint, sondern als moralphilosophischer Imperativ: Handle so, als ob Du Dich an der Stelle eines Schöpfergottes befändest, der sich vorgenommen hat, einen Übermenschen zu schaffen. Und handle selbst dann so, wenn Dir bewusst ist, dass Du nur ein einfacher Mensch bist. Wage es, die conditio humana aufzubrechen wie einen geschlossen Zirkel, aus ihr auszubrechen und in einen offenen, zwischen Mensch und Übermensch – oder auch: zwischen Tier und Übermensch 281 – kreisenden, schöpferischen Zirkel hineinzukommen. Bergsons Denken erinnert hier ein wenig an dasjenige Kants, der für Gott, Freiheit und Unsterblichkeit keinen Raum im Bereich der reinen theoretischen Vernunft fand, ihnen aber im Be-

281 Wenigstens durch diese kurze Anspielung soll darauf aufmerksam gemacht werden, wie nahe Bergson hier Nietzsche ist. Nietzsches Charakterisierung des Menschen als »Seil geknüpft zwischen Tier und Übermensch« könnte problemlos als Überschrift für Bergsons Anthropologie und Moralphilosophie durchgehen. Die Gemeinsamkeit wird gestiftet durch das »Zwischen«. – Zu Nietzsche vgl. Pieper[1990].

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reich der praktischen Vernunft sehr wohl Platz zu verschaffen wusste. Nur geht Bergson nicht von fertigen Leitideen aus, sondern von der Notwendigkeit, die auf eine Fortsetzung durch den Menschen »wartenden« Projekte hermeneutisch zu erschließen. (2) Von der Einsicht in die Zwischen-Position des Menschen und (deshalb) der Philosophie aus lässt sich auch zu der Frage Stellung nehmen, ob es Bergson gelingt, den Bruch zwischen naturhaftem Lebensgeschehen und bewusstem, interpretierendem Verstehen angemessen zu erfassen. Unterstellt die Rede von natura naturata und natura naturans nicht eine Kontinuität, in der die Andersartigkeit menschlichen Bewusstseins untergeht? Wer so fragt, sei daran erinnert, dass Bergson – wie im Grunde jeder Lebensphilosoph – vom menschlichen Bewusstsein ausgeht. Dass es bewusstes Denken gibt und dass das menschliche Selbstverständnis sich darauf gründet, wird so wenig bestritten, dass es vielmehr den Einstiegspunkt für die philosophische Untersuchung bildet. Weil es allerdings (von Descartes über Kant bis zu Husserl) Philosophien gibt, die glauben, die Autonomie des bewussten Denkens verteidigen zu müssen, und die glauben, diese Autonomie dadurch verteidigen zu können, dass sie das Denken aus seinen Lebenszusammenhängen herausreißen und alle Zusammenhänge mit andersartiger Wirklichkeit leugnen, sieht die Lebensphilosophie sich genötigt, mit einer Denkbewegung zu beginnen, die ihrem eigentlichen Ziel geradezu entgegengesetzt zu sein scheint. Wir haben diese Gegenstrebigkeit in Kapitel 4 mitvollzogen: Fedis These, es gehe Bergson ebenso wie den deutschen Theoretikern der Geisteswissenschaften und der Hermeneutik darum, die Eigenart des Geistigen gegen alle Versuche der Reduktion auf bloß Physisches zu verteidigen, markiert das eigentliche Ziel. Ronchis Rede von der Reformulierung der klassischen Erkenntnistheorie auf der Basis pragmatistischer Prinzipien und von der Wiedereingliederung des Bewusstseins in die Natur beschreibt dann präzise die Bewegung in die scheinbar entgegengesetzte Richtung, die auf dem Weg vom Essai sur les données immédiates de la conscience über Matière et mémoire bis zu L’évolution créatrice vollzogen wird. Hinter dieser vermeintlichen Widersprüchlichkeit steckt die Einsicht, dass sich eine »Autonomie«, die nur ein Synonym für »Isolation« ist, nicht verteidigen lässt. Isoliertes Denken ist machtloses Denken. Von aller Bedingtheit durch die kontingente Realität, aber auch allem Zusammenhang mit ihr befreit, wird es entweder kühne Entwürfe ersinnen, aber nicht einmal auf den Gedanken 855 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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kommen, diese in die Tat umzusetzen 282, oder es wird seine Ergebnisse einem blinden Dezisionismus ausliefern, den es selbst nicht mehr zu thematisieren, geschweige denn zu bändigen vermag. Verhält es sich so, dann gibt es freilich nichts, was man der naturalistischen These von der Entbehrlichkeit des Geistigen entgegenhalten könnte. Daher beginnt das lebensphilosophische Projekt mit einer Denkbewegung, die man als Kontextualisierung des Bewusstseins bezeichnen kann: Das Denken wird wieder in Kontakt gebracht mit der ganzen Erfahrung, mit dem ganzen Menschen, mit der ganzen Wirklichkeit; mit dem Körper, mit der Arbeit, mit der Gesellschaft, mit der Natur. Bergson – wir hatten das bereits in Kapitel 2 angedeutet, und wir haben es dann in den Kapiteln 4, 5 und 6 im Detail nachvollzogen – beginnt ebenso wenig als Lebensphilosoph wie diejenigen seiner Zeitgenossen, die wir heute gleich ihm der »Lebensphilosophie« zurechnen. Er beginnt als Theoretiker des Bewusstseins, aber er wird dann zum Lebensphilosophen aufgrund seiner Einsicht in die Notwendigkeit einer Kontextualisierung des Bewusstseins. Was kommt nun heraus bei dieser Kontextualisierung? Zunächst einmal eine paradoxe These, die ich als These von der Kontinuität des Bruchs bezeichnen möchte. In Bergsons Texten dokumentiert sie sich als (a) eine Denkbewegung, durch die der Geist in der Natur verortet – wenn man so will: »naturalisiert« – wird, (b) eine entgegengesetzte Denkbewegung, durch die das Geistige in der Natur entdeckt – wenn man so will: die Natur »vergeistigt« – wird, sowie (c) einen Berührungspunkt dieser beiden Denkbewegungen, an dem als Ursprung des Lebens weder die geistlose Materie noch der materielose Geist noch auch eine undifferenzierte Vorstufe gedacht wird, sondern das Aufeinanderprallen von Materie und Geist, der »gewaltige Bewusstseinsstrom«, der »in die Materie eindringt«. Man müsste ein langes Kapitel schreiben, wollte man alle kritischen Vorwürfe (von »Anthropomorphismus« bis »Mythos«) und alle sympathisierenden Verteidigungen referieren. Hier interessiert nur der Sinn dieses – wie wir es nennen wollen – Bildes: Leben ist von Anfang (vom primitivsten Lebewesen) an bis zum vorläufigen End- und Höhepunkt (dem Menschen) ein Widerspruch in sich. Es kombiniert den Mechanismus und Determinismus der Materie mit dem für alles Geistige typischen Entwurfs282 Vgl. dazu Bergsons – in Abschnitt 6.3.2, S. 867, Punkt (4), erörterte – Einschätzung des rein philosophischen Humanitätsgedankens.

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und Initiativcharakter. Die Evolution – die Geschichte der Entwicklung des Lebendigen – ist die Geschichte der Versuche, mit diesem Widerspruch ins Reine zu kommen. Sesshaftigkeit oder Beweglichkeit? Instinkt oder Intelligenz? Bergende Totalität oder gefährdete Individualität? Die Folge immer neuer Antworten bezeugt das Fortbestehen des Gegensatzes, wenn man freilich auch sagen kann, dass dieser im Laufe der Entwicklung immer deutlicher herausgearbeitet wird. Die Geschichte des Lebens ist die Geschichte der paradoxen Bemühung um zunehmende Überwindung, zugleich aber um immer schärfere Ausarbeitung seiner inneren Differenz. Erst vor dem Hintergrund dieser Überlegungen kann die Frage nach dem besonderen Charakter des menschlichen Bewusstseins und einem möglichen Bruch mit der Natur – nunmehr im eminenten Sinn dieses Wortes, d. h. nicht nur im Sinn einer vorgefundenen Gebrochenheit, sondern eines bewussten Brechens – angemessen gestellt werden. Denn schließlich: Was für eine Art von Antwort erwartet man eigentlich? Sucht man nach einem (wie bei Platon und Aristoteles) als Gast aus dem Jenseits gedachten νοῦϚ ϑεωρητικόϚ; einer (wie bei Descartes) von der res extensa abgetrennten res cogitans; einem Bewusstsein mit (wie bei Husserl) »eingeklammertem« Wirklichkeitsbezug? Ist man bereit, Bergsons Hinweise auf den schon im primitivsten Lebewesen vollzogenen Bruch mit Determinismus und Entropie oder auf den Bruch mit Passivität und Angepasstheit durch die Herausbildung der Eigenbewegung bei den Tieren als das Gesuchte anzuerkennen? Und wenn Bergson in Les deux sources de la morale et de la religion beschreibt, wie der Mensch, angestachelt von der Intelligenz, mit der vom naturhaften Substrat ausgehenden Forderung nach einem Leben für die Gemeinschaft bricht und sich dem Egoismus zuwendet, mit der Forderung nach Erhaltung der Art durch Fortpflanzung bricht und vermittels empfängnisverhütender Maßnahmen dafür sorgt, dass er »sich der Ernte enthalten kann, ohne auf das Vergnügen des Säens zu verzichten« 283 – wird man darin das Erwartete sehen? Nein, wird man vermutlich sagen, all das sei es nicht. Man habe weder eine reine Vernunft noch eine bloß biologi-

283 [La nature] n’avait donc pas prévu, en nous donnant l’intelligence, que celle-ci trouverait aussitôt le moyen de couper l’acte sexuel de ses conséquences, et que l’homme pourrait s’abstenir de récolter sans renoncer au plaisir de semer. – DS 1023 | 55 | 45

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sche Evolution noch auch eine kurzsichtig-instrumentale Intelligenz im Sinn. Was aber dann? Nun scheint Bergson anzudeuten, dass er die Frage nach einem ganz besonderen, von allem bisher Aufgezählten verschiedenen Bruch versteht: »Wird man uns entgegenhalten, dass die Lebensbedürfnisse bei den Menschen, den Tieren und sogar den Pflanzen ähnlich geartet sind, dass unsere Methode also Gefahr läuft, das zu vernachlässigen, was das eigentlich Menschliche im Menschen ist? Zweifellos: Wenn man das Leben der Seele gegliedert und eingeteilt hat, dann ist die Arbeit nicht beendet; es bleibt noch die Aufgabe, das Wachstum oder sogar die Verwandlung jedes einzelnen Vermögens beim Menschen nachzuvollziehen.« 284

Aber was heißt das? Sollen wir uns auf die aus vielen »kleinen« Brüchen bestehende, schrittweise zum Menschen hinführende Sequenz konzentrieren oder auf den einen, entscheidenden Bruch, die »große Transformation«, die »das eigentlich Menschliche im Menschen« hervorbringt? Wir verfügen über alle Bausteine, die wir zur Beantwortung dieser Frage benötigen. Fügen wir sie also zusammen: • Der (einzelne) Mensch lebt zunächst und zumeist unbewusst in dem Sinne, dass sein Handeln fertig vorgegebenen Mustern folgt. Der homo faber als Erfinder bricht aus dieser Gedankenlosigkeit aus und schafft interpretierend Neues. Das ist viel, aber nicht genug. • Gelingt es dem Menschen, sich von dieser ersten, vorbereitenden Stufe zur nächsthöheren der (philosophischen) Intuition aufzuschwingen, d. h. sich reflexiv auf seine Schöpferkraft zurückzuwenden, dann kann er das leisten, was Bergson in Matière et mémoire geleistet hat. Er kann erkennen, dass die bewusste (gegenwärtige) schöpferische Anstrengung eingespannt ist zwischen einem statischen Unbewussten, das die Vergangenheit, und einem dynamischen Unbewussten, das die Zukunft repräsentiert. 285

284 Dira-t-on que les exigences de la vie sont analogues chez les hommes, les animaux et même les plantes, que notre méthode risque donc de négliger ce qu’il y a de proprement humain dans l’homme ? Sans aucun doute : une fois découpée et distribuée la vie psychologique, tout n’est pas fini ; il reste à suivre la croissance et même la transfiguration de chaque faculté chez l’homme. – PM 1295 | 54 f. | 69 285 Vgl. Abschnitt 4.3, S. 543.

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Erkennend, dass er nicht allein ist, kann dieser Mensch im nächsten Schritt nach der gemeinsamen menschlichen Welt fragen. Er wird dann versuchen, die gemeinsame, für den Menschen bedeutsame Welt nach dem Vorbild seiner individuellen Erfahrung als eine schöpferische Wirklichkeit zu deuten, und er wird das tun, indem er sympathisierend (im Sinne von Lapoujade) die Erfahrung der zwischen den Polen des Unbewussten sich abspielenden schöpferischen Anstrengung nach außen projiziert. So wird aus dem statischen Unbewussten die natura naturata, aus dem dynamischen Unbewussten die natura naturans und aus der individuellen schöpferischen Anstrengung die Geschichte der sich selbst und ihre Kultur(en) schaffenden Menschheit. • Als umsichtiger Philosoph wird er sich dann die Frage stellen, ob das nicht eine bloße fabulation, eine anthropomorphisierende Deutung der Wirklichkeit ist. Er belässt deshalb seine Projektion vorerst im Modus des »Als ob« und bringt die Empirie ins Spiel, um im Hin-und-Her zwischen Sinnentwurf und Empirie zu prüfen, ob sich die These halten lässt. – Diese Empirie kann Archäologie, d. h. in die Vergangenheit gerichtete Forschung sein. Dann wird sie das zutage fördern, was wir soeben als »Sequenz der vielen kleinen Brüche« bezeichnet haben. Und sie wird diese Sequenz verstehen als Vorgeschichte des entscheidenden, zum »eigentlich Menschlichen« führenden Bruches. – Die Empirie kann aber auch Teleologie, mithin in die Zukunft gerichtet sein. Sie wird dann die gegenwärtige Situation (vor dem Hintergrund der Vergangenheit) befragen auf unabgeschlossene Projekte, von denen ein Appell an den Menschen ausgeht; auf Projekte, deren »Existenz« man auch Anderen plausibel machen und an deren Fortführung man gemeinsam mit Anderen arbeiten könnte. Wie man sieht, ist und bleibt hier alles paradox, aber das kann nicht anders sein in einer Philosophie, die es ablehnt, sich als reines, sich selbst durchsichtiges Bewusstsein zu konstituieren, indem sie sich aus der verwirrenden Vielfalt der Erfahrung herausreflektiert. Und bei genauem Hinsehen erweist sich das vermeintlich Paradoxe als das Hermeneutische dieser Konzeption: • Die beschriebene Operation vollzieht sich durch Projektion von Strukturen der inneren Erfahrung in die äußerliche Wirklichkeit, beansprucht aber, Auslegung dieser Wirklichkeit zu sein.



