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German Pages [315] Year 2014
Pöggeler . Philosophie und hermeneutische Theologie
Otto Pöggeler
Philosophie und hermeneutische Theologie Heidegger, Buhmann und die Folgen
Wilhelm Fink
Umschlagabbildung: Brief Bultmanns vom Okt./Nov. 1970 an Heidegger
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Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Ferdinand Schäningh GmbH & Co KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-4403-5
INHALT
EINLEITUNG ................................................................................................
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A. DAS BÜNDNIS BULTMANN-HEIDEGGER ........................................... 31 1. 1. 2. 3. 4.
DIE KONVERGIERENDEN WEGE ................................................................ 34
Erschließung des Heuen Testaments ............................................................ Bultmanns Weg zur "Existenz" .................................................................. Heideggers hermeneutische Phänomenologie ............................................. Der Weg zur Seinsfrage ..............................................................................
35 40 56 78
11. DIE ZUSAMMENARBEIT ............................................................................. 1. Über Luther zu Paulus ............................................................................... 2. Phänomenologie und Theologie......... ....................................................... 3. Die Trennung der Wege ........................................................................... 4. Tragödie, christlicher Glaube, Humanismus .............................................
95 95 105 118 129
B. OFFENBARUNG ALS GESCHICHTE? .................................................... 137
1. 1. 2. 3. 4. 5.
BIBELWISSENSCHAFT ................................................................................ 146
Heinrich Schlier / Hans Hübner: Heidegger und die Bibelwissenschaft..... Hans J onas: Gnosis und W eltverantwoftung ............................................. Ernst Käsemann und seine Erben .............................................................. Bultmanns späte Wege .............................................................................. Reformation der Reformation? Eugen Biser ..............................................
146 156 164 168 194
11. RELIGION UND GESCHICHTE ............ ............................ ........................... 1. Die Wiederkehr von Ernst Troeltsch und Franz Overbeck ........................ 2. Das Erbe Carl Schmitts ............................................................................. Exkurs: Hans Blumenberg und Carl Schmitt....... ................................... ... 3. Europäisierung als Problem (Franz Rosenzweig, Joachim Ritter) ............... 4. Gespräch mit Ostasien .............................................................................. 5. Gnosis in unserer Zeit? Hans Erich Nossack .............................................
198 199 213 236 247 267 272
C. PHILOSOPHIE UND HERMENEUTISCHE THEOLOGIE ...................... 283 1. MIT AUGUSTINUS AUF NEUEN WEGEN (MAx MÜLLER, HANS-GEORG GADAMER) ............................................... 284
H. THEOLOGIE ALS HERMENEUTIK ............................................................... 294 NACHWORT ............................................................................................... 299
EINLEITUNG
Als der Düsseldorfer Geschäftsmann und Schriftsteller Friedrich Heinrich Jacobi 1779 Lessings Nathan erhalten hatte, fuhr er im folgenden Jahr nach Wolfenbüttel. Er suchte dort Lessing durch Goethes Gedicht Prometheus zu provozieren, doch Lessing sah keinen Grund, gegen das Gedicht Stellung zu nehmen. "Die orthodoxen Begriffe von der Gottheit", so sagte Lessing dem Besucher, "sind nicht mehr für mich; ich kann sie nicht genießen. Hen kai Pan! Ich weiß nichts anders." In der Formel Hen kai Pan fand Jacobi Spinozismus, denn Spinoza hatte die Anfangsfrage der frühen griechischen Philosophie nach dem Sein als der Substanz zurückgeholt; Spinozismus aber galt als Atheismus. Doch Jacobi trug gerade durch die Publikation des Gespräches in seinem Spinoza-Buch dazu bei, dass man alsbald von einem Neuspinozismus aus in neuer Weise fromm sein wollte und dass die Formeln dieses Gesprächs in aller Munde waren. Dem Neuspinozismus folgte auch der Weimarer General-Superintendent und Oberhofprediger Herder, als er 1787 "einige Gespräche" unter dem lapidaren Titel Gott veröffentlichte. 1 Ein Dutzend Jahre später redete Schleiermacher über die "Religion"; so gebrauchte er ein Wort, das damals erst seit kurzem von der Philosophie akzeptiert worden war. Vor der Religionskritik der Aufklärung sprachen die Philosophen von Theologie (und das war dann eine Disziplin der Metaphysik) und dazu von officia erga Deum. Wenn Schleiermacher von Religion sprach (von "Religion haben", wie seine romantischen Freunde sagten), dann setzte er Kants Zerstörung der spekulativen Theologie voraus, aber auch, dass die Postulatenlehre aus Kants eigener moralischer Theologie nicht überzeugte. Diese wollte von der Sittlichkeit aus zu der stützenden Forderung nach der Hoffnung auf Unsterblichkeit führen und auf eine Gottheit, die einen Ausgleich dafür gibt, dass im irdischen Leben der Gute nur zu oft der Unterlegene ist. Als Hegel für den Sommer 1821 als Vertreter des philosophischen Lehrstuhls der Berliner Universität ankündigen ließ: "Philosophiam religionis exponet", ging es ihm auch um den Nachweis, dass man gegen Kant und gegen Schleiermacher die spekulative Theologie erneuern und mit der Geschichte verbinden müsse. In seinen Anfängen war Hegel sich noch einig gewesen mit seinem Freund Hölderlin, der im Sinne der neuspinozistischen Tendenzen im März 1801 seinem Bruder schrieb: ,,Alles unendliche Einigkeit, aber in diesem Allen ein vorzüglich Einiges und Einigendes, das, an sich, kein Ich ist, und dieses sei unter uns Gott!" In seinen letzten Entwürfen hat Hölderlin sich von diesen Voraussetzungen gelöst, 1 Zum weiteren Zusammenhang und zur Literatur vgl. Hölderlin und der Deutsche Idealismus. Dargestellt und herausgegeben von Christoph Jamme und Frank Völkel. Stuttgart-Bad Cannstatt 2003. Band 1. S. 320 ff, vor allem 337.
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die vom Anfang der Philosophie und von den jüngsten philosophischen Bemühungen ihm vorgegeben worden waren. So ist GOtt für den späten Entwurf Griechenland nicht derjenige, der als der Verborgene endlich ganz offenbar werden muss, sondern jener, der sich immer neu auch verbirgt, wenn er sich zeigt. Den Menschen zuliebe deckt er sein Antlitz mit einem Kleid, denn er ist der Schreckliche; doch ermöglichen gerade die wechselnden Kleider den Menschen eine Orientierung im Leben. Hölderlin gebraucht hier Vorstellungen, die wir z.B. aus der lutherischen (oder der kabbalistischen) Tradition kennen. 2 So durchbricht Hölderlin den Idealismus. Diesem folgt Schelling noch, wenn er durch eine Philosophie der Mythologie und der Offenbarung die Wahrheit der Religion einholen will, indem er ihre Geschichte philosophisch als eine notwendige konstruiert. Schon ein hegelianisch gebildeter Theologe wie Ferdinand Christian Baur hat diese Konstruktion als peinlich empfunden, weil er in ihr vermisste, was Hegel gesucht hatte: die Aufnahme der neuen historischen Forschung in ihrer Konkretheit. Historisch wollte nun auch die christliche Theologie sein. Auf diesem historischen Wege konnte die Theologie immer neue Aspekte an der überlieferten christlichen Botschaft aufhellen. Sie arbeitete die alten philosophischen Vorgaben ab, doch suchte sie weiterhin Abstützungen in der Philosophie, die dann freilich bald wieder problematisch wurden. Wilhelm Dilthey war von Schleiermacher ausgegangen, doch fragte er in einem späten Fragment seiner Schleiermacher-Studien unter dem Titel Rechnungsabschluss der Gegenwart, ob die Kräfte, die das moderne Leben bestimmen, noch christliche oder überhaupt noch religiöse seien. Wenn der objektive Idealismus Schleiermachers von der christlichen Gemeinde auf die heiligende Kraft ihres Gründers und dessen "Unsündlichkeit" schließe, sei er für uns nicht mehr nachvollziehbar. Wenn der Idealismus der Freiheit von Kant bis Ritschl von der Personalität des Menschen aus zur Personalität Gottes führe, überzeuge er uns nicht mehr. "Wir müssen so vielfach resignieren ... ", schrieb Dilthey abwehrend. Blieb nicht nur eine "Weltfrömmigkeit" als Nachlass der neuspinozistisch geprägten Frömmigkeit der Goethezeit? Diesen Weg ging Eduard Spranger. Diltheys Schwiegersohn Georg Misch suchte nach einer Weltreise in seiner Fibel Der Weg der Philosophie metaphysische Ansätze in den Urworten Brahman, Tao. Logos, doch ließ er mit Sokrates und Platon das Philosophieren in den Wissenschaften beginnen und nahm so die philosophische Logik als Hermeneutik. Diltheys letzte Überlegungen über Religion verwiesen auf etwas anderes: auf die Kräfte der Sektenreligiosität im Pragmatismus Amerikas. 3 Die Theologie hat auch aus sich selbst heraus den philosophischen Rahmen, dessen Erfahrungskreis sie sich hatte einfügen wollen, immer wieder gesprengt. Am Ende des 19. Jahrhunderts entdeckte man neu, welche Bedeutung die Eschatologie für das Urchristentum gehabt hatte, und eben diese Eschatologie 2 Vgl. zu den Gedichtentwürfen die unterschiedliche Auslegung von Cyrus Hamlin und mir: Jenseits des Idealismus. Hölderlins letzte Homburger Jahre (1804-1806). Hrsg. von Christoph Jamme und Otto Pöggeler. Bonn 1988. S. 9 ff., 252 ff. 3 Vgl. Wilhe1m Diltheys Gesammelte Schriften. Leipzig und Berlin, später Göttingen 1914 ff. Band 14. S. 588 ff., zur Eschatologie 513, zu William James und Amerika Band 6. S. 291.
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ließ sich mit dem Idealismus der Schleiermacher-Nachfolge oder der RitschlSchule so wenig vereinen wie mit dem Humanismus und Liberalismus Harnacks. Nach Dilthey war diese Eschatologie abgeschliffen worden, als die christliche Religiosität sich in der Geschichte der europäischen Völker umbildete. Als jedoch im Wintersemester 1920/21 ein junger Freiburger Privatdozent Einleitung in die Phänomenologie der Religion las, fand er in der Eschatologie der Paulinischen Briefe das Modell jenes "faktischen Lebens", das "historisch" sei und in der religiösen Dimension zu seinem Ursprung zurückstrebe. Martin Heidegger verwies auf den ältesten Text des Neuen Testaments, den ersten Thessalonicher-Brief des Apostels Paulus mit seiner Rede vom Augenblick, in dem die Posaune ertönt und Tote wie Lebende unter das Gericht gestellt werden. Dieser Augenblick wird "plötzlich" über die Menschen kommen; die Wiederkehr Christi kann nicht chronologisch auf bestimmte Zeiten festgelegt werden. Heidegger notiert: "kein objektiv gleichgültiges Wann; kairos entscheidend". Die Philosophie könne nicht wissen, ob die konkrete christliche Interpretation des Lebens die richtige sei; aber sie müsse mit dieser Möglichkeit rechnen und der kairologischen Ausrichtung des Lebens gerecht werden. Was wird jedoch aus der Philosophie, die der menschlichen Selbstbesinnung eine allgemeine Verbindlichkeit geben soll, wenn sie ausgerichtet wird auf eine einmalige Situation und den unverfügbaren Augenblick? Die Philosophie muss zu einer Hermeneutik werden, die einweist in die Dimensionen des Lebens und deren Strukturen; sie muss auch zur religiösen Dimension führen, ohne jedoch selbst über einen Sinn des Lebens von allgemeinen Einsichten her verfugen zu können. 4 Heidegger übernahm in seinen frühen Vorlesungen jenen philosophischen Neuansatz, den Husserl "Phänomenologie" nannte und von jeder voreiligen traditionellen Bestimmtheit freihalten wollte. Heidegger sprach jedoch von einer "hermeneutischen" Phänomenologie. Er selbst hat darauf hingewiesen, dass er die Rede von der Hermeneutik im Theologiestudium kennen lernte, dass er sie dann bei Dilthey wiederfand und dazu bei Schleiermacher, von dem Dilthey ja ausgegangen war. 5 Für den Sommer 1923 kündigte Heidegger Ontologie an, gab dann aber der Vorlesung den Titel "Hermeneutik der Faktizität". Zwei Kunstworte, die um 1600 von griechischen Worten aus gebildet worden waren, traten hier zusammen: das längst rezipierte Wort "Ontologie" und das Wort "Hermeneutik", das in diesem Zusammenhang ungewöhnlich war. Wenn die Hermeneutik auf Faktizität bezogen wurde, dann wurde ganz ungriechisch der Vorrang des Dass vor dem Was angesetzt. Der Gegensatz zwischen Normativität und Faktizität war Thema im Neukantianismus. Dass diese Faktizität historisch sei, war in der christlichen Theologie betont worden, etwa im "verbum caro factum est". Auch Dilthey sprach von der Faktizität, die dann dogmatisch ausgelegt worden sei. In4 Vgl. Martin Heidegger: Phänomenologie des religiösen Lebens (Gesamtausgabe Band 60). Frankfurt am Main 1995. S. 150. 5 Vgl. Martin Heidegger: Unterwegs zur Sprache. Pfullingen 1959. S. 96 ff., 121 f. - Vgl. dazu Otta Pöggeler: Schritte zu einer hermeneutischen Philosophie. Freiburg / München 1994. S. 12 ff.
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dem Heidegger dieses Auslegen übernahm, kritisierte er zugleich die Geschichte der Hermeneutik: Schleiermacher und Dilthey haben bei der universalen Ausweitung der Hermeneutik zu einer neutralen Methode übersehen, was die reformatorische Hermeneutik zur Geltung gebracht hat - den Bezug alles Auslegens auf die Anwendung in einer endlich-geschichtlichen Situation. Heidegger entfaltete seinen hermeneutischen Ansatz immanent-philosophisch in der Auseinandersetzung mit dem Neukantianismus sowie mit Dilthey und Husser!. Er konnte über einen Theologen und Philosophen wie Ernst Troeltsch hinausgehen, weil er mit damaligen theologischen Außenseitern die eschatologischen Tendenzen im Urchristentum betonte. So musste er die Hermeneutik dazu fähig machen, auch für diese möglichen Konkretisierungen des Daseins den Raum zu öffnen. Doch bleibt es überraschned, dass Sein und Zeit handstreichartig die Begriffe "Schicksal" und "Geschick" einführte. 6 Heidegger war zwar nicht den Philosophen und Wirtschaftswissenschaftlern wie Werner Sombart gefolgt, die in der deutschen Variante der "Kriegsphilosophie" den Ersten Weltkrieg als Auseinandersetzung der (deutschen) "Helden" mit den (englischen) "Händlern" sahen. Doch wollte auch er einen spezifisch deutschen Weg gegen den "Westen" verteidigen. Dabei musste wichtig werden, dass die Deutschen seit Winckelmann und Hölderlin ein eigenständiges Verhältnis zu den Griechen gewannnen. So ließen sich die leitenden Themen der antiken Tragödie nicht mehr in der Weise aufnehmen, wie es Racine oder Corneille getan hatten. In seinen Denkbemühungen brach Heidegger eingeschlagene Wege vorzeitig ab. Die Aristoteles-Studien bevorzugten eine Hermeneutik, die neben das Urteil andere Satzformen wie die Bitte stellt. Musste dieser Weg nicht zu der Frage führen, in welcher Weise die Polis ihre Entscheidungen in Gesprächen erörterte, die Hermeneutik sich so mit der Rhetorik verband? Die rhetorische Tradition, von Platon als Sophistik eher kritisiert, war von Cicero und Vico weitergeführt worden. Heideggers Weg zu den Griechen mit Nietzsche und Hölderlin schloss aber aus, mit dem Neapel Vicos sich für die verschiedenen Traditionen im mittelmeerischen Raum zu öffnen. Sprach man Heidegger gegenüber von Vi co , dann wurde dieser von ihm schon deshalb abgelehnt, weil er lateinisch und italienisch geschrieben hatte.? Hier dachte Heideggers Schüler Hans-Georg Gadamer anders. Gadamer hatte 1923 Heideggers Vorlesung über Ontologie oder Henneneutik der Faktizität gehört. Fast vierzig Jahre später brachte er Heideggers Kritik der Hermeneutik von Schleiermacher und Dilthey in eine Reflexion auf die Arbeit der Geisteswissenschaften ein. So öffnete er sich auch für die rhetorische Tradition, mochte sein Bezug auf Vi co auch noch zu eng sein. Wenn Gadamers Hauptwerk 6 Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit. Halle 1927 u.ä. S. 384; zum folgenden vgl. zu Kierkegaards Platon-Umdeutung Otto Päggeler: Heidegger in seiner Zeit. München 1999. S. 61 ff. 7 Vgl. Otto Päggeler: Heidegger' s Restricted Conception of Rhetoric. In: Heidegger and Rhetoric. Ed. by Daniel M. Grass and Ansgar Kemmann. State University of New York 2005. S. 161 FE; Otto Päggeler: Vico und die humanistische Tradition. In: Humanität und Bildung (Festschrift für Cl.emens Menze). Hrsg. von J. Schurr, K.H. Braecken und R. Braecken. Hildesheim 1988. S. 46 ff.
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Wahrheit und Methode von 1%0 gleich am Anfang die humanistische Tradition für die Geisteswissenschaften herausstellt, führt der Weg von Dilthey und Hegel zum Begriff des Gemeinsinns. Diesen Gemeinsinn habe Gian Battista Vico einem einseitigen Cartesianismus gegenüber verteidigt. Vico war Lehrer jener Rhetorik, die von Platon kritisiert worden war. Vico, der nach Gadamer der Aristotelischen Tradition folgte, blieb aber christlicher Platoniker. Er setzte voraus, dass Sprache auf das Gespräch der Geschichte antwortet und in dieses geschichtlich Überkommenes wie die mythische Tradition als auch einzelwissenschattlich Gewonnenes einfügt. Für Gadamer war so in den Arbeiten zur Fortsetzung von Wahrheit und Methode die Zuwendung zur rhetorischen Tradition vorgezeichnet. Muss man nicht darauf bestehen, dass Nietzsche (zusammen mit Marx und Freud) entschiedener als Dilthey eine Hermeneutik entfaltet hat, die im Leben und in den Mächten der Geschichte verwurzelt ist? Im Horizont dieser Frage wurde Gadamer in eine Auseinandersetzung mit Jacques Derrida gezwungen. Dieser war vom kritischen Gespräch mit Edmund Husserl und mit Emmanuel Levinas ausgegangen. Gadamer hat im hohen Alter seine Studien über Platon, die er so früh begonnen hatte, auf neue Wege gebracht. Dabei wandelte sich die philosophische Hermeneutik zu einer hermeneutischen Philosophie. 8 Gadamer spielte nun nicht mehr (wie in seiner Marburger Zeit im Gefolge Heideggers) die Nikomachische Ethik des Aristoteles gegen Platon aus; er fasste Platon und Aristoteles eher als Einheit und band leitende Grundbegriffe aus Platons Spätphilosophie zusammen, indem er das der Sache der Philosophie Angemessene in das Gemessene, das Geziemende, den günstigen Augenblick und das, was man soll, gliederte. Gadamer sah nicht mehr (wie in Wahrheit ind Methode) seinen Gegenspieler in Oskar Becker. Dieser Mitschüler Heideggers bei Husserl hatte einst (in seinem Beitrag zur Husserl-Festschrift von 1929) Platon mit der Deutschen Romantik verbunden. Er hatte seinen Ausgang von den Gebilden der Mathematik und den Tiefen der Natur, wie die Psychoanalyse sie erschloss, dem Verstehen von Geschichtlichkeit und Geschichte entgegengestellt. Gadamer konnte in seiner späten hermeneutischen Philosophie diesem Ansatz seinen Platz in der Ausgestaltung des Gemessenen geben. Platon, der angebliche Feind der Dichter, gab die Grundbegriffe her für die Erfassung der Kunst und der Dichtung wie auch der Moralität. Das Wahrscheinliche (eikos) aus der Rhetorik trat so zwar nicht mit dem Neutrum eidos, aber mit dem Femininum idea zusammen. Gadamer hat beachtet, dass die Geschichte Israels jeweils ganz anders gesehen wird, wenn ein jüdischer Theologe, ein christlicher Theologe oder ein säkularisierter Israeli sich ihr zuwendet. Er konnte Parallelen zu seinem Denken bei jenen Schülern Rudolf Bultmanns finden, die - wie Gerhard Ebeling - Bultmanns Anliegen in der Geschichte verwurzelten. Eine Parallele schien auch in der heilsge8 Vgl. Octo Päggeler: Ein Streit um Platon: Heidegger und Gadamer. In: Platon in der abendländischen Geistesgeschichte. Hrsg. von Theo Kobusch und Burkhard Mojsisch. Darmstadt 1997. S. 241 ff. - Zum folgenden vgl. Otto Päggeler: Phänomenologie und philosophische Forschung bei Oskar Becker. In: Die Philosophie und die Wissenschaften. Zum Werk Oskar Beckers. Hrsg. von Annemarie Gethmann-Siefert und Jürgen Micteistraß. München 2002. S. 13 ff., 227 ff.
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schichtlichen Deutung des Alten Testamentes aufzuscheinen. Sie wurde von Gerhard von Rad der historischen Einordnung des Alten Testamentes in die Geschichte Vordersasiens, wie Martin Noth sie gegeben hatte, entgegengestellt. Diese Zuwendung zur Vorgeschichte der Geschichte Europas zeigt heute Kontroversen, die noch nicht ausdiskutiert worden sind. Das gilt auch für große Gestalten wie Moses und Paulus, die weltgeschichtliche Einschnitte markieren. Jan Assmann hat vielfach dargestellt, dass Echnaton in Ägypten eine Reform versuchte; eine zufällig auftretende Pest wurde dem Herrscher angerechnet und ihm so zum Verhängnis. Doch legte Moses der Ägypter das Gesetz den Israeliten auf. Israel bleibt in dieser Sicht im Gefolge von Ägypten, dessen Innovationen schließlich zur modernen Demokratie und zum modernen Rechtsstaat führten. Eine Auszeichnung Israels und dann der Antisemitismus mit seinen schrecklichen Folgen ist folglich ein Missverständnis. Eric Voegelin folgte in seinen Werken zur Geschichte der politischen Ideen eher der Bibel, in der Israel im Zuge durch die Wüste am Sinai von Moses die Gesetzestafeln aus der Hand Gottes erhält. Rudolf Bultmann orientierte sich an Voegelin, ohne die Kritik an ihm zu beachten. In jedem Fall setzt diese positive Erörterung Ägyptens einen Paradigmenwechsel voraus, der Heideggers Ausgang vom Gespräch der Deutschen mit den Griechen und Bultmanns Korrektur der griechischen durch die christliche Geschichtserfahrung hinter sich zurücklässt. 9 Hans-Georg Gadamer hatte sich mit der Deutung der Duineser Elegien durch den katholischen Theologen Romano Guardini aueinandergesetzt. Er wurde dadurch stärker bekannt, dass er ein kritisches Gespräch mit der neomarxistisch geprägten Philosophie und Soziologie von Jürgen Habermas, dem "roten Guardini", suchte. Habermas hatte das hermeneutische Verstehen überbieten wollen durch ein Erklären, das in der Psychoanalyse wie in der Ideologiekritik ein falsches Bewusstsein entlarvt. lO Weil es auch Karl-Otto Apel um breitere Wirkung ging, schloss er sich in den Jahren um 1968 Jürgen Habermas an. Hingewiesen sei auf seine Abhandlung Szientistik, Hermeneutik und Ideologiekritik, zuerst 1966 als Vortrag in Göteborg gehalten. Auch Apel sucht ein emanzipatorisches Interesse, das überlieferte Unmündigkeit hinter sich lassen soll. Doch kann Philosophie nicht beanspruchen, eine wissenschaftliche Weltanschauung zu geben, die dann gegebenenfalls durch die staatliche Macht (wie in der einstigen Sowjet-Union) verordnet und installiert wird. Sie gibt sich aber auch nicht in westlicher Weise zufrieden mit der funktionalen Aufteilung des Erkennens nach einem öffentlichkeitsbezogenen, technisch regulierbaren Bereich und einem existenziell-privaten. Apel strebte dann (auch gegen Habermas) von der Hermeneutik, der analytischen Philosophie und der Ideologiekritik zurück zu einer Transzendentalphilosophie
9 Vgl. Otto Pöggeler: Braucht Theologie Philosophie? Von Bultmann und Heidegger bis Voegelin und Assmann. Paderborn 2007. S. 24 ff. 10 Vgl. zum Verhältnis Gadamer-Habermas auch Jean Grondin: Hans-Georg Gadamer. Eine Biographie. Tübingen 1999. S. 338 ff. - S. auch Anm. 370.
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im Sinne Kants und des Deutschen Idealismus. Doch blieb ihm die Aufgabe fremd, Hegel von seinen Motiven her neu zu erschließen. 11 In der Zeit, in der Gadamer sein Buch Wahrheit und Methode vorlegte, arbeitete in Frankreich Paul Ricoeur von einer Phänomenologie des Wollens her eine Phänomenologie der Religion aus. Indem Ricoeur nach der Fehlbarkeit des Menschen fragte, lernte er zuzugestehen, dass der griechische Begriff der Hybris und der christliche Begriff der Sünde unterschiedlichen geschichtlichen Ansätzen folgen, die nicht voreilig auf ein einheitliches Wesen zurückgeführt werden dürften. Phänomenologie wurde hermeneutisch; doch zu der reflektierten Wiederherstellung des Sinns in der Religionsphänomenologie, der Mythenforschung und der biblischen Exegese trat die Hermeneutik des Verdachts, wie sie als Ideologiekritik von Marx, Nietzsehe und Freud entfaltet worden war. Erst der so entstehende Konflikt der Interpretationen machte damit ernst, dass jedes Symbol zum Idol pervertiert werden kann. Indem die Hermeneutik in ihrer vieldimensionalen Universalität und philosophischen Radikalität gegenüber anderen Ansätzen verteidigt wird, kommt es zur Ausbildung einer hermeneutischen Philosophie. Dabei muss diese Philosophie ihren eigenen Ansatz als einen geschichtlichen verstehen und in eine fortschreitende Geschichte einfügen. 'l Diese neuen Wege des Philosophierens blieben Heidegger und Bultmann fremd. Bultmann musste nicht nur erfahren, dass Schüler wie Heinrich Schlier und Ernst Käsemann auch in der Theologie andere Wege gingen als er selbst; sein Ausgang von der Existenz oder der Geschichtlichkeit des Daseins sollte grundsätzlich überholt sein. Schüler des Heidelberger Alttestamentlers Gerhard von Rad veröffentlichten 1961 unter der Führung von Wolfhart Pannenberg einen Sammelband mit dem provozierenden Titel Offinbarung als Geschichte. Geschichtlichkeit und Existenz überhaupt wurden eingebettet in die fortgehende Geschichte, auf die das Alte Testament exemplarisch verwies. Bultmann fragte durchaus, wie die "alttestamentliche Tradition" das "christliche Abendland" geprägt habe. Die Rede von der Abfolge der Reiche bei Daniel z.B. habe auf die Weltgeschichte hingedeutet, die für die Griechen kein Thema gewesen sei. Bultmann wies darauf hin, dass "die Arbeit der jüdischen Religionsphilosophie (Maimonides u. a.)" bedeutsam war für die Scholastik. Man brauche nur an Rembrandt zu erinnern, um zu sehen, welchen Reichtum an Motiven die Kunst und die Dichtung aus dem Alten Testament empfangen hätten. 13 Es kommt Bultmann aber nicht in den Sinn, mit Buber oder gar mit Gershorn Scholem zu fragen, wie 11 Vgl. Karl-Otto Ape!: Szientistik, Hermeneutik und Ideologiekritik. Entwurf einer Wissenschaftslehre in erkenntnisanthtopologischer Sicht. In Karl-Otto Ape!: Transformation der Philosophie. Band Ir. Frankfurt am Main 1973. S. 96 ff. - Dazu kritisch Otto Pöggeler: Erklären Verstehen - Erörtern. In: Transzendentalpragmatik. Ein Symposion für Karl-Otto Apel. Hrsg. von A Dörschel, M. Kenner, W. Kuhlmann und M. Niquet. Frankfurt am Main 1993. S. 419 ff. 12 Vgl. Andris Breitling: Möglichkeitsdichtung - Wirklichkeitssinn. Paul Ricoeurs hermeneutisches Denken der Geschichte. München 2007. 13 Vgl. Bultmanns Vortrag von 1950: Die Bedeutung der alttestamentlich-jüdischen Tradition für das christliche Abendland. In RudolfBultmann: Glauben und Verstehen. Zweiter Band. 6. Auf!. Tübingen 1993. S. 236 ff.
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die jüdische Mystik in immer neuen Ansätzen ein Verständnis des Lebens gerade in den Zeiten der Verfolgung entwickelte. Es liegt ihm bei aller Nähe zu jüdischen Freunden offenbar fern, jüdische Religiosität als eine gegenwärtige zu nehmen. Bei Heidegger kann man beobachten, wie er das Alte Testament mehr und mehr aus dem Geschichtsverständnis ausschloss. Wenn er auf den Lyriker Paul Celan aufmerksam wurde und sich mit ihm traf, blieb es ihm ganz fremd, dass Celan eigene Motive für das Leben in der Zeit des Holocaust mit Hilfe der jüdischen Mystik ausbildete, deren Geschichte Gershom Scholem geschrieben hatte. Doch ließ Heidegger sich schon seit seiner frühen Freiburger Lehrtätigkeit durch japanische Gäste anregen, den Zen-Buddhismus und mehr noch den Taoismus Laotses als Partner seines Denkens zu nehmen. Auf diese Bemühungen ließ Rudolf Buhmann sich nicht ein. Will man aber den westlichen Weg zur Theologie "hermeneutisch" in das Gespräch mit den Kulturen stellen, dann muss man beachten, in welcher Weise sich der Buddhismus in eine Distanz zum Gottesbegriff bringt. Keiji Nishitani aus der zenbuddhistischen Kyöto-Schule hat um 1%0 Arnold Toynbees Dictum aufgenommen, der entscheidende Gegensatz in der Welt sei nicht der Streit zwischen dem Liberalismus des Westens und dem Kommunismus des Ostens, sondern die Kluft zwischen den Ideologien und Religionen "westlich-judaischen" Ursprungs und der "buddhaischen" Gruppe. Der Weg von der altiranischen Religion mit der Unterscheidung zwischen gut und böse und der Herausstellung des Sollens über das Jüdische und das Griechische zur europäischen Neuzeit wird dabei kritisch auf ein selbstsüchtiges Auslangen nach dem Heil und dann auf ein Umsichkreisen festgelegt. 14 Die "Globalisierung" hat als wachsende Verflechtung der Welt neue Aufteilungen des Globus im ganzen gebracht. Dabei ging es dann weniger um den Gegensatz zwischen West und Ost als um das Nord-Süd-Gefälle zwischen den hochindustrialisierten Gesellschaften und den sog. "unterentwickelten" Völkern. Doch setzte sich schließlich ein anderer akuter Krisenzustand durch. Der Islam war in der Geschichte mehrfach nahe daran, Europa zu überrennen. Noch mit Averroes hielt er eine führende Position, der sich nicht nur die europäische Scholastik, sondern auch das Judentum unter Maimonides anschließen konnte. Da der Islam nicht wie Europa aus dem Glauben heraus eine vernunftrechtliche Ordnung des menschlichen Zusammenlebens und eine technische Verfügung über alles Gegebene entwickelte, wurde er in der Moderne mehr und mehr in Bedeutungslosigkeit abgedrängt. Die islamischen Völker haben im Vorderen Orient auf ihren Gebieten große Schätze an Öl, das von der Welt gebraucht wird. Einzelne Familien kommen vor allem in Saudi-Arabien - zu großen Reichtümern; die einfachen Menschen darben, zumal die nötigen Arbeiter oft aus dem Ausland angeworben werden. Die USA haben die Ölindustrie der Welt weitgehend unter ihrer Kontrolle; oft sind die Politiker in den USA selbst Ölmillionäre. So wird den Amerikanern vorge14 Vgl. Keiji Nishitanis populäre Vorlesung Was ist Religion? Frankfurt am Main 1982. S. 310, 333 ff.
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halten, dass sie durch ihre Macht schlimme soziale Zustände in den vorderorientalischen Ländern auf Dauer stellen. Amerika wird zum Hauptfeind jener, die auf Änderungen aus sind; Israel, technologisch und wirtschaftlich reich ausgestattet, gilt als Speerspitze Amerikas. Den Ohnmächtigen bleibt die Möglichkeit, mit ihren geringeren Mitteln dem Feind großen Schaden zuzufügen; das geschieht im Terrorismus. So wurde nach verschiedenen Versuchen am 11. September 2001 das World Trade Center in New York als Symbol kapitalistisch-imperialistischer Macht in Schurt und Asche gelegt; dreitausend Tote wurden in Kauf genommen. Jetzt geht es nicht mehr (wie in den siebziger Jahren bei der RAF in der Bundesrepublik Deutschland) um den Tod führender Politiker und Wirtschaftsführer. Der massenhafte Tod Unschuldiger soll die einzelnen Länder in die Knie zwingen und ausscheren lassen aus der Verbindung mit den USA. Die Anschläge reichen von den Philippinen über den Vorderen Orient bis nach Amerika. Die USA haben den Feind überraschender Weise auch im eigenen Land. Wenn Selbstmordkommandos das eigene Leben opfern, dann sind über die wirtschaftlichpolitischen Zusammenhänge hinaus religiöse Dimensionen im Spiel. Das spiegelt sich auch darin wieder, dass von amerikanischer Seite aus von "Schurkenstaaten" gesprochen wird, andererseits in der islamistischen Propaganda die USA und Israel als der große und der kleine "Satan" dargestellt werden. 15 Zu Recht hat man den Ersten Weltkrieg die Ur-Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts genannt. Da Europa sich nicht mehr auf eine übergreifende Ordnung verpflichtet wusste, fielen die Nationen übereinander her. Die führenden deutschen Philosophen rechtfertigten den Krieg. Wenigstens kurzzeitig tat das auch Max Scheler; in Frankreich tat es Bergson, dessen jüdische Familie leicht auch in einem anderen europäischen Land hätte leben können. Mit dem Kriegseintritt der USA wurde der Krieg 1917 zu einem wirklichen Weltkrieg. Der Zweite Weltkrieg hatte dann seine Zentren in Europa und Ostasien. In den Nachkriegsjahren führte das unaufhaltsame Ende des Kolonialismus in Algerien wie in Vietnam zu Partisanenaktionen. Wenn der Schriftsteller Rolf Schroers im Partisanen die Leitfigur des zwanzigsten Jahrhunderts sah, dann folgte er so gegensätzlichen Freunden wie dem deutsch-jüdischen Lyriker Paul Celan und dem Juristen Carl Schmitt. Er schloss seine Darstellung mit dem (von Celan übersetzten) Tagebuch, in dem Rene Char als französischer Widerstandskämpfer gegen die deutschen Besatzer vorweg den erledigen wollte, der vielleicht zum Verräter werden konnte. Auf dem blutgetränkten Boden sollte wieder "Heimat" gewonnen werden. Berühren sich da - im Anruf von Blut und Boden - nicht die Auffassungen der politischen Gegner? Es kommt zu Parallelen mit dem Denken von Heidegger und von Adorno, wenn bei Schröers der Widerstand schließlich gegen die alles nivellierende technische und "verwaltete" Welt gerichtet wird. 16 In 15 Vgl. Herfried Münkler: Über den Krieg. Stationen der Kriegsgeschichte im Spiegel ihrer theoretischen Reflexion. Weilerswist 2002. - Vgl. auch Victor und Victoria Trimondi: Krieg der Religionen. Politik, Glaube und Terror im Zeichen der Apokalypse. München 2006. 16 Vgl. Rolf Schroers: Der Partisan. Ein Beitrag zur politischen Anthropologie. Köln / Berlin 1951. S. 340 ff., 69 ff.
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den kirchlichen Akademien Deutschlands wollte man damals frühere Schranken überwinden und Christen mit Marxisten zusammenbringen zur gemeinsamen Verehrung dessen, was man als die andere Zukunft erstrebte. Vom Barthianismus blieb dann nur das politische Engagement; jedenfalls waren Religion und Politik verflochten. Von Ernst Bloch her wurde in diese Verflechtung das utopische Denken eingebracht (so von Jürgen Moltmann). Die Leitfigur des Partisanen enrwickelte sich zum Terroristen, als der konkrete Bezug und die Bindung an einen bestimmten zu verteidigenden Boden verloren gingen. Die Terroristen nutzen die welrweite Verflechtung der Städte und Länder durch den Luftverkehr. So gibt es Aktionen auf den Philippinen und in Sri Lanka, in Vorderasien und in Mrika, in Madrid und Mittelamerika. Wenn auch amerikanische Truppen im Irak folterten, war der Westen überhaupt diskreditiert. Die Kämpfe im Kaukasus konnten übergreifen auf Moskau. Ist es Einsicht, wenn der Libyer Gaddafi sich dem Westen andient? Jedenfalls ist Fidel Castro auf Kuba zu einem Relikt vergangener Zeit geworden. Doch bleibt offen, wie erwa von Venezuela aus sein Widerstand gegen die USA aktualisiert werden kann. Die Bedrohung unschuldiger Menschen ist jedenfalls allgegenwärtig auf der Welt. Sie ist eng verbunden mit religiösen Motiven. Wer die Bedeutung der Religion erörtert, kann von dieser Verbindung nicht mehr absehen. Kurt Hübner ist von wissenschaftstheoretischen Arbeiten weitergegangen zur Frage nach der Bedeutung von Mythos, Religion und Kunst in der Geschichte. Er hat seinem abschließenden Lebenswerk Glaube und Denken (Tübingen 2001) 2003 ein Buch Das Christentum im Wettstreit der Weltreligionen nachgeschickt. Dort entfaltet das letzte Kapitel Die Frage der religiösen Toleranz aus christlicher Sicht noch einmal die leitenden Überzeugungen: Wissenschaftliche Arbeit bleibt hypothetisch; der eine Ansatz kann durch andere Ansätze ersetzt werden. So ist Toleranz eine selbstverständliche Forderung. Mythos und Religion suchen dagegen den Zugang zu einem Absoluten. Der christliche Glaube bezieht sich aber nicht mehr auf eine nationale Tradition, sondern auf die Menschheit als ganze. Statt einer christlichen Kultur kann es nur eine christlich beeinflusste Kultur geben. Sie muss anderen Religionen gegenüber Toleranz üben. Lessings berühmte Ringparabellasse zu Unrecht den Glauben überhaupt aus Gewohnheit und Geschichte hervorgehen. Die Aufklärung selbst bedürfe einer Aufklärung. Freilich ist Kurt Hübner auch der Auffassung, dass die Kirchenväter mit ihrer philosophischen Aufarbeitung des Glaubens das zur Klarheit führten, was in den Evangelien noch unklar blieb oder gar widersprüchlich überliefert wurde. Hübner beruft sich aufIgnatius von Antiochien und Irenäus von Lyon für die Auffassung, dass die Lehre von der Jungfrauengeburt gerechtfertigt sei, weil der Sohn Gottes nicht der kontingenten irdischen Kausalität verhaftet sein könne. l ? In einem Anhang geht Hübner ein auf S. P. Huntingtons Buch The Clash 0/ Civilisations von 1996. Danach ließ der einstige Kolonialismus bei den unterworfenen Völkern deren Religion weitgehend unangetastet. Heute durchdringt 17 V gl. Kurt Hübner: Irrwege und Wege der Theologie in die Moderne. Augsburg 2006. S. 289 f.
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die westliche Kultur alle Lebensbereiche. So sucht sich in Asien und Afrika eine fundamentalistische Rückwendung zum Eigenen vor dem Verlust der überkommenen Identität zu retten. Der Sieg des freien Westens über Faschismus und Kommunismus hatte die Hoffnung geweckt, dass die Selbstbestimmung der Menschen und Völker sich durchgesetzt habe. Diese Hoffnung sei durch den 11. September 2001 so zerstört worden wie einst der Optimismus der Aufklärung durch das Erdbeben von Lissabon 1755. Hübners Schüler Werner Theobald hat eine Bestandsaufnahme Der 11. September und die Philosophie. Versuch einer Hermeneutik des Terrors vorgelegt. Mohammed Atta steuerte als Todespilot das eroberte Flugzeug auf das Welthandelszentrum. Er hinterließ in einem Koffer, der nicht rechtzeitig verladen wurde, Auszüge aus einer Anleitung für Selbstmordattentäter. Darin heißt es: "Parfümiere und wasche deinen Körper ... Du bist nur einen kurzen Moment entfernt vom ewigen Leben der Märtyrer. Töte, pflanze die Angst in die Herzen der Ungläubigen!" Katastrophenfilme aus Hollywood hatten "libidinös" auf den 11. September vorbereitet; so bekam (nach Slavoj Zisek) Amerika das, wovon seine Phantasie geträumt hatte. Huntingtons These vom Zusammenprall der Kulturen wurde aufgenommen. Es wird betont, dass die westliche Kultur Gewalt gegen andere Kulturen sei (Waldenfels). In andrer Richtung heißt es, im Islam gebe es etwas, "das gar nicht oder nur mit Mühe mit uns vergleichbar" sei (Gadamer). Doch wird auch geleugnet, dass Großräume auf der Erde durch religiöse Unterschiede voneinander getrennt seien (Höffe) oder im Konflikt lägen (Vossenkuhl, Lübbe). Es wird bestritten, dass der 11. September mit der Religion zu tun habe (statt mit gesellschaftlichen Strukturen; Boris Groys). Jürgen Habermas konzediert, dass der Modernisierungsprozeß die Religionen an den Rand dränge und viele ihrer Lebenswurzeln beraube. 18 Muss nicht danach gefragt werden, wie Hegel zusammen mit Karl Marx die Kräfte zur Mobilisierung der Geschichte entfesselte und so zur russischen wie zur chinesischen Revolution beigetragen hat? Deutsche, russische und chinesische Autoren sprachen im Dezember 1996 auf einer Tagung des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover über Die Folgen des Hegelianismus. Peter Koslowski, der Herausgeber der Vortragsreihe, hielt fest, dass nicht nur Hegels Kritik der Romantik beachtet werden müsse, sondern auch umgekehrt die Kritik der Romantiker an der Gefährdung und den Fehlansätzen des Deutschen Idealismus. Das Denken Franz von Baaders wurde zur Spätphilosophie Schellings gestellt. "So hat beispielsweise Baader auf die Überziehung des Systemanspruchs im Denken Hegels und auf die Inhumanität des Hegelschen Gedankens hingewiesen, dass für den Zweck der Verwirklichung der Idee in der Geschichte Individuen, ja ganze Klassen und Nationen geopfert werden. Schelling hat die mangelnde Vermittlung zwischen der Empirie der Geschichte und der Offenbarung einerseits 18 Vgl. Werner Theobald: Der 11. September und die Philosophie. Versuch einer Hermeneutik des Terrors. In: Philotheos 4 (2004). S. 145 ff. - Vgl. auch Information Philosophie 2001 (5) und 2002 (1).
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und den Ansprüchen der metaphysischen Logik andererseits in der Hegel-Kritik seiner Philosophie der Offenbarung aufgezeigt. "19 Sicherlich muss in diesen Erörterungen danach gefragt werden, was die Philosophie zu den Problemen der heutigen Welt zu sagen hat. Dabei muss die Philosophie trotz der Rede von der Überwindung der Metaphysik oder von einer postmetaphysischen Situation auch als Metaphysik gefasst werden. In einem Kolloquium, das "Herausforderungen und Möglichkeiten" der Metaphysik behandelte, hat Peter Koslowski sich dagegen gewandt, dass man in der Nachfolge von Ferdinand Christian Baur den Deutschen Idealismus als jüngste Form der Gnosis fasse. Er hat auch dem späten Schelling Franz von Baader entgegengestellt, der die Weltreligionen nicht vorschnell auf die jüdisch-christliche Tradition und das europäische Miteinander von Metaphysik und Religion beziehe. Wie Religion sich faktisch in der Geschichte zeige, könne nicht mit metaphysischen Prinzipien festgelegt werden. lo Dieser These folgte das Projekt Diskurs der Weltreligionen, das auf der Weltausstellung 2000 in Hannover vorgestellt und in fünf Bänden publiziert wurde. Damit war die Weise in Frage gestellt, in der Martin Heidegger die geistige Überlieferung auf neue Wege hat führen wollen. Seit dem Winter-Semester 1929/30 suchte er in einer neuen Zuwendung zu Nietzsehe und dann zu Hölderlin die abendländische Geschichte zur Entscheidung zu stellen. In der Vorlesung vom Sommer 1936 interpretierte er Schellings Abhandlung Über das Wesen der menschlichen Freiheit mit ihrer "Metaphysik des Bösen" als Gipfel des Deutschen Idealismus und wichtigsten Schritt von Leibniz zu Nietzsehe. Schelling unterschied den Grund in Gott von seiner Existenz als dem, was er selbst ist. In der Liebe, die sich der Liebe Gottes anheimgibt, muss die Existenz den Grund eigens übernehmen, damit er sich nicht in sich selbst verschließt und so zum Bösen führt. In den nachfolgenden Jahren hat Heidegger entfaltet, was er Seinsgeschichte nennt: Das Sein wird bei Platon vorgestellt und so zur Idee; wenn dieses Vorstellen in der Neuzeit als Ausgangspunkt des Denkens genommen wird, meldet sich in ihm das Wollen. Dieses sucht sich auf sich zu stellen und den Willen zur Macht durch die Lehre von der ewigen Wiederkehr jeder Relativierung zu entziehen. Als Heidegger sich im Sommer 1941 erneut Schelling zuwandte, wurde Schellings Philosophieren eingeebnet in die "Seinsgeschichte". Das Ringen um die Bedeutung Schellings musste so gegen Heideggers verkürzenden Zugriff entwickelt werden. Fehlt der Spätphilosophie Schellings die Logik, die grundlegende Begriffe wie Essenz und Existenz erst klärt, ehe von ihnen her eine negative und positive Philosophie unterschieden werden (wie Klaus Düsing darlegte)? Oder hat 19 Vgl. Die Folgen des Hegelianismus. Philosophie, Religion und Politik im Abschied von der Moderne. Hrsg. von Peter Koslowski. München 1998. S. 8. - In diesem Zusammenhang wurde auch meine Bonner Dissertation von 1955/56 neu und erweitert publiziert, die das Gegeneinander zwischen Hegel und der Romantik von Baader her auffasst: Hegels Kritik der Romantik. München 1998. 20 Vgl. Metaphysik. Herausforderungen und Möglichkeiten. Hrsg. von Vittorio Hösle. StuttgartBad Cannstatt 2002. S. 133 ff.
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Schelling diese Logik durchaus entfaltet (wie Xavier Tilliette annahm)? In jedem Fall muss erneut erörtert werden, wie Hegel vor allem in seiner Phänomenologie des Geistes, Schelling in seiner Freiheitsschrift und Heidegger im Bezug auf Hegel und Schelling die philosophische Tradition aufnehmen. 2l Musste nicht überhaupt die Auffassung davon revidiert werden, welche philosophischen, theologischen und politischen Bemühungen jeweils repräsentativ für ihre Zeit waren? Inzwischen hat sich eine neue und breite Aufmerksamkeit dem Werk und dem Wirken von Ernst Troeltsch zugewandt. Seine theologische Arbeit, seine Zuwendung zum Historismus-Problem, sein politisches Wirken wird so vergegenwärtigt, dass nicht mehr davon die Rede sein kann, sein Schüler Gogarten und Heideggers Destruktion der Philosophie und Theologie habe ihn vor seinem frühen Tod schon ins Abseits gedrängt. Die Troeltsch-Renaissance geht zusammen mit der Frage, was von der Lehre und dem Wirken Adolf von Harnacks wichtig geblieben ist. Bei ihm kann nicht vorausgesetzt werden, dass er in der Diskussion mit seinem Schüler Karl Barth nur der Unterlegene gewesen seI. Auch heute geht es darum, Grundmotive der Geschichte in der Weise zu übernehmen, dass sich unser Denken für die Zukunft öffnen kann. Hans Ebeling ist von Heidegger ausgegangen und hat in der Enttäuschung durch Heidegger sich den Fragen der Zeit gestellt. Dabei hat sein Buch Die beschädigte Nation von 1993 Formulierungen benutzt, die auch in rechtsextremistischen Parolen aufzuweisen sind. 22 Lassen die vielen weiteren Schriften Ebelings in Heidegger überhaupt noch jenen Phänomenologen sehen, der sich einmal aus dem Gespräch mit Rudolf Bultmann verstand? Hermann Lübbe hat darauf hingewiesen, dass der Theologiestudent Karl Ludwig Sand die von ihm geforderte nationale Gesinnung bei dem Dichter Kotzebue vermisste und diesen 1819 tötete. Dann ging Sand gelassen zur Hinrichtung. Der Berliner Theologieprofessor de Wette bezeichnete die Tat im Brief an die Mutter Sands als "Irrtum", doch sei sie aus lauterer Gesinnung gekommen. Dafür wurde er aus seinem Amt entlassen (fand aber bald in Basel eine neue Wirkungsstätte). Hegel sah diese Entlassung als nötig an, plädierte aber für die Überlassung des Gehalts. Schleiermacher fand Hegels Auffassung "erbärmlich". Es gab also damals schon das, was wir heute kennen: Mörder, die die höhere Gesinnung für sich reklamieren, eine Sympathisantenszene und Staaten, die sich zu Reaktionen wie den Karlsbader Beschlüssen hinreißen lassen. 23 Karl Barth wie Rudolf Bultmann haben dem Nationalsozialismus widerstanden. Solcher Widerstand musste auch dem Kommunismus gelten, der dann mit dem Zerfall der Sowjet-Union unterging. Heute treffen die USA als einzig ver21 Zum einzelnen vgl. Dietmar Köhler: Freiheit und System im Spannungsfeld von Hegels "Phänomenologie des Geistes" und Schellings "Freiheitsschrift". Paderborn / München 2006. 22 Vgl. RolfBachem: Rechtsextreme Ideologien. Bundeskriminalamt Wiesbaden 1999. S. 227 ff.Zum folgenden vgl. das Schriltenverzeichnis in Hans Ebeling: Denksturz der Moderne. Würzburg 2002. S. 76 f. 23 Vgl. Hermann Lübbe: Terror oder höhere Mordmoral? Wieso der Dichter Kotzebue sterben musste. In: Universitas 59. Dezember 2004. Nt. 702. S. 1252 ff.
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bliebene Weltmacht auf die vielfach unterdrückten arabischen und vorderasiatischen Staatengebilde. Die machtmäßig Ohnmächtigen reagieren durch Selbstmordattentäter, die andere mit in den Tod reißen; für ihre Tat erwarten die Mordenden die Aufnahme ins Paradies. Werden so Politik und Religion nicht wieder geschichtsträchtig verbunden? Hans Maier hat nach vielen Jahrzehnten der Totalitarismusforschung ein internationales Projekt Totalitarismus und politische Religion durchgeführt und dokumentiert. Die Frage bleibt unausweichlich, ob jene "Märtyrer" genannt werden dürfen, die mit der Hingabe ihres Lebens ein Zeugnis ablegen gegen Unterdrückung und für andere geschichtliche Wege, aber oft nur noch sinnlos morden. 24 In seinem klärenden Aufsatz Politische Märtyrer? führt Hans Maier aus, dass die Kirche von der Schar ihrer Märtyrer als der "Wolke der Zeugen" spreche. Heute gleiche eine diffuse Märtyrer-Terminologie eher "einem wuchernden Tropenwald". Der Zeuge (martys) lege nach der Rede der Griechen Zeugnis ab vor Gericht (martyrion). Im Christentum gehe der Zeuge für sein Zeugnis in den Tod. Der Märtyrer-Begriff sei über das Lateinische in die modernen Sprachen gekommen. Im Deutschen höre man im Martyrium immer auch die "Marter" mit; die Pein, nicht mehr das Zeugnis stehe im Vordergrund. Goethe nenne Werther einen "Märtyrer der Liebe"; doch bleibe das Martyrium für ihn immer das Anstößige, das in der Kunst nicht darstellbar sei. Die Märtyrer-Dramen der Barockzeit seien in der deutschen Klassik und Romantik nicht fortgeführt worden (während Chateaubriand die Märtyrer mit dem Triumph der christlichen Religion zusamnengebracht habe). Görres sehe schon 1837 nach den Kölner Wirren eine Wende; diese habe sich dann nach 1871 im Kulturkampf in Preußen durchgesetzt. Wenigstens in volksnaher Dichtung werde das Märtyrer-Drama wieder aufgenommen. Die vom Kommunismus und Nationalsozialismus Verfolgten würden als Märtyrer gesehen. Doch können dann auch gegensätzliche Gestalten, so Kotzebue und Sand, als Märtyrer gefeiert werden. Heute werde das Wort "Märtyrer" auf Menschen in aller Welt angewandt und in die Vergangenheit zurückübertragen. Sokrates und Giordano Bruno würden gleicherweise als Märtyrer gefeiert. Während Kommunisten und Nationalsozialisten den Widerstand in die Isolierung und Anonymität abgedrängt hätten, erhielten Jan Pallach, Oskar Brüsewitz, Jerzy Popieluszko oder die Studenten vom Tianmen-Platz in Peking ein weltweites Echo. "Weil sie Unrecht offenbar machten, und weil es ihnen gelang, die Stille der Despotie zu durchbrechen und, wenigstens einen Augenblick lang, die Aufmerksamkeit der Welt auf sich zu lenken." Damit seien die Märtyrer wieder Zeugen, doch verliere der Begriff des Märtyrers seine Konturen. Ein Märtyrer sei jedes Opfer, auch das Opfer der "Globalisierung"; ganze Völker könnten zu "Märtyrern" werden. Auch der Islam verbiete, den Tod zu suchen; doch bringe er den "Märtyrertod" und das Verspre24 Vgl. Totalitarismus und Politische Religionen. Band III. Hrsg. von Hans Maier. Paderborn 2003. - Zum folgenden vgl. Hans Maier: Politische Märtyrer? In: Stimmen der Zeit. Mai 2004. Band 222. S. 291 ff.
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chen des Paradieses eng zusammen. Die Grenzen des Märtyrer-Begriffs seien verwischt, wenn aus dem Sterben für den Glauben ein Selbstmord werde, der möglichst viele andere mit in den Tod reißen soll. Im Jahre 2007 erschienen über fünfzig Porträts von "Märtyrern", erarbeitet von verschiedenen Autoren, unter dem Titel Märtyrer-Porträts. Von Opfertod, Blutzeugen und heiligen Kriegern. Das Selbstopfer der Alkestis ist ebenso wie die Passion von Perpetua und Felicitas aufgenommen, Al Husain als Stiftungsfigur der Schia ebenso wie Holger Meins von der RAP, der Kamikaze-Flieger ebenso wie Kierkegaard als Märtyrer des Gespötts oder Jan Pallach aus dem Prag von 1969. Die Herausgeberin Sigrid Weigel schreibt in einer umfangreichen Einleitung, dass sie eine theologische Instanz ausschließe, die jemanden zum Märtyrer erklärt. Wir dürften uns auch nicht von den weitverbreiteten Bildern jener christlichen Märtyrer leiten lassen, die in der Nachfolge des gekreuzigten Christus Gewalt erlitten. Seit den Kreuzrittern gebe es durchaus gewalttätige Märtyrer. Amerikanische Soldaten hätten für ihre Fotoalben Bilder geschossen, die dann in großen Reproduktionen in den Straßen Bagdads als Fanal des Widerstands gegen die USA angebracht wurden. Umgekehrt seien die Misshandlungen entführter Amerikaner als "Pathosformeln" gebraucht worden. Es gehe nicht an, mit katholischen Instanzen die Märtyrer mit Polykarp beginnen zu lassen (gestorben im Jahr 150) und wie der Kirchenvater Tertulian auf Lucrezia zu verweisen, die für ihre Keuschheit starb. Den Bemühungen, die Märtyrer für die christliche Geschichte zu reklamieren, soll die kulturgeschichtliche Methode widersprechen. "Wo die Märtyrer aus den ersten christlichen Jahrhunderten als Ursprung, Ideal und Maßstab des Konzepts zugleich gelten, wird der Austausch zwischen verschiedenen Religionen ebenso unkenntlich wie die kulturellen und medialen Metamorphosen der Figur. "25 Dann wird darauf geachtet, dass im Jüdischen das Blut durch die SpeiseVorschriften tabuisiert wurde; zugleich könne Moses das Volk mit Blut besprengen und so den Bund mit Gott stiften. Im Christlichen stifte das Blut Christi den Neuen Bund, das Blut der Märtyrer werde zum Samen. Damit trete das Blut in den Gegensatz zum Fleisch, das vom Dogma der Erbsünde betroffen werde. Augustinus habe gesehen, dass die Zuschauer im Amphitheater blutsüchtig waren. Doch habe er das Blut der Märtyrer gereinigt, indem er es auf das "Herz voll reiner Gebete" bezogen habe. In den arabischen Ländern werde der Begriff des Märtyrers zu sehr gedehnt: Arafat, der auf dem Krankenbett gestorben sei, werde als Märtyrer verehrt. In der Mystik gebe es Märtyrer der Liebe. Die Pop-Kultur und die Massenmedien verwendeten religiöse Symbole ohne Maß, so erwa die Kreuzigung in der Selbststilisierung Madonnas. Eine Auseinandersetzung mit den angeführten Untersuchungen von Hans Maier findet nicht statt (von Maier wird nur der Essay über Cäcilia und die Musik angeführt).
25 Vgl. Märtyrer-Porträts. Von Opfertod, Blutzeugen und heiligen Kriegern. Hrsg. von Sigrid Weigel. München 2007. S. 23 f., 16 f., zum folgenden 30, 32, 32 f., 190.
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Muss die christliche Theologie sich angesichts des Missbrauchs der Rede vom Märtyrer nicht fragen, wie Jesu Tod am Kreuz zu seinem Leben und Wirken gehört? Joseph Ratzinger hat sich als Dogmatiker mit der Geschichte der Glaubensüberzeugungen befasst, dazu 1982 eine Theologische Prinzipienlehre vorgelegt. Er hatte für den Vatikan darüber zu wachen, dass das Zeugnis des Glaubens nicht etwa in den mittel- und südamerikanischen Freiheitsbewegungen - kurzschlüssig politisiert wurde. Als Papst Benedikt XVI. sprach er am 12. September 2006 an der Universität Regensburg, an der er einst gelehrt hatte. Am folgenden Tag wurde die Rede Glaube, Vernunft und Universität von der Frankforter Allgemeinen Zeitung gedruckt. Es gab ein weltweites Echo mit Zustimmung und Widerspruch. Der Papst zitierte in seiner Rede, was der byzantinische Kaiser Manuel H. Paleologus im Winterlager zu Ankara einem gebildeten Perser sagte und später aufzeichnete. Dieser Dialog kam notwenidger Weise auf das Verhältnis der "drei Gesetze": Altes Testament, Neues Testament, Koran. Der Papst unterstellte, dass der Kaiser die Sure 2, 256 des Korans gekannt habe. Sie verbietet Zwang in Glaubenssachen. Sie sei eine frühe Sure aus der Zeit, in der Mohammed selbst noch machtlos und bedroht war. Doch habe der Kaiser sicherlich auch die später entstandenen Bestimmungen über den Heiligen Krieg gekannt. Erstaunlich schroff habe er sich an seinen Gesprächspartner gewandt: "Zeig mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat, und da wirst du nur Schlechtes und Inhumanes finden wie dies, dass er vorgeschrieben hat, den Glauben, den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten." Für den Kaiser stehe eine Glaubensverbreitung durch Gewalt im Widerspruch zum Wesen Gottes und zum Wesen der Seele. Die "Fähigkeit zur guten Rede und ein rechtes Denken, nicht aber Gewalt und Drohung" brauche es, wenn man zum Glauben führen wolle. Der Prolog des Johannes-Evangeliums nehme den ersten Vers des Buches Genesis auf und suche zugleich die Verbindung mit der griechischen Philosophie: "Im Anfang war der Logos." Nachgezeichnet wird, wie im Alten Testament der Gott des Himmels und der Erde "landlos und kultlos" wird. Der Psalm 115 erkläre in einer ,,Art von Aufklärung" die Götter zu Machwerken der Menschen. Zugegeben wird, dass sich auch bei Duns Scotus voluntaristische Tendenzen abzeichnen; im Islam hätten sie zu einem Willkür-Gott geführt. Doch diesen Tendenzen gegenüber greift der Papst auf die Lehre von der Analogie zwischen dem ewigen Schöpfergeist und der geschaffenen Vernunft zurück. So ist die Verbindung der neutestamentlichen Botschaft und der griechischen Philosophie für den Papst ein "weltgeschichtlich entscheidender Vorgang", der seine geschichtliche Prägung in Europa gefunden hat. In drei Wellen habe sich dann ein Programm der Enthellenisierung des Glaubens durchgesetzt: in der Reformation, in der liberalen Theologie und heute in Tendenzen, die Inkulturation des Christlichen im Griechischen als nur eine der möglichen Inkulturationen aufzufassen. Darin kann der Papst nur eine Bedrohung sehen, die dem Westen einen großen Schaden bringen müsse. "Mut zur Weite der Vernunft, nicht Absage an ihre Größe - das ist das Programm, mit dem eine dem biblischen Glauben ver-
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pflichtete Theologie in den Disput der Gegenwart eintritt." Die Rede des Papstes wurde dann aber als Fortsetzung des Streites über dänische MohammedKarikaturen gesehen. In weltweiten Unruhen wurden Papstpuppen verbrannt; eine italienische Nonne wurde in Somalia erschossen, usf. Als der Papst dann Ende November in die Türkei reiste, sagte man Schlimmes bis hin zu seiner Ermordung voraus. Als er in Ankara das Mausoleum des Kemal Atatürk besuchte, bekam er großen Beifall, weil er sich ins Goldene Buch mit einem Wort des türkischen Staatsgründers eintrug: "Friede zu Hause, Friede in der Welt." Ali Bardakoglu, der oberste islamische Glaubenshüter in der Türkei, hatte der Regensburger Rede des Papstes noch "Hass" gegen den Islam vorgeworfen. Doch nun gestanden beide, dass Christentum und Islam zu einer Familie gehören. In Istanbul betete der Papst, zusammen mit dem Mufti von Istanbul, in der Blauen Moschee nach Mekka gewandt. Mit dem Patriarchen der christlichorthodoxen Kirche erklärte er als Ziel, die Einheit der Kirche wiederherzustellen - nach tausend Jahren der gegenseitigen Verketzerung! Bleiben nicht Bedenken gegenüber den Auffassungen des Papstes? Der Apostel Paulus sagt im Ersten Korinther-Brief gleich im 21. Vers des ersten Kapitels, es habe Gott gefallen, die Glaubenden durch eine "törichte" Predigt selig zu machen, da die Welt durch ihre Weisheit Gott in seiner Weisheit nicht erkannt habe. Wenn ein Verfluchter und Gekreuzigter der von Gott angenommene Messias oder Christus ist, muss dann nicht das Credo quia absurdum gelten? Kann Pascal wirklich zurückgewiesen werden, der den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs sucht, nicht den Gott der Philosophen? Widerspricht der Papst nicht fundamentalen islamischen Glaubensüberzeugungen, wenn er dem Koran (in einer Art Übertragung der christlichen Bibelkritik auf ihn) frühe und späte Bestimmungen und damit eine Entwicklung unterstellt? Doch gibt es auch im Iran Kreise, die sich solchen Fragen stellen, mögen sie zur Zeit auch im Verborgenen bleiben müssen. Die Papstkritiker, die durchaus den Dialog suchen, gehören zur theologischen Fakultät in Ankara, wo man jene Hermeneutik kennt, die alte Texte in den Kontext einer anderen Zeit zu stellen lehrt. Hans-Georg Gadamer hat selbst nicht das Gespräch mit Kulturen wie der japanischen, arabischen und türkischen gesucht, weil er deren Sprache nicht verstand. Doch hat man das Prinzip seiner Hermeneutik des wirkungsgeschichtlichen Verstehens in Ankara aufgenommen. 26 Muss die christliche Theologie sich nicht der Frage stellen, ob sie vom Christus des Glaubens nicht zurückgehen muss zum historischen Jesus, zu dem die
26 Vgl. Alter Text - neuer Text. Koranhermeneutik in der Türkei heute. Ausgewählte Texte, übersetzt und kommentiert von Felix Körner 5J. Freiburg IBasell Wien 2006. Im folgenden beziehen sich Zahlen im Text auf die deutschsprachige Ausgabe von Joseph Ratzinger I Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth. Erster Teil. Von der Taufe im Jordan zur Verklärung. Freiburg I Basel I Wien 2007. - Vgl. zu den Kontroversen, die Joseph Ratzinger geführt hat, den Akademie-Vortrag von Karl-Heinz Menke: Der Leitgedanke Joseph Ratzingers. Die Verschränkung von vertikaler und horizontaler Inkarnation. Paderborn 2008.
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Forschung neue Zugangsweisen gefunden hat? Joseph Ratzinger bzw. Papst Benedikt XVI. hat im Jahr 2007 von seinem Werk Jesus von Nazareth den ersten Teil veröffentlicht: Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung. Ein zweiter Teil über die Geschichten von der Kindheit Jesu soll folgen. Das Erstaunliche trat ein, dass ein theologisches Buch zum Weltbestseller wurde. Im Vorwort hält der Papst fest, was "Inspiration" bedeute: Die Autoren der Heiligen Schrift gehören in das wandernde Gottesvolk, die Kirche. Diese ist von Gott angesprochen; in ihr sind die biblischen Worte Gegenwart. Etwa zwanzig Jahre nach der Kreuzigung Jesu hat Paulus im Philipper-Brief eine voll entfaltete Christologie gegeben: Jesus ist Gott gleich; er entäußerte sich, wurde Mensch und erniedrigte sich bis zum Tod am Kreuze; nun aber kommt ihm die Huldigung des Kosmos zu (19 ff.) . Von dieser Christologie her ist die Exegese letztlich dogmatisch. Rudolf Schnackenburg ist für Joseph Ratzinger der "wohl bedeutendste deutschsprachige katholische Exeget der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts". Er hat sich zuletzt noch (1993) das Buch Die Person Jesu Christi im Spiegel der vier Evangelien abgerungen. Auch ihn kritisiert der Papst wegen einer zu großen Offenheit für die Vielgestaltigkeit der Sicht Jesu. Doch setzt er mit ihm an bei der "Verankerung" Jesu in Gott (11 f.). Die Einfohrung handelt vom "Geheimnis" Jesu, indem sie Jesus von Mose abhebt. Mose spricht mit Gott, doch hat dieses Sprechen seine Grenzen: Mose darf von Gott in dessen Vorbeigang nur den Rücken sehen! Jesus hat gemäß dem Prolog des Johannes-Evangeliums Gott geschaut und von ihm Kunde gebracht. Er ist der Sohn, und so muss die Kunde christologisch gedeutet werden. Das gilt gegen Harnacks Festlegung, die Botschaft Jesu sei Botschaft vom Vater; der Sohn und damit die Christologie gehörten in diese Botschaft nicht hinein. Das Geheimnis des Sohnes als Offenbarer des Vaters und damit die Christologie gehören füt den Papst jedoch zur Botschaft Jesu (32). Gleich im ersten Kapitel über die Taufe Jesu im Jordan wird deutlich, wie der Papst den Bezug zu Jesus sucht. Die Taufe im Wasser durch Johannes ist Antizipation des Kreuzestodes; die Stimme vom Himmel verweist schon auf die Auferstehung (45) So wird auf die liturgische Entsprechung zwischen dem 3., 4. und 5. Januar einerseits und Gründonnerstag, Karfreitag und Karsamstag andererseits verwiesen. Die Entfaltung des Verstehens der Taufe Jesu in der Liturgie der Ostkirche und die Ikonen-Theologie werden ebenso genannt wie die Kirchenväter und Dante und gar die ",Kehre' des Seins" (47). Die Exegese ist eingebettet in Dogmatik, Liturgik, Kirchengeschichte und Philosophie. Wenn es dann um die "Versuchungen" Jesu geht, wird Solowjews Kurze Erzählung vom Antichristen herangezogen. Nach ihr ist der Antichrist ein großer Bibelgelehrter und bekommt in Tübingen den Ehrendoktor der Theologie. "Das ist kein Nein zur wissenschaftlichen Bibelauslegung als solcher, aber eine höchst heilsame und notwendige Warnung vor ihren möglichen Irrwegen." (64) Wenn das Reich Gottes Thema wird, muss Loisys Wort abgewehrt werden, Jesus habe das Reich Gottes verkündigt, gekommen sei aber die Kirche (78) Johannes Weiß und Albert Schweitzer werden angeführt für die Offenlegung der
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eschatologischen Dimension im Urchristentum. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und der "radikalen Änderung des geistigen Klimas" sei das Ende der liberalen Theologie gekommen. Rudolf Bultmann habe die christliche Botschaft durch Heideggers Philosophie verständlich machen wollen, J ürgen Moltmann habe das später von Ernst Bloch her versucht (81 f.). Die Botschaft Jesu habe so zur Forderung geführt, der Mensch müsse auf der ganzen Welt Frieden suchen. Doch bleibe das "utopistische Gerede" ohne konkreten Inhalt. Damit werde die Botschaft Jesu vom Kommen des Reiches verfehlt. Der Papst wendet sich dann dem "Herzstück" der Verkündigung, der Bergpredigt, zu. Da die Seligpreisungen die Welt als Maßstab umstürzen, werden sie für die Jünger zu Paradoxien. So können sie verknüpft werden mit der Weise, in der Paulus und Johannes die Situation des Glaubenden in der Welt beschreiben. Erinnert wird daran, dass der "Dritte Orden" der Franziskaner den Auftrag zum weltlichen Beruf annimmt (102 f., 109). Das Gesetz der Juden, die Tora, wird in der Bergpredigt aufgenommen, indem ein "Ich aber sage Euch" das Gesetz öffnet für die Innerlichkeit der Annahme aus dem Geist. Der Papst setzt sich auseinander mit dem Rabbi Jacob Neusner, nach dessen Auffassung Jesus sich selbst zum Gesetz hinzufügt und so Israels Ordnung zerstört. Doch müsse Jesus das tun, weil er der Sohn Gottes sei (134 ff.). Die Verheißung wird über Israel hinaus zu allen Völkern der Weh getragen, was freilich bei den Propheten, in den Psalmen und in der Weisheitsliteratur angelegt sei (148). Die politische und soziale Ordnung wird vom Sakralen gelöst und vor allem in der Neuzeit dem Gestaltungswillen der Menschen übertragen (151). Nach der Auslegung der Bitten des Vater unser, dem Blick auf die Jünger und der Erörterung der Gleichnisse Jesu kommt der Papst auf die "großen johanneischen Bilder" zu sprechen: Das Wasser, Weinstock und Wein, Das Brot, Der Hirte. Einleitend behandelt er die johanneische Frage. Seit Irenäus von Lyon galt Johannes der Zebedaide als der Lieblingsjünger und als Verfasser des JohannesEvangeliums. Die Neuzeit entwickelte dazu ihre Zweifel: Kann der Handwerker aus Galiläa die Sprache der Jerusalemer Priesteraristokratie sprechen, mit ihr verwandt sein (265 f.)? Im Anschluss an neuere Forschungen wird diese Frage bejaht. Das Zeugnis des Zebedaiden sei durch den Presbyter Johannes, die bestimmende Gestalt einer Johannes-Gemeinde in Ephesus, zum Johannes-Evangelium gestaltet worden (268). Das mythische Reden vom Korn, das in die Erde fallen und sterben muss, um wiederaufzuerstehen, oder von der Traube, die zum Wein gekeltert werden muss, werde im Leiden, Sterben und Auferstehen Christi reale Geschichte (316 f.). Petrus bekennt sich zu Jesus, der nicht nur Meister und Lehrer sei, sondern der Herr. Hier weist der Papst es zurück, dass dieses Bekenntnis erst dem "nachösterlichen Glauben" zuzuweisen sei. Jesus wisse sich als Sohn Gottes, was für die Juden eine Blasphemie sei (350). Die Berichte von der Verklärung Jesu machten sichtbar, dass im Gebet Jesu sein Sein sich durchdringe mit dem Sein Gottes. Im Erlebnis der Verklärung erkenne Petrus, dass erfüllt sei, worauf die jüdische Geschichte mit Festen wie dem Laubhüttenfest hinweise (357, 363).
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Jesus wurde angesprochen als der Messias oder Christus; der Titel Christus wurde dann zum Eigennamen. Er ist der Kyrios, der Herr, und der Sohn Gottes. Jesus selbst nennt sich den Menschensohn und den Sohn Gottes. Durch das Konzil von Nizäa kam ein einziges philosophisches Wort in das Credo: Christus ist nicht nur wesensähnlich, sondern wesensgleich mit dem Vater (homoousios). Er ist mit dem Vater eins im Heiligen Geist (369) Zurückgewiesen wird die Auffassung, dass J esus das Kommen des Menschensohnes erwarte. Vielmehr verbinde er Daniels Vision vom Kommen des Menschensohnes mit dem leidenden Gottesknecht Jesajas und beanspruche diese Verbindung für sich (382). In Ägypten wie in Babyion wurde der König als "Sohn Gottes" angesprochen. Israel übernahm die Rede, obwohl für den König auf dem Zionsberg eine weitreichende Herrschaft nur eine Hoffnung sein konnte. In der Auferstehung Christi bestelle Gott dann den König über alle Völker der Erde. Doch dieses Königtum habe sich von der politischen Macht gelöst und werde gewonnen in der Passion. Es stehe dem Gottsein der römischen Kaiser entgegen. Von dieser Gottessohnschaft sei zu unterscheiden, dass Jesus sich als den Sohn verstehe, der allein den Vater kenne. Weil er der Sohn sei, dürfe er aufnehmen, dass der Vater sich im brennenden Dornbusch vorstelle durch sein "Ich bin es" (397 ff). Das Leben Jesu wird gesehen von den Traditionen aus, die wir als die christlichen kennen. Sicherlich verweist der Papst auf die Texte aus Qumran und z.B. auf die Forschungen zum historischen Jesus von James M. Robinson (40, 416). Es wird festgehalten, dass Johannes Weiß und der frühe Albert Schweitzer den eschatologischen Grundzug von Jesu Botschaft gesehen haben (82). Namen wie David Friedrich Strauß oder Bruno Bauer kommen nicht vor. Hegel hatte in seiner Phänomenologie des Geistes den Glauben an Christus als Entfaltung des griechischen Bezugs zum Göttlichen in die konkrete Geschichte gesehen. Strauß hatte dann die hebräisch-jüdische Geschichte als Hintergrund für das Leben Jesu aufgefasst. Doch diese Suche nach dem historischen Jesus (im Unterschied zum Christus des Glaubens) warf ihn aus der damaligen Theologie hinaus. Was er später an Lebensorientierung anbot, wurde von Nietzsche in der ersten der Unzeitgemäßen Betrachtungen als Banalität der Verspottung übergeben. Hätte aber die Darstellung der Leben-Jesu-Forschung durch Albert Schweitzer dem Papst nicht einen wichtigen Anstoß für die Erörterungen über Jesus von Nazareth geben können? Von Bultmann wird wiedergegeben, dass der historische Jesus nicht in die Theologie des Neuen Testamentes gehöre, sondern als jüdischer Lehrer nur eine Voraussetzung dafür sei (77). In der Tat legt Bultmann z.B. in der Auseinanersetzung mit dem Buch Jesus Christus der Herr von Emanuel Hirsch dar, wie Hirsch vor der eigentlichen Christologie ein "Seelenbild" Jesu gebe. Hier kann Rudolf Bultmann seinem Kollegen Emanuel Hirsch nicht folgen: Bei diesem Versuch, Jesus ins Herz zu schauen, werde der Rationalismus durch den Pietismus aufgefangen. Doch von diesem Jesus "nach dem Fleisch" will Bultmann nichts wissen. Er sieht seine konservativen Kollegen mit der Frage beschäftigt, wieviel aus dem entfachten kritischen Brand zu retten sei. Doch sagt er: "Ich lasse es ruhig bren-
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nen; denn ich sehe, dass das, was da verbrennt, alle die Phantasiebilder der Leben-Jesu-Theologie sind, und dass es der Christos kata sarka ist."27 Albert Schweitzer suchte bei aller Skepsis gegenüber der theologischen Vereinnahmung Jesu in der Nachfolge Jesu den Verstoßenen und Leidenden Afrikas zu helfen und Ehrfurcht vor dem Leben anzumahnen. Buhmann stellte 1955, also fast dreißig Jahre nach der zitierten Äußerung über den Brand der Jesus-Bilder, zur Verkündigung im Wort die Verkündigung in der Tat der Liebe und schrieb im Aufsatz Echte und säkularisierte Verkündigung im 20. Jahrhundert: "Steht nicht das Werk Albert Schweitzers als Verkündigung durch die Tat vor uns?" Aus der Zuwendung zum historischen Jesus sollen hier exemplarisch die Bemühungen von James M. Robinson herangezogen werden. Robinson kam 1949 nach Deutschland, um herauszufinden, wie die Wege von Karl Barth und Rudolf Buhmann in der Gemeinsamkeit der "dialektischen" Theologie begannen, aber schließlich auseinandergingen - hin zu Barths Dogmatik einerseits und Buhmanns Entmythologisierung andererseits. Kar! Barth verwies Robinson auf Wilhelm Herrmann, der für ihn wie für Bultmann Lehrer gewesen war. So promovierte Robinson über Das Problem des Heiligen Geistes bei Wilhelm Herrmann (Marburg an der Lahn 1952). Robinson wollte in seinem ersten Sabbatjahr 195960 zu Käsemann nach Göttingen gehen; doch hatte dieser nach Tübingen gewechselt. Robinson wurde sein Vertreter in Göttingen und konnte seine Gedanken über die Frage nach dem historischen Jesus vortragen, die er in Oxford diskutiert und auf englisch publiziert hatte. In England hatte Käsemanns Vortrag von einer Tagung der "alten Marburger" Die Frage nach dem historischen Jesus Aufmerksamkeit gefunden. 28 In der Zeitschrift Evangelische Theologie erschien 1962 von Robinson der Aufsatz Heilsgeschichte und Lichtungsgeschichte. Dort hieß es, Heideggers Lichtungsgeschichte bereite im Prinzip, wenn auch nicht in der Praxis den Weg dafür, dass die Zuwendung zum Alten Testament (wie sie ja von der Frage nach dem historischen Jesus nahegelegt wurde) eine zentrale Rolle für die Grundlegung christlicher Theologie spielen müsse. Als ich Heidegger auf diesen Aufsatz hinwies, kam es bei ihm zu einem Zornesausbruch: Nur als Student habe er ein wenig Hebräisch gelernt, usf. Martin Buber hatte schon 1953 richtig festgestellt, er habe nirgends in dieser Zeit ein so weitgehendes Missverständnis der Propheten Israels von hoher philosophischer Warte gefunden als in der Bemerkung aus Heideggers Erläuterungen zu Hölderlin, die Propheten sagten so-
27 Vgl. RudolfBuhmann: Zur Frage der Christologie, 1927 in Zwischen den Zeiten, jetzt in Rudolf Bultmann: Glauben und Verstehen. Erster Band. 9. Auf!. Tübingen 1993. S. 85 ff, vor allem 95 und 101. - Zum folgenden vgl. Rudolf Buhmann: Glauben und Verstehen. Dritter Band. 4. Auf!. 1993. S. 129. 28 Vgl. zum einzelnen James M. Robinson: Jesus und die Suche nach dem ursprünglichen Evangelium. Göttingen 2007. S. 15 ff., 219. - Zum folgenden vgl. Otto Pöggeler: Der Denkweg Martin Heideggers. Dritte erw. Auf!. Pfullingen 1990. S. 428, 422, 192 f. - Über Heideggers Zornesausbruch vgl. mein Nachwort zu Heidegger. Perspektiven zur Deutung seines Werkes. 3. Auf!. Weinheim 1994. S. 401.
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gleich den Gott, auf den die Sicherheit der Rettung in die überirdische Seligkeit rechne. Robinson gab zusammen mit John B. Copp jr. den Sammelband Der spätere Heidegger und die Theologie heraus (Zürich/Stuttgart 1964). Damit wurde jene Wendung gegen Bultmanns Bündnis mit dem frühen Heidegger fortgesetzt, die durch den Band Offenbarung als Geschichte von 1961 gekennzeichnet ist. Der dort führende Autor W olfhart Pannen berg glaubte, Hegels spekulative Geschichtsphilosophie und Heideggers Seinsgeschichte sich wechselseitig korrigieren lassen zu können. Bei den Stuttgarter Hegeltagen 1970 hielt er den programmatischen Vortrag Die Bedeutung des Christentums in der Philosophie Hegels. In einem Korreferat entfaltete Adriaan Peperzak eine grundsätzliche Kritik: "Der von Hegel entwickelte Denkmodus ist der Position des Glaubens wesentlich entgegengesetzt. Die Theologie soll sein Denken nicht nur rezipieren, sondern es auch als eine Macht, von der sie bedroht wird, überwinden. "29 Peperzak entwickelte dann selbst eine Aneignung Hegels, die ausging von der schroffen Hegelkritik, wie Emmanuel Levinas sie vorgetragen hat. Peperzaks Buch Beyond. The Philosophy of Emmanuel Levinas erschien 1997 in Evanston. Es folgte Modern Freedom. Hegers Legal, Moral, and Political Philosophy (Dordrecht 2001). Pannenberg schritt zu einer großen Dogmatik fort. In Qumran, in Höhlen über dem Toten Meer, hatte man 1947-56 Texte aus der Zeit Jesu gefunden. Mitglieder einer Sekte, die das Ende der Welt erwartete, hatten sich vom korrupten Tempelgottesdienst in J erusalem zurückgezogen und wollten als Söhne des Lichts gegen das Böse kämpfen. Doch wurde ihr Kloster 68 nach Christus von römischen Soldaten zerstört (80).30 Die in Qumran gefundenen Texte versprachen einer breiten Welt der Medien eine Sensation: Jakobus, der gerechte Lehrer aus Qumran, sei identisch mit dem Bruder Jesu, und so sei auch für Jesus der Gesetzeseifer vorauszusetzen. Die jetzige Kirche, aus dem Heidenchristentum erwachsen, sei auf einem falschen Wege! Robinson konnte diese Geschichtsklitterung zurückweisen (83 ff.). Er hatte dann für die Unesco die Publikation der Codices zu betreuen, die in Nag Hammadi, im südlichen Ägypten, gefunden worden waren. Seine Hauptaufgabe fand er darin, jenes Spruchevangelium zu rekonstruieren, das zusammen mit dem Text von Markus im Matthäusund Lukas-Evangelium vorausgesetzt wird. Eine Wendung im Rückgang zum historischen Jesus lag nun in der Frage: Welche Worte können wir auf ihn zurückführen? Vom Thomas-Evangelium wird gesprochen, weil neben Jakobus Judas stand; sein Spitzname "Zwilling" heißt auf Aramäisch Thomas (102). Für Robinson ist Jesus der Dorfbewohner aus Galiläa, der Gott aus der Schöpfung erkennt: Gott lässt die Sonne über Gerechte und Ungerechte scheinen; Raben und Lilien, die nichts tun, vertrauen darauf, dass Gott für sie sorgt. 29 Vgl. Wolfhart Pannenberg: Die Bedeutung des Christentums in der Philosophie Hegels; Adriaan Peperzak: Hegels Philosophie der Religion und die Erfahrung des christlichen Glaubens. In: Sruttgarter Hegel-Tage 1970. Hrsg. von Hans-Georg Gadamer. Bonn 1974. S. 175 ff., 203 ff., vor allem 207. 30 Seitenzahlen im Text beziehen sich auf Robinson, s. Anm. 28.
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Reich Gottes oder Herrschaft Gottes, das meint: im Vertrauen auf Gott das tägliche Brot erwarten und in der Not Hilfe von anderen. Böses soll sogar mit Gutem vergolten werden (74). Der schriftkundige Jesus, der schon als Zwölfjähriger im Tempel diskutiert, ist das Jesus-Bild jener Generation nach den Jüngern, die die Evangelien auf griechisch schrieb (75). Für Jesus, der Aramäisch sprach, vielleicht erwas Griechisch kannte, war das Hebräische eine Kirchensprache wie das Latein im Mittelalter (79). Der Zimmerer aus Nazareth wurde durch Johannes den Täufer berufen. Dieser erwartete apokalyptische Ereignisse. Wenn die Evangelien diese Erwartung auf Jesus übertragen, wird der Sturmwind zum Heiligen Geist; die Gabe der "Zungen" an Pfingsten ermöglicht die Botschaft an alle Völker in deren Sprachen (126 f.). Als die Römer den Tempel zerstörten, wurde der Gott, der seine Sonne aufgehen lässt über Gerechte und Ungerechte, zu dem, der die Sünden des Völkes rächt. Der Eroberungszug der Römer brachte auch das Ende des Judenchristentums. Das Judentum selbst, nun ohne Tempel, wurde zum rabbinischen Judentum (35). Nach Robinson meint die Rede vom Menschensohn einfach den Menschen. Diese Rede werde missverstanden, wenn man damit verknüpfe, wie das Buch Daniel sie als apokalyptischen Titel gebrauche, "allerdings nur ein einziges Mal" (180). Doch auch die Evangelien knüpfen an Daniels Rede an, und von daher konnte noch Hegel die Rede von den vier weltgeschichtlichen Reichen enrwikkeln und auf das Kommen Christi beziehen. Davon will Robinson ebenso wenig wissen wie von der Hagia Sophia oder der Sophia-Tradition der Ostkirche. Er sagt, dass die Sophia "außer einer gelegentlichen romantisch-poetischen Benutzung bis zur Entstehung des modernen Feminismus warten musste, um als göttlicher Titel zu ihrem Recht zu kommen" (187). Das Spruchevangelium setze voraus, "dass Jesu Tod den Höhepunkt in der Reihe der von der Weisheit gesandten und der von Jerusalem getöteten Propheten darstellt". Doch werde die Kreuzigung nicht (wie bei Paulus) als "das Heilsereignis par excellence isoliert" (192). Diese Weise, Paulus beiseite zu rücken, erinnert an die Polemik Nietzsches. Man sollte sich wohl nicht auch noch einfallen lassen, dass der Pfarrer einer nordfriesischen Insel die Neigung verspüren kann, das Kreuz aus der Mitte der Kirche zu entfernen, da es die Suche nach Wellness bei den Touristen stören könne. Wenigstens in einer stark selektiven Auswahl repräsentativer Einstellungen wurde versucht, die Beziehung zwischen Religion und Politik in den letzten zweihundert Jahren vorzustellen. Dabei mag deutlich geworden sein, dass nach der Zusammenarbeit zwischen Bultmann und Heidegger in Marburg die Problematik ganz anders gefasst, auch ohne Bezug auf diesen Ausgangspunkt entwikkelt wurde. Vor mehr als dreißig Jahren, am 20. 8. 1974, beging Rudolf Bultmann seinen neunzigsten Geburtstag. Heidegger dankte ihm in seinem Gratulationsbrief vom 17. 8. für "die fünf Jahre einer gemeinsamen Lehrtätigkeit, der immer neu anregenden Begegnung mit einer wachen und streng arbeitenden, aber auch heiteren Jugend, der stets förderlichen freundschaftlichen Gespräche, der natürlich gelösten Zuneigung unserer Familien" als für ein einmaliges Geschenk. "Die eigentliche Ausstrahlung bleibt ein Geheimnis, ist nicht unser Ver-
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dienst, gehört jedoch in den Gang unseres Lebens und verlangt darum eine stets neue, sich prüfende Vergegenwärtigung." Heidegger hatte Bultmann immer wieder auf den Johannes-Kommentar verpflichtet, als er selbst mit Hölderlin in den Beiträgen zur Philosophie neue Wege einschlug. So konnte er an ein Wort Goethes aus dessen letzten Jahren erinnern: ,,Auch in verschiedenen Gärten fallen / Früchte zu gleicher Zeit vom Baum."31 Wieweit können wir heute noch die Ansätze von Bultmann und Heidegger fortführen, um dann auch andere Wege zu gehen?
31 Vg!. Otto Pöggeler: Heidegger und Buhmann. Philosophie und Theologie. In: Heidegger - neu gelesen. Hrsg. von Markus Happe!. Würzburg 1997. S. 41 ff., vor allem 53. Vg!. auch die Zitate aus dem BriefWechsel in Andreas Großmann: Heidegger-Lektüren. Würzburg 2005. S. 42 ff. Mit Klaus W. Müller konnte ich mich seit 1991/92 austauschen über das Verhältnis BultmannHeidegger. Er bat mich, auch im Namen von Antje Bulrmann-Lemke, im Heidegger-Teil des BriefWechsels Ergänzungen zur Kommentierung vorzunehmen. Vg!. dazu unten S. 181 ff. Die editorische Aufgabe konnte ich an Andreas Großmann weitergeben; sie wurde völlig neu angegangen. Vg!. jetzt Rudolf Bultmann - Marrin Heidegger. BriefWechsel 1925-1975. Hrsg. Von Christof Landmesser / Andreas Großmann (in Vorbereitung). Im folgenden benutze ich die Druckvorlage.
A.