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Indessen kennen wir dieses Paradox seit Kapitel 1: Der Verstehende tritt mit einer Sinnhypothese an die sprachliche Äußerung heran, beansprucht jedoch, den Sinn der Äußerung zu erfassen. Die Operation vollzieht sich als Aneignung der Kontinuität, beansprucht aber, ein Bruch zu sein. Indessen liegt das in der Logik einer Anstrengung, die Bruch nicht als Aus- oder Abbruch, sondern gerade als bewusste Fortsetzung versteht. Gebrochen wird nicht mit dem Projekt, als das das Leben begriffen werden kann, sondern mit dem passiven Sich-treiben-Lassen, mit dem Getrieben-Werden durch eine unbekannte, im Hintergrund wirksame Kraft, mit dem sich die Lebewesen bisher begnügen mussten. Der Bruch, durch den das spezifisch Menschliche zutage tritt, vollzieht sich vielmehr als Übergang zu einer bewussten Anstrengung, die danach strebt, den Sinn des Projektes zu erfassen und es aus eigener Kraft fortzusetzen. Die Operation vollzieht sich als Rückbindung des Menschen in die Natur, beansprucht aber, das spezifisch menschliche Bewusstsein freizusetzen. Indessen liegt auch dies in der Logik einer Philosophie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die Bewusstsein nicht mehr als etwas vom Himmel auf die Erde Heruntergekommenes denken kann, sondern sich genötigt sieht, die Frage nach der Möglichkeit von Bewusstsein im Kontext der Evolution des Lebendigen zu stellen. Beachten wir, dass Bergson nicht einfach das Bewusstsein in die Natur zurückbindet, sondern ein individuelles Bewusstsein, das – wie wir aus Kapitel 2 wissen – nur in Rissen gedeihen kann, reintegriert in eine Natur, die in natura naturata und natura naturans gespalten ist. Dem spezifisch menschlichen Bewusstsein entgegengesetzt ist einerseits der tierische Instinkt, der über einen unmittelbaren Zugang zur Dauer, aber nicht über Reflexion verfügt, andererseits der menschliche Automatismus des Handelns, Sprechens und Denkens, der mit fertigen Sach-, Wort- oder Gedankendingen operiert, aber jeden Bezug zur Dauer verloren hat. Kurz: Dem spezifisch menschlichen Bewusstsein entgegengesetzt sind die eindimensionalen Formen des »Bewusstseins«. Daraus folgert Bergson, dass das spezifisch menschliche Bewusstsein ein mehrdimensionales sein muss, eines, das den Bruch zwischen erstarrter Form und lebendiger Dynamik als solchen aufgreift, ihn sich bewusst aneignet. Verhält es sich aber so, dann stellen das Zu-

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sich-Kommen des Bewusstseins und die Partizipation an einer durch den Bruch zwischen natura naturata und natura naturans gekennzeichneten Wirklichkeit keinen Gegensatz dar. Das Zusich-Kommen des menschlichen Bewusstseins ist vielmehr die bewusste Aneignung dieses Bruchs, ist Arbeit am Bruch. (3) Dieser Gedanke der Arbeit am Bruch als bewusstes Brechen mit einem zuvor nur unbewusst gelebten Bruch stellt vermutlich selbst für wohlmeinende Leser das größte Hindernis dar, das sich ihrer Bereitschaft, der These vom hermeneutischen Charakter der Philosophie Bergsons zuzustimmen, in den Weg stellt. Oder vielmehr: Gerade für wohlmeinende Leser stellt er das größte Hindernis dar. Ich habe im Laufe dieser Untersuchung auf allerlei Vorurteile hingewiesen, die als Argumente gegen eine derartige Interpretation ins Feld geführt werden: ausschließliche Orientierung an den Naturwissenschaften, Sprachfeindschaft, Herausreißen des Individuums aus den gesellschaftlichen Zusammenhängen, Metaphysik als eigentlicher Schwerpunkt. Ich habe auch gezeigt, dass keines dieser Vorurteile einer gründlichen Bergson-Lektüre standhält, und ich konnte das um so leichter tun, als ich nicht der erste Interpret bin, der die genannten Einschätzungen für unproduktive Vorurteile hält. Hier aber haben wir es mit einer Schwierigkeit zu tun, die gerade das Ergebnis einer gründlichen Lektüre ist. Die Schwierigkeit, die der Gedanke von der Arbeit am Bruch bereitet, besteht darin, dass er alles als unfertig betrachtet. Dies widerspricht, wenn schon nicht dem allgemeinen, so doch jedenfalls einem weit verbreiteten Verständnis von Hermeneutik. Gewiss, in den Texten der Klassiker hermeneutischen Philosophierens wird man mancherlei Desiderate bezeichnet finden: bald eine Methodenlehre des Verstehens, bald eine erkenntnistheoretische Grundlegung, bald eine Bestimmung von Begriffen wie »Geist«, »Wissenschaft« oder »Geschichtlichkeit«. Man hat durchaus noch dieses oder jenes zu klären – explizit oder implizit vorausgesetzt aber wird stets, dass es das Verstehen, die Geschichte und die Geisteswissenschaften jedenfalls »gibt«. Bei Bergson ist das völlig anders. Man erinnere sich an die so wichtige Passage im zweiten Kapitel von L’évolution créatrice, in der Bergson die These erarbeitet, die Intuition sei als Kooperation von Instinkt und Intelligenz zu fassen. Das ist in der Tat als These gemeint, nicht als Hinweis auf etwas längst Existierendes: »Ins Innere des Lebens dagegen würde uns die Intuition führen«. Im Hinblick auf die gegenwärtige Situation gesteht Berg861 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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son lediglich zu, man dürfe aus der Existenz eines »ästhetischen Vermögens« beim Menschen schließen, dass die gesuchte Intuition jedenfalls »nicht unmöglich ist«. 286 Die Geisteswissenschaften? »Sie warten noch auf ihren Galilei, ihren Descartes, ihren Newton.« 287 Erst »das zwanzigste Jahrhundert wird dasjenige der Geisteswissenschaften sein«. 288 Die Methode der hermeneutischen Philosophie? »Wir sind noch weit, sehr weit davon entfernt, sie zu besitzen.« 289 Nun hat die hermeneutische Philosophie im Laufe ihrer Geschichte erst lernen müssen, was es – und insbesondere: was es im Hinblick auf sie selbst – bedeutet, von »Geschichtlichkeit« zu sprechen. Gadamer wirft Dilthey vor, er habe zwar die Geschichtlichkeit des Textes, nicht aber die des Interpreten angemessen thematisiert. 290 Ob dieser Vorwurf Dilthey trifft, ist hier nicht zu entscheiden. Von Interesse ist lediglich, dass er auf einer Unterscheidung von zwei möglichen Stufen der Reflexion basiert. Auf der ersten wird nur die Geschichtlichkeit des »Objektes«, auf der zweiten zusätzlich die des »Subjektes« reflektiert. Nichts aber zwingt die Reflexion, auf der zweiten Stufe stehenzubleiben. Man sieht leicht, dass noch eine dritte Stufe möglich ist, auf der die Geschichtlichkeit von »Verstehen« zum Gegenstand der Reflexion wird, und man kann sich eine vierte Stufe vorstellen, auf der über die Geschichtlichkeit von »Geschichtlichkeit« nachgedacht wird. Ob man die Dinge nun exakt so formulieren möchte oder nicht – etwas Derartiges finden wir, wie ich meine, bei Bergson. Die soeben angeführten, aber auch zahlreiche weitere, im Verlauf der Untersuchung zitierte Belege machen deutlich, wie wenig Bergson das Verstehen als etwas fertig Existierendes und wie sehr er es als etwas im Werden Begriffenes auffasst. Dieses langsame Werden des Verstehens kann man mit der Formel von dessen Geschichtlichkeit fassen. Aber man muss dann noch eine weitere, dem Begriff »Geschichtlichkeit« selbst geltende Reflexion anfügen: Gehört zur Geschichte des Verstehens einzig und allein die Entfaltung des speziMais c’est à l’intérieur même de la vie que nous conduirait l’intuition, […]. […] Qu’un effort de ce genre n’est pas impossible, c’est ce que démontre déjà l’existence, chez l’homme, d’une faculté esthétique à côté de la perception normale. – EC 645 | 178 | 181 – Hervorhebung von mir [C. K.]. 287 Elles attendent encore leur Galilée, leur Descartes, leur Newton. – Mél. 1138 288 Vgl. Kap. 3, Anm. 185. – Hervorhebung von mir [C. K.]. 289 Vgl. Anm. 184. 290 Gadamer[1990] 235 ff. 286

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fisch menschlichen Verstehens? Darf nur das aus dem bewussten menschlichen Denken Hervorgegangene Anspruch darauf erheben, zur Geschichte zu gehören? Im Einklang mit der Hermeneutik, die sich mit den Produkten der unbewussten Kreativität des Menschen befasst 291, sowie der von der Romantik entworfenen und von der Lebensphilosophie aufgegriffenen Idee einer »Geschichte der Seele« 292, die bis zu den frühesten Lebewesen zurückreicht, entscheidet Bergson anders: Das Verstehen reicht bis in die Tierwelt hinein. Und man kann nicht einmal sagen, dass es sich beim instinktiven Sympathisieren der Tiere um die Vorgeschichte des menschlichen Verstehens handelt, weil der durch die Intelligenz ausgezeichnete Mensch die Fähigkeit instinktiven Verstehens fast vollständig verloren hat. Wenn sie den Übergang vom Tier zum Menschen behandelt, dann hat die Geschichte des Verstehens eine Verlustgeschichte zu erzählen, die Geschichte eines Bruchs, der beinahe ein Abbruch geworden wäre. Das, was wir im vorhergehenden Punkt als »entscheidenden Bruch« bezeichnet haben, ist, so gesehen, nur die Kehrseite einer BeinaheKatastrophe. Zum Jubeln besteht deshalb kein Anlass. Erforderlich ist vielmehr eine unentwegte, bewusste Anstrengung, die darauf gerichtet ist, dem Menschen aus den wenigen Resten des Instinkthaften, die sich im »Saum« der Intelligenz erhalten haben, die Fähigkeit des Verstehens zurückzugewinnen. Einmal mehr liegen hier Elend und Glanz dicht beieinander. Das Elend des Menschen besteht im Verlust des ursprünglichen, naturhaften Verstehens. Der Glanz – oder jedenfalls: die Chance – besteht darin, ein spezifisch menschliches Verstehen zu schaffen, das die Ein-Fühlung in die Dauer des Anderen mit der Klarheit des bewussten Denkens verbindet. Wir »haben« also weder das Verstehen noch die Geschichte noch auch die Geisteswissenschaften. Ebenso wenig »haben« wir das menschliche Bewusstsein. Wir »haben« noch nicht einmal den Bruch zwischen der Natur und dem menschlichen Bewusstsein. Wir haben vielmehr bewusst an diesem Bruch zu arbeiten. (4) Der Mensch, der die innere Erfahrung der zwischen zwei Polen des Unbewussten angesiedelten bewussten Anstrengung nach außen projiziert und dann die gemeinsame menschliche Welt als zwischen natura naturata und natura naturans eingespannte Kulturanstrengung der Menschheit deutet, wird, so hatte ich in Punkt (2) 291 292

Vgl. Abschnitt 2.1.2, S. 144. Vgl. etwa Carus[1866/1986].

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gezeigt, anschließend die Empirie zu Hilfe rufen, um, teils archäologisch forschend, teils teleologisch auslegend, festzustellen, ob sich auf diesen Sinnentwurf eine plausible Interpretation der konkreten Erfahrung gründen lässt. Zu beachten ist aber noch ein weiterer Aspekt der Plausibilisierung durch Empirie. Es geht bei dieser Hypothese ja nicht nur darum, die Struktur der individuellen Erfahrung auf das Geschehen in der gemeinsamen Welt zu übertragen. Es geht vielmehr darum, individuelle Erfahrung und äußeres Geschehen miteinander zu vermitteln. Es stellt sich nicht die erkenntnistheoretische Frage nach dem Recht der Übertragung, sondern die praktische (moralphilosophische) Frage nach dem Ineinandergreifen von individuellem und überindividuellem Geschehen, dem Zusammenhang von Biographie und Geschichte – und dies in allen denkbaren Richtungen: als Prägung der Biographie durch die Geschichte ebenso wie als Mitgestaltung der Geschichte im Rahmen einer individuellen Biographie, als gegenseitige Störung 293 wie auch als gegenseitige Förderung der beiden Dimensionen. Diese Vermittlung vollzieht sich als hermeneutischer Zirkel. Nun hatte ich allerdings bereits zu Beginn des Moralphilosophie-Abschnitts eine Zunahme der Komplexität angekündigt. Präziser also: Die Vermittlung von überindividuellem Geschehen und individueller Erfahrung vollzieht sich in Gestalt von – mindestens 294 – zwei ineinander verschachtelten Zirkeln. Der äußere der beiden Zirkel beschreibt eine überindividuelle, der innere eine individuelle schöpferische Anstrengung. 293 Einer der schönsten und wichtigsten Texte über die Prägung des Menschen durch die – und zwar gerade die widrige, den eigenen Entwürfen widerstrebende und deren Scheitern verursachende – Geschichte sowie den aus dem Scheitern geborenen Willen zum Verstehen ist Bergsons Rede über Émile Ollivier, der französischer Ministerpräsident war, als Preußen 1871 Frankreich angriff. – Mél. 1275 ff. 294 Ich erörtere hier einerseits den allgemeinsten Zirkel, durch den das »Projekt Mensch« artikuliert, aber auch zu einem Ganzen verbunden wird, andererseits den individuellsten Zirkel, durch den die schöpferische Anstrengung des einzelnen Menschen artikuliert, aber auch zu einem Ganzen verbunden wird. Dazwischen lassen sich weitere Zirkel einfügen. Insbesondere könnte man auch die durch das Genie gegründete Gemeinschaft als Subjekt auffassen, dessen Geschichte durch einen eigenen Zirkel sowohl artikuliert wie auch zu einem Ganzen verbunden wird. Solche Zwischenebenen spielen aber bei Bergson nur eine untergeordnete Rolle, so dass ich sie hier ausblende. – Dass es nicht genügt, nur von »dem« hermeneutischen Zirkel zu sprechen; dass vielmehr die Hermeneutik sich, je nach Gegenstand des Interpretierens, verschiedenartiger und zunehmend komplexer Zirkel bedienen muss, hat Iser[2000] gezeigt.

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Der äußere Zirkel kreist zwischen dem »Projekt Mensch« als allgemeinster und anfangs noch völlig unerschlossener Intuition sowie den schöpferischen Impulsen, die von den Genies ausgehen. Den Lehren der – insbesondere der moralischen – Genies und den schöpferischen Impulsen, auf denen sie basieren, kommt strukturell die gleiche Bedeutung zu wie den aufeinander folgenden Texten eines Philosophen und der Intuition, die sie auszusprechen versuchen: Sie artikulieren die Intuition des »Projekts Mensch« und verdeutlichen Schritt für Schritt, was in ihr liegt, verdeutlichen, mit anderen Worten, ihren (theoretischen) Sinn und ihre (praktische) Bedeutung. Umgekehrt schließt das »Projekt Mensch« die – nun als Teilprojekte erscheinenden – Projekte der einzelnen Genies so zu einer Einheit zusammen, dass sie nicht disparat und isoliert bleiben, sondern als »Tiefenlotungen« in einer einzigen Dauer erscheinen und die Genies sich »über die Jahrhunderte hinweg die Hände reichen« 295. Diese Einheit ist die Einheit einer Dauer. Diese Dauer ist diejenige der menschlichen Geschichte. Und diese Geschichte ist diejenige der sich – im Spannungsfeld von natura naturata und natura naturans – selbst gestaltenden Menschheit. Der äußere Zirkel könnte demnach »Zirkel der Geschichte« heißen. Die moralischen Genies bewegen sich in einem eminenten Sinn an der Grenze zwischen Natur und Kultur/Geschichte, zwischen Unbewusstem und Bewusstem, zwischen Vor- bzw. Überindividuellem und Individualität. Ein Grenzgängertum solchen Ausmaßes ist den Nicht-Genies versagt: »Wenn [die Mystik spricht], so zeigt sich in der Tiefe der meisten Menschen etwas, das ihr unmerklich antwortet. Sie enthüllt uns – oder vielmehr: sie würde uns eine wundervolle Perspektive enthüllen, wenn wir es wollten. Aber wir wollen es nicht, und meistens können wir es gar nicht wollen: Die Anstrengung würde uns zerbrechen.« 296

Bei den Nicht-Genies tritt deshalb an die Stelle der »Tiefenlotung« in der reinen Dauer des Lebens das Ausloten des von einem Genie über295 Mais les grandes figures morales qui ont marqué dans l’histoire se donnent la main par-dessus les siècles, par-dessus nos cités humaines […]. – DS 1032 | 67 | 54 296 Mais quand [le mysticisme] parle, il y a, au fond de la plupart des hommes, quelque chose qui lui fait imperceptiblement écho. Il nous découvre, ou plutôt il nous découvrirait une perspective merveilleuse si nous le voulions : nous ne le voulons pas et, le plus souvent, nous ne pourrions pas le vouloir; l’effort nous briserait. – DS 1157 | 226 | 167

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nommenen schöpferischen Impulses. Dieses Übernehmen besteht, wie wir gesehen haben, nicht im oberflächlichen Nachsprechen von Formeln oder Nachahmen von Handlungsmustern. Es besteht in der Aneignung des schöpferischen Impulses (der Emotion) und dessen Anwendung auf die je-persönliche Situation. Es besteht in der Aneignung des Sinns, nicht dem Kopieren der Form. Auf diese – aber auch nur auf diese – Weise leistet die Übernahme die Verknüpfung des äußeren (überindividuellen) und des inneren (individuellen) Zirkels. Und erst wenn solche Verknüpfungen sich in großer Zahl vollziehen, werden aus den schöpferischen Impulsen jene überindividuellen historischen Einheiten, die wir als Massenbewegungen, Epochen oder Kulturen (etwa im Sinne Spenglers) bezeichnen. Der innere Zirkel schließlich ist derjenige, in dem der übernommene Impuls angeeignet – d. h. als eigener erkannt – und in verschiedenen Teilbereichen der je-individuellen Situation erprobt wird. Da dies nur sukzessive geschehen kann, ergibt sich daraus die Biographie des einzelnen Menschen – oder jedenfalls: des freien Menschen, von dem man sagen kann, er habe sich sein ganzes Leben lang nur um eine einzige Sache bemüht. Der innere, zwischen Tiefen-Impuls und an der Oberfläche erscheinenden Handlungen kreisende Zirkel könnte demnach »Zirkel der Biographie« heißen. Man könnte freilich den äußeren Zirkel auch als Zirkel der gemeinsamen menschlichen Welt, den inneren als Zirkel der persönlichen Interpretation bezeichnen. Das wäre mehr als nur ein Spiel mit Worten, denn Interpretation (im Sinne Ronchis) und Erschließung der gemeinsamen menschlichen Welt waren ja zwei der drei Hauptformen des Hermeneutischen, die wir bei Bergson angetroffen haben. 297 Indem wir die jetzt vorgeschlagenen Bezeichnungen verwenden, geben wir demnach zu verstehen, dass das, was wir hier in mehreren Anläufen erschlossen haben, ein Ganzes bildet. Die von 297 Man sieht leicht, dass und wie auch die Texthermeneutik in dieser Betrachtungsweise berücksichtigt werden kann: In Gestalt von Texten begegnen uns ja diejenigen Genies, die nicht unsere Zeitgenossen sind, sowie unsere Vorläufer in der Auslegung der schöpferischen Impulse. Den Kern der Texthermeneutik bildet demnach die Frage, wie wir mit Texten umzugehen haben, damit wir Zugang gewinnen zu den schöpferischen Impulsen, aus denen sie hervorgegangen sind. Eben dies lehren bereits die frühesten Zitate, die wir hier angeführt haben: Man soll, so Bergson, nicht dabei stehenbleiben, den Text als Produkt eines Aufschreibesystems oder Dokumentation einer Biographie zu betrachten, sondern von ihm »wichtige philosophische und moralische Lehren erwarten«. Vgl. Kap. 1, Anm. 13 und Anm. 14.

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Ronchi vorgeschlagene Interpretationsphilosophie wird durch die Hermeneutik der gemeinsamen menschlichen Welt nicht entwertet. Vielmehr beschreiben diese beiden Hauptformen des Hermeneutischen zwei Dimensionen eines komplexen Geschehens, das sich an der Grenze zwischen Natur und Kultur, Unbewusstem und Bewusstem, Vor- bzw. Überindividuellem und Individuellem abspielt, das in diesem komplexen Spannungsfeld an der Realisierung des »Projekts Mensch« arbeitet und das letztlich die Geschichte der Menschheit ist. 298

6.3.2 Erde und Himmel Wir haben in den Kapiteln 4 bis 6 Bergsons Denkweg anhand einer Lektüre von größeren und kleineren Texten in chronologischer Reihenfolge nachvollzogen, und wir haben dabei feststellen können, wie sich aus dem Immer-wieder-Zurückkommen auf die ursprüngliche intuition-distinction (die Unterscheidung von Raum und Dauer) etwas ergab, was man – in Anlehnung an den Titel eines Werkes von Jacques Derrida – als Bergsons Weg in die Hermeneutik bezeichnen kann. Wir haben diesen Durchgang abgeschlossen, indem wir uns im Abschnitt über die Moralphilosophie auf Les deux sources de la morale et de la religion, Bergsons letztes Hauptwerk, bezogen. Aber haben wir den Durchgang wirklich abgeschlossen? Man könnte die Frage aufwerfen, ob der Umstand, dass Bergson im Titel von Moral und Religion spricht und dass etwa die Hälfte des Textes der Religion gewidmet ist, in der von mir angebotenen Interpretation angemessen berücksichtigt wird. Spricht diese Interpretation nicht zu viel von der Natur und zu wenig von der Religion? Bleibt sie dadurch nicht im Grunde bei L’évolution créatrice stehen und übersieht das Neue in Les deux sources de la morale et de la religion? (1) Entfernt man den in dieser Fragestellung anklingenden Zweifel, formuliert man also die Frage neutraler, dann lautet sie: Welche Bedeutung hat eigentlich die Religion innerhalb des Ganzen von

298 Um eine derartige Verknüpfung durchführen zu können, müsste man natürlich die Einsamkeit des Interpreten zumindest ein Stück weit aufbrechen. Dass das keine große Mühe bereitet und im Einklang mit Bergsons Intentionen steht, zeigt das Beispiel des Tanzschülers, der ja den Walzer nicht im kulturellen Niemandsland einüben muss, sondern sich an vorbildhaften Tänzern orientieren kann.

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Bergsons Denken? Spielt sie eine Rolle, die nur sie spielen kann, so dass man, wenn man sie unbeachtet lässt, Bergsons Denken verfälscht? Oder ist sie nur eines von mehreren gleichartigen Phänomenen, so dass man unbedenklich auf die Auseinandersetzung mit der Religion verzichten und stattdessen irgendein anderes Element der Gruppe als Beispiel heranziehen kann? Beginnen wir mit der Aufzählung einiger Eckpunkte, die uns helfen sollen, die Bedeutung, die Bergson der Religion zumisst, aufzudecken: • Les deux sources de la morale et de la religion ist ein philosophisches, d. h. ein rational argumentierendes Buch. Es befasst sich auf weite Strecken mit Mythos (statische Religion) und Mystik (dynamische Religion) als den beiden Hauptformen des Religiösen. Aber es zielt darauf ab, sich vom Standpunkt der Philosophie aus die Religion verstehend anzueignen, nicht darauf, die Philosophie in Religion aufzulösen. • Durch Anwendung der Teilungsmethode gelangt Bergson zu zwei Formen der Religion. Insofern müssen statische und dynamische Religion als Korrelate betrachtet werden, von denen man nicht eines opfern kann, ohne auch das andere zu vernichten. Gleichwohl bewertet Bergson die beiden Formen des Religiösen vom Standpunkt des philosophischen Denkens aus verschieden. Im Hinblick auf die statische Religion ist er im Grunde einig mit Freud: Spricht Freud von einer »Illusion«, so Bergson von »Geschichten, ähnlich denen, womit man die Kinder einschläfert« 299. Im Gegensatz dazu bewertet er die Mystik als »ein mächtiges Hilfsmittel der philosophischen Forschung«. 300 Und so ist denn auch die Bedeutung des Ausdrucks »verstehende Aneignung« in beiden Fällen verschieden: Im Hinblick auf die statische Religion wird man Ricœurs These, Bergson nähere sich ihr – wie Marx, Nietzsche und Freud – mit einer »Hermeneutik des Verdachts«, zustimmen können. 301 Im Gegensatz dazu wird seine Auseinandersetzung mit der Mystik angetrieben vom Bemühen um ein Erfassen ihres Sinns.

299 La religion statique attache l’homme à la vie, et par conséquent l’individu à la société, en lui racontant des histoires comparables à celles dont on berce les enfants. – DS 1154 | 223 | 164 300 Vgl. Anm. 313. 301 Ricœur[1993] 49

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Die Religion ist dem rational denkenden Menschen fremd. Das betrifft die statische Religion, deren absurde Erzählungen und nicht selten unmoralische Riten »sehr demütigend für die menschliche Intelligenz« 302 und den durch sie sich definierenden homo sapiens sind. Es betrifft aber nicht minder die Mystik, denn es gibt Menschen, denen die Mystik »nichts, absolut nichts sagt«, die »unfähig sind, etwas davon zu empfinden oder sich darunter etwas vorzustellen« 303; und selbst die nicht gänzlich Verschlossenen empfinden, mit den Berichten der Mystiker konfrontiert, in sich nur ein schwaches und undeutliches Echo. Man sieht sofort, dass die drei Eckpunkte – jedenfalls in dieser Kombination – das Bemühen um eine Antwort auf die Frage nach der Bedeutung der Religion nicht begünstigen, sondern als schwierig, wenn nicht gar unmöglich erscheinen lassen: Die Unzugänglichkeit der mystischen Erfahrung für das rationale Denken konterkariert das Projekt einer Aneignung durch die Philosophie, und die These, dass zwar die Mythen, nicht aber die Berichte der Mystiker als Ammenmärchen zu bewerten seien, dürfte – gelinde gesagt – mit der einen oder anderen kritischen Nachfrage konfrontiert werden. Das nötigt uns, die Leitfrage neu zu formulieren. Gesetzt, es gelingt der Philosophie überhaupt, sich die Religion verstehend anzueignen: Was genau kann sie sich aneignen? In welcher Weise kann sie es sich aneignen? Als was muss sich die Religion – muss sich insbesondere die Mystik – zeigen, damit sie zu einem »Hilfsmittel der philosophischen Forschung« werden kann? (2) Zunächst einmal zeigt sich die Religion dem Philosophen als Text. Die statischen Religionen sind ihm – wenn wir einmal unterstellen, dass es sich um einen »Studierstubenphilosophen« 304 handelt – zugänglich über die von ihnen hervorgebrachten Mythen, daneben auch über die Beschreibungen moderner Forscher. Mystische Erfahrungen sind dokumentiert in von den Mystikern selbst verfassten Berichten. Die religiösen Texte sprechen eine ihnen eigentümliche Sprache. Demnach würde die Aufgabe des Philosophen darin bestehen, sich diese Sprachen – denn die Sprache des Mythos ist eine an•

Vgl. Kap. 2, Anm. 278. Au contraire le mysticisme ne dit rien, absolument rien, à celui qui n’en a pas éprouvé quelque chose. – DS 1177 | 251 | 185 – Certains, sans aucun doute, sont totalement fermés à l’expérience mystique, incapables d’en rien éprouver, d’en rien imaginer. – DS 1184 | 261 | 191 304 Vgl. Kap. 2, Anm. 194. 302 303

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dere als die der Mystik – anzueignen und sie, soweit das möglich ist, in seine eigene zu übersetzen. Eine derartige Anstrengung ist in Les deux sources de la morale et de la religion auch wirklich zu beobachten. Sie bereitet Bergson vergleichsweise geringe Mühe, weil er sich, wie ich an früherer Stelle bereits erläutert habe, ohnehin einer »gemischten Rede« bedient: Sein Diskurs über die geschlossene Gesellschaft verbindet eine biologische und eine soziologische Beschreibungssprache. Geht man von der Beschreibung der geschlossenen Gesellschaft und ihrer Moral zur Beschreibung der statischen Religion über, so wird aus dieser »zweidimensionalen« sogar eine »dreidimensionale« Rede. Sie umfasst neben der biologischen und der soziologischen noch eine ästhetische Beschreibungssprache, insofern die fonction fabulatrice ein Bilder schaffendes Vermögen der menschlichen Psyche ist, das zunächst als Quelle des für die statische Religion charakteristischen Mythos, später dann auch der nicht mehr religiösen Kunst fungiert. Eine entsprechende Dreidimensionalität der Rede präsentiert uns Bergson aber auch im Hinblick auf die dynamische Religion, präziser: im Hinblick auf die Mystik. Sie kann beschrieben werden in einer psychologischen Sprache, insofern Bergson – ähnlich wie C. G. Jung – die Anstrengung des Mystikers als Erkundung eines überindividuellen Unbewussten versteht. Sie kann in einer religiösen – präziser: einer theologischen – Sprache beschrieben werden, weil die Mystik, die über keine eigene Sprache verfügt, sich der Sprache der Theologie bedient, um ihre Erfahrungen zu kommunizieren. Und sie kann schließlich in der Sprache der Lebensphilosophie beschrieben werden, wenn man das, was die Mystik »Gott« nennt, als den Ursprung des Lebens begreift. »Da sie mit der Liebe Gottes zu seinem Werk zusammenfällt, der Liebe, die alles gemacht hat, würde [die mystische Liebe zur Menschheit] dem, der sie zu befragen wüsste, das Geheimnis der Schöpfung preisgeben. […] Sie würde mit Gottes Hilfe die Erschaffung der menschlichen Art vollenden und aus der Menschheit das machen, was sie sofort gewesen wäre, hätte sie sich ohne die Hilfe des Menschen selbst endgültig konstituieren können. Oder, um Worte zu gebrauchen, die […] in anderer Sprache dasselbe sagen: Ihre Richtung ist genau die des Lebensschwunges; sie ist dieser Schwung selbst, dieser in seiner Ganzheit bevorzugten Menschen übermittelte, die ihn nun ihrerseits auf die gesamte Menschheit übertragen möchten […].« 305 305 Coïncidant avec l’amour de Dieu pour son œuvre, amour qui a tout fait, [l’amour mystique de l’humanité] livrerait à qui saurait l’interroger le secret de la création.