DAS BÜNDNIS BULTMANN-HEIDEGGER
Rudolf Bultmann und Martin Heidegger wurden Freunde, als Heidegger zum Wintersemester 1923/24 nach Marburg berufen worden war. Heidegger nahm 1928 die Zurückberufung nach Freiburg an und erinnerte am 2. April Bultmann brieflich an die erste Begegnung. Als er zu Bultmanns Wohnung hinaufgewandert sei, habe er nur von Bultmann als Forscher und Lehrer gewusst, nicht von seiner Stellung "zur neuen theologischen Bewegung". Doch: "Ich musste da hinauf, obwohl ich Sie so wenig kannte wie alle anderen Marburger Kollegen. Und seitdem ist das Miteinandersein erwachsen, das mir auch bei der äußeren Trennung ein bleibender und wachsender Besitz sein wird." Nach Nietzsche verdankten die "freien Geister" ihrer Mutter das Wesentliche; so habe auch Bultmann von der Mutter her den Schwarzwald im Blut, "und zwar als bestimmende Kraft". Zum Abschied 1928 sagten die beiden "Du" zueinander. Bultmann schrieb Heidegger am 24. 1. 1930 von Todtnauberg: "Ich würde gern einmal wieder mit Dir zum Seitenwasen hinaufsteigen, das Tal hinauf, von dem man den Blick auf den Belchen hat; auch gerne im Engel mit Dir Forellen essen und ein Glas Wein dazu trinken." Todtnauberg, umtriebig geworden, brachte soviel an Kontinuität auf, dass man dort heute noch im Hotel Engel wohnen und essen kann. Die enge Verbindung zwischen Bultmann und Heidegger wurde auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch gepflegt durch die Treffen der "alten Marburger". Man hat angenommen, ein Einfluss Bultmanns habe dazu geführt, dass Heidegger in Sein und Zeit die Theologie vom fragenden Glauben des jungen Luther her erneuert sehen wollte und vielfach auf Theologisches verwies. In Wahrheit hatte Heidegger schon in seiner Freiburger Vorlesung über Phänomenologie der Religion vom Winter 1920121 die Eschatologie der Paulus-Briefe herangezogen als Modell einer faktischen Lebenserfahrung, die wesentlich historisch sei. Die Vorlesung des folgenden Semesters über Augustinus und den Neuplatonismus berief sich auf die Heidelberger Disputationsthesen des Augustinermönchs Luther, um die Bindung wieder zu lösen, die die faktische Lebenserfahrung des urchristlichen Glaubens mit dem griechischen Denken eingegangen war. Heidegger selbst hat denn auch (1959/61 gesprächsweise mir gegenüber) den Einfluss umgekehrt sehen wollen: Bultmanns Buch über die synoptische Tradition von 1921 zeige, dass die sog. formgeschichtliche Methode vom Heuen Testament nur noch einen Steinbruch mit Bruchsteinen übriggelassen habe; erst die Fragestellung von Sein und Zeit - der Existenzbegriff und die existenziale Interpretation habe Bultmann einen neuen Aufbau der Theologie ermöglicht. Bultmann entwickelte jedoch schon 1922 in einer umfangreichen Rezension der zweiten Auflage von Barths Römerbrief, wie er in Christus dem Gekreuzigten das Gericht über Welt und Geschichte sah; die "Fragwürdigkeit" unserer Existenz führe über diese
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DAS BÜNDNIS BULTMANN-HEIDEGGER
Existenz hinaus. So konnte Buhmann Barth zitieren: "Mit der Frage nach dem Woher? unsres durch die Einsicht unsrer schlechthinnigen Sündigkeit und Sterblichkeit charakterisierten Wissens um uns selbst stoßen wir unmittelbar auf die Existentialität des diesem Menschen gegenüberstehenden neuen Menschen." Buhmann war sich mit Barth einig in der Aufnahme der Rede Kierkegaards von der Existenz, ehe er Heidegger traf. 32 Heidegger soll in einem Seminar über Heraklit, das er im Winter 1966/67 mit Eugen Fink gehalten hat, laut Protokoll gesagt haben: "Es gibt Phasen in der Philologie, in denen man alles athetiert und herausstreicht, und dann wieder Phasen, in denen man alles zu retten versucht. Als ich 1923 nach Marburg kam, hatte mein Freund Bultmann so viel aus dem Neuen Testament herausgestrichen, dass fast nichts mehr von ihm übrig blieb. Inzwischen hat sich das wieder gewandelt." In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg besuchte Heinrich Schlier immer wieder Heidegger; für ihn war der Epheserbrief ein Brief des Paulus selbst, der im hohen Alter noch einmal neu ansetzte. Der Schüler Bultmanns ging eigene und ungewöhnliche Wege. Zu Recht betont Heidegger also den Wandel in den exegetischen Bemühungen. Wenn jedoch die angeführten Sätze Heideggers Auffassung wiedergäben, dann hätte er wenig verstanden gehabt von der Formgeschichte. Diese hatte kleine Formstücke wie die Herrenworte und die Gleichnisse herausgelöst aus dem Neuen Testament, um für sie jeweils den Sitz im Leben der Gemeinde, im Gottesdienst und in der Predigt, nachzuweisen. So bleibt das Entscheidende des Neuen Testaments gerade übrig. In jedem Fall beansprucht Heidegger, dass seine Phänomenologie Bultmann als Exegeten erst zu sich selbst gebracht habe. Doch zeigen Bultmanns frühe Veröffentlichungen, dass er seinen Ansatz vor der Begegnung mit Heidegger gefunden hatte und von diesem dann eine neue terminologische Fassung übernahm. Wie die Gespräche zwischen Bultmann und Heidegger begannen, scheint unklar zu sein. Buhmann selbst hat Günther Bornkamm bestätigt, dass "nicht sein Jesusbuch unter dem Einfluss der Philosophie M. Heideggers entstanden ist, sondern umgekehrt dieser, soeben nach Marburg berufen, aufgrund der Lektüre des Buches die Verbindung mit Bultmann suchte". Er hat auch mitgeteilt, er habe in die Einleitung zu seinem fertigen Jesusbuch, dessen Druck durch die Inflation verzögert worden sei, auf Anraten Heideggers den Begriff "Wirkungszusammenhang" aufgenommen (sich damit also von Heidegger auf Dilthey und den Grafen York von Wartenburg verweisen lassen). Diese wirklichen oder angeblichen Erinnerungsversuche Bultmanns können schwerlich genau sein: Bultmann meldete das Fertigwerden seines Jesusbuches im April 1925 an Barth; Heidegger
32 Vgl. Anfänge der dialektischen Theologie. Teil I: Kar! Banh, Heinrich Barth, Emil Brunner. Hrsg. von Jürgen Moltmann. München 1962,5. Auf!. 1985. S. 125. Siehe dazu meine Ausführungen S. 49 ff. - Zum folgenden vgl. Martin Heidegger / Eugen Fink: Heraklit. Frankfurt am Main 1970. S. 222; s. auch unter S. 44.
DAS BüNDNIS BULTMANN-HEIDEGGER
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kam gleich im Wintersemester 1923/24 in Bultmanns Seminar über die Ethik des Apostels Paulus.33 Davon berichtet Bultmann am 23. Dezember 1923 an Hans von Soden (wenig später auch an Karl Barth): "Das Seminar ist diesmal besonders lehrreich, weil unser neuer Philosoph Heidegger, ein Schüler Husserls, daran teilnimmt. Er kommt aus dem Katholizismus, ist aber ganz Protestant, was er neulich, in der Debatte nach einem Vortrag Hermelinks über Luther und das Mittelalter bewies. Er hat nicht nur eine vortreffiiche Kenntnis der Scholastik sondern auch Luthers, und brachte Hermelink einigermaßen in Verlegenheit; er hatte offenbar die Frage tiefer erfasst als dieser. - Es war mir interessant, dass Heidegger auch sonst mit der modernen Theologie vertraut und besonders ein Verehrer Herrmanns ist auch Gogarten und Barth kennt und besonders den ersteren ähnlich einschätzt wie ich. Sie können sich denken, wie wesentlich es mir ist, dass Sie hierherkommen und an dieser Auseinandersetzung teilnehmen. Die ältere Generation ist dazu unfähig, da sie die Problematik garnicht mehr versteht, um die wir uns bemühen ... " Bultmann spricht sein Erstaunen darüber aus, dass er, der protestantische Theologe, durch so viel Gemeinsames mit dem neuberufenen Philosophen verbunden sei, obgleich dieser eine ganz andere Herkunft habe. Das Gemeinsame ist nicht nur Neuestes wie der theologische Aufbruch mit Gogarten und Barth, sondern auch weniger Neues wie die Theologie Wilhelm Herrmanns, dazu Altes wie Luthers Theologie, die mit neuer Intensität ergriffen wird. Es wird zu zeigen sein, dass weitere gemeinsame Interessen hier zu nennen sind - so die Fortführung von Schleiermachers Ansatz durch die Religionsphänomenologie Rudolf Ottos, die Kritik an Troeltsch, die Neuentdeckung und Würdigung der Eschatologie im Urchristentum. Auf sehr verschiedenen Wegen sind Buhmann und Heidegger doch zu konvergierenden Bemühungen um ein neues Verständnis der religiösen Dimension des Lebens gekommen. Wenn Karl Barths Römerbriejfür Bultmann wie für Heidegger zu einem entscheidenden Anstoß wurde, so suchten beide zur Zeit ihres gemeinsamen Wirkens doch anders als Barth einen Weg, der Theologie die Wissenschaftlichkeit zu sichern - freilich nicht von einer spekulativen Theologie her, die von dem jungen Luther als "Theologie der Herrlichkeit" abgetan worden war, sondern von der Phänomenologie aus, die in die Grundmotive des Existierens einweist.
33 Vgl. RudolfBultmanns Werk und Wirkung. Hrsg. von Bernd Jasperr. Darmstadt 1984. s. 71 f. - Zum folgenden vgl. Antje Bultmann-Lemke: Der unveröffentlichte Nachlass von Rudolf Buhmann - Ausschnitte aus dem biographischen Quellenmaterial. Ebenda S. 194 ff., vor allem 202.
I. Die konvergierenden Wege
Rudolf Bultmann war fünf Jahre älter als Heidegger; er hatte bei der Begegnung mit dem Philosophen schon eine umfangreiche theologische Arbeit hinter sich. Für die Aufschlüsselung des Neuen Testaments hatte er mit anderen einen neuen Ansatz, die formgeschichtliche Methode, durchgesetzt; zugleich hatte er sich mit Gogarten und Barth um eine grundsätzliche Besinnung auf das Verhältnis von Religion und Kultur bemüht. Die leitende Überzeugung war, dass die Theologie zu sich selbst zurückfinden müsse, indem sie in der Zeit eines Umbruchs einen neuen Aufbruch wage. So lag es nahe, auch das Verhältnis zwischen Theologie und Philosophie neu zu bestimmen und dadurch eine Isolierung der Theologie innerhalb der modernen Welt zu vermeiden. Der Bewältigung dieser Aufgabe konnte das Gespräch mit einem jungen Philosophen dienen, der offensichtlich nicht nur ein persönliches Interesse an theologischen Fragen hatte, sondern sich auch in den ältesten wie den neuesten Bemühungen um das Verhältnis von Philosophie und Theologie auskannte. Für die breitere Öffentlichkeit war Heidegger bei der Berufung nach Marburg noch ein unbeschriebenes Blatt. Er war berufen worden, nachdem er bei der Besetzung der gleichen Stelle mehrmals zurückgestellt worden war. Was schließlich überzeugt hatte, war ein Manuskript gewesen. Dort berichtete Heidegger über seinen Versuch, Aristoteles wieder als den entscheidenden Lehrer des Abendlandes zu sehen, aber so, dass der Widerspruch Luthers gegen ihn als Ausgangspunkt einer Rezeption der philosophischen Tradition überhaupt genommen wurde. Durch Edmund Husserl, den Begründer der phänomenologischen Philosophie, wurde der Freiburger Privatdozent ausgezeichnet als der Begabteste unter den jüngeren Phänomenologen, der große Erfolge in seinem Schülerkreis habe. Husserl hatte Heidegger gemäß dessen theologischer Herkunft als besondere Aufgabe die Religionsphänomenologie zugewiesen, auch richtig festgehalten, dass Heidegger sich in seinen religionsphänomenologischen Vorlesungen z.B. mit dem Galaterbrief beschäftige. (Ob Husserl, der sich nach dem Studium und der erregenden Lektüre des Neuen Testaments hatte taufen lassen, dabei an mehr als an die übliche Entgegensetzung von Gesetz und Evangelium dachte, mag man bezweifeln.) Bei den Marburgern musste Husserl vor allem die Befürchtung ausräumen, Heidegger habe seine Zeit im katholischen Theologenkonvikt noch nicht ganz hinter sich gelassen (obwohl man im übrigen in Marburg das Lehrangebot auch durch einen Kenner der mittelalterlichen Philosophie bereichern wollte). Als Husserl am 1. Februar 1922 in einem Brief an Paul Natorp Heidegger dringlich empfahl, bemerkte er auch, dass Heidegger als ein früherer "katholischer" Philosoph in Freiburg nicht frei über Luther handeln könne; so könne eine Berufung nach Marburg für Heidegger von großer Bedeutung sein. Heidegger
DIE KONVERGIERENDEN WEGE
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könne in Marburg auch ein Bindeglied zwischen der Philosophie (also der Phänomenologie) und der protestantischen Theologie werden. 34 Es war dann aber nicht ein Bezug zu Husserls Freund Rudolf Otto, sondern das Gespräch mit Rudolf Bultmann, das eine epochale Bedeutung gewann für eine neue Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Theologie. Dabei wurde die Schleiermacher-Nachfolge Rudolf Ottos gerade zurückgewiesen. Bultmanns theologischer Ansatz muss deshalb aus der Geschichte der Bemühungen verstanden werden, von den Urkunden des christlichen Glaubens her eine Theologie zu entfalten.
1. Erschließung des Neuen Testaments Religion entfaltet sich im Lebenszusammenhang und ist immer durch Tradition bestimmt; das Verhältnis der Religion zur Tradition und deren Einbettung im Lebenszusammenhang kann jedoch sehr unterschiedlich ausgestaltet werden. So liegt im Buddhismus die Tendenz, durchaus kritisch mit den Legenden und Mythen umzugehen, durch die sein Anliegen vermittelt worden ist. Die griechische Religiosität zeigt wenigstens dort, wo sie auch uns noch durch Dichtung und bildende Kunst vor Augen tritt, eine freie Aufnahme und Weiterentwicklung des Überlieferten, und so konnte sie immer wieder gegen die Fixierung der Tradition in Offenbarungsreligionen ausgespielt werden. Die drei großen monotheistischen Religionen haben das philosophische und wissenschaftliche Erbe der Griechen aufgenommen und weiterentfaltet; wenigstens das Christentum und das Judentum (weniger der Islam von heute) haben schließlich den Kern ihrer religiösen Überlieferung zum Gegenstand freien Forschens gemacht und so die eigene Theologie in Krisen gestürzt. Stellt die christliche Theologie (oder die Literaturgeschichte des Urchristentums) heute ,,Apokryphen" zu den kanonischen Texten des Neuen Testaments, dann muss sie fragen, wie es überhaupt zur Ausbildung des Kanons der heiligen Schriften gekommen ist. Hat der Kanon eine bleibend gültige Abgrenzung gegeben oder ist er aus historischer Sicht zu ergänzen bzw. zu reduzieren? Für die urchristliche Gemeinde war der Herr die Norm des Lebens; mit der Sammlung und Nachahmung der Paulusbriefe begann die Literarisierung des Überlieferten. Im zweiten Jahrhundert trat Marcion mit der ketzerischen Abgrenzung eines Kanons hervor; wollte die Großkirche ihm eine Antwort geben, dann musste auch sie ihren Kanon bilden oder die Kanonbildung beschleunigen. Sie konnte mit Origines in Zweifel ziehen, dass Paulus der Verfasser des Hebräerbriefes sei. Mit Dionysius von Alexandrien, dem Schüler des Origines, konnte sie fragen, welcher Johannes es denn sei, der uns in der Geheimen Offenbarung von einer Insel Patmos aus anspreche. Als Luther die Heilige Schrift als Ausleger ihrer
34 Zur universitätspolitischen Situation vgl. Hugo Ott: Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie. Frankfurt / New York 1988. 5.120 ff. - Zum einzelnen vgl. E. Husser!: Briefwechsel. Dordrecht 1994.
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DAS BÜNDNIS BULTMANN-HEIDEGGER
selbst auffasste, stellte er den Hebräerbrief mit dem Jakobus- und dem Judasbrief sowie mit der Geheimen OfJenbarung für sich an den Schluss, und da stehen diese angefochtenen Texte in der Lutherbibel noch heute. Als die Humanisten "zu den Quellen" zurückgingen, konnte Erasmus den Text des Neuen Testaments neu herstellen. Die fragwürdige Ausgabe blieb lange in Geltung. Wenn Johann Albrecht Bengel nach manchen anderen Bemühungen 1734 eine neue Ausgabe publizierte, dann als Grundlage der Erklärung, die sein Gnomon 1742 versuchte. Längst hatte der englische Deismus eine neue Situation geschaffen; z.B. ging Tindals Buch Das Christentum so alt wie die Schöpfong: oder das Evangelium eine WiederveröfJentfichung der natürlichen Religion von 1730 davon aus, dass die Apostel sich über die nahe Wiederkunft Christi getäuscht hatten und sich somit auch in anderen Punkten getäuscht haben könnten. Semler suchte zu scheiden, was in der Heiligen Schrift bleibend zur Offenbarung gehöre und was als zeitgebunden zu erkennen sei. Es war eine große Provokation, als Lessing bibelkritische Arbeiten von Reimarus anonym als Fragmente eines Ungenannten veröffentlichte. Lessing selbst stimmte in keiner Weise den allzu groben Thesen zu, Jesus habe die Gottesherrschaft ganz im nationalistisch-jüdischen Sinne erwartet, die Jünger hätten durch den Diebstahl des Leichnams Jesu die gescheiterten Hoffnungen neu inszeniert. Als Lessing sich selbst Klarheit über die Quellen zu verschaffen suchte, unterschied er die Synoptiker und das JohannesEvangelium; doch stellte er ganz im Zuge der Wertung auch der folgenden Jahrzehnte Johannes wegen seiner geistigen Durchdringung des Berichteten über die anderen Evangelien. Herder sah von anderen Voraussetzungen aus, dass die Evangelisten durch mündlich weitergetragene "Sagen" beeinflusst sein könnten (wie F. A. Wolf es für Homer zeigte). Doch nicht seinem vieldeutigen Begriff des Mythischen, sondern Heynes Bestimmung des Mythos als der Denkform des Kindheitsalters der Menschheit folgte man, als Eichhorn, Gabler und G. L. Bauer den Mythosbegriff auf das Alte und das Neue Testament anwandten. Der junge Schelling nahm diesen neuen Zugang zur Geschichte vom Mythos aus in durchaus kritischer Absicht auf. Dagegen folgte Schleiermacher jener hermeneutischen Tradition, die vom Schriftprinzip der Reformation aus eine neue Intensität bekommen hatte. Doch hielt er fest, dass die biblischen Texte keiner anderen als der allgemeinen Hermeneutik unterlägen und diese als einheitliche und universale Methode auszubilden sei. Sein Antipode Hegelließ jene "theologischen Jugendschriften" in der Schublade, in denen er sich dem Versuch seiner Tübinger Lehrer Flatt und Storr widersetzte, die systematische Auslegung der Bibel mit der damals neuesten, der Kantischen Philosophie in Übereinstimmung zu bringen. Doch beanspruchte er Kants Lizenz, in der Darstellung des Lebens Jesu für das Volk über das historisch Gesicherte hinauszugehen, und so ließ er Jesus in seinem "Leben Jesu" wie Lessings Nathan sprechen. Als Hegel neu in das Kraftfeld Herders geriet und als Frankfurter Hofmeister wieder in persönliche Nähe zu Hölderlin kam, wollte er Jesus nicht mehr nur als den Lehrer der Moral sehen, sondern so, wie er seiner Gemeinde erschien; damit wurde die Religion vom "Mythos" her aufgefasst. Hegel hatte noch viele Schritte zu tun, ehe er in jener
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Philosophie, die repräsentativ wurde für seine Zeit, die religiöse und die philosophische Tradition zur Übereinstimmung brachte. Die lange verborgen gebliebene Geschichte seiner frühen biblischen Betrachtungen stellt uns aber vor die Frage, ob Hegels spekulative Religionsphilosophie überhaupt eine Lösung für jene Probleme bringe, die in den frühen Arbeiten schon aufgenommen worden waren. (Diese frühen Arbeiten über Jesus und den Geist des Christentums mussten in der Exegese ohne Wirkung bleiben, da sie ja erst im zwanzigsten Jahrhundert in eine völlig verwandelte Situation hinein ediert wurden.) Trotzdem war es Hegels Begriff des Absoluten als des Geistes, der zu einer entscheidenden Umwälzung auch in der Erforschung des Neuen Testamentes führte: Das Jahr 1835, in dem David Friedrich Strauß den ersten Band seines Werkes Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet publizierte, markiert nicht nur den Beginn der Spaltung der Hegelschen Schule, sondern auch eine Zäsur in der Geschichte der Theologie. Strauß hatte noch die letzten Vorlesungsstunden Hegels in Berlin hören können; mit Hegel fand er in dem, was über Jesus als den Christus gesagt worden war, die Wahrheit über die Menschheit im ganzen oder die Menschheit als Gattung. So erhielt er die Freiheit, das, was scheinbar historisch über Jesus überliefert wurde, als einen Mythos aufZufassen, der sich vor allem alttestamentlicher Vorstellungen und messianischer Hoffnungen bediente. Bruno Bauer, der zuerst Strauß bestritten hatte, führte diese neue Position ins Extrem, indem er (eher mit dem Hegel der Phänomenologie des Geistes) die Botschaft von Jesus dem Christus als eine Dichtung aus dem Geist der Spätantike darstellte. Strauß wie auch Bauer verloren ihre Ämter an der Universität; vielleicht aber ist ihre größere Tragik die, dass ihre radikale Kritik sie mehr und mehr aus einem Bezug zur verhandelten Sache entfernte. Nicht von ungefähr war es der Strauß der späten Schrift Der alte und der neue Glaube, an dem Friedrich Nietzsche in seiner ersten unzeitgemäßen Betrachtung seine Kritik der "Bildungsphilister" exekutierte. Auch der Tübinger Ferdinand Christi an Baur musste über seinen Schüler Strauß urteilen, dass dieser eine Kritik der evangelischen Geschichte ohne eine Kritik der Evangelien gegeben habe. Ebendiese Kritik und Analyse der neutestamentlichen Texte entfaltete Baur, indem er mit Hegel die Geschichte des Urchristentums als dialektische Geschichte einer Idee darstellte. In der Abhandlung Die Christuspartei in der korinthischen Gemeinde von 1831 hatte Baur darauf aufmerksam gemacht, dass das Apostelamt des Paulus von judaisierenden Petrusanhängern bestritten worden war. Später führte er die Geschichte der urchristlichen Gemeinde überhaupt auf den Gegensatz von Hebräern und Hellenisten zurück, der ins Extrem entwickelt und dann in der altkatholischen Kirche ausgeglichen worden sei. Diese bewegte Geschichte sollte den neutestamentlichen Texten jeweils ihren geschichtlichen Ort anweisen, führte aber auch zu Unterscheidungen bei der Authentizität der Texte. (Nicht alle Briefe, die unter dem Namen des Paulus überliefert wurden, stammen von ihm selbst; was von Paulus mitgeteilt wird, ist authentischer als der Bericht der Apostelgeschichte, usf.) Diese neue Sicht konnte radikalisiert und auch bestritten werden; sie konnte durch neue
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editorisch-philologische Bemühungen eine bessere Basis erhalten. Entscheidend korrigiert wurde das Geschichtsschema durch die These Ritschls, dass das extreme Judenchristentum nur wenig auf die frühe katholische Kirche eingewirkt habe; deren Wurzel sei vielmehr ein von Paulus nicht oder wenig beeinflusstes vulgäres Heidenchristenturn gewesen. Diese These wurde von Harnack weitergeführt, der das christliche Dogma als ein Werk des griechischen Geistes auf dem Boden des Evangeliums deutete. Vor eine neue Situation wurde die Theologie gestellt, als die Geistesgeschichte (sogar im Zusammenhang einer "religionsgeschichtlichen Schule") nachwies, wie sehr die orientalische und die antike Religionsgeschichte das Neue Testament geprägt haben. Älteste mythische Vorstellungen wurden hier ebenso herangezogen wie die spätantiken Mysteriengemeinden oder die Popularphilosophie und die Einstellungen der Unterschichten der damaligen Großstädte. Musste die Bibelexegese nicht in die allgemeine Religions- und Literaturgeschichte aufgelöst werden? Mochten Theologen wie Wellhausen abwandern in die philologisch-historischen Fächer - Harnack widersprach mit Entschiedenheit der Auflösung der "theologischen" Fakultät, indem er noch einmal die christliche Religion als "die" Religion auszeichnete. Es fällt auf, dass von Hegel bis Ritschl und Harnack und zumeist auch in der religionsgeschichtlichen Schule der eschatologische Zug im Urchristentum zwar nicht unbeachtet blieb, aber doch als nebensächlich behandelt wurde. Hier war es Johannes Weiß, der - nach früheren Hinweisen auf die Bedeutung der jüdischen Apokalyptik - Ritschl (seinem Schwiegervater) entschieden widersprach und das Reich Gottes, von dem Jesus gesprochen hatte, als eschatologische Größe verstand. So konnte Albert Schweitzer in seiner Geschichte der Leben-Jesu-Forschung festhalten, dass Johannes Weiß nach Reimarus und nach Strauß mit seiner kleinen Schrift Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes (1892) ein drittes großes "Entweder-Oder" in der Leben-Jesu-Forschung darstelle. Schweitzer wies nach, dass die liberale Theologie nicht weniger dogmatisch war als die von Reimarus und Strauß gesprengte ältere Theologie: Wer glauben wollte, wie Jesus geglaubt habe, fand seinen eigenen sittlich begründeten Glauben bei Jesus wieder. Schweitzer ging davon aus, dass Jesus in der Naherwartung des Reiches Gottes sich selbst als Messias gesehen habe; doch musste seine Geschichte der Leben-Jesu-Forschung durch den Obertitel Von Reimarus bis Wrede auch jenen "Skeptiker" nennen, der die Auffassung Schweitzers in Zweifel gezogen hatte. Damit war die Aufgabe gestellt, verschiedene Schichten in den neutestamentlichen Texten zu unterscheiden und die apokalyptischen und eschatologischen Elemente entweder den frühen oder den späten Schichten zuzuweisen. Als die "Formgeschichte" diese Aufgabe in ihrer Weise anpackte, rief Karl Barth mit seinem Römerbrief(1919) in einer unruhigen Zeit die Theologie zu dem Auftrag zurück, die historische Distanz zu übetwinden und nur das Evangelium selbst zu predigen. Konnten diese Gegensätze noch einmal ausgeglichen werden? Werner Georg Kümmel, der Nachfolger Bultmanns auf dem Marburger Lehrstuhl, hat die entscheidenden Schritte der wissenschaftlichen Bemühung um das
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Neue Testament im einzelnen aufgewiesen. Seine Dokumentation35 zeichnet sich unter verwandten Unternehmen dadurch aus, dass sie getragen ist vom eigenen Engagement für die Entschlüsselung dieser "Heiligen Schrift". Kümmel schließt mit der "geschichtlich-theologischen Betrachtung", die in den zwanziger Jahren als neue Position entfaltet wurde und übersehbar geworden zu sein scheint. So stellt er am Ende des Buches Hans von Sodens Rede Was ist Wahrheit? von 1927 zusammen mit Bultmanns Aufsatz Der Begriff der Offenbarung im Neuen Testament von 1929. Die Rede von Sodens stellt in einer geschichtlichen Besinnung das Erbe der Griechen und das Erbe der jüdisch-christlichen Religion, damit auch Philosophie und Theologie zueinander. Dazu verweist Kümmel auf ein Werk des Cambridger Neutestamentlers Sir Edwin element Hoskyns: The Riddle 0/ the New Testament von 1931 (nach der zweiten Auflage von 1936 deutsch Stuttgart 1938). Darin ist das eigentliche Rätsel des Neuen Testaments die Frage: "Welche Beziehung bestand zwischen Jesus von Nazareth und der Urchristenheit?" Damit ist vorweggenommen, wie nach dem Zweiten Weltkrieg der historische Jesus dem Christus des Glaubens vorangestellt wurde. Von Bultmanns Untersuchung wird nicht gesagt, dass sie der Text war, der dem ursprünglichen Plan nach in einer Gemeinschaftspublikation zusammen mit Heideggers Vortrag über Phänomenologie und Theologie veröffentlicht werden sollte. Natürlich war unbekannt, dass Heidegger in seinen Briefen an Bultmann Invektiven gegen von Sodens Vortrag richtete und selber die Frage nach der Wahrheit entfaltete. Was nebenher über Bultmanns Bezug zu Heideggers Philosophie gesagt wird, bleibt äußerlich und an der Oberfläche. Überhaupt wird das Verhältnis der Exegese des Neuen Testaments zur allgemeinen Geistesgeschichte weitgehend ausgespart. Die Namen von Spinoza, Feuerbach und Nietzsche fallen nicht, obwohl diese Autoren doch die Situation entscheidend bestimmten, aus der heraus auch das Neue Testament gelesen wurde. Die verborgen gebliebenen Bemühungen des jungen Hegel um den Geist des Christentums und sein Schicksal können nicht interessieren, da sie nicht in die Forschungsgeschichte eintraten. Aber auch Bruno Bauer wird als ein Schriftsteller ohne eigentlichen Forschungsertrag ausgeschieden. Der Name von Bultmanns Marburger Lehrer Wilhelm Herrmann fällt so wenig wie der Name Gogartens; Troeltsch wird nur in Anmerkungen mit seinen geistesgeschichtlichen Arbeiten zitiert. Um eine andere Perspektive geht es hier: Die folgenden Hinweise auf den Weg Bultmanns sollen nicht seine Leistung als Neutestamentler herausstellen, sondern die Frage nach der Möglichkeit einer Begegnung mit Heidegger vorbereiten.
35 Vgl. Werner Georg Kümmel: Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme. 2. Auf!. Freiburg / München 1970.
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2. Bultmanns Weg zur "Existenz" Rudolf Buhmann fand von der Tradition seiner Familie her den Weg zur Theologie. Er hat seine bald umstrittene Theologie auch in Großbritannien und in Amerika vertreten, doch blieb die Verbindung humanistischer und christlicher Motive immer als das angestammte Heimatliche gegenwärtig. In Wiefelstede im Lande Oldenburg am 20. August 1884 als Sohn eines Pfarrers geboren, besuchte er das humanistische Gymnasium in der Stadt Oldenburg. Die klassizistischen Bauten Oldenburgs zeigen die Orientierung am Griechischen; die Hauptkirche ist zwar gotisch ummantelt, doch eine Prediger-Kirche, in der die Kanzel als Ort der Verkündigung des Wortes über dem Altar steht. Die Weser und die Insel Wangerooge mit ihren bäuerlichen Zügen blieben für Bultmann immer das "irdische Paradies". Das Studium der Theologie führte ihn nach Tübingen, Berlin und Marburg. An der Marburger Universität wurde er promoviert; an ihr konnte er sich auch habilitieren. Der weitere Weg führte zu Professuren in Breslau und Gießen und 1921 zurück nach Marburg. Dort ist er 1976 gestorben. Dem Exegeten ging es von Anfang an darum, die Auslegung des Neuen Testamentes als die zentrale theologische Aufgabe hineinzustellen in die Theologie überhaupt und diese mit den Fragen der Zeit zu vermitteln. So lehnte er es schon als Student (in einem Brief vom 5. Juni 1905) ab, bloß an Traditionen zu kleben oder sie historisch zu erforschen und als Theologe (wie Harnack) "zu sehr Gelehrter" zu sein. Nicht von ungefähr berief er sich dabei auf einen der letzten großen Reformatoren, die die Anliegen ihrer Zeit aufgenommen hatten: "Wenn nicht ein Mensch, wie etwa Schleiermacher, die ganze Theologie wieder eine Stufe höher hebt, so wird sie sich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit zersplittern. Denn so großartig die Leistungen in den historischen Fächern sind, so sehr fehlt es an dem einen Geist, der alle Errungenschaften der historischen Theologie umfasste und systematisch vetwertete, der wirklich von Grund auf eine neue Theologie schaffen würde ... "36 Wilhelm Herrmann gab die Möglichkeit, Schleiermachers Reform der Theologie zu verbinden mit den Motiven, die von Kant geweckt worden waren. Als Neutestamentler nahm Bultmann - jedoch durchaus kritisch - die Versuche auf, die urchristliche Religiosität in die orientalische und spätantike Religions- und Geistesgeschichte einzubetten. Die Disssertation Der Stil der paulinischen Predigt und die kynisch-stoische Diatribe von 1910 folgte einer Anregung seines Lehrers Johannes Weiß. Eine "wirklich literargeschichtliche Betrachtung" des Neuen Testaments zeige, dass Paulus in seinen Briefen (und sicherlich auch in seinen Predigten) dem Stil der Diatribe, der kynisch-stoischen Volkspredigt, folge. Größer als die Abhängigkeit sei jedoch die Verschiedenheit, der Unterschied zwischen der philosophischen Resignation gegenüber dem immer geltenden Gesetz der Welt und dann der geschichtlichen Hoffnung im Glauben an das Heil, damit an das Ende der alten Welt und an ein neues Leben. Die Arbeit der religionsgeschichtlichen Schule wurde bedeutsam. Wenn Bult36 Vgl. Antje Bultmann-Lemke in Jaspert (5. Anm. 33). S. 200.
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mann 1923 in der Festschrift für Hermann Gunkel seinen Aufsatz Der religionsgeschichtliche Hintergrund des Prologs zum Johannes-Evangelium veröffentlichte, stattete er überhaupt seinen Dank an die religionsgeschichtliche Schule ab. Die Frage kam dann nicht mehr zur Ruhe, inwieweit das Johannes-Evangelium schon auf eine Gnosis zurückgreifen konnte und für seine Logosspekulation alte orientalische Weisheits mythen voraussetzte. Bultmann habilitierte sich 1912 in Marburg mit einem Thema, das durch Adolf J ülicher vorgeschlagen worden war: Die Exegese des Theodor von Mopsuestia. Doch ging es nicht nur um die exegetische Arbeit, deren Geschichte und deren methodische Probleme. Bultmann fragte mit Schleiermacher nach der Bedeutung der Religion für die moderne Welt. Er konnte Schleiermachers Reden über die Religion in der Ausgabe Rudolf Ottos lesen, die 1899 erstmals die Fassung der Erstauflage wieder verfügbar gemacht hatte. Mit Otto wurde Bultmann in Breslau gerade in der Zeit persönlich bekannt, in der dieser mit einem folgenreichen Buch die Religionsphänomenologie begründete: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen (Breslau 1917). Das Buch knüpfte an Schleiermacher an, aber auch an die psychologische Kantdeutung der Schule von Fries; so konnte es Bultmann zu einer neuen Auseinandersetzung mit dem Marburger Kantianismus veranlassen. Schleiermacher hatte die Religion verwurzelt im Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit (gemäß der Formulierung der späteren Glaubenslehre). Diese Abhängigkeit war nicht Abhängigkeit des einen vom anderen, sondern Abhängigkeit von einem umfassenden Ganzen. Rudolf Otto wollte dieses Gefühl objektiver fassen, nämlich als das Kreaturgefühl, das durch das "Numinose" geweckt wird. Dieses Numinose ist mysterium tremendum; als das "ganz Andere" erweckt es Staunen und Scheu, ist so auch fascinans und sanctum. Diese Phänomenologie wird durch Beispiele aus der Religionsgeschichte bis hin zu Luther belegt. Schleiermacher wird kritisiert, weil er Jesus nur als divinatorisches Subjekt sieht, nicht auch als den Christus, in dem die Gemeinde das Heilige erfährt. Nach Otto kann das "Irrationale" des Numinosen auch rational schematisiert werden; dann wird das tremendum zur Gerechtigkeit, das fascinans zur Güte und Liebe, das mirum zum Absoluten. Bultmann konnte nach mehr als einem Jahr der Beschäftigung mit Ottos Buch nicht zugestehen, dass diese Religionsphänomenologie den Ansatz Schleiermachers verbessere. Ein Brief vom 6. April 1918 an Otto (der nach Marburg übergewechselt war) versuchte eine grundsätzliche Kritik. Wenn Rudolf Otto von psychischen Zuständen und deren "Verfeinerung" in der Geschichte ausgehe, entstehe die Gefahr, dass die Wirklichkeitsbeziehung der Religion verloren gehe und Religion zu einer Illusion werde, deren "Objekte" also Produkte des Gefühls seien. Das Gefühl des Numinosen gerate in eine Nähe zum ästhetischen Gefühl; auch die rationale Schematisierung laufe auf eine Verdiesseitigung des Transzendenten hinaus. Diesen Tendenzen widerspreche freilich die Absicht, Religion als Verhältnis zu einer "jenseitigen" Wirklichkeit, zum ganz Anderen, zu fassen. Doch dieser Versuch sei Schleiermacher besser gelungen. Bultmanns Rechtfertigung Schleiermachers konnte an Wilhelm Herrmann anknüpfen, der gegen
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Kants "nachkritische" Religionsphilosophie und gegen die Marburger Kantianer mit dem kritischen Kant und der Reformation die grundsätzliche Verschiedenheit von Wissenschaft und Religion betonte, aber die Nähe von Sittlichkeit und Religion beibehielt. Nach Herrmann führt die Betonung des "Gefühls" beim späten Schleiermacher hin zu Autoren wie Natorp, der Religion nur in den "Grenzen der Humanität" zulässt. Mit dem Schleiermacher der frühen Reden betont Herrmann die Bindung der Religion an das Kontingent-Historische. Bultmann übernahm die negative Einstellung zum späten Schleiermacher nicht; über Herrmann hinausgehend, löste er mit Schleiermacher auch die Einheit von Sittlichkeit und Religion auf. 3? Die Universität Breslau konnte am 21. November 1918 den 150. Geburtstag Schleiermachers, eines Sohnes der Stadt, feiern. Um die Jahreswende hielt Bultmann vor der Jugendvereinigung der Deutschen Demokratischen Partei (die durch Friedrich Naumann geprägt wurde) einen Vortrag Religion und Kultur. Ein folgender Kurs behandelte nach der "Weltanschauung der Aufklärung" detailliert Schleiermachers Reden. Bultmann publizierte den Vortrag 1920 in der Christlichen Welt. Der Vortrag zeigt, dass Bultmanns theologisches Fragen nicht durch die spezifischen Kriegserfahrungen geprägt wurde, wohl aber im Zusammenhang mit dem weither kommenden Umbruch auch im politisch-sozialen Bereich stand. Da die November-"Revolution" das Verhältnis von Staat und Kirche neu zur Entscheidung gestellt hatte, begann Bultmann mit der Frage nach dem Christentum als "Kulturfaktor"; er endete mit präzisen politischen Bemerkungen zur Situation. Der "Kommunismus" galt ihm als "der stärkste Ausdruck für das Sehnen nach religiöser Neugeburt"; er sei bei seinen geistigen Führern - anders als die Sozialdemokratie - ein Protest gegen die Vergötterung der Kultur. Freilich nehme er die Kultur als "Zustand" und nicht als "Richtung" oder als "ideale Norm", die sich über jede Stufe der tatsächlichen Entfaltung erhebe. 38 Durch eine allgemeingeschichtliche Betrachtung zeigte Bultmann, dass Wissenschaft, Kunst und Sittlichkeit im Schoß der Religion entstanden, sich dann aber von der Religion emanzipierten und Autonomie gewannen. Wissenschaft, Sittlichkeit und Kunst gehen als Aktivitäten des menschlichen Geistes im theoretischen, praktischen und ästhetischen Bereich jeweils in ihrer Weise "methodisch" vor und gewinnen so überindividuellen Charakter. Religion kann dagegen kulturfremd sein (und war das auch im Urchristentum); sie ist dem Individuum verbunden. Schleiermacher ist Garant dafür, dass Religion und Kultur grundsätzlich verschieden sind. Bultmann eignet sich die Rede von der Religion als dem Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit zu, mit der Schleiermacher die Bestimmung der 37 Zum einzelnen vgl. Martin Evang: Rudolf Bultmanns Berufung auf Friedrich Schleiermacher vor und um 1920. In: Jaspert (s. Anm. 33). S. 3 ff. - Kar! Barth wollte eine Kritik vortragen, wenn er Bultmann vorwarf, seinen Römerbrief mit Schleiermachers Reden und R. Ottos Religionsphänomenologie zu lesen (ebenda S. 4). 38 Vgl. Bultmanns Vortrag in Anfänge der dialektischen Theologie. Teil II: Rudolf Bultmann, Friedrich Gogarten, Eduard Thurneysen. Hrsg. von Jürgen Moltmann. München 1963,4. Aufl. 1987. S. 11 ff., vor allem 28 f., 28.
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Religion als Anschauung des Universums verschärft hat. In der Religion macht der Mensch sich sein Schicksal zueigen; er ist nicht primär aktiv wie in der Kultur, sondern bezieht sich auf das Jenseits eines sinngebenden Göttlichen. Dieses Haben von Religion knüpft an Kontingent-Historisches an, und so ist es eine "Privatsache". Die Kirche muss Zusammenschluss der Gläubigen zu Freikirchen bleiben; die V olks- und Staatskirche kann nicht das Ideal sein. Religion hat so wenig eine Geschichte, wie Vertrauen, Freundschaft und Liebe als nicht objektivierbare Tatbestände eine Geschichte haben (während das Überindividuelle der Kultur durchaus von primitiven zu entwickelteren Formen führen kann). In der Religion schenkt der Augenblick jeweils den Reichtum des Lebens. Für diese Weise, Religion aufzufassen, findet Bultmann aber nicht nur bei Schleiermacher, sondern auch in der eigenen Zeit vetwandte Bestrebungen. Wie die Romantik auf die Aufklärung gefolgt sei, so reagiere jetzt die Kunst auf die bloß wissenschaftlich-kulturelle und historische Bildung, indem sie sich selbst transzendiere und "in ein Jenseits" hinübergreife. So könne die zeitgenössische Kunst die Gotik als seelenverwandt empfinden; Dichter wie Dostojewski und Werfel gäben der Reaktion gegen die Kulturvergötterung Ausdruck. Schon dieser Vortrag zitiert aus Rilkes Stunden-Buch das Buch von der Pilgerschaft (in Westerwede geschrieben); im zweitletzten Gedicht wird dort Gott, der in der Nacht ins Gebet kommt, der "Gast" genannt, "der wieder weitergeht".39 Die Neuentdeckung des eschatologischen Grundzugs des urchristlichen Glaubens war zwar nur langsam, aber gegen alle Widerstände immer stärker zum Problem der Theologie geworden. So wählte Bultmann 1917 in der Festschrift für seinen Lehrer Wilhelm Herrmann das Thema Die Bedeutung der Eschatologie für die Religion des Heuen Testaments. Die urchristliche Bewegung, aber auch die Gedankenwelt des Paulus lässt sich nach diesen Ausführungen aus der Eschatologie verstehen. Doch bezieht Bultmann diese Eschatologie noch im Sinne der idealistisch beeinflussten Theologie auf etwas, was mit Eschatologie "nichts zu tun" habe: Paulus wolle mit dem eschatologischen Begriff der Gerechtigkeit "etwas ganz Anderes zum Ausdruck bringen": "das Erlebnis, in dem ihm die ganze Größe des sittlichen Geistes offenbar ward".40 Wird hier nicht "mystisch" (nämlich in einem "Erlebnis") ein ethisch-metaphysischer Begriff von Gott gewonnen, der dann Paulus (und vielleicht auch Jesus) unterstellt wird? In diesem Sinn hatte noch Albert Schweitzer gedacht (wobei er die ethische Einstellung fortbildete zur Ehrfurcht vor dem Leben). Doch führte Bultmann die Aufarbeitung der LebenJesu-Forschung durch Schweitzer in anderer Weise fort als dieser selbst. Er unter39 Später werden die Rilke-Verse z.B. zitiert in Rudolf Bulrmann: Glauben und Verstehen. Dritter Band (s. Anm. 27). S. 12l. 40 Vgl. Zeitschrift für Theologie und Kirche 27 (1917). Festschrift für Wilhe1m Herrmann. S. 7687, vor allem 85 f. - Der Aufsatz greift die Antrittsvorlesung als Privatdozent von 1912 (Die Bedeutung der Eschatologie für das Urchristentum) wieder auf, doch die damalige Berufung auf die geschichtlich sich realisierende "Idee" des Christentums ist modifiziert: nicht Religion als Beziehung zum Jenseits hat Geschichte, sondern nur ihr Ausdruck in der Kultur. Vgl. Martin Evang: RudolfBultmann in seiner Frühzeit. Tübingen 1988. S. 274.
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stellte Jesus nicht mehr ein messianisches Selbstbewusstsein (oder gar den Versuch, durch seinen Opfertod das Kommen des Gottesreiches herbeizwingen zu wollen). Mit den Radikalen in der Evangelienkritik, mit Wellhausen und Wrede, unterschied er verschiedene Schichten im Neuen Testament; dabei wurde die Auffassung von Jesus als Messias erst der urchristlichen Gemeinde zugesprochen. Der Aufsatz Die Frage nach dem messianischen Bewusstsein Jesu und das Petrusbekenntnis von 1919/20 nahm als Wirklichkeit, was Wrede als Möglichkeit erwogen hatte: Das Bekenntnis des Petrus, Jesus sei der Messias, sei in Wirklichkeit sein Ostererlebnis gewesen. 41 Die Auffassung, dass uns nur noch die Christuserfahrung der Gemeinde einen Zugang zu Jesus gebe, musste auf die Erschließung des Neuen Testaments zurückwirken; mit anderen Forschern - K. L. Schmitt und Dibelius - bildete Bultmann in seiner Geschichte der synoptischen Tradition von 1921 die "formgeschichtliche" Methode aus. Es ging nun nicht mehr nur quellenkritisch um den Nachweis, dass Markus unsere älteste erhaltene Überlieferung ist, die zusammen vor allem mit einer Quelle der Reden Jesu von Matthäus und Lukas benutzt worden sei; vielmehr wurde die synoptische Überlieferung in kleine Texteinheiten oder "Formen" aufgelöst, die vor ihrer Zusammenfügung oder Redaktion durch die Evangelisten ihren "Sitz" im Leben der Gemeinde hatten. In der Christlichen Welt formulierte 1920 Friedrich Gogartens Aufsatz Zwischen den Zeiten am schroffsten die Forderung eines Umbruchs auch in der Theologie. Gogarten hatte von Fichte her zur Religionsphilosophie gefunden, in das Fragen nach Religion aber auch seine Tätigkeit im Pfarrdienst und den Rückgang auf Luther eingebracht. Er schrieb in seinem Artikel von der Zeit jener, die Lehrer hatten sein wollen: ,,50 fern waren wir dieser Zeit, dass wir uns immer nur außer ihr suchen konnten, und Nietzsehe und Kierkegaard, Meister Eckehard und Lao-T se sind manchen unter uns mehr Lehrer gewesen als selbst die von Euch, denen wir unser ganzes geistiges Werkzeug verdanken." Was anderen einen Schrecken einjagte (der so wirkungsvoll von Spengler angesagte Untergang des Abendlandes), wurde akzeptiert: "Nun sind wir des Untergangs nur froh, denn man lebt nicht gerne unter Leichen." Den kommenden Jahrzehnten gab Gogarten die Stichworte vor. Einmal, so hielt er fest, erwartete man von einer neuen Kultur das Heil. ,,Aber dieser Traum ist ausgeträumt." Gerade in dieser Enttäuschung, "zwischen den Zeiten", könne Religion neu erfahren werden. "Der Raum wurde frei für das Fragen nach Gott. Endlich. Die Zeiten fielen auseinander und
41 Vgl. RudolfBuhmann: Exegetica. Hrsg. von Erich Dinkler. Tübingen 1967. S. 1-9. -Vgl. auch Erich Dinkler: Petrusbekenntnis und Petruswort. Das Problem der Messianität Jesu. In: Zeit und Geschichte. Dankesgabe an Rudolf Buhmann zum 80. Geburtstag. Hrsg. von Erich Dinkler. Tübingen 1964. S. 127-153. Dinkler fasst das vorösterliche Petrusbekenntnis von Cäsarea Philippi als historisch geschehenes. Wie ist es dann zu erklären, dass Petrus nach seinem Messiasbekenntnis von Jesus mit dem Satan identifiziert wird? Petrus meint den gesalbten König Israels. Jesus weist diese Zumutung, ein nationaler Retter zu sein, ab! Als Jesus als "König der Juden" gekreuzigt worden war, wurde der Christustitel dem Missverständnis dadurch entzogen, dass er mit dem Auferstandenen verbunden wurde. - Zum folgenden vgl. zur Formgeschichte Kümmel (s. Anm. 35). S. 417 ff.; vgl. dazu auch oben S. 32 f.
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nun steht die Zeit still. Einen Augenblick? Eine Ewigkeit? Müssen wir nun nicht Gottes Wort hören können?"42 Es war eine Tagung der Freunde der Christlichen Welt auf der Wartburg, die Bultmann und Gogarten mit zwei wichtigen Vorträgen nebeneinander stellte. Am 29. September 1920 hielt Bultmann seinen Vortrag Ethische und mystische Religion im Christentum. Am nächsten Tag sprach Gogarten über die Krisis der Kultur. In Gogarten glaubte der weit gestreute Zuhörerkreis Luther selbst reden zu hören oder Jesus die Tische der Wechsler im Tempel umstürzen zu sehen (wie der Dichter Wilhelm Schäfer formulierte). Gogarten suchte zu zeigen, dass der Weltkrieg nur ein Vorzeichen der Krisis der Zeit gewesen sei; die Religion sei aber nicht als Seele der Kultur in diese Krisis gerissen, sondern die Krisis jeder Kultur. Unter denen, die widersprachen, war auch Ernst Troeltsch. Er wollte von einem "freien" Protestantismus aus zwischen Theologie, Religion und Geschichte und so zwischen Theologie, Philosophie und Geschichtsphilosophie vermitteln. In dem "Erisapfel" Gogartens sah er einen ,,Apfel vom Baume Kierkegaards". Er selbst wollte "Gottes Wesen und ewige Schöpfung" nicht der Welt entgegenstellen, sondern sie als Leben der Welt sehen. Gogarten konnte seinem einstigen Lehrer nur eine "romantische Theologie" bescheinigen, die die Religion als Seele der Kultur fasse und dem Fortgang der Geschichte anheimgebe, so aber die christliche Offenbarung, die keine Religion in diesem Sinne sei, verfehle. Gogarten fand damals in Ferdinand Ebners "pneumatologischen Fragmenten" Das Wort und die geistigen Realitäten eine Stütze für seine Auffassung, Gott könne nur als das "absolute Du" aufgefasst werden, das mir nicht zum Ich werden könne. Nach dem plötzlichen Tode von Troeltsch stellte Gogarten noch einmal dessen Historismus heraus, der auch den christlichen Glauben zu einer Angelegenheit des Europäismus historisiere. Zwar sehe Troeltsch in der Erfahrung des "Fremdseelischen" das Problem der Geschichte; indem er aber das Fremde im eigenen Leben wiederfinden wolle, verbleibe er im Bann des Hegelschen Geistbegriffs. 43 Bultmann trug in seinem Vortrag die neuen religionsphilosophischen und theologischen Motive in durchaus eigenständiger Weise vor, da er sie mit den Problemen der Auslegung des Neuen Testaments und des Bezugs zur urchristlichen Religionsgeschichte verband. Seit Baur und Rirschl habe man die urchristliche Religiosität einheitlich vom ethischen Gottesverständnis Jesu her entfaltet. So habe man die Gotteskindschaft zugleich als "Gabe und Aufgabe" verstehen können. Wrede und die religionsgeschichtliche Schule aber hätten den Unterschied zwischen Jesus oder der palästinensischen Gemeinde und Paulus oder den hellenistischen Gemeinden aufgewiesen. Erst in den hellenistischen Gemeinden habe der Christusmythus und der Kyrioskult zu einem "Evangelium" geführt; Jesus selbst sei als Gesetzeslehrer und Prophet der kommenden Gottesherrschaft noch 42 Vgl. den Vortrag von Gogarten in Anfänge der dialektischen Theologie. Teil II (s. Anm. 38). S. 95 ff. 43 Vgl. Anfänge der dialektischen Theologie. Teil II (s. Anm. 38). S. 94, 101 ff., 134 ff., 140 ff., zum folgenden 29 ff.
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in der jüdischen Religiosität verblieben. Diese nötigen Differenzierungen würden von Troeltsch nicht berücksichtigt. In Gogarten konnte Bultmann den Bundesgenossen begrüßen. Er akzeptierte auch die Kulturkritik von Karl Barths Römerbrief, doch musste Bultmann Barths "enthusiastische Erneuerung" des paulinischen Christusmythus als eine "Zurechtmachung", als Umdeutung von Geschichte in Mythus ablehnen. Bultmann rechnete sich selbst zur "historischkritischen" Theologie. Den Fehler der "liberalen" Theologie sah er darin, dass diese in ihrem angeblich historischen Rückgang aufJesus einen "religiös gefärbten Moralismus" mit "ethischer Religion" verwechselt habe. Bultmann konnte den Ruf nach "Mystik" wenigstens insofern aufnehmen, als er zur urchristlichen Religiosität auch den Kult der hellenistischen Gemeinden rechnete und Mythus und Kult als "notwendige Form für die Existenz einer religiösen Gemeinschaft" nahm. Einen Ansatzpunkt für ein neues Verständnis von Religion fand Bultmann in Rudolf Ottos Rede vom "ganz Anderen". Dieses ganz Andere sei aber nicht das "Gute", das der Vernunft zugänglich sei, sondern eine Macht, die unverfügbar das Schicksal des Menschen "durchwalte" und sein Leben "trage". Noch vor dem Ersten Weltkrieg hatte Max Weber mit seinem Heidelberger Kreis durch seine Liberalität den Raum für jene geschaffen, die diese Liberalität dann durch neue Orthodoxien umstürzten oder doch zu übersteigen suchten. (So verschiedene Gestalten wie Georg Lulcics und Ernst Bloch, Hans Ehrenberg und Karl Jaspers wären hier zu nennen. 44 ) Die Anstöße, die von Heidelberg ausgingen, standen nicht allein. In ähnlicher Weise gab der Marburger Theologe Martin Rade mit der Christlichen Welt als dem Publikationsorgan des "freien Christentums" und mit zugehörigen Tagungen einen Raum für jene, die die "liberale" Theologie in Frage stellten. So konnte Gogartens Aufsatz Zwischen den Zeiten aus der Christlichen Welt den Titel hergeben für jene Zeitschrift, die dann ab 1923 unter der Leitung von Barth, Gogarten, Thurneysen und Merz der neuen theologischen Bewegung ihre geschichtliche Durchschlagskraft gab. Rade publizierte die Wartburg-Vorträge von Buhmann und Gogarten noch 1920; so musste er den Protest derer auf sich ziehen, die seine Zeitschrift bis dahin getragen hatten. Zum Beispiel wandte Paul Wernle sich in einem Brief an Rade vom 6. 12. 1920 dagegen, dass die Christliche Welt sich zum Sprachrohr von "Phantasten" wie Bultmann, Gogarten und Barth mache. Es gäbe "Grenzen des Geschmacks, die einfach verbieten, den Bultmannschen Unsinn abzudrucken". Der Baseler Dogmen- und Kirchenhistoriker hatte noch als Neutestamentler in bedeutsamen Arbeiten den Unterschied zwischen Jesus und Paulus festgehalten, aber zurückverwiesen auf Jesu Leben und Lehre und dabei die eschatologischen Züge als zeitbedingt in den Hintergrund gedrängt. Wernles Empörung kam nicht zur Ruhe: Bultmann, so schrieb er im Februar 1921, lasse "jedes religiöse Organ sowohl für Jesus wie für 44 Vgl. Paul Honigsheim: Zur Hegel-Renaissance im Vorkriegs-Heidelberg. Erkenntnissoziologische Beobachtungen. In: Hegel-Studien II (1963). S. 291 fE - Zum folgenden vgl. Bernd Jaspert: RudolfBultmanns Wende von der liberalen zur dialektischen Theologie. In Jaspert (s. Anm. 33). S. 25 ff., vor allem 29, 30 ff., 33 ff.
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Paulus vermissen"; "er arbeitet mit ihnen wie ein Schneidergeselle und nicht wie ein frommer Mensch. Jesus ein braver Jude mit ein paar Moralsprüchen und ein bissehen Vorsehungsglaube, aber nicht eigentlich wirklich tiefer Religion ... " Da die Christliche Welt auch noch darauf hinwies, wie Barth sich auf Overbecks U nterscheidung zwischen der urchristlichen Eschatologie und der neuzeitlichen Tendenz zur Kultur berief, bemerkte Wernle über Overbeck: "Ich habe den alten Herrn selber gut gekannt, wie wird er im Grabe lachen über seine Heiligsprechung. Es gibt wenigstens auf Erden noch schlechte Witze." Als die Marburger Theologen Bultmann in ihre Fakultät beriefen, hielt Wernle Rade entgegen: "Sie leiten damit ein Begräbnis ein." Da Rade Wernles ersten Brief Bultmann zur Kenntnis gab, konnte dieser am 19. Dezember 1920 Rade den Weg weisen, den er gegangen war. Als Student, so schrieb er, habe er selbst von dem geistigen Leben gezehrt, das in der theologischen Gruppe lebendig sei, zu der Wernle gehöre. Nach dem Studium habe er in diesem Sinn auch zu predigen versucht. "Ich habe mich seinerzeit gegen die Auffassung der Person J esu gesträubt, die T roeltsch 1911 in der kleinen Schrift über die Bedeutung der Geschichtlichkeit Jesu vertrat. Ich meinte auch meine Studenten diesen Weg führen zu müssen, - bis ich einsah, dass ich von der Wärme fremden Feuers gelebt hatte, dass mir in Wahrheit diese Art der Frömmigkeit fremd sei, d.h. dass die Person des geschichtlichen Jesus für mein inneres Leben kaum etwas oder nichts bedeute." Geholfen habe ihm die "innere Auseinandersetzung" mit Wilhelm Herrmann, bei dem er immer eine Unklarheit empfunden habe gerade bei der Berufung auf die ethische Religiosität Jesu. Seine nichttheologischen Freunde hätten sowieso schlechterdings kein Verständnis für diese Art von Frömmigkeit gehabt. Vor allem habe die eigene Arbeit, die Selbstkritik an der übernommenen Exegese und der Leben-Jesu-Forschung, ihn gelehrt, "die Jesus-Frömmigkeit der ,liberalen Theologie' für eine Selbst-Illusion" zu halten. Der ,,]esus" der Bousset, Heitmüller und Wernle sei genau so nur eine "Symbolisierung" des eigenen Geistes, "wie es einst der Christus für alle früheren Generationen war". Dass eine Symbolisierung überhaupt nötig sei, hätten in seinem Vortrag die Sätze über den Mythos sagen wollen; man müsse sich nur von der Selbsttäuschung befreien, "als lebe man vom geschichtlichen Jesus". Bultmann bot der Christlichen Welt auch als Antwort auf Wernles Kritik und auf dessen Aufsatz Was hat uns der historische Jesus zu sagen? einen Aufsatz über Jesus an. Zu einer solchen Publikation kam es nicht. Als Bultmanns Buch Jesus 1926 erschien, trat es in eine gewandelte Situation ein. An Hans von Soden schrieb Bultmann am 3. April 1921 im Rückblick auf seine beiden Vorträge, er habe "den Inhalt des Erlebnisses des ,Ganz anderen' anzugeben" versucht. Seiner Ansicht nach könne der Begriff der Religion nicht aus der Religionsvergleichung gewonnen werden (auch Schleiermacher befrage nur die "Heroen der Religion"); vielmehr gehe es um den "Akt der Anamnesis", der den "eigenen Besitz" zu klären suche. Entsprechend hieß es in einem Brief vom 19. März 1922 an von Soden, die Aufgabe der systematischen Theologie sei, "was Schleiermacher und Herrmann dafür gehalten haben: die Darstellung des Inhalts
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des religiösen Bewusstseins".45 Zwischen diesen beiden Briefen liegt eine erneure Zuwendung zu Karl Barth, den Bultmann scharf kritisiert, mit dem Gogarten sich jedoch verbunden hatte. Barth, einst Helfer in der Redaktion der Christlichen Welt, hatte als Pfarrer einer Schweizer Landgemeinde erfahren, wie die Industrialisierung in die überlieferte Welt, alles umstürzend, einbrach. Als repräsentative Theologen wie Sozialisten im Ersten Weltkrieg GOtt oder den Fortschritt jeweils für ihre Nation reklamierten, kamen für Barth die Tendenzen des 19. Jahrhunderts an ihr Ende. Friedrich Naumann, so schrieb Barth, habe (im Gegensatz zu Christoph Blumhardt) die sozialen und christlichen Motive noch einmal an die alten Mächte verraten. Die Katastrophe der europäischen Geschichte schien aber zu verlangen, dass die Theologen andere Wege gingen. Die Theologen sollten Religion nicht als Unterscheidung des Heiligen vom Profanen nehmen, sondern in der Profanität vom Anspruch Gottes her die "andere Gesellschaft" suchen. Barth optiert unter den "mithoffenden und mitschuldigen Genossen innerhalb der Sozialdemokratie" und zitiert aus dem Evangelium (Mt 11,12), das Himmelreich "stürme" herein und "die Stürmer" rissen es an sich. Gott wird geglaubt als der, der alles neu zu machen vermag. Können die Erfahrungen der eigenen Zeit, die von Barth z.B. im Isenheimer Altar und bei Dostojewski wiedergefunden werden, das Gehör schärfen für das Wort Gottes, das von Paulus wiedergegeben wird und das nicht nivelliert werden darf durch das historische Allesverstehen? Jedenfalls heißt es in diesem Sinn im Vorwort zu Barths Römerbrief von 1919, wenn er wählen müsse zwischen der historisch-kritischen Methode und der alten Inspirationslehre (was aber nicht der Fall sei), dann würde er "entschlossen zu der letzteren greifen". Es gehe darum, "durch das Historische hindurch zu sehen in den Geist der Bibel, der der ewige Geist ist". Wer Paulus nicht unbeteiligt beobachte, sondern sich neben ihn stelle, für den zeige sich die gleiche "Sache": das Ewige gegenüber den verschiedenen Zeiten. 46 Adolf J ülicher setzte sich 1920 als ein Exeget, der das Erbe Baurs produktiv zu verwandeln vermochte, in der Christlichen Welt unter dem Titel Ein moderner Paulus-Ausleger mit Barths Römerbrief auseinander. Barth, so gestand Jülicher zu, zwinge dazu, neben der "gelehrten" eine praktische Schriftauslegung anzuerkennen; diese gebe Grundgedanken der Schrift in der Sprache unserer Zeit wieder. Doch stelle Barth sich nicht neben Paulus, sondern nur zu oft vor Paulus. In verschiedenen Typen mache sich der Gnostizismus wieder geltend. Gogarten strecke als ein zwischen den Äonen irrender Basilides oder neuer Valentin sehnsüchtig die Arme aus nach der Seligkeit drüben; in Barth trete der Halbgnostiker Marcion zu ihm mit einem "radikalen Dualismus des Alles oder Nichts". Schon 1921/22 konnte Barth eine völlig umgearbeitete neue Ausgabe seines Werkes herausbringen. Im Vorwort hob er gelehrte Kommentatoren wie Jülicher (und 45 Vgl. Martin Evang: Rudolf Bultmanns Berufung auf Friedrich Schleiermacher vor und um 1920. In: Jaspert (s. Anm. 33). S. 3 ff., vor allem 20,21. 46 Vgl. Anfänge der dialektischen Theologie. Teil 1 (s. Anm. 32). S. 3 ff., vor allem 33, 77, zum folgenden 87 ff., 105 ff.
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Lietzmann) von Calvin ab. Für Calvin werde die Mauer zwischen dem ersten und dem sechzehnten Jahrhundert transparent, so dass Paulus dort rede und der Mensch des sechzehnten Jahrhunderts hier höre und das Gespräch auf die gleiche Sache konzentriert sei. Barth berichtete auch über die Erfahrungen, die er "mit einem doch so ernsthaften und lauteren Mann wie Wernle mache". Wernle klage einmal im Namen des modernen Menschen über große eschatologische Sprüche, dann wieder seufze er bei "dialektischen" Ausführungen im Namen der schlichten und einfachen Christen "über die Wunderlichkeit, Geistreichigkeit und Schwierigkeit dieser Lehre". Neben die Berufung auf Dostojewski und Franz Overbeck stellte Barth nun den Bezug auf Kierkegaards Rede vom "unendlichen qualitativen Unterschied" zwischen Zeit und Ewigkeit und damit die Krisis des Zeitlichen und Geschichtlichen als Ursprung des Dialektischen. Barth verhehlte nicht, dass er seine "biblizistische" Methode des "Besinn dich!" auch auf Lao-Tse oder Goethe anwenden würde, wenn es seines Amtes wäre, diese zu erklären. Damit hielt Barth fest, dass sein Römerbrief die Problematik des Auslegens überhaupt offenlege: Historiker und Philologen geben dann produktive Arbeiten, wenn sie in einem Umbruch der Zeit auch die Vergangenheit plötzlich mit neuen Augen sehen, so verstellte Tiefen erschließen. Auch der damalige Streit um Max Webers Forderung der Wertfreiheit der Sozialwissenschaften berührte die Frage, wie ein Verstehen überhaupt möglich sei. In der Theologie war diese Problematik besonders brennend; Adolf von Harnack stellte 1923 in der Christlichen Welt seine Fünfiehn Fragen an die Verächter der wissenschaftlichen Theologie unter den Theologen. Nicht die Gebildeten unter den Verächtern der Religion wurden angesprochen (wie in Schleiermachers Reden), sondern die Verächter der Wissenschaftlichkeit der Theologie unter den Theologen. Barth wandte sich in seinen Fünfiehn Antworten gegen Harnacks Furcht, die Theologie werde in die Hände von Erweckungspredigern fallen; er hielt (unversöhnlich in der Sache) fest, die Aufgabe der Theologie sei "eins mit der Aufgabe der Predigt".47 Während Adolf Jülicher auch in der zweiten Auflage des Römerbriefi eine "Vergewaltigung heiliger Urkunden" durch die "Hybris eines Pneumatikers" fand, forderte zur gleichen Zeit ein anderer Theologe (der Greifswalder Systematiker Karl Girgensohn) die Ergänzung der historischen Auslegung durch eine andere, eine "pneumatische" Exegese. Rettete diese Zweistuf1gkeit der Exegese wenigstens für eine Stufe die Wissenschaftlichkeit, oder blieb diese Differenzierung ohnmächtig gegenüber der Einheitlichkeit des exegetischen Prozesses? Im Wintersemester 1921/22 verwandte Bultmann die letzten sechs Stunden seines Kollegs und einen Vortrag auf die Auseinandersetzung mit Barths Römerbrief, dessen zweite Auflage von der ersten keinen Stein auf dem anderen gelassen hatte. (Barth hörte davon durch einen Studenten. 48 ) Bultmann stellte dann in ei47 Vgl. Anfänge der dialektischen Theologie. Teil I (s. Am 32). S. 322 ff., vor allem 326. Zu Jülieher und Girgensohn vgl. Kümmel (s. Anm. 35). S. 473, 476 ff. 48 Zum Brief des Studenten vgl. Kar! Barth / Eduard Thurneysen: BriefWechsel. In: Kar! Barth Gesamtausgabe V, Band 2. Zürich 1974 S. 62.
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ner großen Besprechung die zweite Auflage von Barths viel beachtetem Werk zusammen mit Schleiermachers Reden über die Religion und Rudolf Ottos Buch Das Heilige, ja mit dem Römerbriefvon Paulus selbst. Auch Barth wolle erweisen, was man "nach bisher üblichem Sprachgebrauch" die "Selbständigkeit und Absolutheit der Religion" nenne. Paulus kämpfe gegen die Werke, Schleiermacher gegen die Aufklärung, Otto gegen Rationalisierung und Ethisierung, Barth gegen die "psychologisierende, historisierende Auffassung der Religion". Barth meine aber, dass der Aufweis eines "religiösen Apriori" (wie er vom Neukantianismus und von Troeltsch versucht wurde) immer nur auf ein "Stück Welt" treffe, etwa Gott in der Natur oder in den religiösen "Erlebnissen" geschichtlicher Gestalten suche. Von Mythos und Mystik sei der Glaube aber "absolut verschieden", gehe es ihm doch um das Wunder, in dem das Andere "vertikal" in die Welt einbreche, diese unter das Gericht stelle und das Unmögliche möglich mache, nämlich den Menschen ein neues Leben gebe. Bultmann fragte aber, ob diese Rede vom Glauben nicht "eine Spekulation" sei, "und zwar eine absurde", in der die "Paradoxie" überspannt werde. Diesem Glauben könnten Bewusstsein, Erlebnis, Kultur und Religion doch nicht einfach entgegengesetzt werden; vielmehr müsse gezeigt werden, wie es dem Bewusstsein um Wirklichkeit und damit auch um die Wirklichkeit des Glaubens gehen könne. Wie kann das Bewusstsein nicht bloß psychischer Prozess, sondern Geist sein? Wie kann der Glaube angeeignet werden, zum Logos und zur Rede finden? Für Barth ist alle Kultur Produkt der Natur. Auch Jesus gehört zur Welt; so kann es nicht (wie bei Wilhe1m Herrmann) das "innere Leben" Jesu sein, das zum Glauben führt. Vielmehr wird in Jesus alle Natur und Kultur unter das Kreuz gebeugt, und nur so wird Jesus als Christus zur Offenbarung Gottes, zum verbum visibile. Bultmann versteht das so, dass Jesus, der in der Entdeckungs- und Offenbarungszeit der Jahre 1 bis 30 lebte und starb, zum "Symbol" des neuen Lebens wird; dieses Symbol kann uns ebenso, wie Barth betont, aus dem Isenheimer Altar GrünewaIds ergreifen. So wird bei Barth Jesus von jenem Christusmythos her gesehen, den Paulus im zweiten Kapitel des Philipperbriefes aufgenommen hat; doch Bultmann beharrt mit der historischkritischen und der religionsgeschichtlichen Forschung darauf, dass dieser Mythos zu interpretieren sei. Barth hat im Vorwort zur zweiten Auflage seines Römerbrief den Vorwurf zurückgewiesen, er sei ein "abgesagter Feind der historischen Kritik"; zugleich hat er darauf hingewiesen, dass Calvin z.B. ganz anders als Jülicher "auf die Sache konzentriert" sei. Kritik heiße gerade, alle "Wörter und Wörtergruppen" an der "Sache" zu messen. Nach Bultmann soll eine "Sachkritik" erst freilegen, wie bei Paulus die Sache, um die es gehe, erfasst oder durch unangemessene Vorstellungen der Zeit verdeckt sei. 49
49 Vgl. Bultmanns Rezension in Anfänge der dialektischen Theologie. Teil II (s. Anm. 38). S. 119 ff.Zum folgenden vgl. Kar! Barth / Rudolf Bultmann: Briefwechsel 1922-1%6. In: Karl Barth Gesamtausgabe V, Band 1. Zürich 1971. Zum Vorwort zur dritten Auflage von Barths Römerbrief vgl. Anfänge der dialektischen Theologie. Teil I (s. Anm. 32). S. 147 ff., vor allem 148.
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Da Rade als Herausgeber der Christlichen Welt Bultmanns Rezension schon im Manuskript an Barth schickte, konnte dieser (inzwischen Göttinger Professor) am 14. April 1922 Bultmann brieflich seine Gegenfragen stellen: Beachtet Bultmann die Lehre vom "ewigen Augenblick" der Offenbarung genügend? Sieht er, dass das Symbol seinen Symbolcharakter verliert, wenn es in der Predigt Glauben weckt und Ereignis wird? Barth sah sich durch sein Daimonion vor der "Sachkritik" gewarnt. Es war ihm unangenehm, dass Bultmann gar mit Hermann Hesses Demian den Glauben als Weg des Menschen zu sich selbst verdeutlichte. Im Vorwort zur dritten Auflage seines Römerbriefi (1922) hielt Barth "das Merkwürdigste" fest, dass er, sonst eher der "diokletianischen Verfolgung der historischkritischen Theologie" angeklagt, nun von dieser Seite durch Bultmann freundlich aufgenommen werde, obwohl er sich der positiven Theologie "von Haus aus näher und verwandter fühle". Barth wollte einen Mangel im Verständnis des Paulus immer zuerst bei sich selber und nicht bei Paulus suchen. Nur "über" jemanden reden heiße, an ihm vorbeireden und sein Grab dichter schließen. Die Sachkritik erschien ihm als Rückfall in den Hinweis auf "zeitgeschichtliche Reste" in der christlichen Botschaft. Schwerlich konnte Barth es Bultmann verzeihen, dass dieser die Kritik Jülichers festhalten wollte. Als er Bultmanns Geschichte der synoptischen Tradition bekommen hatte, schrieb er am 16. 6. 22 an Thurneysen zum Thema des Historischen in der Theologie: "Bultmann, so freundlich er über den Römerbrief schrieb, tritt eigentlich, wie auch seine Schlussverbeugung gegen J ülicher zeigte und wie ich aus seinem Buche sehe, auch nicht aus der Reihe. Schade!" Bultmann gewann in Marburg näheren Kontakt gerade zu jenen studentischen Kreisen, die von der Jugendbewegung berührt waren oder diese mittrugen (so zu der 1912 gegründeten ,,Akademischen Vereinigung Marburg"). Er beteiligte sich gelegentlich auch an den Samstagabend-Andachten, die Friedrich Heiler in der St.-Michaels-Kapelle veranstaltete. Als Barth von Göttingen her einen ersten Besuch in Marburg machte, konnte er erleben, wie Bultmann den mythischen Schauder der Nacht beschwor. Beim abendlichen Gespräch fand er nach seinem Bericht vom 26. 2. 1922 den "nächtlichen Redner und Mystagogen" viel besser, als er nach dessen "kultischem Versuch" gefürchtet hatte. Als Barth im Oktober 1922 bei den "Freunden der Christlichen Welt" seinen Vortrag Das Wort Gottes als Aujgabe der Theologie hielt, begann er mit einem spöttisch abwehrenden Wort über jene Theologen, "die in katholische Kirchen und wer weiß noch wohin gehen, um das sogenannte Numinose kennen zu lernen, als ob es nicht um uns wäre ... " In diesem Vortrag wurde die Theologie schroff den Wissenschaften entgegengestellt: Sie ordne sich nicht der Universität ein, sondern bleibe (wie in anderer Weise die Philosophie) ein Frage- und Ausrufezeichen am äußersten Rande oder genauer noch "jenseits des Randes der wissenschaftlichen Möglichkeiten". Barth rückte die geschichtliche Linie zurecht, die Bultmann gezogen hatte: Die Ahnenreihe laufe "über Kierkegaard zu Luther und Calvin, zu Paulus, zu Jeremia", nicht aber über Martensen zu Erasmus und zu jenen, die im 15. Kapitel des ersten Korintherbriefes bekämpft würden, zum Propheten Hananja, "der das Joch
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vom Halse des Propheten Jeremia nahm" und es "zerbrach". Der Name Schleiermacher müsse wie der Name Melanchthon in dieser Ahnenreihe fehlen. Kierkegaard habe gewusst, dass das "noch so lebendig angeschaute und gefühlte Universum" ein Rätsel und eine Frage sei, nichts sonst. "Ihm steht Gott gegenüber als das Unmögliche des Möglichen, als der Tod dem Leben, als die Ewigkeit der Zeit." Die Auflösung des Rätsels und die Antwort auf die Frage seien ein "neues" Geschehen, "zu dem kein Weg führt, für das der Mensch kein Organ hat". Nur im Nein zum Menschen könne das Ja Gottes hörbar werden; die Theologie, die nun auch als "dialektische" angesprochen wird, könne allein Gottes Wort reden, niemals über Gott sprechen. 50 Bultmann fragte Barth in seinem Brief vom 31. 12. 1922, ob Barth Schleiermachers Reden nicht zu sehr von Rudolf Ottos Anmerkungen her gelesen habe; er bestand auf seinem anderen Bezug zu Schleiermacher. "Ich meinerseits rechne Schleiermacher in die Ahnenreihe Jeremia - Kierkegaard. Ja wirklich." Auch nach einer anderen Hinsicht hin hob er den Unterschied zwischen seinem Ansatz und dem Ansatz Barths klar heraus: "Es ist mir nämlich immer deutlicher geworden, dass Sie kein inneres Verhältnis zur Geschichtswissenschaft haben, wie Sie es doch so stark zur idealistischen Philosophie haben." Weil die Theologie ihr Verhältnis zu Philosophie und Wissenschaft und überhaupt zu den menschlichen Möglichkeiten neu zu bestimmen suchte, konnte der Bezug auf Schleiermacher trennen und entzweien. Barth trug im Göttinger Wintersemester 1923/24 seine Vorlesung Die Theologie Schleiermachers vor (publiziert 1978); er hat Bultmann bleibend vorgehalten, dass er im Schatten Schleiermachers verbleibe und das Göttliche vermenschliche. Im Jahre 1924 veröffentlichte Emil Brunner sein Buch Die Mystik und das Wort. Brunner hob mit Dilthey und der Schule von Troeltsch die Bedeutung der Reden über die Religion hervor, doch setzte er dem Panästhetizismus und der "Mystik" oder Immanenzphilosophie das Wort, das gehört werden muss, entgegen. Schleiermachers "Verbindung von Immanenzphilosophie (bzw. Mystik) und christlichem Glauben" laufe "auf einen kolossalen Selbstbetrug" hinaus. Bultmann hat sich diese Kritik mehr und mehr angeeignet. Er hatte 1916 gegenüber seiner späteren Frau mit Schleiermacher betont, dass eine religiöse Gemeinschaft nur zwischen denen bestehe, "die Religion haben". "Wie Schleiermacher überhaupt gegen die Bekehrungssucht polemisiert, so sollten die Prediger sich immer sagen, dass ihr Predigen die Hörer nicht bekehren und belehren darf, sondern nur zur Aussprache bringen soll, was in allen vorhanden ist, im einen bewusst, im anderen unbewusst ... "51 Genau dieses "Ideal" des Predigens wurde 1957 im Aufsatz Allgemeine Wahrheiten und christliche Verkündigung (zum 70. Geburtstag Gogartens) von Bultmann mit etwa den gleichen Worten schroff abgelehnt: "Verkündigung ist 50 Vgl. Barrhs Vortrag in Anfänge der dialektischen Theologie. Teil I (s. Anm. 32). S. 197 ff., vor allem 197,204 ff., 212. 51 Vgl. dazu Evang (s. Anm. 40). S. 146 f., zum folgenden zu Humboldt 214 ff.. Vgl. zum folgenden ferner Bultmanns Aufsatz in Glauben und Verstehen. Dritter Band (s. Anm. 27). S. 166 ff., vor allem 166.
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Anrede, und zwar autoritäre Anrede, die Anrede des Wortes Gottes, das paradoxerweise durch einen Menschen, eben den Prediger, gesprochen wird ... " Der angeführte Brief an Barth vom Dezember 1922 berief sich noch auf Wilhelm von Humboldt, der in seiner Akademierede von 1821 die Geschichtsschreibung in die Nähe der Dichtung gerückt hatte: Sie soll jene Ideen herausheben, die als bildende Kräfte von innen aus die Geschichte leiten. Nur von dieser Geschichtssicht aus konnte Bultmann sich die idealistische Ideengeschichte Baurs aneignen. Zahllos blieben dabei die Stellen, die den Kern der Hülle, die Ausrichtung auf das Ewige dem Akzidentellen der Zeitgeschichte entgegenstellten; die Teleologie der Geschichte im ganzen wich aber dem individuellen Glauben, der Religion in ihrer Geschichte ergreift. Später (1927) warf Bultmann z.B. den Arbeiten Lohmeyers vor, sie orientierten sich an Hegels Geschichtsphilosophie und ließen die "erfüllte Zeit" des Neuen Testaments zu Platons "wundersamem Wesen des Nu" werden. "Der Verfasser treibt keine Theologie, sondern vielleicht Philosophie ... "52 Bultmanns schottische Vorlesungen Geschichte und Eschatologie von 1955 nannten Humboldt nicht einmal mehr dem Namen nach. Solche Gegenüberstellungen des frühen und des späten Bultmann verkennen aber leicht, wie er seinen Weg in einer schritrweisen Auseinandersetzung mit Schleiermacher und mit seinen Lehrern gegangen ist und sich durch eine bleibende Orientierung an Schleiermacher von Barth und Brunner abhebt. Eine Darstellung von Bultmanns frühem Weg muss die Rede von seiner "Wende" weg von der liberalen und hin zur dialektischen Theologie ablehnen, und das auch dann, wenn diese Wende um einige Jahre vor die Begegnung mit Heidegger vorgeschoben wird. Bultmann hat sich nie einfach von der liberalen Theologie abgewandt; zudem ist er seinen Weg Schritt für Schritt in kontinuierlicher Auseinandersetzung mit der Sache gegangen. 53 Der Pastorensohn konnte an den Weg seines Vaters anknüpfen, der schließlich zum liberalen Protestantismus und zu den "Freunden der Christlichen Welt" gefunden hatte. Auch die Loslösung aus dem Überkommenen und das "moderne Christentum" stellte die selbstverständliche Beheimatung in der Kirche nicht in Frage. Bultmann zählte aber zu jenen, die ihre christliche Religiosität von den Impulsen her zu fassen suchten, wie sie sich in der Kunst und der Literatur zeigten. Dazu gehörte nicht nur ein neuer Bezug zur Gotik, sondern schon 1913 der "ganz gewaltige" Eindruck, den van Gogh und Cezanne machten, dann überhaupt die expressionistische Kunst. In der Literatur trat Dostojewski neben Rilke, Werfel und Trakl; Shakespeare und Rembrandt wurden neu gesehen. Bultmann konnte für die nun leitenden Tendenzen im Denken und Wollen der Menschen durchaus den Namen Nietzsches einsetzen.
52 Zu dieser Kontroverse zwischen Lohmeyer und Buhmann vgl Kümmel (s. Anm. 35). S. 482 ff., vor allem 486 f. 53 In diesem Sinne lehnt Evang (s. Anm. 40) die von Jaspert gebrauchte Rede ab, vgl. S. 3, 273, 310 f., zum folgenden 79 f.
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Musste ein Theologe, der in dieser Weise offen war für seine Zeit, nicht Hilfe bei der Philosophie suchen? Bultmann hatte schon als Student Natorp gehört, doch wünschte er 1917 anlässlich der Auseinandersetzung mit Ottos Buch über das Heilige, sich einmal nicht nur nebenher "mit diesen schweren philosophischen Fragen" befassen und das eine oder andere Buch von Cohen, Natorp oder auch Dilthey mit seiner späteren Frau lesen zu können. Diltheys Abhandlung über die Entstehung der Hermeneutik wurde schon in der Habilitationsschrift benutzt. Unterhaltungen mit Nicolai Hartmann und "gelegentliche Lektüre von (dem mir übrigens unsympathischen Konvertiten) Scheler" zeigten 1922, dass der Marburger Kollege Mundle die phänomenologische Philosophie nicht angemessen vortrug. Im Winter 1922/23 hörte Bultmann mit seiner Frau bei Hartmann Geschichte der alten Philosophie; im folgenden Jahr las er mit großem Interesse, aber auch kritisch Heinz Heimsoeths Buch Die sechs großen Themen der abendländischen Metaphysik und der Ausgang des Mittelalters. 54 Waren nicht in der Tat die neukantischen und Schleiermachersehen Voraussetzungen im Vortrag über Religion und Kultur fragwürdig geblieben? Ließ sich die Kultur vom Modell des Mathematischen her als rationale Formung des Diesseits fassen? Die Religion als irrationale Annahme eines unverfügbaren Jenseits in diesem Diesseits wurde auf das Individuum bezogen, ja zur "privaten" Angelegenheit erklärt; die Behauptung wurde nicht ausgewiesen, dass Liebe und Vertrauen genauso wie Religiosität keine Geschichte hätten. War neben den Modeerscheinungen noch die Geschichte der großen Mystik im Blick, wenn zur Mystik Ja und Nein gesagt wurde? War der Kult vom Kyrioskult hellenistischer Gemeinden, der Mythos vom Christusmythos her überhaupt voll zu verstehen? Was bedeutete es, wenn das Ethische und das Mystische von der Erfahrung des "jenseitigen" Gottes als des "schaffenden Lebenswillens" her neu verbunden wurden? Rudolf Bultmann hat 1928 seine Position in einer Art von Rundschreiben verdeutlicht, das als Brief an den Frankfurter Theologen Erich Foerster bekannt geworden ist. Foerster war als Kritiker des "marcionitischen Christentums" von Karl Barth aufgetreten und hatte Bultmanns Jesusbuch besprochen. Bultmann hält in seinem Brief grundsätzlich fest: "Ich bin der Meinung, dass, wenn nach der Grenze unsrer Theologie gefragt werden soll, die innere Auseinandersetzung mit der Theologie unserer Lehrer eine ungleich größere Rolle spielt, als Eindrükke des Krieges oder der Dostojewskilektüre. Dass Dostojewski und Kierkegaard wirkten, hat seinen Grund in der theologischen Situation." Wenn es Parallelen zwischen theologischen Ansätzen und zeitgeschichtlichen Erscheinungen gebe, dann beruhten diese in der verbindenden "innern Auseinandersetzung mit der geistigen Situation". Bultmann konnte geltend machen, dass er längst vor dem Kriege und vor allem vor der Begegnung mit Barth zu einer neuen Orientierung gefunden hatte. Auf Bultmanns Wunsch hin wurde die erste Auflage des JesusBuches mit Rembrandtbildern ausgestattet. Aber Rembrandt war ihm sehr früh
54 Vgl. Evang (s. Anm. 40). S. 26, 230, 98 f.
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bekannt geworden und mit Shakespeare und Dostojewski in Bezug gesetzt worden. 55 Bultmann hat schon 1910 Dostojewskis Schuld und Sühne gelesen und weiter empfohlen. Gegenüber Foerster kann er sagen, dass sein Kollege und Freund, der Historiker Willy Andreas (von 1912 bis 1923 Privatdozent in Marburg) auf die Verwandtschaft von Dostojewski und Shakespeare hingewiesen habe; "es war längst vor dem Kriege und vor Barth, übrigens auch längst vor meiner Kierkegaardlektüre". Eine Aufführung von Was ihr wollt durch das Münchener Künstlertheater 1910 habe ihn und seinen Bruder "mit Staunen und einem gewissen Entdeckerentzücken feststellen" lassen, "dass wir Shakespeare neu verstanden hätten". Die "innere Einheit" dieser Komödie mit Hamlet sei ihm "plötzlich" klar geworden. In der Tat berichtete Bultmann am 8. 8. 1910 einem Freund, das "Großartigste" in seinem Münchener Sommersemester sei die Aufführung von Was ihr wollt gewesen. Die "Großartigkeit" dieser Komödie fand Bultmann darin, dass sie "eigentlich ein Trauerspiel" sei, wie das Narrenlied am Schluss als "Schlüssel des Ganzen" zeige. "Welche Liebe zu allem Menschlichen! Denn die Gestalt der Viola ist doch etwas so Köstliches, wie es nur ein Dichter mit dem wärmsten Herzen schaffen kann." Hier fragt man sich, was das Verwirrspiel dieser Komödie zu tun haben könnte mit Hamlet, dann mit der Verirrung wie der Demut der Gestalten Dostojewskis, vor allem mit der Botschaft des Neuen Testaments. In Shakespeares Komödie folgt der Herzog von Orsino als Mensch der Renaissance seiner Natur, nämlich der Melancholie. Doch lernt er durch das Verwirrspiel der Komödie, sich im Menschlichen zu orientieren. Die ferne Olivia ist entgegen seiner Meinung nicht für ihn bestimmt. Der Augenblick, der entscheidet, zeigt ihm im Nächsten gerade das, was ihm zugesprochen ist: Viola, die verkleidet neben ihm lebt. Mit einer Komödie, die auch ein Trauerspiel ist, führt Shakespeare zu einer Erfahrung, die auch eine Grundauffassung des Neuen Testaments ist: Das Nächste, das sich uns im Augenblick plötzlich enthüllt, fordert die Entscheidung, die dann unser Leben verwandelt. Bultmann schreibt an Foerster, nicht die Person Jesu, wohl aber die "Persönlichkeit" sei für die Evangelien gleichgültig gewesen. Foerster fand in der "Erscheinung Christi auf Erden" die "Wirklichkeit der vollkommenen Güte unter den Menschenkindern". Ähnlich argumentierte ja auch Harnack; Bultmann verweist auf W. Bousset und dessen Buch über die "Geschichte des Christusglaubens" Kyrios Christos (1965 nachgedruckt mit einem Geleitwort von Bultmann). Entscheidend ist für Bultmann, dass aus dem Verkündiger (dem geschichtlichen Jesus) der Verkündigte (der Christus der Gemeinde) wurde. Die Bindung des Gehaltes der Predigt an die Person J esu sei in der Tat eine "rein zufällige". "Erst die Predigt der Gemeinde aber, zu deren Inhalte die Person Jesu gehört, ist ,Evangelium'; nicht die Predigt des geschichtlichen Jesus, die ich in meinem Bu55 Vgl. hierzu und zum folgenden die Edition und Kommentierung des Briefes an Förster durch Walter Schmidhals in Jaspert (s. Anm. 33). S. 70 ff.
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che dargestellt habe." Wilhelm Heitmüller (nach dem Weggang von Johannes Weiß aus Marburg dort Bultmanns Doktorvater) habe das innerhalb der religionsgeschichtlichen Schule schon gesehen. Das Buch Jesus sei nur ein erster Band. Es solle den Leser "in die Situation von Gesetz und Verheißung" bringen (die das Alte Testament charakterisiert). Diese Situation sei durch Tod und Auferstehung Jesu, also durch den Bezug der Gemeinde auf Jesus als den Christus, velWandelt worden. Von einer "Lage des Menschen auf Erden" als einer grundsätzlich gleichen dürfe man nicht reden. "Wir, d.h. wenigstens Gogarten und ich, bezeichnen das als die Erkenntnis von der Geschichtlichkeit des Daseins." Bultmann weist die Rede vom Gewissen als dem Göttlichen im Menschen zurück. In Wahrheit stelle das Gewissen den Menschen unter eine konkrete Forderung, in der es nicht um ein "allgemein theoretisches Wissen", um den Unterscheidungsmaßstab zwischen Gut und Böse gehe. "Ein VelWeis auf das Gewissen, als auf etwas Göttliches im Menschen verkehrt das Gewissen in sein Gegenteil." Das sei schon in der Stoa geschehen. Bultmann bezieht sich auf die Gewissensanalyse von Sein und Zeit, die den Menschen "primär im Miteinander und im Beanspruchtsein" versteht. Zweifellos haben Heideggers Analysen hier von Gogarten her eine Korrektur oder doch eine Akzentuierung auf die Dialogik hin bekommen. Doch kann Bultmann sich auf die damals allgemeiner leitende Unterscheidung beziehen zwischen dem Sehen, das auf ein Was geht, und dem Hören, das im Miteinander immer neu gefordert ist. Dieses Hören erörtert Bultmann vom Gebot der Nächstenliebe aus, über das er schon einen Aufsatz ausgearbeitet hatte. 56 Bultmann weist am Anfang seines Briefes den beliebten Vorwurf ab, in seinem Jesus-Buch habe der Systematiker den Neutestamentler "vergewaltigt". Er habe vielmehr die "sachgemäßen Fragen" ausarbeiten wollen, so das "Gegenteil von jeder Weltanschauung und Dogmatik" gesucht. Buhmann schreibt. "Ich fand die Hilfe für diese Arbeiten in der Phänomenologie, in die ich durch meinen Kollegen und Freund Heidegger eingeführt wurde. Ihr Sinn ist Forschung, Analyse im Gegensatz zu einer philosophischen Systematik."
3. Heideggers hermeneutische Phänomenologie Rudolf Buhmann wollte die Botschaft des Neuen Testaments von den Motiven her aufnehmen, die zum Leben gehören. Die Phänomenologie Heideggers zeigte ihm diese Motive. Der Weg Heideggers enthielt aber (durchaus im Gegensatz zum eher kontinuierlichen Weg Bultmanns) Umbrüche und Wandlungen. Als Bultmann seinen Brief an Förster schrieb, velWahrte Heidegger sich gegenüber der Pädagogin Elisabeth Blochmann dagegen, dass man ihn auf seinen Vortrag über Phänomenologie und Theologie festlege. Er habe in diesem Vortrag nur zeigen wollen, was ein christlicher Theologe von der Phänomenologie lernen könne. Doch mit "dieser AufgabensteIlung" komme er "als Philosoph in ein ganz schiefes 56 Vgl. den Aufsatz in Bultmann: Glauben und Verstehen. Erster Band (s. Anm. 27). S. 229 ff.
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Licht". Als Philosoph müsse er zeigen, wie die Philosophie zur Kunst, zu den Wissenschaften, zur Religion stehe, aber zur Religion überhaupt, nicht nur zur christlichen Religion und Theologie. 57 Damit stellt sich die Frage, wie die Zusammenarbeit mit dem theologischen Freund Rudolf Bultmann überhaupt zum Denkweg Heideggers gehört. Heidegger hat immer wieder zurückgeblickt auf seinen Weg, doch mussten die Rückblicke je nach dem erreichten Standort ganz unterschiedlich ausfallen. Noch in dem Lebenslauf, den Heidegger 1915 mit seinem Habilitationsantrag einreichte, hieß es, dass der Lehrer Rickert ihn zu Kant geführt habe. Doch hielt Heidegger fest: "Meine philosophischen Grundüberzeugungen blieben die der aristotelischscholastischen Philosophie." Als Heidegger sich 1922 in Göttingen bewarb, sagte er in einem Lebenslauf für Georg Misch, dass er Lotze und Husserl studiert und sich durch Franz Overbeck mit der "protestantischen dogmengeschichtlichen Forschung" bekannt gemacht habe. Der "katholische Glaubensstandpunkt" sei ihm "durch die unausgesetzte Beschäftigung mit dem Urchristentum im Sinne der modernen religionsgeschichtlichen Schule unhaltbar geworden". Den Theologen in Freiburg habe man den Besuch seiner Vorlesung verboten. Als Heidegger 1937/38, diskreditiert durch sein Engagement von 1933, aus dem Leben scheiden wollte, gab er seinem Testament Wumch und Wille eine Beilage Über die Bewahrung des Versuchten mit. Der achtundvierzigjährige Philosoph sah zurück auf seinen "Nachlass". Er hoffte in seinem "Rückblick auf den Weg", das "übernächste Geschlecht", also die um 1949 Geborenen, würde seine Winke ins geschichtlich Notwendige aufnehmen. 58 Im einzelnen sagte er, seine Dissertation über die Lehre vom Urteil im Psychologismus sei durch die "damals herrschende Fragestellung" bestimmt gewesen; sie zeige eine Vorliebe für Lotze, die "nicht über sich selbst klar" werde. Der Ausgang von der Scholastik und die Zuwendung zu Hegel habe eine Verwurzelung bei Rudolf Hermann Lotze (I 8171881) finden können, also in einem Philosophieren, das alle konkreten Fragen auf eine logisch-metaphysische Grundbesinnung stellt. Dann aber habe er die griechische Philosophie von ihrem Abschluss bei Aristoteles her neu angeeignet; Husserls Phänomenologie (vor ihrer cartesianischen Wende und ihrer Ausrichtung auf den Neukantianismus) habe sich verbunden mit einer Besinnung auf die Geschichte, die von den Analysen Diltheys gelenkt gewesen sei. Nach dem Zweiten Weltkrieg sollten Philosophie und Theologie eine "Heilige Allianz" bilden im Kampf um die Rückkehr in die heilen Bahnen der abendländischen Geschichte. Heidegger wies immer wieder darauf hin, dass der spätere Freiburger Erzbischof Gröber ihm schon als Gymnasiasten Franz Brentanos Dissertation über die mannigfache Bedeutung des Seienden nach Aristoteles gegeben und so geholfen habe, die "Seinsfrage" zu hören. Heideggers Auseinandersetzung 57 Vgl. Martin Heidegger / Elisabeth Blochmann; Briefwechsel 1918-1969 Marbach am Neckar 1989. S. 24 f.; zum folgenden vgl. Martin Heidegger: Reden und andere Zeugnisse seines lebensweges 1910-1976 (Gesamtausgabe Band 16). Frankfurt am Main 2000. S. 38, 41, 43. 58 Vgl. Martin Heidegger: Besinnung (Gesamtausgabe Band 66). Frankfurt am Main 1997. S. 417, zum folgenden 411 f.
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mit Aristoteles seit 1921, die auf den Weg zu Sein und Zeit führte, war freilich aus der Frontstellung Luthers gegen den Aristotelismus erwachsen. Die anfänglichen Denkansätze behielten in wechselnden Einordnungen ihre Bedeutung. Karl Jaspers suchte 1948 die Verbindung mit Heidegger neu aufzunehmen. Dieser schrieb ihm am 5. Juli 1949, die ,,Auseinandersetzung mit dem deutschen Unheil und seiner weltgeschichtlich-neuzeitlichen Verflechtung" werde den Rest beider Leben "durchdauern". Jaspers stehe "mitten in der Veröffentlichung eines weitgespannten Werkes"; er behalte "durch eine vielstrahlige akademische Wirksamkeit einen Quell der Frische". Dann sprach Heidegger von sich selbst. "Bei mir geht alles, ich sage dies nüchtern und ohne Klage, rückwärts, gleich als sollte nur noch einiges auf der Wegstelle deutlicher gedacht sein, an der ich 1911 aus der Theologie und d.h. zugleich aus der Metaphysik hinausgedrängt wurde." Er habe das Gefühl, "nur noch in die Wurzeln zu wachsen und nicht mehr in die Äste". Als Jaspers in Heideggers Brief über den Humanismus Asiatisches anklingen hörte, schrieb Heidegger ihm am 12. August 1949, er habe mit einem chinesischen Gast "einige Worte von Laotse" zu übersetzen versucht. Doch die Anklänge, die Jaspers zu hören geglaubt hatte, hätten vermutlich "eine ganz andere Wurzel". Seit 1910 begleite ihn "der Lese- und Leberneister Eckehardt", auch beim Durchdenken des Parmenides. 59 Nach dem Tode Heideggers hat man katholische Traditionen beim Gymnasiasten und Studenten Heidegger aufgedeckt. Wichtig wurde für Heidegger jedoch der "Bruch mit dem System des Katholizismus", den Heidegger am 19. Januar 1919 einem Freund und Gefährten, dem Theologen Engelbert Krebs gestand. Auf diesen Bruch suchte man noch Heideggers zeirweiligen Anschluss an den Nationalsozialismus zurückzuführen. Dabei nutzte z.B. Hugo Ott verschiedene Archive, um das Material gegen Heideggers Selbstdeutung auszuspielen. Aus Heideggers Marburger Bündnis mit Buhmann wäre jedoch nur ein Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu erklären. Heideggers Weg zum Protestantismus und die Nähe zu Rudolf Buhmann waren abgebrochen, als Heidegger Ende 1929 in Freiburg Nietzsches Kritik an der Vernunfttradition aufnahm, also über die Rezeption von Kierkegaard und Nietzsche in Sein und Zeit entschieden hinausging. Im November 1929 konnte Heidegger an Karl Löwith schreiben, es sei ihm seit einiger Zeit aufgegangen, dass die heutige Zeit Nietzsche noch nicht begriffen habe. Die Vorlesung vom Winter 1929/30 führt in der Tat die Streitfragen der Zeit auf Nietzsche zurück. 60 Sicherlich gibt es auch Hinweise, die nicht in Dokumenten aufbewahrt sind. Ich selbst konnte 1959 und 1961 mehrtätige Gespräche mit Heidegger in Freiburg führen. Beim Gang vom Zähringer Haus Heideggers in die Altstadt zeigte Heidegger mir das Fenster im theologischen Konvikt, hinter dem er gesessen und 59 Vgl. Martin Heidegger / Kar! Jaspers: BriefWechsel 1920-1963. Frankfurt am Main / München / Zürich 1990. S. 172 ff., 181 f. - Zum folgenden vgl. Martin Heidegger und seine Heimat. Hrsg. von Alfred Denker und Elsbeth Büchin. Stuttgart 2005. 60 Vgl. Martin Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit - Einsamkeit (Gesamtausgabe Band 29/30). Frankfurt am Main 1983. S. 104 ff., 531 f.
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Luther gelesen habe. Als Heidegger die Zweifel bei mir bemerkte, bestätigte er seine Angabe noch einmal mit Kopfnicken. Doch wie konnte ein Student der katholischen Theologie in seinem Konviktszimmer an Luther kommen, und das in jener Stadt, die einerseits vom Liberalismus und Neukantianismus, andererseits von der Orthodoxie geprägt war? Heidegger wollte mit seiner Bemerkung meine damalige Meinung abwehren, dass erst Barths Römerbrief von 1919 und Gogartens Weg von Fichte zu Luther den Blick neu auf das reformatorische Erbe gelenkt hätten. Ich konnte dann feststellen, dass 1908, kurz vor den theologischen Semestern Heideggers (1909-1911), der erste Band einer Reihe Anfinge reformatorischer Schriftauslegung von Johannes Ficker Luthers Vorlesung über den Römerbrief 1515/16 gebracht hatte. Offenbar war es diese Edition (auf die Heidegger später auch in seinen Vorlesungen zurückgrifl), die im Konvikt in die Hand Heideggers kam. Der junge Luther erschien dabei im Kontext sowohl der deutschen Mystik wie der spätscholastisch-mittelalterlichen Philosophie und des Rückgangs von Augustinus zu Paulus. 61 Heidegger, der begabte erste Sohn des Mesners und Küfers von Meßkirch, wurde altem Brauch gemäß für die Theologie bestimmt. Nach dem Wunsch der Mutter sollte er Bischof werden - wenigstens Weihbischof, wie Heideggers Bruder gern erzählte. So verwundert es nicht, dass der mittelalterliche Aristotelismus seine Ausbildung prägte. In seinen ersten Aufsätzen ging Heidegger aus von einem "kritischen Realismus", wie er damals z.B. von Oswald Külpe vertreten wurde. Die Verbindung mit der Aristotelischen Tradition war naheliegend. Ein Universitätslehrer wie der Dogmatiker earl Braig kam noch von der Tübinger katholischen Schule her. Er war einer der Vorkämpfer gegen den "Modernismus", betonte aber jene Linie in der mittelalterlichen Philosophie und Theologie, die neuplatonisch bestimmt war und mit dem Namen Bonaventuras verknüpft wird. Heidegger sagte später, dass er Braig auch noch nach der Aufgabe des Theologiestudiums gehört habe. 62 Das Interesse für die Mystik, vor allem für Meister Eckhart, konnte sich hier bruchlos anschließen. Im Winter 1910/11 hörte der Theologiestudent Heidegger bei Josef Sauer die Vorlesung Geschichte der mittelalterlichen Mystik, ehe er in einer schwierigen Lebenskrise das Theologiestudium abbrach. Er widmete sich dann der Philosophie im Zusammenhang mit den Naturwissenschaften und der Mathematik. Zum Aristotelismus trat verstärkt der Neukantianismus, wie er durch Rickert in Freiburg vertreten wurde. Besonders wichtig für Heidegger wurden dabei die Arbeiten von Emil Lask. Als der Papst wenigstens Italien und den "umliegenden Inseln" Thomas als Richtschnur empfahl, konnte der junge Doktor Heidegger seinem theologischen Freund Engelbert Krebs ein "besseres Verfahren" vorschlagen: "dass sämtlichen Leuten, die sich einfallen lassen, einen selbständigen Gedanken zu haben, das Gehirn ausgenom61 Vgl. hierzu und zum folgenden Otto Pöggeler: Heideggers Luther-Lektüre im Freiburger Theologenkonvikt. In: Heidegger-Jahrbuch 1 (2004). S. 185 ff. 62 Vgl. zu Brentanos Dissertation, zu Braig und Lask Martin Heidegger: Zur Sache des Denkens. Tübingen 1969. S. 81 ff.
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men und durch italienischen Salat ersetzt wird". Doch war er bereit, die geplante Habilitation über den Begriff der Zahl zurückzustellen und sich kurzfristig mit einer mediävistischen Arbeit für den vakanten Lehrstuhl zu qualifizieren, der mit der Ausbildung der Theologen verknüpft war. 63 Engelbert Krebs war acht Jahre älter als Heidegger; sein jüngerer Bruder Hans fiel im Ersten Weltkrieg. Krebs wurde 1903 zum Dr. phil. promoviert, dann nach der Priesterweihe 1909 zum Dr. theol. Er konnte sich 1911 für Dogmatik habilitieren. Krebs war in der Görres-Gesellschaft tätig. Auf der 32. Generalversammlung von 1912 hielt er ein Referat Gotteserkenntnis und Erkenntniskritik. Als ein Straßburger Professor ihn kritisierte, schloss der Student Heidegger sich diesem an. Doch verständigte man sich dann darauf, dass jeder der Standpunkte beachtenswert sei. Es kam zu Gesprächen, zum Austausch von Kollegheften; besonders bemühte Krebs sich um Heideggers Habilitationsarbeit. Als 1910 das Motu proprio von Pius X. Thomas von Aquin zur Lehrautorität erhob, gebrauchte Heidegger die Wendung vom italienischen Salat, der das Gehirn und dessen selbständige Gedanken ersetzen solle. Heidegger erwähnte brieflich gegenüber Krebs einen eigenen Aufsatz über "die Frage", der aber nicht überliefert ist. Die theologische Dissertation von Krebs erschien 1910 unter dem Titel Der Logos als Heiland im ersten Jahrhundert. Ein religions- und dogmengeschichtlicher Beitrag zur Erlösungslehre. Die Dissertation behandelte für das erste Jahrhundert die Logosund Erlösungsspekulation im Heidentum, im Judentum und im Christentum. Mit einem anderen Kommentator des Neuen Testaments fand Krebs Licht ("lux") und das "In-der-Welt-sein" und "Unerkannt-sein" von Joh. I, 5 und 10 passend für den präexistenten wie inkarnierten Logos. So hielt er schon die Weise fest, in der später Heidegger Bultmanns Kommentierung des Johannes-Evangeliums unterstützte. Am 29. Februar 1916 notierte Krebs: ,,Abends Vortrag von Dr. Heidegger über die Philosophie in den kriegführenden Ländern und die Aufgabe der christlichen Philosophie in Deutschland." Auch der junge Heidegger beteiligte sich an der Weise, in der Bergson in Frankreich und zeitweilig Scheler in Deutschland jeweils die Kriegsführung ihrer Nation unterstützten. Die Antrittsrede von Krebs am 8. Juli 1917 hielt fest, dass Frömmigkeit notwendig sei dafür, die theologischen Geheimnisse tiefer zu verstehen. "Denn zuerst müssen Gottes Geheimnisse verkostet werden, bevor sie geschaut werden." Heidegger sagte dann in der Aristoteles-Vorlesung vom Wintersemester 1921/22 von der formalen Anzeige, dass es nur den Weg gebe, "das uneigentlich Angezeigte auszukosten und zu erfüllen". Heidegger teilte also die Rede vom Verkosten mit Krebs; doch entfaltete er die formale Anzeige in Auseinandersetzung mit Husserls Generalisierung und Formalisierung und ging so andere Wege als sein Freund. Krebs vollzog 1917 Heideggers Trauung im Freiburger Münster; anschließend gab es aber in Wiesbaden 63 Hierzu und zum folgenden vgl. Heidegger-Jahrbuch 1 (2004). S. 62, 202, 198 f., 62, 61 ff., 207 f., 206, 210, 67. - Zum folgenden vgl. zu Edith Stein Octo Päggeler: Martin Heidegger und die Religionsphänomenologie. In Päggeler: Heidegger in seiner Zeit (s. Anm. 6). S. 249 ff.
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noch eine protestantische Trauung durch den Vater eines Freundes von Frau Heidegger. Krebs war entsetzt, als er am 23. 12. 1918 von Frau Heidegger erfuhr, dass das erwartete Kind protestantisch etzogen werden solle (was für Heidegger die Exkommunikation bedeutete). Das war die Zeit, in der nach Husserl Katholische evangelisch und Evangelische katholisch wurden, Edith Stein schließlich in den Karmel eintrat. Es war Krebs, dem Heidegger am 9. Januar 1919 (mit herzlichen Grüßen von seiner Frau) mitteilte, dass erkenntnistheoretische Einsichten ihm "das System des Katholizismus problematisch und unannehmbar gemacht" hätten. Heideggers Habilitationsschrift behandelte einen Traktat, der damals noch dem Duns Scotus zugeschrieben wurde. Es ging Heidegger um die Kategorienund Bedeutungslehre. Mit der Kategorienlehre wurde die Ontologie zentral, mit der Bedeutungslehre die Logik oder Methodenlehre. Unter den vielen weiteren Arbeiten, die Heidegger in jugendlichem Elan versprach, war auch "eine Deutung der Mystik des Meisters Eckhart im Zusammenhang des Wahrheitsproblems".64 Als Heidegger im Sommer 1916 als Soldat mit seiner späteren Frau und deren Freundin die Reichenau besuchte, sprach er in einem Gedicht Abendgang auf der Reichenau vom See und den Ufern, von den Gärten und dem "alten Turmdach" einer der Kirchen. Der lichte Sommertag ließ früchteschwer "aus Ewigkeiten / eine sinnentrückte Fracht" ruhen "in der grauen Wüste / einer großen Einfalt". So klingt das Gedicht aus mit Anspielungen auf den mystischen Weg Meister Eckharts. Seinem Habilitationsvortrag Der ZeitbegriJ! in der Geschichtswissenschaft stellte Heidegger ein Wort des Meisters Eckhart als Motto voran. "Zeit ist das, was sich wandelt und mannigfaltigt, Ewigkeit hält sich einfach." Der Satz gehört in eine Predigt über einen Vers aus den Sprüchen Salomos: Die Hausfrau hat die Stiegen des Hauses abgeleuchtet und das Brot nicht müßig gegessen. Eckhart legt die Stelle allegorisch aus. Das Haus ist das Haus der Seele, die Stiegen sind die Kräfte der Seele; mit den niederen Kräften verbleibt die Seele in der Zeit, mit den oberen Kräften rührt sie an die wandellose Ewigkeit Gottes. In Gott kann die Seele zur Ruhe kommen. Heidegger hängte seiner Habilitationsschrift 1916 bei der Veröffentlichung einen Abschnitt an, der mit einem emphatischen Hinweis auf Hegel schloss: Die "Philosophie des lebendigen Geistes, der tatvollen Liebe, der verehrenden Gottinnigkeit" muss sich auseinandersetzen "mit dem an Fülle wie Tiefe, Erlebnisreichtum und Begriffsbildung gewaltigsten System einer historischen Weltanschauung", nämlich mit dem System Hegels. Dieses habe alle vorausgegangenen Problemmotive in sich aufgehoben. Gemäß der Lehre von der Analogie des Seins müsse die Philosophie in einer metaphysischen Theologie ihren Abschluss finden; nämlich alle Weisen von Sein in einem höchsten Sein gründen, Nur so könnten 64 Vgl. Martin Heidegger: Frühe Schriften (Gesamtausgabe Band 1). Frankfurt am Main 1978. S. 344 und 355 ff. - Zum folgenden vgl. Martin Heidegger: Aus der Erfahrung des Denkens 1910-1976 (Gesamtausgabe Band 13). Frankfurt am Main 1983. S. 7
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Sein und Denken, dann der Bezug der Theorie zum Ewigen und die Wertgestaltung in der Geschichte in Übereinstimmung gebracht werden. Was mit Aristoteles beginne, werde vollendet, wenn Hegel das System mit der Geschichte verbinde. Sicherlich kommen in diesem Bezug auf Hegel Tendenzen des Neukantianismus zur Geltung, der zum kantischen Begriff von Natur einen Begriff von Kultur und Geschichte stellte und beides auf einen einheitlichen Ansatz beim Absoluten zurückführte. Doch hat Heidegger seinen frühen Zugang zu Hegel mit der Tübinger katholisch-theologischen Schule verknüpft. Es war nicht nur Braig, auf den er sich dabei bezog. Als er 1964 das Hegel-Archiv in Bonn besuchte, fragte er nach Franz Anton Staudenmaiers Buch Darstellung und Kritik des Hegelsehen Systems von 1844. Das Archiv stieg sehr in seiner Achtung, als wir ihm das Buch vorlegen konnten. Wenn Heidegger im angehängten Kapitel seiner Habilitationsschrift auch Novalis und Friedrich Schlegel zitiert, mag ihn das damalige neue Interesse an der Romantik geleitet haben. Doch hat schon Staudenmaier in großen Aufsätzen auf Schlegel und Schleiermacher hingewiesen. Staudenmaier, dessen Weg von Tübingen über Gießen nach Freiburg führte, hat auch eine Schrift Die Philosophie des Christentums oder Metaphysik der Heiligen Schrift als Lehre von den göttlichen Ideen und ihrer Entwicklung in Natur, Geist und Geschichte I vorgelegt (1840). Die alttestamentliche Weisheitsliteratur und im Neuen Testament vor allem die Johanneischen Schriften sollen eine implizite "Philosophie" zeigen, welche Offenbarung verständlich macht. Dabei wird im Sinne des Spätidealismus in der Wirklichkeit ein Moment der Positivität gefunden, das sich dem Begriff versagt. Staudenmaier zeigt schon jene Fragerichtung, die nach Heideggers spätem Rückblick sein Theologiestudium leitete und zur Hermeneutik führte: die Frage nach dem Verhältnis zwischen Sprache und Sein oder "zwischen dem Wort der Heiligen Schrift und dem theologisch-spekulativen Denken".65 Die Weisheitsliteratur war auch im Spiel, wenn Heidegger über die Tür seines Zähringer Hauses aus den Sprüchen Salomos (4,23) in der Übertragung Luthers das Wort setzen ließ: "Behüte dein Herz mit allem Fleiß; denn daraus geht das Leben." Mitten in den Erschütterungen des Ersten Weltkriegs hielt Heidegger, zwischen Kriegsdienst und Universitätsverpflichtungen wechselnd, am 1. August 1917 in einem privaten Kreis in Freiburg einen Vortrag über Schleiermachers Reden über die Religion. Im Zentrum stand die zweite Rede, die vom Wesen der Religion spricht. Sie musste gerade für Heidegger eine entscheidende Absage bedeuten: eine Absage an die metaphysische Theologie, die durch Kant zerstört worden war, aber auch eine Absage an Kants Ethikotheologie, die von den Hoffnungen eines sittlichen Handelns her Religion verständlich machen wollte. Nicht philosophische, dogmatische oder moralische Ableitungen, sondern nur das vorsichtige Eindringen in die eigenständige religiöse Dimension des Lebens kann
65 Vgl. Heidegger: Unterwegs zur Sprache (s. Anm. 5). S. 96.
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verdeutlichen, was Worte wie "Gott" oder "Unsterblichkeit" sagen können. 66 Heidegger hatte schon zu Ostern 1917 Hermann Süskinds Buch Christentum und Geschichte bei Schleiermacher von 1911 verschenkt. Dieses Buch wollte mit Ernst Troeltsch und seinem "freien Christentum" die Absolutheit des Christentums, die von Schleiermacher noch behauptet wurde, in die Geschichte einfügen. Dieses zweite Schleiermacherbuch des Tübinger Privatdozenten, der dann im Kriege fiel, wurde von Heidegger auch ausgezeichnet, als er im November 1918 die spätere Pädagogikprofessorin Elisabeth Blochmann bei ihrem Plan beriet, über Schleiermacher zu promovieren. Der Einsatzpunkt der Studien sollte in Schleiermachers Jugendschriften - den Reden, den Monologen, der Weihnachtsftier - liegen und natürlich von Diltheys Schleiermacherbuch ausgehen. An Schleiermacher knüpfte Rudolf Otto an, als er 1917 in seinem Buch Das Heilige die Religionsphänomenologie durchsetzte. Heidegger und sein Freund Heinrich Ochsner hatten Husserl auf dieses Buch aufmerksam gemacht (wie Husserl am 5. 3. 1919 an RudolfOtto berichtete). Am 10. Oktober 1918 schrieb Husserl dem Privatdozenten Heidegger an die Front, dass er Rudolf Ottos Buch gelesen habe. Dieser kühne und vielversprechende Versuch rufe aus dem historizistischen und theologistischen Geschiebe heraus, enttäusche aber letztlich. Husserl bedauerte, dass Heidegger keine Zeit zu einer Kritik des Buches habe. Er mochte überhaupt hoffen, der neue, theologisch interessierte Anhänger werde eine zureichende Religionsphänomenologie ausbilden. Adolf Reinach, ein älterer Phänomenologe, war mitten im Kriege mit religionsphänomenologischen Gedanken und religiösen Überzeugungen hervorgetreten, aber dann gefallen. Da Heidegger aus gesundheitlichen Gründen nicht dauernd zum Kriegsdienst herangezogen wurde, konnte er immer wieder Zeit für intensive philosophische Arbeit gewinnen. An der Universität gab er aushilfsweise philosophische Vorlesungen für die Theologen. Nach Kriegsende bemühte Husserl sich darum, die Tätigkeit des Privatdozenten durch eine neue AssistentensteIle abzusichern. So konnte Heidegger am 9. Januar 1919 im schon zitierten Schreiben an seinen theologischen Freund und Förderer Engelbert Krebs die alte Aufgabe zurückweisen: "Erkenntnistheoretische Einsichten, übergreifend auf die Theorie des geschichtlichen Erkennens haben mir das System des Katholizismus problematisch und unannehmbar gemacht - nicht aber das Christentum und die Metaphysik, diese allerdings in einem neuen Sinne." Heidegger fügte ausdrücklich hinzu, seine "religionsphänomenologischen Untersuchungen" würden weiterhin das Mittelalter stark heranziehen und eine "verärgerte und wüste Apostatenpolemik" vermeiden. Er gebrauchte noch die damals leitenden Titel "Metaphysik" und "Erkenntnistheorie". Lag es aber nicht nahe, den phänomenologischen Neuansatz als einen hermeneutischen zu fassen? Ließ der alte Titel "Hermeneutik" sich nicht zur 66 Vgl. Das Maß des Verborgenen. Heinrich Ochsner 1891-1970 zum Gedächtnis. Hrsg. von eurd Ochwadt und Erwin Tecklenborg. Hannover1981. 5. 92. - Zum folgenden vgl. die Nachweise in Pöggeler: Der Denkweg Martin Heideggers (s. Anm. 28). 5.307, 412. Vgl. ferner Heidegger /Blochmann (s. Anm. 57). 5. 11.
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Charakterisierung des vorsichtigen Eindringens in das Leben und seine religiöse Dimension verwenden? Die Anstöße, die Heidegger damals bewegten, sind genauer dokumentiert bei einem Schicksalsgefährten, dem "ersten" Schüler Heideggers, dem schon genannten Heinrich Ochsner. Dieser hatte auch das Studium der katholischen Theologie abgebrochen und suchte einen Weg mit Hilfe der Religionsphänomenologie. Die Nachfolge Christi des Thomas von Kempen war prägend gewesen; dazu kann eine neue Entdeckung des Meisters Eckhart und der spanischen Mystik um Teresa von Avila. Zu Pascal trat Kierkegaard. Philosophisch grundlegend war Husserls Phänomenologie, aber in einer Umwandlung, wie die Erschütterungen der Zeit sie zu erzwingen schienen. In der aufgebrochenen Situation des Krieges konnte Husserl Ochsner berichten, der Marburger Neukantianer Paul Natorp habe den Meister Eckhart entdeckt und ihn (Husserl) auf dessen Texte aufmerksam gemacht. Nun lese er schon zwei Tage nichts als Meister Eckhart. Ochsner kannte Eckhart seit langem; so schrieb Husserl ihm: "Ich beneide Sie um Ihr reiches geschichtliches Wissen". 67 In einem langen Brief vom 5. März 1919 empfahl Husserl Ochsner an Rudolf Otto in Marburg. So konnte Ochsner 1919 in der Christlichen Welt Kontroversen über die Tagung einer christlichen Studentenvereinigung berichten; der Text trägt ein Motto von Schleiermacher und zitiert Meister Eckhart. Die Begegnung mit Rudolf Otto blieb für Ochsner letztlich enttäuschend. Wichtig wurde die Auseinandersetzung mit Schelers Religionsphänomenologie, doch warf vielfache Erkrankung den Suchenden aus seiner Bahn. Er fand eine Anstellung bei der Freiburger Caritas; Heidegger hat ihn immer wieder ausgezeichnet und zu seinen Vorträgen eingeladen. In dem angeführten Empfehlungsschreiben an seinen einstigen Göttinger Kollegen Rudolf Otto blickte Husserl auf seine ersten Freiburger Jahre zurück: "Meine philosophische Wirksamkeit hat doch etwas merkwürdig Revolutionierendes. Evangelische werden katholisch, Katholische evangelisch. Ich aber denke nicht ans Katholisieren und Evangelisieren, nichts weiter will ich, als die Jugend zu radikaler Redlichkeit des Denkens zu erziehen ... " Husserl wollte im "erzkatholischen Freiburg" nicht als Verführer der Jugend, Proselytenmacher und Feind der katholischen Kirche dastehen. "Ich habe auf den Übergang Heideggers und Ochsners auf den Boden des Protestantismus nicht den leisesten Einfluss geübt, obschon es mir als freiem Christen (wenn sich Jemand, der bei diesem Wort ein ideales Ziel religiöser Sehnsucht vor Augen hat und es für sich im Sinne einer unendlichen Aufgabe versteht, so nennen darf) und als ,undogmatischem Protestanten' nur sehr lieb sein kann. Im übrigen wirke ich gern auf alle wahrhaftigen Menschen, mögen es Katholische, Evangelische oder Juden sein." Er sei im letzten Sommer durch Heidegger oder auch durch Ochsner auf Ottos Buch über das Heilige aufmerksam geworden. Dieses Buch habe "wie kaum ein anderes Buch seit Jahren" stark auf ihn gewirkt. Es sei "ein erster Anfang für eine Phänomenologie des Religiösen". Doch die "eingefügte philosophische Theoretisierung" 67 Vgl. Das Maß der Verborgenen (s. Anm. 66). S. 213, zum folgenden 157 ff., 3 ff.
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greife zu kurz, vernachlässige vor allem die nötigen phänomenologischen Schritte. "Der Metaphysiker (Theologe) in Herrn Otto hat scheint es mir den Phänomenologen Otto auf seinen Schwingen davongetragen und ich denke dabei als Gleichnis an die Engel, die mit ihren Schwingen die Augen verdecken. Aber wie immer: dieses Buch wird in der Geschichte der echten Religionsphilosophie bzw. der Religionsphänomenologie eine bleibende Stelle behalten." Das Buch gehe zu den Anfängen und Ursprüngen zurück. "Und nach nichts sehnt sich unsere Zeit so sehr als danach, dass endlich die wahren Ursprünge zu Worte kommen und dann erst in höherem Sinn zu ihrem Worte, zum Logos kommen." Husserl übersah nicht, dass der Privatdozent Heidegger von der Unruhe der Jugend in einer Zeit der allgemeinen Krise erfasst war. Am "geistigen Leben", so schrieb Heidegger im Juni 1918 an Elisabeth Blochmann, könnten nur die teilnehmen, die "in ihrer eigensten Existenz" von ihr ergriffen seien. Am 7. November hieß es, "theoretisierende Erörterungen" könnten wenig fruchten, nur "persönlichstes Erleben" bringe Klarheit. "Vom religiösen Urerlebnis führt ein Weg zur Theologie, er muss aber nicht von der Theologie zum religiösen Bewusstsein und seiner Lebendigkeit leiten." Vom nahenden "Ende" des Krieges schrieb Heidegger noch aus dem Kriegseinsatz heraus, es habe kommen müssen und sei die "einzige Rettung". Doch wenige Monate später, im Januar 1919, war auch von den "wahnsinnigen Zuständen" im "lieben Vaterland" die Rede. Nach dem Brief vom 1. Mai 1919 gehört zum "echten elan vital" auch die "innere Demut vor dem Geheimnis- und Gnadencharakter alles Lebens" sowie das Bestreben, mit den Intensitäten der herausgehobenen ,,Augenblicke" in "Kontinuität" zu bleiben. "Meine eigene Arbeit ist sehr konzentriert, prinzipiell und konkret: Grundprobleme der phänomenologischen Methodik, Freiwerden von den letzten Schlacken angelernter Standpunkte - ständiges Neuvordringen zu den echten Ursprüngen, Vorarbeiten für die Phänomenologie des religiösen Bewusstseins... " Gegenüber der Tochter seines Lehrers, Elisabeth Husserl, lehnte Heidegger am 24. April 1919 die "Sucht" des 19. Jahrhunderts ab, in einer wissenschaftlicheinzelwissenschaftlichen Intellektualität "alles und jedes an- und abzutasten". "Ob unser gestaltendes Leben wirklich seine historische Lebung lebt - sie selbst ist, daran hängt alles." Nicht Sachen und Dinge, auch nicht logiflzierte "Werte" und "Normen", sondern nur das Leben überwinde Leben. Dabei gelte aber: "Wir müssen wieder warten können und den Glauben haben an Gnade, die in jedem echten Leben liegt, das in sich die Demut trägt vor den Unberührsamkeiten fremden und eigenen Erlebens." Offenkundig ist, dass die Jüngeren sich über Trennungen hinweg verstanden, weil sie sich schicksalhaft verbunden wussten. 68 Karl Löwith wurde Heideggers ältester Schüler in der Universität. Er hat berichtet, wie der junge Heidegger in zeittypischer Weise sich von den Briefen Vincent van Goghs her verstand. Von dem jungen Privatdozenten schrieb Löwith: ,,Aus seiner Freiburger Zeit erinnere ich mich noch sehr wohl, auf seinem 68 Zum Brief an Elisabeth Husserl vgl. die Edition von Guy van Kerkhoven: Aut aut 223-224 Oan.April 1988). S. 6 ff.
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Schreibtisch Bilder von Pascal und Dostojewski gesehen zu haben, und in einer Ecke des zellenartigen Zimmers hing eine expressionistische Kreuzigung. Weihnachten 1920 schenkte er mir Thomas a Kempis De imitatione Christi. Noch 1925 schien ihm geistiges Leben nur in der Theologie vorhanden, bei Barth und Gogarten. Am vertrautesten stand er damals mit Bultmann, mit dem er ein Seminar über den jungen Luther abhielt." Der Musikhistoriker Heinrich Besseler taucht wie selbstverständlich auf Fotos von Husserl, Heidegger, Oskar Becker und anderen auf. Löwith selbst bleibt befangen in der damaligen Rebellion gegen die Universität, wenn er sagt, der "vielversprechende Jüngling" sei "in seiner Entwicklung steckengeblieben durch Ehrgeiz und frühzeitige Einordnung in den Betrieb".69 Für Günther Anders waren die "Heideggersche ,Geworfenheit'" und die "Renaissance mittelalterlicher Musik" die "Sensationen" der damaligen Freiburger Universität. Doch für Heidegger selbst war noch wichtiger, dass er in den Ferien zum Kloster Beuron auswich. Noch am 11. Oktober 1931 schrieb er von Beuron aus an Elisabeth Blochmann: "Seit Freitag bin ich hier in meiner alten Zelle und schon wieder eingewöhnt in das geschlossene und gehaltene Leben der Mönche - am liebsten hätte ich auch noch gleich das Mönchsgewand, weil ich es jedes Mal als stilwidrig empfinde, wenn ich in ,Zivil' durch die Klostergänge gehe. P. Anselm ... bringt mir alle Schätze der Bibliothek - falls ich nicht selbst dort stöbere. Aber die Hauptzeit des langen Tages (von 4 Uhr morgens) gehört der Arbeit." Nicht vergessen werden dürfen die Waldwege dort, die zu langen Spaziergängen einluden. In einem berühmten Brief an Karl Löwith vom 19. August 1921 hat Heidegger sich zu seiner theologischen Herkunft bekannt. Nicht Husserl, nicht Kierkegaard, nicht die "Kulturaufgaben für ein ,allgemeines Heute'" leiteten ihn. Es gehöre zu seiner "Faktizität", dass er "christlicher Theologe" sei. Der Akzent liegt auf dem zweiten Teil des zweiten Wortes: Es geht darum, den Logos für den Glauben der Herkunft zu gewinnen, so die Faktizität existenziell zu übernehmen. "Mit dieser Soseim-Faktizität, dem Historischen, wütet das Existieren; d.h. aber, ich lebe die inneren Verpflichtungen meiner Faktizität und so radikal, wie ich sie verstehe." Faktisch sei dann auch, dass das Philosophieren an einer Universität geschehe. 70 Es verwundert nicht, dass zu den angekündigten phänomenologischen Kolloquien "private" traten und dann durch private Gesprächskreise noch einmal relativiert wurden. Dabei konnte man auf die deutsche Romantik zurückgreifen. Als in einem privaten Kreis Bergson diskutiert worden war, schrieb Heidegger am 9. Oktober 1920 an Karl Löwith: "Keine Imitation des Schlegel-Schleiermachersehen Kreises - aber deren Initiative - Selbständigkeit und Leidenschaft für die 69 Vgl. Karl Löwith: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Stuttgart 1986. S. 28, 29,59. - Zum folgenden vgl. Günther Anders antwortet. Hrsg. von E. Schubert. Ber!in 1987. S. 21. 70 Vgl. Drei Briefe Martin Heideggers an Kar! Löwith. Hrsg. von Hartmut Tietjen. In: Zur philosophischen Aktualität Heideggers (Symposium der A. v. Humboldt-Stirtung 1989). Hrsg. von Dietrich Papenfuss und Otto Päggeler. Band 2: Im Gespräch der Zeit. Frankfurt am Main 1990. S. 27 ff., vor allem 29.
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Dinge". Wie konnte die Rhetorik der Berliner Salons, die Schleiermachers Reden über die Religion zugrundeliegt und durch Friedrich Schlegel in die Bestrebungen des romantischen Kreises eingeordnet wurde, in den Erschütterungen des Ersten Weltkriegs junge Menschen bestimmen? Heidegger war scholastisch ausgebildet worden, hatte dann den Neukantianismus von Rickert und Lask aufgenommen. Der endgültige Lehrer wurde Edmund Husser!. Bedeutsam wurde aber auch das Werk eines philosophischen Außenseiters, die Psychologie der Weltanschauungen des Psychiaters Karl Jaspers von 1919. Im Frühjahr 1920 war Jaspers in Freiburg. Als am 18. 4. Husserls Geburtstag gefeiert wurde, bestätigte Heidegger Jaspers, als dieser daran Anstoß nahm, dass Husserl Afra Geiger, eine Schülerin von Jaspers, gemäß der Seminarordnung nicht in sein Seminar aufnahm. "Es war", so erinnerte sich Jaspers in seiner Autobiographie, "wie eine Solidarität der beiden Jüngeren gegen die Autorität abstrakter Ordnungen ... " Bald darauf besuchte Heidegger Jaspers in Heidelberg; er arbeitete an einer Rezension der Psychologie der Weltanschauungen (die zwar fertig wurde und kursierte, aber erst 1973/1976 nach dem Tode von Jaspers im Druck erschien). Heidegger schrieb am 21. 4. 1920 von Wiesbaden aus, wo er über Spengler sprach, an Jaspers, er habe das Gefühl gehabt, "dass wir aus derselben Grundsituation heraus an der Neubelebung der Philosophie arbeiten".71 Offenbar setzte Heidegger sich bewusst sehr verschiedenen Einflüssen aus, fand eine existenzielle Verbundenheit aber nur mit wellIgen. Durch das Werk von Jaspers wurde für Heidegger die Lehre von den Grenzsituationen wichtig. Noch Sein und Zeit kulminiert im Aufweis der Grenzsituationen des Vorlaufens zum Tod und der Verschuldung des Daseins, das sich nicht selbst ins Leben rufen kann. Wir leben in vielen Situationen und verfolgen dort viele Ziele. Die Schuld, in die der Handelnde sich schon infolge seiner einseitigen Perspektiven verstricken muss, der Tod, vor dem alle Ziele nichtig werden, führen an eine letzte Grenze. Heidegger sucht in seiner Rezension zu zeigen, dass der Aufweis der Grenzsituation die Mitte des Buches von Jaspers ausmache und das "Leben" zur "Existenz" verschärfe. Er bemängelt grundsärzlich, dass Jaspers die Grenzsituation eklektisch zu fassen suche, nämlich durch eine existenzielle Vertiefung der Kantischen Antinomienlehre. Eine zureichende "Methode" fehle. Im Gespräch verwies Heidegger Jaspers auf das, was ihn beschäftigte, auf Philosophen wie Georg Misch und Max Scheler, dazu später auf den Patristiker Franz Overbeck. Doch blieb Jaspers kritisch gegenüber dem "harmlosen" Misch und gegenüber Schelers Weise, alles "in einen Brei" zu rühren. Von Overbeck sagte er am 24. 11. 22: "Es ist eine dünne, blutleere Art, viel Vorsicht nur zum Schutz. Für mich ohne Impuls." Doch gehöre Overbeck zu Nietzsche und Burckhardt; er lese ihn "mit Verehrung und dem Bewusstsein, in einer der wenigen Oasen der modernen europäischen Wüste zu sein". So aber blieb die Weise fremd, in der Heidegger bei Overbeck (wie Karl Barth) entscheidende Hinweise 71 Vgl. Martin Heidegger / Kar! Jaspers: Briefwechsel (s. Anm. 59). S. 222, 15; zum Druck von Heideggers Rezension vgl. S. 221.
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auf die Eschatologie als Grundzug urchristlichen Glaubens fand. Für Heidegger waren der christliche Glaube und das Hindrängen zu den Leistungen der Kultur unvereinbar. Diese Infragestellung des neuzeitlichen Kreisens um Individualität, Kultur und Geschichte teilte Jaspers nicht; er rezipierte Kierkegaard und Nietzsche zusammen von der "Psychologie" her. Diese unterscheidet sich mit ihrer Ausrichtung auf Grenzsituationen von der empirischen Psychologie. Husserl und Jaspers zeigten einen äußersten Gegensatz im zeitgenössischen Philosophieren. Heidegger suchte solche Gegensätze zu überbrücken zugunsten eines neuen philosophischen Weges. Dabei tat er sich mit Jüngeren wie Löwith zusammen. Freilich war es ihm nicht möglich, im Herrschaftsbereich Husserls Löwith wie gewünscht mit einer Arbeit über Nietzsche zu promovieren. Erst nach einer Promotion in München stieß Löwith mit Heidegger wieder zusammen. Er teilte Heideggers Interesse z.B. für Overbeck. Doch Heidegger, der die Theologie als Fachstudium aufgegeben hatte, suchte mit Overbeck immer noch einen Weg für eine neue Theologie. Dabei ließ er sich leiten von der Mystik, jedoch weniger von dem Süddeutschen Tauler als vielmehr von Meister Eckhart, dem Lehrer Taulers. Für den Winter 1919/20 kündigte Heidegger eine Vorlesung Die philosophischen Grundlagen der mittelalterlichen Mystik an; sie sollte offenbar eine Schrift zu diesem Thema vorbereiten. Da das erste Nachkriegsjahr eine Überlast an akademischen Aufgaben brachte, sagte Heidegger diese Vorlesung jedoch kurzfristig wieder ab, um die andere angekündigte Vorlesung über ausgewählte Probleme der reinen Phänomenologie unter dem Titel Grundprobleme der Phänomenologie auf zwei Wochenstunden zu erhöhen und auszugestalten. Die Vorbereitungen für die Mystik-Vorlesung hat Heidegger in einer Mappe gesammelt. Ausführungen zum Thema Die philosophischen Grundlagen der mittelalterlichen Mystik stammen nach der mitgegebenen Datierung vom 10. VIII. 19; ein Manuskript Irrationalismus, das die Kritik der Mystik als formlos zurückweist, trägt das Datum 14. VIII. 19. Dieser Mappe voraus liegt ein Heft, das mit Exzerpten und Bemerkungen den Weg von Heideggers religionsphänomenologischen Überlegungen im Jahr 1918 dokumentiert. Es beginnt mit jener Auslegung der zweiten von Schleiermachers Reden Über die Religion, deren Gedanken Heidegger am 1. August 1917 im privaten Freiburger Kreis vorgetragen hatte. Doch bezieht ein anderer Text Schleiermachers spätere Dogmatik Der christliche Glaube ein. Nachdem Heidegger oder Ochsner im Sommer 1918 Husserl mit Rudolf Ottos Religionsphänomenologie Das Heilige bekannt gemacht hatte, forderte dieser von Heidegger eine Rezension. Vorarbeiten dazu bringt Heideggers Heft. Heidegger nimmt auch an der Diskussion eines Manuskripts von Adolf Reinach teil; der Text Das Absolute stammt nach der mitgegebenen Datierung vom Juni 1918. Heidegger bezieht sich ferner auf Ernst T roeltsch, der 1915 von Heidelberg nach Berlin und von der Theologie zur Philosophie gegangen war, Hegels einstige Position besetzend. Aktuellstes deuten die Namen Franz Werfels und des flandrischen Lyrikers Verhaeren an. Der Bezug auf eine Predigt des Bernhard von Clairvaux wird auf den 6. IX. 1918 datiert, eine Fortsetzung über Teresa von Avila auf den 10. IX 1918. Heidegger war damals von der Ausbildung in Berlin zu einer
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Wetterwarte an der Westfront gekommen. 72 Wenn es ernst wurde, hatte er seine Krankheiten. So konnte er jetzt aus einem Kurhotel die Truppen zur Front ziehen sehen. Ein Text Phänomenologie des religiösen Erlebnisses und der Religion zeigt klar, wie Heidegger auf den Weg seiner spezifischen, der "hermeneutischen" Phänomenologie kam. Verlangt wird, Religion von der Selbständigkeit des religiösen Erlebens her und dann in der "historischen Fülle" der "großen Einmaligkeiten lebendiger Religion" zu fassen. So kann Religion auch nicht durch "außerreiigiöse und gar ,wissenschaftliche' Maßstäbe" gemessen und schon gar nicht von daher gewonnen werden. "Erphilosophieren lässt sich keine echte Religion, auch hat Philosophie kaum einen berechtigten Maßstab der Kritik beizubringen, sofern sie ihren wahren Beruf erfasst hat". Es sei immer noch eine Rationalisierung des religiösen Erlebens, wenn man das Atheoretische einbeziehe. Nach Heideggers Auffassung trägt man zurecht das Atheoretische in jenes Theoretische, das sich als Grundzug des überlieferten Philosophierens durchgesetzt hat. Doch bleibe die Systematik dann heterogen. "Demgegenüber bringt nur die Phänomenologie Rettung aus der philosophischen Not, allerdings auch nur dann, wenn sie in ihren radikalen Ursprungsmomenten rein erhalten und die Intuition nicht theoretisiert und der Wesensbegriff nach Art der generellen Allgemeingültigkeitsidee rationalisiert wird, sondern ,Wesen' die lebendige Wandlungsmöglichkeit und Sinnfülle entsprechend dem verschiedenen Wert- und Erlebnisverhalten zugesichert erhält." Energisch abgewiesen werden müsse aber die Meinung, "als sei dann die überhistorische Wesenssphäre als solche - gegeben in der Intuition - eine immamente Steigerung des jeweiligen Erlebnisses selbst". Die mittelalterliche Universalienlehre wie die Eidetik Husserls wird so problematisiert. Indem die Rede vom Wesen einer Wandlungsfülle des Wesens folgt, wird die Analyse zu einer hermeneutischen. Wenn Heidegger von der Auslegung des Hohen Liedes bei Bernhard von Clairvaux übergeht zur "Seelenburg" der Teresa von Avila, notiert er sich: ",Einsamkeit' ein Phänomen der personalen historischen Existenz als solcher." Dann beansprucht er in der Wendung gegen Husserl eine "hermeneutische" Position: "Die Analyse, d.h. die Hermeneutik, arbeitet im historischen Ich." Wenn etwas für uns Phänomen wird, dann wird es in Husserls Phänomenologie bezogen auf seine "Konstitution". Diese muss übernommen werden durch ein "transzendentales Ich" als Instanz der selbsthaft-kritischen Absicherung des Erkennens (und sittlichen Verhaltens). Dieses Ich muss nach Heidegger als historisches sich in der Geschichte vollziehen, dabei immer schon in seiner Faktizität voraussetzen, ohne damit an Geschichte und Faktizität relativierend ausge-
72 Vgl. Martin Heidegger: Phänomenologie des religiösen Lebens (s. Anm. 4). S. 301-337; zum einzelnen 319 ff., 330 f., 332 ff., 324 fT., 329 f., 328, 334 ff. Vgl. auch die korrigierenden Ergänzungen von Theodore Kisiel: The Genesis ofHeidegger's Being and Time. Berkeley, Los Angeles, London 1993. S. 69 ff., 525 ff. - Zum folgenden vgl. "Mein liebes Seelchen!" Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride 1915-1970. Hrsg. von Gertrud Heidegger. München 2005. S. 86 f.
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liefert zu werden. Für das Historische wird bei Heidegger der Vollzug der Existenz eintreten, so dass die Existenzterminologie in den Vordergrund rückt. 73 Heidegger hält in der ersten Mappe im ersten Text Die philosophischen Grundlagen der mittelalterlichen Mystik fest, dass das Historische "und seine Faktizität" zum "phänomenologischen Urverstehen" gehören. Er geht davon aus, dass eine "phänomenologische Erforschung des religiösen Bewusstseins" gemäß dem phänomenologischen Ansatz auf eine "konstruktive Religionsphilosophie" verzichten muss: Sie kann weder ihre Prinzipien mitbringen noch im Historischen aufgehen. Wenn philosophiegeschichtlich die metaphysischen, erkenntnistheoretischen, ethischen und psychologischen Grundlagen der mittelalterlichen Mystik aufgewiesen werden sollen, wird die Phänomenologie hingeführt "auf Augustinus, Neuplatonismus, Stoa, Plato und Aristoteles". Das "ursprungsmäßige Zurückgehen" kann aber nicht mehr als "Theorie" bezeichnet werden. Noch gar nicht in ihrer Struktur gesehen würden (in der ,,Askese") die "Formen und Gestalten der praktischen Führung und Realisierung". Die Mystik wird wichtig, weil in ihr "die religiöse Welt sich konzentriert auf die Bewegtheit des spezifischen Erlebens des sich abscheidenden Gottfindens". Doch geht es der Phänomenologie nicht darum, "religiöses Leben zu erwecken". Das kann nur das religiöse Leben selbst. Heidegger hält grundsätzlich fest: "Die Theologie hat bis jetzt keine originäre theoretische Grundhaltung der Ursprünglichkeit ihres Gegenstandes entsprechend gefunden." Die Mystik ist gegenüber der etablierten Theologie eine Hilfe. Das kann nicht heißen, dass Heidegger nun allein auf die Mystik setzt. Schon am Schluss seiner Habilitationsschrift hatte er mit der Umwandlung eines Kantischen Gedankens fesgehalten: "Philosophie als vom Leben abgelöstes, rationalistisches Gebilde ist machtlos, Mystik als irrationalistisches Erleben ist ziellos." Von Rickert aus mochte die Entgegensetzung von rational-irrational nahe liegen (so hat Hermann Glockner als Rickertschüler seine Hegel-Interpretation wie seine Philosophie auf ein rational-irrationales Zusammen gebaut). Doch hatte diese Entgegensetzung bei Heidegger ausgespielt, als die Mystik bei ihm zum Thema wurde. Auch die Mystik wird dann überboten durch Luther. "In Luther bricht eine - auch bei den Mystikern nicht antreffbare - originale Form von Religiosität auf." Eine Aufzeichnung trägt den Titel Das religiöse Apriori. (Th. Kisiel möchte diesen und den folgenden Text schon in das Kriegsjahr 1917 legen; doch könnte der Text Heideggers "Absagebrief" an Krebs vom Januar 1919 voraussetzen.) Hier nimmt der einstige Theologiestudent den "Katholizismus" als ein Beispiel dafür, dass ein völlig ungeklärtes "dogmatisches Gehege von Sätzen und Beweisgängen" schließlich als "kirchenrechtliche Satzung mit Polizeigewalt" das Subjekt überwältigt und unterdrückt. Heidegger sucht seinen eigenen Ausgangspunkt kritisch zu fassen, wenn er (immer noch als Rickertschüler) der "naturalistisch theoretischen Seinsmetaphysik des Aristoteles" eine "radikale Ausschaltung und 73 Vgl. Heidegger: Phänomenologie des religiösen Lebens (s. Anm. 4). S. 323 f., 336, zum folgenden 303 f., 310.
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Verkennung des Wertproblems bei Plato" vorwirft. Diesem Aristoteles sei die mittelalterliche Scholastik gefolgt, "so dass die Scholastik innerhalb der Totalität der mittelalterlich-christlichen Erlebniswelt gerade die Unmittelbarkeit religiösen Lebens stark gefährdete und über Theologie und Dogmen die Religion vergaß". Freilich hätten Theologie und Dogmen schon in der Frühzeit des Christentums "einen theoretisierenden, dogmatisierenden Einfluss auf die kirchenrechtlichen Institutionen und Satzungen" ausgeübt. ,,Als elementare Gegenbewegung ist eine Erscheinung wie die Mystik aufzufassen." Doch dieses Abbiegen der Mystik von den Grundtendenzen erfolgt "immer nur innerhalb der Grenzen des jeweiligen Kulturbewusstseins, so dass sie dessen Bedingungen und konstitutive Faktoren als in sich nachwirkend bei sich trägt". Sie vermag die Sphäre des Subjekts zu entdecken, "aber so, dass sie die neue Sphäre nicht mit radikalen neuen Mitteln bewältigte".74 Heidegger bringt die "Steigerung der inneren Lebendigkeit" unter den "Zentralbegriff' der Abgeschiedenheit. Er betont das "Schweigen", die "überschwengliche Verwunderung" in der Anbetung, die "mystische Stille". Die "demütige Gelassenheit" trage der "Naturverderbtheit" Rechnung. Die Abgeschiedenheit realisiere die Humilitas; diese wirke auf die frohe und sichere Entfaltung der Fiducia auf die Dauer nicht hemmend. Die Humilitas sei zusammen mit der Tribulatio ,,Ausdruck der persönlichen Heilsgewissheit" . Heidegger zitiert hier, was Johannes Ficker in der Einleitung zu seiner Ausgabe von Luthers früher Römerbriefvorlesung sagt. Wichtig ist auch, dass Ficker auf der zitierten Seite zurückverweist auf Bernhard von Clairvaux: Das Magni/icat klinge bei Luther an: "Gott widerstehet den Hoffärtigen, aber den Demütigen gibt er Gnade". Diese Auffassung sei Bernhard und Luther gemeinsam! Ein Text Heideggers über Meister Eckhart kennzeichnet das Heraustreten aus der Mannigfaltigkeit in der Zeit und die ethische Sammlung aus der Zerstreuung als Hingehen zur "Namenlosigkeit von Gott und Seelengrund". Nach Eckhart können wir nur erkennen, was wir sind; wir müssen also Gott sein, um ihn zu erkennen. Der Nominalismus und vor allem Duns Scotus sind nach Heidegger wenigstens auf dem Wege zum Subjekt. Doch führt dieser Weg letztlich zum "ewigen Nu", zu einer Überzeitlichkeit, die "keine Stätte" hat. Heidegger konkretisiert so seinen Ausgangspunkt, "die Bewegtheit des spezifischen Erlebens des sich abscheidenden Gottfindens". Wie stellt sich im älteren Heft Heideggers Begegnung mit Schleiermacher dar? Heidegger hält mit dem Anfang der zweiten von Schleiermachers Reden über die Religion fest, dass jeder jede Tätigkeit des Geistes nur insofern verstehen kann, als er sie zugleich in sich selbst findet und anschaut. Schleiermacher weist ab, dass man die Religion gemäß der üblichen Unterscheidung des Theoretischen und Praktischen bald als Denkungsart, bald als Handlungsweise nimmt und so bald Metaphysik, bald Moral in ihr sucht. Der "schneidende Gegensatz" des Glaubens gegen Metaphysik und Moral verwehrt es den Frommen, Gott als "Grund des Erkennens und Erkannten" zu nehmen. Mit diesem Eingehen auf Schleiermacher 74 Ebenda S 312 ff. zum folgenden 314, 318, 312, 336, 309. 316 ff., 304.
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gibt Heidegger die metaphysische Theologie auf, wie sie von Aristoteles bis Hegel ausgebildet worden war. Dafür fordert er mit Schleiermacher den Sinn für das Unendliche, der in jedem Erlebnisgehalt des Ganzen innewird und so im "geheimnisvollen Augenblick" Endliches im Unendlichen und die Seele im Universum anschaut und fühlt. Aus Schleiermachers späterer Dogmatik Der christliche Glaube nimmt Heidegger auf, dass die Frömmigkeit als ein Sich-abhängig-fühlen oder als "schlechthinnige Abhängigkeit" gefasst wird. Doch ist diese Bestimmung für Heidegger zu objektivierend, nämlich das Festhalten einer Beziehung. Demgegenüber will Heidegger das Woher unseres Gewordenseins von einer Geöffnetheit des personalen Seins her fassen, diese Geöffnetheit nicht theoretisierend vorstellen, sondern wurzelhaft im Historischen fundieren. So kann er das Historische von der Berufung und vom "ewigen Beruf' her fassen. In seinen Notizen zu Rudolf Ottos Religionsphänomenologie Das Heilige will Heidegger die ,,Aufpfropfung des Irrationalen auf das Rationale" vermeiden und bekämpfen. Er möchte die Rolle des "Numinosen" und seine Verbindung zum Sittlichen und Rationalen verdeutlicht sehen. Wilhelm Windelband habe mit seiner "Skizze zur Religionsphilosophie" Das Heilige "den Einblick in fast dieselbe Fülle religiöser Phänomene" gehabt. Heidegger stellt sich die Aufgabe, vor der Erörterung der Abgeschiedenheit eine kurze Darstellung des religiösen Apriori bei Windelband und Troeltsch zu geben. Er zitiert, wie Windelband im Heiligen einen "Inbegriff' des Bewusstseins vom "Wahren, Guten und Schönen" findet, "erlebt als transzendente Wirklichkeit". Indem Heidegger vor Rudolf Otto Windelbands Skizze stellt, ist er sich nicht so sicher wie Husserl, dass Rudolf Otto neu zu den Ursprüngen führte. 75 Edmund Husserl und Wilhelm Dilthey waren auf die Gemeinsamkeiten ihrer unterschiedlichen philosophischen Ansätze aufmerksam geworden. Husserl suchte 1905 Dilthey in Berlin auf; 1911 kam es zu einem bedeutenden Briefwechsel, der Heidegger nicht unbekannt blieb. Heidegger konnte geltend machen, dass er schon als Student die unhandlichen Veröffentlichungen der Berliner Akademie mit den Vorträgen Diltheys auf seine Stube geschleppt habe. Die Ausgabe von Diltheys Gesammelten Schriften begann 1914 mit dem zweiten Band. Dilthey unterscheidet dort im ersten Abschnitt der Arbeit Die Funktion der Anthropologie in der Kultur des 16. und 11. Jahrhunderts den scholastischen Rückgang auf die Aristotelische Anthropologie und Mfektenlehre von der Anthropologie und Mfektenlehre der platonisierenden Mystik. Diese zwei Aspekte, von denen aus das Mittelalter das emotionale Leben sah, bleiben für Heidegger wichtig. Dilthey vermerkt Luthers Nähe zu Occam und zu T auler; Luthers Erfahrungen - sein Ringen mit Augustinus und Paulus - kommen aber nicht zur Sprache. So kann Dilthey Heidegger nicht die entscheidenden Hinweise geben. Doch verweisen Heideggers Überlegungen über die philosophischen Grundlagen der mittelalterlichen Mystik auf den angeführten Band der Dilthey-Ausgabe und
75 Ebenda S. 319 f., 322, 330 ff.
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halten fest, dass die Sicht des emotionalen Lebens im Mittelalter auch losgelöst worden sei "von der spezifisch scholastischen Prägung" .76 Aus Diltheys Jugendgeschichte Hegels wird vor allem eine Warnung übernommen. Wenn Dilthey dort auf Hegels Berner Arbeit über Vernunftreligion und positive Religion zu sprechen kommt, zieht er Lessings Unterscheidung zwischen ewigen Wahrheiten und historischen Überlieferungen heran; er hält fest, dass Hegel mit Kant Jesu Wirken in dem Versuch findet, "Religion und Tugend zur Moralität zu erheben". Dazu bemerkt Heidegger, dass der Einfluss Kants es Hegel von Anfang an verwehrt habe, ein unmittelbares Verhältnis zur Religion zu gewinnen und Religion im ursprünglichen Erlebnisbezug zum Heiligen zu fundieren. So werde bei ihm auch das Problem des Historischen in eine bestimmte Bahn gedrängt. - Diese Kritik zeigt freilich, dass es Heidegger noch nicht aufgegangen ist, in welcher Weise der junge Hegel seine Grundorientierung so wechselte, dass Herder und Hölderlin Hegel in seinen Frankfurter Jahren zu einem neuen Ansatz zwangen. Wilhelm Dilthey begann 1883, seine Einleitung in die Geisteswissenschaften zu publizieren; diese Ausgabe benutzte Heidegger. Seine Aufzeichnungen zur Mystik zeigen, dass er auch nach Eduard Sprangers Festschriftartikel von 1918 Zur Theorie des Verstehens und zur geisteswissenschaftlichen Psychologie griff. Diltheys Verbindung von Erlebnis, Ausdruck und Verstehen vom Ausdruck des Erlebten her wird weiter differenziert. Heidegger unterscheidet den deutenden Ausdruck vom rechtfertigenden Ausdruck?7 Er exzerpiert sich Diltheys Darstellung der christlichen Gemeinde und Augustins; Exzerpte aus Augustins Werken zeigen die Bemühung um Augustinus selbst. Dilthey hat im zweiten Buch der Einleitung in die Geisteswissenschaften seine "Phänomenologie des Geistes" gegeben - eine Auflösung der metaphysischen Tradition in die vergangene Geschichte und damit eine Verabschiedung der metaphysischen Stellung des Menschen zur Wirklichkeit. Dilthey hält auch fest, dass die "innere Erfahrung" der christlichen Gemeinde keine Grundlegung in der Wissenschaft gefunden habe (auch Schleiermacher sehe die übernommene "große Masse des objektiven Bewusstseins" nur als "Verständigungsmittel"). Das "unergründliche Lebendige" christlicher Religiosität sei in der Formel eines Sittengesetzes oder eines höchsten Gutes nicht darstellbar gewesen. Der Offenbarungsglaube habe die Erfahrung des Willens Gottes als ein Verhältnis von Person zu Person genommen, sich in "Demut" dem richterlichen Gewissen unterstellt. Es sei das "tragische Schicksal des Christentums" gewesen, "die heiligsten Erfahrungen des Menschenherzens aus der Stille des Einzellebens heraus und unter die Triebkräfte der weltgeschichtlichen Massenbewegungen einzuführen, hierdurch aber einen Mechanismus des Sittlichen und eine hierar-
76 Ebenda S. 307, zum folgenden 328. 77 Ebenda S. 306. - Die Exzerpte, die im folgenden genannt werden, sind leider nicht in die Gesamtausgabe aufgenommen worden; vgl. zu ihnen Kisiel (s. Anm. 72). S. 100 ff. - Zum folgenden vgl. Wilhe1m Oiltheys Gesammelte Schriften (s. Anm. 3). Band I. S. 254, 258.
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chisehe Heuchelei hervorzurufen". Augustinus folge dem Neuplatonismus, um schließlich das Dogma über seine Erfahrungen mächtig werden zu lassen. Heidegger nennt den "Zorn" Gottes zusammen mit der "Macht" und der "Gnade". Er notiert sich aus dem Alten Testament 1. Moses 30,15: "Bei ruhigem (scheba) Warten wird Euch Heil, in stillem Vertrauen besteht Eure Kraft". Hier gibt Heidegger das leitende Wort auf Hebräisch wieder! Für weitere Stellen zum Thema "Glaube" verweist er auf das Lexikon Die Religion in Geschichte und Gegenwart. 78 Nicht die Heidegger-Gesamtausgabe, aber Theodore Kisiel weist darauf hin, dass Heidegger mit dem Paulus-Buch von Gustav Adolf Deissmann zu klären sucht, was das heißt: In-Christus-Sein. Richard Reitzensteins Buch Die hellenistischen Mysterienreligionen lässt den Bezug der christlichen Mystik zur hellenistischen thematisch werden. Ein Buch von Max Pohlenz handelt unter dem Titel Vom Zorne Gottes über "den Einfluss der griechischen Philosophie auf das alte Christentum". Neben Büchern von Bousset, Jülicher, Schettler und Weinel steht Johannes B. Weiß Das Urchristenum von 1917. Nachdem Albert Schweitzer auf den eschatologischen Charakter des Urchristentums hingewiesen hatte, wurden für diese Thematik die Arbeiten von Weiß entscheidend. Die wiedergefundene frühe Römerbrief-Vorlesung Luthers zeigte, wie Luther von der Mystik und der spätmittelalterlichen Philosophie herkam, als er einen neuen Bezug zu Augustinus und Paulus fand. Der erste Band bringt Die Glosse, die zwischen die Zeilen des Briefes und an den Rand geschrieben wurde, der zweite Band den Kommentar, Die Scholien. Luther hat im Alter kurz vor seinem Tod im Vorwort zum ersten Band seiner lateinischen Schriften darauf hingewiesen, dass gerade der Römerbrief für ihn entscheidend geworden sei. Die Angst vor Tod und Gericht hatte sein Leben geprägt; nur langsam hatte er gelernt, die Rede von der Gerechtigkeit Gottes nicht im damals üblichen Sinn von der "aktiven", der strafenden Gerechtigkeit her zu verstehen, sondern passivisch von jener Zuwendung her, die es dem Menschen ermöglicht, durch den Glauben von Grund aus gerecht oder gerechtfertigt zu werden. Damit war ein Gerechtwerden destruiert, das vom ausgehenden Mittelalter mehr und mehr in äußerlichen Werken gesucht worden war. In der Tat beginnen Luthers Scholien mit dem Satz: "Summarium huius epistolae est destruere et evellere et disperdere omnem sapientiam et iustitiam carnis ... " Auf Blatt 124b nennt der Mönch noch einmal sein Problem: "vocabulum istud ,iustitia' tanta est mihi nausea audire." Die Summe des Paulinisehen Briefes richtet sich also darauf, die Weisheit und Gerechtigkeit des "fleisches" zu zerstören; es war Luther zum Ekel geworden, jene Vokabel "iustitia" zu hören. Johannes Ficker beginnt seine Einleitung zur Edition damit, die Erinnerungen des alt gewordenen Reformators an die Zeit des jugendlichen Durchbruchs zu präzisieren. Die Bitte des Psalms 70 (bzw. 71): "In iustitia tua libera me", hatte den religiös ringenden Luther zu Paulus geführt. Luther legte seiner Römerbrief78 Vgl. Heidegger: Phänomenologie des religiösen Lebens (s. Anm. 4). S. 307, 329; zum folgenden vgl. Kisiel (s. Anm. 72). S. 88 und 525-528 (Heidegger's reading List).
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Vorlesung die lateinische Übersetzung des Briefes zugrunde; doch mitten in der Arbeit wurde das "fruchtbarste Ereignis der neueren Jahrhunderte für die neutestamentliche Forschung", die griechische Ausgabe des Neuen Testaments durch Erasmus, für Luther zum "Ereignis". "Ereignis" sei auch die Begegnung mit den deutschen Worten des Straßburger Doktors Tauler geworden. Die "Großmacht" der deutschen Mystik sei für Luther "Trost und Hilfe in schwerster Zeit der Verzweiflung" gewesen; durch Bernhard sei die fides zur humilitas getreten. Ficker zeigt ebenfalls, wie die Wittenberger Situation dazu führte, dass die Spätscholastik in einer bestimmten Weise Luther prägte (durch die Scotisten und durch Occam und Biel). Entscheidend für den Weg zu Paulus sei die damalige neue Auseinandersetzung mit Augustinus geworden. Heidegger exzerpierte sich diese Ausführungen, weil er im Weg des jungen Luther seinen eigenen Weg wiederfand, vor allem die Interessen für Augustinus, für die skotistische Tradition und die Mystik. Der Raum blieb offen für Meister Eckhart, doch auch für Dilthey und Schleiermacher. Luther stellte aber jene Sprache aus Heideggers Briefen an Elisabeth Blochmann von 1918/19 in Frage, in der der einzelne seine Berufung und sein Selbst aus einem Anspruch des Ewigen gewann und sich so aus dem Unterwegssein mit anderen verstand. Wenn der junge Luther von Tod und Gericht her dachte, öffnete er den Raum für die neue Entdeckung der urchristlichen Eschatologie. Das Unverständnis konnte korrigiert werden, mit dem Dilthey bei seiner Darstellung der religiösen Krise des jungen Schleiermacher die orthodoxeren Positionen nur noch beiseitegeschoben hatte. Nach dem Ersten Weltkrieg konnte Edmund Husserl die Lehrtätigkeit des Privatdozenten Heidegger durch eine AssistentensteIle absichern. Doch in seinen persönlichen Verhältnissen kam Heidegger nicht zur Ruhe. Er schrieb am 7. Mai 1918 seiner Frau, es sei kein Zufall, dass sie, die Jungvermählten, immer wieder zur Theologie hingeführt würden. Das sei vielmehr "eine unmittelbare Gewähr dafür, dass es uns einmal gelingen wird, ein eigenes ursprüngliches religiöses Leben in unserer Familie aufzubauen, das seine Wirkungskräfte auf jedes persönliche Arbeiten, auf unsere Kreise und Mitmenschen ausstrahlen lässt". Am 17. Okotober 1918, als der Krieg für Deutschland verloren war, schrieb Heidegger. "Nur noch die Jugend wird uns retten - und Neuen Geist schöpferisch in der Welt Gestalt werden lassen ... und ich erkenne selbst immer dringlicher die Notwendigkeit der Führer - nur der Einzelne ist schöpfersich (auch in der Führerschaft), die Masse nie ... "79 Im persönlichen Bereich glaubte Heidegger, dem verengten Katholizismus seiner Jahre in Meßkirch, Konstanz und zuerst auch noch in Freiburg entronnen zu sein, indem er die "Jugendbewegung" aufnahm, wie seine Braut und Frau sie ihm entgegentrug. Er musste am 9. September 1919 in einem Brief an seine Frau darauf eingehen, dass diese sich wieder ihrem Jugendfreund, dem Arzt Friedel Cäsar, zugewandt hatte. Heidegger selbst stellte seine Studien in die vielfältigen Bemühungen des Kreises seiner Freunde und Bekannten. "Die Zeiten der Ver-Iassenheit und scheinbaren Gottferne sind echtgelebte 79 Vgl. "Mein liebes Seelchen!" (5. Anm. 72). S. 64 f., 85 f., zum folgenden 100.
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nur, wenn sie solche sind der vertrauenden Gelassenheit - das ist der starken Gott-sicheren Meisterung des Lebens. Seit ich Luthers Römerbriefkommentar gelesen, ist mir vieles vordem Quälende und Dunkle hell und befreiend geworden - ich verstehe das Mittelalter und die Entwicklung der christlichen Religiosität ganz neu; und es haben sich mir ganz neue Perspektiven der religionsphilosophischen Problematik ergeben - mir scheint, Otto z.B. - was ich im Felde noch ganz verworren spürte - auf falscher Fährte zu sein ... " Heidegger bezichtigte Heinrich Ochsner, sein "Mystikkolleg zu schinden und auszubeuten". Seine Frau solle Ochsner nicht mehr in Heideggers Zimmer (also zu den Manuskripten) lassen. Wenn "Frl. Walter" (also Gerda Walther) nach München gehe, weil Heidegger sein Mystikkolleg nicht lese, dann werde klar, dass man das Kolleg "doch als eine gewisse Sensation genommen und genossen" hätte, "ohne das männlich-starke Mitgehen und aktive Ergreifen einer unendlichen Problematik". Martin Heidegger betonte noch im Alter im Gespräch, dass er durch seine Frau Einblick bekommen habe in die "Jugendbewegung". Beim Nachfragen wurde klar, dass nicht die Jugendbewegung gemeint war, die aus den Großstädten floh und im Zelt auf Fahrten eine andere Gemeinschaft als die übliche erlebte. Am 30. August 1919 ging Heidegger darauf ein, dass seine Frau in ihrer "Zwiespältigkeit" ihren Jugendfreund Friedel Cäsar wie ihn, Martin Heidegger, liebte. Nicht akzeptieren konnte er, dass Cäsar in ihm "lediglich den unbeholfenen, ungewandten, engbehorizonteten Stubengelehrten" sah, der so mitlaufe. Er erinnerte seine Frau an die Verlobung auf der Reichenau, wo man Meister Eckhart gelesen habe. Heidegger vertraute seiner Frau, ohne zu ergründen, "aus welcher Quelle" ihre "mehrfältige Liebe" sich nähre. Bo Er selbst war jetzt nur zu oft am Bodensee oder im Schwarzwald, nicht in der gemeinsamen Wohnung in Freiburg. Doch sah er sich zu neuen Problemhorizonten gedrängt und sich "himmelweit" von Husserl getrennt. Heidegger akzeptierte die Frucht des Ehebruchs seiner Frau, den Sohn Hermann (geb. am 20. August 1920). Dessen leibllicher Vater, der Arzt Cäsar, war bei der Taufe der Pate ... Am 23. August 1920 schrieb Heidegger seiner Frau ins Krankenhaus: "Ich muss oft daran denken, wie blass, unwahr und sentimental alles ist, was über Ehe meist gesagt wird. Und ob wir nicht eine neue Gestalt ausformen in unserem Leben - ohne Programm und Absicht - sondern nur dadurch, dass wir Echtheit überall durchbrechen lassen."BI Während seine Frau seit der Marburger Zeit ihr "Programm" offenbar aufgab, machte Heidegger es sich zu eigen. Noch im hohen Alter glaubte er, nur so "schöpferisch" bleiben zu können. Am 8. August 1952 schrieb er seiner Frau von der Hütte in Todtnauberg aus über seine Affären: "Ich falle immer wieder in eine große Traurigkeit über mich selber, dass dies Versagen Dir das größte Leid bringe, dass die Kraft nicht reicht, das Menschliche und das Denken gleichmäßig in den Einklang zu bringen." Am 18 April 1956 reklamierte er für seine Zusammenarbeit mit der Kunsthistorikerin Marielene Putscher die 80 Ebenda S. 96 ff., 103. 81 Ebenda S. 112, zum folgenden 276,311,165.
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"Wiederkehr des Vertrauens": "Vertrauen ist die Stärke im Bejahen des Verhüllten und dessen, was wir in seiner Verborgenheit unbesprochen lassen. So war damals mein Ja - als Du mir von Hermann sagtest." Wenigstens nach dem Marburger Intermezzo ließ Heidegger sich auch prägen durch politische Tendenzen in der Familie seiner Frau. Als er sich 1930 um Max Schelers Nachlass kümmerte, besuchte er die Schwiegereltern in Wiesbaden. Er kam mit Alfred Rosenbergs Völkischem Beobachter, weil dieser den Schwiegervater besonders interessierte. Es mag sichtbar geworden sein, dass Heidegger in seiner Freiburger Lehrtätigkeit nach dem ersten Weltkrieg nur allzu sehr durch die Probleme seines Lebens bestimmt wurde. Das ändert nichts an seiner philosophischen Leistung. Freilich blieb diese in ihrer Wirkung zuerst beschränkt auf den Schülerkreis. Oskar Bekker, von Heidegger ausgezeichnet als Mitschüler bei Husserl, trug nach dem Zweiten Weltkrieg in seinen Bonner Vorlesungen seine Nachschriften von Heideggers frühen Freiburger Lehrveranstaltungen vor. Er fand in den Freiburger Jahren nach dem Ersten Weltkrieg die schönste und erregendste Zeit der phänomenologischen Philosophie: Heideggers Durchgang durch das Christliche habe in diesem die Erfahrung des Historischen freigelegt. Doch sah Becker in Heideggers Hinwendung zur Seinsfrage nur eine neue Scholastisierung. Viele, die Heideggers Vorlesung Ontologie oder Hermeneutik der Faktizität vom Sommer 1923 hörten, nahmen später maßgebliche Positionen in der Philosophie ein. Zu ihnen gehörte Hans-Georg Gadamer, der einen Bogen von Heideggers frühen Freiburger Jahren zu den Vorträgen über den Ursprung des Kunstwerks schlug und dieses phänomennahe Philosophieren gegen Sein und Zeit ausspielte. Als 1946 bei Francke in Bern und Alber in Freiburg Wilhelm Szilasis Buch Macht und Ohnmacht des Geistes erschien, konnte man darin wiedergegeben sehen, was der junge Heidegger zum sechsten Buch der Nikomachischen Ethik, aber auch zum Philebos Platons und zum Sonnengleichnis des Staates entfaltet hatte (mochte man bald auch das Buch geradezu als Plagiat zurückweisen). In einem einleitenden Brief an Ernesto Grassi sprach Szilasi von den "schon sagenhaft gewordenen, nie wiederkehrenden wunderbaren Jahren in Freiburg", als Heideggers "geniale Tiefgründigkeit" neben Husserls "kühle Sachlichkeit" getreten sei. Noch 1959/60, als ich Heidegger auf Oskar Beckers anderen Bezug zur Ideenlehre Platons hingewiesen hatte, besuchte er sofort Becker zu einem Gespräch in Bonn (das freilich die nötige Auseinandersetzung nicht brachte)."2 Entgegen der ersten Absicht sind Heideggers frühe Freiburger Lehrveranstaltungen, die von Becker vor allem geschätzt wurden, doch (wenn auch nicht chronologisch, sondern als Anhang) in die Gesamtausgabe aufgenommen worden. Eigentlich wollte Heidegger den Weg seines Denkens, der zählen sollte, erst mit dem Aufbrechen der Seinsfrage (seit 1922) beginnen lassen. So bleibt zu fragen, wie es zu dieser Seinsfrage kam und wie sie sich dann wandelte. 82 Vgl. Heideggers Brief vom 29.1. 1960 an mich, in: Kathrin Busch und ChristophJamme: Auszug aus dem unveröffentlichten Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Otta Pöggeler. In. Studia Phaenomenologica I, No. 3-4. Bukarest 2001. S. 11 ff., vor allem 26.
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4. Der Weg zur Seinsfrage Martin Heidegger wird in einem Gespräch mit einem japanischen Gast, das er 1953/54 niederschrieb, hingewiesen auf die Vorlesung Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks vom Sommer 1921. Diese Vorlesung war in einer Nachschrift auch nach Japan gelangt. Freilich erinnert Heidegger nicht einmal den Titel genau; er sagt von seinem frühen Versuch, bei "solchen jugendlichen Sprüngen" werde "einer leicht ungerecht".83 Als Heidegger 1937/38 auf seinen Weg zurückblickte, sagte er, der Versuch, der in Sein und Zeit wenigstens mit den ersten Abschnitten 1927 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, sei von 1922 bis 26 entstanden. Auch im Gespräch mit mir datierte Heidegger die entscheidende Einsicht, die zu Sein und Zeit führte, auf 1922/23. Diese Einsicht wird in Sein und Zeit (S. 25) so formuliert: Die Tradition fasst das Sein als ousia; dieses "Wesen" (oder diese Substanz) ist in seiner Anwesenheit einseitig bestimmt durch einen einzigen Modus der Zeit, die Gegenwart. Deshalb muss das Sein mit seinem Sinn und seinen mannigfachen Bedeutungen auf die Fülle der Zeit bezogen werden; es muss also nach Sein und Zeit gefragt werden. Wie entfaltet Heidegger diese Frage? Sie wird schon in Sein und Zeit selbst dadurch modifiziert, dass Kants Schematismusproblematik sich vordrängt: Die Begriffe des Verstandes werden auf die zeit-räumliche Gegebenheit in der Sinnlichkeit bezogen. Heideggers Aristoteles-Vorlesung vom Winter 1925/26 wurde in einem dramatischen Bruch zu einer Kant-Vorlesung umgewandelt, da Heidegger bei Kant einen Hinweis auf seine eigene Problematik zu finden glaubte. So bekam der dritte Abschnitt von Sein und Zeit über "Zeit und Sein" eine neue Thematik. Wenige Jahre nach der Publikation des Fragments Sein und Zeit ging Heidegger zu einem neuen Ansatz weiter: Die phänomenologische Konstruktion und die Destruktion wurden zusammengefasst; das Sein als die Offenheit oder Wahrheit des Seienden wurde als ein Geschehen und so als "Seinsgeschichte" erörtert. Heidegger orientierte sich (so schon in der Vorlesung vom Winter 1929/30) an neuen Leitfäden, nämlich am organischen Leben und am Werk der Kunst statt am Umgang mit Zuhandenern, am Vorstellen von Vorhandenem und am todesbereiten Existieren. Die Frage bleibt, ob es nicht bei Heidegger "Jugendschriften" in dem Sinne gibt, in dem Wilhelm Dilthey und sein Schüler Herman Nohl Hegels frühe Arbeiten aus dem wechselnden Bezug zu Freunden wie Schelling und Hölderlin auffassten und als Hegels "Jugendschriften" deuteten und edierten. Zu den Jugendschriften oder Frühschriften Heideggers gehört dann schon der Versuch, den anfänglichen Aristotelismus von der Mystik und von der Spätscholastik her zu modifizieren und dabei vor allem dem jungen Luther zu folgen.
83 Vgl. Heidegger: Unterwegs zur Sprache (s. Anm. 5). S. 128, 91. - Zum folgenden vgl. Heidegger: Besinnung (s. Anm. 58). S. 413. Vgl. ferner Qtta Päggeler: Neue Wege mit Heidegger. Freiburg / München 1992. S. 185.
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Heidegger hat 1919/20 die angekündigte Vorlesung Die philosophischen Grundlagen der mittelalterlichen Mystik nicht gehalten, aber wichtige Gedankengänge in die Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie eingebracht. In dieser Vorlesung macht Heidegger darauf aufmerksam, dass neue Textfunde plötzlich zu "Quellen" werden und eine neue Sicht der Geschichte ergeben. Das könne nicht nur bei einer Papsturkunde der Fall sein. "Luthers Handexemplar des Römerbriefs lag lange unbeachtet in der kgl. Bibliothek in Berlin. Eines Tages wurde man auf die darin befindlichen Randbemerkungen aufmerksam und man sah, dass es sich um Notizen Luthers für seine Vorlesungen handelte, die man dadurch rekonstruieren konnte." Heidegger spielt also an auf die Edition Johannes Fickers, die er schon im theologischen Konvikt in Freiburg las. 84 Er hält seine leitenden Erfahrungen und Einsichten fest, doch bringt er sie in neue systematische Ansätze. Die Vorlesung will zurückführen zum Ursprung des Lebens. Dieser Ursprung kann in seiner unreduzierbaren "Faktizität" nicht mit begrifflichen Ableitungen gewonnen werden; er muss im Erleben "historisch" und damit in stetiger Erneuerung aufgenommen werden. Die Phänomenologie, die mit dem Leben mitgeht, führt in jene Geschichte hinein, die entscheidend durch Religion geprägt ist. Die Religionsphänomenologie ist deshalb nicht eine philosophische Disziplin unter anderen, sondern zeigt in einer ausgezeichneten Weise die Grundprobleme. So polemisiert Heidegger gleich zu Anfang gegen die philosophisch verlotterte Theologie beider Konfessionen. Diese Polemik ist nicht zimperlich. Heute, so heißt es etwa, schreibe man über das Gebet, ohne auch nur ein Problem zu sehen. Das Epochemachende des Buches (also des Buches Das Gebet, das 1918 von Friedrich Heiler publiziert wurde) werde nach dem Quantum der benutzten Literatur und der Qualität des Hosenbodens des Verfassers bemessen. 85 Dagegen wird Dilthey zugestanden, dass er den Deutschen Idealismus von Schleiermacher aus neu aufgeschlossen habe. So kann Dilthey als der Philosoph angesprochen werden, der in den nächsten Jahrzehnten am stärksten wirksam werde. Zurückgewiesen wird die voreilige Weise, im Ursprung des Lebens etwas "Mystisches" oder "Mythisches" zu sehen. Die Philosophie dürfe aber nicht (wie Nietzsche gesehen habe) in einer Ressentimentstimmung das Leben in Begriffe fassen wollen. Vielmehr müsse die humilitas animi das Philosophieren mit dem Leben gehen lassen. Dieses Leben sei durch Situationen und Tendenzen geprägt; so stehe das Vorfindliche immer in einem bestimmten Wie. Zur Umwelt trete die Mitwelt, vor allem aber die Selbstwelt. Wenn das Leben, das sich kundtue und ausdrücke, erlebend vollzogen werde, könne es seinen Schwerpunkt in die Selbstwe1t legen. Es 84 Vgl. Martin Heidegger: Grundprobleme der Phänomenologie (Gesamtausgabe Band 58). Frankfurt am Main 1993. S. 204. 85 Vgl. Heidegger: Grundprobleme der Phänomenologie (s. Anm. 84). S. 49. Die angeführte drastische Formulierung findet sich nicht in der Edition, aber in der Vorlesungsnachschrift von Franz Josef Brecht. Brecht überliefert auch die Bemerkung zur Römerbriefvorlesung Luthers, sie "könne plötzlich aufgefasst, plötzlich verstanden" werden. - Zum folgenden vgl. Heidegger. Grundprobleme der Phänomenologie. S. 23.
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gebe die künstlerische Formung von Lebensgestalten (etwa in Shakespeares Dramen oder bei Dostojewski). Die Wissenschaft setze auf eine "Entlebung". Doch solle die "biographische Geschichtsforschung" die Selbstwelt zum "wissenschaftlich objektiven Ausdruck" bringen. Neben der Heiligengeschichte stehe die Künstlergeschichte Vasaris. "Die moderne biographische Forschung: Leben Jesu, Leben Luthers, Leben Goethes, Schleiermachers, Napoleons. Diese biographische Forschung hat selbst schon wieder ihre Geschichte: Geschichte der Leben-JesuForschung, der Luther-Forschung usf." Mit Napoleon spielt Heidegger wohl auf Gundolfs Vorliebe für diesen an. Neben Vasari und Butckhardts Kultur der Renaissance stellt er die Goethe-Darstellungen von Gundolf und Simmel. "Das tiefste historische Paradigma für den merkwürdigen Prozess der Verlegung des Schwerpunktes des faktischen Lebens und der Lebenswelt in die Selbstwelt und die Welt der inneren Erfahrungen gibt sich uns in der Entstehung des Christentums. Die Selbstwelt als solche tritt ins Leben und wird als solche gelebt. Was im Leben der christlichen Urgemeinde vorliegt, bedeutet eine radikale Umstellung der Tendenzrichtungen des Lebens." Diese "große Revolution gegen die antike Wissenschaft" habe aber Aristoteles wiederum obsiegen und zum "Philosophen des offiziellen Christentums" werden lassen. "Ein verwickelter Prozess, der immer wieder von Ansprüchen der echt urchristlichen Grundstellung unterbrochen wird, bald elementar umfassend wie ein [= bei] Augustin, bald vereinzelt in der Stille und der praktischen Lebensführung (mittelalterliche Mystik: Bernhard von Clairvaux, Bonaventura, Eckhard, Tauler, Luther)." Augustinus habe in den Confessiones die Unruhe des Herzens, in der er lebte, zum Ausdruck gebracht. 86 Heidegger zitiert das Heraklit-Motto zu Hegels Phänomenologie des Geistes (das freilich dem Werk wohl erst von seinem Herausgeber Johannes Schulze vorangestellt wurde): "Des Geistes Sinn ist es, sich selbst zu steigern." Auch er weist darauf hin, dass die Gestalten, in denen das Leben sich ausbildet, ständig deformiert werden; es sei der Sinn der sog. Dialektik, den Gestalten des Lebens ihre Fraglichkeit dadurch zurückzugeben, dass sie "der Produktivität des Nicht" ausgesetzt würden. "In diesen Ausdrucksgestalten gewinne ich durch Ursprungsverstehen, Interpretation und ,Konstruktion' die Urgeschichte des Lebens selbst, nicht in einer linearen Abfolge von Stadien, sondern in einer ständig neu vom Ursprung vorbrechenden Produktion. Keine allgemeingültigen Gesetze, sondern geoffenbarte Sinnbezüge, die als reine Ausdrucksgestalten des Lebens es selbst geben." Der Hegel der Phänomenologie des Geistes wird hier für eine Hermeneutik reklamiert, die sich eine systematische Aufstufung von Stadien im Sinne Kierkegaards versagt. Heidegger hält grundsätzlich fest: "Man muss in der Geistesgeschichte der Menschheit die Geschichte der menschlichen Seele und ihrer Erkenntnis aufsuchen ... Eine derartige Geistesgeschichte ist das wahre Organon des Verstehens des menschlichen Lebens. Darin liegt der tiefere Sinn der Hegelsehen Philosophie."
86 Ebenda S. 58,205,61 f., zum folgenden 11, 148,246.
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Vom Sommer 1920 stammt Heideggers Vorlesung Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks; sie trägt den Untertitel Theorie der philosophischen Begriffibildung. Die Anschauungsgebundenheit des Denkens wird betont; die Anschauung wird aber bezogen auf den Ausdruck, durch den sie von vornherein in Interpretationszusammenhänge gestellt ist. So kann Dilthey zum transzendentalen Ansatz Paul Natorps treten. Bei der Erörterung der Weisen des "Geschichtehabens" zeigt sich, dass auch Dilthey Geschichte nur zuständlich und von außen sieht. Jaspers stehe mit seiner Psychologie der Weltanschauungen "auf dem Boden der Diltheyschen Intuitionen". Er sei als einziger auf dem Wege zu einer Philosophie, der es um die Stärkung und stete Erneuerung der Faktizität des Daseins gehe. Doch sehe er keinen Weg (kenne nicht die nötige Hermeneutik der historischen Faktizität).87 Durch die Problematik des historischen Bewusstseins werde auch die christliche Dogmatik betroffen; sie könne die Absolutheit des christlichen Glaubens und dessen Unterscheidung von anderen Glaubensformen nicht mehr auf dem Boden einer bestimmten Metaphysik gewinnen (sie z.B. nicht doch wieder mit der Aufklärung in einer "natürlichen Vernunftreligion" suchen). "Schleiermacher sah zum erstenmal aus einem lebendigen historischen Bewusstsein heraus, dass das ,absolute Element' der Religion nicht in einer einzigen und besonderen historischen Religion verwirklicht sein könne, noch weniger aber in einer bloßen abstrakten Vernunftgestalt liegen könne." Sucht man die Problemlösung in einem umfassenden religionsgeschichtlichen Vergleich, dann hat man das Problem schon wieder in eine "verkehrte Theoretisierung" verschoben. So wird eine Auseinandersetzung nötig "mit der griechischen Philosophie und der Verunstaltung der christlichen Existenz durch sie". In der Idee einer christlichen Philosophie dürfe das "christlich" kein Etikett "für eine schlechte und epigonenhafte griechische" Philosophie sein. Das doppelte Motto zu dieser Vorlesung ist einerseits von Augustinus übernommen, andererseits aus der Nachfolge Christi des Thomas von Kempen: "Internus homo sui ipsius curam omnibus curis anteponit". Es geht gemäß der mystischen Tradition um den "inneren Menschen"; dieser stellt die Sorge um sich selbst allen anderen Sorgen voraus. Heidegger hatte zuerst vor allem von der "Bekümmerung" gesprochen; jetzt lenkte er in die Begriffiichkeit der Sorge ein, die dann Sein und Zeit bestimmte. Er konnte auch andere Themen, die ihn bleibend beanspruchten, bei Thomas von Kempen finden: die Abwehr von Gerede und Neugier, das Denken an die Todesstunde, die Empfehlung von Demut und Einfalt. Im Winter 1920/21 las Heidegger Einleitung in die Phänomenologie der Religion. Husserl berichtete am 30. Dezember 1920 an Roman Ingarden: "Heidegger liest religionsphänomenologische Probleme zur Zeit im Anschluss an GalaterBrief etc. (Paulus, Augustin). " Sicherlich unterstellte Husserl, dass Heidegger die transzendentale Phänomenologie nur anwende - nicht auf Mathematik und Na87 Vgl. Martin Heidegger. Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks. Theorie der philosophischen Begriffsbildung (Gesamtausgabe Band 59). Frankfurt am Main 1993. S. 174, zum folgenden 21 f., 91.