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Die Mischung der Beschreibungssprachen ist deutlich zu erkennen: Man kann in der Sprache der Religion von Gott, seiner Schöpfung, seiner Liebe zur Menschheit, der Liebe des Menschen zu ihm sowie (daraus entspringend) zu den anderen Menschen sprechen; man kann aber auch in der Sprache der Lebensphilosophie vom élan vital oder der natura naturans, von der Partizipation an der schöpferischen Lebenskraft und vom »Projekt Mensch« sprechen – es bedeutet »in anderer Sprache dasselbe«. Wir werden hier also zurückverwiesen auf die in Kapitel 1 erörterte These, dass materialiter verschiedene Sätze einer Sprache äquivalent sein können, wenn sie den gleichen Sinn ausdrücken, sowie auf das in Kapitel 5 diskutierte Phänomen der Übersetzbarkeit von einer Sprache in eine andere. Wir werden aber auch konfrontiert mit einer sprachlichen »Mehrdimensionalität«, die eigentlich gar keine Mehrdimensionalität ist, sondern lediglich die Möglichkeit einer Auswahl zwischen gleich mächtigen und daher gleichwertigen Alternativen. Die verschiedenen Beschreibungssprachen ergänzen einander nicht, sondern ersetzen sich nur gegenseitig. Wäre das schon die ganze Wahrheit, so müsste die Antwort auf unsere Ausgangsfrage lauten: Das Projekt einer philosophischen Aneignung der Religion ist von äußerst geringer Relevanz. Der Interpret muss deshalb nicht befürchten, Bergsons Denken zu verfälschen, wenn er es beiseitelässt. Einerseits nämlich müsste sich der Philosoph fragen, ob es nicht an der Zeit wäre, einmal im Durcheinander der Beschreibungssprachen gründlich aufzuräumen. Wenn es ohnehin gleichgültig ist, welcher Sprache man sich bedient, ist dann nicht eine Sprache ausreichend, und sind dann nicht alle anderen überflüssig? Und wenn der Philosoph bereits über eine eigene, seiner Zielsetzung und seiner Vorgehensweise angepasste Sprache verfügt, kann er dann nicht problemlos auf die religiöse Sprache verzichten? Andererseits würde der Religiöse zu Protokoll geben, dass das beschreibende, prüfende und lehrende Sprechen nicht den Kern der Religion bildet. Diesen Kern bildet eine nicht-sprachliche Erfahrung: ein Bild beim Mythos, eine – nach Bergsons Interpretation – von aller Bildhaftigkeit […] Il voudrait, avec l’aide de Dieu, parachever la création de l’espèce humaine et faire de l’humanité ce qu’elle eût été tout de suite si elle avait pu se constituer définitivement sans l’aide de l’homme lui-même. Ou, pour employer des mots qui disent […] la même chose dans une autre langue: sa direction est celle même de l’élan de vie ; il est cet élan même, communiqué intégralement à des hommes privilégiés qui voudraient l’imprimer alors à l’humanité entière […]. – DS 1174 | 248 f. | 182 – Hervorhebung von mir [C. K.].

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freie Intuition beim Mystiker. Zur Sprache greift die Religion, wenn es sich nicht vermeiden lässt; aber die Frage, ob sie nicht letztlich auf die religiöse Sprache verzichten kann, ist auch ihr nicht fremd. Daraus folgt: Es ist wirklich gleichgültig, welcher Beschreibungssprache sich der Philosoph bedient. Aber das ist deshalb so, weil die religiöse Sprache eben Sprache und als solche mit der philosophischen Sprache eng verwandt ist. Nun gehört das Sprechen zum Wesenskern der Philosophie, nicht aber zum Wesenskern der Religion. Die Übersetzbarkeit der Sprachen zeigt also zwar an, dass es einen Ort gibt, an dem man sich begegnen kann. Die Gleichgültigkeit der Beschreibungssprache allerdings macht deutlich, dass der Philosoph, wenn er sich die Sprache der Religion – und nur ihre Sprache – angeeignet hat, immer noch weit von ihrem Wesenskern entfernt ist. (3) Man müsste also näher an die Grunderfahrung der Mystik herankommen; aber diese Grunderfahrung (als solche) ist dem Philosophen (als solchem) nicht zugänglich. Angesichts dieses Dilemmas führt Bergson einen bemerkenswerten Schachzug aus: Er versetzt sich auf den Standpunkt des Historikers. Schon der junge, als Gymnasiallehrer tätige Henri Bergson hatte sich in den von ihm abgehaltenen Kursen mit der historischen Methode befasst und die Prüfung des Quellenmaterials auf seine Zuverlässigkeit hin als deren wesentliches Merkmal – näherhin als das Analogon zum Experiment in den Naturwissenschaften – dargestellt. 306 Der ältere Bergson steht in dem Maß, in dem die nicht unmittelbar nachvollziehbaren Erfahrungen besonders begabter Menschen (Genies) in seinem Denken Bedeutung gewinnen, vor der Frage, wie die Zuverlässigkeit ihrer Schilderungen plausibel gemacht werden kann. Diese zunächst sehr verschieden erscheinenden Problemkreise überlagern sich im Laufe der Zeit immer mehr aufgrund einer Analogie, die ich für leicht nachvollziehbar halte: Wenn ein Text mich in irgendein vergangenes Jahrhundert führt, zu dem ich keinen direkten Zugang habe, und wenn ein anderer Text mich in einen Bereich der Erfahrung führt, zu dem ich keinen direkten Zugang habe – stehe ich nicht in beiden Fällen vor dem gleichen Problem? 307

LCl-1 115 ff. Die Überlagerung beider Fragen erreicht am Ende von Les deux sources de la morale et de la religion ihren Höhepunkt: »Man müsste, wenn man zum Beispiel die Realität der ›telepathischen Manifestationen‹ bezweifelt, nachdem Tausende von übereinstimmenden Aussagen darüber gesammelt worden sind, das Zeugnis von 306 307

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Bergson empfiehlt also eine Vorprüfung: Wir wissen noch nicht, ob es möglich ist, der mystischen Grunderfahrung näherzukommen. Aber ist zu erwarten, dass die Anstrengung der Suche sich lohnt? Sind die mystischen Autoren vertrauenswürdig? Dürfen wir zumindest unterstellen, dass sie das, was sie schildern, wirklich erfahren haben? Dürfen wir annehmen, dass es jenen für uns unzugänglichen Bereich der Erfahrung wirklich gibt? Offenkundig hängen diese Vorfragen mit dem Zweifel zusammen, der in Bezug auf den zweiten Eckpunkt möglich ist: Lässt sich die Position, dass die Mythen reine Phantasie sind, die mystischen Berichte aber nicht, plausibel vertreten? Bergson verweist zunächst auf einige Gesichtspunkte, die in der Tat der allgemeinen historischen Methode entstammen (etwa die inhaltliche Übereinstimmung der zahlreichen Berichte von Mystikern), um dann als in diesem speziellen Fall wichtigstes Kriterium für die Glaubwürdigkeit der Mystiker ihren Drang zu gestaltendem und umgestaltendem Handeln anzuführen: Wenn der Kontakt mit der überindividuellen (göttlichen) Schöpferkraft, von dem sie sprechen, eine echte Erfahrung ist, dann muss er sich in einer nahezu unerschöpflichen Energie des Handelns zeigen; und es ist eben dies, was wir beobachten. Ausgestattet mit der Erfahrung der schöpferischen Dynamik, kehren die Mystiker zurück in die statische Wirklichkeit der geschlossenen Gesellschaften und schaffen neue Formen des Lebens und Zusammenlebens. Hier entspringt Bergsons Lehre von der Vermittlerrolle der moralischen Genies: Jene Erfahrung und diese Tätigkeit sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Fast nebenbei ergibt sich dann aber aus dieser Anwendung der historischen Methode ein veränderter Begriff der Mystik. Bergson bestreitet nicht, dass es so etwas wie eine »Gottesschau« gibt. Aber er bestreitet, dass die mystische Anstrengung mit dem Erreichen einer solchen »Schau« vollendet, das mystische Projekt beendet ist. Stärker noch als für den Philosophen gilt für den Mystiker, dass sein Grunderlebnis »weniger eine Schau als ein Kontakt« ist und dass »aus diesem Kontakt ein Antrieb, aus diesem Antrieb eine Bewegung« entspringen muss. 308 Das Grunderlebnis des Mystikers ist – so berichtet er – ein Kontakt mit der Liebe Gottes. Wenn aber diese Liebe sich als Menschen ganz allgemein als nicht-existent in den Augen der Wissenschaft bezeichnen. Aber was wird dann aus der Geschichte werden?« – DS 1244 | 337 | 246 308 Vgl. Kap. 1, Anm. 49.

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Schöpfung äußert, dann muss der Kontakt dazu führen, dass der Funke der schöpferischen Liebe auf den Mystiker überspringt und dass dieser in sich einen unwiderstehlichen Antrieb zum Mit- und Weiterschaffen, kurz: zu schöpferischem Handeln in der Welt verspürt. Bergson kritisiert deshalb Plotins Satz, die Handlung sei eine Abschwächung der Schau, und bewertet auch die indische Mystik als unvollkommen. »Die vollkommene Mystik ist Handeln«. Erst die christliche Mystik ist in diesem Sinne vollständig: »Die vollständige Mystik ist in der Tat die Mystik der großen christlichen Mystiker. […] aus ihrer vermehrten Vitalität hat sich eine Energie, eine Kühnheit, eine Macht ganz außergewöhnlichen Planens und Verwirklichens entbunden. Man bedenke, was Persönlichkeiten wie Paulus, die heilige Therese, die heilige Katharina von Siena, der heilige Franziskus, Jeanne d’Arc und viele andere im Bereich der Tat vollbracht haben.« 309

Die Mystik zeigt sich hier also als umgestaltende Tätigkeit. Sie ist damit befasst, die geschlossenen Zirkel gewohnheitsmäßigen Denkens und Handelns sowie die von geschlossenen Gesellschaften um sich herum errichteten begrenzenden Mauern aufzubrechen und neuartige, offene Formen des Zusammenlebens vorzuschlagen. Das ist mehr als nur eine neue Sprache, und es ist gewiss etwas, was dem Philosophen verständlich ist. Aber geben wir uns nicht zu früh zufrieden, wiederholen wir vielmehr die Frage: Hat der Philosoph damit den Wesenskern der Mystik, hat er, mit anderen Worten, das erfasst, was die Anstrengung einer philosophischen Auseinandersetzung mit der Mystik rechtfertigt? Könnte er all das, was hier angeführt wurde, nicht auch selbst und ohne die Hilfe des Mystikers leisten? (3) Wie die Anstrengung des Mystikers nicht mit der »Gottesschau« vollendet ist, so auch die Arbeit des Historikers nicht mit der Quellenkritik: Man erwartet, dass er eine auf den Quellen basierende Geschichte erzählt. Und genau das tut Bergson. Den ersten Teil des der Mystik gewidmeten dritten Kapitels von Les deux sources de la morale et de la religion bildet eine Geschichte der Mystik. Oder jedenfalls: Das ist der erste Eindruck. Bald nämlich stellt sich heraus, dass eine derartige Bezeichnung den Sachverhalt nicht wirklich trifft, 309 Le mysticisme complet est en effet celui des grands mystiques chrétiens. […] de leur vitalité accrue s’est dégagée une énergie, une audace, une puissance de conception et de réalisation extraordinaires. Qu’on pense à ce qu’accomplirent, dans le domaine de l’action, un saint Paul, une sainte Thérèse, une sainte Catherine de Sienne, un saint François, une Jeanne d’Arc, et tant d’autres. – DS 1168 | 240 f. | 177

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und man sieht sich zu einer ersten Präzisierung genötigt: Was wir vorfinden, ist näherhin eine Geschichte der Entstehung der Mystik von den »Skizzen der [damals] zukünftigen Mystik« 310 im antiken Griechenland, Indien und Israel bis zur Herausbildung der »vollkommenen«, d. h. der christlichen Mystik. Diese betrachtet Bergson als mit dem »Christus der Evangelien« vollständig gegeben, so dass er darauf verzichtet, auch noch die 2000-jährige Geschichte der christlichen Mystik zu referieren. Auffällig bleibt allerdings die Tatsache, dass Bergson die Mystik nicht als ein isoliertes Phänomen betrachtet, sondern sie teils in Bezug zur Religion, teils in Bezug zur Rationalität setzt. Diese Beobachtung wird in Kürze noch eine weitere Präzisierung erforderlich machen. Das Wort »Religion« bezeichnet spätestens in dem Moment, in dem Bergson bei der christlichen Mystik angekommen ist, etwas Verfestigtes, in Dogmen und Riten Erstarrtes. Die Mystik gehört dann eigentlich nicht mehr dazu, wohl aber »das Christentum, insofern es Dogma ist« 311. Die Mystik wird so geradezu zum dynamischen Gegenpol des statischen Christentums. 312 Es geht demnach in Les deux sources de la morale et de la religion nicht darum, den traditionellen Religionen das Christentum als eine vollkommenere Religion entgegenzusetzen; es geht überhaupt nicht um den Sinn bestehender Religionen; es geht vielmehr darum, einen Zugang zu gewinnen zur Mystik als derjenigen schöpferischen Dynamik, aus der – nebst Anderem – die Religionen hervorgegangen sind. Diese – und nur diese – ist es, für die sich der Philosoph interessiert: »Im ersten Fall« – wenn nämlich die Religion das Primäre wäre, die Mystik dagegen nur eine sekundäre hermeneutische, auf die Klärung, Intensivierung und Verlebendigung des Sinnes dieser Religion gerichtete Anstrengung – »würde sie notwendigerweise außerhalb der Philosophie bleiben, denn diese lässt die zu einem bestimmten Zeitpunkt erfolgte Offenbarung beiseite, ebenso wie die Institutionen, von denen diese Offenbarung überliefert wird, und den Glauben, der sie akzeptiert hat: sie muss sich an die Erfahrung und an das logische Folgern halten. Im zweiten Falle aber« – wenn nämlich die Mystik als schöpferische Dynamik das Primäre ist, das sich erst sekundär in religiösen Formeln und Institutionen verfestigt – les esquisses du mysticisme futur – DS 1159 | 229 | 169 Admettons pourtant que l’action directe du christianisme, en tant que dogme, ait été à peu près nulle dans l’Inde. – DS 1167 | 239 | 176 312 Vgl. Anm. 245. 310 311

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»würde es genügen, die Mystik in reinem Zustande zu nehmen, losgelöst von den Visionen, den Allegorien, den theologischen Formeln, in denen sie sich ausdrückt, und wir erhielten ein mächtiges Hilfsmittel der philosophischen Forschung.« 313