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turwissenschaften, wie Oskar Becker, sondern auf Theologie und Geisteswissenschaften. Doch ging es Heidegger um anderes. Im September 1920 schrieb er an Karl Löwith, dass er in seiner Vorlesung noch nicht zu Luther kommen werde; doch wolle er Kierkegaard "theologisch" in dem Sinn, wie er in seiner Vorlesung das Theologische fassen werde, aus den Angeln heben. Es sei verkehrt, Kierkegaard psychologisch auszubeuten; dieser Ansatz führe (bei Jaspers!) nur zu einem wirren Synkretismus. Noch schlimmer aber sei es, sich Kierkegaard "christlich" zu verschreiben und das Christliche mit ihm zu verwechseln (aus der eigenen Innerlichkeit einen Hintertreppenroman zu machen und die Leute darin gruseln zu lassen). "Hegelianer zu werden ist halb so schlimm als Kierkegaardianer." Am 9. Oktober schrieb Heidegger, die kommende Vorlesung werde im Laufe des Semesters "in die Brüche" gehen; er komme nun vorwärts, und so sei die vorbereitete Vorlesung schon etwas veraltet und auch nicht mehr zu flicken. Die Vorlesung geriet (äußerlich gesehen) in eine Katastrophe. Auf einen systematischen Teil folgte abrupt ein zweiter Teil mit Paulus-Exegesen. Am Ende des ersten Teils steht in Beckers Nachschrift: "Infolge von Einwänden Unberufener abgebrochen am 30. November 1920."88 Oskar Becker hat mündlich (auch in seinen Vorlesungen) genaueres mitgeteilt: Ein Theologiestudent beschwerte sich beim Dekan, dass er Religionsphänomenologie belegt und noch nichts über Religion gehört habe; der Anfänger unter den Hochschullehrern wurde gemahnt, das auch zu lesen, was er ankündige. Heidegger brach im Zorn seine systematischen Explikationen ab und gab vom 3. Dezember an nur noch Exegesen zu den Briefen des Apostels Paulus. Nach Beckers Auffassung legte Heidegger in diesen "Exegesen" endlich offen, was ihn wirklich bewegte. Andere meinten, Heidegger habe sich in diesen Eskapaden von seinen philosophischen Anliegen wegbewegt. Doch noch Jahrzehnte später erzählte man sich in Freiburg, damals hätten die Theologen nicht über Paulus lesen können, da der Privatdozent aus dem Fach Philosophie alle Paulus-Kommentare aus der Bibliothek abgeschleppt hatte und nicht zurückbrachte. So kann man schwerlich ein peripheres Interesse unterstellen. Heideggers Vorlesung, im ganzen aufgenommen, zeigt deutlich, dass eine Phänomenologie, gefasst als formal anzeigende Hermeneutik, sich bei der Entschlüsselung Paulinischer Motive gewinnen und an den Paulus-Briefen bewähren kann. Heidegger erläutert zuerst die Rede von einer Einleitung im Titel seiner Vorlesung. Die Einleitung in eine Wissenschaft umgrenze das Sachgebiet dieser Wissenschaft, lehre die methodische Bearbeitung des Sachgebietes und gebe schließlich historisch die bisherigen Versuche an. So aber könne die Einleitung in eine Philosophie nicht verfahren. Dort müsse man nach dem Motiv der Philosophie fragen, nach den begrifflichen Mitteln zur Realisierung dieses Motivs und der Angemessenheit dieser Mittel, damit auch nach einem möglichen Abgleiten in das wissenschaftliche Fahrwasser, und nach der Ursprünglichkeit des Motivs. Mit der Bezeichnung der Philosophie als eines rationalen Verhaltens verfalle man dem 88 Vgl. Heidegger: Phänomenologie des religiösen Lebens (s. Anm. 4). S. 339.
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Ideal der Wissenschaft und verdecke die Hauptschwierigkeit. Demgegenüber geht Heidegger davon aus, dass sich nur durch Philosophieren klären lasse, was Philosophie sei. Philosophie entspringe der faktischen Lebenserfahrung und springe in diese zurück. "Erfahren" meint hier nicht zur Kenntnis nehmen; die faktische Lebenserfahrung wird nur vom Historischen her verständlich. Zu erfahren sind nicht Objekte, sondern die Welt als das, worin wir leben. Die Welt ist zuerst einmal Umwelt oder Milieu, dazu Mitwelt, in der wir mit anderen sind. Mit anderen sind wir in der Rolle, z.B. der beruflichen oder verwandtschaftlichen Gebundenheit. Zur Umwelt und Mitwelt tritt das Ich-Selbst, die Selbstwelt. 89 Heidegger gibt in Anführungszeichen, also nach einer vorausgesetzten Darstellung, eine genaue Bestimmung der faktischen Lebenserfahrung. Sie ist die "einstellungsmäßige, abfallende, bezugsmäßig indifferente, selbstgenügsame Bedeutsamkeitsbekümmerung". Wir können Welt in der Einstellung auf Umwelt, Mitwelt oder Selbstwelt erfahren; diese Welten sind aber miteinander verflochten. Das Erfahren neigt dazu, abzufallen in die Bedeutsamkeit, so dass das Bedeutsame wissenschaftlich erfassbar scheint. Das verschiedene Wie des Erfahrens kommt dabei nicht zum Bewusstsein, "sondern es begegnet mir höchstens in dem Gehalt selbst, den ich erfahre". So zeigt die faktische Lebenserfahrung eine "Indifferenz in Bezug auf die Weise des Erfahrens". Die Bekümmerung um Bedeutsamkeit breitet sich "selbstgenügsam" auf alles aus, auch auf die höchsten Dinge. Nach dieser kurzen Vorstellung einer Hermeneutik der faktischen Lebenserfahrung will Heidegger sich umsehen unter den Tendenzen der Gegenwart. Er sieht das steigende Interesse für Religionsphilosophie auch dadurch belegt, dass sogar Damen darüber schreiben. Gemeint ist Simmels Frau Gertrud, unter deren Büchern sich auch Über die Religion von 1919 findet. Philosophen, "die ernst genommen sein wollen", begrüßten in den Religionsphilosophien "die wichtigsten Erscheinungen seit Jahrzehnten". Heidegger führt hier Gustav Radbruch und Paul Tillich an; beide seien von Troeltsch beeinflusst. 9o Er weist darauf hin, dass sich die religionsphilosopische Arbeit vor allem in der protestantischen Theologie vollziehe, die von den jeweiligen philosophischen Strömungen abhängig sei. Er kann als Beispiel für seine Kritik jenen Theologen und Philosophen wählen, der damals in Berlin den Höhepunkt seines Wirkens erreichte: Ernst T roeltsch. Heidegger konnte aber das wichtige Werk Der Historismus und seine Probleme von 1922 noch nicht kennen, den frühen Tod von Troeltsch 1923 nicht ahnen. In der Christlichen Welt wurde Troeltsch 1922 von seinem Schüler Friedrich Gogarten unter dem Titel Wider die romantische Theologie abgetan als Vertreter einer vergangenen Zeit. Man wandte sich in einem Umbruch allerseits unter den Jüngeren gegen das, was man gelernt hatte, damit auch gegen die Lehrer. Heidegger zeigt einleitend, wie Troeltsch seinen Standpunkt wechselte: Als Theologe ging er von der Ritschl-Schule und Dilthey zur Wertphilosophie von Windelband und Rickert, dann von Bergson und Simmel zur Geschichtsphiloso89 Ebenda S. 5, 11, zum folgenden 16, 12. 90 Ebenda S. 19.
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phie Hegels. Heidegger weist dann auf, wie Troeltsch Religion in verschiedenen Bereichen thematisiert. Für die Psychologie ist William Jarnes leitend mit seinem Buch Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit. Das Zentral phänomen ist so der Glaube an den Gewinn der Präsenz Gottes. Zu den peripheren Formen gehört die Wirtschaftsethik, wie Max Weber sie aufgewiesen hatte, aber auch Troeltsch in seinem Werk Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen. Die Erkenntnistheorie fragt nach dem Gültigkeitsmoment, das in den psychischen Vorgängen enthalten ist. Die Geschichtsphilosophie befragt den Verlauf der Entwicklung von Religion auf Gesetze hin. Sie sucht die Zukunft der Religion vorauszubestimmen: Wird es zu einer synkretistisch entstandenen allgemeinen Vernunftreligion kommen oder wird eine der positiven Religionen (Christentum, Buddhismus, Islam) allein herrschen? Die Metaphysik soll dann die Erscheinungsweisen der Religion mit einem Apriori von Religion vereinigen und Religion im Gesamtzusammenhang der Vernunft sehen. 91 Heidegger kritisiert, dass Religion hier immer schon auf Philosophie bezogen sei. Historisch verbinde Troeltsch die Reformation mit dem Mittelalter und sehe das Neue erst im 18. Jahrhundert und im Deutschen Idealismus. So gehe es ihm um Gottesbeweise, damit letztlich um Griechisches. Nach Troeltsch habe das Christentum "durch sein Bündnis mit der antiken Philosophie" seine "starke geschichtliche Position errungen". Man werfe Troeltsch vor, dass er ähnlich wie Dilthey "für Luther kein Verständnis" habe. Für ihn gehöre Religion wie Wissenschaft zur Kultur. Durch den Ausgang von Troeltsch, so begründet Heidegger seine einleitenden Überlegungen, habe er gegen seine "These von der radikalen Verschiedenheit von Philosophie und Wissenschaft argumentiert". Er sucht den eigenen Weg, indem er sich dem "Kernphänomen" des "Historischen" zuwendet. Er fragt, inwiefern die Phänomene, die ihn beschäftigen, also "Einleitung", "Philosophie", und "Religion", "historische" Phänomene seien. Gegenüber dem Problem des Historischen gibt es nach seiner Auffassung drei Wege: 1) Der "platonische Weg" gibt dem Theoretischen eine fundierende Rolle und bezieht im Kampf gegen den Skeptizismus das Historische auf überzeitliche Ideen, Substanzen oder Werte. 2) Spengler geht über Simmel hinaus den Weg des "radikalen SichAuslieferns" an die Geschichte. Das Verstehen von Geschichte wird selbst als historisch gefasst. 3) Dilthey, Simmel und vor allem Windelband und Rickert suchen einen Kompromiss. In ihm wird Geschichte zu einer Verwirklichung von Werten, die nie voll verwirklicht werden können. In allen drei Wegen sieht Heidegger die Tendenz, sich zu sichern gegen die Beunruhigung durch das Historische. "Einstellung" meint dann nicht nur den Bezug zur Sache, sondern auch das Einstellen in dem Sinn, in dem man erwa einen Kampf einstellt. Man hat das, was beunruhigt, "erledigt". Demgegenüber will Heidegger das Historische der faktischen Lebenserfahrung aushalten. 92
91 Ebenda S. 19 ff., zum folgenden 27, 29, 27, 29 ff. 92 Ebenda S. 31, 39 ff., 48 f., zum folgenden 56 f., 67.
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Heidegger verweist darauf, dass nach Aristoteles das Seiende vielfach gesagt werden kann. (Diese Aristotelische Lehre hatte Heidegger in der Dissertation von Franz Brentano dargestellt gefunden.) Das Sein, das in mannigfachen Seinsweisen das Seiende vernehmbar macht, wird neuzeitlich - so bei Kant - von der Weise her gesehen, wie es gegeben wird. So entsprechen ihm vielfache Bewusstseinsweisen. Mit Husserl wird nach der "Konstitution" des Gegenstandes gefragt. Als gegebenes "Phänomen" kann das Seiende nach drei Sinnrichtungen hin gefasst werden: nach seinem Was oder seinem Gehaltssinn, nach dem Wie des Erfahrenwerdens oder seinem Bezugssinn, nach dem "ursprünglichen" Wie im Vollzug des Bezugssinnes. In der Phänomenologie steht der logos dieser Sinnganzheit zur Erörterung. So kann Heidegger von Husserls Unterscheidung zwischen Generalisierung und Formalisierung her seine eigene Phänomenologie als formal anzeigende Hermeneutik entfalten. Er wehrt vor allem ab, dass der Bezugssinn ursprünglich der theoretische sei (auf den dann andere Bezugsweisen durch zusätzliche Bestimmungen aufgestockt werden könnten). Der Bezugssinn müsse vielmehr "in der Schwebe gehalten" werden. Die "formale Anzeige" trete der Weise entgegen, in der eine "abfallende Tendenz der faktischen Lebenserfahrung" ins "Objektmäßige" abgleite. Keineswegs setze die formale Anzeige eine "Ordnung" voraus. Die faktische Lebenserfahrung wird ja als "historisch" gefasst und verweist so auf die Zeit. Doch will Heidegger diese "abstrakten Betrachtungen" abbrechen und Geschichte vortragen. Hier notiert Oskar Becker, dass die Vorlesung "infolge von Einwänden Unberufener abgebrochen" worden war. Hätte nicht in der Tat enrwickelt werden müssen, was eine formal anzeigende Hermeneutik ist? In ihr ist die Form nicht leere Hülse, vielmehr erwas, was zur Erfüllung hinstrebt. Die Hermeneutik zeigt in der Weise an, dass sie das Angezeigte in der Schwebe hält und nicht über es entscheidet. Dabei legt sie das Dasein und den Bezug des Seins zu ihm so aus, dass sie auf jene Motive für Glaubensentscheidungen oder sittliche Entscheidungen zurückgeht, die philosophisch herausgehoben werden können. Statt diese Verhältnisse systematisch zu entfalten, zeigt Heidegger, wie der Apostel Paulus in seinen Briefen neue Daseinseinstellungen zur Sprache bringt, für die die nötige Begriffiichkeit in der griechischen Philosophie nicht gegeben ist. Es geht um eine Erweiterung oder Erneuerung der Begriffiichkeit (und so um logische Untersuchungen). Heidegger beginnt denn auch die Überleitung zu den Paulus-Briefen mit dem Hinweis, dass er nur ein "Vorverständnis" zu gewinnen suche für ein Verstehen, dass dann nicht mehr Philosophie sei, sondern Theologie. "Die formale Anzeige verzichtet auf das letzte Verständnis, das nur im genuinen religiiösen Erleben gegeben werden kann. Sie beabsichtigt nur, den Zugang zu eröffnen zum Neuen Testament." Heidegger geht aus vom Galater-Brief, den der Apostel Paulus im Kampf mit den Judenchristen schrieb. Seinen Gegnern halte Paulus das ursprünglich Christliche entgegen, so dass der Glaube und das Gesetz sich als Heilswege unterscheiden. Einen Unterschied gebe es auch in der damaligen "Mystik". Richard Reitzenstein habe darauf aufmerksam gemacht, dass das Paulinische In-Christus-Sein seine Terminologie mit den hellenistischen Mysterienreligionen teile. Dagegen
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betont Heidegger, dass das Skandalon des Kreuzes das "eigentliche Grundstück des Christentums" sei, dem gegenüber es nur "Glaube oder Unglaube" gebe. 93 Der Glaubende, der mit Christus sterbe, erkenne an, dass der Gekreuzigte der von Gott Gesandte, der Messias, sei. So zeige sich eine eschatologische Wendung; in ihr vollende sich ein Anfang, die Geschichte Jesu, indem der erhöhte Christus zum Maß der abendländischen Geschichte werde. In diesem Zusammenhang weist Heidegger auch darauf hin, dass Rudolf Buhmann sich mit Autoren wie Johannes Weiß, Paul Wendland und Eduard Norden auseinandersetze. Werde der "christliche Umbruch" aufgenommen, dann ergäben sich die Maßstäbe "für die Destruktion der christlichen Theologie und der abendländischen Philosophie". Der Zusammenhang von Theologie und Philosophie in der Tradition werde aufgebrochen auf die ursprünglichen Motive hin, die verschüttet worden waren. Ist Paulus ein stoisch-kynischer Wanderprediger, wie die Athener meinten? Um diese Auffassung abwehren zu können, gibt Heidegger eine "hypothetische" Bestimmung urchristlicher Religiosität: ,,1. Urchristliche Religiosität ist in der faktischen Lebenserfahrung. Nachsatz: Sie ist eigentlich solche selbst. / 2. Die faktische Lebenserfahrung ist historisch. Nachsatz: Die christliche Erfahrung lebt die Zeit selbst (,leben' als verbum transitivum verstanden)." Heidegger greift zurück auf das "früheste Dokument" des Neuen Testaments, den ersten Brief des Paulus an die Thessalonicher. 94 Die Thessalonicher oder doch einige von ihnen sind das geworden, was sie jetzt sind (nämlich Christen), weil Paulus in ihr Leben trat. Sie seien ihm zugefallen, indem sie seine Verkündigung annahmen. So traten sie in einen "Wirkungszusammenhang mit Gott". Diese Hinwendung zu Gott war Wegwendung von den Götzenbildern. Entscheidend wurde die Erwartung der Wiederkunft des Herrn. Heidegger bezieht sich auf das zwölfte Kapitel des zweiten Briefes an die Korinther, um diese Ausrichtung klarzumachen: Auch Paulus hat begnadete "Entrückungen" gehabt. Das aber ist nicht wichtig; er will in seiner Schwäche und in seinen Bedrängnissen gesehen werden. Er hat einen "Stachel im Fleisch". "Fleisch" ist nicht nur concupiscentia, wie Augustinus meinte, sondern "die Ursprungssphäre aller nicht aus Gott motivierten Affekte". Satan, der den Apostel schlägt, ist der "Widersacher". Er hindert das Werk des Paulus, so auch den erneuten Weg zu den Thessalonichern. Heidegger kommt zu seiner leitenden Thematik mit der Frage, wie die Wiederkunft sich vollziehe. Der Ausdruck parousia meine im klassischen Griechisch "Anwesenheit", im Alten Testament gemäß der Septuaginta "Ankunft des Herrn zum Gerichtstag", im Spätjudentum "die Ankunft des Messias als Stellvertreter Gottes", für den Christen "Wiedererscheinen des schon erschienenen Messias".95 Heidegger erklärt es "für ganz falsch", das "Grundverhalten zur parousia" als "ein Erwarten" zu fassen und die christliche Hoffnung als einen speziellen Fall davon. Die Menschen suchen die Welt als den Ort, wo es Frieden und Sicherheit gibt, 93 Ebenda 5.69,70 f., zum folgenden 128, 133, 135. 94 Ebenda 5.79,82,87, zum folgenden 93 ff. 95 Ebenda S. 102, zum folgenden 103 fI
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also nicht die Beunruhigung. Doch überfällt sie plötzliches Verderben. Ihr Erwarten absorbiert sich in dem, was das Leben ihnen heranbringt. "Weil sie in dieser Erwartung leben, trifft sie das Verderben so, dass sie nicht entfliehen können. Sie können sich selbst nicht retten, weil sie sich selbst nicht haben, weil sie das eigene Selbst vergessen haben ... " Die Glaubenden aber sind nicht in der Finsternis, so dass der Tag des Herrn sie überraschen könnte wie ein Dieb in der Nacht. Die Frage nach dem "Wann" der Wiederkunft drängt die Wiederkunft nicht in zeitliche Ordnungszusammenhänge; vielmehr ist sie "die Aufforderung, zu wachen und nüchtern zu sein". Die Nüchternheit schließt eine Überbewertung mystischer Entrückungen aus; das Wachsein ist offen für das Plötzliche des Tages des Herrn. Heidegger wendet sich gegen Theologen wie den Baseler P. Schmidt, der im zweiten Brief an die Thessalonicher einen Gegensatz zum ersten Brief findet: Nicht von Frieden und Sicherheit ist im zweiten Brief die Rede, sondern von warnenden Zeichen wie dem Auftreten des Antichrist. Heidegger weist das ,,Ausspielen verschiedener vorstellungsmäßiger Ansichten gegeneinander" ab und sagt: "Nur Unverständnis kann den zweiten Thessalonicherbrief dem Paulus absprechen. "96 Doch hat sich in der Exegese die Auffassung durchgesetzt, dass der zweite Brief im letzten Jahrzehnt des ersten Jahrhunderts den ersten Brief, also einen wirklichen Paulusbrief, so kommentierte, dass die Wiederkunft noch nicht nahe sei, weil erst die warnenden Vorzeichen eintreten müssten. Der zweite Brief spricht im zweiten Kapitel von dem, was den Antichristen noch aufhält (katechon). Zu dieser Thematik (die von Carl Schmitt für die Zeitgeschichte genutzt wurde) sagt Heidegger: "Theodoret, Augustin und andere sehen im katechon die schroffe Ordnung des römischen Reiches, das die Verfolgung der Christen durch die Juden niederhält." Heidegger macht dagegen darauf aufmerksam, dass die Sünde ein Mysterium sei wie der Glaube. Angesprochen sei "das Problem der christlichen Einstellung zur nichtchristlichen Umwelt und Mitwelt und damit das Problem der Heilsgeschichte". Die Christen stünden nicht ratlos vor der Frage nach den Gestorbenen. "Wie Gott Christus auferweckte, so wird er auch die Toten mit Christus zu sich ziehen." Die Thessalonicher hatten ja die Sorge geäußert, dass einige von ihnen schon gestorben seien und die Wiederkunft für sie zu spät komme. Heidegger weist darauf hin, dass Ferdinand Christian Baur in seinem PaulusBuch den ersten Thessalonicher-Brief für unecht erkläre. Als Mitglied der Tübinger Schule, die unter dem Einfluss Hegels stand, fand Baur in diesem Brief nur einen geringen dogmatischen Gehalt, wenn er ihn mit anderen Paulus-Briefen verglich. Unter dem Eindruck der Entwicklung der "historischen Geisteswissenschaften" habe sich die protestantische Theologie den literarischen Formen des Heuen Testaments zugewandt. Das neutestamentliche Schrifttum sei in die Weltliteratur eingeordnet worden, damit von dieser her seine Formen analysiert werden konnten. Doch könne sich das Heue Testament "in nichts von der zeitgenös96 Ebenda S. 106, zum folgenden 114 f.
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sischen Literatur unterscheiden" und dürfe doch nicht von dieser her verstanden werden. Die "moderne Religionsgeschichte" habe viel geleistet, doch müsse sie einer "Destruktion" unterworfen werden. Heidegger nennt den Namen Rudolf Ottos nicht einmal mehr, wenn er den "Stolz" der Religionsphilosophie auf die Kategorie des Irrationalen als unzulänglich abweist. Er dachte mit Troeltsch, dass die Beschreibung der religiösen Phänomene "am besten" von William James durchgeführt worden sei. 97 (Inzwischen wirft man James vor, dass ihm als Protestanten das Gemeindebewusstsein und die Sprache der Sakramente fremd geblieben seien. So habe er bewirkt, dass man Musikern und Dichtern zugestehen konnte, sie seien nicht "conventionally religious", aber "profoundly spiritual".) Das Lehrbuch der Dogmengeschichte von Adolf von Harnack fängt erst mit dem dritten Jahrhundert an, weil da die griechische Philosophie die christliche Religion dogmatisiert habe. Nach Heidegger liegt das Problem des Dogmas als Explikation der Religiosität im Urchristentum. 98 "Schon zu Ende des ersten Jahrhunderts wurde das Eschatologische im Christentum verdeckt." Heidegger verweist darauf, dass das vierte Buch Esra (entstanden gegen Ende des ersten Jahrhunderts) eine jüdische Apokalypse entwickle. Das christliche eschatologische Bewusstsein sei davon aber eine "eigentümliche Umbildung". Es sei schon in den eschatologischen Reden Jesu im Matthäus- und Markus-Evanglium zu fassen. "Diese Probleme wurden bereits im Mittelalter nicht mehr ursprünglich gefasst, infolge des Eindringens der platonisch-aristotelischen Philosophie in das Christentum ... Man verkennt in späterer Zeit alle ursprünglich christlichen Begriffe. Auch in der heutigen Philosophie sind noch hinter der griechischen Einstellung die christlichen Begriffsbildungen verborgen." Heidegger sucht angemessene Begriffe für seine Fragen und behauptet, seit Sokrates sei diese "Vorfrage nach dem Sinn der philosophischen Begrifflichkeit" nicht mehr gestellt worden. Er wirft Nietzsche vor, dieser verkenne Paulus, wenn er ihm Ressentiment unterstellte. 99 Es sei ein "Abfall vom eigentlichen Verstehen", wenn "Gott primär als Gegenstand der Spekulation" gefasst werde. "Das ist nur einzusehen, wenn man die Explikation der begrifflichen Zusammenhänge durchführt. Dies ist aber niemals versucht worden, weil die griechische Philosophie sich in das Christentum eingedrängt hat. Nur Luther hat einen Vorstoß in diese Richtung gemacht und von daher ist sein Hass gegen Aristoteles erklärlich." Für Luther sei der Galater-Brief bedeutsam geworden, weil er zusammen mit dem Römer-Brief "zum dogmatischen Fundament" geworden sei. Doch seien Luther und Paulus religiös "radikale Gegensätze". "Luther sieht Paulus von Augustinus aus. Trotzdem gibt es echte Zusammenhänge des Protestantismus mit Paulus." Augustinus rückt so in eine ambivalente Position. Heideggers Vorlesung vom Sommer 1921 hatte deshalb zum Thema Augustinus und der Neuplatonismus. 97 Ebenda S. 81, 81, 20. - Zum folgenden vgl. Charles Taylor: Varieties of Religion Today. William James Revisited. Harvard University Press 2002 (Die Formen des Religiösen in der Gegenwart. Frankfurt 2002.) 98 Ebenda S. 72, zum folgenden 104 f. 99 Ebenda S. 89, 120, zum folgenden 97, 67 f.
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Diese Vorlesung ist zuerst einmal jene "Eigendestruktion", von der Heidegger gegenüber Löwith sprach. Heidegger unterminiert das eigene Denken, indem er dessen Motive kritisch sieht. In seiner Antrittsvorlesung Der ZeitbegrifJ in der Geschichtswissenschaft von 1915 hatte Heidegger sich auf das Augustinus-Buch von T roeltsch berufen: Augustinus werde dort verstanden als Abschluss und V ollendung der Antike als christlicher Antike; so könne eine zweite Periode in der Geschichte des Christentums gegen die erste abgegrenzt werden. Mit Troeltsch suchte Heidegger die Zeiten der Geschichte als "Lebensobjektivationen" zu fassen und qualitativ voneinander abzugrenzen (so dass der Zeitbegriff der Physik als quantitative Reihe von Zeitpunkten nicht genüge). 100 Die Vorlesung von 1921 sieht Troeltsch unter jenen, von denen Heidegger sich absetzen muss. Damit stellt Heidegger sich in einen strikten Gegensatz zu dem, was in seiner Umgebung mit Augustinus geschah. Im Oktober 1921 polemisierte Heidegger in einem Brief an Löwith dagegen, dass "gewisse seelische Spürhunde" sich auch auf Augustinus richteten; er prophezeite für die nächsten Jahrzehnte, dass man die Weltgeschichte psychoanalysieren werde. Im November 1922 erregte er sich darüber, dass Jonas Cohn das Harnacksche Augustinus-Elaborat für die Seminarbibliothek angeschafft habe. Doch käme es auf einen Schmöker mehr oder weniger auch nicht mehr an; der ,,Alte" (also Husserl) sei begeistert, dass er nun auch noch Augustinus kennen lerne. Heidegger selbst versäumte trotz aller guten Vorsätze, Plotin und den Neuplatonismus zu studieren. Doch darin folgten ihm Schüler wie Hans-Georg Gadamer nicht. Heidegger betont, dass die Rezeption des Aristoteles im Mittelalter sich immer auseinanderzusetzen hatte mit augustinischen Gedankenrichtungen; die Mystik sei auf augustinische Motive zurückgegangen. In Frankreich habe nicht allein der Jansenismus vom Augustinismus her eine Erneuerung versucht. Doch habe Augustinus mit dem Erwachen der kritischen Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert eine neue Zuwendung erfahren. Als deren drei markanteste Vertreter behandelt Heidegger Troeltsch, Harnack und Dilthey. Nach Troeltsch fasst Augustinus die absterbende antike Kultur zusammen. Nach Adolf von Harnack belebt Augustinus das Dogma aus der persönlichen Erfahrung und führt so die Religion "in die Herzen als Gabe und Aufgabe". Nach Dilthey wird Augustinus durch den Glauben, dass Gott sich in der Geschichte offenbart, herausgerissen "aus der theoretischen Transszendenz bei Plato" So liege bei ihm "der Ursprung des historischen Bewusstseins". Indem die innere Erfahrung zur absoluten Realität werde, komme Augustinus zu einer "Vorform des Descart'schen ,cogito, ergo sum"'. Zugleich lege er die Ideen in das absolute Bewusstsein Gottes. Doch verkennt Dilthey nach Heideggers Auffassung das innere Problem Augustins völlig, wenn er es bei Kant und Schleiermacher gelöst sieht. In allen drei Weisen ist Augustinus Objekt in einem Ordnungszusammenhang. Dieser ist bei Troeltsch die Kulturphilosophie, bei Harnack die Dogmenge100 Zu Heideggers Antrittsvorlesung vgl. Frühe Schriften (s. Anm. 64). - Zum folgenden vgl. Heidegger: Phänomenologie des religiösen Lebens (s. Anm. 4). S. 159 ff.
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schichte, bei Dilthey die Entwicklung der Geisteswissenschaften wie die des Versuchs, der eigenen Zeit durch geistesgeschichtliche Durchdringung des Vergangenen aufzuhelfen. Wenn Harnack von Hellenisierung des Christentums und Dilthey vom Eindringen griechischer Metaphysik spricht, scheint das dem Titel Augustinus und der Neuplatonismus zu entsprechen. Doch will Heidegger mit seiner Vorlesung vor die Entscheidungen führen, die damals vollzogen wurden und "uns selbst noch ,tragen'''.lOl Heidegger weist aber die Auffassung ab, die Frage nach Augustinus und dem Neuplatonismus sei ein Spezialfall der Frage nach Griechentum und Christentum. Auch durch "hegelsche Manipulationen" lasse sich die konkrete Sachlage nicht zerschlagen zugunsten allgemeiner Probleme. Vor allem könne keine "Typologie" (wie sie in der Dilthey-Schule und von Jaspers her beliebt geworden war) darüber hinwegtäuschen, dass die Geschichte "stündlich den schärfsten Schlag gegen uns selbst" führt, wenn wir die Geschichte objektiv zu haben und zu beherrschen meinen. Wir stehen heute selbst in dem "Wirkungsdimensionen" der damaligen Entscheidungen. "Die Geschichte trifft uns, und wir sind sie selbst". Heidegger hat dem dritten Kapitel des zehnten Buches von Augustins Konfessionen das Motto für seine Vorlesung entnommen: Die Menschen sind neugierig, vom Leben anderer zu hören, aber träge, das eigene Leben zu bessern. 102 In seiner Interpretation konzentriert er sich auf dieses Buch, in dem Augustinus nicht mehr über sein vergangenes Leben berichtet, "sondern darüber, was er jetzt ist". Der homo interior tritt hervor; es gilt: melius, quod interius. Aus dem achten Kapitel zitiert Heidegger den berühmten Satz, dass die Menschen hingehen, um über Berggipfel, Meeresfluten, Ströme, die endlose Weite des Ozeans zu staunen, sich selbst aber nicht beachten. Als "Bilder" bleiben diese Dinge im Gedächtnis, auch wenn sie nicht gesehen werden. Das Gedächtnis umschließt das Mathematische, dazu die Weisen des Wissens und die Affekte. Ich brauche nicht selbst traurig zu sein, wenn ich Trauriges erinnere. Doch begegne ich im Erinnerten wie im Erwarteten mir selbst. Das Vergessen enthält eine Aporie: Wenn ich mich an das Vergessene erinnere, herrscht das Vergessen nicht; wenn das Vergessen herrscht, kann ich Vergessenes nicht vergegenwärtigen. Auch die Tiere, die ihre Nester aufsuchen, haben Gedächtnis; der Mensch überschreitet aber die Gewöhnung an etwas. Ein Rest des Vergessenen muss bewusst sein, damit ich das Vergessene suchen kann. Die Menschen suchen Gott. Heidegger betont, vorangehende Überlegungen legten für die Frage, was die Menschen in Gott suchten, die Antwort nahe, sie suchten das glückselige Leben. So kann er diese Antwort kritisch hinterfragen. Für ihn sind "griechisch" und "katholisch" die "Berufung auf allgemeine Verbreitung", die in "vorstellungsmäßiger Orientierung" als "Objektwissen" gewonnen werden solle. Nach Augustinus suchen wir alle das glückselige Leben; so müssen wir auch eine sichere Kenntnis davon haben, die uns "verfügbar" ist. 101 Ebenda S. 159 ff., vor allem 160,163,164; zum folgenden 166 ff., vor allem 171, 173. 102 Ebenda S. 158, zum folgenden 177,179,182,183 ff., 191.
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,,Allgemeinheit" ist ein "echter Sinn" des faktischen Lebens, doch ein "durch die griechische Philosophie umgebogener Sinn", der in die "existenziell-historische Einheit" zurückgenommen werden muss lO3 Das glückselige Leben ist als das wahre Leben Freude über die Wahrheit. Doch freuen die Menschen sich ästhetisch am Glanz der Wahrheit, der ausruhen lässt; sie hassen die Wahrheit, wenn sie ihnen auf den Leib rückt, ihre Faktizität und Existenz in Frage stellt. Das Leben der Menschen geht in der "Zerstreuung" auf, die im Mannigfachen der Welt zerfließt. Dieses Leben ist nichts anderes als eine ständige Versuchung, sich den Beschwernissen des Lebens hinzugeben und aus ihnen eine Lust zu machen. So ist es sich selbst notwendig eine "Last". Heidegger orientiert sich mit Augustinus am ersten Johannes-Brief (2,16) und unterscheidet Fleischeslust, Augenlust und "ambitio saeculi", also das InGeltung-Stehen bei der Mitwelt (Luthers "hoffärtiges Leben"). Wenn der Augenlust die Neugier zugeordnet wird, dann umfasst sie neben dem Kino z.B. auch das "Sichbeschäftigen mit Magie, Mystik und Theosophie". Die ambitio will von anderen geliebt oder gefürchtet sein. Das "eigentlich Satanische" im Sichwichtignehmen liegt darin, dass man aus dem angeblichen Verzicht auf sich selbst noch "eine große Sache" macht. Heidegger spricht gelegentlich von der "Sorge für das alltägliche Leben", doch übersetzt er cura noch durch Bekümmerung. 104 Wichtig wird die Unterscheidung von uti und frui, dem Umgehen mit dem, was das Leben uns zuträgt, und dem Genießen. Diese Unterscheidung führt zu einem Vorwurf: "Bei Augustin kommt nicht alles scharf zum Durchbruch! Weil er sich im frui zu verführerisch festgemacht hat, aber innerhalb davon!" Die fruitio sei bei Augustin aber nicht "die spezifisch Plotinische, die in der Anschauung kulminiert", sondern sei vetwurzelt in der "eigentümlich christlichen Auffassung des faktischen Lebens". Doch dringe Augustinus nicht durch. Das Korrelat zur fruitio sei die pulchritudo, die Schönheit; so liege in ihr ein "ästhetisches" Moment. "Die fruitio Dei steht letzten Endes im Gegensatz zum Haben des Selbst; bei des entspringt nicht derselben Wurzel, sondern ist von außen zusammengewachsen." Oskar Becker überliefert uns Heideggers Vorlesung, wie sie wirklich gehalten wurde (leider wurde seine Nachschrift nicht im Zusammenhang abgedruckt). Er gibt auch die Unterscheidung von timor castus und timor servilis wieder. Die reine Furcht ist Vertrauen auf Gott und ist motiviert in der Hoffnung. So kann 1. Joh. 4,18 zitiert werden: " Timor non est in charitate. (In der eigentlichen Liebe ist keine Furcht.)" Die knechtische Furcht fürchtet Gott nur, weil er strafen kann. Heidegger betont, dass das "echte Tapfersein" die Möglichkeit der Furcht voraussetzt. 105 Nach seinen Notizen wird die Angst das Fürchten bloß weltlicher Bedeutsamkeiten vertreiben. "Die Angst entdeckt das Schicksal." Doch erwägt Hei103 Ebenda S. 194, 196, 198, zum folgenden 201, 205 f. 104 Ebenda 211 f., 233, 224. 240, 245, zum folgenden 256 f., 272. 105 Ebenda 296, zum folgenden 268. - Man mag (mit Orto Friedrich Bollnow) fragen, ob Heidegger mit seinen Hinweisen auf Angst und Gelassenheit die antike und alteuropäische Lehre von den Affekten und Tugenden nicht zu selektiv rezipiert. Vgl. dazu Orto Pöggeler: Neue Wege mit Heidegger (s. Anm. 83). S. 142 ff.
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degger hier noch terminologisch, ob Furcht nicht die echte Angst meinen könne; dafür scheine der Terminus "Ehrfurcht" zu sprechen. Da die Christen an der Liebe Gottes teilhaben, unterscheidet Heidegger Weisen der Liebe. Der Schlemmer "liebt" Krammetsvögel, indem er sie verzehrt. "Die eigentliche Liebe hat die Grundtendenz auf das dilectum, ut sit. Liebe ist also Wille zum Sein des Geliebten." Die mitweltliche Liebe hat den Sinn, dem Geliebten zur Existenz zu verhelfen. In der "echten Gottesliebe" soll Gott zugänglich werden als der, "der in einem absoluten Sinn existiert". Aus diesem Bezug auf Augustinus hat Heidegger eine Lieblingswendung entwickelt, das Volo, ut SiS. '06 Am 11. 1. 1928 schreibt Heidegger an Elisabeth Blochmann: "Volo ut sis, ich will, dass Du seiest, so interpretiert einmal Augustinus die Liebe. Und er erkennt sie damit als innerste Freiheit des Einen zum Anderen." Auch Hannah Arendt hat die Formel übernommen: "amo: volo ut sis". Bezeichnend ist, dass Heidegger die mitweltliche Liebe vom griechischen Ideal der Freundschaft her denkt, aber nicht die christliche Nächstenliebe berücksichtigt, die dem Überfallenen am Wegrand gilt. Doch hält er fest, wer in der Liebe verwurzelt sei, dürfe tun, was er wolle. Descartes ist üblicher Weise mit seinem cogito, sum auf Augustinus zurückgeführt worden. Dagegen betont Heidegger, die Betrachtung des Selbst als Grundphänomen sei von Descartes in eine "abfallende Richtung" gebracht, die Gedanken Augustins seien dabei "verwässert" worden. "Die Selbstgewissheit muss interpretiert werden aus dem faktischen Sein, sie ist nur aus dem Glauben möglich.",o7 Faktizität und Existenz werden so verbunden. Max Scheler, der damals seine Religionsphilosophie ausbildete, bekommt eine schlechte Note. Ihm gehe es um die Rangordnung, die es bei Augustin auch gebe. So müsse das, was Scheler festhalte, gerade ausgeschaltet werden. Heidegger bezieht sich auch auf den französischen Solidarismus. (Peronalismus und Solidarismus wurden in Polen z.B. durch den späteren Papst Johannes Paul 11. als Voraussetzung des politischen Umsturzes geltend gemacht.) Immer wieder wird auf Kierkegaard verwiesen - auf Die Krankheit zum Tode und auf die Schrift Der BegriffAngst. Doch betonte Heidegger brieflich gegenüber Löwith, dass er nicht in zeittypischer Weise im Banne Kierkegaards stehen wolle. Musste Heidegger nicht zurückkehren zu seinem Ausgangspunkt, der Seinsund Gotteslehre des Aristoteles? Mit einem Seminar vom Sommer 1921 und mit Vorlesungen seit dem Winter 1921/22 bereitete er jenes Aristoteles-Werk vor, das seine spezifische Darstellung des Ansatzes der Phänomenologie geben sollte. Husserl wollte das Werk sofort drucken. Heidegger nahm Aristoteles nun nicht mehr als Vorläufer der Scholastik; vielmehr wurde der Vater des abendländischen Denkens von seinem schärfsten Gegner Luther her aufgefasst, damit von einer Phänomenologie der Religion und einer Hermeneutik des Lebens her. Unter den 106 Ebenda S. 291 f. - Zum folgenden vgl. Hannab Arendt: Vom Leben des Geistes. München I Zürich 1979. Band 2. S. 102. 107 Vgl. Heidegger: Phänomenologie des religiösen Lebens (s. Anm. 4). S. 298 f., zum folgenden 277,265,279, zu Kierkegaard 178, 102,248,265 sowie 257,268. Zum folgenden vgl. Karol Wojtila (PapsrJohannes Paul H.): Primat des Geistes. Stuttgart 1980.
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Mottos aus Kierkegaard und Luther, die Heidegger dem Werk voranstellen wollte, finden sich zwei Sätze aus Luthers Vorrede zum Römerbrief innerhalb der Vorreden zum Heuen Testament: "Darum siehe dich für, dass Du nicht Wein trinkest, wenn Du noch ein Säugling bist. Eine igliche (jegliche) Lehre hat ihre Maaße, Zeit und Alter." Wenn wir durch das Evangelium Sünde und Gnade erkennen und uns unter das Kreuz beugen, können wir (mit den späteren Kapiteln des Römerbriefes) den starken Wein trinken und die Erwählung oder Nichterwählung durch Gott bedenken! Heidegger will offenbar deutlich machen, dass die Tradition des Abendlandes so zu destruieren sei, wie einst die erstarrte und verfallene jüdische Religiosität und die Gesetze Roms, welche "alle Welt ersäuft" haben. Doch will er Schritt für Schritt vorgehen, vor allem nicht mehr Philosophie und Theologie von vornherein im Zusammenhang sehen. So fordert er seit diesen Aristoteles-Vorlesungen von der Philosophie den methodischen ,,Atheismus", der sich des Rückgriffs auf die Geheimnisse des Glaubens enthält. 108 Als philosophische Lehrstühle in Göttingen und Marburg zu besetzen waren, stellte Heidegger im Herbst 1922 sein geplantes Werk über Aristoteles in einem Bericht vor. Am 19. November 1922 schrieb er an Jaspers, Natorp habe über Husserl "eine konkrete Orientierung" über Heideggers geplante Arbeiten verlangt. "Darauf setzte ich mich drei Wochen hin und exzerpierte mich selbst und schrieb dabei eine ,Einleitung' ; das Ganze diktierte ich dann (60 Seiten) und schickte durch Husserl je ein Exemplar nach Marburg und Göttingen." Nach diesem Arbeitsbericht soll die Auseinandersetzung mit Aristoteles die griechische Grundlegung der Philosophie aus den Perspektiven des Deutschen Idealismus und überhaupt aus der harmonisierenden Verbindung von Griechentum und Christentum befreien und wieder zum Problem machen. Heidegger stellt cura und curiositas nebeneinander und nennt als "konstitutive Charaktere der Faktizität" dann "das Sorgen, die Verfallenstendenz, das Wie des den Tod Habens". Das faktische Leben aus ihm selbst erfassen schließe ein, dass die Philosophie grundsätzlich "atheistisch" sei. Dabei meine Atheismus aber nicht so etwas wie Materialismus, sondern das SichfreihaIten "von verführerischer, Religiosität lediglich beredender, Besorgnis". Idealistische Denker wie Hegel kämen von der Theologie her, doch sei schon der reformatorischen Theologie "nur in ganz geringem Ausmaß eine genuine Explikation der neuen religiösen GrundeinsteIlung Luthers und ihrer immanenten Möglichkeiten" gelungen. Die GrundeinsteIlung Luthers sei ihrerseits "erwachsen aus seiner ursprünglich zugeeigneten Paulus- und Augustinus-Auslegung und einer gleichzeitigen Auseinandersetzung mit der spätscholastischen Theologie (Duns Scotus, Occam, Gabriel Biel, Gregor von Rimini)". Der junge Luther schließe mit seinen bald wieder verstellten Erfahrungen auch die Probleme auf, vor denen Aristoteles zurückgewichen sei. Die Ethik des Ari108 Vgl. dazu die Bände 61 und 62 der Gesamtausgabe. - Zum folgenden vgl. Martin Heidegger: Phänomenologische Interpretation zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation). Hrsg. von Hans-Ulrich Lessing. In: Dilthey-Jahrbuch 6 (1989). S. 235-274, vor allem 241, 244,246,250,253,263.
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stoteles habe den Menschen durch die phronesis auf die Situation und den Augenblick ausgerichtet; diese Ausrichtung sei unter den Bann der techne geraten, die auch nous und sophia geprägt habe. So sei die ousia als eidos und damit als verfügbare "Habe" im Sinne des Hausstandes und Besitzstandes gefasst worden. Die Theorie, die sich aus dem Verfügen der techne emanzipiere, habe im Göttlichen den "höchsten Seinscharakter" gefunden. Sie sei nicht aus einer "religiösen Grunderfahrung" erwachsen (sie folgt ja dem Bedürfnis einer letzten Absicherung). "Die christliche Theologie und die in ihrem Einfluss stehende philosophische ,Spekulation' und die in solchen Zusammenhängen immer mit erwachende Anthropologie sprechen in erborgten, ihrem eigenen Seinsfelde fremden Kategorien. " Als Heidegger 1922 durch Erich Rothacker zur Mitarbeit an der neuen Deutschen Vierteljahrsschrift for Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte eingeladen wurde, begrüßte er ein Organ in der Weise von Savignys Zeitschrift for geschichtliche Rechtswissenschaft. Er versprach für einen späteren Zeitpunkt Untersuchungen über das Mittelalter, für sofort etwas relativ Abgeschlossenes über "die ontologischen Grundlagen der spätmittelalterlichen Anthropologie und die theologische Frühzeit Luthers". Er vermisste "die Berücksichtigung der religionsgeschichtlichen und theologiegeschichtlichen Arbeit". "Die Antriebe, die von der theologischen Forschung auf die Geisteswissenschaften ausgingen, sind stärker als man gemeinhin annimmt; z.B. die geisteswissenschaftlichen methodischen Probleme, die in der heutigen Lutherforschung lebendig sind; die Umstellung der neutestamentlichen Exegese u. dgl." Für die Transponierung der Probleme der LutherForschung "in die geisteswissenschaftliche Fragestellung" empfahl Heidegger Karl Holl. Zum Schmerz Rothackers konnte der germanistische Mitherausgeber Kluckhohn später nicht einmal Heideggers Erörterung des Briefwechsels zwischen Dilthey und dem Grafen Yorck und die Anzeige von Heideggers eigener Fragestellung unter dem Titel Der Begriffder Zeit akzeptieren. 109 Der Durchbruch zur vollen Eigenständigkeit gelang Heidegger in der Vorlesung Ontologie oder Hermeneutik der Faktizität vom Sommer 1923. Ontologie als Rede vom Sein des Seienden und seiner mannigfachen Bereiche, dazu die entsprechenden Logiken gehören in das faktische Leben, das sich nur historisch auszulegen und als Existenz zu verstehen vermag. Im Plan eines Vorworts für eine Publikation dieser Überlegungen schrieb Heidegger: "Begleiter im Suchen war der junge Luther und Vorbild Aristoteles, den jener hasste. Stöße gab Kierkegaard, und die Augen hat mir Husserl eingesetzt." Heidegger ist in dieser sofort berühmten Vorlesung auf dem Wege einer systematischen Ausarbeitung der ersten Abschnitte von Sein und Zeit. In jedem Fall ist er gerüstet für die Begegnung mit einem Exegeten und Systematiker der Theologie wie Rudolf Bultmann.
109 Vgl. Joachim Storck und Theodore Kisiel: Heidegger und die Anfänge der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. In: Dilthey-Jahrbuch 8 (1992-93). S. 181 ff.
H. Die Zusammenarbeit
Im August 1922 wurde in T odtnauberg die Hütte fertig, die für Martin Heidegger fortan ein Zufluchtsort für stille Arbeit wurde. (Wenn die Kinder dort waren, hatte er unterhalb der Hütte bei einem Bauern ein Arbeitszimmer.) Am 1. 10. 1923 wurde Heidegger ordentlicher Professor in Marburg, zuerst auf einer außerordentlichen Lehrstelle, dann vom 1. 10. 27 an auf dem ordentlichen Lehrstuhl. Die Marburger Zeit ging zu Ende, als Heidegger zum 1. 10. 28 den Ruf als Nachfolger Husserls nach Freiburg annahm. Er bezog in Freiburg-Zähringen ein Haus auf dem Rötebuck, das von seiner Frau gebaut worden war. Für die Marburger Jahre von 1923-1928 war die Zusammenarbeit mit Rudolf Buhmann entscheidend, die auch durch eine gemeinsame Gruppe von Schülern gestützt wurde.
1. Über Lucher zu Paulus Rudolf Bultmann hatte im Wintersemester 1923/24 in seinem Seminar Die Ethik des Paulus 26 ordentliche und 11 außerordentliche Mitglieder. Zu den ordentlichen gehörten Heinrich Schlier und Wilhelm Anz. Nachdem Heidegger Buhmann bei seinem Antrittsbesuch getroffen hatte, kam er seit Dezember 1923 in das Seminar. Er nahm auch an anderen theologischen Veranstaltungen teil. Als Heinrich Hermelink über Luther und das Mittelalter sprach, zeigte Heidegger nach Bultmanns Erinnerung eine bessere Kenntnis nicht nur der Scholastik, sondern auch Luthers. I iO Gadamer berichtet, wie Heidegger einen Diskussionsbeitrag schloss: "Er sagte nämlich, nachdem er die christliche Skepsis Franz Overbecks beschworen hatte, es sei die wahre Aufgabe der Theologie, zu der sie wieder finden müsse, das Wort zu suchen, das imstande sei, zum Glauben zu rufen und im Glauben zu bewahren." Gadamer fragt sich, ob Heidegger damit der Theologie ihre Aufgabe stellen oder stärker noch als Overbeck die Möglichkeit von Theologie bezweifeln wollte. In Bultmanns Seminar stand zur Diskussion, dass Paulus sich auf Grund seiner Eschatologie und seiner Rechtfertigungslehre indifferent gegenüber dem Staat verhalte. Gefragt wurde, was "Gerechtigkeit" bei Paulus, Platon und Ritschl heiße. Zu Holtzmanns Werk Neutestamentliche Theologie wurde kritisch bemerkt, dass es Askese als religiöse Technik im Sinne der Mysterienfrömmigkeit bei Paulus nicht gebe. Das Gerechtfertigtsein stehe in Spannung zum Sündersein und sei 110 Siehe Anm. 33. - Zum folgenden vgl. Hans Georg Gadamer: Heideggers Wege. Tübingen 1983. S. 29, 146 f.
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"Indikativ und Imperativ", also vorgegeben und aufgegeben. Wernles Schrift Der Christ und die Sünde bei Paulus formuliere das Problem, gebe aber keine Lösung der ,,Antinomie bei Paulus" mit der Behauptung: "Paulus müsse die Sündlosigkeit des Gerechtfertigten behaupten, um den sittlichen Charakter der Religion zu wahren." Entscheidend wurde am 10. Januar die These, der Mensch werde nicht durch seine Befreiung vom Irdischen gerecht, sondern sei "in Gottes Urteil, durch Gottes Tat" der Gerechte. Diese Sicht, die Luther vertraut gewesen sei, sei "unserer Generation durch unser Verständnis von Mensch und Welt fremd geworden". Sie finde jetzt aber "einen neuen Ausdruck in den Arbeiten Karl Barths und Friedrich Gogartens". Hier gab Heidegger einen Gesprächsbeitrag im Anschluss an Röm. 6 "über das Leben im Glauben". Dieses Paulus-Kapitel sagt, dass die Christen auf den Tod Christi getauft sind; indem sie mit Christus gestorben sind, werden sie mit ihm im Glauben auferweckt zu einem neuen Leben, das allein von Gott gegeben werden kann. Damit ist die griechische Auffassung zurückgewiesen, dass der Mensch aus sich auf Unsterblichkeit ausgerichtet ist. Er ist vielmehr von seinem immer schon hereinstehenden Tod her der Sterbliche, der im Glauben allein auf Gott vertraur. - In Bultmanns Seminar folgten weitere Referate; am 31. 1. handelte Wilhelm von Rohden über die syneidesis bei Paulus, also über die Gewissensproblematik. Heidegger hielt am 14. und 21. Februar sein Referat Das Problem der Sünde bei Luther. Es wurde in der ersten Hälfte von einem unbekannten Studenten protokolliert, in der zweiten von Heinrich Schlier. I I I Doch ist auch eine stenographische Mitschrift von Wilhelm von Rohden erhalten. Heidegger will die Sünde nicht als "Gegenstand religiöser Betrachtung" nehmen, sondern als theologisches Problem. Der Gegenstand der Theologie ist Gott, ihr Thema "der Mensch im Wie seines Gestelltseins vor Gott". Hier bringt von Rohden eine Parallele: Gegenstand der Physik ist die Natur, ihr Thema das Bewegtsein. Das Thema gibt also das Wesen eines Gegenstandsfeldes an! Luther, dem eine "besondere Grundrichtung des theologischen Fragens" von der Sünde aus zugeschrieben wird, führt zur eigenen Frage: "Was sagt Sünde, wenn die Beziehung des Menschen auf Gott als theologisches Problem erörtert wird?" Der "Urstand" des Menschen erscheint als iustitia originalis; er zeige den Menschen "in dem Augenblick, als er aus der Hand Gottes hervorging". Der Mensch müsse einerseits "als summ um bonum der Schöpfung" angesehen werden; andererseits müsse "er so geschaffen sein, dass Fall und Sein der Sünde möglich sind und nicht Gott zur Last fallen". Von der Betrachtung des Urstandes sei auch die Vorstellung der Erlösung abhängig; an der iustitia originalis sei "Sinn und Wesen der jeweiligen Theologie abzulesen": "Je mehr die Radikalität der Sünde verkannt wird, desto mehr wird die Erlösung herabgemindert, desto mehr verliert Gottes Menschwerdung an Norwendigkeit." Während die Scholastik die corruptio abzu111 Vgl. Bernd Jaspert: Sachgemäße Exegese. Die Protokolle aus RudolfBultmanns Neutestamentlichen Seminaren 1921-195l. Marburg 1996. S. 26 ff. Die im folgenden genannte Mitschrift benutze ich nach einer Transkription von Theodore Kisiel.
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schwächen suche, finde sich bei Luther die Grundtendenz, dass die corruptio gar nicht radikal genug gefasst werden könne. Das gelte sowohl für die Frühzeit Luthers wie für den späteren Luther. Heidegger behandelt dann verschiedene Schriften Luthers. Die Quaestio de viribus von 1516 sieht die Sünde nicht als Anhäufung von Fehlern, sondern als af fectus, als ein Entsetztsein vor den Dingen, das aus dem Hängen an ihnen entspringt. Die Welt bietet nicht Herrlichkeiten, sondern Widerwärtigkeiten; in diesen muss der Mensch sein Sein durchhalten. Gott erschüttert aber den Versuch, von sich aus Gerechtigkeit zu suchen, "so dass der Mensch nun weiß, von der Welt habe ich nichts zu erwarten". Aus der Disputatio contra scholasticam theologiam von 1517 wird die 37. These besonders wichtig: ,,Alles menschliche Handeln ist vermessen und sündhaft." Hier hält Heidegger fest: "Diese Aussagen trennen Luther von Aristoteles und der ganzen griechischen Ontologie, so dass er in These 50 sagen kann: ,Totus Aristoteles ad theologiam est tenebrae ad lucem.'" Aus der Heidelberger Disputation von 1518 entnimmt Heidegger erneut die Unterscheidung zwischen der Theologie der Herrlichkeit, die von der Scholastik mit den Griechen gesucht werde, und der Theologie des Kreuzes. Nach von Rohden zieht Heidegger auch die zweite Psalmenvorlesung aus Wittenberg von 1519 heran "mit dem berühmten Satz: Qualis tu es, talis et deus ipse tibi." In der Seminarsitzung vom 21. Februar verglich Heidegger die Scholastik und Luther. In der Scholastik ist die Beantwortung der Frage nach der iustitia originalis abhängig von der Grundauffassung, dass die Kirche Autorität in Glaubenssachen ist. Das kann sie, weil sie eine göttliche Stiftung ist. Vorausgesetzt ist 1) das Dasein Gottes, 2) die Möglichkeit einer geschichtlichen Offenbarung, die sich in der inspirierten Schrift bezeugt und fortgeführt wird in der Kirche. "Um diese Nachweise führen zu können, ist vorausgesetzt, dass der Mensch ... von außen her die Möglichkeit der Gotteserkenntnis besitzt. Das kann nur angenommen werden, wenn die natura hominis auch nach dem Fall integra ist." Was hier "von außen her" meint, wird in von Rohdens Nachschrift erläutert: "Dass die Schriften Alten und Neuen Testaments inspiriert sind, muss bewiesen werden von außen her. Daraus resultiert die Schlüsselgewalt: Kirchenautorität in Glaubens-Sachen in Hinsicht auf die außer der Kirche Stehenden." "Von außen her" meint: nicht aus der Schrift selbst, sondern aus den Dogmen der Kirche. Vor dem Sündenfall hat der Mensch eine "höhere Gotteserkenntnis" besessen "auf Grund eines donum superadditum". Dieses besteht in den drei theologischen Tugenden, also in Glaube, Liebe und Hoffnung (wie von Rohdens Nachschrift eigens sagt; verweisen lässt sich auf 1. Kor. 13, 13). Durch den Sündenfall verliert der Mensch dieses donum superadditum, aber nicht das Gestelltsein vor Gott. Gegen diese Auffassung lehnt sich Luther auf. Er beruft sich auf die "experientia". Die Nachschrift von Rohdens fasst Luthers Auffassung genauer: "Aus konkreter Daseinserfahrung ist die natura integra zu verneinen." "Sünde" ist "Existenzbegriff', nicht eine Vielzahl von Fehlern; sie haftet nicht an der moralischen Beschaffenheit des Menschen, sondern ist deren "eigentlicher Kern". Luther sieht auch die Bewegtheit in der Sünde: Eine Sünde zeugt die andere und reißt den
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Menschen immer tiefer in das Sündersein. Der Mensch wendet sich von Gott ab; in der Flucht wächst der Hass gegen Gott; der Haß endet in Verzweiflung und Reuelosigkeit. Heidegger geht dann näher aufLuthers späte Genesis-Vorlesung (1535 ff.) ein. Dabei geht es um Genesis 3, die Versuchung von Adam und Eva durch die Schlange, den "Sündenfall". Heidegger sagt im Anschluss an Luther: ,,Adam und Eva werden also nicht durch eine einzelne, bestimmte Sünde versucht, sondern gegen Gott selbst und sein Wort aufgehetzt. Und ihre Sünde besteht darin, dass sie einem Wort Gehör schenken, das nicht Gottes Wort ist, dass sie sich auf eine disputatio überhaupt einlassen. Mit ihr verlieren sie ihr ursprüngliches Sein vor Gott." Der Mensch fällt zuerst in den Unglauben; dieser führt zur Verzweiflung und Reuelosigkeit. "Gott ist dem Menschen unerträglich, der Mensch erschrickt vor ihm schon beim leisen Bewegen der Blätter, weil er in seinem eigentlichen Sein erschüttert ist." Doch ist es Torheit, vor Gott fliehen zu wollen, dem nicht zu entfliehen ist. Die Torheit und das Zittern sind aber nur die Präludien. Wer flieht, sucht immer weiter zu fliehen. Doch indem Adam die Sünde leugnet, fügt er ihr eine neue Sünde hinzu und bewirkt seinen ewigen Ruin. Die eigentliche Verzweiflung besteht darin, dass die Sünder Gott anklagen. "Eva richtet bei ihrer Entschuldigung die Anschuldigung gegen Gott als creator der Schlange und bezeichnet ihn damit als auctor peccati." Der Unglaube wendet sich um in Blasphemie, die Reuelosigkeit wird zur Schmähung des Schöpfers. Gemäß der Nachschrift von Rohdens spricht aus jedem Satz des überführten Menschen die Angst: "Dass ein Riss in der Welt sich nicht mehr schließen könnte. Angst vor dem Chaos? Angst vor dem Nichts? Nein. Angst vor Gott. Das selbstgemachte Menschenbild bricht zusammen." Und doch ist die Lage des Menschen, der sich von Gott entfernt hat, eine Beziehung zu Gott. Es ist die höchste Gnade, dass Gott "nach dem Fall nicht geschwiegen", sondern gesprochen hat. Das Sein Gottes wird immer gefasst als Wort, das Sein des Menschen als Hören. Heidegger fasst zusammen, dass Luther sich gänzlich anders als die Scholastik an der Sünde orientiert und diese als "Grundgegensatz zum Glauben" fasst. Wenn die "jüngste theologische Bewegung" (also Karl Barth und Gogarten als kritische oder dialektische Theologie) die Einsicht Luthers aufnehme, werde sie bekämpft. Heidegger benutzt eine Tagebucheintragung Kierkegaards, um abschließend Katholizismus und Protestantismus gegenüberzustellen. "Protestantismus ist nur Korrektiv zum Katholizismus und kann allein als Regulativ nicht bestehen, wie Luther nur auf dem Geistesgrund des Katholizismus Luther ist." In der Entartung wird der Katholizismus zur Scheinheiligkeit, der Protestantismus zur geistlosen Weltlichkeit. Der Vertreter des Katholizismus nimmt in der Entartung zur Weltlichkeit "das odium der Weltlichkeit auf sich"; dem Vertreter des Protestantismus wird "das Lob der Frömmigkeit und Freimütigkeit zuteil". Im Katholizismus besteht die "allgemeine Voraussetzung", "dass wir Menschen doch etwas Schlingel sind", also in dieser oder jener Weise der Sünde verfallen. Das Prinzip des Protestantismus hat eine "besondere Voraussetzung": "ein Mensch, der in Todesangst dasitzt - in Furcht und Zittern und viel Anfechtung."
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Heidegger bekam zu Weihnachten 1923 von Erich Rothacker zur Rezension in der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte den gerade erschienenen Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg. Yorcks Bedenken gegen Analysen von Dilthey führten zu einer neuen Distanz gegenüber dem Philosophen. Statt einer Rezension erarbeitete Heidegger die Abhandlung Der Begriff der Zeit. Diese gibt nach Bemerkungen über den Briefwechsel die Themen an, die 1927 in Sein und Zeit ausgeführt wurden. Im Juli 1924 trug Heidegger vor der Marburger Theologenschaft das Wesentliche in seinem berühmten Vortrag Der Begriff der Zeit vor. Heidegger sagte von der christlichen Theologie, dass sie Bezug habe auf die Ewigkeit, aber auch darauf, dass (mit der Offenbarung Christi) "die Zeit erfüllet ward". Am Schluss des Vortrags wird die Frage nach der Zeit auf den Fragenden selbst angewandt: "Sind wir selbst die Zeit?", "Bin ich meine Zeit?" Der Vortrag, durch Nachschriften verbreitet, wurde (etwa von Oskar Becker) als die Keimzelle des Werks genommen, das wenige Jahre später unter dem Titel Sein und Zeit erschien. Doch ging dieses Fragment durch die Auseinandersetzung mit Kants Schematismuslehre neue Wege, die über den ursprünglichen Ansatz hinausführten. Unverkennbar aber und in vielen Anmerkungen nachgewiesen ist dort, dass die Auseinandersetzung mit Paulus, Augustinus, Luther, Calvin dem Werk entscheidende Motive vermittelt hat.!12 Heidegger schrieb am 24. Januar 1924 aus Marburg dem engsten Freiburger Gesprächsfreund, dem jungen Julius Ebbinghaus, er habe in dem Neutestamentler Rudolf Buhmann einen Freund gewonnen. Er sagte vom Plan seiner Lehrtätigkeit: "Im Sommer lese ich Augustinus 4st. Und im Winter will ich dann an die Hermeneutik der historischen Wissenschaften."!!3 Doch wollte Heidegger zuerst seine Abhandlung über Aristoteles für den Druck fertig machen und las im Sommer 1924 Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie. Im Winter 1924/25 folgte eine Platon-Vorlesung. Offenbar sollte nun die klassische griechische Philosophie aus sich selbst (nicht von der christlichen Kritik her) gesehen werden. Dann aber trat, von der Frage nach Zeit und Schematismus her, Kant in den Vordergrund. Rudolf Bultmann erlebte diese jähen Wendungen Heideggers mit, doch bleibt zweifelhaft, wie weit ihm die wechselnden Motive Heideggers klar wurden. Hans-Georg Gadamer berichtet in seiner Autobiographie Philosophische Lehrjahre, dass Heidegger in Marburg auf Paul Natorp traf, den er in Freiburg mit Husserl zusammengesehen hatte. Die transzendentale Phänomenologie und Philosophie sollte durch eine hermeneutische Phänomenologie überwunden werden. 112 Siehe Anm. 109. - Vgl. Heideggers Abhandlung und den Vortrag jetzt in HeideggerGesamtausgabe Band 64 (2004). - Zum folgenden vgl. Otto Pöggeler: Hermeneutische Philosophie. Die Anstöße Heideggers. In: Nach Heidegger. Einblicke - Ausblicke. Hrsg. von Helmuth Vetter. Frankfurt am Main 2003. S. 15 ff., vor allem 28 f. 113 Vgl. Otto Pöggeler: Metaphysische Perspektiven. Julius Ebbinghaus und Martin Heidegger. In: Metaphysik und Kritik. Festschrift für Manfred Baum. Hrsg. von Sabine Doye u. a. Berlin / New York 2004. S. 379 ff.
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Doch schreibt Gadamer, dass der kleine "eisgraue" alte Mann im Lodencape und der respektvoll ihm zugewandte junge Heidegger "in langem, tiefem Schweigen" den Rotenberg heraufgewandert seien. 114 Heidegger hat sich kaum den späten Wegen Natorps, die zur Mystik führten, geöffnet (geschweige denn der Hinwendung zur Religion der Vernunft nach den Quellen des Judentums, mit der Hermann Cohen geendet hatte). Da Nicolai Hartmann nachts arbeitete, Heidegger schon um 7 Uhr Vorlesung hielt, konnten diese beiden sowieso nicht miteinander diskutieren. Schwierig wurde es für den eleganten Balten, wenn Heidegger ihm in der Universität im Ski-Anzug begegnete (weil er einen Vortrag über das Skilaufen als Einführung in einen Trockenskikurs halten wollte). Gadamer berichtet auch von der Graeca, die am Donnerstag abends griechische Texte studierte (wobei einer eine deutsche Übersetzung als Hilfe vorlas). In den Ferien wandte man sich der europäischen Romankunst zu (dabei war zumeist Gerhard Krüger der Vorleser). Gadamer kann Rudolf Otto und dessen Religionsphänomenologie Das Heilige abtun mit der Rede vom "Heiligen Otto". Ottos "würdevoll englische Gestalt" habe "mit unnahbarer Kühle" theologische Ethik doziert. Ein einziges Mal sei er, Gadamer, in dieser Vorlesung gewesen, als Otto nach etwa zehn Minuten gesagt habe. "Wir kommen nun epsilon zu der Liebe." Besonders in Erinnerung geblieben seien die "theologischen Schlachtfeste"; gegenüber Thurneysen als Sendboten der neuen dialektischen Theologie habe schließlich Heidegger Overbeck beschworen. 1l5 Sicherlich gibt Gadamer sachlich Heideggers Einstellung richtig wieder; der Verweis auf Overbeck war jedoch gegen einen Vortrag von Heitmüller gerichet. Thurneysen selbst berichtet noch aus der Eisenbahn am 22. 2. 1924 an Karl Barth: "Der Philosoph Heidegger - sehr zustimmend, es sei methodisch alles in Ordnung gewesen, keine Grenzen überschritten, aber mit der Frage nach unserem Verhältnis zu Kant, den er zu Aristoteles rechne, von dem sich der junge Luther losgesagt habe. Es wurde mir nicht ganz deutlich, von wo aus Heidegger selber denken möchte." Gadamer zitiert auch die Weise, in der der Romanist Leo Spitzer sich etwa im Jahre 1930 von Marburg nach Köln mit einem Fest verabschiedete. Er stellte die Frage: "Was ist Marburg?" Zum Ärger vieler wies er eine Reihe von Antworten zurück, um schließlich beim Namen Rudolf Bultmanns zu sagen: "Das ist Marburg". Für Heidegger war Bultmann etwas anderes. Er erzählte mir einmal, Bultmann und er hätten gemeinsam ein Seminar gemacht, als der Hausmeister mit dem Ruf, die Universität brenne, hereingestürzt sei. Buhmann und er hätten sich dann die Sache angesehen und bemerkt, dass es nur am anderen Flügel brenne. So hätten sie ihr Seminar fortgesetzt. Es ging also nicht darum, die alte theologische 114 Vgl. Hans-Georg Gadamer: Philosophische Lehrjahre. Frankfurt am Main 1977. S. 67 f. Zum folgenden vgl. Gadamer: Heideggers Wege (s. Anm. 110). S. 97; Philosophische Lehrjahre. S. 38 f. 115 Vgl. Gadamer: Philosophische Lehrjahre (s. Anm. 114). S. 26, 37, zum folgenden 14. - Gemäß Kisiels Nachweis fiel Heideggers Bemerkung nach einem Vortrag von Heitmüller, vgl. The Genesis ... (s. Anm. 72). S. 559.
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und philosophische Tradition in Marburg wieder zusammenzuführen. Vielmehr sollte das Gespräch zwischen dem theologischen Exegeten und dem Phänomenologen eine andere und neue Zukunft in der geistigen Orientierung heraufführen und das gerade dann, wenn die alte Universität brannte. Einer der damaligen Schüler von Bultmann und Heidegger, Hermann Mörchen, berichtet denn auch, dass "die meisten der entschiedenen Bultmann- und Heidegger-Gefolgsleute" sich in der Akademischen Vereinigung (A.V.) zusammenfanden. Doch habe Heideggers Wort von der "eisigen Kälte des Begriffs" die Runde gemacht und zur Abwendung von der A.V. geführt, da diese "einseitig aufbegriffiiche Arbeit ausgerichtet" sei. Rudolf Otto habe seine Polemik gegen Bultmann eingeleitet mit der Wen· l'1st sagt ... "1l6 dung." D er Ra tlona Da man sich in Marburg an Platon und Kant orientiert hatte, war es ein Bruch mit der Marburger Tradition, wenn Heidegger auf Aristoteles setzte (den ,,Apotheker", der jedem Fläschchen sein Zettelchen aufklebte). Nach Mörchen erschien Heidegger in der "stockprotestantischen Stadt" als "katholischer Außenseiter". Auch von seinen "katholischen Augen" sei manchmal die Rede gewesen. (Dass die Augen faszinierten, berichtet auch Gadamer.) "Statt, wie üblich, über die Anfänge neuzeitlicher Philosophie von Descartes bis Kant las er im Winter 1926/27 über ,Geschichte der Philosophie von Thomas von Aquin bis Kant' und brauchte die Hälfte des Semesters für eine gründliche Einführung ins Denken der Scholastik, von der man dortzulande kaum eine Ahnung hatte. Gleichzeitig hielt er (im größten Hörsaal des Landgrafenhauses) ein Proseminar über die Schrift De ente et essentia von Thomas v. Aquin." Mörchen berichtet auch: "Im Sommersemester 1927 nahm ich an Bultmanns und Heideggers Gemeinschaftsseminar über Luthers Galater-Kommentar teil..." Heinrich Schlier erinnert sich an verschiedene Marburger Aktivitäten Heideggers und sagt, in Erinnerung geblieben sei nicht nur die Teilnahme an Bultmanns Seminar, sondern auch der "Vortrag, den er uns hielt, und zwar über Luthers Galaterbrief" . "Ich weiß nicht mehr viel von dem, was er enthielt, aber ich weiß noch genau, wie großen Eindruck er auf die Zuhörer machte, und wie verwundert sie über diese verborgene Seite ihres Lehrers waren, besonders über seine reiche Lutherkenntnis." Karl Löwith schreibt von Heidegger: "Noch 1925 schien ihm geistiges Leben nur in der Theologie vorhanden, bei Barth und Gogarten. Am vertrautesten stand er damals mit Bultmann, mit dem er ein Seminar über den jungen Luther abhielt." Nun hielt Bultmann im Sommersemester 1927 ein Seminar Luthers Kommentar zum Galaterbrief Bultmann schrieb am 21. 4. 1927 an Barth: " ... Marburg würde mir immer fremder werden, wenn ich nicht eine treue Hörerschaft hätte und mich der Freundschaft und Arbeitsgemeinschaft mit Heidegger erfreute." Barth bot damals an: Lektüre des Galaterbriefes an Hand der Kommentare Luthers und Calvins. So 116 Vgl. Hermann Mörchen: Heidegger und die Marburger Theologie. In. Martin Heidegger -Faszination und Erschrecken. Hrsg. von Peter Kemper. Frankfurt / New York 1990. S. 72 ff., vor allem 75, zum folgenden 73 FE, 75. - Vgl. ferner Heinrich Schlier: Denken im Andenken. In: Erinnerung an Martin Heidegger. Hrsg. von Günther Neske. Pfullingen 1977. S. 217 ff., vor allem 219; Kar! Löwith: Mein Leben in Deutschland ... (s. Anm. 69). S. 29.
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schrieb Buhmann ihm am 1. 5. 1927: "Übrigens haben wir zufällig das gleiche Thema im Seminar." Aus diesen Berichten darf man den Schluss ziehen, dass den Studenten das Seminar über Luthers Kommentar zum Galaterbrief von 1927 als Gemeinschaftsseminar von Buhmann und Heidegger erschien. Gegenstand war die Vorlesung Luthers von 1516/17, deren Nachschrift Luther 1519 als Kommentar zum Galaterbrief herausgab. Die Vorlesung von 1531, die 1535 erschien, kann nicht mehr als Kommentar des jungen Luther gelten. Es ist aber nicht auszuschließen, dass sie gelegentlich auch herangezogen wurde. Heidegger konnte in diese Zusammenhänge eintreten, aber doch von seinen eigenen Ausgangspunkten aus. Er stellte sich dem Freunde Buhmann mit seinem Herkommen dar. So schrieb er ihm am 15. Oktober 1925 einen "herzlichen Gruß aus der Heimat". Auf einer Ansichtskarte mit der Burg Wildenstein hieß es: "U nterhalb dieser Burg, auf der die Zimmersehe Chronik geschrieben wurde, steht der Heidegger-Hof. Eine halbe Stunde davon liegt das Kloster Beuron. Morgen fahre ich noch für einige Tage zu Jaspers nach Heidelberg." Die bäuerliche Herkunft, die Verbundenheit mit den adeligen Häusern und mit den Benediktinern von Beuron gehen zusammen mit der Freundschaft mit Jaspers, in der die beiden Philosophen gegen die überkommene Universität rebellierten. Als Rudolf Otto und andere in Marburg eine "Gesellschaft der Wissenschaften" gründeten, glaubten sie Heidegger wegen fehlender Publikationen nur als außerordentliches Mitglied zulassen zu können. Bultmann verstand das als Kränkung, wenn er die Szenen der Gründungsbemühungen auch für die Lustspiele aufbewahrte, die er nach der Emeritierung schreiben wollte. Heidegger mochte in seinem Brief vom 14. 3. 27 von diesem "Krimskrams" nichts wissen und verwies den Freund auf seine Arbeit am Johannes-Kommentar. Es gehe darum, Aufgaben für die Zukunft zu sehen. "Was an Betrieb und Umtrieben geschieht, ist gleichgültig. Genug, wenn es uns gelingt, an der Zukunft zu wachsen und aus ihr heraus frei zu bleiben, um uns vor einer Verkrampfung zu bewahren, die mit allem Radikalismus gern sich einschleicht." Heidegger fürchtete in diesem Brief auch eine "Kompromisstheologie", da Karl Barth und sein traditionsbewusster Gegner Althaus gemeinsam eine neue Sammlung von Schriften herausgeben wollten. Heidegger schrieb: "Ihr Commentar muss die Theologie wieder in die konkreten Probleme stoßen und deutlich machen, dass so etwas wie ,dialektische Theologie' ein Gespenst ist." Die Freunde hatten an der Universität jeweils ihre Kollegen. Buhmann wollte mit seinem Freunde Hans von Soden durchaus zusammenarbeiten. Heidegger konnte über dessen Rektoratsrede Was ist Wahrheit? von 1927 nur spotten. U mgekehrt erwähnte Heidegger vielfach den schwierigen Weg von Oskar Becker, ohne dass Buhmann auf diesen Philosophen und Mathematiker ansprach (der selbst unreligiös war). Heidegger schätzte seinen Nachfolger auf dem Marburger Lehrstuhl, Frank, persönlich; doch philosophisch erwartete er nichts Neues von ihm. Ein Bindeglied waren die gemeinsamen Schüler. Noch vor der Publikation von Sein und Zeit verdeutlichte Heidegger am 15. September 1925 gegenüber Gerhard Krüger, wie er die Begriffe Alltäglichkeit, Eigentlichkeit, Sorge ansetzte.
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Krüger sah Verwandtes zwischen Heidegger und dem Marburger Theologen Wilhelm Herrmann. Heidegger schrieb ihm, dass Herrmann wie auch Dihhey und dessen Schüler zwar "instinktiv" das hätten, "was gemacht werden sollte", aber es nicht auszulegen wüssten. Sie blieben "wissenschaftlich hilflos" und brachten sich so um das, was sie gewonnen hatten. Später fand Gerhard Krüger hohes Lob für seine Bemühung um Kant. Hans-Georg Gadamer konnte nur langsam Anerkennung bei Heidegger finden. Als ähester Schüler Heideggers gehörte Karl Löwith in diesen Kreis. Hannah Arendt (wie zeitweise Hans Jonas) bewegten sich dagegen in anderen Zirkeln. Martin Heidegger schrieb am 2. September 1930 von Todtnauberg aus an Buhmann: "Über den aktuellen Stand der Theologie bin ich gar nicht orientiert ... In der Marburger Zeit konnte ich an unseren Samstagen öfters mich schnell orientieren." Hatte Heidegger sich seit 1929/30 nicht selbst herausgezogen aus der Verbindung mit der theologischen Arbeit? Er wollte eigentlich nicht als Mitherausgeber der neuen Theologischen Rundschau auftreten; wirklich zurückgewiesen hat er das Ansinnen, dort über philosophische Bestrebungen zu berichten, die theologische Relevanz hatten. Da Buhmann für die Theologen einen Artikel Heidegger schreiben sollte, wunderte Heidegger sich am 31. 12. 27 darüber, da er "gerade anfange zu krabbeln". Doch schickte er Buhmann eine Vorgabe, die von diesem auch übernommen wurde: "Inhaltlich wäre nur zu sagen, dass meine Arbeit zielt auf eine Radikalisierung der antiken Ontologie und zugleich auf einen universalen Ausbau derselben in Bezug auf die Region der Geschichte. Das Fundament dieser Problematik bildet der Ausgang vom ,Subjekt' im rechtverstandenen Sinne des ,menschlichen Daseins', so dass mit der Radikalisierung dieses Ansatzes zugleich die echten Motive des deutschen Idealismus zu ihrem Recht kommen. Augustin, Luther, Kierkegaard sind philosophisch wesentlich für die Ausbildung eines radikaleren Daseinsverständnisses, Dihhey für die Interpretation der ,geschichtlichen Welt'. Aristoteles - Scholastik für die strenge Formulierung gewisser ontologischer Probleme. All das in einer Methodik und am Leitfaden der Idee wissenschaftlicher Philosophie, wie sie Husserl begründet hat." Heidegger etwähnt auch noch den Einfluss von Rickert und Lask. Er betont, dass seine Arbeit weder weltanschauliche noch gar theologische Absichten habe. "Wohl aber liegen Ansätze und Absichten in ihr auf eine ontologische Grundlegung der christlichen Theologie als Wissenschaft." Es war also durchaus im Sinne Heideggers, wenn Rudolf Buhmann Sein und Zeit nutzte und dadurch zwei Generationen von Theologen prägte. Über das Marburger Universitätsjubiläum von 1927 konnte Heidegger sich nur abschätzig äußern, standen doch Religionswissenschaftler wie Friedrich Heiler eher im Blick der Öffentlichkeit als seine eigne Zusammenarbeit mit Buhmann. Am 7. 9. 27 schrieb er an Buhmann: "Eine Universität, der der Minister offiziell und öffentlich bestätigt, dass sie sich durch Weltreligionswissenschaft, Pflege der Leibesübungen und des Auslandsdeutschturns auszeichne, verdient kein anderes Jubiläum." Doch fand er am 6. 10. 27 Rudolf Ottos gedruckte Rede "als Festrede eine sehr gute Leistung", wenn auch ohne eine Idee. Am 2. 4. 28
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teilte Heidegger von seiner Hütte aus mit, dass er den Ruf nach Freiburg angenommen habe. Er erinnerte daran, dass aus der Begegnung von 1923 ein Miteinandersein erwachsen sei, das ein bleibender Besitz sein werde. Er nehme ihn als Freund dahin mit, wo Bultmann (über die Herkunft seiner Mutter) zuhause sei. "Sie selbst haben den Schwarzwald im Blut, und zwar als bestimmende Kraft, wenn anders wir freie Geister jeweils der Mutter das Wesentliche verdanken." Die Rede von den freien Geistern durchzieht Nietzsches Fröhliche Wissenschaft, die ja auch den tollen Menschen vom Tode Gottes sprechen lässt und einen Hinweis auf die ewige Wiederkehr bringt. Freie Geister behaupten nach Nietzsche auch gegenüber der Wissenschaft ihre Freiheit. Sie fühlen sich bei der Nachricht vom Tode des alten Gottes "wie von einer neuen Morgenröte angestrahlt"; "jedes Wagnis des Erkennenden ist wieder erlaubt".ll7 Im Tübinger Bultmann-Nachlass liegt eine Mitschrift von Heideggers Vorlesung Logik. Die Frage nach der Wahrheit vom Wintersemester 1925/26. Diese Vorlesung wendet sich in einem plötzlichen Bruch von der Zeitproblematik bei Aristoteles zur Schematismus-Lehre von Kant. Es war Heidegger aufgegangen, dass er bei Kant einen Ansatz zur Aufklärung seiner Thematik fand. Nebenher gibt Heidegger auch eine Abgrenzung von der Theologie. Er betont, die Daseinsauffassung könne nicht die dogmatisch-christliche sein; sie müsse aber die Weise aufarbeiten, in der die christliche Dogmatik die Philosophie des Mittelalters und auch der Neuzeit bestimmt habe. Darüber hinaus habe das christliche Daseinsverständnis "bestimmte Bezirke des Daseins für die philosophische Betrachtung eröffnet". Doch sei der Lehrgehalt der christlichen Dogmatik ganz und gar von der jeweiligen Philosophie bestimmt. 11B Berichtet wird auch, Bultmann habe im Sommer 1926 Heideggers Vorlesung Grundbegriffe der antiken Philosophie mit der Aristoteles-Ausgabe unter dem Arm besucht. Auch hier ist die weitere Aufklärung des einzelnen nötig. Am 27. 3. 27 schrieb Bultmann an Heidegger, bei seinem Johannes-Kommentar habe er "manche Frage" an Heidegger aufgespart. Am 3. 4. 27 hieß es, er sei bis zum vierten Vers des Prologs gekommen und habe schon gut hundert Druckseiten. "Der bisherige AufWand und Umfang kommt zum Teil daher, dass ich das Material zu den Begriffen logos, phos u.a. so gut wie ganz wieder durchgearbeitet habe." Als von Soden Sein und Zeit schließlich doch für "unfruchtbare Scholastik" hielt, die nicht zum Konkreten komme, setzte Bultmann sich am 14. 9. 27 von ihm ab: Ihn griffe die Lektüre des Buches derartig an, dass er nach einem Tage "körperlich erledigt" sei, "aber nicht wegen der physischen Anstrengung des Nachdenkens, sondern weil es so unheimlich ,konkret' ist". Am 22. 3. 28 sah Bultmann in Heideggers Weggang nicht allein einen Verlust für Marburg, son-
117 Vgl. Friedrich Nietzsche: Die Fröhliche Wissenschaft. Drittes Buch Nr. 125. Fünftes Buch Nr. 343. 118 vgL Martin Heidegger: Logik. Die Frage nach der Wahrheit (Gesamtausgabe Band 21). Frankfurt am Main 1976. S. 232 f.
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dern "zugleich für die Theologie überhaupt". "Denn da es in Freiburg keine evang. theol. Fakultät gibt, würde Ihr Fortgang bedeuten, dass die evang. Theologen des philosophischen Unterrichts bei Ihnen überhaupt verlustig gehen." Nach Heideggers Entscheidung hoffte Bultmann (freilich vergeblich) am 11. 4. 28, dass Heideggers Aufsatz Phänomenologie und Theologie zusammen mit seinem eigenen Vortrag über den Begriff der Offenbarung im Heuen Testament veröffentlicht werden könne. "Das dünkt mich dann auch ein schöner äußerer Abschluss der gemeinsamen Marburger Zeit zu sein."
2. Phänomenologie und Theologie Bultmanns Aufsatz Der Begriff der Offinbarung im Heuen Testament sieht in der Offenbarung erstens die Belehrung: Ein Vortrag oder ein Gespräch kann für uns eine "Belehrung" sein. Offenbarung ist zweitens ein Geschehen, das in eine neue Lage versetzt; so kann ein Verbrechen die Abgründe der menschlichen Natur offenbar machen oder der Tod eines Freundes offenbaren, was Sterben sei. Religiös kann Offenbarung die Erschließung von Verborgenem bezeichnen, die den Menschen zum Heil oder zur Eigentlichkeit gelangen lässt. Vorausgesetzt ist, dass der Mensch nicht von sich aus zu seiner Eigentlichkeit gelangen kann. Ein Platonischer Dialog zeigt, dass Menon gar nicht nach dem Begriff der Tugend fragen kann, ohne schon in gewissem Sinn zu wissen, was Tugend sei. So können wir ein Vorverständnis von Offenbarung haben, ohne in eigentlicher Weise um Offenbarung zu wissen. Wenn Bultmann die Tradition des Offenbarungsverständnisses durchgeht, wird auch Rudolf Ottos Position zurückgewiesen: Das Irrationale kann Gott oder Teufel sein; im Numinosen oder auch im Kreaturgefühl sind wir nicht Gottes inne, sondern unserer selbst. '19 Nach dem Heuen Testament sieht Offenbarung nicht vom Tode ab (wie es in der Stoa geschieht); sie ist vielmehr ein Geschehen, das den Tod vernichtet. Wenn Paulus predigt, ruft uns Christus, der Auferstandene, durch ihn. Das Apostolische gilt also auch für den Prediger. Die Übereinstimmung zwischen Bultmanns Aufsatz und den Überlegungen Heideggers ist offensichtlich. Es war auch Heideggers Grundanliegen, das Evangelium nicht als Lehre zu nehmen, sondern als Anrede. Wenn Bultmann die Sünde als Empörung gegen Gott versteht, stimmt er überein mit den Darlegungen, die Heidegger 1923/24 in Bultmanns Seminar vortrug. Auch Bultmann zitiert die frühen Scholien Luthers zum Römerbrief, dazu Kierkegaard. Wenn Bultmann logos und phos, Wort und Licht mit Joh. 1,4 zusammennimmt, folgt er gemeinsamen Überlegungen zur Terminologie des J ohannes. 120 Die polemische
119 Vgl. Rudolf Bultmann: Glauben und Verstehen. Dritter Band (s. Anm. 27). S. 1 ff., 11, zum folgenden 14 ff. 120 Vgl. Buhmann (s. Anm. 119). S. 1 f., 26, 29 f., 32 u.ö.; zum folgenden vgl. Martin Heidegger: Wegmarken. Frankfurt am Main 1967. S. 56.
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Richrung auf Rudolf Otto wird von Heidegger noch in der Abhandlung Vom Wesen des Grundes von 1929 geteilt. Dort heißt es vom Gründungs- oder Transzendenzgeschehen: "Rationalistische Erklärungen versagen in gleicher Weise wie die ,irrationalistische' Flucht zum ,Geheimnis'." Heidegger wollte dieses Geschehen aufweisen, aber keinen Mythos erzählen. Auch Bultmann weist es ab, dass die Rede von Jesu Sendung, Tod und Auferstehung ein "Mythos" sei, nämlich nichts anderes als die Wiedergabe eines kosmischen Vorgangs. Bultmann konnte zu Recht annehmen, dass sein theologischer Aufsatz die methodischen Vorgaben erfülle, die Heidegger in seinem Text über Phänomenologie und Theologie entfaltet hatte. Bultmann selbst wollte nicht nur "fragen", sondern glauben. So sprach er anders als Heidegger nicht von der Welt als dem Bereich, in dem der Mensch lebt, und nicht nur von der Eigentlichkeit als der selbsthaften Qualifizierung selbstvergessener Alltäglichkeit. Welt hatte für ihn den "Charakter der Vorläufigkeit"; die "Eigentlichkeit" war für ihn das "Heil". Nach einer Absolutheit der christlichen Offenbarung kann nicht mehr gefragt werden, da der Glaube Antwort auf Offenbarung ist. Auch andere Religionen sind ein Fragen nach Gott, aber eine Rangordnung gibt es nicht. Kann auch Heidegger als Philosoph von der Einzigartigkeit des christlichen Glaubens ausgehen? Heidegger schreibt am 29. 3. 27 von einer Zusammenarbeit, die keine Unbestimmtheit dulde: "Wir bringen die Sachen nur von der Stelle, wenn wir von den extremsten Positionen her radikal arbeiten. Sie von der theologischen Seite, positiv-ontisch, wobei das Ontologische zwar nicht verschwindet, aber unthematisch und nur jeweils mit Fragezeichen versehen abgehandelt wird - ich von der philosophischen Seite, ontologisch-kritisch -, wobei das Ontische im Sinn der Positivität des Christlichen unthematisch bleibt und sein Fragezeichen hat. Im Zwischenbereich sich herumtummeln, ohne dort noch hier fest zu stehen und konkrete, umfassende Kenntnisse zu haben, bringt, wenn überhaupt etwas, lediglich Verwirrung." Heidegger fragt, ob er seine Gedanken über Philosophie und Theologie, die er im Kränzchen in Marburg dargelegt habe, gemäß einer Einladung mehr systematisch und anwendungsbezogen in Tübingen vortragen solle. Er hat dann den Tübinger Vortrag vom 9. 7. 27 in Marburg am 14. 2. 28 wiederholt. Ein Brief vom 2. 4. 28 an Bultmann teilt mit, dass er eine Nachschrift seines Vortrags sorgfältig korrigiert habe und davon eine Reinschrift senden werde. (So konnte Bultmann in seiner Enzyklopädie-Vorlesung vom Sommersemester 1928 daraus zitieren.) Doch am 23. 10. 28 schreibt Heidegger aus seinem neuen Haus in Freiburg-Zähringen, bei einem erneuten Versuch, seinen Vortrag durchzuarbeiten, sei ihm klar geworden, "dass die Grenzen noch nicht scharf und prinzipiell genug gezogen sind". "Was keine genügende Durcharbeitung erfährt, ist der Charakter der Theologie, der sie in gewisser formaler Weise der Philosophie insofern gleichstellt, als sie auch auf das Ganze geht, aber ontisch. Allein der radikale Begriff der Metaphysik, den ich im Graeca-Vortrag andeutete, zeigt, dass auch die Philosophie als Ontologie im Ganzen eine von positiver Wissenschaft total verschiedene Ontik ist." Der Vortrag sei zu sehr von seiner Veranlassung bestimmt, das praktische Verhältnis der theologischen Arbeit zur Phänomenologie
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zu klären. Doch gehe es nicht nur um die Abgrenzung von Wissenschaften, sondern "zugleich um eine Auseinandersetzung mit Grundbewegungen der abendländischen Geistesgeschichte". So wolle er sich zurückhalten, auch von der Mitarbeit an der Theologischen Rundschau zurücktreten. "Denn schließlich kann eine Äußerung, wie sie sein soll, nur ein Angriff sein, was nicht ausschließt, dass er einmal in den Spalten der Rundschau geäußert wird." Worin sieht Heidegger die Notwendigkeit eines Angriffs? Offenbar darin, dass das freie Philosophieren jede dogmatische Bindung, auch die der christlichen Theologie, in Frage stellen muss. In diesem Brief gebraucht Heidegger das "Du", zu dem die Freunde sich bei Heideggers Weggang von Marburg entschieden hatten. Noch in Heideggers letzte Marburger Jahre fällt eine Zusammenarbeit mit Max Scheler, der zu seiner Spätphilosophie vorstieß. Mit Scheler, aber anders als dieser, wendet Heidegger sich neu der Metaphysik zu. Alle Ontologie, das Wissen um das Sein des verschiedenen Seienden, ist darin verwurzelt, dass der Mensch über seine Leiblichkeit mit dem Leben auf der Erde verbunden ist; zum Leben in ihm aber tritt der Geist, den Heidegger vom Existieren der Existenz her versteht (nicht vom Wertbezug her, wie Scheler). Nun wurden neue Leitfäden für den Zusammenhang von Sein und Dasein wichtig: die Natur als Leben oder Organismus und die Kunst als Ins-Werk-Setzen von Wahrheit. Stärker als die Theologie sind Kunst und Dichtung mit Prozessen verbunden, die geschichtlich offen und schöpferisch sind. Von Freiburg aus teilt Heidegger Bultmann am 18. 12.28 mit, dass ihn die Husserlschüler dort zu "einer weiterausgreifenden grundsätzlichen Äußerung" zwängen - grundsätzlicher, als sie in seinem Vortrag über Phänomenologie und Theologie gegeben sei. Von seiner Vorlesung Einleitung in die Philosophie sagte er: "Ich habe jetzt in meiner Einleitung das Problem ,Philosophie und Wissenschaft' ganz neu durchdacht. Meine Fragestellung im Vortrag ist bezüglich der Theologie als Wissenschaft nicht nur zu eng, sondern unhaltbar. Die Positivität der Theologie, die ich zwar glaube getroffen zu haben, ist etwas anderes als die der Wissenschaften. Theologie steht in einer ganz anderen Weise als die Philosophie außerhalb der Wissenschaften." Damals begannen die Tagungen der "alten Marburger". Doch konnte Bultmann Heidegger nicht für einen Augustinus-Vortrag gewinnen. Am 16. 12. 28 schrieb Bultmann, dass er vergeblich für eine Berufung von Gogarten oder Barth nach Marburg votiert habe. "Es ist jämmerlich, dass man nicht ein kleines Vermögen hat, um den Leuten den Kram vor die Füße zu werfen." Am 8. 1. 29 schrieb er, dass er sich mit Burckhardts Weltgeschichtlichen Betrachtungen tröste; Dornseiffs Pindar-Übersetzung ermögliche es ihm, den griechischen Pindar-Text zu lesen. Heidegger sah in seinem Brief vom 18. 12.28 die Chancen für Marburg schwinden: "Dass sich die Fakultät durch die Berufung Barths eine Zusammensetzung schafft, die sie allen anderen dann überlegen macht, sollte der Dümmste begreifen ... Was dann sonst noch herumsitzt in der Fakultät, würde verdientermaßen tot gemacht." Am 9. 4. 29 konnte Heidegger dann auch von den Erfahrungen in Davos berichten, wo er nicht nur mit Cassirer gestritten hatte, sondern auch mit dem Kurator der Frankfurter Universität Riezler und mit dem Altphi-
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lologen Karl Reinhardt zusammengetroffen war. Es ist deutlich, dass Heidegger in andere Verhältnisse eintritt, als Marburg sie ihm hatte gewähren können. Martin Heidegger ließ sich bewegen, am 5. 12. 30 in Marburg vor der Evangelisch-theologischen Fachschaft über Philosophieren und Glauben zu sprechen. Doch gab er dem Vortrag den Untertitel Das Wesen der Wahrheit. Gleich am Anfang sagte er, dass er vom Verhältnis des Philosophie rens zum Glauben schweigen werde. Dieses Verhältnis solle "das Verschwiegene" bleiben. Heidegger referierte dann, was er damals vielfach über das Wesen der Wahrheit vortrug. In seinen Vorlesungen verknüpfte er das Vorgetragene mit einer Auseinandersetzung mit Platon. Am 10. Dezember bedankte Heidegger sich bei Bultmann für die schönen Marburger Tage und dafür, dass das Gespräch wie einst an ihren Samstagnachmittagen gewesen sei. Er musste aber auch festhalten, dass "das Gespräch mit den jungen Leuten nicht in die rechte Bahn" kam. Er selbst hatte nicht gesagt, warum er nicht mehr wie im Umkreis von Sein und Zeit vom Sinn von Sein und dem verstehenden Dasein ausging, sondern von der Wahrheit, die im Zusammenhang mit der Freiheit zum Geschehen von Unverborgenheit wird. Mussten Bultmanns und Heideggers Marburger Schüler nicht ebenso enttäuscht sein, wie wir es heute von diesem (ungedruckten) Vortrag sind? Eine Veröffentlichung von Phänomenologie und Theologie stand 1930 nicht mehr zur Debatte. Doch hatte der Vortrag längst eine breitere Öffentlichkeit erreicht. Heidegger selbst übersandte Elisabeth Blochmann zu ihrem Geburtstag am 14. 4. 28 ein "als Manuskript vervielfältigtes" Typoskript mit dem Titel Theologie und Philosophie. / Vortrag / von / Martin Heidegger. / gehalten am 14. Februar 1928 i. Marburg. Eine Fußnote erläuterte die Titeländerung: "Im Wesentlichen der Inhalt des zweiten Teils eines Vortrags: Phänomenologie und Theologie, gehalten auf Einladung der ev. Theologenschaft Tübingen den 9. 7. 27. Der vorliegende Text wurde nach dem Vortrag noch einmal überprüft und durch Zusätze verdeutlicht, die jedoch an der sachlichen Position nichts ändern." Als nach dem Zweiten Weltkrieg z.B. in Deutschland Heinz-Horst Schrey und in Frankreich Henri Birault den Text nutzten für die Darstellung von Heideggers Verhältnis zur Theologie, wurde dieser 1969 in Frankreich deutsch und französisch in den Archives de Philosophie publiziert, die sich unter der Leitung von Marcel Regnier in intensiver Weise dem Austausch zwischen der deutschen und französischen Philosophie widmeten. Dem Text wurde von Heidegger neben einem Vorwort eine briefliche Äußerung von 1964 zu einer amerikanischen Konferenz beigegeben. Eine deutsche Ausgabe erschien 1970. Hinter der Titelei stand auf einem separaten Blatt: "RUDOLF BULTMANN / gewidmet / in freundschaftlichem Gedenken / an die Marburger Jahre 1923 bis 1928". Der Text wurde dann in den Sammelband Wegmarken aufgenommen. Heideggers Marburger Vorlesungen zeigen das sich wandelnde Eindringen in die Fragen, das dann auch Heideggers Vortrag zu etwas Vorläufigem macht. Im Sommersemester 1925 gab Heidegger der Vorlesung Geschichte des Zeitbegrijfi den Untertitel Prolegomena zu einer Phänomenologie von Geschichte und Natur. Ein erster Teil sollte vortragen, was 1927 unter dem Titel Sein und Zeit. Erste
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Hälfte erschien. Zu den Untersuchungen, die zur Sorge hinführten und dann im zweiten Abschnitt das Vorlaufen zum Tode mit dem Gewissen-haben-wollen verbanden, kam ein dritter Abschnitt Die begriffliche Interpretation. Der zweite Teil sollte die Geschichte der Zeitauffassungen von Bergson über Kant und Newton zurückführen auf die Physik des Aristoteles und so das Problem der Zeit neu zur Entscheidung stellen. So hätte in einen dritten Teil der Sinn von Sein nach seinen Bedeutungen hin in der Weise aufgegliedert werden können, dass der Unterschied von Natur und Geschichte verständlich wurde. Heidegger kam dann nur bis zum zweiten Abschnitt des ersten Teils. Das lag auch daran, dass fast die Hälfte der Vorlesung einen "vorbereitenden Teil" Sinn und Aujgabe der phänomenologischen Forschung brachte. Der Bezug zur Sache, den die phänomenologische Beschreibung erstrebt, wurde hingeführt zur Interpretation und Auslegung eines Wesens, zu dem seine Geschichte gehört. Damit war die Phänomenologie Hermeneutik, nämlich ein Interpretieren und Auslegen. 121 In einer "produktiven Logik" will diese Vorlesung dreierlei erfassen: die Genesis der Wissenschaften aus der vortheoretischen Erfahrung, die Weise ihres Zugangs zur Wirklichkeit, die unterschiedliche Begriffsbildung. Man spreche von einer Krisis der Wissenschaften. Vor allem die Jugend vermisse in ihnen ein ursprüngliches Verhältnis zur Sache. Man richte die wissenschaftliche Arbeit aus auf Weltanschauung und auf eine "mythische" Auffassung. Heidegger erinnert an den Streit, den die Anhänger Stefan Georges mit Max Weber führten. Er sieht die Wissenschaften von der Mathematik bis zur Theologie in einer Krise. Freilich habe diese Krise in den historischen Geisteswissenschaften nicht einmal jene Stufe erreicht, die notwendig sei, "um reif zu werden für Revolutionen".122 Heidegger weist darauf hin, dass man das Zeitliche in Natur und Geschichte, das Außerzeitliche in der Mathematik und das Überzeitliche in der Metaphysik und Theologie unterscheide. Zeit sei ein "Index" für die Abgrenzung von Seinsgebieten. Die Geschichte des Zeitbegriffs sei "die Geschichte der Versuche, das Seiende in seinem Sein zu entdecken". Doch geht Heidegger davon aus, dass das Systematische selbst das Historische sei und in dieser Verbindung das Phänomenologische. Philosophie müsse die phänomenologische Forschung beibehalten "gegenüber aller Prophetie innerhalb der Philosophie und gegenüber aller Tendenz auf irgendwelche Lebensleitung". Diesen methodischen "Atheismus" fasst Heidegger mit Nietzsche als Fröhliche Wissenschaft. Da er selbst nicht Theologe sei, glaubt er nicht entscheiden zu können, ob und wie die phänomenologischen Strukturen "in einer theologischen Anthropologie wiederkehren". Doch liege in der Rede vom Verfallen keine "versteckte Theologie", etwa im Sinne der Auffassung Luthers, der Mensch sei "in der Sünde ersoffen".
121 Vgl. Martin Heidegger: Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (Gesamtausgabe Band 20). Frankfurt am Main 1979. S. 10 ff., 190. 122 Ebenda S. 2 FE, zum folgenden 7 f., 109 f., 191.
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Im Sommersemester 1927 trug Heidegger unter dem Titel Die Grundprobleme der Phänomenologie seine Auffassung der Ontologiegeschichte vor, indem er von vier Grundproblemen ausging: Nach Kant ist Sein kein reales Prädikat; die Scholastik unterscheidet, gestützt auf Aristoteles, essentia und existentia, Wassein und Vorhandensein; die Neuzeit sieht als Grundweisen des Seins res externa und res cogitans; in der Logik wird Sein von der Copula "ist" her gefasst. Als Heidegger im Mittelteil der geplanten Vorlesung die erste These unter dem Titel Ontologische Differenz auf seine eigene Frage nach dem Sinn von Sein bezog, ging das Semester zu Ende. Heidegger verwies zum Schluss auf die vorliegenden Abschnitte von Sein und Zeit, die als Seinsverfassung des Daseins die Zeitlichkeit herausstellen. Diese Zeitlichkeit wird unterschieden von der Temporalität, in der die Zeitlichkeit zur Aufgliederung des Sinnes von Sein eingesetzt wird. 123 Heidegger konnte zurückgreifen auf die Logik-Vorlesung vom Winter 1925/26, die die Zeitauffassung des Aristoteles überboten sah durch Kants Lehre vom Schematismus. Dieser verbindet die Sinnlichkeit und ihren Zeitbezug mit dem Verstand und seinen Begriffen. Der erste Satz der Vorlesung erhält die Anmerkung: "Neue Ausarbeitung des 3. Abschnittes des I. Teiles von ,Sein und Zeit'''. Das Neue in diesem Ansatz zur Ausarbeitung des Abschnittes Zeit und Sein liegt darin, dass an die Stelle der begrifflichen Interpretation des Seins die temporale Interpretation getreten ist. Diese entnimmt den Dimensionen der Zeit Schemata, die zu einem Prinzipiengefüge zusammentreten, mit dem unterschiedliche Weisen des Sinnes von Sein und damit unterschiedliche Weisen des Daseins und der Welt ausgegrenzt und geordnet werden können. In der eigentlichen Zukunft ergreifen wir, worumwillen wir existieren. Das Schema der eigentlichen Zukunft, das Umwillen, ermöglicht das Gewissen-haben-wollen und damit auch Religiosität. Wird die uneigentliche Zukunft mit dem Schema des Wozu leitend, dann fallen wir z.B. in die Welt des Handwerkers, der selbstvergessen eine Arbeit tut, in der das eine auf das andere verweist bis hin zum Zweck der Fristung des Lebens. Beim Handwerker ordnet das hermeneutische Als alles Tun in den Arbeitszusammenhang ein (so dass der Hammer beim Schuster auf das Hämmern des Leders verweist, dieses auf den Schuh als Produkt der Arbeit). Schlägt dieses hermeneutische Als des Umgangs mit Zuhandenem um in ein bloß aufweisendes, apophantisches Als, dann kann die reine Theorie sich aus den Lebenszusammenhängen der Praxis emanzipieren. Schemata wie Umwillen, Wozu, das doppelte Als gliedern den Sinn von Sein in unterschiedliche Bedeutungen und machen die Sphären des Daseins und der Welt verständlich. Diese Vorlesung vertritt wiederum die Auffassung, dass Philosophie keine Weltanschauung sei. Philosophie sei Wissenschaft, aber Wissenschaft vom Sein. 123 Vgl. Martin Heidegger: Die Grundprobleme der Phänomenologie (Gesamtausgabe Band 24). Frankfurt am Main 1975. S. 323 f. - Zur Frage, inwiefern Heidegger Husserls Phänomenologie hermeneutisch fortführt, vgl. Pöggeler: Heidegger in seiner Zeit (s. Anm. 6). S. 30 ff., 49. Heidegger hörte im Sommersemester 1910 Gottfried Hoberg: Hermeneutik und Geschichte der Exegese; vgl. Heidegger-Jahrbuch 1. S. 14.
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III
Die beiden vorhergehenden Vorlesungen über antike Philosophie und die Philosophie von Thomas von Aquin bis Kant hätten den "historischen Nachweis" geführt, dass sich alle großen Philosophien als Ontologie verstünden. Dagegen setzten die Wissenschaften Seiendes voraus als ein positum und seien deshalb "positive Wissenschaften". Die Philosophie als Wissenschaft vom Sein nehmen, das bedeute nicht, die Erste Wissenschaft mit Aristoteles als Theologie zu sehen (als Lehre von einem höchsten Seienden).124 Dieser Aristotelischen Tradition widersetzt sich die Phänomenologie. Heidegger fordert die phänomenologische Reduktion (wie Husserl gesagt hatte); diese ist die "Zurückführung des Blickes vom Seienden auf das Sein". Sie wird nach der systematischen Seite hin gefasst als Konstruktion, nach der historischen hin als Destruktion. Beides ist jedoch nicht zu trennen. Auch die Theologie ist für Heidegger eine positive Wissenschaft, also nicht die spekulative Theologie des Aristoteles. Die eine und die andere Wissenschaft haben lediglich das Wort gemeinsam. Der § 69 von Sein und Zeit handelt über Die Zeitlichkeit des In-der- Welt-seins und das Problem der Transzendenz der Welt. Er benutzt die Lehre von den Schemata, um das umsichtige Besorgen im Umgang mit Zuhandenem vom nur noch "theoretischen Entdecken des innerweltlich Vorhandenen" abzugrenzen. Doch heißt es, dass die hier nötigen Überlegungen über Sein und Wahrheit das Verständnis unterschiedlichen Transzendierens in der Welt nur vorbereiten könnten (der dritte, ausgebliebene Abschnitt von Sein und Zeit sollte ja nach § 8 die "Explikation der Zeit als des transzendentalen Horizontes der Frage nach dem Sein" bringen).125 Die Entstehung der klassischen Physik gilt als das "klassische Beispiel für die geschichtliche Entwicklung einer Wissenschaft, zugleich aber auch für die ontologische Genesis". Heidegger nennt die Umgrenzung eines Sachgebietes und die Vorzeichnung der angemessenen Begriffiichkeit Thematisierung. "Sie zielt auf eine Freigabe des innerweltlich begegnenden Seienden dergestalt, dass es sich einem puren Entdecken ,entgegenwerfen', das heißt Objekt werden kann. Die Thematisierung objektiviert." Im § 76 ist die Historie Beispiel dafür, wie eine Wissenschaft sich aus dem Lebensganzen, hier aus der Geschichtlichkeit des Daseins, herauslöst. Mit Bezug auf die nötige Begriffiichkeit spricht Heidegger von einer "methodischen ,Direktion"'. Der Begriff der Direktion wird in Anführungszeichen gesetzt, also anderen Zusammenhängen entnommen. Er kommt in den veröffentlichten Abschnitten von Sein und Zeit nur hier vor. Die Wissenschaften, auf die Heidegger näher eingeht, sind wie im Neukantianismus und bei Husserl die mathematische Physik und die Historie. Doch macht Heidegger im einleitenden § 3 geltend, die Wissenschaften von der Mathematik bis zur Theologie seien in Grundlagenkrisen geraten; dort spiele sich aber die "eigentliche ,Bewegung' der Wissenschaften" ab. Heidegger verpflichtet die Theologie auf die Einsicht Luthers, dass ihre "dogmatische Systematik" auf einem Fun124 Vgl. Heidegger: Die Grundprobleme der Phänomenologie (s. Anm. 123). S. 16 f., 26, zum folgenden 29,31,38. 125 Vgl. Heidegger: Sein und Zeit (s. Anm. 6). S. 356 f, zum folgenden 362 f., 392 f
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dament ruhe, das nicht "einem primär glaubenden Fragen entwachsen" sei; die Begriffiichkeit reiche für die theologische Problematik nicht zu, sondern verdecke und verzerre sie. 126 Durch die Verbindung des Glaubens mit dem Fragen wird auf die Philosophie verwiesen. So heißt es denn auch später, dass Glaube und ,Weltanschauung' auf die existenzialen Strukturen zurückkommen müssen (wie sie von der Philosophie aufgewiesen werden). Freilich werde mit der ontologischen Rede vom Verfallen nicht ontisch darüber entschieden, "ob der Mensch ,in der Sünde ersoffen', im status corruptionis ist, ob er im status integritatis wandelt oder sich in einem Zwischenstadium, dem status gratiae, befindet". Später bemerkt Heidegger, dass der existenziale Begriff des Schuldigseins nichts für oder gegen die "Sünde" im theologischen Sinn beweise. Doch können Augustinus und Luther, mehr noch Kierkegaard angeführt werden für Erfahrungen, die dem leitenden Daseinsphänomen der Angst zugrunde liegen. Die Angst verweist auf jenes Entgleiten alles Seienden, das die Frage nach dem "Warum" des Seienden und so nach dem Sein weckt. Deutlich ist, dass der Vortrag über Phänomenologie und Theologie an Sein und Zeit anschließt. Dieser Vortrag weist die "vulgäre" Auffassung des Verhältnisses von Philosophie und Theologie ab. Nach dieser Auffassung stehen sich zwei weltanschauliche Positionen gegenüber: die offenbarungsferne, glaubensfreie Welt- und Lebensdeutung und die glaubensmäßige, im Vortrag christliche Weltund Lebensauffassung. Dagegen fasst Heidegger das Verhältnis als ein Verhältnis von Wissenschaften. Doch soll nicht gesprochen werden vom faktischen Zustand einer Universität (wie Marburg). Vielmehr gehe es um eine "ideale Konstruktion der Ideen beider Wissenschaften". Heidegger übernimmt die formale Definition der Wissenschaft als der begründenden Enthüllung eines Seinsgebietes. Die Wissenschaften vom Seienden werden unterschieden von der Philosophie als der Wissenschaft vom Sein. Die Wissenschaften vom Seienden "machen zum Thema je ein vorliegendes Seiendes, das immer schon in einer gewissen Weise vor der wissenschaftlichen Enthüllung enthüllt ist". Sie haben ein Positum und heißen deshalb "positive Wissenschaften". Die Philosophie verlangt eine Umstellung des Blickes vom Seienden auf das Sein (Husserls phänomenologische Reduktion). Heidegger behauptet, zwischen einzelnen positiven Wissenschaften bestehe nur ein relativer Unterschied, doch seien sie insgesamt von der Philosophie absolut unterschieden. So kann Heidegger sagen, die Theologie stehe anderen positiven Wissenschaften wie Chemie und Mathematik näher als der Philosophie. Damit weist Heidegger die Vorstellung als "vulgär" ab, "wonach jede der beiden Wissenschaften in gewisser Weise denselben Bereich - das menschliche Leben und die Welt - zum Thema hat, nur jede am Leitfaden einer bestimmten Art der Erfassung, die eine aus dem Prinzip des Glaubens, die andere aus dem Prinzip der Vernunft". Heidegger will nur von der christlichen Theologie sprechen, damit aber nicht behaupten, dass es nur diese gebe. Er formuliert auch die Frage, ob die
126 Vgl. Heidegger: Sein und Zeit. S. 10, zum folgenden 180, 306, 190.
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Theologie überhaupt eine Wissenschaft sei. Diese Frage wird aber zurückgestellt, weil zuerst die Idee der Theologie geklärt sein müsse. 127 Heidegger fragt im ersten Teil Die Positivität der Theologie nach dem vorausliegenden Positum der Theologie. Ist es das Christentum als weltgeschichtliche Erscheinung mit seinen Einrichtungen, Kulten, Verbänden und Gruppen? Diese Annahme wäre eine Fehlbestimmung, denn die Theologie gehört selbst zum Christentum. Jede historische Disziplin ist eine geschichtliche Erscheinung, die das geschichtlich sich wandelnde Selbstbewusstsein der Geschichte repräsentiert. Die Theologie ist eine Erkenntnis dessen, was erst das Christentum ermöglicht. Sie ist ein Wissen von der "Christlichkeit". Diese ist das Po si turn der Theologie, die Existenzweise eines Glaubens, der nicht vom Dasein selbst aus freien Stücken gezeitigt werden kann. "Das primär für den Glauben und nur für ihn Offenbare und als Offenbarung den Glauben allererst zeitigende Seiende, ist für den ,christlichen' Glauben Christus, der gekreuzigte Gott." Gott offenbart sich, indem der Gekreuzigte als Auferstandener offenbar und in der Schrift bezeugt wird. Diese Offenbarung ist keine "Übermittlung von Kenntnissen". Sie lässt vielmehr in der Gemeinde teilnehmen und teilhaben am Offenbarungsgeschehen. Die Existenz wird in ihrer Gottvergessenheit offenbar und durch die Barmherzigkeit Gottes umgestellt darauf, dass sie vor Gott gestellt ist. Der eigentliche existenzielle Sinn des Glaubens ist "Wiedergeburt". Das Offenbarungsgeschehen enthüllt sich nur dem Glauben, und so zitiert Heidegger Luther: "Glaube ist das Sichgefangengeben in den Sachen, die wir nicht sehen." Der Glaube macht das christliche Geschehen mit aus und ist so eine "spezifische Geschicklichkeit". Der Geschehenszusammenhang, den der Glaube enthüllt und zu dem er selbst gehört, ist das vorausliegende Positum, durch das die Theologie zur positiven Wissenschaft wird. Die Theologie konstituiert sich als Thematisierung des Glaubens und des ihm Enthüllten, des Offenbarten. Doch vergegenständlicht die Theologie nicht den Glauben; dieser fällt selbst "ins Thema". Die Theologie trägt bei zum Geschehen der Wiedergeburt. Nur im Glauben kann die Theologie das zureichende Motiv für sich selbst haben. "Würde der Glaube sich von Hause aus einer begrifflichen Auslegung widersetzen, dann wäre Theologie eine ihrem Gegenstand (dem Glauben) gerade durch und durch unangemessene Erfassung." Im zweiten Abschnitt Die Wissenschaftlichkeit der Theologie bestimmt Heidegger die Theologie genauer als Wissenschaft des Glaubens, und zwar 1) des Geglaubten, 2) der Gläubigkeit, 3) entspringend aus dem Glauben und motiviert durch ihn, 4) die Gläubigkeit mit ausbildend. Da die Theologie der Geschichtlichkeit der Existenz entspringt, ist sie eine "historische Wissenschaft eigener Art". Als historische Wissenschaft gliedert die Theologie sich in eine systematische, eine im engeren Sinn historische und eine praktische Wissenschaft. Da die Gläubigkeit sich in der Schrift bezeugt, ist die Theologie neutestamentliche Theologie. Heidegger weist die Tradition ab, die (vor allem seit Melanchthon) 127 Vgl. Martin Heidegger: Phänomenologie und Theologie. Frankfurt am Main 1970. S. 11 ff., vor allem 13, 15.
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den Glaubensgehah "in Loci zerstückelt". Sie ist historisch im engeren Sinne als Exegese, Kirchen- und Dogmengeschichte. Die Existenzweise des Glaubens ist Handeln, also praxis; die Theologie ist von Haus aus praktisch, nämlich "Homiletik und Katechetik". Heidegger bezieht sich dann auf die damaligen Kontroversen in der Theologie (wie sie von Barth gegen Harnack, von Gogarten gegen T roeltsch, von Buhmann gegen die religionsgeschichtliche und kantianisierende Theologie geführt wurden). Er will zeigen, was die Theologie nicht ist: Sie ist nicht spekulative Gotteslehre, auch nicht ein besonderer Fall von Religionsphilosophie und Religionshistorie, nicht (wie auch nach W. James) Religionspsychologle. Der dritte Abschnitt trägt den Titel Das Verhältnis der Theologie als positiver Wissenschaft zur Philosophie. Wenn der Glaube rational unbegreiflich ist, braucht er doch eine begriffliche Fassung nicht auszuschließen. Er bliebe "stumm", wenn er die begriffliche Ausarbeitung ausschlösse. Diese kann freilich an eine Grenze stoßen. Im Christusgeschehen als Wiedergeburt liegt, "dass darin die vorgläubige, d.i. ungläubige Existenz des Daseins aufgehoben ist". ,,Aufgehoben" meint aber auch (nach dem von Hegel formulierten Gemeinplatz) "verwahrt". In der gläubigen Existenz liegt "das überwundene vorchristliche Dasein existenzial-ontologisch mitbeschlossen". Überwinden besagt "nicht abstoßen, sondern in neue Verfügung nehmen". Theologische Grundbegriffe haben einen ontisch und existenziell aufgehobenen, "aber gerade deshalb sie ontologisch bestimmenden vorchristlichen und daher rein rational fassbaren Gehalt". So kann die Sünde nicht abgeleitet werden aus der Verschuldung der Existenz, die sich nicht selbst ins Dasein rufen kann (sondern in ihrer Faktizität verschuldet ist dem Geworfensein). Doch ist die Sünde eine Modifikation der Schuld; der daseinsanalytische Schuldbegriff vermag als Leitfaden für die theologische Explikation der Sünde zu fungieren. Die primäre Direktion oder Hinleitung liegt im Glauben; eine Korrektion als Mitleitung gibt die Phänomenologie der Theologie mithilfe ihres existenzial-ontologischen Schuldbegriffs. Nach Heideggers Auffassung werden die physikalischen Grundbegriffe durch eine Ontologie der Natur begründet. Ein theologischer Grundbegriff wie Sünde baut in dieser Weise nicht auf dem ontologischen Begriff der Schuld des Daseins auf. Der ontologische Begriff kann nur die Seinsregion für Sünde formal anzeigen. Die Form in der formalen Anzeige ist keine leere und starre Hülse; sie streckt sich aus nach ihrer Erfüllung hin. Diese bleibt jedoch außerhalb ihrer bloßen Anzeige. Für die Phänomenologie ist die Beziehung zur Theologie aber kein Muss, sondern eine Möglichkeit; ein Phänomenologe kann diese Möglichkeit für sich auch abweisen. Heidegger fasst zusammen: "Die Philosophie ist das mögliche, formal anzeigende ontologische Korrektiv des ontischen, und zwar vorchristlichen Gehaltes der theologischen Grundbegriffe. Philosophie kann aber sein, was sie ist, ohne dass sie als dieses Korrektiv faktisch fungiert." Nicht im Verhältnis von Personen, aber im Verhältnis von Existenzweisen bleibt der Glaube, der sich existenziell entscheidet, für das Philosophieren, das Spielräume für Entscheidungen ausgrenzt, der "Todfeind". Im Todfeind ist der Tod nicht das schlechthin
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Vernichtende, sondern das, was uns unabweisbar in die eigene Endlichkeit und so auch in den Zusammenhang mit anderen zwingt. Diese Todfeindschaft kann durchaus eine Gemeinsamkeit von Philosophen und Theologen tragen. Dagegen bleibt die Rede von einer "christlichen Philosophie" ein "hölzernes Eisen", also eine bloße Attrappe in einem Schauspiel. Heidegger betont, das dargelegte Verhältnis von Philosophie und Theologie werde wichtig, wenn der Theologe auf die Problematik seiner überlieferten Grundbegriffe stoße. Das war beim jungen Luther der Fall, und so wurzelt die Berufung auf ihn in einer Gemeinsamkeit in der Sache. Eine unmittelbare Reaktion auf Heideggers Vortrag gibt ein Brief wieder, den Hans-Georg Gadamer in den folgenden Semesterferien (am 15. 3. 28) an Heidegger schrieb. Darin wird auch deutlich, dass es Simon Moser war, der die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Theologie stellte. Dieser hatte 1921 in Innsbruck als Jurist promoviert, strebte dann aber eine philosophische Promotion an. Sie erfolgte 1932 in Freiburg; Moser wurde dann Dozent und Professor in Innsbruck, schließlich Professor in Karlsruhe. Gadamer schreibt: "Eigentlich hatte ich die Absicht, Ihnen zu Ihrem Theologie-Vortrag einige Einwände zu machen. Denn ich halte die von Herrn Moser formulierte Frage, wie Theologie Wissenschaft sein kann, wenn der Glaube kein ,Besitz' ist, für abwegig, aber, wie mir scheint, konsequent aus dem von Ihnen gewählten Ansatz, Theologie sei eine positive Wissenschaft, entwickelt. Der Sinn dieses Ansatzes ist mir zweifelhaft. Wird die Wissenschaftlichkeit der Theologie vom Glauben gleichsam rationiert, so steht sie unter einer für sie selbst konstitutiven Problematik ihrer Wissenschaftlichkeit, die den Sinn der Scheidung von kritischer und positiver Wissenschaft meines Erachtens aufhebt." Zwar sei der Vortrag im theologischen Seminar gehalten worden, doch die Diskussion sei (über die Rede vom "möglichen Korrektiv") "so sehr philosophisch" gewesen, "dass ständig die Möglichkeit des Wirklichen bestritten wurde." Gadamer hat als "völliger theologischer Laie" "umgekehrt das Bedürfnis, den aprioristischen Anspruch der Philosophie gerade in diesem Gebiet unter das Faktum einer eigentümlichen, philosophisch kaum fassbaren Wissenschaftlichkeit zu beugen". Das bedeutet also, dass Gadamer neben der Theologie auch die Philosophie als Faktum nehmen und unter diesen Charakter auch ihren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit stellen wil1. 128 Elisabeth Blochmann war im Herbst 1927 in T odtnauberg. Gegen Ende 1927 traf Heidegger sie in Berlin. Man besuchte das Ägyptische Museum, sah Zuckmayers Schauspiel Der Schinderhannes, das kurz vorher im Lessing-Theater uraufgeführt worden war. Elisabeth Blochmann bekam zu ihrem Geburtstag am 14. 4. 28 das Typoskript Phänomenologie und Theologie. Die Schülerin von Herman Nohl äußerte sich in einem Brief, der nur über Heideggers Antwort vom 8. 8. 28 zu erschließen ist. Heidegger schreibt, das Semester habe ihm "auch einen wirklich schönen Abschied" seiner Hörer und Schüler gebracht Er stelle sich nun langsam auf Freiburg um. In den "Ruhetagen" nach dem Semester sehe er ein, 128 V gl. Hans-Georg Gadamer in Jahresgabe der Martin-Heidegger-Gesellschaft 1999. S. 18.
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was dieser Wechsel für ihn bedeute: "ein Tieferlegen der Aufgaben bzw. ein langsames Sichwagen an solches, was mir in der ersten Freiburger Zeit noch unzugänglich war". In Freiburg werde für ihn "etwas ganz Neues werden". Schon das letzte Marburger Kolleg sei "ein neuer Weg" gewesen "oder vielmehr ein Beschreiten der Pfade, die ich glaubte noch langehin nur ahnen zu dürfen". Heidegger hatte sich ja mit Max Scheler (aber anders als der Freund, den der Tod hinwegraffte) neu der Metaphysik zugewandt. So schreibt Heidegger: "All die Fragen, die Sie mit völligem Recht und ganz eindeutig stellen, gehören in dieses Feld der Metaphysik." Sein Vortrag sei "mit Absicht und ganz einseitig" auf ein "bestimmtes Problem beschnitten", nämlich auf die vorgegebene Frage, was ein Theologe von der Phänomenologie lernen könne. Damit sei die Philosophie "lediglich in der wissenschaftstheoretischen Hinsicht und selbst als ,Wissenschaft' genommen"; andererseits sei die Theologie als christliche Theologie und der christliche Glaube vorausgesetzt. Heidegger gibt zu: "Mit dieser AufgabensteIlung komme ich als Philosoph in ein ganz schiefes Licht, wie Sie richtig sehen, und das Ganze wird zu einer Apologetik der christlichen Theologie statt zu einer Auseinandersetzung." Eigentlich hätte der Begriff der Philosophie im Ganzen exponiert werden müssen. Auch die Philosophie habe "ihren Glauben - der die Freiheit des Daseins selbst ist, die ja nur im Freisein existent wird". Charakteristischerweise sei von Seiten seiner Schüler gefragt worden, ob die Theologie überhaupt Wissenschaft sei. Dazu schreibt Heidegger: "Zwar bin ich persönlich überzeugt, dass Theologie keine Wissenschaft ist - aber ich bin heute noch nicht im Stande, das wirklich zu zeigen und zwar so, dass dabei die große geistesgeschichtliche Funktion der Theologie positiv begriffen ist." Was Wissenschaft sei, was Theologie, "wenn weder Philosophie noch Wissenschaft", das seien Probleme, die er nicht in eine "momentane Diskussion" habe gezerrt sehen wollen. "Ich glaube, der Basis langsam näherzukommen, um diese Probleme überhaupt zu stellen - eine natürliche Scheu hielt mich in Vortrag und Diskussion davor zurück." Vielleicht gebe es beim Treffen in Berlin im September "eine glückliche Stunde dafür". Hegelianierende Tendenzen werden abgewehrt: "Ganz gewiss geht es nicht in der üblichen Form, nach der man Wissenschaft, Kunst, Religion und Anderes wurzellos dialektisch gegeneinander wie Spielmarken in Feldern absetzt." Zu dem Hinweis, dass in den historischen Wissenschaften ein eigenes Existenzverständnis liege, schreibt Heidegger, dass die traditionelle Scheidung von Natur- und Geisteswissenschaften "in jeder Form eine Oberflächlichkeit" sei. "Metaphysisch gesehen, gibt es nur eine Wissenschaft." Zutreffend sei die Frage "nach dem vorphilosophischen Seinsverständnis in Entsprechung zum Glauben gegenüber seiner Explikation in der Theologie". Heidegger spielt offenbar auf Husserls Analysen an, wenn er das vorphilosophische Seinsverständnis in dem liegen sieht, "was wir metaphysica naturalis - natürliche Weltanschauung nennen". Aufzuklären, was das ist, sei "vielleicht eines der schwersten Probleme der Philosophie". Damit stellt Heidegger hier schon die Metaphysik in die Geschichte. Seit dem Winter (in dem er über Kants Kritik der reinen Vernunft seine Vorlesung hielt) sei ihm klar geworden, dass Kant in seiner tranzendentalen Dia-
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lektik unter der "ganz barocken Form" der "Logik des Scheins" die "Metaphysik der natürlichen Weltanschauung" suche. Doch dieses Problem sei Kant selbst noch verhüllt geblieben und demzufolge erst recht dem Deutschen Idealismus entgangen. Heidegger sagt dann zu seinem Vortrag: ,,50 verstehen Sie wohl, warum ich diesen ,druckfertigen' Vortrag nicht veröffentlichte. Aber er ist für mich zugleich ein Dokument der Marburger Zeit ... " Seine Arbeit in Marburg sei (im Gespräch mit der Theologie) bewusst zweiseitig gewesen: "helfend und schlechthin beunruhigend". Mehr als einen der jungen Menschen habe er von der Theologie befreit; "ob es ein Verdienst ist, vermag ein Mensch nicht zu sagen. Wenn die betreffenden jungen Menschen ihre innere Freiheit fanden, dann wird es zum Rechten gewesen sein." Nur bei einem klaren Begriff von Theologie könne die Theologie "im Zentrum und im Wesen" angegriffen werden. Elisabeth Blochmann sei mit ihrem Brief über die Prolegomena hinweg "auf das Grundsätzliche" gedrungen. Im folgenden Jahr konnte Heidegger aus dem neuen Haus in Freiburg von der Universitätsarbeit dort, von den Davoser Hochschulwochen und der Festschrift zu Husserls Geburtstag berichten. In den ausklingenden Sommertagen führte er die liberale Protestantin zum Benediktiner-Kloster in Beuron. Er musste sich dann am 12. 9. 29 gegen den Vorwurf verteidigen, die Freundin "vor etwas gezwungen zu haben", was ihr "zuwider sein musste". Heidegger bestand aber darauf: "Wir dürfen uns nicht an das spröde Gemächte halten, das die Heutigen sich vorerfinden, sondern müssen in der Geschichte die Macht und Gediegenheit des Großen verehren." Zu diesem müssen wir "immer wieder zurückkehren, wenn wir in die Tiefe gewachsen sind". Die Rückkehr aber sei Verwandlung. ,,50 muss uns der heutige Katholizismus und all dergleichen, der Protestantismus nicht minder, ein Greuel bleiben - und doch wird ,Beuron' wenn ich es kurz so nenne - als ein Samenkorn für etwas Wesentliches sich entfalten." Elisabeth Blochmann habe wenn schon nicht am Hochamt, so doch an der Complet teilnehmen können. "Dass der Mensch täglich in die Nacht hineinschreitet, ist dem Heutigen eine Banalität, wenn es hoch kommt. Denn gemeinhin macht er diese zum Tag, so wie er den Tag versteht, als Fortsetzung eines Betriebes und eines Taumels. In der Complet ist noch da die mythische und metaphysische Urgewalt der Nacht, die wir ständig durchbrechen müssen, um wahrhaft zu existieren. Denn das Gute ist nur das Gute des Bösen." Heidegger zieht das Fazit: "Dies ist es, was wir konkret lernen und lehren müssen; nur so werden wir die Wende des Zeitalters aus der Tiefe erzwingen." Es ist deutlich, dass Heidegger mit diesem Brief auf "Marburg" zurückblickt, ja aus der Gemeinschaft mit Bultmann und dem Freundeskreis dort herausdrängt. Damit lässt er auch Gedankengänge zurück, die für Sein und Zeit bestimmend waren. Demzufolge führt er das Fragment schließlich überhaupt nicht weiter. Auch systematisch folgt Heidegger den alten Ansätzen nicht mehr. So zitiert er in Sein und Zeit aus Der Ackermann aus Böhmen den Satz: "Sobald ein Mensch zum Leben kommt, sogleich ist er alt genug zu sterben." Der eine Her-
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ausgeber dieses Textes, Konrad Burdach, gab mit seinem Aufsatz Faust und die Sorge aus dem ersten Band der Deutschen Vierteljahrsschrift for Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte von 1923 einen entscheidenden Anstoß für Heidegger, in Sein und Zeit den Grundbegriff der Bekümmerung durch den Begriff der Sorge zu ersetzen. RudolfUnger wird dafür gelobt, dass er "die Entwicklung des Todesproblems im Denken und Dichten vom Sturm und Drang zur Romantik" behandelt, überhaupt "Literaturgeschichte als Problemgeschichte" gefasst habe. 129 Heidegger selbst spricht von "Motiven" der Seinsfrage, vom "Motiv" der Hegelschen Dialektik usf. Doch hat diese "Motivgeschichte" nicht ihre Grenzen? Man kann in der Literatur Grundmotive der Existenz aufsuchen; die Theologie, die von Grunderfahrungen der Existenz ausgeht, kann von Motiven sprechen. Nimmt man die Literatur als Dichtung, dann greift der Ausgang von den Motiven dort nur eine begrenzte Schicht. Sucht man Motive in der Geschichte der Malerei, dann kommt man zu einer Überbewertung von Ikonographie und Ikonologie und wird von der Unerschöpflichkeit des Kunstwerks weggeführt. Als Heidegger nach Freiburg und so in die Nähe des Schwarzwaldes zurückkehrte, wandte er sich neuen Frageansätzen zu. Er konnte sich den gregorianischen Gesang im heimatlichen Beuron neu vergegenwärtigen. Das aber hieß auch, dass er aus den Marburger Gesprächen sich entfernte. So wollte er sich nicht festlegen lassen auf Phänomenologie und Theologie. Der Text durfte als Typoskript verbreitet werden; die Drucklegung, gar noch zusammen mit einem Vortrag Bultmanns, lehnte Heidegger ab. Dafür wurde die Metaphysik Thema. Heidegger konnte 1929 sein Buch Kant und das Problem der Metaphysik dem Gedächtnis Max Schelers widmen. Am 24. Juli 1929 hielt er seine Freiburger Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? Sie brachte auch die endgültige Trennung von Husserl, mit dem zusammen Heidegger noch im Sommer 1927 an einem Artikel über Phänomenologie gearbeitet hatte. Die Rückkehr nach Freiburg wurde zum Abschied von Bultmann wie auch von Husserl. Heidegger gab bald überhaupt die Rede von "Phänomenologie" auf und suchte neue Wege.
3. Die Trennung der Wege In Marburg arbeitete man nach Heideggers Weggang im Kreise Bultmanns durchaus im alten Sinn weiter. Am 24. 8. 30 schrieb Bultmann an Heidegger, in der Oktobernummer der Zeitschrift for Theologie und Kirche werde von ihm ein Tübinger Vortrag über die Geschichtlichkeit des Daseins und den Glauben erscheinen. Löwith werde sich mit Heidegger auseinandersetzen. Löwiths Aufsatz Phänomenologische Ontologie und protestantische Theologie unterstellt, dass Heideggers Daseinsanalyse durchaus nicht neutral sei, sondern christlichen Vorgaben folge, diese aber in ontologischen Phänomenen aufgehen lassen wolle; so könne
129 Vgl. Sein und Zeit. S. 245,197,249, zum folgenden 8 u.Ö.
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diese christlich bedingte Analyse wieder von den Theologen im Griff nach philosophischen Grundlagen genutzt werden. Damals waren Oskar Becker und Kar! Löwith befreundet. Heidegger distanzierte sich schon 1921, dann wieder 1927 bei Löwiths Habilitation davon, dass Becker ihn auf wissenschafts theoretische Fragen, Löwith ihn auf existenzielle Ideale festzulegen suche. Da man unter Husserl in Freiburg nicht über Nietzsche promovieren konnte, musste Löwith für seine Promotion nach München ausweichen und konnte sich Heidegger erst wieder in Marburg enger anschließen. Heidegger teilte mit Löwith auch das Interesse für den Patristiker und Nietzschefreund Franz Overbeck. Was Löwith nie aufnahm, war der methodische Weg der formal anzeigenden Hermeneutik. So suchte er im genannten Aufsatz von 1930 Heidegger einzuordnen in die damaligen theologischen und philosophischen Positionen. Buhmann sah im angeführten Brief an Heidegger, dass Löwith Heidegger letztlich nicht verstehe. Doch sei der Aufsatz wertvoll; Heidegger möge auf ihn öffentlich antworten. In der Tat bleibt der Aufsatz hilfreich, da er die damaligen Auseinandersetzungen spiegelt. Löwith hat später durch sein Buch Weltgeschichte und Heilsgeschehen das Interesse der Theologen geweckt. Diese haben aber nicht gesehen, dass Löwith auf dem Weg über Japan nach Amerika und nach seiner Rückkehr aus der Emigration die Geschichte überhaupt durch den Rückgang auf eine bleibende Natur zu unterlaufen suchte. Dass Heidegger sich mit einem Naturwissenschaftler wie Werner Heisenberg auseinandersetzte, blieb Löwiths Berufung auf "Natur" fremd. So kam Heidegger zu dem oft wiederholten Urteil: "Er ist ein sehr gewandter Schriftsteller, aber er weiß nicht, was Denken heißt. "130 Buhmann hoffte in seinem Brief, dass er Heideggers Leitbegriff der Sorge nicht missverstanden habe (wie der Theologe Koepp, der der Sorge Heideggers die christliche Liebe entgegenstellte). Buhmann gestand aber: "in der Frage nach der Verwurzelung der Ontologie im ontischen Dasein und deshalb in der Frage nach der letzten Absicht der Philosophie sehe ich noch nicht klar durch". Er berichtete, wie lebendig in Marburg die gemeinsame Arbeit weitergehe. Z.B. sagte er zur Graeca: "Mit Schlier, Bornkamm, Krüger und Gadamer lese ich alle 14 Tage abends zusammen Philo, von dem wir freilich bald Abschied nehmen wollen, um Clemens Alexandrinus zu lesen." Er habe gelernt, Gadamer wertzuschätzen, da er philologisch exakt arbeite und sorgsam interpretiere, nicht in der Weise Krügers spekuliere. Der Altphilologe Friedländer habe Plato 11 beendet. Man darf nicht verkennen, dass Buhmann trotz aller Abwehr der Kritik an Heidegger zur Eigentlichkeit Heideggers die christliche Nächstenliebe stellt. So beginnt das Manuskript seiner Enzyklopädie-Vorlesung: "Echtes Verständnis der Geschichte hat auszugehen vom Verständnis des Jetzt, dies zu klären als das durch die Zukunft bestimmte 1.) als vor dem Tode (Heidegger), 2.) als vor dem Anspruch des Du
130 So z.B. mir gegenüber am 12.4.61, vgl. Heidegger. Perspektiven zur Deutung seines Werkes (s. Anm. 28). S. 398; Löwiths Aufsatz ebenda S. 54 ff.
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(Gogarten)".l3l Mit dem Anspruch des Du, damit auch mit der Nächstenliebe kommt alles das ins Spiel, was als Dialogik sich abgrenzte von den Wegen Husserls und Heideggers. Hans-Georg Gadamer verweist darauf, dass Heidegger noch in Marburg ein Seminar über Schellings Freiheitsschrift gehalten habe. Nicht nur Aristoteles, auch Nietzsche sei Heidegger nach dessen Selbstverständnis vorausgegangen. Heidegger habe sich auf Heraklit und Parmenides bezogen, "weil ihm das nie aufhörende Widerspiel von Entbergung und Verbergung aufgegangen war". "Heidegger realisierte das alles erst ganz, als er in seine Heimat, nach Freiburg und in den Schwarzwald zurückgekehrt war und, wie er mir damals schrieb: ,die Kräfte des alten Bodens zu spüren' begann. ,Es kam alles ins Rutschen."'!32 An Elisabeth Blochmann schrieb Heidegger am 20. September 1930 nach einer Faltbootfahrt auf der Donau, ihre Arbeit für die Berufsschule und an der Pädagogischen Akademie könne darauf verweisen, dass auch die Universitätsreform diese Verwurzelung in der Wirklichkeit brauche, nämlich in der Wirklichkeit des Volkes und seiner Stämme (wie er mit der Weimarer Verfassung sagte). Vom Beispiel des einstigen Marburger Studenten Martin Rang her schrieb er: "Es ist doch eine verzweifelte Situation für diese Theologen - denn sie sind eben nur Theologen und wirken nicht mehr mit einer apostolischen Berufung. -" Es konnte Bultmann und Schülern wie Heinrich Schlier und Ernst Käsemann sicherlich nicht abgesprochen werden, dass sie auch apostolisch wirkten. Doch zeigt Heideggers Äußerung, wie sehr er die Marburger Zeit nun von sich abstieß. Karl Jaspers schrieb am 24. 5. 1930 vom gemeinsamen "Plan einer aristokratischen Universität". Am 24. 7. 31 suchte Heidegger bei Jaspers jemanden für die Wiederbesetzung der Freiburger Assistentenstelle (nachdem Oskar Becker einen Ruf nach Bonn erhalten hatte): "Eigene ,Schüler' habe ich nicht und wünsche eigentlich etwas anderes." Hatte er vergessen, dass er in Marburg Schüler wie Hans Jonas und Hannah Arendt gehabt hatte, vor allem Löwith, Krüger, Gadamer? Heidegger nahm als Assistenten dann Werner Brock, der über Nietzsche gearbeitet hatte. Mit ihm zusammen erörterte er in einem kleinen Kreis den Nietzscheanismus der Totalen Mobilmachung und des Arbeiters von Ernst Jünger.!33 Martin Heidegger schrieb am 17. 11. 29 an Karl Löwith, es sei ihm "seit einiger Zeit" aufgegangen, "dass die heutige Zeit Nietzsche noch nicht begriffen hat". Im Winter 1929/30 kündigte sich an, was dann als Weltwirtschaftskrise von Amerika nach Europa drängte. Dass Heidegger in dieser Krise Nietzsche neu sah,
131 Dieser vorangestellte Satz wurde nicht aufgenommen in die Edition für den Gebrauch der Studenten (Rudolf Bultmann: Theologische Enzyklopädie. Hrsg. von Eberhard Jüngel und Klaus W. Müller. Tübingen 1984). Ich danke Pfarrer Klaus W. Müller für die Überlassung der Transkription des Manuskripts. - Zum folgenden vgl. Michael Theunissen: Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart. Berlin 1965. Eine philosophische Gegenposition zu Heideggers Hölderlin-Bezug von der Dialogik aus entfaltet E. Levinas, s. Anm. 160. 132 Vgl. Gadamer: Heideggers Wege (s. Anm. 110). S. 99. 133 Vgl. Martin Heidegger. Die Selbstbehauptung der deutschen Universität / Das Rektorat 1933/34. Frankfurt am Main 1983. S. 24.
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zeigt die Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik aus diesem Winter. Spengler, Klages, Scheler und Leopold Ziegler werden dort genannt als Beispiele dafür, wie man die Seele oder das Leben gegen den Geist stellte. Hinter dieser Auffassung stehe Nietzsche, der die apollinische Ausrichtung auf die Begrenzung und das Sein in das dionysische Erleiden des Werdens aufnehme. So kann Heidegger in Kierkegaards Ausrichtung auf den Augenblick ein Denken finden, "mit dem seit der Antike die Möglichkeit einer vollkommen neuen Epoche der Philosophie beginnt". Doch schließt die Vorlesung mit dem Trunknen Lied aus Nietzsches Zarathustra, in dem das Leiden am Vergehen überboten wird durch die Lust, die "tiefe, tiefe Ewigkeit" wil1. 134 Bultmann wurde in konkrete berufliche Probleme verwickelt, als der Freistaat Preußen mit den Evangelischen Landeskirchen einen Vertrag verhandelte, der dann am 11. 5. 31 geschlossen wurde (das sog. Konkordat). In Altpreußen hatte der preußische Kultusminister bei der Berufung theologischer Professoren ein Gutachten des Berliner Kirchenrates einzuholen. Diese Regelung galt nicht für Göttingen, Kiel und Marburg, so dass dort die liberalen Professoren durchgesetzt wurden. Gegenüber den neuen Regelungen blieben die Fakultäten in Göttingen und Kiel zwar geteilter Auffassung, doch protestierten Professoren wie von Soden und Hermelink. Bultmann wollte seine Lehre keiner Zensur unterworfen sehen und befürchtete, dass das Sommersemester 1931 sein letztes Semester sein werde. Er fragte am 21. 1. 31 bei Heidegger an, ob er nach der drohenden Zwangsemeritierung sich für Philosophie in Freiburg habiluitieren könne. Heidegger setzte in seinem Schreiben vom 24. 1. wieder auf die Gründung einer aristokratischen Universität. Bei den Theologen sei die entscheidende Frage "wirklicher Glauben oder bloßes Kirchenregiment". "Durch Theologie erwächst keine Lebendigkeit des Glaubens, sondern nur dieser als wirklicher kann Norwendigkeit und Recht einer Theologie sich erkämpfen und sie am inneren Leben erhalten." Der Übertritt in eine philosophische Fakultät würde nur deutlich machen, dass alles ende bei einer "indifferenten wissenschaftlichen Tätigkeit". Bultmann berichtete Heidegger am 8. 11. 31 von der üblichen Herbsttagung der Theologen. Er habe zum Problem der natürlichen Theologie ausgeführt, dass dieses aktuell sei 1) durch das Verstehen der Verkündigung, 2) durch die T atsache von Religion außerhalb des christlichen Glaubens, 3) durch die Tatsache der Philosophie, "sofern diese beansprucht, das Sein des Daseins verstehen zu können, womit sie auch den Glauben zu verstehen beansprucht, sofern dieser eine Weise des Seins des Daseins ist". Gerhard Krüger habe als Philosoph auf direktem Wege zur Gottesfrage führen wollen und scheine "einen gefährlichen Weg zu gehen". Am 14. 12.32 ging Bultmann recht verspätet ein auf Heideggers Weihnachtsgruß von 1931. Dieser Gruß hatte Freundesbriefe von Nietzsche mit dessen Gedicht Aus hohen Bergen verbunden. Das Gedicht ist als Nachgesang der Schrift Jenseits von Gut und Böse mitgegeben, die die "freien Geister" gegen die Zeit stellt. Nietzsche ist sich "selbst entsprungen" und fragt seine Freunde: "Ihr 134 Vgl. Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik (s. Anm. 60). S. 103 ff., 225, 532.
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wendet Euch (von mit ab)?" Er sucht neue Freunde und muss in Zarathustra den Gast der Gäste erst noch erwarten, der seinen Grundgedanken (die ewige Wiederkehr) formuliert. Auch Heidegger will offenbar darauf bestehen, dass er seinen einstigen Freunden entsprungen ist und seinen Grundgedanken (vom Sein als Ereignis) erst noch ausarbeiten muss. Bultmann meint gegenüber Heidegger, dass ihre Wege wohl weiter voneinander abzweigten, "als es in der Marburger Zeit vorauszusehen war". Er wollte Heideggers Weihnachtsgruß damit erwidern, dass er ihm den ersten Band seiner Aufsätze widmete, "denn die in ihm enthaltene Arbeit ist ja zu einem großen Teil die Frucht der Gemeinschaft der Arbeit und Freundschaft" . In diesem Brief ging Bultmann auch ein auf Kar! Barths "pomphafte Einleitung zu seiner neuen Dogmatik". Sie müsse ihm "ebenso unsympathisch" sein wie Heidegger. Bultmann musste fragen, ob Heidegger wirklich Mitglied der nationalsozialistischen Partei geworden sei. Müsse er sich Heidegger dort Arm in Arm mit dem Marburger Psychologen Jaensch vorstellen? Heidegger schrieb am 14. 11. 31: ,,Arbeite mit Barths Gleichgültigkeit gegen die Philosophie, aber mit dem Verständnis flr sie, das Du dir erarbeitet hast. üb die theologische Besinnung ein Zeugnis wird (ihrer Art) für Christus, also eine Erweckung, oder ob sie Literatur bleibt, darauf kommt alles an. Die Frage der natürlichen Theologie ist dann von selbst entschieden." Am 29. 8. 32 konnte er "nur entsetzt" sein über das Göschenbändchen von Jaspers Die geistige Situation der Zeit von 1931. Die Einsamkeit in Todrnauberg gebe ihm Luft und Boden für seine Arbeit. Seine Fragen lägen "zwischen den Wäldern und Tälern und weiten Matten verborgen". Als "Latrinengerücht" wies er am 16. 12. 32 die Behauptung zurück, dass er Mitglied der NSDAP sei. Erscheinungen wie Jaensch könnten ihn aber nicht davon abhalten, "die Bewegung u.a. auch durch die entsprechende Stimmabgabe bei den Wahlen - nicht erst seit gestern - zu unterstützen". Heidegger verwies auf sein Interesse für den national-konservativen "Tatkreis". Er widmete Bultmann (als politisches Weihnachtsgeschenk) die Flugschrift Wohin treibt Deutschland?, die Ernst Wilhelm Eschmann 1932 unter dem Pseudonym Leopold Dingräve veröffentlichte. Diese Flugschrift "sieht in dem NS den ,aktivsten Vortrupp' zur Förderung eines Nationalismus und eines bodenständigen Sozialismus, der für die eigentümlichen deutschen Umstände geeignet wäre". Als Voraussetzung des nationalen Antikapitalismus wird eine neue öffentliche Meinung gefordert, in der mit Luther die Wahrheit gefunden werden kann, die frei macht. 135 Heidegger ließ sich auf neue Wege ein, wie etwa die Briefe an Elisabeth Blochmann zeigen. Am 25. 5. 32 verwies er auf Johann Jakob Bachofen, der von Alfred Baeumler und Erich Rothacker ins Spiel gebracht wurde. Am 11. 6. erinnerte er sich gern an die "Goethesche Landschaft und Welt", die die Familie der Pädagogin ihm beim Besuch in Weimar gezeigt hatte; doch zitierte Heidegger 135 Vgl. hierzu Theodore Kisiel: Heidegger als politischer Erzieher: Der NS-Arbeiterstaat als Erzieherstaat, 1933-34. In: Die Zeit Heideggers. Hrsg. von Norbert Lesniewski, Eva NowakJuchacz. Frankfurt am Main 2002. S. 71 ff., vor allem 82 f.
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dann Hölderlin. Am 22. 6. wandte er sich gegen Brüning und die Zentrumspartei, weil diese den alles nivellierenden "Liberalismus" zur Sicherung konfessioneller Vorteile nurzten, so aber mit den Kommunisten gleichzögen. Heidegger stellte gegen Rom und Moskau die Griechen, "von denen Nietzsche sagte, dass allein die Deutschen ihnen gewachsen seien". Der Bezug auf Griechenland ohne die Vermittlung durch Rom und die romanische Welt, wie er seit Winckelmann und vor allem seit Hölderlin aufgebaut worden war, wurde philosophisch, poetisch und politisch radikalisiert. Am 18. 9. meldete Heidegger, dass er in den Herbstferien nicht ins Kloster Beuron gehe; auf seiner Hütte sei er "viel einsamer als im Kloster". In dieser Einsamkeit konnten Hölderlins Elegien und Hymnen den gregorianischen Choral zurückdrängen, der über die Jahrhunderte hinweg dem Abendland eine geistige Orientierung gegeben hatte. So konnte Heidegger einen neuen Bezug zum Griechischen finden. (Noch der Bericht Aufenthalte von der Griechenlandreise 1962 zeichnet den Archäologen Ernst Buschor aus, der von der Plastik wie von der Dichtung her zum vorklassischen Griechenland geführt hatte. In ähnlicher Wertung stellte Oskar Becker Buschor gegen den gelehrten Ludwig Curtius.) Am 19. 1. 33 schrieb Heidegger, ein großer Sturm sei über ihn gekommen; die Takelage sei zu Bruch gegangen und ein Flicken sei unmöglich. Er hatte Photoaufnahmen von Griechenland geschenkt bekommen, sich selbst dem vorsokratischen Denken zugewandt. So schrieb er: "Die Trümmer der griechischen Tempel und Götterbilder sind wie die Reste und Fetzen der alten Sprüche ihrer Philosophen." Wären Tempel, Götterbilder und philosophische Werke unversehrt auf uns gekommen, dann wäre längst alles im Gewohnten und Entleerten aufgegangen. Doch die Trümmer, die umstellt seien von Dunkel, könnten die Auseinandersetzung mit den Griechen und die Besinnung auf den eigenen Auftrag wecken. Die Heutigen würden (nach Nietzsches Formulierung) als "Gezwerge" weggefegt. Auch in der eigenen Arbeit setzte Heidegger aus diesen Erfahrungen heraus neu an. Am 18. 9. 32 schrieb er an Elisabeth Blochmann, dass er sich selbst lese, nämlich von seinen Manuskripten her zu einem neuen Denken ansetze. Rudolf Bultmann wurde damit konfrontiert, dass der jüngere Freund sich doch politisch einsetzen ließ. Als Hitler zur Macht gekommen war, sann Heidegger dem "Führer" an, sich gegen die Partei und deren rassistisches Programm zu stellen und Wilsons Friedenspolitik von der Selbstbestimmung der einzelnen Staaten her durchzusetzen. Im März 1933 (als die Nationalsozialisten in den Wahlen gesiegt hatten) kaufte Heidegger beim Besuch von Jaspers in Heidelberg diesem als Gastgeschenk eine Schallplatte mit gregorianischer Kirchenmusik, sagte aber auch: "Man muss sich einschalten. "136 Jaspers selbst wollte die "aristokratische Universität" mithilfe des Führerprinzips verwirklichen. Darin sah er in seinen Thesen zur Frage der Hochschulerneuerung vom Juli 1933 eine Chance, "die Möglichkeit der Überwindung aller verschleppenden und verwässernden Ver136 Vgl. Heidegger / Jaspers: Briefwechsel (s. Anm. 59). S. 256; die Thesen von Jaspers vom Juli 1933 S. 259 ff.
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handlungen von Kommissionen und Instanzen durch die entscheidenden Anordnungen eines die Universität schrankenlos beherrschenden Mannes, der auf den mächtigen Antrieb einer der Situation bewussten Jugend und die ungewöhnliche Bereitschaft der sonst Lauen und Gleichgültigen sich stützen kann". Jaspers sah auch die Gefahr eines endgültigen Todes der Universität durch die Willkür der Lehrstuhlinhaber oder die Reglementierung von außen. Erst Ende 1933 erkannte er, wie der Antisemitismus den Nationalsozialismus bestimmte. Heidegger ließ sich von jüngeren Ordinarien wie Wolfgang Schadewaldt drängen, das Rektorat der Universität Freiburg zu übernehmen. Bultmann erfuhr aus Zeitungen von Heideggers Rektoratsrede und schrieb am 18.6. an Heidegger gegen den Schluss dieser Rede: "Den Mut, Alles zu riskieren, schöpfe ich vielmehr aus der Wende unserer Geschichte, die in der Arbeit Nietzsches und Kierkegaards anhob und sich als heimliche Kraft schon vor dem politischen Umschwung geltend machte ... " Im angeblichen Umschwung von 1933 konnte er nur eine Hybris und verdeckte Angst finden. Diese Hybris bleibe "taub" gegenüber den wirklichen Forderungen. Heidegger hatte gehofft, die politische Umwälzung von der Reform der Universität aus zur Besinnung auf das Notwendige führen zu können. Doch Weihnachten 1933 sah er sich gescheitert und war zum Rücktritt vom Rektorat entschlossen. Als er diesen Rücktritt im Frühjahr 1934 realisieren konnte, suchte er das Denken mit der besinnlichen Kraft der Dichtung zu verbinden. Für das Sommersemester 1934 kündigte er eine Vorlesung Der Staat und die Wissenschaft an. Doch begann er: "Ich lese Logik." Die zahlreich anwesenden SA-Funktionäre verließen zum Teil den Saal, blieben jedenfalls später der Vorlesung fern. Die Logik, die Heidegger suchte, sollte das geschichtliche Sein des Menschen klären, zu dem der Staat gehört. Die Edition in der Gesamausgabe, die einer Nachschrift folgt und diese auftragsgemäß von Sein und Zeit her gliedert, verdeckt den Duktus von Heideggers Ausführungen. So war der Hinweis auf das wiederaufgefundene Manuskript nötig.]3? Der Schluss der Vorlesung wendet sich zur Sprache als der Stiftung eines neuen Weltverständnisses und sieht in der Dichtung die ursprüngliche Sprache als Sprache des Ursprungs. Damit ist der Übergang gegeben zu der Vorlesung über Hölderlin im Winter 1934/35. In dieser Vorlesung las Heidegger, der Philosoph, über Hölder/ins Hymnen "Germanien " und "Der Rhein ". Die Arbeit der gelehrten Theologen und der kirchlichen Organisationen lagen ihm nun so fern, wie sie einst Hölderlin auf dem Weg zu seinem Spätwerk fern gerückt waren. Hölderlins Hymne Germanien spricht nach dieser Vorlesung von einem Aufbruch der Deutschen. Die Hymne Der Rhein zeigt, wie ein "Halbgott" zwischen den Göttern und den Menschen auf der Erde vermittelt. Der Strom macht ein ganzes Land fruchtbar; der Weingott Dionysos stellt ein Land vor neue Erfahrungen, die auch zur Dichtung führen. Heidegger weist die Auffassung ab, dass Hölderlin in der Vereinsamung der spä137 Vgl. Silvio Viecra: Wandel unseres Daseins. Eine unbekannte Vorlesung Martin Heideggers von 1934. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 18. 10.2006.
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ten Nürtinger und Homburger Jahre neu zu Christus gefunden habe. Diese Behauptung gehöre in die Apologetik, die so geschickt geworden sei, dass sie "nur noch in der Sprache Nietzsches" rede. Wenn von den Kanzeln Christus als Führer angesprochen werde, dann sei das eine Blasphemie. Nach dem Konzil von Nicaea sei Christus wesensgleich Gott dem Vater, nicht nur wesensähnlich. Damit könne er nicht Führer sein. "Führersein ist ein Schicksal und damit endliches Seyn." Ein solches Schicksal sucht Heidegger, indem er die tragische Erfahrung der Griechen mit Hölderlin aufnimmt. Nach Hölderlins Auffassung ist den Griechen vom Orient her das begeisternde Feuer vom Himmel mitgegeben. Aufgegeben ist ihnen die "Bändigung des Unbändigen", das "Fassen, Zum-Standbringen". "Den Deutschen ist mitgegeben: das Fassenkönnen, das Vorrichten und Planen der Bereiche und das Rechnen, das Ordnen bis zum Organisieren. Aufgegeben ist ihnen das Betroffenwerden durch das Seyn." So kann Heidegger am Schluss seiner Vorlesung daran erinnern, dass er in aktueller Absicht mit Hölderlin eine Revolutionierung aller Lebensverhältnisse suche: "Die Stunde unserer Geschichte hat geschlagen. "138 Unter den Philosophen, die Hölderlin nahe kamen, zeichnet Heidegger Schelling aus, aber den Schelling der Freiheitsschrift von 1809. Schelling unterscheidet (auch im Rückgang auf Jakob Böhme) das, was in Gott nur Grund ist, von dem, was Gott als er selbst ist. Gott muss als Liebe seinen Grund an sich ziehen und selbsthaft übernehmen. Verselbständigt der Grund sich, dann wird er zum Bösen, das nur um sich kreist. Das Böse ist nicht mehr (wie bei Augustinus) nur der Mangel des Guten. Heidegger sagt in seiner Vorlesung vom Sommer 1936 über Schellings Freiheitsschrift, dass Mussolini und Hitler in ihrer Politik eine Gegenbewegung gegen den Nihilismus eingeleitet hätten; sie seien von Nietzsehe bestimmt gewesen, ohne dass der metaphysische Bereich von Nietzsches Denken zur Geltung gekommen sei. 139 In der ersten Nietzsche-Vorlesung vom Winter 1936/37 gibt Heidegger Stefan George Unrecht, der Nietzsche in weglose eisige Felsen flüchten sah. Nietzsehe, so sagt Heidegger, "war außer Hölderlin der einzige gläubige Mensch, der im 19. Jahrhundert lebte". Er habe in der "Heraufkunft des Pöbels", im "sozialen Mischmasch", in den "gleichen Menschen" die alten Werte erkannt. So formuliert Heidegger als seine Auffassung: "Europa will sich immer noch an die ,Demokratie' klammern und will nicht sehen lernen, dass diese sein geschichtlicher Tod würde. " Am 27. 1. 35 schrieb Buhmann an Heidegger, dass vor allem die neuen Habilitationsordnungen den Teufel durch Beelzebub austrieben, nämlich nur noch 138 Vgl. Martin Heidegger: Hölderlin Hymnen "Germanien" und "Der Rhein". Frankfurt am Main 1980. S. 210, 292, 294, zum folgenden 293. 139 Heidegger hatte in der ersten Edition diese konkreten Bezüge noch gestrichen, vgl. Martin Heidegger: Schellings Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809). Tübingen 1971. S. 28. Auch die im folgenden zitierten Passagen aus der ersten Nietzsche-Vorlesung finden sich noch nicht in den Nietzsche-Bänden von 1%1, sondern erst in Martin Heidegger: Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst (Gesamtausgabe Band 43). Frankfurt am Main 1985. S. 192 f.
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"Kreaturen und Strebern" eine Chance gäben. Könne Heidegger nicht eine Denkschrift entwerfen? Heinrich Schlier berichtet (für 1935 wohl irrtümlich 1934 setzend) von einem Abend mit Heidegger im Hause Bultmanns: "Man hatte Heidegger sehr zugesetzt wegen seines Verhaltens 1933. Da wandte er sich beim Hinausgehen zu mir um und sagte verhalten: ,Herr Schlier, es ist noch nicht aller Tage Abend.' Ich verstand wohl, was er meinte. Aber hätte er klar gesagt: ,Ich habe mich geirrt ... ', wären wir ihm gewiss um den Hals gefallen."!40 Vielleicht wollte Heidegger damals aber noch sagen, der ,,Aufbruch" sei zwar auf einen falschen Weg geraten, doch könne sich das noch ändern. Der Theologe Heinrich Buhr berichtet, wie Heidegger im Herbst 1933 in Todtnauberg vor Studentenvertretern eine Rede gehalten habe "gegen das Christentum, gegen die christliche Theologie, gegen diese Auslegung des Daseins, der Wirklichkeit". Nicht erst in der Christologie, schon im ersten Artikel des Glaubensbekenntnisses vom Schöpfergott liege der Grund der falschen W eltverneinung. Gott werde zum Handwerker, das Seiende bloß ein Gemächte. Da Buhr widersprach, lud Heidegger ihn zum Studium nach Freiburg ein. Er konnte begründeten Widerspruch ertragen, auch sich selbst korrigieren. Buhr schreibt: "Martin Heidegger bot mir damals an, bei ihm zu promovieren. Bedingung sei, dass ich mich für die Philosophie und gegen die Theologie entscheide. Für das Größere. Doch Ende 1935, als ich wieder einmal bei ihm eingeladen war, sagte er zu mir: ,Sie haben recht, bleiben Sie bei Ihrer Theologie!'" Heideggers Vorlesung Einfohrung in die Metaphysik vom Sommer 1935 ist vor allem umstritten, weil sie nebenher auch politische Urteile abgibt. Unübersehbar ist, dass Heidegger neue Wege ging. Nicht wie geplant 1935, aber 1936 trug er in Rom in fünf "Leitworten" die harten Dikta seiner Rede Hölderlin und das Wesen der Dichtung vor. Martin Heidegger hat im Rückblick das Jahr 1938 als sein "Wendejahr" bezeichnet: Lange vor der Katastrophe von Stalingrad und dem Desaster des Luftkriegs habe er in Hitler "den Räuber und Verbrecher des Jahrhunderts" erkannt.!4! In den Nietzsche-Vorlesungen wendet sich der positive Bezug zu Nietzsche ins Gegenteil. Als Heidegger im ersten Trimester 1941 wieder über Schellings Freiheitsschrift las, ebnete er den Weg von Leibniz über Schelling zu Nietzsche ein in die neuzeitliche Metaphysik. Diese fasse das Sein vom Zugang zu ihm her, entdecke im Vorstellen das Wollen des Vor-sich-hin- und Auf-sich-zurückStellens, das sich schließlich ganz auf sich selber stelle, mit Nietzsche den Willen zur Macht in der ewigen Wiederkehr gründe. Heidegger zitierte nach der Wochenzeitung Das Reich den Witz eines Berliner Taxischauffeurs: ,,Adolf weeß et, Gott ahnt et und dir jeht's nischt an." Hitler weiß also, wohin die Geschichte 140 Vgl. Heinrich Schlier. Denken im Nachdenken (s. Anm. 116). S. 217 ff., vor allem 221; zum folgenden ebenda S. 53 ff. 141 Vgl. Pöggeler: Der Denkweg Martin Heideggers (s. Anm. 28). S. 384. - Zum folgenden vgl. Martin Heidegger: Die Meraphysik des deutschen Idealismus (Gesamrausgabe Band 49). Frankfurr am Main 1991. S. 122; Nierzsche. Pfullingen 1961. Band Ir. S. 335 ff. - Zur völligen Umwandlung von Heideggers Bezug auf Nietzsche vgl. Wolfgang Müller-Lauter: Heidegger und Nietzsche. Nierzsche-Interprerarionen III. Berlin, New York 2000.
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geht, Gott ist in seinem Werden (nach Schelling und Scheler) noch nicht ganz zu sich erwacht; die Menschen flüchten sich in ihre Berufs- und Familienaufgaben. Das Nietzsche-Pathos der Beiträge verwandelt sich in die geradezu mystische Sprache des Textes Die seinsgeschichtliche Bestimmung des Nihilismus von 1944-
46.
Heidegger hat zwei kleine Texte unter dem Titel Ein Rückblick auf den Weg zusammengefasst und auf 1937/38 datiert. Der erste Text hat den Titel Mein bisheriger Weg; er führt von der Dissertation bis zu den ersten NietzscheVorlesungen und hofft auf ein Echo im "übernächsten Geschlecht" .142 Der zweite Text Die Bewahrung des Versuchten ist eine "Beilage" zum Testament, das in der üblichen Weise den Titel Wunsch und Wille trägt. Er schließt die Beiträge zur Philosophie als "neuen Anlauf' zur Seinsfrage ein. Heidegger übergibt (mit 48 Jahren!) sein Werk an spätere Generationen als "Nachlass", der in sich die "Kraft des Vor-lassens" in die Bahn eines ganz anderen Fragens haben soll. Da dieser Text auch auf das Wintersemester 1937/38 zurückblickt, muss er wie das Testament in das Jahr 1938 gehören. Die philosophische Beilage zu diesem Testament ist ediert worden, das Testament (sofern es überhaupt erhalten ist) nicht. In meinem Antigone-Buch habe ich gesagt, Heidegger habe sich 1938 so durch sein einstiges Eintreten für Hitler diskreditiert gefühlt, "dass er aus dem Leben scheiden wollte".143 Das könnte auch meinen: sich aus seinen Verpflichtungen zurükziehen. Doch wurde es mir in einer radikaleren Form zugetragen. Als ich Anfang der fünfziger Jahre noch als Student, nur mit dem bloßen Namen Heideggers bekannt, während einer wirtschaftsgeschichtlichen Exkursion durch Freiburg geführt wurde, hörte ich auch, Heideggers Nachbarn hätten wochenlang gefürchtet, der Philosoph wolle sich das Leben nehmen. Als Heidegger 1959 mit mir seinen Entschluss besprach, seine Nietzsche-Vorlesungen herauszugeben, suchte Frau Heidegger das mit allen Mitteln zu verhindern. Sie fürchtete, die einstigen gesundheitlichen Probleme würden wiederkehren. "Nietzsche hat mich kaputt gemacht": dieser angebliche oder wirkliche Ausspruch Heideggers, vor allem von seiner Familie überliefert, bezieht sich wohl auf das Jahr 1938. Die Philosophen, selbst Schopenhauer, verurteilen den Selbstmord als Eigenmächtigkeit Oean Amery, aber auch Wilhelm Kamlah machen eine Ausnahme). Heidegger selbst hat den Versuchungen widerstanden; doch hat er nach dem Zweiten Weltkrieg die entscheidende Analyse des Jahrhunderts der Weltkriege in der Lyrik jenes T rakl gefunden, der sich durch die Schrecken des Krieges in den Tod treiben ließ. Heidegger stand mit seiner Zeitdiagnose in einem Kontext, den er selbst nicht überblickte. Der Kölner Komponist Bernd Alois Zimmermann schuf ein Requiem for einen jungen Dichter (im Dezember 1969 in Düsseldorf uraufgeführt). Drei 142 Vgl. Heidegger: Besinnung (s. Anm. 58). S. 407 ff., zum folgenden 427, 428, 424. 143 Vgl. Otto Pöggeler: Schicksal und Geschichte. Antigone im Spiegel der Deutungen und Gestaltungen seit Hegel und Hölderlin. München 2004. S. 144 f. - Zum folgenden vgl. Gadamer in Aletheia. Heft 9. Berlin 1996. S. 19.
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Dichter, die in der Verzweiflung an der Zeit freiwillig aus dem Leben schieden (Majakowski, Jessenin und Bayer) werden von ihm genannt, doch sagt er, er habe an einen "jungen Dichter schlechthin" gedacht, der repräsentativ sei für die fünfzig Jahre von 1920-1970 in Europa. 144 Folgten nicht die bedeutendsten Künstler des zwanzigsten Jahrhunderts - für mich waren das Hugo DistIer, Norbert Krikke, Paul Celan, Zimmermann selbst - dem Gang der Antigone aus der Verzweiflung in den Tod? Zu wenig ist von Hegel und Hölderlin bis zu Heidegger daran gedacht worden, dass Antigone wie andere "Helden" der griechischen Tragödie zu den Selbstmördern gehört. Philosophie und Theologie müssen diese Konstellation der Zeit beachten. Martin Heidegger schrieb am 2. 10. 39 aus T odtnauberg an Rudolf Bultmann, durch einen Besuch Gadamers sei ihm die Marburger Zeit "gegenwärtiger geworden als in den Erinnerungen, die oft dahin zurücktasten". Von der Zeit des Zweiten Weltkriegs, der gerade begonnen hatte, sagte er, sie könne nicht "Geschichte" genannt werden, denn dafür hätten geistige Entscheidungen vorbereitet oder vollzogen werden müssen. "Für den Vor-Denkenden ist die Gegenwart, trotz ihrer Aufdringlichkeit an Leid und Wirrnis, schon ein Vergangen es. Sowenig wie aus dem ersten werden aus diesem Weltkrieg geistige Antriebe und Notwendigkeiten der Besinnung entspringen." Als sich Heidegger im Sommer 1942 Hölderlins Ister-Hymne zuwandte und mit Hölderlin die Deutschen aus der Partnerschaft mit den Griechen zu ihren Aufgaben führen wollte, sagte er, jedes Zurück sei eine Selbsttäuschung, "gelte dieses Zurück dem klassischen Altertum oder dem Neuen Testament".145 Damit war der einst so gelobte Weg Walter F. Ottos zu den Göttern Griechenlands ebenso abgewiesen wie die Rückbesinnung Kar! Barths und Rudolf Bultmanns auf das Urchristentum. Rudolf Bultmann konnte Heidegger 1948 seine Theologie des Neuen Testaments schicken. Heidegger schrieb am 22. 12. 48, er habe sie "nur angelesen" und sich "sogleich an der klaren und scharfen Luft gefreut, die darin weht". Im Rückblick käme es ihm so vor, "als seien unsere gemeinsamen Marburger Semester eine besonders günstige Zeit gewesen, wo Wachheit und Arbeitskraft des Geistes ausgewogen waren". Nach dem Zweiten Weltkrieg war es nötig, sich aus der leidvollen Geschichte der Juden mit den Deutschen zurückzubesinnen auf die gemeinsamen und die nicht gemeinsamen Traditionen. Dieser Weg führt neu zum Alten Testament, ist aber von Bultmann nur halbherzig, von Heidegger gar nicht gegangen worden. Bultmann schrieb am 26. 12. 68, als von den Freunden auch der Altphilologe Friedländer gestorben war: "Marburg hat sich sehr verändert, und ich bin recht einsam". Am 30. 1. 70 freute er sich, dass Heidegger den Aufsatz Phänomenologie und Theologie in Frankreich veröffentlicht hatte. Doch glaubte er, sich statt auf Hölderlin auf Conrad Ferdinand Meyers Gedicht Das Ende des Festes berufen zu 144 Vgl. Walter Biemel: Das Zeit-Motiv im Werk Bernd Alois Zimmermanns. In: Philosophie und Poesie (Festschrift Pöggeler). Hrsg. von Annemarie Gethmann-Siefert. Stuttgart-Bad Cannstattl988. Band 2. S. 333 ff. 145 Vgl. Martin Heidegger: Hölderlins Hymne "Der Ister" (Gesamtausgabe Band 53). Frankfurt am Main 1984. S. 81.
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können, das von "des Todes Schlummerflöten" spricht. In der Schlichtheit der Sprache sei C. F. Meyer Hölderlin überlegen - so besteht Bultmann auf seinem Bezug zur deutschen Dichtung! Im Bezug zur griechischen Tragödie, zur deutschen Dichtung und zum christlichen Glauben, aber auch zum Begriff des "Humanismus" gingen Bultmann und Heidegger verschiedene Wege.
4. Tragödie, christlicher Glaube, Humanismus Im Kriegsnotsemester 1919 zitierte Heidegger aus der Antigone des Sophokles den ersten Gesang des Chores zuerst auf Griechisch, dann in der Übersetzung von Hölderlin: ,,0 Blik der Sonne, du schönster, der Dem siebenthorigen Thebe Seit langem scheint... "
Der vordergründige Zweck des Zitats ist, den Sonnenaufgang, wie die thebanischen Alten ihn erleben, abzuheben von der Untersuchung des Sonnenaufgangs in der Astrophysik. Darüber hinaus ist bedeutsam, dass nach dem Kampf um Theben und nach vielfachem Tod "am ersten freundlichen Morgen" der Aufgang der Sonne das Versprechen einer anderen Zeit ist. Doch beginnt eine neue Tragödie, in der Antigone untergehen wird. 146 Musste man nicht das Gleiche fürchten beim Ausgang des Ersten Weltkriegs, der auch neues Unheil in sich barg? Wenn Nietzsche Ende 1929 für Heidegger neu zur Entscheidung wurde, dann von der Frage her: War das, was seit der klassischen Philosophie der Griechen als Vernunft die mittelmeerisch-europäische Geschichte geleitet hatte, zugleich eine Unterdrückung des Lebens mit seiner Leiblichkeit sowie der Tendenz der Existenz zur Eigentlichkeit? Im Frühjahr 1933 ließ Heidegger sich verleiten, das Rektorat der Universität Freiburg zu übernehmen. Er hoffte, dem politischen Umschwung von der Universität aus die Kraft zur Besinnung zuleiten zu können. Die Rektoratsrede vom 27. Mai berief sich auf Prometheus. Dieser hatte den Göttern widerstanden und den Menschen für das Wohnen auf der Erde das Feuer gebracht. Aus der Prometheus-Tragödie des Aischylos zitierte Heidegger, "Wissen" (nämlich techne) sei "unkräftiger denn Notwendigkeit". Jedes Wissen bleibe der Übermacht des Schicksals ausgeliefert und versage vor ihr. Zugleich stellte Heidegger Nietzsches Wort "Gott ist tot" den Hörern zum Bedenken vor. Ist nicht die Geschichte des Abendlandes seit Platon zu einer Tragödie geworden, in
146 Vgl. Martin Heidegger: Zur Bestimmung der Philosophie (Gesamtausgabe Band 56/57). Frankfurt am Main 1987. S. 74 f. - Theodore Ziolkowski (Mythologisierte Gegenwart. Deutsches Erleben seit 1933 in antikem Gewand. München 2008) zeigt,dass man sich nach 1945 in verschiedenen Phasen in West- und Ostdeutschland an dem Emigranten Ovid, an Seneca und (auch feministisch) an Medea orientierte. Das Jahr 1933 ist in diesem Zusammenhang freilich keine Zäsur; Entscheidendes war (auch von Hölderlin her) vorher durchgesetzt worden.
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der die eingebrachte Vernunft selbst auf Irrwege kam? Nachdem Heidegger sein Scheitern als Rektor durch seinen Rücktritt eingestanden hatte, suchte er mit Hölderlin zu fragen, was für eine Revolutionierung der Lebensverhältnisse zugunsten eines neuen und anderen Anfangs nötig sei. Am 1. Juli 1935 bedankte er sich bei Karl Jaspers für die Übersendung von dessen Vortragsband Vernunft und Existenz. Er habe sich, so schrieb er, sehr gefreut, denn "die Einsamkeit" sei "nahezu vollkommen". Wenigstens als Wunsch zu einer kleinen Gegengabe übersandte Heidegger seine Übersetzung des ersten Standliedes aus der Antigone des Sophokles, die gelegentlich seiner Vorlesung entstanden sei. Hugo von Hofmannsthal hatte in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg im vierten seiner Wiener Briefe für die amerikanische Zeitschrift The Dial von den jungen Deutschen gesagt, sie zeigten oft die Gebärde des Verzweifelten, "ja des Selbstmörders". Ein Zustand vormessianischer Religiosität habe in Hölderlin "einen Führer oder Vorläufer des Führers" heraufbeschworen. I47 Heidegger hat die Weise, wie Hölderlin im englisch-amerikanischen Raum wichtig wurde, nicht beachtet. Doch hat er sich von Hölderlin her die tragische Weltauffassung angeeignet. Seine Übersetzung des ersten Standliedes aus der Antigone ist nicht ohne die Vorgängerschaft des Übersetzers Hölderlin zu erklären. Hölderlin hatte in der Einsamkeit nach der Rückkehr aus Frankreich die maßgebliche Textherstellung Bruncks nicht zur Verfügung; von einer alten Ausgabe her fasste er "allbewandert, unbewandert", "hochstädtisch, unstädtisch" jeweils zu einem Oxymoron zusammen. Ihm folgte Heidegger. Im Sommersemester 1942 gab Heidegger ein drittes Mal eine Vorlesung über Hölderlin, aber nun über jenes Hymnenfragment, das unter dem Namen "Ister" der oberen Donau gilt, also der engeren Heimat Heideggers. Heidegger übersetzte das erste Standlied der Antigone neu, weil er es in Hölderlins Elegien und Hymnen weiterwirken sah. Das Standlied wird nicht mehr hineingestellt in den angeblichen Aufbruch der Deutschen. Vielmehr soll der Geschichte, in der die Weltbemächtigung von Wissenschaft und Technik in einen neuen Weltkrieg geführt worden war, ein letztes Heimatliches als Ansatz zu einem anderen Anfang abgerungen werden. Die techne wird als Wissen und Können nunmehr bewgen auf das "Gemache", in der das Machen mit seinen Machenschaften verwunden sei in das Zögern vor dem, was sich noch von sich her enthüllen müsse. Heidegger nimmt {auch in einer Abwehr earl Schmitts} das Politische ktitisch als das, was "total" werden und damit Fraglosigkeit beanspruchen will. Die Totalität des Politischen gebe dem Nationalsozialismus seine "Einzigartigkeit", sei aber z.B. durch den kurialen Herrschaftsanspruch der katholischen Kirche vorbereitet
147 So konnte Hölderlin im Zweiten Weltkrieg gegen den deutschen Ungeist gestellt werden, vgl. dazu meine Einleitung Hölderlin, Hegel und Heidegger im amerikanisch-deutschen Gespräch. In: Martin Heidegger. Kunst - Politik - Technik. Hrsg. von Christoph lamme und Karsten Harries. München 1992. S. 7 ff.
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worden. Sie bestände darin, dass der metaphysische Zugriff auf die Welt neuzeitlich zum sich selber wollenden Wollen umgewandelt worden sei. 148 Heidegger orientiert sich an der griechischen Polis. Die Weise, in der die Polis die Bahnen für das gemeinsame Leben ausgrenzt, hat mit der Totalität des Politischen nichts zu tun, denn sie behält immer ihre Fragwürdigkeit. Heidegger lehnt die Weise ab, in der der Altphilologe Heinrich Weinstock in seinem SophoklesBuch das erste Standlied als das Hohelied der Kultur deutet. Nach Weinstock wird die griechische Tragödie durch Oedipus aufKolonos zur Vorform der christlichen Heilslegende; Sophokles wie Luther widersprechen dem Humanismus, der auf die Kraft des Menschen setzt. Weinstock konnte später über die "Tragödie des Humanismus" schreiben. Heidegger ging andere Wege. Als Sartre die Existenzanalyse von Sein und Zeit umwandelte zu einem Existenzialismus, widersprach Heidegger 1947 in seinem Brief über den Humanismus. Dieser Brief konnte dann mit der Schrift Platons Lehre von der Wahrheit verbunden werden, die von Platon zu Nietzsche führt und so den Humanismus aus dem metaphysischen Weltzugriff entstehen sieht. Als Heidegger dagegen 1951 in München Orffs Vertonung der Antigonä von Sophokles-Hölderlin hören konnte, sprach er von einer Wiedererweckung der griechischen Tragödie. Er sah nicht, dass Orff mit seinem Schulwerk die Bemühung der Kantoren um die musikalischen Formen fortsetzte: Was mit dem Vogel ruf und dem Spiel der Kinder beginnt und zur Musik der verschiedenen Kulturen führt, kann als Verbindung von Klang und Wort in der griechischen Tragödie die höchste Steigerung erreichen. Eine spezifische Wiedererweckung der griechischen Tragödie mit ihrer Musik kann es schon deshalb nicht geben, weil uns von griechischer Musik so gut wie nichts überliefert ist. Auch Rudolf Bultmann wandte sich in den dreißiger Jahren der Antigone zu, doch gibt es keinerlei Nachricht darüber, dass Bultmann und Heidegger sich auch über ihren Zugang zu dieser Tragödie ausgetauscht hätten. Die Marburger Theologen waren sich dessen bewusst, dass man in eine Zeit der Krise geraten war. Rudolf Bultmann, Hans Freiherr von Soden und Heinrich Frick veröffentlichten 1931 "drei Marburger Vorträge" unter dem Titel Krisis des Glaubens, Krisis der Kirche, Krisis der Religion. Bultmann zeigte in seinem Beitrag Die Krisis des Glaubens, dass der Glaube nicht nur ein Gefühl oder eine Handlung sei. Vielmehr habe er wie das Vertrauen zu einem anderen Menschen sein Gegenüber, nämlich Gott. Doch fragte Bultmann: "Warum dem Rätsel, dem Unheimlichen, das uns umtreibt und begrenzt, einen anderen Namen geben als eben den: das Rätsel, das Schicksal?" Der Glaube sei Antwort auf das uns ansprechende Wort Gottes, und so gebe er dem Ausgeliefertsein an das Schicksal einen Sinn. Die Kri-
148 Vgl. Heidegger: Hölderlins Hymne "Der Ister" (s. Anm. 145). S. 106, zum folgenden 119. Hierzu und zum folgenden vgl. Pöggeler: Schicksal und Geschichte (s. Anm. 143). S. 155 f., 175 ff.