Das Wort »Rationalität«, das ich oben benutzt habe, ist zumindest teilweise ein Verlegenheitsausdruck. Bergson verwendet für das – nach der Religion – zweite Andere der Mystik, verschiedene Worte, die – vom theoretischen Diskurs bis zur praktischen Anwendung wissenschaftlicher Ergebnisse durch die moderne Technik – unterschiedliche Aspekte des auf die Intelligenz sich stützenden Weltverhältnisses benennen. Gleichwohl steht – zumindest im dritten Kapitel – der philosophische Diskurs im Zentrum der Betrachtung, geht es Bergson doch um die Klärung des Verhältnisses von Philosophie und Mystik. Dieser Fokus prägt die Entwicklungsgeschichte der Mystik von der ersten Seite an, denn Bergson beginnt nicht – wie es der chronologisch verfahrende Historiker tun würde – in Indien oder Israel, sondern in Griechenland, näherhin mit der Philosophie Platons, die Mythos, Mystik und Logos verbindet. Die historische Fragwürdigkeit dieses Ausgangspunktes erweist sich nun aber für den Interpreten als großer Vorteil, zeigt sie doch deutlich das Interesse, von dem Bergson geleitet wird: Der gewählte Ausgangspunkt erlaubt es ihm, von Anfang an die Frage nach dem Verhältnis von Mystik und Dialektik, d. h. von Mystik und rationalem Diskurs zu stellen und zur Leitfrage der gesamten historischen Darstellung zu erheben. Beim Blick auf die griechische Philosophie von Platon bis Plotin zeigt sich, dass schon »zu Beginn dieser großen Bewegung ein Antrieb oder Anstoß erfolgt ist, der nicht philosophischer Art war« 314, zeigt sich, dass die Mystik von Anfang an in der Philosophie steckt. Aber wie steckt die Mystik in der Philosophie? Naheliegend scheint der Gedanke, dass sie (in Gestalt des Orphismus) in die ratio313 Dans le premier cas, il resterait nécessairement à l’écart de la philosophie, car celle-ci laisse de côté la révélation qui a une date, les institutions qui l’ont transmise, la foi qui l’accepte – elle doit s’en tenir à l’expérience et au raisonnement. Mais, dans le second, il suffirait de prendre le mysticisme à l’état pur, dégagé des visions, des allégories, des formules théologiques par lesquelles il s’exprime, pour en faire un auxiliaire puissant de la recherche philosophique. – DS 1188 | 265 f. | 194 f. – Es überrascht nicht, dass dieser Standpunkt Kritik hervorgerufen hat. Vgl. dazu DS – | 476 f., Anm. 143 | – 314 […] qu’à l’origine de ce grand mouvement il y eut une impulsion ou une secousse qui ne fut pas d’ordre philosophique. – DS 1161 | 231 | 170

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nal argumentierende Philosophie eingedrungen ist, dass sie also wie ein Fremdkörper in ihr steckt und sie, streng genommen, verunreinigt hat. Daraus würde folgen, dass die Philosophie, wenn sie wieder zu sich selbst finden will, sich durch systematisches Ausstoßen aller mystischen Elemente reinigen muss – was genau das Gegenteil des Projektes einer philosophischen Aneignung der Mystik wäre und Bergson veranlassen müsste, dieses Projekt unverzüglich abzubrechen. Bergson schlägt aber eine andere Interpretation des Sachverhaltes vor: »Man kann vermuten, die Entwicklung des griechischen Denkens sei allein das Werk der Vernunft gewesen, und neben ihm, unabhängig von ihm, sei von Zeit zu Zeit in einigen entsprechend veranlagten Seelen ein Streben aufgetreten, jenseits der Intelligenz eine Vision, einen Kontakt, die Enthüllung einer transzendenten Realität zu suchen. Dieses Streben hätte freilich sein Ziel niemals erreicht; aber jedes Mal hätte es, im Augenblick seines Versiegens, den Rest seiner Kraft lieber der Dialektik anvertraut, als vollkommen zu verschwinden; und so konnte, mit der gleichen Kraftanstrengung, ein neuer Versuch eine größere Strecke durchlaufen, bevor er zum Stillstand kam, da er die Intelligenz in einem fortgeschritteneren Punkte einer philosophischen Entwicklung erreichte, die in der Zwischenzeit mehr Elastizität erworben hatte und mehr an mystischem Gehalt mitbrachte.« 315

Die Philosophie als Unterschlupf für den Winterschlaf, als Absteige für eine auf der Durchreise befindliche Mystik? Das klingt befremdlich, und als Philosoph ist man fast geneigt, diesen Text unwillig zur Seite zu legen. Beachten wir aber zunächst, dass hier kein religiöser Fanatiker spricht, der es darauf abgesehen hätte, das rationale Denken herabzusetzen. Hier spricht der Philosoph Henri Bergson, der als Philosoph die Beziehung zwischen Philosophie und Mystik aufklären möchte. Beachten wir sodann – von unserer Empörung zum Text zurückkehrend –, dass Bergsons Unterscheidung zwischen einem ersten, die 315 On peut supposer que le développement de la pensée grecque fut l’œuvre de la seule raison, et qu’à côté de lui, indépendamment de lui, se produisit de loin en loin chez quelques âmes prédisposées un effort pour aller chercher, par delà l’intelligence, une vision, un contact, la révélation d’une réalité transcendante. Cet effort n’aurait jamais atteint le bu ; mais chaque fois, au moment de s’épuiser, il aurait confié à la dialectique ce qui restait de lui-même plutôt que de disparaître tout entier; et ainsi, avec la même dépense de force, une nouvelle tentative pouvait ne s’arrêter que plus loin, l’intelligence se trouvant rejointe en un point plus avancé d’un développement philosophique qui avait, dans l’intervalle, acquis plus d’élasticité et comportait plus de mysticité. – DS 1161 f. | 232 f. | 171

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Mystik als Fremdkörper verstehenden Interpretationsansatz und einem zweiten, davon verschiedenen, jeglichen Sinn verliert, ja in sich zusammenfällt, wenn man die Mystik auch im zweiten Fall als Fremdkörper auffasst. Eine alternative Interpretation lässt sich aus der zweiten Hypothese nur dann entwickeln, wenn man unterstellt, dass die Philosophie zwar rationaler Diskurs, die Mystik aber gleichwohl nicht etwas Fremdes, sondern etwas zu diesem Diskurs Gehörendes ist. Das gelingt, wenn man die zuvor zitierte These, dass »zu Beginn dieser großen [d. h. der philosophischen] Bewegung ein Antrieb oder Anstoß erfolgt ist, der nicht philosophischer [d. h. nicht rational-diskursiver] Art war«, berücksichtigt. Dann nämlich ergibt sich: Die Mystik steckt in der Philosophie, insofern sie den nicht-rationalen Anstoß und Antrieb für deren rationalen Diskurs bildet. Das wird klarer, wenn wir noch einmal auf das Wort »Rationalität« zurückkommen. Ich hatte darauf hingewiesen, dass ich versuche, mit diesem Begriff die Vielzahl der von Bergson verwendeten Worte zusammenzufassen, die ihrerseits auf unterschiedliche Aspekte des intelligenzgesteuerten Weltverhältnisses verweisen. Letztlich lassen sich hier aber – wie könnte es bei Bergson anders sein? – zwei Grundtypen herausarbeiten. Auf der einen Seite steht das Denken und Handeln des homo faber, der, wie Bergson sich ausdrückt, »die Menschheit als eine Tierart« mit ausschließlich materiellen Bedürfnissen betrachtet und dessen »Aufmerksamkeit auf die Erde fixiert« ist. Auf der anderen Seite steht das Denken und Handeln eines Menschen, der homo sapiens zwar noch nicht ist, es aber werden will, der »seine Aufmerksamkeit dem Himmel zuwendet« und auf die »Erschaffung einer göttlichen Menschheit« hofft. 316 Noch einmal: Der Mensch ist noch nicht homo sapiens, aber dass er es überhaupt werden will, eben das ist der Mystik zu verdanken. Die Mystik hat das Denken der Intelligenz aus ihrer Eindimensionalität herausgerissen, ihm eine zweite Dimension eröffnet und damit einen zweiten, eben den philosophischen Diskurs begründet. Damit haben wir eine überzeugende Antwort auf die Frage nach der Bedeutung der Mystik für die Philosophie vor uns. Diese Antwort 316 Le grand obstacle qu’ils [les mystiques] rencontreront est celui qui a empêché la création d’une humanité divine. L’homme doit gagner son pain à la sueur de son fron : en d’autres termes, l’humanité est une espèce animale, soumise comme telle à la loi qui régit le monde animal et qui condamne le vivant à se repaître du vivant. […] Comment, dans ces conditions, l’humanité tournerait-elle vers le ciel une attention essentiellement fixée sur la terre ? – DS 1175 | 249 | 183

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macht verständlich, warum die Philosophie sich mit der Mystik befassen muss, warum die Mystik nicht ein beliebiges Thema ist, auf dessen Untersuchung die Philosophie auch verzichten kann: Die Mystik steckt in der Philosophie wie die »poetische Konzeption des Universums« im Gedicht des Lukrez. 317 Sie spukt in der Geschichte der Philosophie herum wie das »vermittelnde Bild« im Geist des einzelnen Philosophierenden 318 oder der vom Vorbild ausgehende Appell in der Seele des moralisch Strebenden. Sie beunruhigt die Philosophie als das – mit Ernst Bloch gesprochen – »Unabgegoltene«, nicht Eingelöste, noch Ausstehende. Der Philosoph muss sich mit diesem mystischen Impuls befassen, weil er, wenn er es nicht tut, weder sich selbst versteht noch das Projekt, an dem er mitarbeitet. Zugleich macht Bergsons Antwort verständlich, warum die Philosophie sich mit der Mystik befassen kann, obwohl doch die mystische Intuition als solche dem Philosophen unzugänglich ist und bleibt: Der Philosoph empfindet Sympathie mit dem Mystiker, er erkennt sich in ihm wieder aufgrund der Analogie zwischen dem philosophischen und dem mystischen Projekt. Es muss nicht verzweifelt nach einem äußerlichen Zugang, einer Grundlage für das »Fremdverstehen« gesucht werden, weil der mystische Impuls dem Philosophen nicht fremd ist. Bergson verwendet, um die Bedeutung der Mystik für die Philosophie zu charakterisieren, das Wort auxiliaire. 319 Das wird im Deutschen – lexikalisch völlig korrekt – als »Hilfsmittel« widergegeben und auch von französischen Interpreten implizit so verstanden. Aber wie passt die Auffassung der Mystik als eines Hilfsmittels zusammen mit der soeben entwickelten These, die Mystik sei geradezu Ursprung und Energiezentrum der Philosophie? Es scheint, als hätten Ashley Audra und Cloudesley Brereton, die 1935 eine englische, von Bergson noch selbst durchgesehene Übersetzung seines Buches über Moral und Religion vorlegten, Anlass zu ähnlichen Zweifeln gesehen, denn sie wählten für das Wort auxiliaire die recht ungewöhnliche Übersetzung helpmeet. 320 Das ist ein selten gebrauchtes, etwas veraltetes und wohl nur eifrigen Bibellesern wirklich vertrautes Wort. Es erscheint in der englischen Bibelübersetzung da, wo Gott – weil es nun einmal nicht gut ist, dass der Mensch allein sei – be317 318 319 320

Vgl. Kap. 1, Anm. 39 und Anm. 40. Vgl. Kap. 1, Anm. 74. Vgl. Anm. 313. Vgl. Anm. 110, S. 215.

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schließt, dem Mann eine »Gehilfin« zu schaffen. Ich meine, dass man diesen Hinweis ernst nehmen, vielleicht sogar noch einen Schritt weitergehen sollte: Die Mystik ist die Gefährtin, vielleicht sogar die mächtige und unentbehrliche Partnerin der Philosophie. Der philosophische Diskurs kann ohne sie zwar Diskurs, aber nicht philosophisch sein. 321 Noch einen Schritt weiter aber darf man – und das ist für das Verständnis von Bergsons Zielsetzung wichtig – nicht gehen. Wenn der mystische Impuls den Ursprung des philosophischen Diskurses bildet, könnte man ja meinen, die Mystik müsse gar zur Herrin der Philosophie gemacht werden. Um diesen Trugschluss zu vermeiden, gilt es, noch einen dritten Punkt zu beachten: In dem Moment, in dem in Griechenland die »große Bewegung« der Philosophie durch eine Begegnung von rationalem Diskurs und mystischem Streben entstand, war die Mystik selbst noch nicht vollendet. Zu jenem Zeitpunkt gab es nichts als »Skizzen der zukünftigen Mystik« und immer neue Anläufe zu immer konkreterer Ausgestaltung. Den Anläufen freilich stand jeweils nur ein sehr begrenztes Ausmaß von schöpferischer Energie zur Verfügung. Dass, wenn der schöpferische Impuls erschlafft, das Erreichte sich verfestigt und einen statischen Gegenpol des Dynamischen bildet, ist ein uns gut vertrauter Gedanke Bergsons. Merkwürdig ist allerdings, dass hier der mystischen Dynamik nicht ein Anderes gegenübersteht, sondern mit Religion und Philosophie zwei Gegenpole aufgebaut werden. Nun wissen wir, dass Bergson die Religion als in Dogmen und Riten erstarrte Mystik auffasst, die notwendig ist, weil die Masse der Nicht-Genies den glühend-heißen mystischen Impuls nur in erkaltetem Zustand zu ertragen vermag. Mithin wäre, wenn jener Vorgang, in dem die ersterbende mystische Anstrengung mit letzter Kraft das Erreichte »der Dialektik anvertraut«, ebenfalls als Verfestigung interpretiert werden müsste, die Philosophie überflüssig. Nur: So verhält es sich nicht. Die Philosophie ist – um noch einmal ein biblisches Gleichnis 322 zu zitieren – kein »schlechter und fauler Diener«, der das ihm anvertraute »Geld« nur so verwahrt, dass der nächste Mystiker es unvermindert wieder an 321 Es versteht sich von selbst, dass ich das Problem des Sinnes und der Bedeutung von auxiliaire hier unterhalb des eigentlich erforderlichen Komplexitätsniveaus behandele. Für eine ausführlichere Diskussion vgl. Waterlot[2008]. Das liegt allerdings auch daran, dass ich einen anderen Schwerpunkt setze, indem ich vorschlage, bei dem Wort auxiliaire weniger an eine »Methode« als an einen »Impuls« zu denken. 322 Matthäus 25,14–30 bzw. Lukas 19,12–27

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sich nehmen kann; sie ist vielmehr ein »tüchtiger und treuer Diener«, der mit dem empfangenen Geld »wirtschaftet«. Konkret heißt das, dass die Philosophie die von der Mystik empfangenen Impulse nicht nur abheftet, sondern weiterdenkt. Gewiss, die Philosophie muss sich zunächst einmal das, was sie da erhalten hat, aneignen, indem sie »sich an die mystische Erfahrung hält« und »den Hinweisen der Mystiker folgt«. 323 Sodann aber wird sie versuchen, die mystische Intuition »in verstandesmäßigen Ausdrücken wiederzugeben«, ja »die Idee, die die Mystik ihr suggeriert, zu Ende zu führen«. 324 Darin zeigt sich die hermeneutische Aktivität der Philosophie: Indem sie nach dem Sinn des mystischen Impulses fragt, versteht sie zunächst sich selbst, sodann die Mystik besser. Dies Verständnis kann sich dann aber auch die nächste Welle der Mystik zunutze machen, die bei der Philosophie vorspricht, um das deponierte Kapital abzuholen, und zusätzlich zu diesem noch die erwirtschafteten Zinsen ausgehändigt bekommt. Aufgrund der philosophischen Bemühung versteht sich die neue Welle der Mystik von Anfang an besser als sich die vorhergehende je verstanden hat. Nicht nur spielt also die Mystik eine unverzichtbare Rolle bei der Konstitution des philosophischen Diskurses. Der philosophische Diskurs seinerseits ist unentbehrlich für eine Mystik, die erst noch zu sich selbst finden muss. Mystik und Philosophie, Philosophie und Mystik sind in der Tat Partner. Präzisieren wir deshalb ein zweites Mal: Bergson erzählt im dritten Kapitel von Les deux sources de la morale et de la religion die Geschichte einer Entwicklung. Wir sahen in ihr bisher nur die Entwicklungsgeschichte der Mystik. Aber die Mystik kann sich nicht entwickeln ohne die Philosophie, und die Philosophie konnte nicht entstehen ohne die Mystik. Wir haben es folglich mit einer Koevolution von Mystik und Philosophie zu tun. Vergessen wir aber auch die Religion nicht. Das Erkalten des mystischen Impulses ist die notwendige Voraussetzung für dessen Ausbreitung über den kleinen Kreis der mystischen Genies und der Philosophen hinaus. Die Geschichte, die Bergson in Wahrheit erzählt, ist also eine 323 Telle sera bien la conclusion du philosophe qui s’attache à l’expérience mystique. – […] nous n’aurions qu’à suivre l’indication du mystique. – DS 1192,1193 | 270,273 | 198,200 324 En tout cas le philosophe devra penser à elle quand il pressera de plus en plus l’intuition mystique pour l’exprimer en termes d’intelligence. – […] rien n’empêche le philosophe de pousser jusqu’au bout l’idée, que le mysticisme lui suggère […]. – DS 1190,1192 | 268,271 | 197,199

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Dreiecksgeschichte: die Geschichte der gemeinsamen Entwicklung – oder besser: des Sich-gegenseitig-zu-weiterer-Entwicklung-Antreibens – von Philosophie, Mystik und Religion. (4) Nun ja, könnte man sagen, das ist plausibel für eine Philosophie und eine Mystik, die noch auf der Suche nach sich selbst sind. Wenn aber einmal der philosophische Diskurs als solcher konstituiert ist und die Mystik ihre vollkommene Ausprägung erreicht hat, sollten sie dann nicht beide auf eigenen Füßen stehen und ihrer eigenen Wege gehen können? Bergson stellt diese Frage ebenfalls, zum Beispiel in der folgenden Form: Gewiss, die christliche Mystik zeichnet sich dadurch aus, dass sie – die Geschlossenheit auch der größten Gesellschaften überwindend – die Liebe zur ganzen Menschheit fordert. Aber hat nicht die Philosophie – und zwar schon in der Antike – das gleiche Ideal entworfen? Diese Frage ist ihm wichtig, wie man daran sehen kann, dass er sie schon im ersten und dann noch einmal im dritten Kapitel zur Sprache bringt: »Jedoch hat es vor dem Christentum schon den Stoizismus gegeben; Philosophen haben verkündet, alle Menschen seien Brüder und der Weise sei ein Bürger der Welt. Aber diese Formeln bezogen sich auf ein gedachtes, und vermutlich als unerfüllbar gedachtes Ideal. Wir sehen nicht, dass irgendeiner der großen Stoiker – eingeschlossen jenen, der Kaiser war – es für möglich gehalten hätte, die Schranken zwischen dem freien Mann und dem Sklaven, zwischen dem römischen Bürger und dem Barbaren niederzureißen.« 325 »Durch Gott hindurch, in Gott, liebt [der Mystiker] die ganze Menschheit mit einer göttlichen Liebe. Das ist nicht die Brüderlichkeit, die die Philosophen im Namen der Vernunft empfohlen haben, indem sie davon ausgingen, dass alle Menschen ursprünglich an ein und demselben Vernunftwesen teilhaben. Vor einem so edlen Ideal wird man sich mit Ehrfurcht verneigen. Man wird sich bemühen, es zu verwirklichen, wenn es nicht zu unbequem ist für das Individuum und die Gesellschaft. Aber man wird ihm nicht mit Leidenschaft anhängen.« 326 325 Toutefois, avant le christianisme, il y eut le stoïcisme : des philosophes proclamèrent que tous les hommes sont frères, et que le sage est citoyen du monde. Mais ces formules étaient celles d’un idéal conçu, et conçu peut-être comme irréalisable. Nous ne voyons pas qu’aucun des grands stoïciens, même celui qui fut empereur, ait jugé possible d’abaisser la barrière entre l’homme libre et l’esclave, entre le citoyen romain et le barbare. – DS 1040 | 77 f. | 61 326 A travers Dieu, par Dieu, il aime toute l’humanité d’un divin amour. Ce n’est pas la fraternité que les philosophes ont recommandée au nom de la raison, en arguant de ce que tous les hommes participent originellement d’une même essence raisonnable :

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Der Philosoph und der Mystiker sprechen – sofern sie sprechen – auf ähnliche Weise vom gleichen Ideal. Das ist noch einmal die These von der Austauschbarkeit der Sprachen, doch geht es hier nicht mehr um den Wortschatz, sondern um die Wirkung. Der Philosoph spricht von dem, was er denkt. Er entwirft das Ideal der Brüderlichkeit und leitet davon die Empfehlung oder gar die Forderung seiner Umsetzung ab. Indessen bleiben derartige Empfehlungen oder Forderungen zumeist kraft- und deshalb wirkungslos, weil sie sich nur auf die Intelligenz berufen, die solchen riskanten Neuerungen wenig zugetan ist, denn schließlich muss man, um das Schwimmen erlernen zu können, schon in der Lage sein, sich über Wasser zu halten. 327 Der Mystiker spricht – wenn er spricht – nicht wesentlich kraftvoller. Aber in seinem Fall ist das Sprechen, sind »Ermahnungen« und »Forderungen« auch nur Nebensache. Er wirkt durch seine »Existenz« 328, er bezieht seine Tatkraft aus einer schöpferischen Emotion und seine Überzeugungskraft aus der Weitervermittlung dieser Emotion. Aber das Problem muss noch grundsätzlicher gefasst werden, als Bergson es in den hier zitierten Passagen tut. Seine den Formen des Religiösen gewidmeten Untersuchungen setzen ja ein mit den drei »Entmutigungen«: Die Intelligenz fragt den Menschen, wieso er unentwegt für die Gemeinschaft arbeite, statt seine eigenen Interessen in den Mittelpunkt zu stellen; wieso er für die Zukunft vorsorge, obwohl er doch wisse, dass er sterben muss; wieso er Projekte beginne, die erst in der Zukunft Früchte tragen, wenn doch in der Zwischenzeit die widrigsten Zufälle eintreten und ihn um den Erfolg seiner Anstrengung bringen können. Gegen die desaströsen Folgen derartigen devant un idéal aussi noble on s’inclinera avec respec ; on s’efforcera de le réaliser s’il n’est pas trop gênant pour l’individu et pour la communauté ; on ne s’y attachera pas avec passion. – DS 1173 | 247 | 181 327 Dies ist bekanntlich das entmutigende Argument, dessen sich die Intelligenz gemäß L’évolution créatrice bedient, um das Individuum »in den Kreis des Gegebenen einzusperren« (vgl. Kap. 3, Anm. 114). Im Rahmen einer Hermeneutik der gemeinschaftlichen menschlichen Welt kehrt es wieder in Gestalt der These, die Einführung neuer Formen des Zusammenlebens setze voraus, dass es in der Gesellschaft denjenigen Seelenzustand bereits gebe, der durch sie erst herbeigeführt werden soll. – [Les grandes réformes] ne pouvaient être réalisées que dans une société dont l’état d’âme fût déjà celui qu’elles devaient induire par leur réalisation ; et il y avait là un cercle dont on ne serait pas sorti si une ou plusieurs âmes privilégiées, ayant dilaté en elles l’âme sociale, n’avaient brisé le cercle en entraînant la société derrière elles. – DS 1038 | 74 | 59 328 Vgl. Anm. 221.

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Fragens (Egoismus, Mutlosigkeit, Passivität) versucht dann eine gewisse Art von Philosophie, die sich allein auf den rationalen Diskurs verlässt (Bergson nennt hier den Utilitarismus John Stuart Mills als Beispiel), mit Argumenten anzugehen, doch haben deren Argumentationen »nicht einmal alle Philosophen überzeugt und noch viel weniger die Laien« 329. Deshalb muss die naturhaft-unbewusste fonction fabulatrice einspringen, die dem Menschen Bilder von Geistern, Göttern und einem Leben nach dem Tode vorgaukelt. Schon die statische Religion entsteht also, weil die Intelligenz nicht in der Lage ist, die destruktiven Geister, die sie freigesetzt hat, wieder einzufangen. Die dynamische Religion bietet dann zwar in Gestalt der Emotion »eine andere Lösungsmöglichkeit für das [gleiche] Problem« 330 an, aber ob nun Bild oder Emotion – in beiden Fällen ist es jedenfalls nicht die Intelligenz selbst, die die von ihr geschaffenen Probleme zu lösen vermag. Wir haben hier Anlass, auf die Formel vom Elend der Philosophie zurückzukommen: Die Philosophie – als rationaler Diskurs – kann Fragen stellen und Probleme aufwerfen. Sie kann argumentierend antworten, sie kann Ideale entwerfen – und sie kann das, wie wir gleich sehen werden, sogar besser als die Mystik –, aber sie kann, wenn es um die praktische Umsetzung des Entwurfs geht, nur empfehlen, ermahnen, fordern. Dagegen kann sie keine als Triebfedern wirkenden Emotionen schaffen, und so kommt es, dass sich die Zuhörer vor dem Ideal »verneigen«, sich vielleicht auch ein wenig an dessen Umsetzung versuchen, sofern das nicht »zu unbequem« ist, in der Regel aber die Auskunft geben, angesichts der Umstände sei die Verwirklichung des Ideals leider nicht möglich, und letztlich verunsichert, entmutigt bleiben. Die Philosophie braucht also auch weiterhin den mystischen Impuls als emotionales Gegenstück ihrer rationalen Entwürfe. Übrigens ergeht es der Mystik nicht anders. Das zeigt sich an einem merkwürdigerweise von den Interpreten nur selten kommentierten 331 Sachverhalt: Bergson fühlt sich berechtigt, die Mystiker zu kritisieren. Diese Kritik trifft nicht – wie man zunächst meinen könn329 […] et Stuart Mill n’a pas convaincu tous les philosophes, encore moins le commun des hommes. – DS 1078 | 126 | 95 330 Il est vrai qu’on aperçoit tout de suite une autre solution possible du problème. – DS 1154 | 223 | 164 331 Zumindest auf einige der hier relevanten Äußerungen Bergsons geht Sundén [1947], S. 233 ff., ein.

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te – die Vertreter der unvollständigen, vorchristlichen Mystik, sondern gerade die christlichen Mystiker, die die vollständige Form der Mystik repräsentieren. Daraus müssen wir schließen, dass auch im Rahmen einer (gleichsam de jure) vollständigen Mystik die einzelnen Mystiker (de facto) nicht notwendigerweise vollkommen sind. Was in diesem Kontext als Unvollkommenheit gelten und worauf sich folglich die Kritik richten darf, erklärt Bergson unmittelbar im Anschluss an seine Definition der vollständigen Mystik: »Fast alle diese überströmende Aktivität [der christlichen Mystiker] hat der Verbreitung des Christentums gegolten. Es gibt jedoch Ausnahmen, und der Fall Jeanne d’Arc genügt, um zu zeigen, dass die Form vom Stoff getrennt werden kann«. 332

Die wahre Mystik will das Leben – das gesamte Leben – der Menschheit umgestalten. Dies ist das vom »Christus der Evangelien« – und das heißt, wie wir gehört haben: vom Autor der Bergpredigt – formulierte Ideal. Die meisten christlichen Mystiker indessen erweisen sich als »ursprüngliche, aber unvollkommene Nachahmer und Fortsetzer« 333, weil sie zwar neue, offene Lebensformen geschaffen haben, jedoch fast immer solche, die der Verbreitung des christlichen Glaubens dienen (Klöster, Orden). Sie haben, wie Bergson sich ausdrückt, »die Form« nicht hinlänglich »vom Stoff getrennt«. Das ist in Verbindung zu bringen mit seiner Bemerkung, die Mystik könne nur dann zu einer Partnerin der philosophischen Forschung werden, wenn es gelingt, sie »in reinem Zustande zu nehmen, losgelöst von den Visionen, den Allegorien, den theologischen Formeln, in denen sie sich ausdrückt« 334. Bergson kritisiert also nicht irgendeine Unvollkommenheit der mystischen Grunderfahrung, zu der er als Philosoph ja keinen Zugang hat; er kritisiert auch nicht mangelnde Energie, einen zu schwach ausgeprägten Tatendrang der Mystiker; er kritisiert vielmehr die mangelhafte Trennung zwischen traditionell-religiöser Form und eigentlichem Sinn des mystischen Impulses sowie, daraus folgend, die fehlende Anpassung des Sinns und der Tatkraft an die aktuell sich stellenden Aufgaben. In fast jedem Mystiker steckt noch ein Rest von Don Quijote, insofern er glaubt, er müsse, um als echter 332 Presque toutes ces activités surabondantes se sont employées à la propagation du christianisme. Il y a des exceptions cependant, et le cas de Jeanne d’Arc suffirait à montrer que la forme est séparable de la matière. – DS 1168 | 241 | 177 333 Vgl. Anm. 245. 334 Vgl. Anm. 313.

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Mystiker tätig zu sein, einen neuen Orden gründen. Diese kritischen Ausführungen ergänzt Bergson durch eine – von Jeanne d’Arc bis zum Völkerbund 335 reichende – Reihe von Beispielen, in denen seiner Ansicht nach die Trennung von Form und Sinn sowie die neue, zeitgemäße Umsetzung dieses Sinns besser gelungen ist. Kurzum: Der Philosophie fehlt die Kraft, und der Mystik fehlt der Sinn. Oder jedenfalls: Dies sind die jeweiligen Schwachpunkte. Auch wenn die Philosophie den mystischen Impuls aufgenommen und als »Projekt Mensch« ausgelegt hat, so fehlt ihr doch die Kraft, Menschen für dieses Projekt zu begeistern, so dass sie weiterhin des von der Mystik ausgehenden Enthusiasmus bedarf. Auch wenn die christliche Mystik als »vollständig« gelten darf, insofern sie sich als Partizipation an einer überindividuellen, schöpferischen Liebe versteht, ist sie im Hinblick auf die Klärung des Sinns sowie den bestmöglichen Einsatz der schöpferischen Energie keineswegs vollkommen, so dass sie weiterhin der Unterstützung durch eine philosophisch-hermeneutische Anstrengung bedarf. (5) Aber hatten nicht in L’évolution créatrice Instinkt und Intelligenz einander ewige Treue gelobt, auf dass aus ihrem Bund die philosophische Intuition hervorgehe? Es schien, als sei das Bergsons definitive Auskunft zur Frage nach dem Wesen der Intuition. 336 Die in Les deux sources de la morale et de la religion ausgebreitete Theorie basiert dann freilich auf dem Gegensatz von Intelligenz und Mystik sowie ihrer Begegnung am Ursprung des spezifisch philosophischen Diskurses. Verhält es sich nun aber so, welche Konsequenzen hat das für das Konzept der Intuition? Ersetzt oder ergänzt das neuere Konzept das ältere? Bereits Léon Husson sah sich veranlasst, diese Frage zu stellen. Seine Antwort lautet: »Die Intelligenz, die die biologische Notwendigkeit in eine [moralische] Verpflichtung übersetzt (und wir erlauben uns, hinzuzufügen: sublimiert), ist zugleich […] die Funktion, die die offene Moral zu Ideen weiterentwickelt, um ihren Gehalt – wenn auch nicht ihre Antriebskraft – weiterzuvermitteln und sie mit der gesellschaftlichen Moral zu vermengen. Dank ihrer und durch sie verschmelzen die beiden, theoretisch unabhängigen 335 Zum Völkerbund vgl. DS 1219 f. | 305 f. | 223 f. – Man beachte, dass Bergson den Völkerbund nicht als Zusammenschluss von Staaten auffasst (was ja bedeuten würde, dass er immer noch eine geschlossene Gesellschaft wäre), sondern als hervorgegangen aus der Initiative einiger »Männer, die wir ohne Zögern zu den Wohltätern der Menschheit zählen«. 336 Vgl. Abschnitt 6.1.4, S. 711.