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sis des Glaubens, die eine Entscheidung fordere, sei eine konstante, indem sie den Eigenwillen beugen müsse unter den Anspruch Gottes im Augenblick. 149 Mussten diese Gedanken nicht zu einer Auseinandersetzung mit der griechischen Tragödie und deren Schicksalsvorstellung führen? Völlig unbekannt kann es Bultmann nicht geblieben sein, dass sein Freund Heidegger 1935 seine Gedanken mit dem ersten Standlied aus der Antigone verband. Im Jahre 1936 sah die nationalsozialistische Führung zusammen mit dem Internationalen Olympischen Komitee im Schauspielhaus am Berliner Gendarmenmarkt die Orestie unter der Intendantur von Gustav Gründgens. Der Nationalsozialismus sah es als seine Aufgabe an, den dunklen Mächten in der Geschichte mit dem Willen zur Ordnung und zur Verpflichtung auf den Staat zu begegnen. Karl Barth, entschieden zum Widerstand gegen die nationalsozialistische Machtergreifung, war sich nicht sicher, dass Bultmann ebenso klar die Position des Widerstands beziehen würde, die zur Bekennenden Kirche führte. Das aber war der Fall. Bultmann beteiligte sich dann mit einem Beitrag über die Antigone an den Theologischen Auf sätzen, die Karl Barth zum fünfzigsten Geburtstag 1936 überreicht wurden. Bultmanns Aufsatz trägt den Titel Polis und Hades in der Antigone des 50phokles. Gleich der erste Satz sieht das Problem der Antigone in der "echten Begründung der Polis" und damit in der "echten Begründung menschlichen Gemeinschaftslebens überhaupt". Der Aufsatz ist von Anfang an eine Provokation gegen den Nationalsozialismus. Im Drama des Sophokles scheint die Stadt Theben gerettet zu sein. Der Chor vertritt nach Bultmann "das durchschnittliche Urteil der Bürger", wenn er wie Kreon in Antigone die trotzige Gesetzesbrecherin sieht, die gegen Kreons Gebot den Angreifer Polyneikes beerdigte. Vom ersten Standlied sagt Bultmann, dass es dem apolis den hypsipolis entgegenstelle. Antigone rufe die Polis und ihre Bürger als Zeuge dafür an, dass sie einem echten Gesetz gefolgt sei, aber nicht auf Grund echter Gesetze sterben müsse. Es wäre Gehorsam aus bloßer "Menschenfurcht" gewesen, wäre sie Kreon gefolgt. Am Schluss des Dramas steht Kreon als der Schuldige da, der mit Antigone auch seinen Sohn und seine Frau in den Tod getrieben hat. Nach Bultmann ist für Kreon "die direkte, unmittelbare Göttlichkeit der Herrschaft selbstverständlich". Sein "reiner Diesseitsglaube" kenne nicht die Götter als die "jenseitige, alles Diesseitige begrenzenden Macht". Kreon lehne eine Totenehrung ab, die nicht der Polis zu dienen scheint. Er beanspruche das Urteil über die Toten, das den Göttern gebühre, für sich. "Schauerlich" klängen für den Hörer die Worte des Chors an Kreon. "Denn jede Satzung anzuordnen steht dir frei, / so für die Toten, wie für uns, die Lebenden." Er wolle rational im Interesse der Polis handeln, doch lasse er "abergläubisch die Strafe an Antigone so vollztiehen", dass "keine Befleckung die Stadt treffe". Kreon werde "trotz seiner treffiichen Maximen" zum Tyrannen. Er ersticke im Volk jedes freie Wort. Die Stadt gehorche nach seiner Auffassung jenem, den sie mit der Herrschaft betraute, "im Kleinen und Gerechten und im Gegenteil'. Der Wille Kreons werde je149 Vgl. Buhmann: Glauben und Verstehen Zweiter Band (s. Anm. 13). S. 5.
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doch durchkreuzt von der Macht des Todes, aber auch des Eros. In seinem Sohn Hämon verbinde sich das Rechtsgefühl mit der Liebe zu Antigone. Bultmann vergleicht den Wächter, der als Gegenbild zu Kreon über die Relativität von Lust und Schmerz reflektiert, mit dem Narren Shakespeares. 15o Bultmann hört in den Akklamationen des Chores an Kreon offenbar die Massen, die damals Hitler zujubelten. Sein Schüler Heinrich Schlier schrieb, ebenfalls in der Festschrift für Karl Barth, über das 13. Kapitel der Offenbarung Johannis. Dabei sagte er, man huldige dem Antichrist, wenn man jemanden {wie schon den römischen Kaisern} "Heil" zurufe. Bultmann steht mit seiner Interpretation in vielfacher Weise im Gegensatz zu Heidegger. Für ihn liegt die Rolle des Chores nicht darin, in seinen Strophen das tragische Geschehen in höchster dichterischer Steigerung zum Ausdruck zu bringen. Er bindet apolis und hypsipolis nicht zu einem Oxymoron zusammen. Nicht Hölderlin, sondern Shakespeare tritt zu Sophokles. Dagegen sieht Heidegger Goethe als ein "Verhängnis", da dieser {mit Herder} Sophokles und Shakespeare verbunden habe. 151 Bultmanns Aufsätze zeigen, dass er auch das Verhältnis von Griechentum und Christentum, aber auch die Rolle des Humanismus anders fasste als Heidegger. In der Wirkung Bultmanns wurden diese Aufsätze jedoch überschattet durch die Forderung einer "Entmythologisierung". Als Buhmann sie vortrug, fand er unmittelbar eine große Resonanz, vor allem auch durch den Widerspruch. Bultmanns Aufsatz zur Entmythologisierung erschien 1941 in seiner Schrift Offenbarung und Heilsgeschehen. Er trägt den Doppeltitel Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung. Bultmann hatte seine Thesen vorher vorgetragen; die breitere Diskussion setzte unmittelbar ein. Keine andere Erörterung eines theologischen Problems erreichte eine ähnliche Extensität und Intensität. Es ging um Fragen, durch die die Kirchen ihr Bestehen bedroht sahen; sie erbaten sich Gutachten. Wie konnte man bei dieser kritischen Sicht des Neuen Testamentes noch auf Grund der Bibel predigen?152 Julius Schniewind reagierte kurz vor seinem Tode mit einer Antwort an Rudolf Bultmann; sein erster Zwischentitel lautete: Bultmanns Aufsatz behandelt eine Frage, deren Ernst kein Prediger verkennen kann. Es ging aber nicht nur um Theologie und um Probleme der Kirchen, sondern überhaupt um die Frage, was die Religion und was der Mythos dem Menschen bedeuten könne. Im ersten Satz hält Bultmann fest, dass das "Weltbild" des Neuen Testaments ein mythisches sei. Danach sei die Welt gegliedert in "Stockwerke". Die Unterwelt werde als Hölle der Ort der Qual, die Erde in der Mitte der Wohnort der 150 Ebenda S. 20 Ir., vor allem 24 f., 28, zum folgenden 25. Vgl. ferner Schliers Aufsarz jerzt in Heinrich Schlier: Die Zeit der Kirche. Exegetische Aufsärze und Vorträge. Freiburg 1958. S. 16 ff., vor allem 23. 151 Vgl. Martin Heidegger: Parmenides (Gesamtausgabe Band 54). Frankfurt am Main 1982. S.108. 152 Ich zitiere den Aufsatz nach der Wiedergabe in Kerygma und Mythos. Ein theologisches Gespräch. Hrsg. von Werner Bartsch. Band 1. 2. Aufl. Hamburg-Volksdorf 1951. S. 15 ff. - Zum folgenden vgl. S. 77.
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Menschen. Oben sei der Himmel mit seinen himmlischen Gestalten. Wunder kennzeichneten das Geschehen; Gottes Sohn, ein präexistentes Gotteswesen, gekreuzigt und aus dem Grab auferstanden, werde als Richter wiederkommen. Die "mythologische" Rede wird auf die jüdische Apokalyptik und den gnostischen Erlösungsmythos zurückgeführt. Alles das sei für den heutigen Menschen aber das Weltbild einer vergangenen Zeit. "Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Heuen Testaments glauben." Karl Barth eliminiere in seiner Auferstehung der Toten die kosmische Eschatologie. Er könne sich darüber täuschen, dass das eine Kritik an Paulus sei, weil er "durch gewaltsame Interpretation alles Mythologische" fortschaffe - "ein unmögliches Verfahren". Werde der Mythos aufgefasst nach seinem eigentlichen Sinn, dann spreche er davon, wie der Mensch sich in seiner Welt verstehe. Deshalb müsse er "anthropologisch" oder besser "existential" interpretiert werden. 153 Die Mythologie des neutestamentlichen Weltbildes müsse schon deshalb entmythologisiert werden, weil die einzelnen Vorstellungen gedanklich nicht ausgeglichen, ja widersprüchlich seien. Doch dürfe nicht, wie in der kritischen Theologie des 19. Jahrhunderts, mit dem Mythos auch das Kerygma, die Verkündigung, eliminiert werden. In der älteren liberalen Theologie (etwa bei Harnack) sei das Kerygma auf religiös-sittliche Grundgedanken reduziert worden. In der religionsgeschichtlichen Schule sei Religion letztlich zur Mystik geworden; bei Troeltsch werde Christus zum Kultsymbol der christlichen Gemeinde. Damit falle die Verkündigung vom entscheidenden Handeln Gottes in Christus weg. Bultmann versucht dann, den "Vollzug der Entmythologisierung in Grundzügen" darzulegen. Der Mensch außerhalb des Glaubens wolle sich aus dem sichern, was ihm verfügbar sei. Demgegenüber lebe der Mensch im Glauben aus dem Unverfügbaren der Gnade. In der "Entweltlichung" habe er Distanz zur Welt, doch sei das nicht einfach Askese, sondern die Freiheit, die alles gewinnen könne vom Zuspruch Gottes her. Die apokalyptische und die gnostische Mythologie seien in der christlichen Verkündigung insofern entmythologisiert, als die Heilszeit mit Jesus Christus angebrochen sei. Kann also, was im Glauben zugesprochen wird, unmythologisch entfaltet, kann die Theologie zur bloßen Vorgängerin der Philosophie werden? Wilhelm Dilthey und der Graf Paul Yorck von Wartenburg sahen jedenfalls in der christlichen Dogmatik den Versuch einer Ontologie des geschichtlichen Lebens. Jaspers und Heidegger folgen Kierkegaard, indem sie dessen Theologie in die Sphäre der Philosophie überführen. Vor allem scheine Heideggers existenziale Analyse des Daseins "nur eine profane philosophische Darstellung der neutestamentlichen Anschauung vom menschlichen Dasein zu sein. Der Mensch, geschichtlich existierend in der Sorge um sich selbst auf dem Grunde der Angst, jeweils im Augenblick der Entscheidung zwischen der Vergangenheit und der Zukunft, ob er sich verlieren will an die Welt des Vor153 Ebenda 5.18,21 f, zum folgenden 24 f.
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handenen, des ,man', oder ob er seine Eigenclichkeit gewinnen will in der Preisgabe aller Sicherungen und in der rückhalclosen Freigabe für die Zukunft!" Statt dem Programm der Entmythologisierung die Philosophie Heideggers vorzuzwerfen, solle man "lieber darüber erschrecken, dass die Philosophie von sich aus schon sieht, was das Neue Testament sagt". Abgewiesen wird Wilhelm Kamlahs Versuch, den christlichen Glauben als Forderung der "natürlichen Hingabe" des Menschen an das Sein zu sehen. In der Todesentschlossenheit Heideggers findet Buhmann eine "radikale Eigenmächtigkeit". Buhmann betont (wie Heidegger es 1924 in Bultmanns Seminar tat), dass der Mensch ein Sünder sei und der Gnade bedürfe. Er selbst stellt die Frage oder nimmt sie aus den Marburger Diskussionen auf: "Ist der Begriff der Sünde ein mythologischer Begriff oder nicht?" Wenn dem Menschen die Liebe Gottes begegne und er seine Existenz als Geschenk erfahre, dann sehe er, dass der Mensch, der in der Sünde als "Eigenmächtigkeit und Verfallenheit" lebe, durch die Gnade von sich selbst befreit werde. ls4 Es geht um die Offenbarung der Liebe Gottes in Christus. ,,Als Heilsgeschehen ist also das Kreuz Christi kein mythisches Ereignis, sondern ein geschichtliches Geschehen, das in dem historischen Ereignis der Kreuzigung Jesu von Nazareth seinen Ursprung nimmt." Die Jünger erfuhren die Kreuzigung als Frage an ihren Glauben noch aus der persönlichen Verbundenheit mit Jesus; wir wissen von ihr als historischem Ereignis nur durch historischen Bericht. ,,Aber so wird der Gekreuzigte im Neuen Testament auch gar nicht verkündet, dass sich der Sinn des Kreuzes aus seinem historischen - durch historische Forschung zu reproduzierenden - Leben erschlösse ... " Wir können in der Kirche die apostolische Botschaft von Kreuz und Auferstehung glauben, wenn wir das Ostergeschehen in uns vollziehen. "Christus, der Gekreuzigte und Auferstandene, begegnet uns im Worte der Verkündigung, nirgend anders." Das Wort der Verkündigung gehört selbst in das eschatologische Heilsgeschehen. Buhmann fragt, ob ein "mythologischer Rest" bleibe. Das wäre nur dann der Fall, wenn man die Rede von Gottes Handeln als Mythologie fasste. Doch diesse Mythologie wäre dann nicht mehr "Mythologie im ahen Sinne, die mit dem Untergang des mythisches Weltbildes versunken wäre". Die Frage bleibt, welchen Mythosbegriff Buhmann eigentlich verwendet. Darüber haben Buhmanns Anhänger Christian Hartlich und Waher Sachs klare Auskunft gegeben: Es ist der Begriff des Mythos als einer vergangenen Denkform, wie er von dem Göttinger Altphilologen Heyne aufgestellt und vor D. F. Strauß von der "Mythischen Schule" der Theologen Eichhorn, Gabler und G.L. Bauer erkannt wurde. ISS Zu fragen bleibt auch, in welcher Weise die existenziale Interpretation die Existenzialien von Sein und Zeit nimmt. Hier gibt Buhmann die klare Antwort, dass sie "den Sinn zeitloser Wahrheiten haben und, soweit sie zu154 Ebenda S. 33 f., 37 f., zum folgenden 43 f., 46 ff. 155 Vgl. Kerygma und Mythos. II. Band: Diskussionen und Stimmen zum Problem der Entmythologisierung. Hrsg. von Hans Werner Bartseh. Hamburg-Volksdorf 1952. S. 122, zum folgenden 201.
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treffend sind, als solche gelten können". In Sein und Zeit ist die Phänomenologie aber zugleich systematische Konstruktion und geschichtliche Destruktion; ob die Existenzialien zeitlos gelten oder ein bestimmtes geschichtliche Menschentum charakterisieren, bleibt offen. Buhmann ist demgegenüber zwar bereit, Ergänzungen in Heideggers existenziale Analyse einzubringen (so das Dialogische). Doch mit diesen Ergänzungen soll die existenziale Analyse für den Menschen überhaupt gelten. Gibt es aber nicht neben der abendländischen Kultur andere Kulturen und dazu die menschliche Frühgeschichte, die in ihrer Eigenart schwerlich von Sein und Zeit aus erfasst werden können? Rudolf Bultmann hatte 1936 die Antigone-Tragödie des Sophokles vom christlichen Selbstverständnis abgehoben. Er veröffentlichte 1940 den Aufsatz Das Verständnis von Welt und Mensch im Neuen Testament und im Griechentum. Danach sind im Griechentum die Götter mit der Polis und ihrer Entfaltung verbunden. So besteht die Gefahr, dass "der Gedanke der Gottheit den Sinn der jenseitigen, den Menschen unverfügbaren Macht" verliert. Die Tragiker sehen, dass die Polis aus den Fugen geraten muss, wenn der Mensch in der Hybris die jenseitige Bindung verliert. Bultmann kommt zu einem grundsätzlichen Urteil: "Die griechische Religion hatte nicht die Kraft, den Menschen in den Schranken der Menschlichkeit zu halten." Die Stoa lasse sich durch die Vorsehung zur Weisheit führen. Das Neue Testament kenne eine solche Vorsehung nicht: Gottes Gerichte seien unergründlich, seine Wege unerforschlich! Im 19. Jahrhundert bewege die Frage nach Griechentum und Christentum wieder die tiefsten Geister: "Sokrates und Christus ist das Problem Kierkegaards, Christus und Dionysos ist die Frage, an der Nietzsche zerbricht." Doch muss der Mensch sich wie die Griechen der Welt bemächtigen; um dieser Weltbemächtigung willen bedarf er der Wissenschaft wie der Politik. Die christliche Existenz ist dagegen eine eschatologische; die christliche Gemeinde gibt den Staat als profanen frei. Der Christ nimmt alles nur auf aus der Distanz des "aIs ob nicht". 156 In anderen Aufsätzen entfaltet Bultmann dieses Miteinander eines nötigen Humanismus und der eschatologischen Christlichkeit weiter. Was bei Heidegger negativ mit einer Metaphysik als Weltbemächtigung verbunden wird (Humanismus und Christentum), das wird als etwas Positives von Bultmann festgehalten und zur Synthese gebracht. Bultmanns Aufsatz von 1949 aus den Schriften der Wittheit zu Bremen Das Christentum als orientalische und als abendländische Religion führt auch an, dass das Thema Christus und Dionysos oder Christus und Herakles bei Hölderlin erscheine und dann Nietzsche bedränge. Die Wirkung von Dostojewski, Tolstoi und Ljeskoff im Westen bezeuge aber, dass das Problem Hölderlins und Nietzsches nicht zur menschlichen Existenz überhaupt gehöre, sondern "etwas Künstliches, Fremdes" bleibe. Damit vollzieht Bultmann eine entschiedene Abwehr von Heideggers Weg mit Hölderlin, der nach Bultmanns Auffassung von der geschichtlichen Wirklichkeit weg ins Gekünstelte führt. 156 Vgl. Buhmann: Glauben und Verstehen. Zweiter Band (s. Anm. 13). S. 59 ff., vor allem 61, 62,67,76 ff., zum folgenden 208.
B.
OFFENBARUNG ALS GESCHICHTE?
Als Martin Heidegger am 27. August 1970, zum zweihundertsten Geburtstag Hegels, ein Vorwort zur deutschen Ausgabe seines Vortrags Phänomenologie und Theologie schrieb, verwies er darauf, dass vor bald hundert Jahren, nämlich 1873, gleichzeitig zwei Schriften zweier Freunde erschienen seien. Nietzsche habe im ersten Stück seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen (gegen den späten David Friedrich Strauß als Bildungsphilister) den "herrlichen Hölderlin" genannt. Franz Overbeck habe in seinem "Schriftchen" Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie die "weltverneinende Enderwartung als den Grundzug des Urchristlichen" festgestellt. Die beiden Schriften müssten auch in der "heutigen veränderten Welt" die "wenigen Denkenden" in das Verharren führen vor dem "Unzugangbaren" (wie Heidegger mit Hölderlins Patmos-Hymne sagt). Schwerlich hat Heidegger die Theologen dazu bringen können, ihm in diese Zuwendung zu Hölderlin zu folgen. Sicherlich hatten der Theologe Heinrich Buhr und der Philosoph Walter Bröcker ein Büchlein Zur Theologie des Geistes veröffentlicht (Pfullingen 1960). Sie sagten im Vorwort. "Die Korrektur der theologia crucis durch die theologia spiritus, deren Vorkämpfer Hegel und Hölderlin gewesen sind, ist keineswegs eine abwegige Ketzerei. Ihre Quelle ist das Johannes-Evangelium und ihre feierliche Sanktion der dritte Artikel des Glaubensbekenntnisses." Die Kirche konnte den Theologen nur mit dem Ausschluss bedrohen. Heidegger meinte damals (mir gegenüber im Gespräch), die beiden seien zu früh vorgeprescht. Er selber blieb dabei, von Hölderlin her auch die überlieferte christliche Theologie neu zu überdenken. 157 Heidegger hatte im Wintersemester 1934/35 in seiner Hölderlin-Vorlesung es sowohl Dilthey wie den Germanisten bestritten, dass sie Hölderlin wirklich zu sehen bekämen. Doch zeichnete er unter den Literaturwissenschaftlern Max Kommerell aus. Als dieser so früh starb, sagte Heidegger am 25. Juli 1944 in seiner Heraklit-Vorlesung, Kommerell habe als Professor für deutsche Literaturgeschichte die "Fragwürdigkeit dieses Faches mit hellem Sinn durchgelitten". "Er war ... der einzige seines Faches, mit dem ich zeitweise fruchtbare Gespräche über die geschichtliche Bestimmung des Denkens und Dichtens pflegen durfte." Kommerell hatte mit seinem "Meister" 5tefan George gebrochen; er wurde von diesem dann als "Kröte" verfemt. (Kröten können freilich auch eine Krone tragen, ein Prinz kann sich in ihnen verbergen, bei Kommerell nach George wohl nur ein gewesener Prinz.) Max Kommerell wusste, dass 157 Vgl. Heidegger: Phänomenologie und Theologie (s. Anm. 127). S. 8. - Zum folgenden vgl. Klassiker in finsteren Zeiten. 1933-1945. Eine Ausstellung des deutschen Literatur-Archivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar. Band I. 1983. S. 362; vgl. ferner Max Kommerell: Briefe und Aufzeichnungen 1919-1944. Aus dem Nachlass hrsg. von lnge Jens. Olten und Freiburg im Breisgau 1967. S. 403, 396, 405, 452.
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Heidegger sich Hölderlin von Norbert von Hellingrath her genähert hatte. Er erhielt von Heidegger 1941 die Rede Hölderlins Hymne" Wie wenn am Feiertage... ': Kommerell schrieb am 22. 12. 1941 an Hans-Georg Gadamer über Heideggers "Essay": "Er ist ein produktives Eisenbahn-Unglück, über das die Eisenbahnwärter der Literaturgeschichte die Hände über dem Kopf zusammenschlagen müssen (soweit sie ehrlich sind)." Heidegger wies am 9. 8. 1942 gegenüber Kommerell dessen Kritik zurück, er habe sich vom Fragwürdigbleibenden aus Sein und Zeit zu Hölderlin hin gerettet. "Das Ausstehen des Fragwürdigen ist heute anfänglicher und so entschieden, dass auch keine christliche Theologie mehr in dieser Philosophie einen mit Vorbehalten bewaffneten Unterschlupf finden kann." Die polemische Spitze gegen Bultmann ist deutlich. Doch begrüßte Kommerell es am 7. 6. 1944 schon vom Krankenbett aus gegenüber Bultmann, dass auch dieser unter den "alten fruchtreichen und schattenspendenden Baum" Goethes trat. "Welcher furchtbare Rechenfehler unserer guten Freunde, die wacker auf den Planken der wissenschaftlichen Selbstkontrolle, die sie für wurmstichig halten, auf den Magnetberg eines neuen Mythos selbstmörderisch lossteuern, diesen Geist in ihren Registern vergessen zu haben." Sei Goethes differenzierte Haltung zum Christentum im Grunde "nicht christlicher als die sich doch furchtbar hybrid und eigenwillig an ihm vergreifende Christologie eines Hölderlin, eines Novalis? Ich bin der letzte, der leugnete, dass die bezüglichen Gedichte Hölderlins sprachliche Schätze sind, aber sind sie nicht, wenn man davon absieht, arge und nur bei uns mögliche Greuel? Goethe hätte sich lieber in den Ärmel geschneuzt als so etwas gemacht." Konnte man wirklich die christliche Schriftauslegung mit Goethe verflechten, den Bezug auf Hölderlin und Novalis mit einem Fragezeichen versehen? Oder musste auch die Schriftauslegung aus den Erfahrungen der Zeit heraus in neue Konstellationen eintreten? Rudolf Bultmann konnte vom 7. Februar bis 2. März 1955 in Edinburgh die Gifford Lectures halten. Diese erschienen 1957 unter dem Titel History and Eschatology. Die deutsche Übersetzung Geschichte und Eschatologie wurde 1958 in Tübingen vorgelegt. Indem Bultmann die Geschichte zum Problem macht, stützt er sich auf Schüler und Gefährten wie Gerhard Krüger und Erich Frank. Er fragt nach dem Wesen der Geschichte; so setzt er sich ab von Karl Löwith, der mit seinem Buch Meaning in History von 1949 den Sinn des Geschichtsganges im ganzen zum Thema gemacht hatte. (Die deutsche Übersetzung des Buches trug den Titel Weltgeschichte und Heilsgeschehen.) 158 Bei Vico, mehr noch bei Herder, vollends bei Spengler und Toynbee sieht Bultmann die Frage nach dem Sinn der Geschichte "naturalisiert". Mit einem kritischen Begriff des jungen Heidegger sagt Buhmann, dass diese Betrachtung der Geschichte als eines Spiels der Kräfte, die in der Natur des Menschen angelegt seien, "wesentlich ästhetisch" sei. Es muss überraschen, dass Buhmann Heideggers Frage nach der Geschichtlichkeit des Daseins durch Croce und mehr noch durch Collingwood beantwortet sieht. Diese 158 Vgl. Rudolf Buhmann: Geschichte und Eschatologie. Tübingen 1958. S. 12, zum folgenden 94, 170 ff., 117 ff.
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folgen ja eher hegelianischen Traditionen. Das Problem des Historismus, mit dem Troeltsch sich befasst hatte, sei gelöst im Aufweis des Wesens (idea) von Geschichte. Da die Geschichte als Geschichte des Menschen gesehen wird, bezieht Bultmann sich (wie schon Gogarten in einer großen Rezension) auf die Geschichte der abendländischen Literatur, die von Erich Auerbach 1946 unter dem Titel Mimesis vorgelegt worden war. Erich Auerbach stellt heraus, dass die Könige und Helden der Griechen immer so sind, wie sie einmal auftreten. Im Alten Testament habe David eine Geschichte, die von dem jungen Steinschleuderer zum alten König führe. In der Passion Christi gehe es um die letzten Dinge im alltäglichen Geschehen. Daran knüpfe schließlich noch der existenzielle Realismus der modernen Romane an. Diesen existenziellen Realismus sucht Bultmann zu öffnen für das Verhältnis des gläubigen Menschen zu den Aufgaben, vor die die Geschichte führt. Als ich Heidegger nach seinem Urteil über Bultmanns schottische Vorlesungen fragte, sagte er, sein Bruder (Sparkassendirektor in Meßkirch) habe ihm das Buch sofort entführt. Dieser interessiere sich für solche Dinge. (Heidegger tat das also nicht.) So konnte Heidegger Bultmann gegenüber dessen Edinburgher Engagement begrüßen, ohne sich näher darauf einzulassen. Ähnlich verhielt er sich zu Erich Auerbach. Beim Hinweis auf dessen Buch sagte er nur, in seiner Marburger Zeit sei Auerbach doch dort Bibliothekar gewesen. (Selbstverständlich konnte man damals noch nicht wissen, wie die Kritiker der Yale-Universität die Anstöße von Curtius und Auerbach fortsetzten. Dabei konnte Harold Bloom wieder Curtius gegen Auerbach ausspielen und Dante als ,,Autor einer persönlichen Gnosis" verstehen. 159) Von Curtius hatte Heidegger im Gedächtnis, dass er im GoetheJahr 1949 brüsk die vorsichtige Goethe-Kritik von Jaspers zurückgewiesen und so eine nötige Diskussion zu verhindern versucht hatte. Dass Curitus und Auerbach vom lateinischen Mittelalter her Wege zur unserer Welt suchten, hätte Heidegger von seiner einstigen Beschäftigung mit Duns Scotus her interessieren können. Doch inzwischen erwartete er mit Hölderlin einen anderen geschichtlichen Anfang aus dem Zwiegespräch der Deutschen mit den Griechen. Ich hatte mein Studium mit einer Dissertation Hegels Kritik der Romantik abgeschlossen, weil die Bonner philosophische Fakultät nach der Emeritierung von Curtius eine Arbeit zur Toposforschung vorweg zurückwies, die von den Griechen über das Mittelalter bis zur Neuzeit führen sollte. Ein Forschungsaufenthalt in Paris 1957 lenkte die Aufmerksamkeit auf die dortige Heidegger-Rezeption. Diese erschloss ich mir vor allem von den Arbeiten Jean Wahls her. Wahl hatte schon früh auf den jungen Hegel verwiesen, aber auch mit den Anstößen sich befasst, die von Kierkegaard für die Ausbildung der Existenzphilosophie ausgegangen waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte er in Paris viele Jahre lang Heideggers Philosophieren dar; Vorlesungsnachschriften konnte man an den Ausgängen der Sorbonne kaufen. (Sie waren auch in die Bonner Bibliotheken 159 Vgl. Harold Bloom: Die heiligen Wahrheiten stürzen. Dichtung und Glaube von der Bibel bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main 1991 (Ruin the sacred truths. 1989). S. 44.
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gelangt.) Dazu trat ein Traktat über Metaphysik. Jean Wahl publizierte auch Vorträge von Levinas, und so war es nur konsequent, die Aufmerksamkeit auch auf diesen zu richten. So kam es zu Seminaren, die ich gemeinsam mit Levinas in Löwen halten konnte. 16o Levinas hatte verfolgt, wie Heidegger die Phänomenologie Husserls umgewandelt hatte. In Anknüpfung an Franz Rosenzweig stellte er von der jüdischen Tradition aus dann die Ethik als Königsweg der Philosophie gegen die "ästhetische" Orientierung, für die Heidegger Hölderlin einzusetzen schien. Konnte nicht der Lyriker Paul Celan, dem ich (noch vor Heidegger) meine neue Orientierung verdankte, die Forschungen Gershorn Scholems zur Geschichte der jüdischen Mystik nutzen, um eine Weltdeutung in der Zeit der Verfolgung zu gewinnen?161 Der Frage ließ sich nicht ausweichen, welche Bedeutung die hebräische Bibel hatte, die christlich zum ,,Alten Testament" herabgesetzt worden war. In meiner Bonner Studienzeit war Martin Noth der dominierende Alttestamentler. Er konnte die Geschichte, von der das Alte Testament sprach, einordnen in die vorderasiatische Geschichte. Mit meiner Habilitation in Heidelberg kam mir dann Gerhard von Rad nahe; er hatte in den Jahren 1957 und 1960 eine Theologie des Alten Testaments erscheinen lassen. Diese zeigte, dass das Alte Testament von einer Heilsgeschichte spricht, in der eine Offenbarung mit ihren unterschiedlichen Schritten in einen übergreifenden geschichtlichen Zusammenhang gehört. Schon die Auseinandersetzung zwischen Martin Buber und Martin Heidegger hatte die Frage nahegelegt, welches Geschichtsverständnis in der griechischen Tragödie, in der Prophetie des Alten Testaments, in der christlichen Botschaft herrsche. Rudolf Smend hat eine Sammlung seiner Aufsätze zum Alten Testament unter dem Titel Bibel und Wissenschaft mit einem Vortrag Richtungen. Ein Rückblick auf die alttestamentliche Wissenschaft im 20. Jahrhundert beschlossen. Er zitiert dort am Ende Gerhard Ebeling, der 1975 zurückblickte auf einen ,,Aufschwung" der alttestamentlichen Forschung, "der ihr im Konzert der theologischen Disziplinen sogar zeitweise eine Führungsrolle verlieh" .162 Auf dieser biblischen Basis und von Forschungen zu Luther und Schleiermacher aus konnte Ebeling eine dreibändige Dogmatik des christlichen Glaubens wagen. In seinen Luther-Studien behandelt der Band II Disputatio de homine die vierzig Thesen Luthers, die unter dem Titel 160 Vgl. den Bericht von Käte Meyer-Drawe, in: Phänomenologische Forschungen 15 (1983). S. 148 ff. - Vgl. ferner Otto Pöggeler: Anderheit, Unendlichkeit, Zeit. Die Wahrheitsfrage bei Levinas. In: Facetten der Wahrheit. Festschrift für MeinolfWewel. Hrsg. von Ernesto Garzon Valdes, Ruth Zimmerling. Freiburg / München 1995. S. 151 ff. - Vgl. auch Otto Pöggeler: Jean Wahls Heidegger-Deurung. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 12 (1958). S.437-458. 161 Vgl. die zusammenfassenden Bände Otto Pöggeler: Spur des Worts. Zur Lyrik Paul Celans. Freiburg / München 1986; Der Stein hinterm Aug. Studien zu Celans Gedichten. München 2000. 162 Vgl. Rudolf Smend: Bibel und Wissenschaft. Historische Aufsätze. Tübingen 2004. S. 279. Zum folgenden vgl. Gerhard Ebeling: Dogmatik des christlichen Glaubens I-III. Tübingen 1979.
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De homine aus dem Jahr 1536 überliefert sind. Im Vorwort berichtet Ebeling über seine jahrzehntelange Arbeit an diesem Text. Er sei erstmals im Wintersemester 1954/55 auf diesen Text ausführlich eingegangen. "Sodann gab ein vierstündiges Seminar im Wintersemester 1960/61 über das Thema ,Die Philosophie Martin Heideggers und die Theologie' Gelegenheit, die bei den letzten Sizungen im Beisein Heideggers und unter dessen lebhafter Mitwirkung diesem Text zu widmen."163 Die Definitionen des Menschen als des Wesens, das den Logos hat, und des politischen Wesens haben zum arbor Porphyriana geführt. In der Neuzeit entzieht sich der Mensch der Festlegung zugunsten des Bezugs auf immer neue Möglichkeiten. (Diese Entwicklung führt zu Nietzsche und Sartre.) Luther fasst den Menschen von der Sünde her, so dass er erst durch Gottes Wort zur Rechtfertigung kommt. So hatte auch Heidegger es 1923/24 in Bultmanns Seminar gesagt. Doch kann man den Heidegger der sechziger Jahre noch von daher sehen? Alfred Jäger hat in seiner Baseler Habilitationsschrift von 1977 das Verhältnis zwischen Heidegger und den verschiedenen Theologen herausgearbeitet. Der umfassende Bericht zeigt eine Fülle, die hier nicht wiedergegeben werden kann. Jäger vermerkte auch ein Paradox: Während der Bultmann-Flügel in der Theologie Heidegger durchgehend nahe ist, aber durch Heideggers Wege schließlich irritiert wird, gelangt der Barth-Flügel in seiner eher negativen Einstellung zu Heidegger zu einer Auseinandersetzung mit dem Philosophen. 164 Das legte auch Heidegger selbst nahe, der mündlich immer wieder auf Heinrich Ott (den Lehrer Jägers) verwies. Wenn er freilich nach dem Zweiten Weltkrieg Basel besuchte, dann nicht zu Gesprächen mit den Gegnern Kar! Jaspers oder Karl Barth, sondern zur Besichtigung der Bilder von Paul Klee und anderen Malern. Ich selbst habe 1982 in der Festschrift für Gerhard Ebeling darauf hingewiesen, dass Heidegger schon mit den (damals noch ungedruckten) Beiträgen zur Philosophie die überlieferte christliche Theologie von Nietzsche und Hölderlin her in Frage stellt und mit der Kunst und der Dichtung neue und andere Wege zum Göttlichen sucht. Das führt zur Frage, ob man mit Gerhard Ebeling einseitig sagen darf, dass die Auferstehungsdarstellungen der christlichen Kunst einen "eindeutig anderen Charakter" haben als die Auferstehungsgeschichte der Evangelien. Darf eine christliche Glaubenslehre sich vor allem auf die protestantische Kirchenmusik beziehen, die mittelalterlich-neuzeitliche Malerei und die späten Hymnen Hälderlins beiseite lassen und nicht als Herausforderung nehmen? Rudolf Smend ist in seiner Darstellung Bibel und Wissenschaft nicht belastet durch die Heidegger-Frage; der Name des Philosophen kommt zu Recht in seinen Untersuchungen zur Geschichte der Auslegung des Alten Testaments nicht vor. Der angeführte Rückblick geht aus von einem Vortrag Rudolf Kittels aus dem Jahre 1921 über Die Zukunft der alttestamentlichen Wissenschaft. Kittel gab 163 Vgl. Gerhard Ebeling: Luther-Studien Band II. Disputatio de Homine. Erster Teil. Tübingen 1977. S. IX 164 Vgl. Alfred Jäger: Gott. Nochmals Martin Heidegger. Tübingen 1978. S. 100. - Zum folgenden vgl. Otto Pöggeler: Heidegger und die hermeneutische Philosophie. In: Verifikationen. Hrsg. von E. JüngeI, J. Wallmann, W. Werbeck. Tübingen 1982. S. 475 ff.
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Julius Wellhausen eine herausragende Bedeutung, wenn auch eher eine negative: In Zukunft soll nicht weiterhin textkritisch jenen Texten der Quellenwert abgesprochen werden, die von Israel in der Zeit vor dem Exil sprechen. Die vorderorientalische Altertumskunde und die Archäologie in Palestina hätten "das bisherige Altertum der mosaischen und unmittelbar vormosaischen Zeit ... zu einem palästinischen Mittelalter, ja zu einer Spätzeit" herabsinken lassen. Hinzugetreten sei die Religionsgeschichtliche Schule mit ihrer Untersuchung der "Formen und Gattungen, Sagen und Märchen im internationalen Vergleich". Die Konservativen (wie Kittel selbst) suchten das Erbe der älteren Auffassungen der Synagoge und der Kirche zu erhalten und zu vertiefen. Kittels Leipziger Nachfolger Albrecht Alt habe dann mit seinen Schülern Martin Noth und Gerhard von Rad die Zukunft der Wissenschaft getragen. 165 Smend verweist darauf, dass am Anfang des 20. Jahrhunderts nach dem Fund der Gesetzesstele des Königs Hammurapi der Babel-Bibel-Streit stattfand: Was übernahm die Bibel aus dem Altorientalischen? Der Journalist Keller konnte 1955 den Bestseller Und die Bibel hat doch recht auf den Markt werfen; der Untertitel lautete Forscher beweisen die historische Wahrheit. (Grabungsergebnisse zeigten jedoch, dass es die behauptete Zerstörung Jerichos bei der israelischen Einwanderung nicht gegeben hat.) Gunkel und sein norwegischer Schüler Mowinckel konnten die Psalmen mit dem Kult verbinden, nämlich viele von ihnen zurückführen "auf ein hypothetisches Fest der Thronbesteigung Jahwes". Vorträge zum hundertsten Geburtstag von Martin Noth und zum hundertsten Geburtstag von Gerhard von Rad stellen Noth vor als den "Historiker" des Alten Testaments, von Rad als dessen "Theologen". Wenn Noth die Gestalt des Moses auf ein Minimum zurückführte, erregte er auch den Zorn Gershom Scholems. Gerhard von Rad hat dagegen nach dem Tod Karl Barths an dessen Sohn Christoph von sich geschrieben, auch er gehöre der "Römerbriefgeneration" an. Der zweite Band seiner Theologie des Alten Testaments konnte die "Theologie der prophetischen Überlieferungen Israels" von der Normalität der Geschichte Israels absetzen. Dieser Band läuft auf die "neutestamentliche Erfüllung" hinaus. War nicht Rudolf Bultmanns Orientierung an der Daseinsanalytik von Sein und Zeit überholt einerseits durch Heideggers Verknüpfung der Seinsgeschichte mit der tragischen Erfahrung der Griechen, andererseits durch die Heilsgeschichte, wie das Alte Testament sie entfaltet und auch dem christlichen Glauben vorgibt? An von Rad knüpften 1961 Schüler wie Wolfhart Pannenberg mit der programmatischen Veröffentlichung Offenbarung als Geschichte an. Die Geschichtlichkeit wurde eingeordnet in die Geschichte. Die Offenbarung wurde nicht mehr mit Kierkegaard, Karl Barth und Rudolf Bultmann, zum Teil unter Berufung auf Sein und Zeit, als das angesehen, was senkrecht zur Geschichte in diese einbricht und sich im einmaligen "Augenblick" vollzieht. Nicht nur mit der Seinsgeschichte des späten Heidegger, sondern auch mit Hegels Geschichtsphilosophie und Systematik wurde die Offenbarung so aufgefasst, dass sie als Ge165 Vgl. R. Smend (s. Anm. 162). S. 266 f., zum folgenden 272 f., 278, 184, 194 f.
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schichte mit dem Geschichtsgeschehen gehe. Die Offenbarung als Geschichte konnte zu einer neuen Dogmatik führen, wie sie von Pannenberg denn auch vorgelegt wurde. Zwar geriet Wolfhart Pannenberg 1970 bei den Stuttgarter Hegeltagen in einen grundsätzlichen Widerstreit mit Adriaan Peperzak. 166 Doch konnte Pannenberg Hegel mit der These ins Feld führen, dass die Philosophie zwar die Lehren der Religion auf den Begriff bringe, aber selbst etwas Esoterisches bleibe. Dagegen bringe die Religion durch ihre institutionellen Bindungen die Wahrheit zu allen Menschen. Pannenberg weist die Weisen zurück, in der die Etweckungstheologie Tholucks und auch David Friedrich Strauß wirkungsmächtig Hegel des "Pantheismus" verdächtigt hatten. Doch gibt er zu, dass Hegel dem HistorischZufälligen in der Geschichte nicht gerecht werde. Zweifellos musste das Gespräch der Deutschen mit den Griechen, von dem Martin Heidegger ausging, in den umfassenden Zusammenhang mit der Geschichte Ägyptens und Vorderasiens eingefügt werden. Inzwischen hat sich gezeigt, dass das Verhältnis des Islams zum Westen unter Führung Amerikas den Terrorismus als Macht der Ohnmächtigen in den geschichtlichen Vordergrund gerückt hat. Die Entmythologiesierungsdebatte musste der Einsicht weichen, dass im Mythos die Subjektivität der Menschen ergriffen werde durch das Übergreifende des Numinosen in der Geschichte. Kurt Hübners Buch Irrwege und Wege der Theologie in die Moderne von 2006 zeigt, dass diese Einsicht in den Theologien fehle, die von Schleiermacher und Kierkegaard über Harnack und T roeltsch zu Barth und Bultmann führten. So stellt der Titel von Hübners Buch die Irrwege vor die Wege der Theologie in die Moderne. Abschließend behandelt Hübner Kar! Rahner, Wolfhart Pannenberg und als krönenden Abschluss Joseph Ratzinger. Nach Rahner liege im transzendentalen Bewusstsein ein Transzendieren zu Gott, so dass der Gläubige zum Hörer des Wortes Gottes werden könne. Doch diese These, das Endliche schließe das Unendliche und Absolute ein, überschreite als "metaphysische Spekulation" das, was man mit Kant als tranzendentale Erfahrung bezeichnen könne. Eine Meta-Ontologie, die zwischen den einzelnen Ontologien richte, könne es nicht geben. 167 Wolfhart Pannenberg hatte 1977 und 1983 die Bücher Wissenschaftstheorie und Theologie und Anthropologie in theologischer Perspektive vorgelegt. Doch auch diese wissenschaftliche Grundlegung der Theologie scheitert nach Hübner daran, dass es diese allgemeine Anthropologie nicht gebe. "Ist das Bewusstsein eines Europäers in der Zeit des Mythos nicht ein völlig anderes als das Bewusstsein eines Europäers zur Zeit des aufkommenden Christentums? Will man ernstlich glauben, die ungeheueren Verwerfungen in der Kulturgeschichte aus einer allgemeinen Anthropologie ableiten zu können?" Joseph Ratzinger, heute Papst Benedikt XVI., publizierte in den achtziger Jahren seine Theologische Prinzipien/ehre. Bausteine zur Fundamentaltheologie. Kurt Hübner nimmt diese Prinzipienlehre als krönenden Abschluss des Weges der 166 S. Anm. 29. 167 Vgl. Kurt Hübner: Irrwege und Wege ... (s. Anm. 17). S. 207 f., zum folgenden 254.
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Theologie in die Moderne. Er hebt hervor, dass Ratzinger in Rahners tranzendentaler Theologie die christliche Auffassung vermisst, dass der Mensch nur durch Bekehrung und Umkehr zum Heil findet. Bei Bultmann fehle die Heilsgeschichte als Rahmen für das Kerygma der Verkündigung, das die Glaubenden zur eigentlichen Existenz führe. Das Zweite Vatikanische Konzil habe die Anpassung des Menschen an die Verhältnisse der modernen Welt gesucht und deshalb mit den Fehlern und Irrtümern der Kirche in der Vergangenheit abgerechnet. Das Konzilswesen als nie endende Diskussionen schien zum Modell des Christlichen zu werden. So kam es "zu einer Kette von Irrungen und Wirrungen vornehmlich in Lateinamerika und Europa".168 Joseph Ratzinger hatte seine Kritik schon lange vorher vorgebracht. So hatte er 1985 vor der Düsseldorfer Akademie der Wissenschaften den Vortrag Politik und Erlösung über die sog. Theologie der Befreiung gehalten. Die Theologie der Befreiung von G. Gutierrez wurde 1972 in Salamanca, dann 1973 und öfters auch auf Deutsch publiziert. Ratzinger nahm sie als "Grundlagenwerk". Er berief sich in seiner Kritik auf Martin Kriele, der 1980 (und 1986) über Befreiung und politische Aufklärung geschrieben hatte. Kriele sprach vom Linksfaschismus, meinte mit diesem aber nicht (wie Jürgen Habermas) nazi ähnliche Tendenzen in der Studentenbewegung (bald auch als Wiedertäuferturn angegriffen). Vielmehr kritisierte Kriele die Verbindung des Volksgedankens, des Führerkultes und der sowjet-unterstützten Gewaltbereitschaft. Diese Verbindung habe in Nicaragua die Befreiungsbewegung verdorben, in Kuba zur Diktatur von Fidel Castro geführt. Doch die Volkskirche in Süd- und Mittelamerika sei nicht im dortigen Volk verwurzelt gewesen, sondern bei abgehobenen Intellektuellen im deutschen Volk. Eingefordert wurde dagegen von Kriele der Weg zur Überwindung der Armut hin zu freiheitlichen Zuständen über die Absicherung der Menschenrechte und der Gewaltenteilung in der Demokratie. Im angeführten Akademie-Vortrag unterscheidet Ratzinger in der Beziehung von Theologie und Politik zwei Modelle. Einerseits werde die menschliche Freiheit umgewandelt in ein kollektives und prozessurales Geschehen, das den gesuchten "neuen Menschen" hervorbringen solle. Schon Eusebius und gewisse augustinische (oder pseudoaugustinische) Tendenzen im Mittelalter wiesen voraus auf den Saint-Simonismus und die Ontologie des Noch-nicht-seins von Ernst Bloch. So werde Metaphysik und Politik zu einer Theopolitik verbunden. Andererseits sei von Aristoteles die Politik nicht auf die Metaphysik bezogen, sondern mit einer eigenständigen Ethik in der Praktischen Philosophie angesiedelt und nur so mit der Theologie verknüpft worden. - Die Orientierung der Kritik an den mittel- und südamerikanischen Verhältnissen ist inzwischen durch die Aufmerksamkeit auf die Konfrontation zwischen Amerika als der einzig verbliebenen Weltmacht und den arabischen Staaten überholt worden (mochte auch in Kuba
168 Vgl. Kurt Hübner: Irrwege und Wege ... (s. Anm. 17). S. 280 f., 264 f. - Zum folgenden vgl. Joseph Ratzinger: Politik und Erlösung. Zum Verhältnis von Glaube, Rationalität und Irrationalem in der sogenannten Theologie der Befreiung. Opladen 1986.
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eine Diktatur bleiben, die jedoch aus der lebendigen Geschichte und deren Entwicklungen herausgefallen ist, wenn sie auch von Venezuela aus reaktiviert wird). Freilich muss gefragt werden, ob man die heutigen Positionen der Auseinandersetzung zwischen Weltmacht und Terrorismus in eine abschließende Systematisierung überführen kann. Es gibt eine Fülle anderer weltgeschichtlicher Tendenzen. Der Zen-Buddhismus bleibt für das Denken, das von Heidegger ausgeht, ein Gesprächspartner, ohne dass dieses Gespräch einen Abschluss finden könnte. Franz Rosenzweig hat für das Verhähnis zwischen den Juden und den Christen ebenfalls den offenen Dialog gesucht. Auf Paul Celan und Nelly Sachs folgten viele jüdische Dichter, die auch außerhalb Deutschlands sich der deutschen Sprache bedienten. 169 Rudolf Buhmann stützte sich auf Voegelins Geschichtsdeutung, doch ist der Bezug auf Griechenland und auf das alte Israel inzwischen in neue Zusammenhänge gebracht worden. Die Diskussion über Philosophie und Theologie, die einst von Rudolf Buhmann und Martin Heidegger ausging, muss heute in diese anderen geschichtlichen und systematischen Orientierungen eingebettet werden. Das kann im folgenden nur in einer selektiven, aber vielleicht doch repräsentativen Weise versucht werden. Dabei sollen zuerst Positionen der Bibelwissenschaft, dann des Verhähnisses von Religion und Geschichte betrachtet werden.
169 Vgl. Hartmut Steinecke: Literatur als Gedächtnis der Shoah. Deutschsprachige jüdische Schriftstellerinnen und Schriftsteller der "Zweiten Generation". Paderborn 2005. - Zum folgenden s. Anm. 291 und 292.
I. Bibelwissenschaft
Lässt sich die Exegese der Bibel so weit führen, dass sie aus sich heraus zu einer Dogmatik oder wenigstens zu einer Fundamentaltheologie kommt? Sie müsste dann von den Grundfragen der Menschen her die biblische Tradition aufarbeiten, auch den Gegensatz zur griechischen Dichtung und Philosophie oder die Verbindung mit dieser. Die konkreten politischen und sozialen Fragen der Zeit greifen durchaus in diese Arbeit ein; z.B. wurden sie verbunden mit einer Berufung auf Jesus, der ohne die christologischen Hoheitstitel als Vertreter sozialrevolutionärer Tendenzen vorgestellt wurde. RudolfBultmann hat in seinen letzten Überlegungen, oft zum Befremden seiner Freunde und Schüler, auf diese Aktualisierungen zu reagieren versucht. Seine Schüler hatten vorher auch Heideggers späteres Denken für die Theologie genutzt.
1. Heinrich Schlier / Hans Hübner: Heidegger und die Bibelwissenschaft In dem Gedenkband Erinnerung an Martin Heidegger von 1977 schreibt Heinrich Schlier, dass Rudolf Buhmann in Marburg als Exeget in die Form- und Redaktionsgeschichte, aber auch in die Theologie des Neuen Testaments eingeführt habe. Doch habe es mit der Philosophie Paul Natorps und Nicolai Hartmanns keine wirklichen Berührungspunkte gegeben. Erst mit Heidegger sei ein Philosoph gekommen, der die Situation verändert habe. Binnen eines Semesters seien die Schüler Hartmanns zu Heidegger übergegangen. Heidegger habe fasziniert, weil er "das Denken im Nach-Denken" gelehrt habe. Von den Texten her habe er Aristoteles und die Scholastik (in Marburg bis dahin etwas Fremdes) aufgeschlossen. Er habe an Bultmanns Seminar teilgenommen; aufgefallen sei seine "reiche Lutherkenntnis". Heidegger habe auf einem Nikolausfest in seinem Hause ausgerechnet ihm, Schlier, "ein Bild des jungen Luther" geschenkt. Mit seiner persönlichen Wesensart und seinen Anfängen habe "seine innere Verbindung mit der Dichtung, besonders Rilkes und Hölderlins" zusammengehangen. Schlier bezieht sich auf Paul Celans Gedicht Aufhoher See aus dem Band Mohn und Gedächtnis, wenn er festhält, im Denken des Dichters enthülle die Sprache ein wenig den "fernen Schleier, der uns die Welt verhüllt".17o Wie Gerhard Krüger für Heidegger, so hatte Heinrich Schlier für Bultmann die organisatorischen Aufgaben zu erledigen. Vor allem war es seine Sache, die gnostischen Vorgaben im spätpauli170 Vgl. Heinrich Schlier: Denken im Nachdenken (s. Anm. 116).
BIBELWISSENSCHAFT
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nischen (oder deuteropaulinischen) Werk, vor allem im Epheserbrief, offenzulegen. Die Auseinandersetzung mit der Gnosis, die auch zur Aufnahme gnostischer Motive kommen musste, führte Schlier weit von Bultmann fort. Liest man nebeneinander, was Bultmann und Schlier schließlich über Paulus zu sagen hatten, stößt man auf ganz verschiedene Welten. Wenn Bultmann 1958 in seiner Theologie des Neuen Testaments Paulus behandelt, bringt er zuerst "anthropologische Begriffe" zum Sein des Menschen vor; die Erörterung der Sünde führt dann zum gläubigen Menschen. Schlier geht in seiner Abhandlung Mächte und Gewalten im Neuen Testament 1978 davon aus, dass der Äon sich verfinstert habe, die Götter zum Umtrieb der Mächte und Gewalten geworden seien. Nur die Liebe, erfahren in Christus, könne den Menschen vor der Verführung durch diese Mächte retten. Schliers Buch Grundzüge einer paulinischen Theologie von 1978, das dann wegen Schliers Tod die geplante Fortsetzung nicht fand und zu Schliers theologischem Testament wurde, sieht Paulus von dieser geschichtlichen Entscheidungsstunde her. Als Professor für Neues Testament und Geschichte der alten Kirche in Bonn konvertierte Heinrich Schlier 1953 zur katholischen Kirche. Sein Lehrer Bultmann hatte noch Verständnis dafür aufgebracht, dass Schliers Freund Gerhard Krüger, als Philosoph intensiv der Metaphysik zugewandt, diesen Schritt tat; dass Schlier folgte, blieb ihm unverständlich. Doch ein Blick auf Schliers Werk zeigt, dass der Schritt theologisch vorbereitet war. Schlier konnte dann in der philosophischen Fakultät über altchristliche Literatur lesen und interessierte Hörer aus allen Fakultäten anziehen. Es fiel auf, dass er sich in einer Endzeit sah. Selbstverständlich "entmythologisierten" die meisten Hörer diese Rede. Wie wörtlich sie gemeint war, konnte man später nachlesen. Ähnlich wie er dachte seine Schwester, die Dichterin Paula Schlier, 1899 als Tochter eines Oberstabsarztes in Neuburg an der Donau geboren, ein Jahr vor ihrem Bruder. Paula Schlier erlebte 1923 in München den Putsch Hitlers. Sie sah sich als Petra, als sie 1926 in ihrem Roman Petras Aufzeichnungen oder Konzept einer Jugend nach dem Diktat der Zeit beschrieb, wie Petra die nationalsozialistische Redaktion des Völkischen Beobachters erlebte. Paula Schlier wurde dann Mitarbeiterin des Brenner, der Zeitschrift Ludwig von Fickers. Sie überstand 1942 (als angeblich Wahnsinnige) eine Verhaftung durch die Gestapo. Im Frühjahr 1956 lernte sie die Hellseherin Elisabeth Maria Spelbrink kennen. Diese sagte für die angebrochene Stunde der Entscheidung den Kampf der Engelkräfte gegen den Widersacher voraus (wie Christine Lavant 1956 an Paula Schlier schrieb).171 Ludwig von Ficker fand (als Heidegger Trakl auslegte) in Paula Schliers Gedichten die inspirierte Hindeutung auf "nahe Weltheimsuchungen". Auch Heinrich Schlier versuchte sich im Zweiten Weltkrieg mit Gedichten. Ludwig von Ficker konnte darin nicht die "Krücke der Trakl'schen Reminiszenzen" übersehen. Er, der so vielen half, konnte manches nur erdulden, z.B. das zeitweilige Verhältnis von Christine Lavant zu dem (ver171 Vgl. Ludwig von Ficker: Briefwechsel. Band 4 (1940-1967). Innsbruck 1996. S. 291,552 f., zum folgenden 529, 443, 49.
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heirateten) Maler Werner Berg 1956. 172 Als Christine Lavant 1964 auf den Vorschlag von Fickers den Trakl-Preis erhielt, sah er ihre Verwandtschaft mit Trakl in der "Leiderfahrung". Heinrich Schlier interpretierte 1935 in der Festschrift für Karl Barth die Lehre vom Antichristen nach dem 13. Kapitel der Offinbarungjohannis: Wenn man einem Herrn (wie in der Antike dem römischen Kaiser) "Heil" zurufe und dieser Ruf auch durch amtliche Rundschreiben vorgeschrieben werde, dann sei der mit "Heil" begrüßte der Antichrist. I ?3 Der Bezug auf die damalige politische Lage war eindeutig. In den fünfziger Jahren schrieb Schlier für den Band Die Zeit der Kirche den programmatischen Aufsatz Kerygma und Sophia. - Zur neutestamentlichen Grundlegung des Dogmas. Es ging nicht um die Auseinandersetzung des Paulus mit den Juden, sondern um seine Auseinandersetzung mit den Griechen. Heidegger hatte 1949 im Vorwort zur 5. Auflage seiner Freiburger Antrittsrede Was ist Metaphysik? auf das erste Kapitel des ersten Korinther-Briefes verwiesen, wo Paulus sagt, die Griechen suchten Weisheit, doch habe Gott die Weisheit der Welt zur Torheit werden lassen. Nach Schlier wird das Evangelium entleert, wenn es in der Weise der Griechen als sophia verstanden wird. Doch gebe es auch die Weisheit von Gott her, die sich in der Schöpfung dem Geschöpf mitteile und es erleuchte, so dass es von der Schöpfung auf den Schöpfer verwiesen werde. Es kann das Dogma geben, das aus dem Glauben kommt und allen Dogmatismen entgegentreten muss. In der marxistischen Nutzung Hegels sieht Schlier (in der Situation des "kalten Krieges") die philosophische Tradition als Dogmatismus entlarvt. Die Exegese darf aber nicht nur der Dogmatik entgegengestellt werden; sie führt auch zu jenem Dogma hin, das aus dem Glauben kommt. Im Nachwort zum Sammelband Die Zeit der Kirche betont Schlier, dass das apostolische Kerygma die formalen Züge des Dogmas schon an sich trage. Schlier betont, Paulus sei keineswegs der "eschatologische Enthusiast" und der Gegner des Petrus und Lukas; vielmehr vertrete er die "katholische" Linie. Von der evangelischen Kirche sagt Schlier, sie habe sich auch vom Neuen Testament entfernt, wenn sie kein Dogma oder nicht einmal mehr Bekenntnisformeln anerkenne. Wenn Schlier nach der Bedeutung der Gnosis für Johannes und Paulus fragt, dann weist er den Epheserbrief einem dritten Paulus zu: Der alt gewordene Apostel entfalte nach dem Galaterbriefund dem Römerbriefdie Frage nach dem Volk Gottes und dem Leib Christi, also nach der Kirche. Schlier ließ sich auch 1958 von Heidegger die Leitfragen vorgeben, doch ging er nun von jener Sprache aus, die Heidegger in seinem Spätwerk entfaltet hatte. Kontinuierliche Besuche bei Heidegger verstärkten diese Tendenz. Musste sich das Denken und Dichten aber nicht gegen dieses In-Anspruch-Genommen-werden durch die Theologie wehren? Heidegger ist auf diese theologische Kritik nicht eingegangen. Der Lyriker 172 Vgl. dazu Grete Lübbe-Grothues: Hüt Dich auch vor der Mitternacht. Werner Berg und Christine Lavant. Warmbronn 2003. - Zum folgenden vgl. v. Ficker: Briefwechsel (5. Anm. 171). S.590. 173 Vgl. Heinrich Schlier: Die Zeit der Kirche (5. Anm. 150) .. S. 23, zum folgenden 206, 313. Vgl. ferner Heidegger: Wegmarken (5. Anm. 120). S. 208.
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Paul Celan wehrte sich. Sein Gedicht Mächte, Gewalten aus dem Band Fadensonnen sieht hinter den Mächten und Gewalten die Lepra im Bambus wirken und das Leben unterdrückter Völker zerstören. Dort aber sei Vincent van Goghs "verschenktes Ohr", diese absurde Liebesgeste als Fortsetzung der Kunst, "am Ziel".174 Demnach bringt nicht die theologische Rede, sondern eine neue Kunst und Dichtung die Wende der Zeit. Celans Lesung seiner Gedichte wurde 1958 in Bonn zu einem Ereignis. Sie konnte aufgefasst werden als Fortführung einer Lesung von Rilkes Duineser Elegien, die von der Musik Hindemiths begleitet war. Schliers Buch Besinnung auf das Neue Testament von 1964 sammelt wieder Aufsätze und Vorträge. Die Rede von der Besinnung wird den späten Vorlesungen Heideggers entnommen. Sie betont das Unterwegssein, die Offenheit im Fragmentarischen, die Hoffnung auch auf andere Wege. Diese Besinnung bereitet nach Schlier das Sicheinlassen auf die Geschichte vor, die vom Neuen Testament bezeugt wird. "Mit ihr erst beginnt die Biblische Theologie, die letztlich kaum scientia, wohl aber sapientia ist."17; Zuerst muss die Exegese die Theologie der verschiedenen Schriften und Schriftengruppen des Neuen Testaments erheben, dabei freilich den Kanon der ausgegrenzten Schriften voraussetzen. Die frühen Bekenntnisformeln, die Evangelien, die Paulinische und Johanneische Theologie, die Konfrontation mit der Geschichte in der Offenbarung Johannis verweisen auf ein Ganzes, das in einem potenzierten Sinn fragmentarisch bleibt. So kann der Gnostiker mit seinem Anspruch abgewiesen werden, das Göttliche in sich zu erkennen und mit ihm einszuwerden. Schlier betont, dass das Neue Testament nur Fragmente aus dem mythischen Bestand der apokalyptischen Tradition, des gnostischen Urmensch-Erlöser-Mythos, der hellenistischen Mysterienkulte enthalte. Er behauptet, die Rede Daniels vom kommenden Menschensohn werde in der Anwendung auf Jesus so in die konkrete Geschichte hineingenommen, dass sie "entmythologisiert" und "kritisch interpretiert" sei. Der Glaube, wie Schlier ihn fordert, trägt in sich Entscheidungen über das rechte Denken, Ermahnen und Dichten. Die Zuwendung des frühen Heidegger zu Paulus wird begrüßt; doch wird im Grunde der späte Heidegger gegen den frühen ausgespielt. Heidegger hatte 1920121 versucht, die ältere schriftliche Überlieferung von Jesus als dem Christus im ThessalonicherbrieJfreizuhalten von den späteren Überformungen, die schließlich auch die griechische Philosophie einsetzten. Zu solchen Versuchen sagte Schlier 1956 auf Burg Rothenfels: "Es ist ein romantisches Missverständnis des Sachverhaltes, der mit ,Wort Gottes' oder ,Evangelium' umschrieben ist, wenn man das mündliche (oder auch schriftliche) Evangelium der Apostel von der Überlieferung nicht nur als deren ,Urbild' oder ,Muster' unterscheidet, sondern von ihr trennt und so als eine isolierte Erscheinung versteht. "176 Heidegger selbst hatte kurz vorher seine frühen streitbaren 174 Vgl. dazu Päggeler: Spur des Worts (s. Anm. 161). S. 403, 93 ff. 175 Vgl. Heinrich Schlier: Besinnung auf das Neue Tesrament. Exegetische Aufsätze und Vorträge H. Freiburg / Basel / Wien 1964. S 375 f., zum folgenden 99, 92. 176 Vgl. Heinrich Schlier: Wort Gottes. Eine neutestamentliche Besinnung. Würzburg 1958. S. 60. - Zum folgenden vgl. Heidegger: Unterwegs zur Sprache (s. Anm. 5). S. 128.
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Vorlesungen "jugendliche Sprünge" genannt, bei denen "einer leicht ungerecht" werde. Der späte Heidegger und Schlier sahen also die gemeinsame Aufgabe darin, in einen gültigen Ansatz einzuholen, was in den zwanziger Jahren hervorgetreten war. Sonst entstehe die Gefahr, "romantisch" am Wirklichen vorbeizugehen! Wenn Schlier sich den Mächten und Gewalten im Heuen Testament zuwandte, dann fragte er wenigstens indirekt, ob Heideggers Rede von den Göttlichen die Schrecken der Zeit ernst genug nehme. Schlier stellte vor allem seinem Lehrer Rudolf Bultmann die Frage, ob er beim Aufsatz über die Entmythologisierung im Bezug zur Wirklichkeit tief genug angesetzt habe. Zugleich mit der Schrift Mächte und Gewalten im Heuen Testament von 1958 wurde die Thematik in einem Aufsatz entfaltet; dort ging Schlier aus von einer These aus Bultmanns Entmythologisierungsaufsatz: Man könne "nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des NT glauben". Doch sagt Schlier, das Sichwehren gegen jeden "Zugriff supranaturaler Mächte", von dem Bultmann spreche, könne nicht darüber hinwegtäuschen, dass der moderne Weltzugriff "das Leben flach, elend und umheimlich" mache. Es bleibe immer etwas U nverfügbares übrig. Dessen Kräfte würden im Heuen Testament mit vielen Namen angesprocheni, aber schließlich auf jene Macht zurückgeführt, die Satan genannt werde. Für die eigene Zeit verweist Schlier auf Heimito von Doderers Roman Die Dämonen, "in dem das hintergründig wirksame Spiel der Dämonen im scheinbar Alltäglichen des Wien der zwanziger Jahre überaus greifbar dargestellt wird, ohne dass sie auch nur einmal direkt fixiert werden" .177 Schlier ging über seinen Lehrer Bultmann hinaus, um sich den Problemen zu stellen, die unabweisbar zur Zeit gehörten. Eine geschichtlich so wirksame Gestalt wie Hitler hatte durchaus eine dämonische Atmosphäre um sich verbreiten können: Generäle, die zum Protest gekommen waren, fielen um in einen neuen Gehorsam. Nach dem Zweiten Weltkrieg, im "Kalten Krieg" angesichts eines drohenden dritten Weltkriegs, kamen Strategien zum Einsatz, denen das Dämonische oft nicht fehlte. War es aber nicht Goethe, der vom Dämonischen gesprochen hatte - angesichts Napoleons, aber auch in den Wahlverwandtschaften, in denen er deutsche Offiziere zeigt, die nach den Siegen Napoleons entlassen wurden, aber in den neuen Verhältnissen auch auf die Dämonie stoßen, die von einem jungen Mädchen ausgehen kann. Der Germanist Paul Hankamer war in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur seines Amtes enthoben worden und wurde noch 1945 ein Opfer der chaotischen Zustände. Aus dem Nachlass erschien 1947 sein Buch Spiel der Mächte. Es zeigte, wie Goethe in Sonetten und
177 Vgl. Schlier: Besinnung auf das Neue Testament (s. Anm. 175). S. 146 f. - Helmuth Pleßner hatte schon 1928 (Die Stufen des Organischen und der Mensch) als Leitwort des 18. Jahrhunderts "Vernunft", des 19. Jahrhundert "Entwicklung", des 20. Jahrhunderts "dämonisches Leben" angegeben.
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vor allem in den Wahlverwandtschaften das "Dämonische" thematisiert, das die Pläne der Menschen unheilvoll zu durchkreuen vermag. 178 Schlier ist sich dessen bewusst, dass die Mächte und Gewalten zu einem breiten Spektrum von "Engeln" gehören. Der Aufsatz Die Engel nach dem Neuen Testament von 1957 geht der Konzentration auf die Mächte und Gewalten voraus. Er beachtet, wie die Engel nach den Evangelien zur Geburt Jesu gehören, aber auch sein Grab bewachen und dann die Apostel auf ihren Wegen geleiten. Die Engel sind Gattungswesen, so dass Gabriel die Stärke Gottes meinen kann, Michael die Frage: "Wer ist wie Gott?" In der Offenbarung johannis kündigen die Posaunenrufe der Engel das apokalyptische Geschehen an. Die Engel singen vor allem den Lobpreis Gottes. Bekanntlich hat der syrische Mönch Dionysios Pseudo-Areopagita von dreimal drei Engelchören gesprochen. Im Empyreum sind es Seraphim, Cherubim, Throne. Die Regenten der Himmel sind Mächte, Herrschaften und Gewalten. Auf der Erde gibt es die Fürstentümer als die Wächter der Reiche, die Erzengel für die Kirche und die Engel als Boten, Schutzengel und Todesengel für den einzelnen Menschen. Dass Schlier selektiv von Mächten und Gewalten spricht, zeigt deutlich, dass es ihm um die Bedrohung geht, die er in der eigenen Zeit findet. Die Engelmächte sind als Macht der Tendenz zur Selbstmächtigkeit verfallen. Die Rede von den Göttern oder den Göttlichen fehlt. Dagegen wird verwiesen auf den Tempel des Augustus und der Roma über Pergamon, der nach der Offenbarung johannis der "Thron Satans" ist. Nach einem Wort des judasbriefes vom Rande des Evangeliums haben die Engel ihre Herrschaft nicht bewahrt, sondern ihr Haus (dem sie zugeordnet waren) verlassen. 179 Die Verkehrung der Macht in selbstzerstörerische Eigenrnacht wird überwunden durch die Liebe, in der Christus Kreuz und Tod auf sich nimmt und so die bloße Selbstmächtigkeit überwindet. Nach Paulus werden die "Heiligen" die gefallenen Engel richten. Schliers Buch Grundzüge einer paulinischen Theologie wurde 1978 zu seinem letzten Buch. Es geht in ihm um die Theologie überhaupt, die aber von Paulus her entfaltet wird. Der Glaube weiß sich nicht mehr reflektiert in der Schultheologie, die von der Scholastik und Neuscholastik herkommt. Doch findet Schlier bei Karl Rahner den Versuch, die dogmatische Tradition in der Kontinuität mit ihr aufZulockern und so Neues zu sagen, das aber auch das Alte ist. Die Stimmung der Zeit sieht Schlier in einem Aufgebrachtsein, das zu Utopismen flüchtet. "Die Naivität der Unschuld des Heiden ist dahin. Alles ist voll Schuld. Es bedarf dringend eines Neuen, das durchdringt."18o So spricht Schlier zuerst von Gott, dann von der "Welt, wie sie vorkommt". Dabei wendet Schlier sich gegen 178 Vgl. Paul Hankamer: Spiel der Mächte. Ein Kapitel aus Goethes Leben und Goethes Welt. Tübingen und Stuttgart 1947. Inzwischen wurden die sozialgeschichtlichen Hintergründe von Goethes Wahlverwandtschaften herausgestellt. 179 Vgl. Heinrich Schlier: Mächte und Gewalten im Neuen Testament. Freiburg 1958. S. 27 und 35. 180 Vgl. Heinrich Schlier: Grundzüge einer paulinischen Theologie. Freiburg I Basel I Wien 1978. S. 12 ff., 24, zum folgenden 85, 122,223.
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die "modernen Gnostiker", die wie die alten Gnostiker meinen, "zu tun, was gefällt", das sei Freiheit und Leben. In Jesus Christus habe die Geschichte schon ihr "letztes inneres Ziel", damit ihr Ende erreicht. Christus sei am Kreuz und in der Auferweckung von den Toten "erhöht" worden in den Glanz und die Macht Gottes und so das Maß der Geschichte geworden. Die Kirche sei die Fortsetzung des gekreuzigten Christus, der von Gott erhöht wurde. So sei die Kirche eins im Geiste. - Dieser erste Teil der Theologie nach Paulus verweist auf einen zweiten Teil, den Schlier nicht mehr ausarbeiten konnte. Er hätte zu zeigen gehabt, dass der Glaube, der in der Liebe am Werk ist, sich bestimmt zur Hoffnung (die auf Gott baut und nicht als "Prinzip Hoffnung" dem Menschen gehört). Das Wort steht zusammen mit Taufe und Herrenmahl, dem Sakramentalen. Sie bilden die Kirche, für die die Eschatologie entscheidend bleibt. Gott ruft nach dem Römerbrief das, was nicht ist, ins Dasein. Mit diesem Hinweis auf Gott den Schöpfer sei die Frage des "Philosophen" beantwortet: "Warum ist Sein und nicht Nichts?" Die Umformulierung der Frage von Leibniz und Schelling durch die Großschreibung von "Nichts" stammt von Heidegger, und so steht er für den Philosophen überhaupt. Dabei wird Heidegger unterschieden von jenen, die das Wort vom Tode Gottes zum Gerede werden lassen. Mit Heidegger nimmt Schlier das Wesen von seiner verbalen Wutzel her, und so kann er das Zu-wesen, An-wesen und Ge-wesen mit Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit verbinden. Gott als Schöpfer wird vom Demiurgen unterschieden (was Heidegger nicht immer tat}.181 In umgekehrter Richtung wird der Sündenfall auch vom Verfallen her gesehen. "Welt" ist (wie bei Bultmann, aber nicht bei Heidegger) die Sphäre des Uneigentlichen. Wenn mit Bultmann die Rede vom Eingang Jesu Christi in das Kerygma erörtert wird, dann beruft Schlier sich darauf, dass zum Ereignis die Sprache (oder Sage) gehört. Damit folgt er Heidegger und Gadamer. Oetingers Wort wird zitiert, die Leiblichkeit sei das Ende aller Dinge Gottes. Die "Schwabenväter" kommen so ins Spiel, die längst vor Schelling von einer Natur in Gott sprachen. Heideggers Hinweis auf Schellings Freiheitsschrift wird damit in die damaligen Diskussionen hineingestellt. Reinhard von Bendemann ist an der Ev. Theologischen Fakultät in Bonn mit einer Arbeit über Schlier promoviert worden. Die Arbeit erschien Gütersloh
1995: Heinrich Schlier. Eine kritische Analyse seiner Interpretation paulinischer Theologie. Hans Hübner hat eine ausführliche Besprechung dieser Arbeit unter den Titel Der katholische und der evanglische Heinrich Schlier gestellt. Er verweist darauf, dass nach von Bendemann ein philosophischer Begriff von Wahrheit als Offenbarungs-Begriff des Seins bei Schlier theologisch zum offenbarungstheologischen Begriff modifiziert werde. Schlier integriere Heideggers Spätphilosophie in die Theologie. Dagegen erhebe von Bendemann Einspruch. "Es ist ein 181 Vgl. Schlier: Grundzüge (s. Anm. 180). S. 44, 38, 57,60, zum folgenden 65, 105, 148, 98. Vgl. auch Otto Pöggeler: Leiblichkeit als Ende der Wege Gottes. In: Lebendiges Denken im Umfeld von Pädagogik und Philosophie (Festschrift für Käte Meyer-Drawe). Hrsg. von Norben Ricken, Henning Röhr, Jörg Ruhloff, Klaus Schaller (in Vorbereitung).
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doppelter Protest: 1. Er wirft ihm vor, dass er unkritisch Heideggers Philosophie gegen dessen Intention in sein theologisches Denken integriere. 2. Es ist seine Überzeugung, dass Schlier durch seinen Rekurs auf Heideggers Ontologie durch dessen im Kern katholisches Denken seinen Katholizismus fUndiere. " Hübner zitiert die Bochumer Dissertation von Annemarie Gethmann-Siefert Das Verhältnis von Philosophie und Theologie im Denken Martin Heideggers mit der These: "Heideggers ,Sein' ist nicht der christliche Gott." Hübner nimmt aber an, Schlier habe Heidegger so gut gekannt, dass auch er Heidegger die Identität von Sein und Gott nicht unterstellt habe. "Er hat bezeichnenderweise in der Regel da, wo er auf Heidegger rekurrierte, diesen weder ztiert noch überhaupt genannt. Sein Ziel dürfte der selbständige und somit modifizierende Rückgriff auf dessen Philosophie gewesen sein."182 Was Schlier sich nie vergegenwärtigte, das war die Weise, in der Heidegger von Hölderlin her die religiösen Traditionen verwandelt aufnahm. Hans Hübner kann Schlier nicht folgen in der Einbettung der neutestamentlichen Schriften in die Geschichte. Er hat 1990, 1993 und 1995 in drei Bänden eine Biblische Theologie des Neuen Testaments vorgelegt. Darin führt er von Paulus zum Hebräerbrief, zu den Evangelien und zur Offenbaruing Johannis. Wenn er 1997 den Kommentar An Philemon - An die Kolosser - An die Epheser anschließt, nimmt er den Epheserbrief als tritopaulinisches Werk. Hans Hübner widmet seinen Aufsatz über Schlier dem Bonner Kirchenhistoriker Hubert Jedin, dem wir das große Werk über das Konzil von Trient verdanken. Jedin hatte Hübner vor einem halben Jahrhundert erklärt, "in der Frage der Rechtfertigung gebe es im Grunde keine entscheidende theologische Differenz zwischen den Konfessionen. Es sei vielmehr die Problematik des Kirchenverständnisses, die theologisch die evangelischen Kirchen von der katholischen trenne." Nach Hübner bleibt es für evangelische Ohren anstößig, mit Schlier von der Kirche als dem Christus prolongatus zu sprechen. 183 Vergessen werden darf freilich nicht, dass Schlier vom Kerygma zum Dogma und so zur Begründung der Kirche in Schrift und Tradition führt. Hans Hübner hat auch eine Evangelische Fundamentaltheologie vorgelegt. Von den Grundlagen her soll die Theologie entfaltet werden; sie soll evangelisch in dem Sinne sein, dass sie auf dem Evangelium fußt. In diesem Programm liegt eine klare Wendung gegen Karl Barth, der philosophische Erörterungen aus der Theologie ausschließen wollte (damit nach Auffassung von Bultmann und Heidegger umso mehr ungeklärten, nur übernommenen Begriffen verfiel). Hübner nutzt für seine Fundamentaltheologie das "bewusst katholische" Buch Analogia entis von Erich przywara (1932 und erweitert 1962 erschienen).184 Heidegger
182 Vgl. Hans Hübner: Der katholische und der evangelische Heinrich Schlier. In: Kerygma und Dogma 16 (2000/4). Göttingen 2000. S. 265 ff. 183 Ebenda S. 288. 184 Vgl. Hans Hübner: Evangelische Fundamentaltheologie. Theologie der Bibel. Göttingen 2005. S. 110. - Als Oskar Becker nach dem Zweiten Weltkrieg in Bonn mit und gegen Heidegger philosophierte, konnte Werner Veauthier bei ihm über die Analogia entis promovieren. Vgl.
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selbst hatte sich in wechselnden Weisen auf die Analogie des Seins bezogen. Er berief sich auf die Dissertation Franz Brentanos Über die mannigfache Bedeutung des Seienden bei Aristoteles, die freilich von der scholastischen Aristotelesrezeption ausgeht. In Sein und Zeit ist die ousia der leitende Seins begriff, dem die anderen Begriffe zugeordnet werden. Seit 1929/30 werden dynamis und energeia zur Mitte der Aristotelischen Begriffiichkeit: Die Möglichkeit, die zur Verwirklichung drängt, bringt jedem Seienden seine "Eignung" im Ereignis. przywara hatte mit seinem Vorstoß'bei Heidegger und Bultmann keine Chance. Schon am 29. l. 1930 schrieb Bultmann an Heidegger. "Der Vortrag, den Przywara vor Weihnachten hier hielt über Philosophie und Theologie, war erbärmlich. Glatt und formalistisch, ängstlich vermeidend, auf die Substanz des Problems einzugehen. Er hat auch auf die Studenten gar keinen Eindruck gemacht." Hans Hübner geht mit Friedrich-Wilhelm von Herrmann davon aus, dass Sein und Zeit und dazu die Beiträge zur Philosophie die maßgeblichen Werke Heideggers sind. Es wird nicht unterstellt, dass das Denken der Beiträge christlich sei. Hübner kann eine briefliche Stellungnahme von Herrmanns zitieren, nach der Gott im Ereignis erscheinen kann, weil dieses die unzugängliche Verbergung, das Geheimnis, in sich trage. Dabei bleibt vorausgesetzt, dass für Heidegger selbst die Verbindung zwischen einer analogia entis und dem Bezug der Sterblichen zu den Göttlichen nicht möglich sei. So hält Hübner fest: "Eine schon recht eigenartige Allianz zwischen Karl Barth und Martin Heidegger, sicherlich von keinem der beiden gewollt."185 Doch hat Heidegger (auch in seiner Zusammenarbeit mit Heinrich Ott) durchaus den sachlichen Bezug seines Denkens zu Karl Barth gegen Bultmann ausgespielt, also "gewollt". Man darf nicht vergessen, dass die Beiträge zur Philosophie im Sils-Maria-Wind Nietzsches geschrieben sind und erst allmählich Hölderlin in den Vordergrund treten lassen. Heideggers Holzwege-Aufsatz Nietzsches Wort "Gott ist tot" wurde in seinen Hauptteilen 1943 in kleineren Kreisen wiederholt vorgetragen. Dort hieß es z.B., Nietzsche verstehe unter Christentum nicht das christliche Leben, "das einmal und für kurze Zeit vor der Abfassung der Evangelien und vor der Missionspropanda des Paulus bestand".186 Diese Rede von Paulus ist durchaus abschätzig und im Sinne Nietzsches. Wenn Heidegger einen vertieften Bezug zu Hölderlin gewann, gingen auch wichtige frühere Motive verloren. Heidegger hat zu Recht Schellings Freiheitsschrift 1936 als GipelfWerk der abendländischen Metaphysik interpretiert, sie wenige Jahre später aber in die Metaphysikgeschichte abgeschoben. So nahm er sich die Möglichkeit, der Rolle des Bösen in der Geschichte (der er in seinem Verhältnis zu Hitler nahegekommen war) philosophisch gerecht werden zu können.
auch Peter Wust. Aspekte seines Denkens. Werner Veauthier zum Gedächtnis. Hrsg. von Ekkehard Blarrmann. Münster 2004. 185 Vgl. H. Hübner: Evangelische Fundamentaltheologie (s. Anm. 184). S. 126. 186 Vgl. Martin Heidegger: Holzwege. Frankfurt am Main 1950. S. 202. - Zum folgenden vgl. Dietmar Köhler (s. Anm. 21).
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Heidegger ist einen weiten Weg mit vielen Windungen gegangen. Er hat seit 1919/20 Grundmotive des Daseins von den christlichen Glaubenserfahrungen her gewonnen; so konnte Rudolf Bultmann die Begrifflichkeit seiner Exegese von Heideggers existenzialer Analyse her festigen. Heidegger hat dann 1929/30 von Nietzsche her die Unfähigkeit des "Platonismus" erläutert, den entscheidenden Fragen der griechisch-abendländischen Geschichte gerecht zu werden. Wenn er nach 1945 immer wieder betonte, der spätere Erzbischof Gröber habe ihm schon auf dem Gymnasium Brentanos Disssertation über Aristoteles geschenkt, förderte auch er eine neue Allianz zwischen Philosophie und Theologie zur Verarbeitung der nationalsozialistischen Verirrung. Am 12. Juni 1965 schrieb Heidegger an Max Müller: "Immer häufiger begegne ich dem Erstaunen, dass ich die jüdischchristliche ,Welt' aus meinem Denken ausspare ... Aber jene Welt hat nicht die Philosophie bestimmt, sondern die griechische Philosophie hat die Interpretation jener Welt beeinflusst." Heidegger wurde dann grundsätzlich: "Hier erhebt sich die alte crux - die Frage nach dem Verhältnis von biblischem Glauben und Denken. / Man sagt: im Glauben spielt auch ein Denken. Gewiss - aber Denken in welchem Sinne? Dass ich glaubend etwas meine - aber was der Glaube in diesem Sinne ,denkt', dies glaubt er und dies kann er nicht ,denken' im Sinne des denkenden Denkens - darf es nicht einmal versuchen zu denken, wenn der Glaube sich selber versteht, d.h. glaubt. / Das ,Seinsverständnis' des Alten Testamentes gegen die Philosophie ausspielen, ist Spiegelfechterei. Der Glaube hat mit dem Seinsverständnis als solchem überhaupt nichts zu tun. "187 Walter Strolz suchte damals Heideggers Metaphysikkritik mit der Welterfahrung des Alten Testaments zu verbinden. 188 Heidegger lehnte es brieflich am 14. 6. 1965 ab, "durch die Inanspruchnahme seines seinsgeschichtlichen Denkens eine andere Form christlicher Glaubensbegründung zu finden". "Sein Denken aber sei kein Weg zur Gotteserfahrung im Sinne der Bibel. Weder das alte noch das neue Testament sei für die Philosophie eine Instanz." Auch hier wurde Heidegger grundsätzlich: "Ist dies alles nicht ein Beweis des Unglaubens an den Glauben, ein Versuch, diesem eine Stütze und eine Krücke von welcher Art auch immer zu verschaffen? Ist der Glaube nicht nach dessen eigenem Sinn die Tat Gottes? W 0zu ,Seinsverständnis' und ,Seinsgeschichte'? ,Ontologische Differenz'? Es gibt in der biblischen Botschaft keine Lehre vom ,Sein'. Wer aber, ich meine in diesem Fall nicht Sie, aus dem alttestamentlichen Wort ,Ich bin, der ich bin' eine Ontologie herauszaubert, weiß nicht, was er tut." Hatte Strolz nicht dennoch Recht, von den Motiven der Weltreligionen her die christliche Religion in das Gespräch der Religionen zu bringen, dieses Gespräch dann auch zu nutzen für den Weg zu den Grundfragen der Philosophie? 187 Vgl. Martin Heidegger: Briefe an Max Müller und andere Dokumente. Freiburg / München 2003. S. 52. 188 Vgl. Walter Strolz: Menschsein und Gottesfrage. Pfullingen 1965. - Zum folgenden vgl. Walter Strolz: Meine Begegnung mit Martin Heidegger (1889-1976) - Denker des Seins. Ein autobiographisches Wegstück. In: Jahrbuch 4 (Bregenz 2002). Franz Michael Felder-Archiv der Vorarlberger Landesbibliothek. S. 31 ff., vor allem 36 f.
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Zum Ja zu Heideggers Denken trat dann ein Nein. Von diesem Ja und Nein blieb Hans Jonas bestimmt, der mit Buhmann und Heidegger die Gnosis aufarbeitete, dann aber gegen gnostische Züge unserer Zeit stritt.
2. Hans Jonas: Gnosis und Weltverantwortung Hans Jonas wurde 1903 in Mänchengladbach als Sohn einer reich gewordenen jüdischen Familie geboren und von dieser für etwas Besseres, das Studium, bestimmt. Als er im Sommer 1921 nach Freiburg im Breisgau zu Husserl ging, traf er auf den jungen Dozenten Martin Heidegger. Jonas war zum Schrecken der Eltern Zionist geworden; er ging dann nach Berlin, absolvierte aber auch zur Vorbereitung der Auswanderung nach Palästina eine landwirtschaftliche Ausbildung. Im Winter 1924/25 kam er nach Marburg und gewann Freunde wie Hannah Arendt, Karl Läwith, Hans-Georg Gadamer. Als Rudolf Bultmann sich intensiv dem Johannes-Evangelium zuwandte, kam die Frage auf, ob dieser Evangelist nicht die Gnosis voraussetze. Im Sommer 1925 hielt Jonas im Seminar Buhmanns ein Referat über die gnosis theou im Johannes-Evangelium. Bultmann veranlasste den jüdischen Studenten, bei Heidegger in der Philosophie über die Gnosis zu promovieren. Ließ sich die Gnosis nicht mit den Begriffen von Sein und Zeit erfassen? Heideggers Urteil über die eingereichte Arbeit lautete: "summa cum laude". Die Dissertation Der Begriffder Gnosis erschien 1930. 189 Auf ein Referat in einem Augustinus-Seminar Heideggers ging die Schrift Augustin und das paulinische Freiheitsproblem zurück, die ebenfalls 1930 erschien. Ein evangelischer Kirchenhistoriker warf ihr Sprachungeheuer wie "Geworfenheit" vor. So musste Buhmann für seinen Schüler eintreten. Er betonte dann 1940 in seinem Aufsatz über Entmythologisierung, dass Hans Jonas (inzwischen aus Deutschland vertrieben) in seiner Augustinus-Arbeit entscheidende methodische Überlegungen zur existenzialen Interpretation gegeben habe. 190 Der erste Band des Werkes Gnosis und spätantiker Geist konnte 1934 noch in Gättingen erscheinen (in erweiterter und verbesserter dritter Auflage 1964). Die Fortsetzung führte "Von der Mythologie bis zur mystischen Philosophie" (1954 und 1966). Die Mystik der neuplatonisch beeinflussten christlichen Einsiedler in der ägyptischen Wüste schien sich gut in einen "allgemeinen gnostischen Zusammenhang" einfügen zu lassen - "insofern man den Begriff ,Gnosis' nicht mehr nur als Name einer bestimmten Gruppe frühchristlicher Häresien, sondern als ein allgemeines Seelen- und Daseinsprinzip verstand, gleichsam als existenziale Kategorie dieser ganzen Epoche".
189 Vgl. Hans Jona5: Erinnerungen. Frankfurt am Main und Leipzig 2003. S. 117 ff., zum folgenden 238. 190 Vgl. Kerygma und Mythos I (s. Anm. 152). S. 24 und 26. - Zum folgenden vgl. Jona5: Erinnerungen (s. Anm. 189). S. 229.
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Im August 1964 schrieb Jonas im Rückblick auf sein Referat vom Sommer 1925 an Bultmann: "Damit fing Unabsehbares an - ich ahnte nicht, dass die Weiterentwicklung dieses Motivs hinfort mein Leben begleiten würde, wie es dies über alle Unterbrechungen hinweg bis heute getan hat." Jonas schätzte Bultmann nicht nur als Forscher, sondern auch als Menschen, der zu klaren politischen Urteilen fähig war. "Sie waren der einzige meiner Lehrer, von dem ich vor meiner Auswanderung 1933 Abschied nahm."191 In Heidegger fand Jonas mehr als einen Gelehrten; er sah in ihm den tiefsten Denker der Zeit. Heideggers Einschwenken auf den Nationalsozialismus war für Jonas der Bankrott der Philosophie überhaupt. Als Jonas bei der Auswanderung Leo Strauß begegnete, erkannte er, dass er anders als Strauß den orthodoxen jüdischen Glauben schon durch die Assimilation seiner Eltern hinter sich gelassen hatte. Am Versöhnungstag Gom Kippur) 1934 in London fühlten beide sich "schrecklich" (weil sie nicht in der Synagoge waren, sondern im Hyde Park spazieren gingen). Jonas lässt Strauß seine Gequältheit so formulieren: "Ich habe so etwas wie einen Mord begangen oder einen Treueid gebrochen oder mich an irgend etwas versündigt." Strauß ging von dem, was als Offenbarungsreligion auftrat, zurück zur Philosophie. Schüler wie Allan Bloom haben dann das deutsch-französische Philosophieren vom "Schweizer" Rousseau über Hegel und Nietzsche bis zu Heidegger verantwortlich gemacht für die Vergiftung Amerikas. War es aber nicht allzu "deutsch", immer noch ein Weg mit Winckelmann und Hölderlin, wenn man Platon und Aristoteles (zusammen mit Maimonides) zu einer übergeschichtlichen Norm erhob? Strauß war nie eigentlich Schüler Heideggers gewesen, aber davon überzeugt, dass Heidegger "wahrscheinlich die wichtigste philosophische Figur unserer Zeit sei". George Steiner hat geschildert, wie er als studentischer Anfänger in einem Seminar von Leo Strauß an der Wand sitzen und wenigstens zuhören durfte. Strauß hatte gesagt, in seinem Seminar werde ein Name, den Steiner nicht verstand, nie etwähnt. "Nach dem Seminar bitte ich einen Doktoranden, mir den Namen zu buchstabieren. Da hat er auf meinen Block geschrieben: Martin Heidegger. Ich kannte den Namen nicht. Ich war siebzehn Jahre alt. Ich stürzte in die Bibliothek, borgte mir drei, vier Bücher aus und habe buchstäblich nichts verstanden, aber ich war völlig gefesselt."I92 So wurde Heidegger zu einem der "Meister" des Denkens (in dem Sinn, in dem Stefan George für viele ein Meister wurde). Darüber ging verloren, dass man auf dem Weg des Denkens von Heidegger die formal anzeigende Hermeneutik und deren Fortbildung als Beitrag zur "Methode" des Philosophierens zu erörtertem hatte. Wie kann man überhaupt "völlig gefes191 Vgl. Andreas Großmann: "Und die Gnosis ruft mich immer noch ... " Hans Jonas' Denkweg im Lichte seines Briefwechsels mit Rudolf Bultmann. In: Journal Phänomenologie 20 (2003). S. 18 Er. S. auch Anm. 31. Zum folgenden vgl. Jonas: Erinnerungen (s. Anm. 189). S. 94, 93. Zu Allan Bloom vgl. Päggeler: Der Stein hinterm Aug (s. Anm. 161). S. 168. 192 Vgl. das Gespräch mit George Steiner in Michael Jakob: Ansichten des Denkens. München 1994. S. 205. Steiner hat Hälderlins Antigone-Übertragung und Heideggers SophoklesAuslegung als entscheidendes Sprachereignis unserer Zeit aufgefasst. Vgl. Päggeler: Schicksal und Geschichte (s. Anm. 143). S. 13 Er.