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Moralformen praktisch zu einer konkreten, wenn auch instabilen Einheit, innerhalb derer die zweite unentwegt daran arbeitet, die erste umzugestalten, während diese bestrebt ist, jene zu schwächen.« 337

Diese Antwort postuliert eine dreifache Mittelstellung der Intelligenz: • Zum einen vermittelt die Intelligenz zwischen Natur und Kultur, d. h. zwischen Instinkt und Moral. Bemerkenswerterweise spricht Husson davon, dass die Intelligenz die biologischen Notwendigkeiten in moralische Forderungen »übersetzt« (traduit). Wenn er nämlich – erläuternd und ergänzend – das Wort »sublimiert« hinzufügt, so wird deutlich, dass wir es hier mit einem anspruchsvolleren Übersetzen zu tun haben als es das bloße Wechseln zwischen gleichwertigen Beschreibungssprachen ist, das wir in Punkt (2) diskutiert haben. Dieses Übersetzen ist ein Um-, ja Neuschaffen. Zugleich wird aber deutlich, dass der Instinkt gegenüber L’évolution créatrice an Bedeutung verliert und dass die Erwartungen an eine Kooperation von Instinkt und Intelligenz reduziert werden. Das Schaffen einer konkreten Moral auf der Basis dessen, was die virtuellen Instinkte vorgeben, ist eine schöpferische Leistung, aber es ist Interpretation, nicht Intuition. • Sodann vermittelt die Intelligenz zwischen (elitärer) Mystik und (allgemeiner) Kultur, d. h. zwischen Emotion und Moral. Husson spricht hier von einem »Weiterentwickeln« (développer), und dies passt vorzüglich zu unseren Analysen des Verhältnisses von Mystik und Philosophie. Die Intelligenz entwickelt konkrete »Ideen«, die den Sinn des mystischen Impulses auslegen, indem sie seine Bedeutung im Hinblick auf konkrete Situationen erkennen lassen. Es sind dies Ideen für neuartige Lebensformen, woraus sich ergibt, dass alle Hoffnungen auf eine Fortführung des »Projekts Mensch« nunmehr an die Mystik geknüpft sind. • Aus diesen beiden Vermittlungsleistungen aber entspringt zum einen die Moral einer geschlossenen, sodann diejenige einer offenen Gesellschaft. Eine solche Verdoppelung würde den Menschen zerreißen, wäre nicht die Intelligenz in der Lage, drittens auch noch zwischen beiden Formen der Moral zu vermitteln, indem sie sie in einen hermeneutischen Wirbel hineinstößt, so dass sich aus Antrieb, Entwurf und Widerstand eine langsame,

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Husson[1947] 205 f.

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schrittweise, aber prinzipiell offene und unendliche Entwicklung ergibt. Kaum etwas ist geeigneter als dieses von Husson vorgeschlagene – und Bergsons Intentionen sicher weitestgehend treffende – Modell der dreifach vermittelnden Intelligenz, um uns den Ausruf zu entlocken, es sei also wieder einmal gelungen, das Elend in einen Glanz der Philosophie umzumünzen: Fehlt auch dem Instinkt und der Mystik das Bewusstsein ihres Sinns, fehlt auch der Intelligenz die emotionale Kraft, so gelingt es der Intelligenz nicht nur, einen Dialog sowohl mit dem Instinkt wie auch mit der Mystik anzuzetteln, sondern überdies auch noch, die widerstreitenden Ergebnisse beider Dialoge in einen Prozess des kontinuierlichen Aushandelns von immer neuen Kompromissen einzubringen. Und kaum etwas ist geeigneter, Zielsetzung und Leistung der lebensphilosophischen Hermeneutik verständlich zu machen. Will man aber Bergson nicht zuletzt doch noch missverstehen, so gilt es zu berücksichtigen, dass Hussons Modell kein Endergebnis beschreibt, sondern einen – in mehrfacher Hinsicht – offenen, nicht abschließbaren Prozess. Zunächst wird man sich hüten müssen, zu viel Energie in eine Anstrengung zu investieren, die explizit oder implizit darauf abzielt, Bergsons Philosophie als System zu präsentieren. Das ist sie nicht, und das sollte sie nach Bergsons Willen auch niemals werden. Gemeint ist sie als philosophische Forschung, die ein Denken, das nichts ist als rationaler Diskurs (Bergsons intellectualisme) und deshalb machtlos ist, zurückbinden will an diejenigen Kräfte im Menschen, die über ihn Macht haben, ihn aber zu Sinnlosem oder gar Sinnwidrigem zu treiben drohen, wenn sie außerhalb des rationalen Diskurses bleiben oder gar aus ihm herausgedrängt werden. Wir werden also aus Hussons Antwort entnehmen, dass die Mystik den Instinkt nicht ersetzt, dass vielmehr Bergson in Instinkt und Mystik zwei verschiedenartige Kräfte sieht, die menschliches Leben prägen. Aber wir werden in ihnen nicht die einzigen derartigen Kräfte sehen. Das, was ich die Phänomenologie der vorphilosophischen Verstehensleistungen genannt habe, hat uns, je weiter wir fortschritten, mit immer neuen Phänomenen konfrontiert, deren Quellen diesseits oder jenseits der Intelligenz liegen, die aber gleichwohl unser Verständnis der gemeinsamen menschlichen Welt und unser Handeln in ihr steuern: mit dem Lachen und dem bon sens, mit Sympathie und Antipathie, mit ästhetischer Intuition und fonction fabulatrice. Gemeinsam ist diesen Phänomenen aber nicht nur ihre Vor- oder 888 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

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Überrationalität, sondern auch ihr Gehalt an impliziter, unentwickelter, der Entfaltung bedürftiger Wahrheit. Sie alle sind Kräfte, aber keine blinden, mechanischen Naturkräfte, sondern – abermals mit Ricœur gesprochen – »Kräfte auf der Suche nach einem Sinn« oder vielleicht auch nur nach einer Form, in der sich dieser Sinn darstellen kann. Lebensphilosophische Hermeneutik ist das Bemühen, einen Sinn mit diesen Kräften auszuhandeln und eine lebbare Form vorzuschlagen. Les deux sources de la morale et de la religion – ein Buch, in das die Erfahrungen der Jahre von 1914 bis 1918 ebenso eingeflossen sind wie die schlimmen Vorahnungen, die sich im Jahre 1932 aufdrängten – weist freilich wie kein anderes Werk Bergsons auch auf die Schwierigkeiten eines solchen Unterfangens und die Grenzen der hermeneutischen Vernunft hin. Was die Kräfte, die wir in diesem Buch vorgeführt bekommen, von allen aus früheren Werken bekannten Kräften unterscheidet, ist ihre erschreckende Dimension. Gewiss, auf Beunruhigendes sind wir immer wieder gestoßen: auf die Ausbrüche des Tiefen-Ich, die in der vom Oberflächen-Ich säuberlich geordneten Welt alles durcheinanderwerfen; auf die »gar nicht fremddienlichen«, das Opfer der Sympathie lähmenden Insektenstiche; auf die Grausamkeit, die gelegentlich im Lachen durchbricht. Aber nichts davon ist zu vergleichen mit dem, was in Les deux sources de la morale et de la religion geschieht: Aus der Antipathie wird erst der Hass, dann der Krieg, dann schließlich – in Gestalt des Ersten Weltkriegs – die schlimmste Menschenvernichtung, die man kannte, als Bergson sein letztes Hauptwerk schrieb. Aus der Sympathie wird die Liebe, dann die Anstrengung des Mystikers, die schwache Menschen zerbrechen kann, schließlich die »Raserei« der Askese im Mittelalter. Aus dem herstellenden Handeln des homo faber wird die Technik, dann ein »ungeheures System von Maschinen«, schließlich die »Raserei« der Technisierung. Aus dem Räsonieren und Fragen der Intelligenz entspringt der Zweifel, dann die Skepsis, schließlich die lähmende Entmutigung. Aus dem Instinkt wird der virtuelle Instinkt, dann das naturhafte Substrat des Menschen, schließlich die fonction fabulatrice, die den nach Wahrheit strebenden Menschen mit Ammenmärchen einschläfert. Es gibt keine Garantie dafür, dass die Vermittlungsbemühungen der Intelligenz zum Erfolg führen. Das »Projekt Mensch« ist kein Spaziergang, sondern ein Tanz auf dem Vulkan.

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Literaturverzeichnis

1.

Werke von Henri Bergson

Die Bergsonforschung leidet bis heute unter dem Fehlen einer Gesamtausgabe, die den Ausgaben der von Dilthey oder Nietzsche, Husserl oder Heidegger überlieferten Texte entspräche. Bergsons sogenannte »Hauptwerke« liegen in zwei konkurrierenden Ausgaben vor. Andere Texte sind auf zahlreiche Einzelpublikationen verteilt. Diese Situation erfordert eine etwas komplexe Zitierweise. Als Faustregel für die Orientierung gilt: • Alle Quellenangaben der Form hAbkürzungi hSeitenzahl 1i | hSeitenzahl 2i | hSeitenzahl 3i beziehen sich auf Bergsons Hauptwerke. • Alle übrigen Quellenangaben beziehen sich auf andere Texte Bergsons.

Bergsons Hauptwerke Die Angaben, aus denen alle Verweise auf Bergsons Hauptwerke bestehen, sind folgendermaßen zu interpretieren: • Die erste Seitenzahl bezieht sich auf die sogenannte »Zentenarausgabe«: Henri Bergson: Œuvres, Paris (Presses Universitaires de France) 1984 [4. Auflage]. Da diese Ausgabe alle Hauptwerke in einem Band vereint, kann die werkspezifische Abkürzung, mit der die Quellenangabe beginnt, unbeachtet gelassen werden. [Ausnahme: Bei Zitaten aus Durée et simultanéité (Abkürzung: DSim) bezieht sich die erste Seitenzahl auf die Mélanges (s. u.).] • Die zweite Seitenzahl bezieht sich auf die von Frédéric Worms herausgegebene Édition critique [Paris (Presses Universitaires de France) 2007 ff.]. Diese Ausgabe besteht aus mehreren Bänden. Daher muss zunächst aus der die Quellenangabe einleitenden Abkürzung ermittelt werden, auf welches Werk bzw. auf welchen Band verwiesen wird. • Die dritte Seitenangabe schließlich bezieht sich auf die deutschen Übersetzungen. Sie sind ebenfalls nur in Einzelbänden verfügbar, so dass wiederum die werkspezifischen Abkürzungen berücksichtigt werden müssen.

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Literaturverzeichnis Hinweis: Ich benutze die vorliegenden deutschen Übersetzungen überall als Ausgangspunkt für meine eigenen Übersetzungsvorschläge, betrachte sie aber nicht als Texte eigenen Ranges. Wo immer mir dies nötig scheint, ändere ich den Wortlaut, ohne darauf eigens hinzuweisen. Die werkspezifischen Abkürzungen orientieren sich an den französischen Titeln von Bergsons Publikationen. In der nachfolgenden Liste wird zu jeder Abkürzung an erster Stelle der entsprechende Band der Édition critique, an zweiter die verwendete deutsche Übersetzung angeführt: DI:

Essai sur les données immédiates de la conscience, Paris 2007 Zeit und Freiheit, übers. v. Paul Fohr, Hamburg (Philo) 2006 DS: • Les deux sources de la morale et de la religion, Paris 2008 • Die beiden Quellen der Moral und der Religion, übers. v. Eugen Lerch, Frankfurt am Main (Fischer) 1992 DSim: • Durée et simultanéité, Paris 2009 • [deutsche Übersetzung nicht verfügbar] EC: • L’évolution créatrice, Paris 2007 • Schöpferische Entwicklung, übers. v. Gertrud Kantorowicz, Elibron Classics (Adamant Media Corporation) 2006 [Nachdruck der Ausgabe Jena (Diederichs) 1921] 1 ES: • L’énergie spirituelle, Paris 2009 • Die seelische Energie, übers. v. Eugen Lerch, Jena (Diederichs) 1928 MM: • Matière et mémoire, Paris 2008 • Materie und Gedächtnis, übers. v. Julius Frankenberger, Hamburg (Meiner) 1991 PM: • La pensée et le mouvant, Paris 2009 • Denken und schöpferisches Werden, übers. v. Leonore Kottje, Hamburg (Europäische Verlagsanstalt) 2008 R • Le rire, Paris 2007 • Das Lachen, übers. v. Julius Frankenberger und Walter Fränzel, Jena (Diederichs) 1914 2 Besonderheiten: • Die Édition critique ist vor allem das, was man im deutschsprachigen Raum als »Studienausgabe« bezeichnet: Neben den Texten und Textvarianten bietet sie eine Fülle von Erläuterungen • •

Zum Vergleich wurde auch die Ausgabe: Schöpferische Evolution, übers. v. Margarethe Drewsen, Hamburg (Meiner) 2013, herangezogen. Quellenangaben beziehen sich jedoch immer auf die oben genannte Übersetzung von Gertrud Kantorowicz. 2 Zum Vergleich wurde auch die Ausgabe: Das Lachen, übers. v. Roswitha PlancherelWalter, Hamburg (Meiner) 2011, herangezogen. Quellenangaben beziehen sich jedoch immer auf die oben genannte Übersetzung von Walter Fränzel. 1

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Werke von Henri Bergson



und Materialien, die in anderen Bergson-Ausgaben nicht zu finden sind. Wo immer ich auf diese Bezug nehme, geschieht das in der Form: hAbkürzungi – | hSeitenzahl 2i | – Entsprechend hat dann, wenn ich vorliegende Übersetzungen diskutiere, der Verweis die Form: hAbkürzungi – | – | hSeitenzahl 3i

Andere Texte Bergsons Von Bergson in Zeitschriften publizierte, aber später in keinen der Sammelbände aufgenommene Aufsätze, von ihm verfasste, aber nie publizierte Texte (Vortrags- und Vorlesungsmanuskripte, Briefe) sowie Aufzeichnungen anderer Personen (Mitschriften von Gymnasialkursen, Zeitungsberichte über Reden und Vorlesungen) werden seit mehreren Jahrzehnten in einem immer noch nicht abgeschlossenen Prozess schrittweise publiziert. Dabei handelt es sich nicht um Bände einer als Einheit geplanten Ausgabe, sondern um isolierte Publikationen. Für die benutzten Ausgaben dieses Typs verwende ich folgende Abkürzungen: RBos:

Bergson, Henri: [Rezension von] Camille Bos – Psychologie de la croyance (1902), http://classiques.uqac.ca/classiques/bergson_henri/bos_psycho_ croyances/bos_psycho_croyances.html Corr.: Bergson, Henri / Robinet, André: Correspondances, Paris (Presses Universitaires de France) 2002 Crs-1: Bergson, Henri / Hude, Henri (Hrsg.): Cours I (Leçons de psychologie et de métaphysique, ClermontFerrand 1887–1888), Paris (Presses Universitaires de France) 1990 CPsy: Bergson, Henri / Matton, Sylvain (Hrsg.): Cours de Psychologie de 1892–1893 au lycée Henri-IV, Paris (SÉHA) 2008 Écr.: Bergson, Henri: Écrits philosophiques, Paris (Presses Universitaires de France) 2011 [Bestandteil der Édition critique] LCl-1 Bergson, Henri / Ragghianti, Renzo: Leçons Clermontoises I, Paris 2003 Mél.: Bergson, Henri / Robinet, André: Mélanges, Paris (Presses Universitaires de France) 1972 Da die in diesen Publikationen enthaltenen Texte nie ins Deutsche übersetzt wurden, entfallen entsprechende Angaben.

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2. Weitere Literatur Auf die Sekundärliteratur wird in den Anmerkungen verwiesen durch den Nachnamen des Autors sowie das – in eckige Klammern eingeschlossene – Erscheinungsjahr der Publikation. In den seltenen Fällen, in denen zwei oder mehr Autoren mit gleichem Nachnamen zu berücksichtigen sind, wird – in runden Klammern – der Anfangsbuchstabe des ersten Vornamens hinzugefügt. So verweist Jung(M)[2002] auf eine Publikation von Matthias, Jung(W)[1990] auf eine Publikation von Werner, Jung(C)[2001] auf eine Publikation von Carl Gustav Jung. Adolphe, Lydie: – La dialectique des images chez Bergson, Paris 1951 – L’univers bergsonien, Paris 1955 Alipaz, Daniel: – Bergson and Derrida. A Question of Writing Time as Philosophy’s Other, in: Journal of French and Francophone Philosophy – Revue de la philosophie française et de langue française, Vol. XIX, No. 2 (2011), 96–120 Angehrn, Emil: – Interpretation und Dekonstruktion. Untersuchungen zur Hermeneutik, Weilerswist 2004 – Sinn und Nicht-Sinn. Das Verstehen des Menschen, Tübingen 2010 Antliff, Mark: – Inventing Bergson. Cultural politics and the Parisian avant-garde, Princeton 1993 Arbour, Roméo: – Henri Bergson et les lettres françaises, Paris 1955 Arendt, Hannah: – Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1981 Bachelard, Gaston: – La dialectique de la durée, Paris 2006 Bankov, Kristian: – Intellectual Effort and Linguistic Work. Semiotic and Hermeneutic Aspects of the Philosophy of Bergson, Acta Semiotica Fennica Vol. IX, Helsinki 2000 Barz, Christiane: – Weltflucht und Lebensglaube. Aspekte der Dekadenz in der skandinavischen und deutschen Literatur der Moderne um 1900, Berlin 2003 Behler, Ernst: – Friedrich Schlegels Theorie des Verstehens, in: Behler, Ernst / Hörisch, Jochen (Hrsg.): Die Aktualität der Frühromantik, Paderborn 1987 – Derrida – Nietzsche, Nietzsche – Derrida, Paderborn 1988 Behnke, Thomas: – Naturhermeneutik und physiognomisches Weltbild. Die Naturphilosophie von Ludwig Klages, Regensburg 1999 Benrubi, Isaak: – Souvenirs sur Henri Bergson, Neuchâtel 1942

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906 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

Namenregister

In Normaldruck dargestellte Zahlen beziehen sich auf den Haupttext, kursiv gedruckte Zahlen auf Anmerkungen. Alexander, Samuel 557 Angehrn, Emil 11, 14, 17, 20, 36, 217 Arendt, Hannah 257, 338 Aristoteles 213, 393, 395–396, 683, 857 Aristoteles:aristotelisch 672 Audra, Ashley 757, 879 Augustinus, Aurelius 491 Bankov, Kristian 27–28, 43, 111, 118, 232, 430–431, 431, 484–485, 488, 553–559, 565, 567, 683, 693, 722, 784, 850, 852 Behler, Ernst 14 Benrubi, Isaak 653–654, 687 Berkeley, George 54, 58–60, 65, 76, 83, 113–114, 304, 604 Bernard, Claude 121–122, 130, 133, 136, 797 Binding, Rudolf G. 709 Binet, Alfred 143, 176 Bloch, Ernst 274, 809, 879 Blumenberg, Hans 64, 392, 461 Bollnow, Otto Friedrich 166–170, 180 Bouaniche, Arnaud 453, 453, 454, 454, 680 Boutroux, Émile 468, 472, 513, 557 Bréhier, Émile 93 Brereton, Cloudesley 757, 879 Brougham, Richard L. 27–28, 488, 556–557, 580, 693 Buchholz, Michael 560–561, 566 Bultmann, Rudolf 205, 275

Caeymaex, Florence 816, 826 Carnot, Sadi 384 Carus, Carl Gustav 863 Cassirer, Ernst 396 Cézanne, Paul 342 Chateaubriand, François-René de 275 Christus (der Evangelien) 834–835, 836, 875, 885 Clausius, Rudolf 384 Collins, Douglas 25, 28 Corot, Jean-Baptiste Camille 391 Croce, Benedetto 24 Darwin, Charles 98, 630 Deleuze, Gilles 223, 236–237, 301, 315, 406, 484, 750–751, 753–755, 771, 780, 798 Demokrit 57 Derrida, Jacques 223, 263, 867 Descartes, René 84, 153, 235, 341, 390, 396, 398, 408, 418, 487, 551, 572, 666–667, 855, 857, 862 Descartes, René:anti-cartesianisch 158 Descartes, René:cartesianisch 153, 751 Descartes, René:Cartesianismus 406 Descartes, René:cartesisch 158, 553 Dewey, John 167, 169, 234 Dilthey, Wilhelm 15, 16–18, 20–21, 25, 118, 149–151, 159, 165, 167, 169, 172, 174–177, 180–181, 183,

907 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

Namenregister 184, 212, 220, 226, 358, 390, 396, 408–409, 411–412, 431, 469, 479– 482, 495, 566, 630, 646, 674, 709, 727, 742, 819, 862 Driesch, Hans 15 Droysen, Johann Gustav 106 Durkheim, Émile 358, 808–809, 841 Dwelshauvers, Georges 140, 143, 156, 158, 268, 270, 335, 549 Einstein, Albert 419, 455 Elias, Norbert 616 Emerson, Ralph Waldo 116 Epikur 57, 98 Espinas, Alfred 358 Fedi, Laurent 431, 468–469, 472, 478–483, 488, 513, 556, 566, 693, 818, 850, 855 Fellmann, Ferdinand 16, 226, 819 Feneuil, Anthony 82 Figal, Günter 729 Foucault, Michel 35–36, 219, 457, 558 Fouillée, Alfred 437, 822 François, Arnaud 101, 111, 307, 737, 816 Franz von Sales 391 Freud, Sigmund 14, 15, 17–18, 24, 52, 141–143, 146–148, 153, 170–171, 184, 234, 267, 272, 274, 282, 549, 552, 561, 630, 843, 845, 868 Fujita, Hisashi 643, 665 Gadamer, Hans-Georg 13, 23, 79, 149, 183, 275, 314–315, 396, 606, 674–681, 683, 703, 727, 748, 827, 862 Galilei, Galileo 390, 392, 394–395, 408, 418, 707, 835, 862 Gehlen, Arnold 265 Gödde, Günter 269–270, 560–561, 566 Goethe, Johann Wolfgang 151, 834 Goldstein, Julius 15 Große, Jürgen 180 Gunter, Pete 415 Gusdorf, Georges 21–22, 36, 218, 275

Guyau, Jean-Marie 437 Guyon, Jeanne-Marie 391 Habermas, Jürgen 52, 377 Hadot, Pierre 457 Hamann, Johann Georg 151, 152 Hamann, Richard 15 Hartmann, Eduard von 155, 268, 549 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 220, 230, 392, 483, 834 Heidegger, Martin 13, 39, 78–79, 163, 167–169, 171, 175, 177, 182, 199, 239, 249–250, 349, 357, 363, 390, 439, 483–485, 521–522, 555, 613, 727 Heimsoeth, Heinz 221 Herder, Johann Gottfried 152, 174 Hersch, Jeanne 636, 738 Høffding, Harald 299, 301, 432, 436, 695–696, 720, 750 Hogrebe, Wolfram 275, 703, 817 Hughes, H. Stuart 25 Humboldt, Wilhelm von 174 Hume, David 341 Husserl, Edmund 118, 153, 235, 274, 473, 475, 483–484, 551, 855, 857 Husson, Léon 544–545, 547, 712, 750, 886–888 Hyppolite, Jean 27–28, 118, 430–431, 483–486, 488–490, 492, 495, 498– 503, 505–509, 516–518, 526, 528– 529, 542–545, 547–549, 551, 553, 556, 559, 565, 630, 693, 697, 704, 850 Iser, Wolfgang 35–36, 80, 864 James, William 74, 84, 94, 96, 140, 155, 200, 202–203, 233, 233, 234, 391, 432, 473, 511, 797 Janet, Pierre 141, 143, 268, 272, 279– 280, 320, 362, 527, 549 Jankélévitch, Vladimir 119, 221, 752, 758, 796 Jaspers, Karl 483 Jeanne d’Arc 874, 885–886 Joffre, Joseph 667

908 https://doi.org/10.5771/9783495808368 .

Namenregister Johannes vom Kreuz (Juan de la Cruz) 391 Jung, Carl Gustav 144, 870 Jung, Matthias 20, 172, 174, 180, 184, 412, 646 Kant, Immanuel 109, 153, 228, 238, 261, 289, 306, 312, 321, 327, 336, 341, 375, 400, 406, 429, 432, 437, 437, 458, 551, 572–573, 646, 734– 737, 793, 820, 854–855 Kant, Immanuel:Kantianismus 400, 406 Kant, Immanuel:kantisch 197, 261, 400 Kant, Immanuel:vorkantisch 374 Kepler, Johannes 394–395 Klages, Ludwig 15, 18, 148, 172, 184, 199, 206, 390, 630 Klappacher, Christine 168, 170, 172 Kottje, Leonore 92, 141, 571 Krüger, Gerhard 822 Küchenhoff, Joachim 11 Kuhn, Thomas 390

Mallarmé, Stéphane 664 Marquard, Odo 703 Marx, Karl 347, 365, 392, 801, 868 Marx, Karl:marxistisch 16 Mead, George Herbert 179, 187, 205, 210 Merleau-Ponty, Maurice 20, 124, 163, 274, 483, 495, 506–507 Michel, Johann 153 Milet, Jean 415 Mill, John Stuart 884 Misch, Georg 386, 709 Moore, Addison Webster 233–235, 239, 242 Mossé-Bastide, Rose-Marie 42–43, 83, 723 Musset, Alfred de 430 Neuweg, Georg Hans 168 Newton, Isaac 394, 396, 408, 439, 862 Nietzsche, Friedrich 14, 15, 17–18, 52, 147, 153, 172, 183, 201–202, 390, 504, 609, 737, 778, 847, 868 Ostwald, Wilhelm 15

La Mettrie, Julien Offray de 572 La Rochefoucauld, François de 607 Langer, Susanne 386 Lapoujade, David 359, 514, 567, 684– 686, 690, 754, 767, 781–785, 787 László, Ervin 557 Lawlor, Leonard 484, 751 Le Bon, Gustave 148, 561 Le Roy, Éduard 425 Leibniz, Gottfried Wilhelm 153, 269, 341, 347, 396, 398–399, 471 Lerch, Eugen 833 Lersch, Philipp 633, 737, 818 Lévi-Strauss, Claude 225, 423 Lévy-Bruhl, Lucien 392, 841 Lipps, Theodor 653–654 Locke, John 341 Lukács, Georg 16, 22 Lukrez (Titus Lucretius Carus) 51, 57, 63–64, 84, 98, 251, 304, 386, 402, 572, 703, 879

Péguy, Charles 24 Peirce, Charles Sanders 200, 556, 558 Pflug, Günther 25, 172, 307, 358– 359, 514, 565, 628–631, 631, 633, 636, 638–639, 693, 752 Pico della Mirandola, Giovanni 265 Piderit, Theodor 630 Plancherel-Walter, Roswitha 825 Platon 221, 228, 394, 749, 857, 876 Plessner, Helmuth 245, 265 Plotin 108, 114, 593, 876 Polanyi, Michael 168 Politzer, Georges 16, 22, 506 Prigogine, Ilya 122 Rancière, Jacques 150, 165 Ravaisson (Félix Lacher) 74, 272, 417–418, 783, 791–792, 797 Renan, Ernest 380 Ribot, Alexandre 407

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Namenregister Ribot, Théodule 143, 272–274, 548– 549 Rickert, Heinrich 15, 181, 482 Ricœur, Paul 17, 26–27, 69, 93, 146, 148, 152–153, 166, 174, 176, 183, 237, 275, 285, 287, 297, 461, 478, 483, 488, 551, 751, 780–781, 791, 818, 843, 868 Riquier, Camille 436, 442, 744, 753– 754 Romanòs, Konstantinos 604 Ronchi, Rocco 12, 27–28, 33, 36, 53, 111, 118, 430–431, 484–485, 488, 496, 499, 506–518, 526–527, 529, 531, 533, 537, 540, 542–545, 548– 549, 553, 555–559, 565, 693–694, 697, 704, 723, 850, 855, 867 Rorty, Richard 558 Rousseau, Jean-Jacques 97–98, 457, 835 Sartre, Jean-Paul 25, 248, 274, 326, 506, 545, 547, 549–550 Saussure, Ferdinand de 173, 222–223, 225, 230, 318 Scheler, Max 245, 567, 579, 581, 588, 604, 701 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 696 Schick, Johannes 816, 825 Schlegel, Friedrich 14 Schleiermacher, Friedrich 14, 78, 106, 275, 318, 358, 703 Schmidt, Jochen 152 Schmied, Gerhard 482, 560 Schnädelbach, Herbert 16 Schopenhauer, Arthur 15, 18, 79, 147, 384, 429, 610, 696, 733, 735–737 Schubbe, Daniel 79, 733, 735, 736 Schütz, Alfred 26 Seigel, Jerrold 565 Simmel, Georg 15, 18, 26, 148–149, 419, 576, 704

Smith, Adam 44 Sokrates 69, 749, 834, 836 Spencer, Herbert 400–401, 404, 436 Spengler, Oswald 15, 390, 866 Spinoza, Baruch de 76, 82, 153, 398– 399, 737 Spinoza, Baruch de:spinozistisch 838 Stengers, Isabelle 122 Stuart Mill, John 289 Taine, Hippolyte 380 Teresa von Avila 391 Thouard, Denis 21–22 Tomasello, Michael 19 Troeltsch, Ernst 23, 26, 219, 246, 380–381, 834 Turner, William 391 Uexküll, Jakob von 206, 210 Vattimo, Gianni 13–14, 17, 36 Vico, Giovanni Battista 116, 674 Vinci, Leonardo da 417–418 Viviani, René 667–671, 673 Vrhunc, Mirjana 178, 186–187, 205, 211, 560 Wagner, Hans-Josef 144–145, 148, 149, 171 Waterlot, Ghislain 82, 880 Weber, Andreas 206 Weber, Max 169, 171 Wellmer, Albrecht 173 Whitehead, Alfred North 212, 557, 739 Worms, Frédéric 142, 300–301, 303, 305, 307, 402, 426, 432, 489, 646, 804 Wundt, Wilhelm 477 Zanfi, Caterina 12, 27 Zenon von Elea 835 Ziolkowski, Theodore 36, 219

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