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selt" sein, wenn man "buchstäblich nichts verstanden" hat? Jedenfalls ging die Faszination durch Heidegger nicht nur von seiner Person aus, sondern auch von seinen Schriften. Sicherlich blieb Hans Jonas jener Schüler von Bultmann und Heidegger, der die Gnosis-Forschung förderte, aber auch methodische Fragen wie die der existenzialen Interpretation klärte. In der Zeit der Verfolgung seit 1933, auf dem Weg über Palästina nach Amerika und 1945 mit den alliierten Truppen zurück nach Deutschland hat er erfahren, wie wichtig das Leben und die eigene Leiblichkeit in Verfolgungssituationen sind. Er hat eine Interpretation der Leiblichkeit und des Lebens gegeben, vor allem vom neuen Problem der technologischen Zugriffe auch in der Medizin her. Dabei musste er zurückgreifen auf "metaphysische" Fragen nach der Bedeutung des Lebens und des bewussten Lebens auf dieser Erde. So suchte das Hauptwerk Der Begriff der Verantwortung von 1979 den "Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation" zu geben. Im Rückblick hat Hans Jonas 1987 in einem Interview des Schweizerischen Rundfunks festgehalten, dass es um das "Zentrum philosophischen Denkens" ging, als er zu Husserl strebte und auf den jungen Heidegger traf. Auch er sagte zu dem, was Heidegger vortrug: "ich verstehe es nicht, aber das muss es sein". Bekanntlich trug Heidegger eine Herrenkleidung, die der Maler Otto Ubbelohde in Anlehnung an die hessische Bauernkleidung entworfen hatte. Jonas spricht von einer alemannischen Tracht und glaubt überhaupt in einem Schwarzwälderturn Heideggers einen "primitiven Nationalismus" ausmachen zu können. Dieser sei 1933 "aus seinem Versteck" herausgekommen. Heidegger habe das Prinzip der Entschlossenheit aus Sein und Zeit identifiziert mit der Entschlossenheit "des Führers und der Partei". ,,Als ich angewidert erkannte, dass das nicht nur eine persönliche Verirrung Heideggers war, sondern doch irgenwie in seinem Denken angelegt war, ging mir die Fragwürdigkeit des Existenzialismus als solchem auf: nämlich des nihilistischen Elementes, das darin liegt. Das kam auch mit dem zusammen, was ich als einen Grundzug der gnostischen Unruhe im Anfang des christlichen Zeitalters erkannt hatte, wo auch ein stark nihilistisches Element mitschwang."193 Jonas hatte sich zu sehr historisch mit der Gnosis beschäftigt, als dass er "Gnosis" als polemisches Schlagwort hätte nehmen können. Am 14. März 1959 bedankte er sich bei Bultmann für die Zusendung eines weiteren fruchtreichen Bandes von Glauben und Verstehen. Auch Jonas skizzierte (wie Bultmann das getan hatte) seine Einwendungen gegen die Gnosis-Thesen von Eric Voegelin. Dieser fand in der Gnosis den Glauben, die Seinsordnung müsse in einem historischen Prozess geändert werden, so dass aus einer schlechten Welt eine gute Welt werde. Eine solche Auffassung hat nach Jonas mit der historischen Gnosis nichts zu tun. U nvertretbar sei es, das Schaffen eines Übermenschen bei Marx und Nietzsche auf die Vergottung des Menschen bei den älteren Sektierern zu be193 Vgl. Hans Jonas: Heideggers Entschlossenheit und Entschluss. In: Antwort. Martin Heidegger im Gespräch. Hrsg. von Günther Neske, Emil Kettering. Pfullingen 1988. S. 221 ff., vor allem 222,224,228. - Zu Ubbelohde vgl. Gadamer: Philosophische Lehrjahre (s. Anm. 114). S. 215.
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ziehen. Unangenehm sei die Rede von der "krankhaften Geisteskonstitution gnostischer Denker". Jonas fragt, ob Voegelin nicht selbst "dogmatischer Theologe" werde, damit aber aufhöre, Wissenschaftler zu sein, was er doch sein wolle. So komme es zum "ironischen Paradox", dass Voegelin selbst der "moderne Gnostiker" sei. Hans Jonas hatte von Heidegger her die Gnosis gedeutet. War nicht auch das Umgekehrte möglich, den Heideggerianismus als eine neue Spielart der Gnosis zu entlarven? So tat Jonas es in seinem Aufsatz Gnosis und moderner Nihilismus (zuerst 1952 auf englisch erschienen). Als 1964 an der Drew University in New Jersey über Hermeneutik, Heideggers Spätphilosophie und die evangelische Theologie diskutiert werden sollte, erwartete man von Jonas, dem Schüler von Bultmann wie von Heidegger, ein wegweisendes Referat. (Heidegger selbst hatte seine Teilnahme schließlich doch abgesagt.) Das Referat Heidegger and Theology wurde in der Tat als Sensation empfunden, brachte allerdings das Gegenteil des Erwarteten. Jonas fand beim späten Heidegger nur orakelhafte Sprüche. Den Glauben, diese könnten der Theologie helfen, suchte Jonas zu zerstören. Lässt sich die Theologie nicht durch Heidegger "vielleicht auf fremden Boden locken, der nur gefährlicher wird durch die Hülle des Geheimnisvollen, den Ton der Inspiration, der ein Heidentum so viel schwerer erkennbar macht als das von schlicht und unverblümten profanen Philosophien?" Jonas rief seinen theologischen und christlichen Freunden zu, "seht ihr nicht womit ihr zu tun habt? Fühlt ihr nicht den tief heidnischen Charakter von Heideggers Denken?" Der Jesuitenpater William J. Richardson wurde damals bekannt durch ein referierendes großes Werk über Heidegger, zu dem Heidegger ein Vorwort schrieb. Er antwortete bald mit einem satirischen Vortrag Heidegger and God. And Proftssor Jonas. Jonas reiste mit seinem Vortrag dann auch durch Deutschland. Er sah, dass er Schadenfreude weckte. "Endlich konnte man gewissen Ressentiments gegen Heidegger Luft machen." Angebetete Stars und deren Verehrer, auch solche, die gern Stars sein wollten, bekämpften sich, stichhaltige Argumente blieben aus. 194 Einerseits hat Jonas gespürt, dass Heidegger mit Nietzsche und mit Hölderlin einen Weg ging, der anti christliche Wendungen nicht ausschloss. Leider gerieten in seine Polemik auch historische Unrichtigkeiten. Jonas hat seine Erinnerungen auf Band gesprochen; wo kein Band vorhanden war, hat man die Erinnerungen aus seinen Werken rekonstruiert. Dabei kam es zu Grotesken. So lässt Jonas Bultmann sagen, Heidegger habe ihm 1948 oder 1949 bei einem Treffen in Zürich versprochen, einen Widerruf zu dem zu veröffentlichen, was er 1933 gesagt habe. Doch habe Heidegger das nicht getan, und so sei die Reaktion von Jonas die einzig richtige. Bultmann soll von dem Züricher Treffen auch gesagt haben, dieses sei die erste Wiederbegegnung seit fünfZehn Jahren gewesen. "Denn seit 194 Vgl. Jonas: Erinnerungen (s. Anm. 189). S. 304 ff. Vgl. auch Heideggers Brief an die DrewUniversität im Anhang zu: Phänomenologie und Theologie (s. Anm. 126 und 157). Vgl. ferner James M. Robinson und John B. Copp jr.: Der spätere Heidegger und die Theologie. Zürich I Stuttgart 1994.
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1933 hatten wir - auch brieflich - nie mehr ein Wort gewechselt." So erwas kann Bultmann wirklich nicht gesagt haben; vielleicht ist es nur aufgenommen aus einer dramatisch aufgebauschten Phantasie aus dem Neske-Band Erinnerung an Martin Heidegger. 195 Als Jonas Heidegger aus Anlass von dessen 80. Geburtstag besuchte, war er nach Hannah Arendt "überglücklich". In den Erinnerungen berichtet Jonas nur von der Enttäuschung, dass keine sachlichen Fragen erörtert wurden, Heidegger sich vor allem wegen seiner politischen Entgleisungen von 1933 nicht entschuldigte. Warum hat Jonas diese Dinge nicht zur Sprache gebracht? Heidegger hat noch (schwerhörig und krank) bei anderen (so bei mir) solche Fragen, soweit er sie überhaupt verstanden hatte, zu beanrworten versucht. Jonas musste nach dem Ersten Weltkrieg seine Aktivität aufteilen zwischen der Arbeit an der Universität und seinem Einsatz für den Zionismus. So sah er nicht, dass Heidegger die Philosophie Bergsons rezipierte und für die Naturphilosophie den baltischen Embryologen Karl Ernst von Baer heranzog. Als Scheler die Religionsphänomenologie für eine Erneuerung des Katholizismus einsetzte, ließ er nach Heideggers Auffassung gerade das Beste des französischen Augustinismus aus. Heideggers Vorlesung Ontologie oder Hermeneutik der Faktizität vom Sommer 1923 lehnte Schelers Gebrauch der Phänomenologie ab als eine spekulative Gnosis, die den Menschen als Ebenbild Gottes in das Ganze des Seienden stelle. Doch die "alte Theologie" werde von Scheler dabei nur "zufällig" aufgegegriffen. Hier verwies Heidegger näher auf die Valentinianische Gnosis. Wenn der späte Scheler Drang und Geist in Gott unterschied, ließ Heidegger sich durch ihn und durch Hinweise von Jaspers zu dieser Thematik in Schellings Schrift über das Wesen der menschlichen Freiheit führen. l96 Jonas hatte die Schrecken des Krieges in der jüdischen Brigade durchzustehen; man berichtete ihm den Tod seiner Mutter in Auschwitz. Nach Hiroshima wurde die Menschheit im ganzen bedroht durch die Atomtechnik. Hellsichtig sah Jonas, dass die Technik gerade in der Medizin, für die sie doch so hilfreich sein kann, den Menschen durch Zugriffe bedrohe, die durch keine religiöse T abuisierung mehr abgewehrt wurden. Gab es eine Möglichkeit, Grenzen zu setzen jenseits des Unterschiedes zwischen gläubigen und atheistischen Haltungen? Ein Interview von 1981 nahm als naturwissenschaftlichen Befund, dass sich "Vorformen organischer Moleküle bereits in interstellaren Räumen bilden". "Man könnte also sagen, dass die Welt, dass die Materie aufs Leben hin angelegt sind, dass sie sich darauf hin bewegen. Wenn es so ist, dass diese molekularen Verbände unter gewissen Bedingungen spontan entstehen, dann ist es doch sehr schwer, noch zu sagen, da ist keine Tendenz." Mit "einer gewissen Unwiderstehlichkeit" stellt sich "dann auch Bewusstsein ein oder Fühlen, Begehren, Streben usw. Das gehört doch mit zur Natur. Das muss doch dem Wesen des Stoffes ebenso gutge195 Vgl. Erinnerung an Martin Heidegger (s. Anm. 116). S. 95 f. - Zum folgenden vgl. Jonas: Erinnerungen (s. Anm. 189). S. 461,309. 196 Zum einzelnen vgl. Pöggeler: Schritte zu einer hermeneutischen Philosophie (s. Anm. 5). S. 54 ff. Zum Hinweis auf die Valentinianische Gnosis vgl. Martin Heidegger: Ontologie (Hermeneutik der Faktizität) (Gesamtausgabe Band 63). Frankfurt am Main 1988. S. 25.
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schrieben werden wie die Schwerkraft und die elektrischen oder die schwachen und starken Kräfte im atomaren Bereich." Jonas widerspricht den Thesen über "Zufall und Notwendigkeit" von Jacques Monod. 197 Hans Jonas hat 1984 in Tübingen den Vortrag Der Gottesbegriffnach Auschwitz. Eine jüdische Stimme gehalten. Darin greift er im einzelnen zurück auf das, was er früher schon gesagt hatte. So gibt er "ein Stück unverhüllt spekulativer Theologie". Er stellt die Hiobsfrage nach dem Übel in der Welt. Die biblischen Propheten hatten das Unheil als die Strafe dafür angesehen, dass Israel dem Bund mit seinem Gott untreu geworden war. Die Makkabäerzeit vermachte der Welt den Begriff des Märtyrers: Gerade die Unschuldigen und Gerechten dulden das Ärgste und geben Zeugnis für Gott. In Auschwitz wurden die Juden gemäß der "Fiktion der Rasse" vernichtet, starben also nicht um ihres Glaubens willen oder wegen dieses Glaubens. Was ist das für ein Gott, der solches geschehen ließ? Wie Platon, so nutzt auch Jonas einen selbsterdachten Mythos: Der göttliche Grund des Seins entschied, sich dem Wagnis des Werdens zu überlassen. Nach Äonen regte sich das Leben, das um den Preis der Sterblichkeit das Sichfühlen gewann. "Jeder Artunterschied, den die Evolution hervorbringt, fügt den Möglichkeiten von Fühlen und Tun die eigene hinzu und bereichert damit die Selbsterfahrung des göttlichen Grundes." Der Mensch gewinnt die Aufgabe der Verantwortung, indem er zwischen gut und böse unterscheiden lernt. Dieser "Mythos" hat theologische Implikationen. Dem "hellenischen" Begriff des Göttlichen als des Insichruhenden und Unwandelbaren entgegen spricht er von einem leidenden und einem werdenden Gott. Dieser ist ein gefährdeter und sich sorgender Gott. Zu ihm gehört nicht die Allmacht, aber die Güte, die das Gute will. Er ist nicht (wie in der christlichen Theologie) der verborgene oder gar absurde Gott; nach jüdischer Vorstellung muss er verstehbar sein. In Auschwitz schwieg dieser Gott. "Und da sage ich nun: nicht weil er nicht wollte, sondern weil er nicht konnte, griff er nicht ein ... Hierin also entfernt sich mein Spekulieren weit von ältester jüdischer Lehre. Mehrere der Dreizehn Glaubenslehren des Maimonides, die im Gottesdienst gesungen werden, fallen mit der ,starken Hand' dahin: die Sätze von Gottes Herrschermacht über die Schöpfung, seiner Belohnung der Guten und Bestrafung der Bösen, selbst vom Kommen des verheißenen Messias. Nicht aber die vom Ruf an die Seelen, von der Inspiration der Propheten und der Thora, also auch nicht die Idee der Erwählung, denn nur aufs Physische bezieht sich die Ohnmacht Gottes." Der Manichäismus, der sich von der Existenz des Bösen her zu einem Dualismus leiten ließ, wird ebenso abgelehnt wie die platonisch-aristotelische Unterscheidung von Stoff und Form. Nicht das Erdbeben von Lissabon, aber Auschwitz führt zur Lurianischen Kabbala und der Idee des Zimzum: Der En-sof des Anfangs, der Unendliche, zieht sich in sich zu197 Vgl. Hans ]onas. Technik, Medizin und Ethik. Zur Praxis des Prinzips Verantwortung. Frankfurt am Main 1987. S. 320 f. - Zum folgenden vgl. Fritz Stern I Hans ]onas: Reflexionen in finsterer Zeit. Tübingen 1984. S. 61 ff., vor allem 63, 70, 82. 85. Vgl. schon Hans ]onas: Zwischen Nichts und Ewigkeit. Zur Lehre vom Menschen. Göttingen 1983 (und 1987).
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rück und überlässt die Schöpfung sich selbst und dem Menschen als Aufgabe. Jetzt hat Gott nichts zu geben, sondern es ist am Menschen, ihm zu geben. "Und er kann dies tun, indem er in den Wegen seines Lebens darauf sieht, dass es nicht geschehe, oder nicht zu oft geschehe, und nicht seinetwegen, dass es Gott um das Werdenlassen der Weh gereuen muss. Das könnte wohl das Geheimnis der unbekannten, ,sechsunddreißig Gerechten' sein, die nach jüdischer Lehre der Weh zu ihrem Fortbestand niemals mangeln sollen und zu deren Zahl in unserer Zeit manche der etwähnten ,Gerechten aus den Völkern' gehört haben möchten." Diese mögen dazu beitragen, die "Rechnung einer Generation" zu begleichen. Hans Jonas schätzte das Gedicht Die Füße im Feuer von Conrad Ferdinand Meyer. In diesem Gedicht will jemand in der Hugenottenzeit bei der religiösen Verfolgung von einer Frau das Versteck ihres Mannes erpressen. Als sie sich weigert, steckt er ihre Füße ins Feuer, bis sie stirbt. Eben dieser Mann kehrt als Bote des Königs in das Haus des Gatten der Ermordeten ein. Doch dieser verzichtet auf die gerechte Rache und überlässt sie Gott. Heidegger hatte in seinem Holzwege-Aufsatz Der Ursprung des Kunstwerkes Conrad Ferdinand Meyers Gedicht Der römische Brunnen genutzt. Rudolf Buhmann berief sich auf Conrad Ferdinand Meyer, um der "Künstlichkeit" von Heideggers Hölderlin-Bezug zu entgehen. 198 Die Dichtung gibt der Theologie wie der Philosophie Anlass, zurückzugehen auf einfache Erfahrungen, doch bleibt umstritten, was aus diesen Erfahrungen zu lernen ist. Heinrich Schlier (Buhmanns bevorzugter Schüler, aber von Jonas nicht beachtet) forderte im Vorwort zur Neuauflage von Margarete Susmans Hiobbuch, Israel solle sich lösen von "dem Willen, Gottes Gerechtigkeit verstehen zu wollen und dann erst sie anzuerkennen". Gegen diese Haltung rebellierte Paul Celan. Könnte Gott nicht in der Tat als unerforschlicher oder gar absurder zu einem Dämon werden, der keine Gerechtigkeit kennt, damit seine Göttlichkeit verliert? Zweifellos begann im Sommer 1925 eine erregende Geschichte, als Hans Jonas im Seminar von Rudolf Buhmann ein Referat über die Gnosis im JohannesEvangelium hieh. So trug die Festschrift für Hans Jonas den Titel Gnosis.1 99 Doch ist es angemessen, für das Johannes-Evanglium überhaupt eine Gnosis vorauszusetzen? Dieses Evangelium gibt schon eine Reflexion auf die anderen Evangelien. Es führt den "Geist" ein, der die Einheit Christi mit dem Vater bezeugt, und führt so zum Trinitätsdogma. Damit steht es gleichgewichtig neben Paulus, dessen Gnadenlehre über Augustinus die Reformation prägte. Der Deutsche Idealismus fasste dieses Evangelium als das "philosophische". Buhmann ließ es schon antworten auf gnostische Fragestellungen. Ulrich Wilckens (nach seiner Tätigkeit als Bischof in schwierigen Zeiten zur exegetischen Arbeit zurückgekehrt) kann in seinem Kommentar zugeben, dass das Thomas-Evangelium und andere ober198 Vgl. Jonas: Erinnerungen (s. Anm. 189). S. 225; Heidegger: Holzwege (s. Anm. 186). S. 26; zu Bultmann s. unten S. 192 f., zu Schlier und Celan vgl. Pöggeler: Spur des Worts (s. Anm. 161). S. 403,91 ff. 199 Vgl. Gnosis. Festschrift für Hans Jonas. Hrsg. von Barbara Aland.Göttingen 1978.
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ägyptische Schriften Auffassungen wiedergeben, die den Reden J esu im J ohannesEvanglium ähnlich sind. "Doch Vorbilder für diese Reden als ganze finden sich dort nicht. Es bleibt nur übrig, dass manche Motive und Aussagen in einem frühgnostischen Milieu ähnlich verbreitet waren und Einflüsse - nicht jedoch literarische Abhängigkeiten - von dort auf das Johannes-Evangelium in Einzelfällen möglich sind. In der Mehrzahl der Fälle zeigt sich jedoch in diesen gnostischen Quellen umgekehrt ein Einfluss bzw. gar eine Benutzung des JohannesEvangeliums." Statt der Mythologie des Logos oder des Wortes sollen Texte der jüdischen Feste und die alttestamentliche Weisheitsliteratur prägend gewesen sein. Wichtige Fragen, für die Jonas eine Lösung suchte, werden so in andere Zusammenhänge gerückt. 20o Zu Rudolf Bultmann wahrte Hans Jonas immer die Partnerschaft in der Auseinandersetzung. In die Dankesgabe an Rudolf Bultmann zum 80. Geburtstag gab Jonas seine Philosophische Meditation über Paulus, Römberbrief, Kapitel 1Paulus zeigt, dass das Gesetz die Sünde weckt und steigert; er spricht vom Fleisch als dem, was in die Sünde verkauft ist. "Denn ich tue nicht, was ich will; sondern, was ich hasse, das tue ich." Jonas unterscheidet Paulus von Jesus. Nach diesem soll das Gesetz nicht äußerlich, sondern innerlich erfüllt werden. So stellt er dem Pharisäer den Samariter und den Zöllner gegenüber. Nach Paulus steht der Pharisäer für den Menschen überhaupt, der natürlicher Weise auf Leistung setzt. Er kann nur erlöst werden, wenn er das Kreuz auf sich nimmt. 201 Im Gedenkband für Bultmann schrieb Jonas Betrachtungen zum philosophischen Aspekt von Bultmanns Werk. Er hielt fest, dass Bultmann lebte, was er dachte. Jonas hob sich als Philosoph vom Theologen Bultmann ab mit der These, "dass der Philosoph der Möglichkeit des Glaubens mehr zugestanden hat als der vom Ansehen der Wissenschaft überwältigte Theologe". Über Gedanken wie die zum Gottesbegriff nach Auschwitz werde Bultmann noch im Grabe "skeptisch die Augenbrauen hochziehen". Doch ließ sich Buhmann wirklich (in der Rede von der Entmythologisierung) von der Wissenschaft überwältigen? Überlegte er nicht vielmehr, wie die Dichtung und Philosophie der Griechen, aber auch die deutsche Dichtung und Philosophie es nicht vermochten, die Geschichte bestehen zu lehren? Durch diese Überlegungen erwies sich der Glaube an Christus als sinnvoll.
200 Vgl. Ulrich Wilckens: Das Evangelium nach Johannes. Göttingen 1998. S. 347, 10,23 f. - Vgl auch den Einbezug der russischen Religionsphilosophie: Philosophische Religion. Gnosis zwischen Philosophie und Theologie. Hrsg. von Peter Koslowski. München 2006. 201 Vgl. Hans Jonas. Philosophische Meditation über Paulus, Römerbrief, Kapitel 7. In: Zeit und Geschichte. Dankesgabe an Rudolf Buhmann zum 80. Geburtstag. Hrsg. von Erich Dinkler. Tübingen 1964. S. 557 ff. - Zum folgenden vgl. Hans Jonas: Im Kampf um die Möglichkeit des Glaubens. Erinnerungen an Rudolf Bultmann und Betrachtungen zum philosophischen Aspekt seines Werkes. In: Gedenken an Rudolf Buhmann. Hrsg. von Otto Kaiser. Tübingen 1977. S. 41 ff.
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3. Ernst Käsemann und seine Erben Für Rudolf Bultmann ist die Gerechtigkeit Gottes ein reines Geschenk. Seine Schüler Heinrich Schlier und Ernst Käsemann sind sich über die Konfessionsgrenzen und unabhängig von der geschichtlichen Einordnung der Schriften des Paulus und seines Kreises darin einig, dass die Gerechtigkeit Gottes sowohl eine Gabe wie eine Seinsmacht ist. In seiner Arbeit Gottesgerechtigkeit bei Paulus sieht Käsemann das Heil der Welt darin, dass sie unter Gottes Herrschaft zurückgebracht wird. Da Käsemann weitgehend mit Thesen von Schlier übereinstimmt, braucht dieser Teil seines Werkes hier nicht behandelt zu werden. Wie bei Schlier ist nicht sein Kommentar zum RömerbriefThema; wenn bei Schlier der Bezug zu dem Kreis um Ludwig von Ficker zentral für uns war, so soll bei Käsemann beachtet werden, wie er über seine Schüler zurückwirkte auf die Bemühungen um Heidegger, vor allem in Amerika. Wenn Ernst Käsemann als Pfarrer in Gelsenkirchen arbeitete, dann im alten Ruhr-Gebiet, wo es um Kohle und Stahl ging und Grubenunglücke immer wieder an die Unsicherheit des Lebens und Arbeitens erinnerten. Wenn sein Widerstand gegen die Gleichschaltung der Kirche ihn unter Hitler ins Gefängnis brachte, dann wurde er wach für die Notwendigkeit des Widerstandes auch gegen weitere politische Entwicklungen in der Welt. Bekanntlich fand seine Tochter als Sozialarbeiterin in Mittel- und Südamerika den Tod; auch das Leben und Denken ihres Vaters wurde durch diesen Mord noch einmal radikalisiert. Das Schicksal seiner Tochter war kein Einzelfall; mussten Theologie und sozialrevolutionäres Tun nicht wieder vom Ansatz christlichen Glaubens her zusammengeführt werden? Bei Käsemanns Bibellektüre auf den überfüllten Veranstaltungen der Kirchentage ging es darum, das Wort Gottes in die neu entstehende Welt einzubringen. Wenn vor den nachästerlichen Christus der Gesetzeslehrer Jesus und seine prophetische Predigt gestellt wurde, dann geschah das im Blick auf neue globale Entwicklungen. Ernst Käsemann sammelte 1960 wichtige Aufsätze von seiner Hand. Dabei sagte er im Vorwort, seine Generation habe "nicht zufällig" nicht die großen Entwürfe vorgelegt, die von ihren Lehrern publiziert wurden. Diese Lehrer waren vor allem Barth und Bultmann. "Gerade in der Auseinandersetzung mit ihnen", so sagt Käsemann, "waren wir, wenngleich in verschiedener Intensität und Vorsicht, häufig gezwungen, aus dem eigentlichen Bereich systematischer Entscheidungen in das Vorfeld historischer Versuche und Besinnungen zurückzugreifen und bei deren Problemen zu verweilen, darin manchmal unseren Großvätern ähnlicher als den Vätern, wie das in der Erbfolge vorkommt." Käsemanns Aufsatz Das Problem des historischen Jesus wurde erstmals 1954 publiziert. Anders als bei Bultmann soll Jesus nicht nur als Jude genommen und als Christus aus dem Kerygma der Gemeinde verstanden werden, sondern eben "historisch" in seiner differenzierten Haltung. In dem "Ich aber sage" der Bergpredigt grenze er sich von Mose, also von der jüdischen Tradition ab. "Dazu gibt es keine Parallelen auf jüdischem Boden und kann es sie nicht geben. Denn der Jude, der tut, was hier ge-
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schieht, hat sich aus dem Verband des Jüdischen gelöst oder - er bringt die messianische Thora und ist der Messias ... Diese Souveränität erschüttert nicht nur die Grundlagen des Spätjudentums und verursacht darum entscheindend seinen Tod, sondern hebt darüber hinaus die Weltanschauung der Antike mit ihren Antithesen von kultisch und profan und ihrer Dämonologie aus den Angeln. "202 Rudolf Bultmann musste sich mit diesem Rückgang auf den "historischen Jesus" auseinandersetzen. Das tat er 1959/60 in seiner Rede in der Heidelberger Akademie der Wissenschaften Das Verhältnis der urchristlichen ChristusbotschaJt zum historischen Jesus. Bultmann gibt auch anderen Schülern und Freunden, die ähnlich wie Käsemann argumentierten, Antwort (Fuchs, Ebeling, Bornkamm, Braun, J.M. Robinson): Jesus habe sich selbst als eschatologisches Phänomen verstanden; daran habe die Kirche angeknüpft. Das Einmal wird nach Bultmann zu einem Ein-for-allemal. In der Verheißung des Glaubens, die im Osterglauben wurzele, sei Jesus präsent. Der Aufsatz Dikaiosyne theou von 1964 versteht die Gerechtigkeit Gottes als Genitivus auctoris, als Gabe. Nach Käsemann soll diese Formulierung Genitivus subjectivus sein, eine heilsetzende Macht. Doch nach Bultmann gibt es "Gerechtigkeit Gottes" als eschatologisches Ereignis erst bei Paulus. "Wo gibt es", so fragt er rhetorisch, "in der jüdischen Literatur ein dem paulinischen nyn entsprechendes ,Jetzt'?" Bultmann bleibt bei der Auffassung, die er 1923/24 mit Heidegger geteilt hatte. 203 In seinem Aufsatz Jesus Christus und die Mythologie (zuerst englisch 1958) verweist Bultmann darauf, dass Johannes Weiß im Bruch mit der idealistischen Auffassung von Jesus als dem Lehrer in Jesus den Vertreter einer Enderwartung gesehen habe. Albert Schweitzer habe diese Theorie "ins Extreme" geführt. "Er behauptet, nicht nur die Predigt und das Selbstbewusstsein Jesu, sondern auch sein tägliches Leben sei von einer eschatologischen Erwartung bestimmt gewesen, die zu einem alles durchdringenden Dogma über die letzten Dinge anwuchs." Der Aufsatz Die Erforschung der synoptischen Evangelien von 1961 sagt, die These vom messianischen Bewusstsein Jesu habe in eine große Ratlosigkeit geführt. "Wieweit hat Jesus sich im jüdischen Sinne als Messias gewusst, wie weit hat er den jüdischen Messiasbegriff umgebildet? Hat er sich von Anfang an (etwa seit der Taufe) als Messias gewusst, oder ist sein Messiasbewusstsein allmählich entstanden, etwa erst gegen Ende seiner Wirksamkeit? War das Messiasbewusstsein für ihn ein Stolz und ein Trost in den Anfechtungen, oder war es eine Last, die er schwer trug? War es überhaupt wesentlich für ihn, oder war es eine relativ gleichgülitge Form seines Berufsbewusstseins? Ja, hat er sich überhaupt für den Messias gehalten, oder hat erst der Glaube der Gemeinde ihn dazu gemacht?" Aus dieser Skepsis gegenüber dem "historischen Jesus" erwächst das, was allein wichtig ist: Jeder einzelne wird durch die Kirche dahin geführt, dass es ihm im alles entscheidenden Augenblick seines Lebens um die letz202 Vgl. Ernst Käsemann: Exegetische Aufsätze und Besinnungen. Göttingen 1960. S. 7, 206, 208. 203 Vgl. Rudolf Buhmann: Exegetica (s. Anm. 41). S. 445 ff und 470 ff. - Zum folgenden vgl. RudolfBuhmann: Glauben und Verstehen. Vierter Band. 5. Auf!. Tübingen 1993. S. 141 ff-. vor allem 142, 8.
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ten Dinge geht. Damit ist die Eschatologie "präsentisch" geworden, existenzial aus dem Existenzvollzug interpretien. Ernst Käsemann publiziene 1964. Exegetische Versuche und Besinnungen lL Darin greift der Aufsatz Sackgassen im Streit um den historischen Jesus Butmanns angefiihne Rede in der Heidelberger Akademie der Wissenschaften an. Der hochbetagte Rudolf Bulrmann konnte darauf noch eingehen in seiner Antwort an Ernst Käsemann (1965). Er glaubt, dass die Gemeinsamkeit in der Besinnung auf die Sache auch Spannungen müsse ertragen können. Doch kann er Käsemann den Vorwurf nicht ersparen, dass dieser ihn "mehrfach, und gerade in entscheidenden Punkten missverstanden" habe. 204 Buhmann sagt von der objektivierenden historischen Interpretation, sie bleibe "unentbehrlich". Sie liefere aber "keine eigentliche Interpretation der geschichtlichen Phänomene". In dieser werde das Phänomen mit seiner Zukunft zusammen gesehen. Das geschichtliche Phänomen gehöre (anders als das naturwissenschaftliche) in einen "Wirkungszusammenhang, in dem die Entscheidung der Handelnden eine wesentliche Rolle spielt". Hier ist dann "die Subjektivität des Historikers ein notwendiger Faktor objektiver historischer Erkenntnis". Bei der Beziehung der existenzialen Interpretation zum historischen Verständnis der Geschichte muss Bultmann sich von seinen Schülern absetzen. Wenn Ernst Käsemann (wie Gerhard Ebeling) von einem "dialektischen Verhältnis" spreche, setze er die Hegelsche Tradition voraus, die den Faktor der Entscheidung nicht genügend zur Geltung bringe. Buhmann kann die Unterscheidung zwischen dem historischen Jesus und dem Christus des Kerygmas nicht in diesem Sinne verstehen. Nach seiner Auffassung liegt bei Paulus und Johannes alles am Dass des historischen Jesus - dass er gekommen ist! Damit sei auch die Möglichkeit oder gar Notwendigkeit gegeben, die Tradition vom historischen Jesus zu "wiederholen", also zu bewahren und weiterzutragen - "damit der Kyrios nicht zu einer mythischen Gestalt wurde". In diesem Sinne kann Bultmann Käsemann zustimmen, "dass der irdische Jesus das Kriterium des Kerygmas ist und dieses legitimien". Da Buhmann Jesus als "Juden" bezeichnet hatte, fragte Käsemann, ob Paulus und Johannes nicht auch Juden gewesen seien. Diese Frage verneint Buhmann: "Denn mit dem Glauben an Jesus Christus als das eschatologische Ereignis sind sie aus dem Judentum (in dem Sinne, in dem es hier in Frage kommt) ausgeschieden und stehen in der Gemeinde, in der es weder Juden noch Griechen gibt." Da Käsemann in Jesus schon ein Was findet, das den Glauben trägt, bleibt jedoch der Unterschied zu seinem Lehrer der Sache nach bestehen. Wenn die Tochter von Ernst Käsemann in die Sozialarbeit ging und so im Zusammenhang mit den mittel- und südamerikanischen Befreiungsbewegungen umkam, zeigte ihr Schicksal an, dass die Kinder und die Schüler der Schüler von Rudolf Buhmann auch im Leben verwirklichen wollten, was sie aus der Theologie aufgenommen hatten. Thomas Sheehan sammelte, vor allem in den siebziger 204 VgI. Buhmann: Glauben und Verstehen. Viener Band (s. Anm. 203). S. 190 ff., vor allem 190; zum folgenden vgl. vor allem 192 f, 194, 195 f.
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Jahren, die Dokumente von Heideggers frühen Lehrveranstaltungen und seiner späteren politischen Verwicklungen. So gab er 1981 den Sammelband Heidegger: The Man and the Thinker heraus. Seine Anliegen wurden dann von Theodore Kisiel fortgeführt. Auch Sheehan fühlte sich verpflichtet, mit der Waffe in der Hand an den mittel- und südamerikanischen Freiheitskämpfen teilzunehmen. Ein Buch Sheehans The First Coming. How the Kingdom o[ God became Christianity zeigte 1986 den Rückbezug der Religion auf das konkrete Leben und geschichtliche Existieren. Beeinflusst durch die Vorgänge um Ernst Käsemanns Wirken glaubte Sheehan, Bultmanns Exegese zurücklassen zu können zugunsten der Frage nach dem historischen Jesus. Dieser legt alle Hoheitstitel ab, die sich mit seiner Auszeichnung als Messias und damit als Christus verbunden hatten. Er wird gesehen von seinem sozialrevolutionären Wirken her, das zu einem ebensolchen Einsatz in den Krisenregionen der Welt aufrufe. Doch das verkündigte Reich Gottes sei zur Christenheit geworden. Diese Sicht war nicht neu: Selbst Papst Benedikt XVI. verwies in seinem Buch Jesus von Nazareth (S. 78) auf das "berühmt gewordene Wort des katholischen Modernisten Alfred Loisy, Jesus habe das Reich Gottes verkündigt, und gekommen sei die Kirche. Rudolf Bultmann selbst hat dieser Verbindung von Christlichkeit und Politik immer widerstanden. Für ihn führt der Glaube auch zu einer letzten Freiheit im politischen Bereich, doch soll er nicht selbst politisch oder politisiert werden. Vielmehr soll er eine besonnene Politik freisetzen, die den Regeln ihres Bereichs folgt. Freilich glaubte man Bultmann auf eine Existenztheologie festlegen zu können, die die gesuchte Eigentlichkeit des Existierens mit der Berücksichtigung der Mitexistierenden in der Nächstenliebe verbinde. Beides aber sei nicht eingebettet in die gesellschaftlichen und geschichtlichen Ordnungen menschlichen Zusammenlebens. Im theologischen Bereich hat z.B. Heinz Eduard Tödt in seinem Buch Bultmanns Ethik der Existenztheologie diese Fragen zu einer Anfrage an Buhmann ausgebildet. Er gesteht zu, dass der frühe Buhmann die ethische Ausrichtung der palästinenischen Gemeinde neben der mystischen Ausrichtung der hellenistischen Gemeinden kenne und diese Alternative 1923/24 dadurch überwinde, dass er bei Paulus eine Gerechtigkeit finde, die als vorgegebener Indikativ aufgegebener Imperativ sei. Bultmann hat ja 1933 der Diskriminierung des Jüdischen widersprechen und seinen Widerstand dann auch mit der AntigoneTragödie verbunden. Bleibt die Verknüpfung des eigentlichen Existierens mit der Nächstenliebe in dem Aufsatz von 1930 Das christliche Gebot der Nächstenliebe nicht in der Existenzphilosophie befangen, die damals ja auch in der Philosophie von Karl Jaspers zum Existieren die Kommunikation stellte? In den lebhaften Diskussionen über diese Dinge wurde der Weg, den Bultmann wirklich ging, oft nicht gesehen. Auch Karl Barth musste gegen erste Vermutungen noch lernen, dass Rudolf Buhmann trotz seiner Freundschaft mit Heidegger konsequent im Widerstand gegen den Nationalsozialismus stand. Es wäre falsch, bei Buhmann einen Rückzug aus der Zeit zu sehen. Vielmehr suchte er frei von Heideggers Wegen und später frei auch vom Politisieren einiger Schüler oder Enkelschüler seine philosophisch-politisch-theologischen Überzeugungen auszubilden.
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4. Bultmanns späte Wege Hans-Georg Gadamer hat 1964 in der Festgabe zu Bultmanns achtzigstern Geburtstag über Martin Heidegger und die Marburger Theologie gehandelt. Er hatte in Wahrheit und Methode von der Erfahrung der Kunst und vom Problem der Rechtssprechung und Rechtsentwicklung her zur Wirkungsgeschichte geführt. In dieser unterscheidet sich das eine Verständnis vom anderen (das interpretierte vom interpretierenden); doch wird das eine durch das andere immer wieder anders entfaltet, Es steht in einem Wirkungszusammenhang als einer Wirkungsgeschichte. In der Bultmannfestschrift bezeichnet Gadamer das Wort "Selbstverständnis" als ein "Lieblingswort" Bultmanns schon in den zwanziger Jahren. Doch unterstellt er, dass Buhmann das griechische Philosophieren hellenistisch vom stoischen Autarkieideal her sehe und auf die volle Verfügung ausrichte. Diese werde vom unverfügbaren Glauben abgegrenzt. Ließ sich der Glaube durch die existenziale Interpretation einbringen in eine transzendentalphilosophische Auffassung von Sein und Zeit?205 Diesem Weg stellt Gadamer die Kunsterfahrung und Rechtssprechung gegenüber; dabei kann er sich auf Heidegger berufen, der seit seiner "Kehre" anders als Bultmann die Ausrichtung auf die Eigentlichkeit "austilgte". In dieser Einschätzung Bultmanns wird übersehen, dass dieser etwa seine Theologische Enzyklopädie von Gogarten und von Heidegger her aufbaut, also die Dialogik zur Existenzanalyse stellt. Wenn Bultmann 1955 in seinen schottischen Vorlesungen über Geschichte und Eschatologie das Problem der Hermeneutik erörtert, kann er die Verarbeitung Diltheys in Sein und Zeit verbinden mit der Hege1nähe von Croce und Collingwood. Kierkegaards Wegweisung scheint durch, wenn Buhmann abschließend sagt: "In seinem Glauben ist der Christ ein Zeitgenosse Christi, und Zeit und Weltgeschichte sind überwunden. Die Ankunft Christi ist ein Ereignis im Reich der Ewigkeit, die inkommensurabel ist im Verhältnis zur historischen Zeit."206 Heideggers Fragen z.B. nach der Bedeutung der Zen-Meditation und dem Verhältnis der europäischen zur ostasiatischen Tradition kann hier überhaupt nicht aufkommen. Schwerlich konnte Heidegger davon angesprochen werden, dass Sein und Zeit bei Bultmann eingeordnet wurde in den Hegelianismus von Croce und Collingwood. R. G. Collingwood hatte auch als Archäologe durch Ausgrabungen den Boden auf die Geschichte hin befragt, die dort stattgefunden hatte. So konnte Hans-Georg Gadamer 1960 in Wahrheit und Methode von ihm her die "Logik von Frage und Antwort" entfalten und diese fortführen zur Wirkungsgeschichte, in der jedes Verstehen immer schon steht. Bultmann stellte den Aufgaben, von denen Collingwood sprach, das Selbstverständnis entgegen, das wir gewinnen müssen. Dieses Selbstverständnis muss sich aus der Verfasstheit in Weltanschauungen immer wieder befreien. Der Weltflucht der 205 Vgl. Gadamer: Heideggers Wege (s. Anm. 110). S. 36 Anm. , zum folgenden 37. 206 Vgl. Buhmann: Geschichte und Eschatologie (s. Anm. 158). S. 182, zum folgenden 178, 181. 182, 175.
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Gnosis, aber letztlich auch der Stoa trete der christliche Glaube gegenüber, der das Menschsein überhaupt als ein geschichtliches verstehe und sich in der ständig neuen Begegnung mit Jesus als dem Christus die Liebe Gottes zusprechen lasse. In dieser Liebe komme das Verfallen an die Welt an ein Ende; sie befreie den Menschen zu seiner Freiheit. Dabei mache sie ihn frei für das "reine Sein für die anderen". Der Mensch ist so "entweltlicht" und doch konkret da im Hier und Jetzt. Er ist der "Zeitgenosse Christi", da Christus in seinem Leben ankommt und es verwandelt. Das aber ist "ein Ereignis im Reich der Ewigkeit, die inkommensurabel ist im Verhältnis zur historischen Zeit". Bultmann bezieht sich auf S. 384 von Sein und Zeit, wo Heidegger davon spricht, dass die Entschlossenheit das Dasein in die Einfachheit seines Schicksals stelle. Doch lässt Bultmann aus, dass Sein und Zeit zugleich vom Geschick spricht, das Schicksale verbindet zum "Geschehen der Gemeinschaft, des Volkes". So stimmt Bultmann nicht überein mit dem, was Heidegger als Intention seiner Daseinsanalyse darlegt. Waren der Weg des Philosophen und der Weg des Theologen nicht von Anfang an verschieden? Diese Verschiedenheit musste zur Geltung kommen in der Frage nach dem Wesen der Wahrheit. Hans von Soden hatte 1927 seine Marburger Rektoratsrede Was ist Wahrheit? Vom geschichtlichen Begriff der Wahrheit publiziert. Danach ist Wahrheit im Hebräischen die Treue, die in der Geschichte durchgehalten werden muss. Diese Auffassung nimmt der christliche Glaube auf und unterscheidet sich so vom griechischen Wahrheitsverständnis. Heidegger bezweifelte im Brief an Bultmann vom 6. 10. 1927, dass der vielbeschäftigte von Soden die geringste Ahnung davon habe, welcher methodischen Vorklärungen eine solche Beschäftigung mit "Allgemeinheiten" bedürfe. Als Rudolf Bultmann ihm dann seinen Artikel über aletheia schickte, machte dieser für Heidegger schon "ein anderes Gesicht" als der Vortrag von Sodens (so brieflich am 23. 10. 1928). Rudolf Bultmann hielt Anfang Oktober 1928 in Eisenach seinen Vortrag Wahrheit und Gewissheit. Heidegger kam bald nach der Publikation von Sein und Zeit mit dem Vortrag vom Wesen der Wahrheit zu dem, was dann "Kehre" genannt wurde. Die Frage nach dem Wesen der Wahrheit führte zur Wahrheit des (verbal zu verstehenden) Wesens, also zur Seingeschichte. Bultmanns Vortrag nimmt von Sodens Hinweise auf das unterschiedliche geschichtliche Verständnis von Wahrheit im Alten Testament, bei den Griechen, im Heuen Testament auf. Er sagt, dass die Theologie das Verständnis des Glaubens klarzustellen habe. ,,Alle andern Weltanschauungen oder Daseins-Auslegungen treten unter das Licht des göttlichen Anspruchs, d.h. die Verkündigung stellt an alle die Frage, ob der Mensch es wagen will, sich aus der Welt her in seiner Eigentlichkeit zu verstehen (als sich selbst gehörend, frei über sich verfügend), oder ob er verstummen will als Geschöpf vor dem Schöpfer, d.h. ob er sich als Geschöpf verstehen will." Doch müsse die Theologie die christliche Verkündigung so explizieren, dass "das in ihr gegebene Daseinsverständnis" deutlich werde "als seine Daseins-Auslegung, in der sich der Mensch verstehen kann". Dabei muss die Theologie Begriffe vom Daseinsverständnis nutzen, wie Sein und Zeit sie in der Existenzanalyse entfaltet hat. BuItmanns Vortrag ist seiner Vorlesung Theolo-
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gische Enzyklopädie als Anhang beigegeben, da er in ihr vielfach benutzt wird. Bultmann hat diese Vorlesung 1926 von Rade als Einführungsvorlesung übernommen und dann bis 1936 viermal wiederholt. Die Vorlesung wurde in den Sommersemestern gehalten, und zwar 1926,1928,1930, 1933, 1936. 207 Bultmann schloss 1929 mit dem Verlag J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) einen Vertrag über die Herausgabe einer Reihe Neue theologische Grundrisse. Dabei sollte er selbst die Bände Theologische Enzyklopädie und Biblische Theologie des Neuen Testaments übernehmen. Im Februar 1930 hatte der Verleger die Hoffnung, dass die Theologische Enzyklopädie bald fertig sein werde. Dazu kam es in den Wirren der Zeit nicht. In seinen letzten Lebensjahren erhoffte Bultmann sich eine Drucklegung. Offenbar war es ihm wichtig, dass seine einstige Zusammenarbeit mit Heidegger offengelegt wurde, aber auch der Unterschied ihrer Wege. Erich Dinkler befasste sich mit dem Manuskript, verstarb aber. So kam die Theologische Enzyklopädie erst nach Bultmanns Tod zu seinem hundertsten Geburtstag 1984 heraus. Dagegen konnte Bultmann selbst noch mehrere Auflagen seiner Theologie des Neuen Testaments in der Reihe Neue theologische Grundrisse besorgen. Bultmann hat für seine Vorlesung 350 Blätter beschrieben. ,,Als Schreibmaterial benutzte Bultmann neben den Resten eines - teilweise von anderer Hand beschriebenen - Kassenbuchs die freien Seiten von Seminarklausuren, Briefen, Anzeigen, Behördenpost, Rechnungen, aufgetrennten Briefkuverts und dergleichen. "208 Mit der postumen Drucklegung sollte ein verkaufsfähiges Lehrbuch für Studenten geschaffen werden. Damit wurde eine Auswahl nötig, die auch auf wichtige Formulierungen verzichten musste. So beginnt die vollständige Transkription des Manuskripts mit Blättern, die ganz oben im Karton der Vorlesungsnotizen lagen, also nicht Bestand der Vorlesungsnotizen waren, und Heidegger und Gogarten zusammenstellen. Die Thematik des Anderen wurde damals gegen Heidegger stark gemacht; von Buber, Rosenzweig und schließlich Levinas her wurden Akzentsetzungen eingebracht, die sowohl Heidegger wie Bultmann fremd geblieben sind. Die Synopse der Inhaltsvereichnisse vermerkt, dass die Vorlesung von 1926 zur Frage "Was ist Theologie?" an erster Stelle Peterson nennt. 209 Die vollständige Transkription verweist auf die 31 Seiten Was ist Theologie?, die Erik Peterson 1925 publizierte. Bultmann sagt dazu: "Zunächst fast unverständlich. Jedenfalls soll damit die Theologie als ein übernatürliches Faktum oder Geschehen bezeichnet werden, wie Offenbarung und Dogma es auch sind." Doch sei die Verlegenheit angesichts dieser Frage schon ein Hinweis darauf, "dass Theologie jedenfalls nicht bloß das ist, was wir nach Gutdünken daraus machen, sondern dass wir nur wirkliche Theologen sind, wenn in unserer Theologie etwas wirksam ist, worüber 207 Vgl. Bultmanns Vortrag in Bultmann: Theologische Enzyklopädie (s. Anm. 131). S. 183 fr., vor allem 201, zum folgenden S. IX f., V. 208 Ebenda S. V; s. auch Anm. 131. 209 Ebenda S. 173. - Zum breit gefächerten Werk von Peterson vgl. Barbara Nichtweiß: Erik Peterson. Neue Sicht aufLeben und Werk. Freiburg i. Br. 1992.
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wir nicht verfügen, wenn in ihr etwas geschieht, was nur deshalb geschehen kann, weil es Offenbarung gibt, mit der die Theologie also in Zusammenhang steht". Natürlich kann man den Konvertiten Peterson nicht gerade Studenten der evangelischen Theologie nahe legen. Wenn es jedoch darum geht, Buhmann in die Erörterungen der Forschung zu stellen, dann ist dieser Hinweis wichtig. Erik Peterson trat 1935 mit seinem Traktat Der Monotheismus als politisches Problem. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Theologie im Imperium Romanum der Politischen Theologie seines Freundes Carl Schmitt, aber auch schon des Bischofs Eusebius entgegen: Das trinitarische Dogma verbiete den Missbrauch der christlichen Verkündigung für eine Rechtfertigung von Politik. Bezeichnender Weise benutzte Heinrich Schlier die Untersuchungen Petersons, wenn er 1935 und später legitime und usurpierte Macht unterschied (aber auch das Kerygma zum Dogma hinführte).210 In den Vorlesungsnotizen erwähnt Buhmann auch Carl Schmitts Kritik der Romantiker; er führt mithilfe des Humboldh-Buches von Siegfried A. Kähler eine Auseinandersetzung mit Wilhelm von Humboldt. Im folgenden soll nur der publizierte Text von Bultmanns Vorlesungen interessieren. Dabei kann nicht davon abgesehen werden, dass im Zeitraum von 1926 bis 1936 das Jahr 1933 den Sieg des Nationalsozialismus brachte. Darauf musste Bultmann reagieren, da er die Studenten hinführen wollte zum sinnvollen Studium. Zugleich musste er sich der Frage stellen, wieweit sein Freund Heidegger, der 1933 Rektor der Freiburger Universität wurde, sich gegen alle seine Beteuerungen doch dem Nationalsozialismus angeschlossen hatte. Als dann seit 1941 die Frage der Entmythologisierung in den Vordergrund trat, war vorausgesetzt, dass Heidegger den Menschen durch die Sorge charakterisiert sah, die auf dem Grunde der Angst zur geschichtlichen Entscheidung finden muss. Mit diesen Gedanken blieb Heideggers Existenzanalyse die maßgebliche Philosophie. Wie Bultmanns Theologie zu ihr stand, müssen die Vorlesungen über Theologische Enzyklopädie zeigen. Bultmann sprach 1933 davon, dass die nationalsozialisitsche Weltanschauung mit "allerlei lauten Ansprüchen" auftrete. Die Rasse solle der höchste Wert sein, an dem alles Handeln sich orientiere. In Wahrheit könne weder die Mathematik noch die Wissenschaft überhaupt als Äußerung der Rasse verstanden werden. Von der Rasse her könne die Frage nach der Wahrheit nicht gestellt und beantwortet werden. Die Orientierung an der Rasse stecke "im Positivismus in seiner amerikanischen Form des Pragmatismus". (Der Bezug auf den amerikanischen Pragmatismus bei Buhmann wie bei Heidegger wird allerdings nicht einmal dem Pragmatismus eines Dewey gerecht und kennt den ursprünglichen Pragmatismus von Peirce überhaupt nicht.) Buhmann betont auch den Einfluss von Dostojewski auf Barth und Gogarten (von diesem Einfluss war auch der frühe Heidegger geprägt, vor allem Thurneysen). Das Prinzip der Phänomenologie sei gegenüber dem Positivismus und Pragmatismus "der Ruf zu den Dingen selbst". So könnten theologische und philosophische Arbeit "manigfach verschwistert" sein. Die 210 Vgl. Schlier: Die Zeit der Kirche (s. Anm. 150). S. 28, 64, 90.
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Theologie könne sich an der Phänomenologie orientieren, da diese keine Weltanschauung sei, sondern ein "echtes Fragen nach den Dingen" ausarbeite. Der Ausgangspunkt von beiden liege bei Kierkegaard und Nietzsehe, den "großen Erwekkern" im 19. Jahrhundert. Beide seien durch Heidegger und Jaspers zur Wirkung gekommen. (Buhmann nannte 1936 auch den Jenaer Philosophen Grisebach, dessen Schwer Kuhlmann seit 1931 in die Diskussionen über Philosophie und Theologie eingriff.) Neben Kierkegaard und Nietzsehe stellt Buhmann Dilthey, der von den Invektiven her gesehen wird, die der GrafYork von Wartenburg gegen seine Analysen gerichtet hat. Jakob Burckhardt wird mit seinen Weltgeschichtlichen Betrachtungen angeführt. In der Theologie sei der "große Umschwung" durch Karl Barths Römerbriefvon 1919 und durch Gogartens Ruf zur Entscheidung in der Krisis der Zeit gekommen. Franz Overbeck, der Freund Nieztsches, wird zwar genannt, aber nicht aufgearbeitet.2l1 Als leitende Überzeugung formuliert Bultmann: "Wirksam überall die Erlebnisse des Weltkriegs, die jedoch nicht die primär begründenden waren, cf. die vorherigen Bewegungen der Lebensreform, Jugendbewegung etc." Im Verlauf der Vorlesung besteht Bultmann darauf, dass die Welt nicht mehr in idealistischer Ausrichtung als "zeitlose Weh" des Guten, Wahren und Schönen gefasst werde, sondern "in romantischer Weise als die Welt der irrationalen Lebenskräfte". Die Weltanschauung des Nationalsozialismus oder vielmehr der nationalen Bewegung sei in Gefahr, diesem Weg zu den irrationelen Lebenskräften zu verfallen. Die positive Kraft dieser Bewegung erhebe sich zu eigenem Bewusstsein "in einer Ideologie", die diese Bewegung "zu verdecken und damit zu verderben" drohe. (Buhmann erläutert den Begriff der Ideologie, der aus der marxistischen Lehre vom Überbau über die gesellschaftlichen Kräfte stammt, nicht näher.) Das, was "Volkstum" heiße, sei "nie ein Gegebenes als Vorhandenes", sondern "immer zugleich ein Aufgegebenes". Heideggers Begriff vom Volkstum in der Rektoratsrede sei "kein biologischer", sondern ein "geschichtlicher". Heidegger lasse den Anfang der Geschichte mit dem Aufbruch des Menschen zu sich selbst bei den Griechen beginnen und stelle ihn vor uns als eine "in unsere Zukunft eingegangene ferne Verfügung über uns". Heideggers Engagement für die nationalsozialistische Revolution wird also gesehen als ein durchaus kritisches. Wie Bultmann auf Heidegger eingeht, soll vorweg gezeigt werden. Offensichtlich steht für Buhmann doch die Weise im Raum, in der Karl Barth und Martin Heidegger auf Overbeck eingingen. Buhmann besteht 1926 darauf, dass die Theologie nicht aus Neugier entspringe und nicht als Brotberufbetrieben werden könne. Sie sei eine Arbeit und ein Wagnis, in dem es um uns selbst gehe. "Scheitern wir als Theologen, so muss das dann bedeuten: nicht einfach (wie wenn man an einem beliebig andern Beruf scheitert) die Theologie ist nichts für mich, sondern: es gibt keine Theologie, und die Arbeit war ein Schritt auf dem Wege zur Wahrheit. Vielleicht aber werden wir in der Arbeit dessen gewiss, dass es Theologie gibt, weil wir Theologen sind." Für Buhmann ist die Frage Was ist Theologie? 211 Vgl. Bultmann: Theologische Enzyklopädie (s. Anm. 131). S. 8 ff., zum folgenden 10,64 f.
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eine theologische und kann nur theologisch behandelt werden. Dazu notiert Bultmann in späteren Vorlesungen, dass nach Karl Barth die Dogmatik sich nur dogmatisch einleiten und nicht auf einer religionswissenschaftlichen Grundlegung aufbauen lasse. Aus Heideggers Rede Was ist Metaphysik? führt er an, dass Heidegger nicht über Metaphysik reden, sondern die Metaphysik metaphysisch erörtern wolle. Der Christ müsse aus der christlichen Liebe aufnehmen, was aus der Vergangenheit in die Gegenwart eingebracht werde. ,,Also gerade auch jene durch den Hass qualifizierten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zustände", die zum Handeln in ihnen aufrufen. Bultmann lässt es sich durch die Tradition von Augustinus über Pascal bis Scheler bestätigen, dass im Raum des Christlichen die Erkenntnis in der Liebe wurzele. Hierzu kann Buhmann Verse Goethes anführen, die ihm besonders am Herzen lagen: Liegt dir Gestern klar und offen, Wirkst du Heute kräftig frei, Kannst auch auf ein Morgen hoffen, Das nicht minder glücklich sei.
Heideggers Analyse der Geschichtlichkeit wird hier von der Tradition, von Goethe her aufgenommen. 212 Vor der Vorlesung von 1926 hatte Buhmann Heideggers Typoskript über Phänomenologie und Theologie bekommen. So konnte er mit Heidegger festhalten, dass echtes Wissen "ein Stück des Lebens selbst" sei. Dazu zitierte er aus Heideggers Typoskript längere Passagen über das "un- und vorbegriffliche Seinsverständnis" und über das Unbegreifliche. Das Unbegreifliche, das man Gott zuspreche, schließe eine begriffliche Fassung nicht aus. Es verlange eine begriffliche Auslegung, die an ihre Grenzen stoße; sonst bleibe "die Unbegreiflichkeit gewissermaßen stumm". Im Sommer 1930 hielt Buhmann schon fest, die Auffassung des Christentums als eine geschichtliche Begebenheit müsse das Christentum idealistisch auffassen oder naturalistisch als Ideologie. Mit Heidegger wurde die Christlichkeit über das Christentum gestellt. Bultmann betonte, dass das Wort der Verkündigung in den Augenblick und in das innergeschichtliche Geschehen "hineingesprochen" werde und so den Augenblick "qualifiziere". "Heilsgeschichte" sei nicht das "innergeschichtliche Geschehen". Das Hören des Wortes als innerzeitlicher Vorgang in der Predigt falle nicht "mit der in der Begegnung des Nächsten geforderten Tat zusammen". Hier fügte Bultmann 1936 "in der Begegnung mit dem Schicksal" vorweg ein und stellte so Heidegger vor Gogarten. Doch waren Existenzphilosophie wie Dialogik auf das Hören des Wortes der Verkündigung bezogen. 213 Im Sommer 1938 nahm Buhmann Kierkegaard und Nietzsche als die großen Erwecker und das breite Spektrum der Erneuerungsbewegungen mit Heidegger und Jaspers sowie mit Barth und Gogarten auf. Die Offenbarung sage dem Glau-
212 Ebenda S. 16,28,136,43, zum folgenden 43,54. 213 Ebenda S. 12, 144, zum folgenden 8 ff., 64 f., 89.
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ben, dass das Dasein, so wie es ist, nie bei sich, somit nie "eigentlich" sei. "Sagt die Philosophie, dass es eigentlich existiert, indem es sich gerade als begrenztes bejaht, indem es im Entschluss todbereit die Situation übernimmt, so sagt der Glaube, dass solcher Entschluss die Verzweiflung ist, in der gerade zum Vorschein kommt, dass es nicht ist, wie es sein will und soll." Sein und Zeit. wie es (als Fragment) gedruckt wurde, gipfelt im Vorlaufen zum Tode und dann im Gewissen-haben-wollen (einer allzu angestrengten und gewaltsamen Formulierung). Gerade diese Partien bestätigen es Bultmann, dass das Denken von Sein und Zeit verzweifelt ist. (Von daher kann auch verständlich werden, dass Heidegger seine Hoffnungen weniger auf die nationalsozialisistsche Partei, aber doch auf Hitler setzte. In jedem Fall ist Bultmanns Verhältnis zu dem Verfasser von Sein und Zeit als Person ein freundschaftliches, aber philosophisch-theologisch ein distanziertes. ) In der Vorlesung vom Sommer 1936 nimmt Bultmann schon ebenso Sein und Zeit als Beleg einer Verzweiflung, die zur Empörung gegen Gott wird. "Im Gewissenhabenwollen entschließt sich der Mensch, er selbst zu sein in eigener Verantwortung; er entschließt sich zur Schuldbereitschaft. Das heißt aber: er erkennt das Dunkel des Augenblicks an und wagt auch in diesem Dunkel, er selbst zu sein. Er hört im Augenblick nicht Gott, sondern sich selbst." Gottes Ruf im Augenblick werde "übertönt von der Stimme des eigenen Wollens und Wünschens, von der Sünde". Doch die Offenbarung befreie den Menschen "von der Angst, die den Schöpfer verleugnet". "Hier wird deutlich, dass der Hass des Menschen in seiner Angst gründet. Er gibt sich nicht an den Andern hin, weil er sich zu verlieren fürchtet. "214 Bultmann kann nicht umhin zu konstatieren, dass Heidegger nur sich selbst und sein Denken suche, so aber in der "Sünde" sei. Diese Sünde hatte Heidegger 1924 in seinem Beitrag zu Bultmanns Seminar als Ausgangspunkt genommen. Später hatte er die Verfallenheit an die "Welt" mit der Eigentlichkeit zusammen als schicksalhafte Verflechtung gefasst. So konnte von der Aufnahme der griechischen Tragik in der deutschen Dramatik her der Begriff des Schicksals für ihn leitend werden. Am 8. August 1952 schrieb Heidegger seiner Frau, "dass die Kraft nicht reicht, das Menschliche und das Denken gleichmäßig in den Einklang zu bringen". Am 13. November 1954 schrieb er ihr, seine Natur sei "vielspältiger" als die ihre. Er müsse im "Eros" leben, "um das Schöpferische", das er "noch als Ungelöstes und Letztes" in sich spüre, "noch wenigstens in eine unvollkommene Vorform zu bringen". Hatte er vergessen, dass die neuzeitliche Berufung auf das Schöpferische auch ein Kreisen des Subjekts um sich sein kann? Bultmanns Aufbau der Theologie aus der Exegese wird missverstanden, wenn man davon ausgeht, dass Bultmann der Existenzanalyse Heideggers die Grundmotive des Daseins entnimmt und diese dann weiterbildet zu theologischen Grundbegriffen, also von der Sinnoffenheit zur Offenbarung, vom Sichverschulden zur Sünde fortgeht. Die grundsätzliche Kritik an Heidegger ist unübersehbar.
214 Ebenda S. 57 ff., 93. - Zum folgenden vgl "Mein liebes Seelchen!" (s. Anm. 72). S. 304, 276.
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Buhmann konnte darauf vertrauen, dass seine Theologische Enzyklopädie mit ihren immer wieder neuen Ansätzen doch eine bleibende Ausrichtung festhält. In jedem Fall muss diese Einführungsvorlesung aus ihrem eigenen Duktus heraus aufgenommen werden. Das erste Kapitel Die Aufgabe der theologischen Enzyklopädie entfaltet sich in drei Paragraphen. Der erste Paragraph kommt von der Geschichte des Wortes "Enzyklopädie" her zur Gegenüberstellung von Idealismus und Positivismus. Der Idealismus, für den Hegel steht, könne der Wissenschaft eine Einheit geben und sie damit in ein System einfügen, weil er im Absoluten des Geistes den Ursprung alles Seienden sehe. So werde die Theologie als Teil einer universalen Philosophie Religionsphilosophie. Dagegen sei das Seiende für den Positivismus das Beherrschbare und Berechenbare. Der Mensch als Naturphänomen werde uutersucht in Biologie, Psychologie und Soziologie. Gott komme dadurch ins Spiel, dass der Mensch religiöse Bedürfnisse habe. Theologie löse sich auf in Religionswissenschaft, diese in Anthropologie (wie schon bei Feuerbach) . Die systematische Theologie halte sich an die idealistische Tradition, um sich gegen den Positivismus zu behaupten. Doch könnten über die historische Theologie, dann über die Religionspsychologie mehr und mehr positivistische Tendenzen in die Theologie eindringen. Der zweite Paragraph zeigt, wie Schleiermacher Theologie als eine "positive" Wissenschaft bestimmt In seinem ersten Semester in Halle hat er 1804/05 Enzyklopädie und Methodologie gelesen. Auf der Gtundlage dieser mehrfach wiederholten Vorlesung hat er 1811 und 1830 seine Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen publiziert. Er bestimme die Theologie als eine positive Wissenschaft, weil sie zur Lösung einer praktischen Aufgabe, der Leitung der Kirche, erforderlich sei. Hätte die Theologie nicht diesen "kirchlichen Charakter", dann falle ihr Wissen auseinander und anderen Wissenschaften anheim. Schleiermacher stelle zur Naturwissenschaft die Ethik; diese müsse zeigen, wie es zur Bildung menschlicher Gemeinschaften und so zur Geschichte komme. Die christliche Kirche müsse im Zusammenhang mit anderen frommen Gemeinschaften gesehen werden. So kann Bultmann festhalten, dass Schleiermacher die Theologie als Teil einer "Geschichtsphilosophie" sehe. Der § 3 versucht eine Bestimmung der Theologie von ihrem Gegenstand, also von Gott her. Er beginnt (1933) mit den Sätzen: "Verloren ist der Glaube an das System der Wissenschaft, weil der Glaube an den ,Geist' im Sinne des Idealismus vergangen ist. Gebrochen ist die Macht des Positivismus als Weltanschauung." Hier stellt Buhmann zur Deutung von Kierkegaard und Nietzsche durch Heidegger und Jaspers den Umschwung der Theologie bei Barth und Gogarten. Schon 1930 fasst er die theologische Enzyklopädie als die "Selbstbesinnung der Theologie", die aus der theologischen Arbeit selbst komme. Das Kapitel 2 hat den Titel Die fides quae creditur als Gegenstand der Theologie. Es geht der Theologie um den Glauben, der geglaubt wird, also nicht nur um die fides qua creditur oder den Glauben als historisches Phänomen. Der § 4 Die Frage nach der fides quae creditur hält fest, dass es um die Lehre gehe, die verkündigt, gepredigt werden könne. Der § 5 Theologie und Glaube in der modernen Theologie
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gibt eine Kritik Schleiermachers, für den sowohl die Reden Über die Religion von 1799 wie Der christliche Glaube von 1821 stehen. Nach Schleiermacher ist Gott gegeben im Gefühl; dieses ist nicht ein Wissen von etwas oder Tat der Freiheit. Das Gefühl ist umfassende Zuständlichkeit; es erfährt sich nicht nur als abhängig von diesem oder jenem, sondern in schlechthinniger Abhändigkeit. Das Aussprechen dieses Gefühls nennt Gott als das Woher der Abhängigkeit. Nach Bultmann entwickelt Schleiermacher in diesen Überlegungen nur die Voraussetzungen dafür, dass Gott in Christus den Menschen geschichtlich anredet. Die Weise, in der Rudolf Otto auf Schleiermacher aufbaut, wird abgetan als ein gänzliches Missverständnis. Für das 20. Jahrhundert stehe auch Ernst Troeltsch; in seinem vielschichtigen Religionsverständnis werde das Christentum nur eine Größe in der weitergehenden Religionsgeschichte. Im § 6 über Liberalismus und Orthodoxie zeigt Bultmann, dass der Glaube, der geglaubt wird, zu dem Glauben wird, durch den geglaubt wird. So wird der Glaube zu einem geschichtlich vorflndbaren Phänomen, die Theologie zur "Geschichtsphilosophie" und damit zu einer Funktion des menschlicehen Geistes. Diesem Liberalismus gegenüber weist die Orthodoxie die Schriftkritik zurück; sie will den Glauben beweisen über eine natürliche Theologie oder durch die Autorität der Schrift. Doch für diese ,,Art altertümlicher Metaphysik" gebe niemand einen Pfennig. Hier notiert Bultmann sich eine ,,Analogie": "Ob meine Frau mich liebt, kann auf der ganzen Welt nur einer wissen: ich, und der pfeift auf die objektiven Beweise." 215 Die fides qua creditur und die fides quae creditur bedingen einander wechselseitig. So bleiben die Wege von Liberalismus und Orthodxie jeweils einseitig und unzulänglich. Bultmann beruft sich auf die Phänomenologie, wie sie von Heidegger entfaltet worden war; sie habe deutlich gemacht, dass die Frage nach der Realität der Außenwelt sinnlos sei, da das Erkennen nicht eine menschliche Verfassung sei, sondern immer Erkennen von etwas, also "intentional". So soll auch der Glaube gesehen werden als der, der an etwas glaubt. Das Kapitel 3 handelt über Die Theologie als Wissenschaft von Gott, der § 7 über Wissenschaft und Wahrheit. Buhmann betont, dass die Frage 1X"/as ist Wahrheit? je für ein bestimmtes Gegenstandsgebiet aufgeworfen werden müsse. Das Griechentum und der Idealismus forderten, dass der Mensch sich selbst erkenne - aber als den, der mit dem allgemeinen Logos die Wahrheit des Kosmos erkenne. Werde dagegen das Dasein als geschichtliches verstanden, dann müsse nach der Wahrheit des Augenblicks als des je meinen gefragt werden. Bultmann weist darauf hin, dass Max Scheler Gedankengänge aufnehme, die von Augustin zu Pascal führten und das Erkennen verwurzelten in der Liebe. Scheler habe aber nicht gesehen, dass diese Liebe erst im Christentum möglich geworden sei. Wenn man sage, die Urteile des Glaubens seien subjektiv, dann könne das nur bedeuten, dass der Gegenstand des Glaubens nicht zugänglich sei für die Zugangsweisen zu weltlichen Phänomenen. Bultmann hält fest: "Die Wahrheit des Glaubens ist grundsätzlich genauso allgemeingültig wie die der Wissenschaft ... " 215 Ebenda S. 28
fr., 32.
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In fixierten allgemeinen Sätzen aus dem Verstehen von Weh könne Gott nicht erkannt werden. Erwache die Frage nach der Wahrheit aus dem Anspruch des Augenblicks, dann könne sie nur je jetzt und dann immer neu von mir beantwortet werden. Gott sei nicht unerkennbar, weil er zu groß oder unübersehbar wäre. Er sei nicht ein Prinzip der Welt, weder das Unbedingte noch das Irrationale. Mit dem Begriff des Unbedingten oder des Ewigen gingen wir hinaus über die Eingeschlossenheit im Jetzt. Doch erführen wir, dass wir nicht über das Unbedingte verfügten. Das Unbedingte führe als Forderung über die Verstrickung ins Endliche hinaus. Wir dürften es aber nicht "hypostasieren". (Nach Kant meint "Hypostasieren", bloße Vorstellungen als wahre Dinge setzen, sie substanzialisieren oder personifizieren.) Das Irrationale sei wie das Unbedingte "nur ein Grenzbegriff'. Richtig sei, dass Gott nicht Gegenstand rationaler Erkenntnis sei. Das Irrationale sei "nichts weiter als das Nicht-erkennbare". Dieses könne und dürfe nicht als Gott bezeichnet werden, nenne aber "das Rätsel unserer selbst". Wieder wendet Buhmann sich schroff gegen Rudolf Otto: "Und wenn wir dies X für Gott ausgeben, so hat uns in Wahrheit der Teufel am Kragen. Denn die Qualitäten des T remendum wie des Fascinosum eignen dem Teufel so gut wie Gott. "216 Innerhalb der Geschichte grenzt Buhmann sich ab von der Stoa wie von der Mystik. Die Stoa finde die Antwort auf die Forderung des Augenblicks im Allgemeinen der Vernunft und könne nicht (wie der christliche Glaube) im Augenblick das jeweils Neue finden. Die Mystik suche im Augenblick die Ewigkeit, "entkleide" den Augenblick seiner Zeitlichkeit. Im christlichen Glauben sei die Verständlichkeit des Augenblicks ein Geschenk: die Gnade, die den Augenblick trägt. Der § 9 handelt über Die Erkennbarkeit Gottes in der Existenz durch die Offenbarung. Wir können von Dankbarkeit und Treue, von Freundschaft und Liebe reden, obwohl wir sie nur im konkreten Fall haben können. Um Gott weiß auch der Nichtgläubige in der Frage nach Gott. Ich weiß (auch ohne Gott), dass der Augenblick über mich entscheidet. Soll ich Gott im Augenblick finden, dann muss die Rede von Gott zur Erfahrung des Augenblicks "hinzugesagt" werden. Das heißt, dass von Gott nur die Rede sein kann auf Grund einer Offenbarung. Diese ist, philosophisch gesehen, ein "zufälliges Faktum". Das Kapitel 4 hat das Thema Der Gedanke der Offenbarung, der § 10 das Thema Der kirchliche Offenbarungsbegriffund seine Zersetzung. Das Wort "Offenbarung" meint die Wissensvermittlung, dann ein Geschehen, das in eine neue Lage versetzt. In der Religion erschließt die Offenbarung Gott und führt so zum Heil. Das katholische Mittelalter wie der Altprotestantismus beanspruchen einen halben Rationalismus, der von den begründeten Lehren die nicht begründbaren unterscheidet. Auch Karl Barth folgt in seiner Dogmatik diesem halben Rationalismus, sogar unter Berufung auf Anselm. Nach einer Vorbereitung im Pietismus ist es die Romantik, die sich (so durch Schleiermacher) am Empfänger der Offenbarung orientiert. Diese Romantik ist im Recht, sofern sie vom ästhetischen 216 Ebenda S. 53, zum folgenden 57 f.
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Schauen und vom Erleben des Künstlers ausgeht. Sie wird "unecht und abgeschmackt" in ihrer Modernisierung und Trivialisierung. Die Polemik zielt auf Rudolf Otto: "Die Entdeckung des Irrationalen als des Inhalts alles religiösen Glaubens bestätigt die alte christliche Auffassung, dass alle nichtchristlichen Religionen vom Teufel sind, womit ihrer Würde kein Eintrag getan ist, da der Teufel wirklich eine respektable Größe ist, von der man nicht gering zu denken hat. "217 Das Thema des § 11 ist Die Offenbarung als geschichtliches Ereignis. Das Sein unter der Offenbarung bedarf des Daseins, das dem Tod anheimgegeben ist und mit seiner Schuld Vergebung nötig hat. Das Dasein ohne Offenbarung erweist sich als Sünde. Wenn der Staat sich als Rechtsordnung versteht, dann ist sicherlich der Kampf aller gegen alle als Vernichtung des Menschen durchschaut; doch entbehrt diese Sicherung des Menschen gegen den Menschen der Liebe, die von Jesus gefordert wird. Jesus kommt nicht ins Spiel als der, der als Person die Liebe zeigt oder die Einsicht erschließt, dass die Liebe zum Gedanken Gottes gehört. In Jesus geschieht die Liebe, die die Sünde aufhebt, so einen neuen Äon beginnt, in dem die Liebe zum Maß der Geschichte wird. Dieser Äon bleibt aber immer im Kommen, da vor dem Augenblick immer die Zukunft steht. Das Kapitel 5 Der Begriff des Glaubens beginnt mit dem § 12 Der kirchliche Glaubensbegriff und seine Zersetzung. Gegenüber dem katholischen Glauben, wie das Konzil von Trient ihn forderte, lehrt Bultmann mit Luther die Rechtfertigung "ohne Werke". Auch der Glaube ist kein Werk, das der Mensch aus eigener Kraft erzeugen könnte. Er ist ein "durch Wort und Sakrament im Menschen gewirktes Werk Gottes selbst".218 Bultmann bezeichnet es als "Wahn", "dass die Heilstatsachen zuerst anerkannt werden müssen, bevor sie Grund des Glaubens sein können". Erst im Glauben werden sie als Heilstatsachen sichtbar. Die Orthodoxie erlag dem genannten Wahn; sie machte sich selbst zum Gegenstand des Glaubens, weil sie in der reinen Lehre die Wahrheit der Heilslehren erwies. Die Autorität, die die Schrift durch Inspiration gewonnen habe, muss unbezweifelt bleiben, selbst wenn unter Umständen das sacrificium intellectus gefordert werden muss. Doch der Pietismus und die Romantik, vor allem die kritische Bibelwissenschaften haben den Inspirationsglauben und damit die Autorität der Schrift als Lehrbuch endgültig zerstört. Der Rationalismus sucht eine allgemeine Weltanschauung in zeitlosen Sätzen zu fassen; diese Weltanschauung kann dogmatisch und moralisch, selbst ästhetisch sein. Die Sicherung dieser Weltanschauung ist aber eine Flucht der geschichtlichen Existenz vor sich selbst. Der Gedanke der Allmacht Gottes ist dann nicht der Gedanke eines Glaubens, sondern der verfügbare Grund für ein Verstehen des Weltgeschehens im ganzen. Gleiches gilt für den Schöpfungsgedanken und den Vorsehungsglauben. Bultmann kann die Schleiermacher-Kritik Karl Barths übernehmen in der These, dass Schleiermachers Anschauung des Universums auf den Wahrheitsanspruch verzichte. Dann kann auch das Wort aus dem Gottesdienst verdrängt und das "heilige Schweigen" 217 Ebenda S. 79, 87, zum folgenden vor allem 92. 218 Ebenda S. 99 f., zum folgenden 103 f., 108 ff.
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eingeführt werden; der Glaube ist durch die allgemein religiöse Frömmigkeit ersetzt. ,,Am krassesten tritt der Irrweg bei Troeltsch hervor." Im § 13 Mystik und Glaube beachtet Bultmann die Vorbereitung der Mystik bei Platon und seinem "jenseits des Seins", dann bei Philo und Plotin. Doch schöpft er vor allem aus sekundären Quellen; hervorgehoben seien Rudolf Ottos Buch West-östliche Mystik von 1926 und Gogartens Aufsatz Mystik und Offinbarung. Außer Acht bleibt die Zen-Meditation, die für Heidegger wichtig wurde, natürlich auch die jüdische Mystik, durch die in geschichtlichen Krisen die Ausgestoßenen und zum Tod Bestimmten sich des Bezugs zum Ewigen vergewisserten. Bultmann zieht eine Linie nicht nur bis zu Angelus Silesius, sondern bis zu Rilkes Stundenbuch. Das abschließende Diktum ist radikal: "Mystische Elemente in den Protestantismus zu übernehmen, ist also Unsinn." Man gäbe dann den Glauben preis und übernehme "pagane Elemente".219 Das Kapitel 5 über den Begriff des Glaubens kommt ans Ziel im § 14 Der Glaube als geschichtliche Tat (zum größten Teil schon von 1926). Bultmann nennt den Glauben geradezu "eine Vergewaltigung, Vorstellungen und Begriffe, die von außen gegeben werden, glauben zu sollen". Er fasst den Glauben als "Tat". Das Wort der Verkündigung qualisiziert den Augenblick der Tat. Die Tat ist nicht Leistung, auch nicht Werk. Mit Luthers Polemik gegen die Werkgerechtigkeit sagt Bultmann, dass es "heilige Werke" nicht gebe. 220 Das Werk falle aus dem Vollzug der Tat heraus ins "Vorhandene". Bultmann macht also die neuen Wege, die Heidegger damals ging, nicht mit: Kunst wurde dabei als kultische gefasst, so als Sich-ins-Werk-setzen von Wahrheit, damit als Geschehen von U nverborgenheit: Die Tempel von Pästum oder der Dom von Bamberg können dann Wahrheit als Unverborgenheit ins Heilige heben. Im Heiligen geht es nicht nur um die Offenheit von Seiendem, sondern um das Heil der Menschen. Mit Nietzsche sah Heidegger nicht überhaupt Gott widerlegt, aber den "moralischen Gott". Diese Wege blieben Bultmann fremd. Er zeigt in der Auseinandersetzung mit Wilhelm Herrmann, dass das Hören des Wortes anderes ist als ein Aufnehmen des inneren Lebens Jesu. Doch muss auch er selbst sich fragen, ob Christus so nicht von Jesus abgerückt und damit zum "Mythos" wird. Er anrwortet mit einem klaren "Nein!": Wir können der Geschichte, in der wir stehen, nicht ausweichen; so bleibt es für uns wichtig, dass Jesus als Christus die Geschichte bestimmt, in der auch wir stehen. Am Ende von Bultmanns Einführungsvorlesung steht der § 15 Was ist Theologie? Als Wissenschaft muss Theologie ihren Gegenstand haben; dieser ist die geschichtliche Offenbarung Gottes im Glauben und damit die von Gott bestimmte 219 Wolfgang Böhme konnte als Direktor der Ev. Akademie Baden in Bad Herrenalb die Mystik und von ihr her Heidegger zum Thema machen. Vgl. dazu Otto Pöggeler: Mystische Elemente im Denken Heideggers und im Dichten Celans, jetzt in Pöggeler: Neue Wege mit Heidegger (s. Anm. 83). S. 426 ff. - Zum folgenden vgl. Pöggeler: Der Denkweg Martin Heideggers (s. Anm. 28). S. 261. 220 Vgl. Buhmann: Theologische Enzyklopädie (s. Anm. 131). S. 130, 140, zum folgenden 150, 152.
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Existenz. Es gibt für Buhmann nur die Offenbarung Gottes in Christus und so nur die christliche Theologie. Alle andere "angebliche" Theologie kann nur ein Reden vom Menschen sein; so kann sie als Rede nicht von Gott, sondern vom Gottesgedanken durchaus der Theologie eine "Frage" stellen. Die Theologie kann nur Wissenschaft sein, wenn sie nicht Predigt und Verkündigung ist, wenn vielmehr die Verkündigung gleichsam "abgestoppt" wird, "um besehen zu werden". Die Verkündigung kann in der Theologie nicht direkt weitergegeben werden. So gibt es eine "fromme Theologie" so wenig wie eine fromme Kunst, eine fromme Wissenschaft, eine fromme Technik. 221 Auch in diesem Punkt wird Heidegger von Bultmann abweichen. Sein Fragen nach den Grenzen der Technik, die erst noch durch das Sichfügen in eine andere Geschichte gewonnen werden müssen, ist für ihn die "Frömmigkeit des Denkens". Als Theologe muss Bultmann zeigen, wie die Theologie für die christliche Gemeinde eine Notwendigkeit ist und so in ihr einen Ort hat. Er weist darauf hin, dass die Verkündigung "in fremder Sprache und Begriffswelt an uns kommt und also in eine neue Begriffswelt übersetzt werden muss". Darüber hinaus war sie ständig von Irrlehren bedroht. So kann Bultmann mit Karl Barth sagen, dass die Theologie "über die Erhaltung oder Wiederherstellung reiner Lehre" wache. Als Wissenschaft spreche die Theologie, als könne sie über die Verkündigung wie über etwas Vorhandenes reden. Doch muss sie sich dessen bewusst bleiben, dass das "Reden über" nur Sinn hat, "wenn Gott es zu einem ,Reden aus' werden lässt, das heißt, wenn es sich als sündiges Unternehmen unter der Gnade der Rechtfertigung bewegt". Die Theologie muss als "Organ der Klärung" der Verkündigung auch jeweils "vorzeichnen, was sie zu sagen hat", somit falsche von echter Verkündigung unterscheiden. 222 Bultmann kommt zu der Festlegung, dass es um die Klarstellung dessen gehe, was die Schrift sagt: "Theologie ist also in gewisser Weise Geschichtswissenschaft, bzw. Theologie ist eigentlich und immer historische Theologie. " Hier klingt unüberhörbar Heideggers Vortrag über Phänomenologie und Theologie nach. Bultmann sagt dann, Gott gebe der Theologie das pneuma; "der logos ist unsere Sache". Der logos macht nicht den Christen, aber den Theologen. Buhmann Einführungsvorlesung Theologische Enzyklopädie wurde letztmals 1936 gehalten. Einige Jahre später wurde Bultmann weltweit bekannt durch die Entmythologisierungsdebatte. In Schottland konnte er 1955 seine Vorlesungen über Geschichte und Eschatologie halten. Auch in den folgenden Jahren wurde er durch Schüler und Gefährten in neue philosophisch-theologische Diskussionen hineingezogen. Z. B. hatte Gerhard Krüger mit wichtigen Aufsätzen und Büchern das Gespräch zwischen Philosophen und Theologen geprägt. Er hatte darüber geschrieben, wie das Selbstbewusstsein bei Descartes und von diesem her thematisiert wurde. Er hatte über Kant und dessen Postulatenlehre gearbeitet, über Platons Ansatz, über die Probleme des geschichtlichen Bewusstseins. Eine 221 Ebenda S. 159, 164: zum folgenden vgl. Martin Heidegger. Vorträge und Aufsätze- Pfullingen 1954. S. 44. 222 Vgl. Buhmann: Theologische Enzyklopädie (s. Anm. 131). S. 165, 167 f., zum folgenden 169 f.
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schwere Erkrankung riss ihn aus seinem Schaffen. So galt es, seine Arbeiten zu sammeln und ihn (1962) durch eine Festschrift Einsichten zu ehren. Rudolf Bultmann ging in seinem Beitrag Zur Frage einer "Philosophischen Theologie" auf einen Aufsatz ein, den er von Schubert M. Ogden, einem Theologen aus Texas, im Manuskript bekommen hatte. Ogden hatte sich 1961 an der Entmythologisierungsdebatte durch sein Buch Christ without Myth beteiligt. Der genannte Aufsatz stellte für Bultmann die Forderung, ebenso vom Wesen oder der Struktur der Existenz Gottes zu sprechen wie von der Struktur der menschlichen Existenz. Die Existenzanalyse kann zeigen, dass der Mensch sein Zu-sein-haben als ein geschichtliches nehmen muss. Kann die Philosophie auch von der Ewigkeit sprechen, die Gott zugeschrieben wird? Die Philosophie entbehrt der Begegnung mit Gott; wie kann sie von seinem Wesen reden? Bultmann zitiert aus dem Schluss von Heideggers damals erschienenen Schrift Identität und Differenz den Satz, dass "das gott-lose Denken, das den Gott der Philosophen, den Gott als Causa sui preisgeben muss, dem göttlichen Gott vielleicht näher" sei. 223 Als Rudolf Bultmann mein Buch über den Denkweg Heideggers gelesen hatte, ließ er mir durch eine Studentin, die von Marburg nach Bonn kam, bestellen, er könne nur noch Weniges lesen, habe aber mein Buch genau durchgearbeitet. Leider konnte ich seiner Einladung ins abgelegene Marburg wegen zu vieler beruflicher und familiärer Verpflichtungen nicht folgen. Als Bultmann das Ev. Theologische Seminar der neuen Ruihr-Universität Bochum durch eine Bücherspende unterstützte, kam sein Exemplar meines Buches dort zwar in den "Giftschrank" und war so nur wenigen zugänglich. Trotzdem wurde es entwendet. Doch konnte ich es vorher benutzen. Seit 1991 tauschte ich mich mit Pfarrer Klaus W. Müller (Ludwigsburg) über den Kreis um Bultmann aus. Am 29. 2. 92 schrieb er mir, in Zusammenarbeit mit ihm wolle Antje Bultmann-Lemke eine Biographie ihres Vaters schreiben. Doch habe sie auf grund ihrer amerikanischen Tätigkeit auch zu tun mit den Nachlässen von Ricarda Huch, Albert Schweitzer und Elisabeth Holl (einer amerikanischen Kunsthistorikern). Ich sollte mit einigen fehlenden Erläuterungen zu Heidegger beim zumeist transkribierten Briefwechsel zwischen Bultmann und Heidegger helfen. Am 29. 3. 92 schrieb Pfarrer Müller, Antje Bultmann-Lemke habe zur Konfirmation eines seiner Kinder kommen wollen, doch absagen müssen, weil sie sich einer Operation unterziehen musste. Am 19. 8. 93 meldete Müller mehrere Besuche von Antje Bultmann-Lemke, auch in Müllers Feriendomizil Öschingen am Rande der Schwäbischen Alb. Frau Bultmann-Lemke habe "Präsente" aus "der Hinterlassenschaft ihres Vaters in einer Schachtel und in einer Reisetasche aus den USA mitgebracht". So auch Bultmanns Reflexionen zum
Denkweg Martin Heideggers nach der Darstellung von Otto Pöggeler. Am 22. 8. 93 meldete Pfarrer Müller mir das Folgende: Der klassische Philologe Paul Friedländer stellte in seinem Brief an Buhmann am 18. 12. 1963 fest, 223 Vgl. jetzt Buhmann: Glauben und Verstehen. Vierter Band (s. Anm. 203). S. 104 ff. - Zum folgenden s. Anm. 31.
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dass er in seiner Kritik an Heideggers Verständnis der aletheia in wesentlichen Punkten Unrecht gehabt habe. "Dies bringt mich auf Pöggeler. Prof. Ogden in Dallas war so freundlich, mir sein Exemplar auf ein paar - scharf begrenzte - T age zu schicken. Ich habe noch nie ein Buch so durchgearbeitet gesehen: die Ränder mit Ogdens kleiner sauberer Handschrift angefüllt, mit der er Pöggelers oder Heideggers Text wiedergab. Was mich betrifft, so langt es bei mir entwerder jetzt nicht oder überhaupt nicht, Pöggeler oder weithin Heidegger zu verstehen." Buhmann hat seine Reflexionen im Anschluss an mein Buch auch an Heidegger geschickt. Dieser forderte damals die Bodenständigkeit für das Denken, reiste aber von Freiburg nach Meßkirch, Todtnauberg, Konstanz und zu verschiedenen Orten in der Schweiz, meist nur zehn Tage an einem Ort verweilend. So kann es durchaus sein, dass Buhmanns Sendung an Heidegger verlorengegangen ist. Buhmann musste jedenfalls am 8. 1. 1968 an Oskar Hammelsbeck schreiben: "Ich erlaube mir, Ihnen einliegend den Durchschlag zu senden eines Briefs, den ich an Heidegger geschickt hatte, als ich das Buch von Otto Pöggeler ,Der Denkweg Martin Heideggers' (1963) gelesen hatte. Sie können daraus ersehen, worin ich die Analogie zwischen Heideggers Philosophie und der Theologie sehe. Am Schluss suche ich den trotz aller Analogie bestehenden Gegensatz deutlich zu machen, was ich freilich wohl noch energischer hätte tun sollen ... Ich muss hinzufügen, dass Heidegger mir auf diese ihm zugesandten ,Reflexionen' nicht geantwortet hat." Vielleicht gelingt es doch noch, die wichtigsten dieser Briefe als Dokumente der europäischen Geistesgeschichte und der Verflechtung mit amerikanischen Bemühungen zur Veröffentlichung zu bringen. Mein Buch Der Denkweg Martin Heideggers von 1963 aus dem Besitz Buhmanns trägt den Vermerk: "Buhmann / Geschenk von Sch. M. Ogden" Buhmann hat das Buch genau durchgearbeitet. Unterstreichungen und Anstreichungen durchziehen das Buch bis zum Schluss. Dazu kommt immer wieder ein "nb" (nota bene). Auf der Rückseite stehen die Zahlen wichtiger Seiten. Ein "nb" steht auf S. 194, Z. 19: "Hebt nicht die christliche Antwort die Geschichte als Gespräch und als immer weiterfragende Bewegung auf?" So hat Heidegger nach 1929 gefragt, als er eine dichterische Rede vom Göttlichen suchte, eine poietische Theologie. Zu S. 290, Z. 12 von unten macht Buhmann eine Anmerkung. Ich hatte dort behauptet, Heideggers "Erörtern" könne nicht dem üblichen Definieren nach Gattung, Art und Unterschied folgen. Dazu fragt Buhmann: "Wie kann man dann sagen, daß Aischylos, Hölderlin, Trakl etc. Dichter sind?" Bultmann macht nicht mit, dass Heidegger das Wesen der Dichtung als ein geschichtliches fasst. Heideggers Vorgehen war keine Willkür. Damals unterschied auch der Philosoph und Pädagoge Theodor Litt ein geisteswissenschaftliches Allgemeines vom naturwissenschaftlichen; Hans Lipps stellte zum Begriff die offene Konzeption. Von dieser Auffassung her bekommt das, was "existenziale" Interpretation genannt wurde, einen neuen Sinn. 224 (Bekanntlich 224 Über Litt und Lipps sowie über Misch und Bollnow vgl. Otto Pöggeler: Heidegger und die hermeneutische Philosophie. Freiburg / München 1983. S. 434 ff.
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schrieb Buhmann anders als Heidegger "existenzial" immer mit einem tals "existential" .) S. 247, Z. 1 spricht von der Wahrheit als Unverborgenheit. Dazu merkt Buhmann an "nb" und "dialekt.". Das Ineinander von Entbergen und Verbergen soll also dialektisch verstanden werden. Buhmann setzt ein "nb" auch zu S. 309, Z. 4 ff. (vgl. in der 3. Aufl. S. 424); dort sage ich, die existenziale Analyse sei bei Buhmann noch nicht in den Dienst der Frage nach der Wahrheit des Seins gestellt. Ein "dialekt!" stellt Buhmann auch zu dem dort folgenden Passus über Geschichte und Eschatologie; zu Recht besteht er darauf, dass seine existenziale Interpretation dialektisch zum Historismus stehe, nämlich diesen kritisch aufarbeite. Nur einmal, S. 243, macht Buhmann zwei Fragezeichen: zu den Zeilen 1-3 , wo Heidegger zitiert wird mit der vieldiskutierten Bemerkung, das bäuerliche Tun fordere den Ackerboden noch nicht heraus wie die moderne Ernährungsindustrie, dann zu den Zeilen 12-15, wo der ins Kraftwerk verbaute Rhein auch als Objekt der Besichtigung durch eine Reisegesellschaft erscheint, die von einer Urlaubsindustrie dorthin bestelll sei. Der Weise, in der Heidegger sich kritisch zur modernen Technik stellt, wird also nicht Recht gegeben. Die Zahlen auf der Rückseite geben die Seiten an, auf denen es um den Bezug zu theologischen Fragen geht: ,,41, 137, 193, 194,202,209,211,262,265". Buhmann will sich den Weg vergegenwärtigen, den Heideggers Bezug zur Theologie durchlaufen hat. Was Buhmann durch die Notizen im Buch konzipiert hat, wird von ihm ausgeführt in den Reflexionen. Darin geht er davon aus, dass nach Heidegger die "Metaphysik des Abendlandes" bestimmt ist durch das griechische Verständnis von Sein als stetem Anwesen; so ist das Sein verstanden im Gegensatz zum Werden und Vergehen. Der Sinn von Sein wird als "Zeithaftigkeit" gedacht (so im ausgebliebenen dritten Abschnitt von Sein und Zeit, zu S. 88 des Denkwegs). Innerhalb der Auseinandersetzung mit Nietzsche über Metaphysik und Nihilismus wird die Wahrheit des Seins als Ereignis erfahren (zu S. 140, auch 160, 187). Builtmann bringt sofort seine Einwände vor: Die Geschichte des Seins muss ein Subjekt haben, das mit sich identisch und insofern ein Bleibendes sein muss. Wenn man vom "verbal" zu verstehenden Wesen und Wahen des Seins rede, werde eine Kontinuität des Wesens vorausgesetzt. Buhmann sagt mit Goethe: "Das Ewige regt sich fort in allen; / Denn alles muss in Nichts zerfallen, / Wenn es im Sein beharren will". Die je und jäh aufbrechende Wahrheit ist die Wirklichkeit, zu der der Überstieg über alles Seiende führt. Das Verständnis von Sein ist dagegen gesichert, dass diese Wirklichkeit nicht als ständiges Anwesen missverstanden wird: 1) Die Wahrheit als Ereignis erscheint je und jäh in der unverfügbaren Geschichte und kann nicht Besitz werden wie eine wissenschaftliche Erkenntnis. 2) Entbergung der Wahrheit gehört zusammen mit ihrer Verbergung. Buhmann macht sich diese Zusammengehörigkeit von Entbergen und Verbergen klar durch eine Analogie: Dem Erklingen eines Tons, eines musikalischen Motivs, einer Melodie korrespondiert die Fülle der möglichen Töne, Motive, Melodien; so korrespondieren dem Ereignis der Entbergung der Wahrheit "die verborgenen möglichen Wahr-
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heitsereignisse". 3) Zum Sein gehört das Nichts als Verweigerung und Abgrund in der Wahrheit des Seins (zu S. 173). Das Nichts wird zum "Schleier" des Seins (zu S. 138, 174,211 f). Buhmann macht darauf aufmerksam, dass das Wesen der Wahrheit auch Freiheit genannt wird als Freigeben für das Offenbare eines Offenen (zu S. 96 f). Er überlegt, ob das Aufbrechen der Wahrheit anders verstanden werden kann als eine "existentielle Erfahrung", in der der Mensch "eigentlich existiert". Buhmann fragt, ob nicht Heideggers Ablehnung des Existenzbegriffes auf der "wohl durch Kierkegaard motivierten" Auffassung der Existenz als Subjektivität beruhe. Doch rehabilitiere Heidegger in gewisser Weise den Existenzbegriff, indem er Existenz als Ek-sistenz, als die sich aussetzende Eingelassenheit in die U nverborgenheit verstehe. So hütet die Eksistenz die Verweigerung und Verbergung als die Herzmitte und das Geheimnis der Wahrheit (zu S. 97 und 173). Der Existenzbegriff von Sein und Zeit könne nicht mehr genügen; statt von der Entschlossenheit gehe Heidegger von der Erschlossenheit aus. Wenn die Eksistenz zum Platzhalter des Nichts und Hüter des Seins werde, sei es faktisch doch der Mensch, der sich auf das Offene der Unverborgenheit einlassen könne. Nur von ihm aus könne der Bezug zur Wahrheit des Seins gedacht werden. "Ereignet sich diese also nicht im Selbstverständnis des Daseins, auch wenn das Dasein sich in radikalerem Sinn selbst versteht, als es nach Sein und Zeit der Fall war?" Buhmann fragt rhetorisch, ob es erwas anderes sei als das in Sein und Zeit Gesagte, wenn Heidegger den Menschen sehe als "gebraucht" für das Geschehen der Wahrheit des Seins, den Austrag des Ereignisses (zu S. 167). Z.B. nach S. 177 sei nicht nur der Mensch, sondern alles Seiende eingeschlossen in die Wahrheit des Seins. Hier fragt Buhmann: "Wie ist dieses Eingeschlossensein zu denken?" Er führt an, dass (nach S. 256) das Aufbrechen der Unverborgenheit im Menschen einerseits Voraussetzung für die Erfahrung von Natur sei; andererseits müsse der Mensch "die Natur, die sich in ihre Fremdheit entzieht, als Voraussetzung dafür nehmen, dass er selbst ist". Das Letztere zeige sich gerade in der Nähe, die der Mensch durch seine Leiblichkeit zum Lebendigen habe. Doch wie sei diese Auffassung grundsätzlich zu unterscheiden von der "Geworfenheit" des Daseins nach Sein und Zeit? Zur Überanwortung des Daseins an sich selbst gehöre der Bezug zur Natur, auch wenn in Sein und Zeit darüber nicht reflektiert werde. Zu Recht weist Buhmann darauf hin, dass das Dasein als "befindliches" inmitten des Seienden existiere. Den Bezug zur Natur will Bultmann als "Begegnung" fassen. Für diese Begegnung führt er Melvilles Moby Dick und Hemingways The old Man and the Sea an. Charakteristisch sei doch wohl, dass der Begriff der Begegnung bei Heidegger "gerade (und nur?) im Verhältnis zur Natur" auftrete (zu S. 167,208). Bultmann bezieht sich darauf, dass Heidegger (in den Vorträgen über den Ursprung des Kunsrwerkes und in den Beiträgen zur Philosophie) das Baugefüge der Wahrheit des Seins als den Streit von Erde und Welt bzw. Erde und Himmel denkt. Die Erde, die sich verschließt, wird durch den Himmel als den unverfügbar ausstehenden je ins Offene gehoben. Wiederum fügt Bultmann Sein und Zeit
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und das später Gesagte zusammen: "Schließt sich nicht auch hier der Ring, insofern zunächst die Philosophie als Phänomenologie begründet wurde im Verstehen des faktischen Lebens (28) und jetzt das Denken mündet in die Entdeckung der Welt als des Geschehens der Unverborgenheit, der Offenheit des Seienden im Menschen (250, 252), also doch wohl im Verstehen des faktischen Lebens? Nur dass jetzt die Dimension des faktischen Lebens umfassender gedacht ist." Bultmann fragt kritisch (in Bezug auf Heideggers Bremer, Darmstädter und Münchener Vorträge, zu S. 241): "Ist im Krug, in Krug und Bank etc hinreichend bedacht, dass zum Seienden auch Sorge, Verantwortungsbewusstsein, Wahrhaftigkeit und Treue, kurz personale Begegnungen gehören, die doch auch an den Dingen (sei es der Schuh der Bäuerin, sei es eine Brücke) sichtbar werden können?" "Sein" lasse wie Platons agathon Seiendes sehen. "Tugenden" wie Recht und Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Treue seien dann wie das Sein nicht in steter Anwesenheit, aber in der Geschichte präsent. Buhmann betont, dass das bäuerliche Tun, wenn es die Kräfte der Erde hege, bedeutsam sei für die Errnährung des Menschen. Eine Nebenbemerkung sagt: ,,(Dabei will ich ganz davon absehen, dass sich die primitive bäuerliche Praxis auch magischer Mittel bedient, und dass diese in gewisser Weise auch heute noch zur Anwendung kommen.)" Nicht nur dem Wanderer könne der Rhein als Strom der Landschaft erscheinen; er könne das auch in der "Urlaubsindustrie". Anders freilich sei der Gesichtspunkt, unter dem das moderne Wasserkraftwerk den Rhein "stellt". Werde die Definition abgelehnt, die eine Art einer ständigen und verfügbaren Gattungsallgemeinheit unterordnet, dann frage sich, wie z.B. gesagt werden könne, "dass die Werke von Aischylos, Hölderlin, Trakl etc. Dichtung sind". Da die Gottesfrage in Sein und Zeit zwar ausgeklammert werde, aber in Heideggers Denken von Anfang an eine Rolle spiele, sei die Frage nach dem Verhältnis Heideggers zur Theologie notwendig. Heidegger kritisiert die metaphysische Ontotheologie, die Seiendes auf ein Göttliches zurückführt und so begründet. Dazu sagt Buhmann: "Seit dem Aufkommen der sog. dialektischen Theologie ist diese Kritik in der protestantischen Theologie mehr und mehr selbstverständlich geworden." Buhmann führt das "Ohne Warum", den Abgrund, das Sein als Nichts des Seienden, die Wahrheit als unverfügbares Ereignis an und sagt: "Entsprechendes gilt für das Gottesverständnis der protestantischen Theologie." Der Satz von der Erfahrung der Wahrheit als Ereignis habe "seine Parallele" im christlich-theologischen Gedanken der Offenbarung. Diese sei nicht feststellbare Offenbartheit, sondern eschatologisches Ereignis. Bultmann zitiert den Satz, das Wesen der Gottheit werde in sein Letztes und Höchstes gehoben, wenn das Göttliche vom Ereignis der Wahrheit her erfahren werde. An dieser Stelle (S. 263) beziehe ich mich auf Heideggers Beiträge zur Philosophie. Da diese erst zweieinhalb Jahrzehnte später veröffentlicht wurden, blieb um 1963 in der Diskussion undeutlich, wie Heidegger dort gegen den "christlichen" Gott spricht und ein anderes Verständnis vom Göttlichen sucht. Nach Bultmann entspricht die Verflechtung von Sein und Seiendem dem recht verstandenen Schöpfungsglauben. Dieser wurde in den dreißiger Jahren
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freilich von Heidegger zurückgewiesen. Wenn Heidegger für das Auffassen der Wahrheit das Hören über das Sehen der platonischen Tradition stellt, besteht nach Buhmann eine letzte Analogie zwischen seinem Denken und der Theologie. Doch bleibe bei Heidegger (nach S. 288) die Zusage ein allerletzter Schritt des Fragens selbst. (Sie gehört also in ein Immer-weiter-Fragen.) "Da bei Heidegger das Ereignis der Zusage unbestimmt bleibt, fehlt natürlich auch die paradoxe Behauptung des Glaubens, dass ein bestimmtes historisches Ereignis zugleich das eschatologische ist, selbst wenn man es als Paradoxie bezeichnen wollte, dass das Sein Seiendes als Seiendes sein lässt und das Freie der Lichtung ist, die Seiendes je und je in das Eigene seines Wesens befreit (273)." Rudolf Buhmann bemühte sich, den Denkweg Heideggers im ganzen zu vergegenwärtigen. Doch behielt seine Rezeption ihre Grenzen. So zeigt etwa die Weise, in der er vom agathon Platons spricht, dass er das seinsgeschichtliche Denken nicht mitmacht. Dieses deckt im Vorstellen des Seins mit Nietzsche den Willen auf, der Werte schätzt und um sich selbst kreist. Heideggers zweites Hauptwerk, die Beiträge zur Philosophie, konnte Buhmann noch nicht kennen; dort spricht Heidegger ausdrücklich gegen den "christlichen" Gott. So betonte Buhmann die bleibende Parallele zwischen der Dialektischen Theologie und dem Denken Heideggers. Er lag damit durchaus auf der Linie jener protestantischen Theologen, die (wenn man von Karl Barth absieht) in Heidegger "ihren" Philosophen sehen wollten. Schon die Weise, in der Heidegger immer wieder an der Liturgie im Benediktinerkloster Beuron teilnahm, musste Buhmann fremd bleiben. Noch weniger konnte er wahrnehmen, wie Heidegger den gregorianischen Gesang schließlich in den späten Hymnen Hölderlins fortgeführt sah. Die Hinwendung zu Heidegger konnte freilich ganz anders ausfallen, als sie es in Bultmanns bleibender Orientierung an Sein und Zeit tat. Buhmann konnte noch verstehen, dass Gerhard Krüger zur katholischen Kirche konvertierte. Dieser hatte seine Rezeption der klassischen philosophischen Tradition dadurch vorbereitet, dass er sich bei Kant vor allem für die Postulatenlehre interessierte, die ja metaphysische Themen diskutiert. Dass auch Krügers Freund Schlier, der so eng verbnundene Exeget, konvertierte, war für Bultmann nicht mehr verständlich. Richard Wisser hat 1969 ein Fernsehgespräch mit Heidegger zu dessen achtzigstem Geburtstag erwirken können. Bei der Vorbereitung des Gesprächs griff Heidegger nach einer kleinen Photographie von Rudolf Bultmann auf seinem Schreibtisch und sagte: "Das ist auch ein einsamer Mann." "Völlig unvermittelt" kam Heidegger dann auf die Schüler, die es sich schuldig zu sein glaubten, ihre Lehrer zu überwinden. (Das hatten sie ja vom jungen Heidegger lernen können.)225 Rudolf Bultmann hatte das Suchen nach bleibender Gemeinsamkeit nicht aufgegeben. So hatte er 1959 in der Heidegger-Festschrift von seinen amerikanischen Erfahrungen berichtet. Die leitende These war, dass auch Christen ihre Kinder in den Wissenschaften sowie in der Gymnastik und Musik erziehen lassen müssten. Eine christliche Erziehung könne es aber nicht geben, da das 225 Vgl. Antwort (s. Anm. 193). S. 65.
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Christliche ja das Hören eines unverfügbaren Anspruchs sei. Der Theologe und der Philosoph gingen jeweils eigene Wege. Rudolf Buhmann war viel intensiver als Heidegger aufmerksam auf die geistigen Bewegungen in Großbritannien und Amerika. Anfang 1963 machte ein Buch Honest to God des anglikanischen Bischofs John A. T. Robinson Furore; in der deutschen Übersetzung trug es den Titel Gott ist anders. Buhmann erwog die wörtlichere Übersetzung Ehrlich gegenüber Gott oder Fair gegenüber Gott. 226 Am 10. Mai 1963 nahm Bultmann als Überschrift für einen Artikel in der Wochenzeitschrift Die Zeit die dort diskutierte Frage auf: Ist der Glaube an Gott erledigt? Ein längerer theologischer Beitrag trug dann den Titel Der Gottesgedanke und der moderne Mensch. Nach Buhmann kann Robinson für deutsche Theologen nichts Neues bringen, da er sich auf Vorgänger wie Paul Tillich und Dietrich Bonhoeffer beruft (sich auch mit Buhmanns Theologie auseinandersetzt). Doch will er eine "reluctant revolution" ins Ziel bringen. Er wendet sich gegen den Supranaturalismus von Theologen wie gegen den Naturalismus erwa von Julian Huxley, wenn er Gott mit Tillich als "die Tiefe und den Grund alles Seins" fasst, mit Bonhoeffer als das Jenseits in unserer Mitte. Gott "persönlich" zu nennen, das meint dann, dass der tiefste Grund aller Wirklichkeit in der persönlichen Beziehung, der Liebe, aufbricht. Diese Liebe wird offenbart in Jesus, dem "Man for Others". Was Bultmann mit Gogarten über Erich Auerbachs Topologie der abendländischen Literatur gesagt hatte, das sagt er auch hier: Das alltägliche Leben wird in seiner Tiefe zur Stätte des Heiligen. Robinson hätte nach Buhmann sein Thema besser gefasst, wenn er gesagt hätte, dass ein historisches Geschehen (in Jesus als Christus) zum eschatologischen werde. Rudolf Buhmann ordnet dem Bischof Robinson zwei Bundesgenossen zu, nämlich den amerikanischen Theologen Gabriel Vahanian und den deutschen Künstler Ernst Barlach. Vahanians Buch The Death 0/ God - The Culture o/Our Post-Christian Era ist für Buhmann "das erregendste theologische Buch", das er in den letzten Jahren gelesen hat, "eine gewisse Parallele zu Karl Barths Römerbrief" . Barth bekämpfte einst Schleiermacher und die Erlebnistheologie; Vahanian richtet sich gegen die Religion als den eigentlichen Feind des christlichen Glaubens. Die Rede vom Tode Gottes wehrt die Flucht in eine allgemeine Religiosität ab; der christliche Glaube soll aus der Religion zurückgehoh werden in die Wahrheiten des menschlichen Lebens. Buhmann führt an, dass die Rede vom Tode Gottes schon bei Hegel sich meldete, ehe Nietzsche sie vortrug. Er nennt Jean Pauls "schauerliche Vision" Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei. Mit Friedrich Gogarten geht Bultmann davon aus, dass für den christlichen Glauben die Welt entheiligt wurde; die Säkularisierung konnte so eine Frucht des Glaubens werden. Ernst Barlach habe in seinen Briefen von den "Wandlungen Gottes" gesprochen. Er war "überzeugt von der Einheit von 226 Vgl. Bultmann: Glauben und Verstehen. Vierter Band (s. Anm. 203). S. 113, zum folgenden 197 ff., 113 ff.
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Schöpfer und Geschöpf in dem Sinne, dass der Augenblick nur jeweils ein gewandeltes Fragment der Ewigkeit ist".227 Es fällt auf, dass Bultmann Heideggers Nietzsche-Werk von 1961 nicht zu kennen scheint. Dort hatte Heidegger nachgetragen, dass der Nihilismusbegriff schon eine Rolle spielte in F. H. Jacobis Auseinandersetzung mit dem Deutschen Idealismus. Doch war der Begriff längst vor J acobi ins Spiel gekommen. Heidegger selbst suchte von der Erfahrung des Nihiilismus her einen Weg in die Zukunft: Das Nichts des Seienden verweist auf das Sein und seine Wahrheit als ein offenes Geschehen; das Ende der metaphysischen Tradition im Nihilismus führt zu einer Erfahrung dieser Wahrheit des Seins. Am 30. Januar 1970 dankte Buhmann Heidegger für ein Meßkircher Büchlein und für die Publikation von Phänomenologie und Theologie, die 1969 zum achtzigsten Geburtstag Heideggers in Frankreich erschienen war (nachdem Heinz-Horst Schrey in Deutschland und Henri Birauh in Frankreich auf den Text eingegangen waren). Auf Veranlassung von Hans-Georg Gadamer war ein Text angefügt worden, den Heidegger 1964 für eine Veranstaltung der DrewUniversität geschrieben hatte (wo freilich Hans Jonas mit seinem polemischen Heiden-Lärm die Diskussion an sich gerissen hatte).228 Bultmann sagte, dass der Druck von Heideggers Texten wichtig sei; er könne aber nicht darauf eingehen, denn er könne kaum noch lesen. Doch läsen zwei junge Theologen ihm regelmäßig vor. Buhmann stellte dann C. F. Meyers Lyrik zu Hölderlin. - Heideggers Texte erschienen 1970 bei Klostermann in Frankfurt. Die Schrift war Rudolf Buhmann gewidmet "in freundschaftlichem Gedenken an die Marburger Jahre 1925 bis 1928". Am 15. Dezember 1970 schickte Bultmann Aufzeichnungen zu Heideggers Texten, die im Oktober, November und Dezember entstanden waren. Er verstand diese Aufzeichnungen als Stück eines Dialogs, wie Heidegger und er ihn in den gemeinsamen Marburger Jahren geführt hatten. Doch nun reiche die körperliche wie die geistige Kraft nicht weiter. "Ich bin ja so alt, dass ich an das Abschied-Nehmen denken muss, und ich nehme Abschied von einem Leben, das reich an Arbeit und Freude, an Liebe und Freundschaft war, - Abschied voll Dankbarkeit. / Der Dank gih auch besonders Dir..." Es überrascht, dass Buhmann auf das Vorwort Heideggers nicht eingeht. Ihm mögen Overbecks radikale Thesen ebenso fremd geblieben sein wie Heideggers Weg von Nietzsche zu Hölderlin. Seit den schottischen Vorlesungen über Geschichte und Eschatologie von 1955 hat Buhmann an verschiedenen Stellen Reflexionen zum Verständnis von Geschichte vorgetragen (so in den Festschriften
227 Ebenda S. 111, 113 ff. - Zum folgenden vgl. zu Jacobi Martin Heidegger: Nietzsche. Pfullingen 1961. Band I. S. 31, vgl. ferner Band II. S. 335 ff. Vgl. dazu Otto Pägge!er: Hege! und die Anfänge der Nihilismus-Diskussion. In: Der Nihilismus als Phänomen der Geistesgeschichte in der wissenschaftlichen Diskussion unseres Jahrhunderts. Hrsg. von Dieter Arendt. Darmstadt 1974. S. 307 ff. Vgl. ferner die entwicklungsgeschichtlich geordneten Texte Jean Pauls in Alba de! Nihilismo. Edici6n de Adriano Fabrio. Epilogo de Otto Pägge!er. Madrid 2005. 228 S. Anm. 194 und 198.
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für Ernst Beutler und Eric Voegelin).229 Er äußert sich 1963 im sechsten Band von Kerygma und Mythos zum Problem der Entmythologisierung. Dabei betont er, dass auch in den Naturwissenschaften das Subjekt-Objekt-Verhältnis problematisiert worden sei (so durch Heisenbergs Analysen). Das Wahrnehmen von Geschichte sei selbst als ein geschichtlicher Prozeß sichtbar geworden (so durch Gadamer). Als Existenz sei der Mensch für sich verantwortlich. Je nachdem, wie ein Mensch sich verstehe, fielen seine Entscheidungen, in denen durch das eigentliche Existieren eine unverfügbare Zukunft ins Spiel komme. Doch sei das eigentliche Existieren "dialektisch" verbunden mit dem leiblichen Leben, das den Menschen in die Welt und deren Geschichte stelle. Der Mensch stehe in der Versuchung, seine ,,Arbeitswelt" als die eigentliche Wirklichkeit anzusehen und so die Eigentlichkeit der Existenz zu verfehlen. (Eine Auseinandersetzung mit marxistischen Positionen fehlt jedoch bei Bultmann.) Es gebe aber nicht nur "Interpretationen" (wie Nietzsche unterstellt), sondern auch Tatsachen! Bultmann kommt zu seinem Thema zurück mit der Frage, ob Natur- und Geschichtswissenschaften als solche entmythologisierend seien. Sie sind es, insofern sie im geschichtlichen Ereignis kein Handeln Gottes mit dem Menschen objektivierend feststellen können. Sie müssen aber die "Paradoxie" zulassen, dass der Glaube im geschichtlichen Ereignis das Handeln Gottes mit dem Menschen erfährt. Von diesen Gedankengängen aus ist es verständlich, dass Bultmann in sein Referat von Heideggers Vortrag über Phänomenologie und Theologie den Blick auf die Geschichtswissenschaften einbringt. In seiner Antwort an Heidegger geht es Buhmann jedoch um einen entscheidenden Unterschied zwischen dem Historiker und dem Theologen. Auch der Historiker, der die Geschichte zum Objekt mache, stehe selbst als Subjekt in der Geschichte; seine Geschichtlichkeit sei aber nicht konstitutiv für die Geschichte. (Er ist ja kein Politiker.) Dagegen sei der Glaubende konstitutiv für die Christlichkeit, die das positum der Theologie sei. Bultmann würde also die Auffassung ablehnen, der Religionswissenschaftier, der selber nicht glaube, sei eben dadurch befähigt, die Eigenart des Glaubens objektiv zu erfassen. Bultmann betont, dass nach Heidegger gerade das Unbegreifliche des Glaubens der begrifflichen Erörterung bedürfe. Die vorgläubige bzw. ungläubige Existenz werde im Glauben jedoch aufgehoben, aber für die Wiedergeburt im Glauben als der neuen Schöpfung. Doch verlange der theologische Begriff der Sünde den Rückgang auf den ontologischen Begriff der Schuld, wenn der Glaube verständlich gemacht werden solle. Der Glaube und die freie Übernahme der Existenz können also ein Gegensatz sein; doch bleibt die Gemeinsamkeit zwischen Theologie und Philosophie im wissenschaftlichen Bereich. Welches sind die Hinweise, die Heidegger am 11. März 1964 für das Gespräch an der Drew-Universität im April schickte? Heidegger nennt drei Themen: 1. Die Theologie hat den christlichen Glauben und sein Geglaubtes zu erörtern; wie 229 Vgl Bultmann: Glauben und Verstehen. Vierter Band (s. Anm. 203). S. 56 ff., 91 ff., zum folgenden 128 ff.
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muss das Denken geartet sein, damit es dem Glauben entspricht und nicht fremde Vorstellungen in ihn hineinträgt? 2. Denken und Sprechen sind keinesfalls in sich schon objektivierend. 3. Ist die Theologie mit dem Thema der Objektivierung nicht überhaupt auf einem Holzweg? Sie sollte sich darüber klar werden, dass sie nicht Anleihen bei der Philosophie und den Wissenschaften machen darf, sondern sachgerecht aus dem Glauben für diesen denken und sprechen muss. Da das erste wie das dritte Thema Sache der Theologen ist, will Heidegger als Philosoph nur zum zweiten Thema etwas sagen. Heidegger stellt fest, dass man bei Carnap und ihm selbst äußerste Gegenpositionen in der Philosophie verkörpert sehe: "die technisch-szientistische Sprachauffassung und die spekulativ-hermeneutische Spracherfahrung". Heidegger hatte 1935 in seiner Vorlesung eine Antikritik an Carnap schließlich doch nicht vorgetragen. Carnap hatte eine Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache gefordert und Heideggers Infragestellung der Metaphysik auf unbegründete metaphysische Annahmen zurückgeführt. Heidegger warf ihm "die äußerste Verflachung und Entwurzelung der überlieferten Urteilslehre unter dem Schein mathematischer Wissenschaftlichkeit" vor. Inzwischen hatte sich jedoch das Problem der Hierarchie der Metasprachen gestellt; die analytische Philosophie ging im Spätwerk Wittgensteins neue Wege. So bleibt Heidegger mit der Berufung auf den Gegensatz zwischen Carnap und ihm Jahrzehnte hinter der philosophischen Entwicklung zurück. 230 Heidegger führt dann die Rede vom Objektivieren im Denken und Sprechen auf Nietzsche, Bergson und die Lebensphilosophie zuürck, nach denen das Ist-Sagen den Lebensstrom verfestige und verfälsche. Er betont, dass nach Nietzsche die Ausdrucksmittel der Sprache das Werden nicht ausdrücken, aber dem Bedürfnis nach einer Welt "von Bleibendem, von Dingen", also Objekten, entsprechen. Er bringt die Gedanken ein, die er 1959 unter dem Titel Unterwegs zur Sprache zusammengefasst hatte: Der Mensch könne nur sprechen, indem er der Sprache entspreche und von ihr getragen sei. Im Mittelalter sei objectum das gewesen, was dem Menschen entgegengehalten wurde. Das subjectum war dann das hypokeimenon, das Zugrundeliegende. Bezeichnenderweise habe sich die Bedeutung dieser Worte seit Descartes umgekehrt. Heidegger geht dann über zur Erörterung der verhandelten Sache selbst: Die alltägliche Erfahrung der "Dinge" sei "weder objektivierend noch eine Vergegenständlichung". Ich kann dem Rotsein der Rose im Garten nahe sein, ohne es zu objektivieren. Bei der Statue des Apollon im Museum zu Olympia kann ich physikalisch und chemisch über den Marmor sprechen, doch dann erblicke ich nicht den ApoIlon, "wie er sich in seiner Schönheit zeigt und in dieser als Anblick des Gottes erscheint". Das Denken lässt sich von dem Erscheinenden geben, was es von ihm zu sagen hat. Es erschöpft sich nicht im naturwissenschaftlichen Vorstellen und Aussagen. Wäre das so, dann wäre einem Kunstwerk das Erscheinen verwehrt. Die Behauptung, alles Denken sei objektivierend, ist also eine Miss230 Vgl. zum einzelnen Pöggeler: Der Denkweg Martin Heideggers (s. Anm. 28). S. 321, 430.
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achtung der Phänomene. Auch das Sprechen ist nicht immer schon objektivierend. Was Heidegger mit dem Psychiater Jaspers und dem Psychotherapeuten Boss erörtert hat, führt er hier in einer rhetorischen Frage an: "Machen wir denn, wenn wir einem kranken Menschen Trost zusprechen und ihn in seinem Innersten ansprechen, diesen Menschen zu einem Objekt?" Denken und Sagen gehören zusammen, so schon im Wort logos. Wenn Denken ein Entsprechen ist gegenüber dem, was sich zeigt, dann ist auch das Dichten ein "denkendes" Sagen. Denken und Sprechen sind nur objektivierend, wo das Gegebene naturwissenschaftlich-technisch zum Objekt wird. Die Sprache wird zur berechenbaren "Information", wo alles zum Objekt möglicher Steuerung und Manipulation geworden ist. Doch ist es schon nach Aristoteles "Unerzogenheit", nicht zu unterscheiden, wo das Suchen nach Beweisen nötig ist und wo nicht. Heidegger wendet sich abschließend zum dritten Thema und wandelt die leitende Frage der Konferenz um: "Das Problem eines nichtnaturwissenschaftlichtechnischen Denkens und Sprechens in der heutigen Theologie." Kann Theologie überhaupt eine Wissenschaft sein? Nach Heidegger darf sie das vermutlich gar nicht sein wollen. In einer Beilage entnimmt Heidegger Rilkes Sonetten an Orpheus die Wendung: "Gesang ist Dasein." Für Rilke ist der singende Orpheus selbst ein Gott. Heidegger denkt die übernommene Wendung anders als Rilke: Gesang, also das dichtende Sagen, ist "da" für den Gott, nämlich bei dem Gott und für den Gott. Heidegger lässt außer Acht, dass Religion und Theologie nicht Dichtung sind, sondern unterschiedliches Sprechen in langen Traditionen. So können sie mit immer neuen Ausarbeitungen den Glauben fähig machen für das Hören der Verkündigung. Bultmann geht im Briefteil vom 8. Dezember 1970 auf diese Ausführungen Heideggers ein. Wichtig ist ihm die Unterscheidung des Aristoteles "zwischen dem, was zu seiner Rechtfertigung einen Beweis fordert, und dem, was für seine Bewährung das einfache Erblicken und Hinnehmen verlangt". Das erste wäre ein objektivierendes Denken, das zweite ein nicht-objektivierendes wie z.B. die Aussage über die Rose oder über den olympischen Apollon. Doch besteht Bultmann darauf, dass zum objektivierenden Denken auch die historische Feststellung über die Stellung des ApolIon in der Geistes- und Kulturgeschichte gehöre. Die Feststellung enthält nach Bultmann auch "die Aussage über seine zukünftige Bedeutung". Bultmann bringt als weiteres Beispiel den Thesen-Anschlag Luthers. Man kann ihn zunächst kausal verstehen aus den historischen Bedingungen, aus denen er erwachsen ist. Was er geschichtlich bedeutet, lässt sich nur aus der von ihm in Bewegung gebrachten Zukunft verstehen. Das sei auch ein objektivierendes Denken, wenn auch kein naturwissenschaftliches. Das nicht-objektivierende Denken und Sprechen frage demgegenüber nach dem "inneren Sinn des Ereignisses": Was bedeutet es für die Entscheidung des existierenden Menschen, für die Frage nach der Rechtfertigung durch Werke oder durch Gnade? Eine solche Interpretation möchte Buhmann als existentiale bezeichnen. "Sie versteht doch die Phänomene der Vergangenheit (Personen wie Situationen) als Möglichkeiten menschlicher Existenz überhaupt, also auch als je meine existentiellen Möglichkeiten".
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Buhmann fasst das Verhältnis des objektivierenden und nicht-objektivierenden Denkens und Sprechens als ein "dialektisches" und so ihr Zugleich als ein "Paradox". Der Arzt, der die Augenkrankheit seiner Frau behandle, sehe das Auge objektivierend gemäß den medizinischen Vorschriften und Hoffnungen. Doch sehe er das Auge auch mit einem liebenden Blick, der dem Blick der Liebe und des Vertrauens begegne. In diesem Sinn könne auch die Theologie die Christlichkeit einerseits objektivierend als mögliches Phänomen des Daseins beschreiben, andererseits die Wiedergeburt im Glauben als ein Ereignis nehmen, von dem nicht als einem objektiv wahrnehmbaren geredet werden könne. Schon Bultmanns Brief vom 30. Januar 1970 verweist auf die Bitte von Matthias Claudius an Gott, sein Heil schauen zu dürfen und "einfältig" zu werden. Er zitiert aus Hölderlins Rhein-Hymne, dass der Mensch das Höchste erlebe, wenn er das Beste im Gedächtnis behalte. Dann fährt Bultmann fort: "Ich sage nichts gegen Hölderlins überragende Größe. Aber in Einem ist ihm Conrad Ferdinand Meyer doch überlegen, in der Schlichtheit der Sprache. Meyers Gedichte sind nicht alle gleichwertig, aber neben unbedeutenden finden sich großartige. Eines der liebsten ist mir Das Ende des Festes: Da mit Sokrates die Freunde tranken, Und die Häupter auf die Polster sanken, Kam ein Jüngling, kann ich mich entsinnen, Mit zwei schlanken Flötenbläserinnen. Aus den Kelchen schütten wir die Neigen; Die gesprächesmüden Lippen schweigen. Um die welken Kränze zieht ein SingenStill, des Todes Schlummerflöten klingen!
Gilt es hier nicht auch nachzudenken? Wer ist gemeint mit dem Jüngling? Mit dem Klang der Flöten?" Rudolf Bultmann, 85 Jahre alt, akzeptiert den Rhythmus des Lebens. Er kann dieses Leben (trotz der schlimmen äußeren Geschehnisse) als ein Fest sehen, das nun sein Ende hat. Er fragt den Freund: "Warum hast Du als Heimat bodenständiger Dichter die Schweiz nicht genannt? Jeremias Gotthelf, Gottfried Keller und auch Conrad Ferdinand Meyer sind doch gewiss auch bodenständig." Heidegger hat jedoch in den Vorträgen über den Ursprung des Kunstwerkes, die auch mit der Schweiz verbunden waren, nach einem Romaufenthalt dem Gedicht Der römische Brunnen von Conrad Ferdinand Meyer eine wichtige Stelle gegeben. Hans Jonas hat in anderer Weise von Conrad Ferdinand Meyer her gefragt, wieweit die Rache für erlittene Ungerechtigkeiten Gott vorbehalten werden muss. Erliegt Heidegger der Versuchung des Pescara, nach dem Tod Gottes an die Stelle Gottes den Tod zu setzen? Offenbar waren diese Dinge Bultmann nicht gegenwärtig. Er dichtete auch selbst. Am. 20. September 1975, kurz vor dem Tode, schickte er Heidegger mit dem Geburtstagsgruß eigene Verse. Diese fragen: Wird die Zeit, in der man leben muss, nicht durch eine Phantasie wie in schlimmen Märchen vergiftet? Bultmann ruft den einzelnen zurück in die Verantwortung.
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Drum frage jeder sich: bist du bereit Für eine zukunftsreiche offne Zeit?
Ernst Jünger ist vor dem Tode katholisch geworden, um in geweihter Erde begraben zu werden. Martin Heidegger bat beim Nahen des Todes seinen Landsmann Bernhard Welte um eine reduzierte Liturgie für sein Begräbnis. Nach Heideggers Anordnung wurden am offenen Grabe in Meßkirch Worte Hölderlins gesprochen, die er ausgewählt hatte. Am Anfang steht die Frage aus der Elegie Brod und Wein: "Delphi schlummert und wo tönet das große Geschik?" Mit dem Gedicht An die Deutschen wird gefragt, wie aus dem Gedanken vielleicht die Tat komme. Es folgen Verse aus einer Vorfassung der Friedensflier vom "Hohen" (dem Göttlichen), das dem Dichter die Knie beugt. Doch mit der TitanenHymne wird dann gesagt, dass die Titanen noch unangebunden sind und die Zeit für die Göttlichen noch nicht da ist. Der Schluss kehrt zurück zur Elegie Brod und Wein: .. .immer bestehet ein Maas, Allen gemein, doch jeglichem auch ist eignes beschieden, Dahin gehet und kommt jeder, wohin er es kann.
Heidegger bescheidet sich darauf, in einer Übergangszeit die Bereitschaft für Kommendes zu wecken. 231 Bei der Dankesrede zur Feier seines 80. Geburtstages in Amrisvil in der Schweiz hat Heidegger mit Hölderlins Elegie Heimkunft gefragt, ob beim Bringen des Danks der "Hohe" genannt werden dürfe. Mit Hölderlins spätesten Gedichten, den Reimen aus der Wahnsinnszeit, hat er darauf verwiesen, dass das "Glänzen" der Natur "höheres Erscheinen" sei Dieses Glänzen aber sei im Zeitalter des wissenschaftlich-technischen VorsteIlens und Stellens verstellt. So fragt Heidegger: "Ist unser Wohnen der Aufenthalt in einem Vorenthalt des Hohen? Waltet in diesem Vorenthalt eine Betroffenheit, die das Wesen und Wohnen des Menschen ganz anders trifft als die heutigen bestellbaren Bestände und sogenannten Realitäten?" Wie Hölderlin dem Gesang einen anderen Charakter geben wollte, so will Heidegger den logischen Positivismus und die Wissenschaftstheorie, also die maßgebliche Philosophie der Zeit hinter sich lassen. Er will nicht aus der technischen Welt herausspringen, aber in ihr fragen: "Ist das Wohnen des Menschen heute der Aufenthalt im Vorenthalt des Hohen?" Damit denkt Heidegger anders, als es sein Freund Bultmann mit seiner Orientierung an Gogarten tut. Das Heilige muss sich in der profan gewordenen technischen Welt neu zeigen im Kleinen und Unscheinbaren, ehe die Frage nach dem Göttlichen, das rettet, gestellt werden kann. Die Rede von einer neuen Mythologie jedoch war Heidegger zu überschwänglich, als dass er sie hätte aufnehmen können.
231 Vgl. Gedenkschrift der Stadt Meßkirch an ihren Sohn und Ehrenbürger Professor Martin Heidegger. Meßkirch 1977. S. 13 ff. - Zum folgenden vgl. Martin Heidegger: Reden und andere Zeugnisse des Lebensweges (Gesamtausgabe Band 16). Frankfurt am Main 2000. S. 715 ff.
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Rudolf Buhmann besteht darauf, dass erst die christliche Heilserfahrung dem Dichten der Griechen wie auch dem Aufbruch deutschen Dichtens seit dem jungen Goethe die Dimension eigentlichen Existierens hinzufügt. Die Wahrnehmung, dass Heidegger nicht nur von Luther zu Hölderlin weiterging, sondern auch Hölderlin bis in die Reime seiner Krankheitszeit folgte, hätte Buhmann nur befremden können. Heinz Holliger hat dann die späten Gedichte Hölderlins komponiert. So trat zu den Opern und Oratorien des Abendlandes ein Werk, das im Verstummen endet, begleitet von der Klage der Flöte, dem Lieblingsinstrument Hölderlins. Muss moderne Dichtung und Kunst nicht auch von daher neue Anfänge suchen?232 Der unterschiedliche Bezug Heideggers und Buhmanns zu Kunst und Religion öffnet ein breites Feld für neue Wege.
5. Reformation der Reformation? Eugen Biser Die Begegnung von Buhmann und Heidegger hat die europäische und dann auch die amerikanische Theologie geprägt. Diese Feststellung kann aber nicht bedeuten, dass Theologen nicht auch unabhängig von diesem Kraftfeld einen eigenständigen Weg gehen konnten. Dafür mag Eugen Bisers Versuch stehen, Philosophie und Geistesgeschichte, Theologie und Politik in ihrer Verflechtung aufzunehmen. Dabei tritt die Frage in den Vordergrund, ob nicht die Reformation selbst, gerade auch der Durchbruch des jungen Luther, zwar nicht zu verwerfen, aber selbst zu einer Reformation hinzuführen sei. Kann man überhaupt davon ausgehen, dass Luther mit seiner Rechtfertigungslehre den entscheidenden Zugang zu Paulus gebahnt habe? Nach Ed Parish Sanders gibt die Rechtfertigungelehre nur eine Außenansicht, die zudem durch rechtliche Kategorien dominiert ist. Eine Innen- oder Tiefenansicht zeigt das Damaskus-Erlebnis des Apostels und seine mystische Verbundenheit mit Christus. Paulus sah sich als untadelig im Sinne der Pharisäer, doch hatte er ein Problem: Gott gab das Gesetz, warum war dann Christus noch nötig? Nach Sanders ist das Gesetz der Pädagoge, der Erzieher von Kindern, die unmündnig sind wie die Sklaven. Plante Gott durch das Gesetz zu verdammen, um in Christus zu retten? Das Gesetz und die Einsicht in das Gesetz sind gut; kann der Mensch ihm aber in seinem Leben gehorchen? Wenn nicht, dann wäre der Schöpfergott nicht der gute Gott - eine ungeheuerliche Anklage gegen Gott! Luther beruft sich auf Paulus, denkt aber ganz anders. Nach Luther ist und bleibt der Mensch ein Sünder; er wird nach der forensischen Terminologie Luthers nur freigesprochen. Demgegenüber fordert Sanders Mystik und deren Bezug auf
232 Vgl. Otto Pöggeler: Vollkommenheit ohne Klage? - Der Nachklang von Hölderlins Hymnen und Elegien. In: "Es bleibet aber eine Spur / Doch eines Wortes". Zur späten Hymnik und Tragödientheorie Friedrich Hölderlins. Hrsg. von Christoph Jamme und Anja Lemke. München 2004. S. 281 ff.
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Gott. Diese Mystik wird für die Paulus-Deutung zentral - dafür kann man an Albert Schweitzer anknüpfen. Paulus sagt Röm. 7, dass ich nicht das Gute tue, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will. Das sei ein "Schrei der Angst". Bultmann gründe darauf seine Theologie, die die genannte Anthropologie voraussetze. Doch nach Sanders ist in Röm. 7 nicht Paulus gemeint oder die Gemeinde, sondern ein "Neurotiker". Damit wird auch Bultmanns Theologie als Neurose abgetan. 233 Einer solchen Kritik kann man schwerlich folgen. Doch hat Eugen Biser diesen angloamerikanischen Zugang zu Paulus aufgenommen und eingebracht in eine lebenslange Bemühung um die abendländische Tradition. Der katholische Theologe und Münchener Prediger hat sich früh an der neuen Zuwendung zu Nietzsche beteiligt, indem er diesen von der deutschen Romantik her verstand. 234 Nietzsche glaubt in Paulus den Sieg des Judaismus über den Aufbruch Jesu ausmachen und sein eigenes Anliegen auf den Kampf gegen Paulus stellen zu können. Doch muss Biser diese Einstellung kritisch fassen und zurücklassen. Die Apostelgeschichte wird von ihm beiseite gerückt, da sie schwerlich das Briefwerk des Paulus kennt. Paulus wird in der Weise biographisch gesehen, in der Goethe sein eigenes Leben als Entwicklung über verschiedene Stufen gedeutet hat. Selbst Eduard Sprangers Psychologie des Jugendalters wird bemüht, damit der Hymnus auf die Liebe (1. Kor. 13) dem vorchristlichen Paulus zugeschrieben werden kann. Der junge Rabbi, der sich nach Liebe sehnte, gab zuerst seinem Neid auf die Christengemeinde durch Aggression Ausdruck. Das Damaskus-Erlebnis sprach ihm dann Christus ins Herz. Die Rechtfertigungslehre, schon eine Modellvorstellung der hellenistischen Gemeindetheologie, wird als etwas Sekundäres beiseite geschoben. Sie habe der Abgrenzung vom Standpunkt der Gegner gedient. Besonders intensiv führt Biser die Auseinandersetzung mit Martin Buber, der Jesus heimholen konnte in die prophetische Tradition Israels, aber gleiches gegenüber Paulus nicht vermochte. Buber hatte gesehen, dass Jesus sich als den kommenden Menschensohn sah und so das Zeugnis des österlichen Glaubens auslöste. Lässt sich schließlich nicht - gegen David Friedrich Strauß und seine Nachfolger - ein höherer Eingriff in die Geschichte auch für die Gegenwart nachweisen? Hier glaubt Biser, die deutsche Wiedervereinigung von 1989 und die Entstehung "des gemeinsamen Hauses Europa" nicht ohne "die Mitwirkung einer transzendenten Geschichtsmacht" erklären zu können. Zu dem Brief des Lord Chandos von Hofmannsthai und zu den Werken von Max Frisch stellt Eugen Biser einen befreundeten Gnostiker unserer Zeit: Hans Erich Nossack. 235 Dessen Roman Nach dem letzten Aufstand wurde von Biser mit Dantes Göttlicher Komödie verglichen. 233 Vgl. dazu E. P. Sanders: Paulus. Eine Einführung. Stuttgart 1995. S. 63 ff., 128, 125. 234 Vgl. Eugen Biser: ,Gott ist tot'. Nietzsches Destruktion des christlichen Bewusstseins. München 1962. 235 Vgl. dazu Eugen Biser. Paulus. Zeugnis - Begegnung - Wirkung. Darmstadt 2003. S. 184. Zum folgenden vgl. Hans Erich Nossack: Nach dem letzten Aufstand. Frankfurt 1981. Nachwort von Eugen Biser. S. 369-412.
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Biser führte im Fernsehen ein Gespräch mit Richard Heinzmann, das auch gedruckt wurde. Nach seiner Überzeugung vollzieht der Mensch in einer Zeit, für die Nietzsche den Tod Gottes angesagt hatte, neue Ausgriffe. In der Raumfahrt gewinnt der heutige Mensch einen Anteil an göttlicher Allgegenwart, in der Nachrichtentechnik an göttlicher Allwissenheit und in der Evolutionstechnik sogar an göttlichem Schöpferturn. Das Christentum könne nicht als Buchreligion gefasst werden. Die Schriftlichkeit des Neuen Testaments entstamme einer Notsituation. Die Zeugen von Jesu Wirken starben. Paulus konnte an seine entfernten Gemeinden nur schreiben. Unter den Weltreligionen konkurriere das Christentum mit dem Buddhismus. Doch bringe es nicht nur durch Askese die vielfache Gier und Konfliktbereitschaft des Menschen zum Schweigen. Es suche alle Kräfte des Menschen zu steigern und die Meditation als Mystik auszubilden. Nach Biser haben die vielen jüdischen Priester in der Urgemeinde den Gedanken des Opfers auf das Sterben Jesu angewandt. Daraus konnte die Satisfaktionstheologie entwickelt werden: Gott brauchte ein Opfer, das die Sünden der Welt ausglich, und so opferte er seinen eigenen Sohn. Doch in dieser Theologie verliert Gott seine Göttlichkeit. Wir können wohl mit Simone Weil sagen, dass Gottes Liebe sich vor allem im Unglück und Leiden der Menschen zeige. Jesus habe in verschiedenen Schritten seines Lebensweges sich als Sohn Gottes erfahren; er gebe sich im Tode hin, um diese Gottessohnschaft an uns weiterzugeben. Nach seinem individuellen Tode lebe er pneumatisch in der Gemeinde weiter. In den Ostergeschichten gehe er durch verschlossene Türen, könne an zwei Orten zugleich sein. Der späte Augustinus habe seine früheren Einsichten verleugnet und sei davon ausgegangen, dass die meisten Menschen durch Angst und Nötigung zum Christentum geführt werden müssten. Die Gewalt habe sich so als Decke über die Augen der Christen legen und die verhängnisvollen Verfolgungen entfesseln können. 236 Schon bei Bisers Verbindung der Wiedervereinigung Deutschlands und des Entstehens des Hauses Europa mit einem transzendenten Eingriff muss man sich fragen, ob nicht konkrete geschichtliche Entwicklungen, die inzwischen zu neuen Konstellationen geführt haben, überdeutet werden. Auch die Schilderung der heutigen geschichtlichen Situation verlangt Abstriche. Der Mensch kann gerade mal den Mond betreten, andere Planeten der Sonne erkunden. Doch was ist das gegenüber der Fülle der Galaxien? Computertechniken und Genveränderungen haben ihre Grenzen gezeigt; Allwissenheit und göttliches Schöpfterum werden da nicht berührt. Nach Biser steckt das Christentum noch in den Anfängen. Er beansprucht in einer Wendezeit eine neue Reformation, so eine Theologie als Theologie einer anderen Zukunft. Zu leicht werden bei solchem Weitblick die Perspektiven unscharf. Auch die systematischen Grundbegriffe verlangen eine Überprüfung. Darf etwa der Begriff des Opfers so negativ gefasst werden? Rene
236 Vgl. Theologie der Zukunft. Eugen Biser im Gespräch mit Richard Heinzmann. Darmstadt 2005. S- 18. 34. 173, 108, zum folgenden 77 ff., 80,29 f.
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Girard hat in einem großangelegten Werk gezeigt, wie die Opfer der Völker im Selbstopfer Jesu an ihr Ziel kommen und der Gedanke des Opfers sich so wandelt. Muss von der Gewalt nicht die Macht unterschieden werden, die die Sphären des gemeinsamen Lebens unterscheidet und so z.B. den Kirchen ihren Raum lässt? Diese Fragen führen hin zu dem Verhältnis von Religion und Geschichte überhaupt.
H. Religion und Geschichte
Als Kar! Barths Denken und Wirken durch eine große Ausgabe dokumentiert wurden, schrieb Martin Heidegger am 1. X. 1971 an Rudolf Buhmann: "Dein BriefWechsel mit Karl Barth ist ein lebendiges Dokument der Geschichte der Theologie in unserem Jahrhundert und vor allem eine Mahnung für die heute wirkende Theologenschaft. Oft sieht es so aus, als verzichte sie auf das Denken aus Angst davor oder aus Bequemlichkeit." Die Jahre unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg hatten der Philosophie wie der Theologie einen großen Umsturz gebracht. Konnte das damals so lebhaft Diskutierte auch in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts noch eine Mahnung sein, die Rückbesinnung auf die Grundlagen des Denkens und Glaubens nicht zu vergessen? Das ist die Forderung Heideggers. Auch im 21. Jahrhundert ist diese Rückbesinnung durch die weitere editorische und interpretatorische Arbeit gestützt worden. Nur exemplarisch, am Beispiel der gegensätzlichen Ansätze von Ernst Troeltsch und Franz Overbeck, soll auf die Wiederkehr des einmal schon Verstoßenen oder Vergessenen hingewiesen werden. Die Anstöße, die Carl Schmitt gab, führen auf andere Wege; dafür mag an J acob Taubes erinnert werden. In verschiedenen Weisen stand Hegels Philosophie für die Zusammenfassung dessen, was sich in der europäischen Geschichte als weltweit Gültiges durchgesetzt hatte: die "bürgerliche" Sicht des Menschen von der Arbeit her, die die Subsistenz sichert, und vom weltweit sich ausdehnenden freien Markt her. Als nach 1989 die Sowjet-Union zusammenbrach und die USA als einzige Weltmacht übrig zu bleiben schienen, hat Francis Fukuyama von Gedanken Hegels aus die Geschichte zu deuten versucht. Doch der Amerikaner japanischer Herkunft musste bald diese Sicht widerrufen, als sich neue eigenständige Zentren in den verschiedenen Kontinenten ausbildeten und von neuen Problemen bewegt wurden. Dass die Europäisierung der Welt ein europäisches Problem darstellte, wurde schon von Franz Rosenzweig vorausgesetzt und später von der Schule Joachim Ritters erörtert. Martin Heidegger hatte es vermocht, mit Besuchern und mit Schülern aus Japan ein Gespräch zwischen Europa und Ostasien in Gang zu bringen. Was von Heidegger und vor allem von Hegel her entfaltet worden war, wurde oft mit der polemischen Rede von einer neuen "Gnosis" abgetan. Die Dichtung von Hans Erich Nossack soll deshalb daraufhin befragt werden, ob eine "gnostische" Einstellung in unserer Zeit nicht ebenso ihre Chancen wie ihre Gefahren hat. Diese Überlegungen zu Grundhaltungen unserer Zeit können zurückführen zu der Frage, ob nicht gerade die philosopische Besinnung auf eine neue "hermeneutische" Theologie verweisen kann.
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1. Die Wiederkehr von Ernst Troeltsch und Franz Overbeck Gertrud von Le Fort, aus einer hugenottischen Familie, wurde in den bewegten Heidelberger Jahren vor dem Ersten Weltkrieg Schülerin von Ernst Troeltsch; nach seinem frühen Tod am 1. 2. 1923 arbeitete sie an seinem Nachlass. Offenbar wurde das Bedürfnis dringlich, für die universalgeschichtlichen Gedankengänge von Troeltsch eine konkrete Abstützung zu suchen. Nach ihren Hymnen an die Kirche von 1924 konvertierte Le Fort 1926 zur katholischen Kirche. Ihr Roman Der römische Brunnen schildert Kindheit und Jugend in Rom, wo die deutsche Kolonie die Spaltungen zwischen der Orientierung an der Antike, der Nachfolge Nietzsches und christlichen Tendenzen zeigt. Der Roman Der Kranz der Engel führt das Geschehen fort; der Titel orientiert sich an den beiden Engeln von einem Tor des Heidelberger Schlosses, die einen Kranz halten. Der Lehrer Ernst Troeltsch kehrt wieder in der Gestalt des Professors, der durch seine Vorlesungen die Jugend bewegt, sich auch schon mit den Tendenzen auseinandersetzen muss, die zum Nationalsozialismus führten. Rom, wo sich seit Jahrhunderten die Deutschen sammelten, wird als Ort des Romans ersetzt durch Heidelberg, dessen Schloss einst einem der ersten Reichsfürsten gehörte. In der Universität konnte ein Lehrer wie Friedrich Gundolf einen Schüler wie Joseph Goebbels haben. Dieser Entwicklung sucht Gertrud von Le Fort sich zu entziehen, indem sie die Mitte der Kirche im Sakramentalen sieht. Folgt nicht auch sie (freilich kirchlich eingebettet) dem, was andere in anderer Weise als eine neue Mythologie suchten?237 Nach dem Ersten Weltkrieg wurde für die Jüngeren, die später Bedeutung erlangten, Ernst Troeltsch zu einer Gestalt, an der die Geister sich schieden. So hatte Martin Heidegger sich in seinen Anfängen an Troeltsch orientiert. Im Winter 1921/22 nahm seine Vorlesung Einleitung in die Phänomenologie der Religion am Anfang Troeltsch jedoch als Exempel dafür, wie die Wege der Theologie über Psychologie, Erkenntnistheorie und Geschichtsforschung schließlich zur Metaphysik und so zurück zu Hegel führten. Dass der junge Luther einen neuen Bezug zum Apostel Paulus und zum Urchristentum durchgesetzt habe, könne so nicht gesehen werden. Heidegger scheint seine Aufmerksamkeit dann nicht mehr darauf gerichtet haben, wie Troeltsch in seinem Historismus-Buch von 1922 mit dem Problem des historischen Relativismus fertigzuwerden sucht. Der Weg, den Troeltsch von der Theologie zur Philosophie und so zu einer umfassenden Wissenschaft von den Kulturen und ihrer Geschichte, aber auch zum konkreten demokratischen Einsatz in der Politik ging, wird nicht beachtet. "Kultur" wird im Umkreis Heideggers zu einem Schimpfwort. So wendet sich Heidegger denn auch 1929/30 von Augustinus, Pascal und Kierkegaard zu einer neuen NietzscheRezeption; der "Revolution" des Nationalsozialismus steht er dann hilflos gegenüber. 237 Zum Werk und zu den Motiven der Dichterin vgl. Wilhe1m Grenzmann: Dichtung und Glaube. Probleme und Gestalten der deutschen Gegenwartsliteratur. 2. Auf!. Bonn 1952. S. 326 ff.
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Friedrich Gogarten, Heidelberger Schüler von Ernst Troeltsch, brachte seinen Streit mit dem Lehrer 1922 unter den Titel Wider die romantische Theologie. Nach dem Historismus-Buch von Troeltsch und weiteren Arbeiten aus dem Nachlass stellte Gogarten 1924 seine Auseinandersetzung unter den Titel Historismus. Troeltsch teile mit Hegel die Überzeugung, dass in der christlichen Religion die vollendete, die absolute Religion hervorgetreten sei! Anders als in der früheren Arbeit Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte sage Troeltsch nun, dass der "Personalismus" dem europäischen Boden entwachsen sei und auf andere Kulturen nicht ohne weiteres übertragen werden könne. Das Christentum bleibe nur für uns Europäer die höchste Offenbarung, " das uns zugewandte Antlitz Gottes". Gehe damit die Theologie nicht über in Geschichtsphilosophie? Der Gottesgedanke werde zu irgendeiner "dunklen, nicht weiter fassbaren Vorstellung". Damit enthüllt sich nach Gogarten aber erschreckend "das schlechthin Götzenhafte und Schemenhafte dieser und nicht nur dieser Geschichtsphilosophie". Auch Gogarten beruft sich auf den Schluss des Historismus-Buches. Die so "leidensvoll"gesuchte "Kultursynthese" wäre gegeben in der "Idee des Aufbaus"; "Geschichte durch Geschichte zu überwinden und die Plattform neuen Schaffens ebnen".238 Wie Heidegger, so will auch Gogarten in einer freien Übernahme Luthers wirklich neue theologische W'ege finden. Selbstverständlich blieben gegenüber solchen Wegweisungen die kritischen Stimmen nicht aus. Die Forderung, in der Theologie wieder metaphysische Fragen zu erörtern, war für Wilhelm Herrmann ein "Rüchzug ins Mittelalter". Herrmann warnte vor einer neuen Art von "Thomismus", da dieser ein Verrat am Erbe der Reformation und Kants sei. 239 Doch konnte man nicht daran vorübergehen, dass Troeltsch den Gegensatz zu Spenglers Diagnose vom Untergang des Abendlandes vertrat durch sein Vertrauen, dass die abendländische Tradition zu einer neuen Kultursynthese fähig sei. Dante wie Goethe schienen bei ihm zu Wort zu kommen; der Weg der Läuterung, der schließlich in der Liebe endet, die die Sonne und die Sterne umfängt; die späte Vision Fausts, die zugleich Bewährung im Sozialen sein soll. Adolf von Harnack sah in den Schluss-Sätzen des Historismus-Buches Troeltschs "wissenschaftliches Testament". Paul Tillich ging davon aus, dass der Tod T roeltsch von einer großen Aufgabe fortgerissen habe. Vor einem Jahr habe Troeltsch zum ersten Male sein großes Kolleg über Geschichtsphilosophie gelesen. In der ersten Stunde habe er daran erinnert, "dass seit Hegel an der Berliner Universität eine Geschichtsphilosophie nicht gelesen worden" sei. 240 238 Vgl. Moltmann (s. Anm. 38). S. 177, 180, 185, 191 ff. 239 Vgl. Wilhe1m Herrmann: Die Lage und Aufgabe der evangelischen Dogmatik in der Gegenwart (1907). In Herrmann: Schriften zur Grundlegung der Theologie. Teil H. Hrsg. von Peter Fischer-Appelt. München 1964. S. 1-87, vor allem 7. 240 Vgl. Adolf von Harnack: Rede am Sarge von Ernst Troeltsch. In: Die Christliche Welt 37 (1923). Sp. 104 f.; Paul Tillich: Zum Tode von Ernst Troeltsch (1923). In: Tillich, Gesammelte Werke VII. S. 175-178. Vgl. ferner Hans Georg Drescher: Ernst Troeltsch. Leben und Werk. Gättingen 1991.
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Der Verlust von Ernst Troeltsch wurde ebenso stark empfunden wie drei Jahre vorher der Verlust von Max Weber. Es ging um Glauben und Denken, aber auch um die politische Arbeit. Friedrich Meinecke konnte sein Befremden gegenüber der Neigung zu Abstraktionen bei Troeltsch nicht unterdrücken. Er erkannte aber an, dass Troeltsch zum antik-stoischen und christlichen Naturrecht das moderne Naturrecht gestellt und in der Fortführung der Ansätze von Hegel und Dilthey die spezifisch deutsche Ausrichtung auf die Individualität der einzelnen Menschen und der Völker zum westeuropäischen Denken gestellt hatte. Hans Baron gab heraus, was der Verstorbene an verschiedenen Orten und in verschiedenen Formen zu konkreten politischen Fragen vorgetragen hatte: Ernst Troeltsch, Spektator-Briefe. Aufiätze über die deutsche Revolution und die Weltpolitik 19181922 (Tübingen 1924). Meinecke sagte in einem Geleitwort, erst durch die Sammlung der politischen Schriften von Max Weber sei "die eminente Bedeutung Max Webers als politischen Denkers" in das "volle Licht" getreten. Meinekke erhoffte Gleiches im Fall von Ernst Troeltsch. Der Weltkrieg und die Revolution in Deutschland hätten den Geschichtsphilosophen auf die neuen Bahnen der Politik gezogen. Als Vertreter der Demokratischen Partei habe Troeltsch als parlamentarischer Unterstaatssekretär im preußischen Kultusministerium wirken können. Das Übertriebene in manchen Äußerungen könne nicht verkannt werden, doch habe die Ermordung seines Freundes Rathenau bestätigt, was er dem Rechtsradikalismus zugetraut habe. 24 \ Die innere wie die äußere Emigration zur Zeit der Diktatur in Deutschland verhalfen so gegensätzlichen Romanisten wie Ernst Robert Curtius und Erich Auerbach dazu, eine Geschichte der abendländischen Literatur zu konzipieren, und zwar vom lateinischen Mittelalter und der christlichen inspirierten figuralen Allegorese her. Dabei berief Ernst Robert Curtius sich auf den Leitgedanken von Ernst Troeltsch, die Idee des Aufbaus heiße, Geschichte durch Geschichte zu überwinden und die Plattform neuen Schaffens zu ebnen. Erich Auerbach empfahl seinen Schülern Troeltsch als Hinführung zu den bestehenden Aufgaben. Er sagte von seinem Buch Mimesis, es sei in keiner anderen Tradition denkbar gewesen "als in der der deutschen Romantik und Hegels".242 Für Gogarten wie für Bultmann war die Orientierung an Auerbach maßgeblich. Wie wenig der Streit der Romanisten jedoch entschieden ist, das zeigt die Option von Harold Bloom für Curtius und dessen Unterstellung einer Gnosis bei Dante. In jedem Fall wird zweifelhaft, ob die Kritik an einer "romantischen" Theologie bei Troeltsch genügend durchdacht ist.
241 Vgl.. Friedrich Meinecke: Werke. Band IV. Stuttgart 1959. S. 364 ff., vor allem 379 ff. 242 Vgl. Ernst Roben Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 1948. S. 12; Erich Auerbach: Epilegomena zur Mimesis. In: Romanische Forschungen. Band 65. Frankfurt 1954. S. 15, 17 f. - Vgl. dazu Otto Pöggeler: Dichtungstheorie und Toposforschung. In: Jahrbuch für Ästhetik 5 (1960). S. 89 ff., vor allem 92, 161. Vg. auch Toposforschung. Hrsg. von Max L. Baeumer. Darmstadt 1973. S. 22 ff. - Zum folgenden vgl. Harold Bloom (s. Anm. 159).
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Nach dem Zweiten Weltkrieg musste man ein Verhängnis darin finden, dass Ernst Troeltsch schon vor seinem frühen Tod der Vergangenheit zugeschlagen wurde. Die Wertungen wurden umgekehrt. So sah Wolfhart Pannenberg im Zurück zu Troeltsch ein "eindringliches Omen". Troeltsch habe sich "schließlich doch als derjenige erwiesen, der die wahrhaft fundamentalen Fragen und Aufgaben der Theologie im 20. Jahrhundert formuliert hat".243 Trutz Rendtorff sagt in einer Übersicht: "Ernst Troeltsch steht nicht am Ende der Theologie des 19. Jahrhunderts, sondern am Beginn der Theologie des 20. Jahrhunderts." Im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften erscheint die Kritische Gesamtausgabe. Der Band 5 brachte 1998 die Schrift Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte nach der Fassung von 1912 mit den Abweichungen der Fassung von 1902 und weiteren Ergänzungen. Ließ sich Troeltsch weiterhin mit der Kritik seines Schülers Gogarten beiseite rücken? In der Festgabe für Eric Voegelin hielt Rudolf Bultmann 1962 fest, dass nach Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes von 1918/1922 die Bemühungen um das Verständnis der Geschichte nicht abrissen. Das zeigten Heidegger und Jaspers, aber auch Jüngere wie Gerhard Krüger und Kar! Löwith. Vor allem habe Arnold T oynbee mit A Study 0/ History über den Kreis der Fachhistoriker hinaus auch viele Laien erreicht. 244 Kar! Löwith hat mit seiner wirkungsreichen Darstellung Weltgeschichte und Heilsgeschehen das Verständnis von Geschichte auf die antike Konzeption der zyklischen Bewegung und auf die christliche Eschatologie und deren Säkularisierung zurückführen wollen. Demgegenüber hat Michael Landmann unter Berufung auf Erich Rothacker darauf bestanden, dass Herder und die Historische Schule eine dritte Geschichtsmetaphysik entfaltet hätten, die im Miteinander verschiedener Kulturen den Sinn der Geschichte suche. Als Rudolf Bultmann die Auseinandersetzung mit Robinsons Honest to God führte, brachte er auch Ernst Troeltschs Rede von den Wandlungen Gottes ein. Troeltsch habe diese Wandlungen zurückgeführt auf eine "Lebensbewegung des Alls oder der Gottheit". "Troeltsch hat das Problem gesehen, aber er sucht es zu lösen nicht auf Grund der Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz, sondern von einem Standpunkt aus, der die Geschichte von außen betrachtet und spekulierend eine transzendente Gottheit postuliert, die jenseits je meiner Geschichtlichkeit lebendig ist." Dagegen habe Hans Jonas den Menschen verantwortlich gemacht für ein "Schicksal" der Gottheit selbst. Die Frage bleibt, ob Bultmann hier nicht immer noch Troeltsch nur ein Versagen zuschreibt und seine berechtigten Motive nicht sieht.
243 Vgl. Wolfhart Pannenberg: Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze. Göttingen 1967. S. 252-295, vor allem 253 f. - Zum folgenden vgl. Trutz Rendtorff: Ernst Troeltsch. In: Theologen des Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert. Band H. Hrsg. von Martin Greschat. Stuttgart u.a. 1978. S. 272-287, vor allem 286 f. 244 Vgl. RudolfBultmann: Glauben und Verstehen. Vierter band (s. Anm. 203). S. 91, zum folgenden 123 f.; zu Landmann vgl. Pöggeler: Schritte zu einer hermeneutischen Philosophie (s. Anm. 5). S. 463 f. Siehe auch unten S. 245.
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Auch das Werk Adolf von Harnacks ist in neuer Weise aufgearbeitet worden. So zeigt sich allgemein, dass der Aufstand der Jüngeren nach dem Ersten Weltkrieg gegen Harnack und gegen Troeltsch nicht unkritisch fortgeführt werden kann. 245 Da Max Webers Werk und Wirkung durch Edition und Interpretation in vielschichtiger Weise erörtert wurde, musste der Bezug zwischen Weber und Troeltsch hergestellt werden. Webers Abhandlung Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus gehört zu den wenigen Texten, die eine nicht endende Diskussion ausgelöst haben. Je mehr Webers Thesen zu etwas Selbstverständlichem zu werden schienen, umso mehr wurde die Verbindung zwischen dem sog. "Geist" des Kapitalismus und der asketischen Ethik vor allem des reformierten Christentums historisch bestritten. Es ging nicht mehr an, mit Martin Heidegger in der Arbeit von Troeltsch über die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen nur eine "Einzeluntersuchung" zu sehen und Max Weber vor allem von seinen Münchener Nachkriegsreden her aufzunehmen. Das aber bedeutet, dass die Zuwendung zu T roeltsch heute an einem neuen Anfang steht. Der Weg von Ernst Troeltsch hatte nach Berlin geführt. Politik, Religion und Philosophie sollten noch einmal, wie bei Hegel, von den Aufgaben der Zeit her verbunden werden. Nach dem Kriege 1870/71 war von Preußen aus das Deutsche Reich organisiert worden. Berlin konnte die Hauptstadt sein, weil es auch vielfältigen kulturellen Bemühungen folgte. Die Universität war seit ihrer Gründung durch Wilhelm von Humboldt zum Modell einer neuen Universitätsform geworden. Die Geisteswissenschaften erhielten in der Verbindung mit der Philosophie eine maßgebliche Rolle. An der Südwestecke des Reiches, im schweizerischen Basel, wuchs der Widerstand gegen dieses Berlin. So unterschiedliche Gestalten wie Johann Jakob Bachofen, Franz Overbeck, Friedrich Nietzsche und Jakob Burckhardt lebten dort miteinander oder nebeneinander. Heidegger hatte die Möglichkeit, nach Berlin zu gehen, ausgeschlagen. Als er von Marburg nach Freiburg zurückgeholt worden war und über viele Berufungen verhandelt wurde, schrieb er am 11. 6. 1928 an Karl Jaspers: "Ich bin froh, dass ich mir die kommenden Schiebungen völlig desinteressiert aus der erhöhten Ecke des Reiches in der Nähe Jakob Burckhardts ansehen kann." Nach dem großen Erfolg von Sein und Zeit war Heidegger in das Blickfeld einer breiteren Öffentlichkeit gerückt; der veröffentlichte Teil seines Werkes war für ihn selbst aber nicht mehr als die Absprungsbasis für ein Denken, dessen Ausgestaltung noch zu finden war. Konnte Jakob Burckhardt mit seiner Vorlesungstätigkeit und der einsamen Arbeit an großen Konzeptionen nicht ein Vorbild sein? Die entscheidende Rolle unter den Baseler Gestalten fiel jedoch Nietzsche zu. In seiner ersten Nietzsche-Vorlesung vom Winter 1936/37 weist Heidegger gleich am Anfang darauf hin, dass Nietzsche in Basel mit Burckhardt, Overbeck 245 Vgl. Adolf von Harnack: Christentum, Wissenschaft und Gesellschaft. Wissenschaftliches Symposion aus Anlass des 150. Geburtstages. Hrsg. von Kurt Nowak, Otto Gerhard Oexle, Trutz Rendtorff, Kurt-Victor Seige. Göttingen 2004. Zum folgenden vgl. Asketischer Protestantismus und der "Geist" des modernen Kapitalismus. Max Weber und Ernst Troeltsch. Hrsg. von Wolfgang Schluchter und Friedrich Wilhe1m Graf. Tübingen 2005.
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und Bachofen verkehrt habe. Er führt die Frage an, ob zwischen Burckhardt und Nietzsche eine wirkliche Freundschaft bestand oder nicht. Diese Frage habe eine Bedeutung, die "über das bloß Biographische" hinausreiche. 246 In dieser Vorlesung soll wie bei Herder und Winckelmann die Rolle der Kunst in der Geschichte eines Volkes Thema einer großen Selbstbesinnung werden. So betont Heidegger, dass so gegensätzliche Gestalten wie Burckhardt und Taine sich nicht "mit dem Messgerät des Fachbetriebes ausmessen" ließen. Wenn Heidegger auf den Gegensatz des Apollinischen und Dionysischen kommt (den er schließlich von Hölderlin her sieht), dann betont er, "dass bereits Jakob Burckhardt in seinen Basler Vorlesungen über die Kultur der Griechen, die Nietzsche zum Teil gehört hat, diesem Gegensatz auf der Spur war". Deshalb habe Nietzsche noch in der Götzen-Dämmerung "Jakob Burckhardt in Basel" eigens genannt als den "tiefsten Kenner" der Kultur der Griechen, der "heute" lebe. Heidegger beanspruchte durchaus einen eigenen Bezug zu Jakob Burckhardt. So schrieb er am 24. August 1925 an Karl Löwith, er habe am Ende des Sommersemesters den Studenten bei einer kleinen Einladung "aus und über Jakob Burckhardt vorgelesen"; die Hörenden seien stutzig geworden angesichts dieser inneren Ruhe und Sicherheit eines schaffenden Lebens. 247 Doch hat Heidegger auch die anderen Baseler Gestalten im Blick. So weist er die Pädagogin Elisabeth Blochmann am 25. 5. 1932 darauf hin, dass eine dreibändige Auswahl aus Bachofens Werken unter dem Titel Urreligion und antike Symbole 1926 erschienen sei. "Sie wissen, viel wird bestritten. Die Methode ist nicht überall anwendbar und überzeugend - und doch sind wesentliche Dinge gesehen. Sehr schön über Bachofen selbst das kleine von Alfred Baeumler herausgegebene Heft J. J. Bachofen, Selbstbiographie und Antrittsrede über das Naturrecht ... " Alfred Baeumler hatte eine bedeutende Interpretation von Kants Kritik der Urteilskraft gegeben. In der Einleitung zur Bachofen-Auswahl ließ er sich durch Hegels Jenaer Deutung der Orestie zu Bachofen und Nietzsche führen. Seit 1930 (als die Schutzfrist für Nietzsches Schriften ablief) konnte er Nietzsche-Editionen mit Einführungen oder Nachworten herausgeben. Bedeutsam wurde sein Buch Nietzsehe der Philosoph und Politiker (Leipzig 1931). Das Bild von Nietzsche als dem Dichter-Philosophen oder dem Kulturkritiker trat zurück. Nietzsche stand nunmehr als systematischer Philosoph neben den Denkern des Deutschen Idealismus und überhaupt der klassischen philosophischen Tradition. So konnte Baeumler in einer nachgelassenen Notiz festhalten: "Ich habe zweierlei in die Literatur eingeführt: 1. Nietzsche ist Philosoph, 2. Nietzsches Gedankenwelt ist einheitlich. Beide Thesen sind von Jaspers, Thomas Mann und zahlreichen anderen stillschweigend übernommen worden. Protestiert hat gegen beide Josef Hofmiller." Mazzino Montinari, einer der Herausgeber der neuen NietzscheAusgabe, hielt gegen die Anklagen von Frau Marianne Baeumler fest, er wolle 246 Vgl.Heidegger: Nierzsche (s. Anm. 227). Erster Band. S. 16, zum folgenden 107, 123. 247 Vgl. dazu Otto Päggeler: Bild und Technik. Heidegger, Klee und die Moderne Kunst. München 2002. S. 73.
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Baeumler nicht als "Faschist" diffamieren, "sondern als den aufrechten und konsequenten Nationalsozialisten betrachten, der er war. 248 Heidegger brach 1938 sein Engagement für Hitler ab; das tat Baeumler nicht. So kämpfte seine Frau nach 1945 vergeblich dafür, dass auch ihrem Mann, wie es bei Heidegger geschah, die Publikation von Erklärungen und von alten und neuen Arbeiten gestattet würde. Martin Heidegger war mit Alfred Baeumler auch persönlich verbunden. Im Sommer 1932 wanderten beide durch Baeumlers Heimat, den Böhmerwald. Als Heidegger sich 1933 noch vor seinem Rektorat der Kulturpolitischen Arbeitsgemeinschaft deutscher Hochschullehrer anschloss, holte er auch Baeumler in sie. Diese Arbeitsgemeinschaft war in Konkurrenz zum Deutschen Hochschulverband zugunsten des Nationalsozialismus tätig. Weihnachten 1933 kam es aus unbekannten Gründen zum Bruch zwischen Heidegger und Baeumler. Dieser schloss sich dann Alfred Rosenberg an und diskreditierte damit auf Dauer sein bedeutendes Schaffen. Heidegger verhielt sich zur Nietzsche-Rezeption Baeumlers durchaus ambivalent. Er fand zwar schon im Wintersemester 1929/30 in einer neuen Weise zu Nietzsches Kritik der abendländischen Ausrichtung auf Vernunft. Doch musste er sich dann angesprochen fühlen durch Baeumlers Weise, Nietzsche als systematischen Philosophen neben die großen Denker der Tradition zu stellen. Seine Kritik setzt ein, wenn Baeumler den Gedanken der ewigen Wiederkehr beiseite schiebt. Heideggers erste Nietzsche-Vorlesung empfiehlt jene Ausgabe des Willens zur Macht, die Baeumler mit einem "verständigen Nachwort" versehen habe. Auch sollen die Studenten sich durch Baeumler zu Nietzsches Leben führen lassen. 249 Heidegger zeigt aber, dass der Gedanke der ewigen Wiederkehr für Baeumler "ohne Belang" sei - eine ,,Ägyptisierung" der heraklitischen Welt. Hier sei die Sicht Heraklits wie die Sicht Nietzsches falsch. Die Lehre vom ewigen Fluss der Dinge sei ungriechisch; die Auffassung des Willens zur Macht als Werden werde Nietzsche nicht gerecht. Baeumler könne die Lehre von der ewigen Wiederkehr nicht aufnehmen, weil er Nietzsches Auffassung vom Willen zur Macht nicht metaphysisch begreife, sondern politisch ausdeute. Ähnliches geschehe bei ]aspers in dessen existenzieller Nietzsche-Deutung. In seiner zweiten Nietzsche-Vorlesung macht Heidegger die Lehre von der ewigen Wiederkunft eigens zum Thema. Hier sagt er dann auch, das Werk oder "Hauptwerk" Der Wille zur Macht sei eine "willkürliche Auswahl" von Aufzeichnungen Nietzsches. (Als Mitglied der Nietzsche-Kommission hatte Heidegger es sich zur Aufgabe gesetzt, hier Abhilfe zu schaffen; damit blieb er dabei, in Nietzsches spätem Nachlass dessen entscheidende Gedanken, ein System, zu finden.) Heidegger hatte nach der neuen Zuwendung zu Nietzsche im Winter 1929/30 Werner Brock als Assistenten angenommen, um mit ihm den Nietzscheanismus Ernst] üngers aufzuarbeiten, also den Aufsatz Die totale Mobilmachung von 1930 248 Vgl. Marianne Baeumler und Mazzino Montinari in Annali Studi Tedeschi 3 (Istituto Orientale di Napoli 1977). S. 117 ff., vor allem 120, 125. 249 Vgl. Heidegger: Nietzsehe (s. Anm. 252). Erster Band. S. 19, zum folgenden 30 ff., 413 ff.
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und das Buch Der Arbeiter von 1932. (Doch musste Brock, jüdischer Herkunft, nach 1933 Deutschland verlassen.) Die Zuwendung zu Jünger bedeutete auch, dass die Philosophie Nietzsches verknüpft wurde mit der Frage nach der technischen Herrschaft über die Welt und nach deren Grenzen. War der Übermensch für Baeumler der Repräsentant eines heroischen Germanentums, so war er für Heidegger der Technokrat. 25o Offensichtlich hat Heidegger Baeumler auch nach Ende 1933 beachtet; seine Vorträge über den Ursprung des Kunstwerks verdanken im Bezug auf Dürer manches sicherlich der Ästhetik Baeumlers, die 1934 als Fragment erschien (da Baeumler sich politischen Aufgaben zugewandt hatte). Der Streit um Nietzsche nach den Interpretationen von Baeumler und Heidegger ist uns auch deshalb ferngerückt, weil sich in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Frankreich und Amerika eine neue Zuwendung zu Nietzsche durchgesetzt hat. Angeführt sei dafür nur Gianni Vattimo. Dieser hat in der Gedächtnisschrift zu Heideggers hundertstem Geburtstag geradezu über Nietzsche als Interpret Heideggers gehandelt. 251 Danach bleibt Heidegger in seiner Metaphysikkritik doch noch der metaphysischen Orientierung am einen Sein verhaftet. Nietzsche sei dadurch ein Vorläufer der Postmoderne, dass er die Vielgestaltigkeit der Formungen des Lebens verbindlich mache. Wolfgang Müller-Lauter nahm die neue editorische, philologische und philosophische Arbeit an Nietzsche von dieser Tendenz her auf. Dabei wurde wichtig, dass es in Heideggers Bezug zu Nietzsche 1937/38 einen Bruch gab. Heidegger erkannte in Hitler den Verbrecher der Nation; sein eigenes einstiges Engagement für Hitler führte ihn in eine schwere Lebenskrise. (Müller-Lauter stellt die Dokumente und Berichte dafür zusammen.) Heidegger, der einst Nietzsche und Hölderlin verband, ging nun davon aus, dass Nietzsche oder wenigstens der Nietzscheanismus Hitler vorbereitet hatte. Als Heidegger 1941 erneut Schellings Freiheitsschrift auslegte, ebnete er sie ein in den Weg von Leibniz zu Nietzsche und so in die Destruktion der "Metaphysik": Das Sein als Anwesenheit verlangt, in seiner Vorhandenheit vorgestellt zu werden; im Vorstellen waltet der Wille, der bei Nietzsche auf sich gestellt wird. Für diese Art von Nietzscheanismus bezieht Heidegger sich auf die Wochenzeitung Das Reich. Dort wurde durchaus als "Einsicht in das, was ist", der Ausspruch eines Berliner Taxichauffeurs zitiert: ,,Adolf wees et, Gott ahnt et und dir jeht's nischt an." Gott ist (wie Schelling es vorzugeben schien) noch nicht ganz zu sich erwacht. Der Führer aber weiss, wohin es geht, wenn er sich auf die Vorsehung und den Herrgott beruft. Die kleinen Leute ziehen sich in den Gewittern der Geschichte auf Berufspflichten wie das Taxifahren zurück. Heidegger hält fest: "Hier ist die unbedingte Vollendung der abendländischen metaphysica specialis ange250 Vgl. Martin Heidegger: Die Selbstbehauptung der deutschen Universität / Das Rektorat 1933/34 (s. Anm. 133). S. 24. 251 Vgl. Gianni Vattimo: Heideggers Nihilismus. Nierzsche als Interpret Heideggers. In: Kunst und Technik. Hrsg. von Walter Biemel und Friedrich-Wilhelm v. Herrmann. Frankfurt am Main 1989. S. 141 ff. - Vgl. zur Sache Wolfgang Müller-Lauter. Heidegger und Nietzsehe. Nietzsche-Interpretationen III. Berlin / New York 2000. S. 16 ff.
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sprochen. Die drei Sätze sind die echteste, berlinische Interpretation von Nietzsche, Also sprach Zarathustra; sie wiegen alles Geschreibe der Nietzsche-Literatur au.f "252 Wenn Heidegger 1970 Nietzsches erste unzeitgmäße Betrachtung und Overbecks gleichzeitiges "Schriftchen" Über die Christlichkeit unserer gegenwärtigen Theologie zusammenstellt, lässt er den Titel von Nietzsches Betrachtung aus: David Friedrich Strauß Der Bekenner und Schriftsteller. Doch stimmt Heidegger sicherlich überein mit dem, was Nietzsche sagt: Durch den deutschen Sieg über Frankreich 1870/71 habe sich nicht auch eine Überlegenheit der deutschen Kultur gezeigt; Kultur, die Einheit des Stils in allen Lebensäußerungen eines Volkes, gehe den Deutschen gerade ab. Es geht Heidegger darum, dass Nietzsche den "herrlichen Hölderlin" nennt. Wie Nietzsche das tut, beachtet Heidegger nicht, weil er es nicht akzeptiert. Nietzsche sagt, der "Philister" sei im Studentenleben der Gegensatz zum "Musensohn"; der "Bildungsphilister" wähne, selber Musensohn zu sein und deutsche Kultur beanspruchen zu können. Am Ende des zweiten Stücks führt Nietzsche Friedrich Theodor Vischer an, den "namhaften Ästhetiker aus der Hegelschen Vernünftigkeits-Schule". Dieser sah in Hölderlin den "Werther Griechenlands", dem jener Humor fehlte, der die harte Wirklichkeit ertragen lehre. Hölderlin habe es nicht ertragen können, "dass man noch kein Barbar ist, wenn man ein Philister ist". Mit seinem Humor (einer höheren Form der Ironie) will Vischer Philister sein und "Kulturmensch". Nietzsche unterstellt seinem Spott, dass der neue Glaube, den Strauß dem alten Glauben entgegenstellt, ein Philisterglaube sei. Indem er den herrlichen Hölderlin einbringt, gibt er Heidegger das Motiv vor, ein Suchender zu bleiben und mit Hölderlin über den überlieferten Glauben hinauszufragen, ohne schon einen neuen Glauben besitzen und empfehlen zu können. Was Marburg ihm vor allem durch Bultmann bot: den Durchbruch zu einer neuen Exegese und einer neuen Übernahme der Tradition, das konnte Heidegger nun auf sich beruhen lassen. War es nicht jene "Gelehrtenreligion", die Overbeck für einen "Wahn" erklärt hatte, weil sie durch historische Forschung den Glauben neu beleben wollte? Eine solche Sicht tut Bultmann freilich Unrecht, denn er war immer bereit, als Prediger der Kirche zu dienen. Heidegger dagegen fand in Hölderlins Elegien und Hymnen die zukunftsoffene, dichterisch-künstlerische Fortsetzung dessen, was über die Jahrhunderte hinweg der Gregorianische Choral (etwa der Mönche von Beuron) den Menschen gegeben hatte. So sah er am 12. 9. 1929 gegenüber Elisabeth Blochmann in "Beuron" ein "Samenkorn" für etwas Wesentliches. Heidegger verwies in Marburger Diskussionen auf Overbeck; wann aber war er auf ihn gestoßen? Als er sich am 30. Juni 1922 im protestantischen Göttingen durch eine Vita vorstellte, nannte er seinen Vater einen Küfermeister (obwohl dieser primär Mesner war). Er betonte seine frühe Nähe zu Lotze und Husserl und sagte, in seinem Theologiestudium habe er sich vorwiegend mit Philosophie 252 Vgl. Martin Heidegger: Die Metaphysik des deutschen Idealismus (Gesamtausgabe Band 49). Frankfurt am Main 1991. 5.122. Vgl. oben 5.126 f. - Zum folgenden s. Anm. 157.
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beschäftigt (was die Studienordnung für die ersten Semester vorschrieb). Die kritischen Untersuchungen von Franz Overbeck, die protestantische dogmengeschichdiche Forschung, die Religionsgeschichdiche Schule und vor allem die "kritische Arbeit von Albert Schweitzer" hätten ihn dazu geführt, die Theologie aufzugeben (zumal er den Antimodernisteneid nicht habe auf sich nehmen können).253 Wenn Heideggers Vorlesung vom Winter 1919120 die Geschichte von der Konzentration auf die Selbsrwelt her sieht, wird die Rolle der Biographie und dabei auch die Ausrichtung auf das Leben J esu betont. Das mag ein indirekter Hinweis auf Albert Schweitzer sein. Doch finden sich die Arbeiten von Schweitzer und von Overbeck nicht direkt angeführt. Vielleicht wurde Overbeck entscheidend, als das Nachlasswerk Christentum und Kultur seit 1919 vorlag. Eduard Thurneysen gab 1920 mit Karl Barth eine Broschüre Zur inneren Lage des Christentums heraus. Darin stand Thurneysens Predigt Die enge Pforte. Barth verwies in einer Buchanzeige Unerledigte Anfragen an die heutige Theologie auf die Bedeutung Overbecks. Der Krieg habe gezeigt, dass die Theologie nur aus der Krisis entstehen könne. Sie müsse fortgehen zu der Hoffnung, dass "aus dem großen kritischen Nein des Todes das viel größere schöpferische Ja des Lebens siegreich hervorbricht". Frau Overbeck stimmte Barth zu, doch Eberhard Vischer, Overbecks Lehrstuhlnachfolger, widersprach mit dem Hinweis, dass Overbeck aller Theologie "den Krieg aufs Messer angesagt" habe. Paul Wernle mokierte sich (am 13.2. 1921 gegenüber Martin Rade) über die "Overbeckfälschung Karl Barths", die sich ja ganz gut mache vor Lesern, "die Overbeck nie kannten und sich allen blauen Dunst über ihn vormachen lassen". Er selbst habe "den alten Herrn" sehr gut gekannt; dieser würde im Grabe lachen über seine Heiligsp rech ung. 254 Heidegger hatte auch Karl Jaspers für das Nachlasswerk von Overbeck zu gewinnen versucht. Doch blieb dieser bei seinem "Misstrauen", als Heidegger ihm das Buch schickte. Er schrieb am 24. 11. 1922 an Heidegger: "Es ist eine dünne, blutleere Art, viel Vorsicht nur zum Schutz. Für mich ohne Impuls." Damit zeigte Jaspers für Heidegger aber nur, dass ihm die entscheidenden theologischen Fragen fremd blieben. Jaspers hatte eine klare Absage an die christliche Herkunft und Umgebung bei seinem Vater erlebt. Vom eigenen Philosophieren aus suchte er einen philosophischen Glauben zu gewinnen, und dafür brauchte er keine Dramatisierung des Weges von Overbeck. Wenn er sich schließlich auf eine Auseinandersetzung mit seinem einstigen Oldenburger Mitschüler Bultmann einließ und in den Streit über die Entmythologisierung eintrat, war die Distanz zur exegetischen Arbeit der Theologie nicht zu übersehen. Heidegger hielt nach dem Zweiten Weltkrieg Kontakt zu Heinrich Ott, dem Nachfolger Karl Barths. Dieser hatte sich auch Bultmann zugewandt, ging aber bald mit Martin Buber eigene
253 Vgl. Heidegger: Reden und andere Zeugnisse... (s. Anm. 57). S. 41 ff.: 254 Vgl. den BriefWernles in Jaspert (s. Anm, 33). S. 35. Vgl. grundsätzlich Arnold pfeiffer: Franz Overbecks Kritik des Christentums. Gättingen 1975. S. 79, 82, 80.
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W ege. 255 Wenn Heidegger nach Basel kam, besuchte er weder Karl Barth noch Karl Jaspers, sondern die Öffentlichen Kunstsammlungen und die Galerie Beyeler. So lernte er die Bilder von Picasso, Tobey und vor allem das Spätwerk Paul Klees kennen. Wenigstens einige Jahre lang ging es ihm darum, ein "Pendant" über moderne Kunst zu seinen Vorträgen über den Ursprung des Kunstwerkes zu schreiben, in denen die Kunst mit dem Kult verbunden worden war. Heideggers frühester akademischer Schüler, Karl Löwith, hat berichten können über die spezifischen Interessen des jungen Heidegger. 256 Heidegger teilte die Aufmerksamkeit für Overbeck mit Löwith. Am 20. 2. 1923 vermutete er in einem Brief an Löwith, dieser habe ihm die Auflage von de Wettes Apostelgeschichte, die Overbeck besorgte, im Antiquariat "weggeschnappt". Als Sein und Zeit erschienen war, rückte Löwith Heidegger in die Nähe zur neuen Theologie; sein Aufsatz Phänomenologische Ontologie und protestantische Theologie von 1930 kann heute noch helfen, die damalige theologisch-philosophische Siruation aufzuschlüsseln. Die Emigration nach Italien, Japan und Amerika führte Löwith auf neue Wege. In seinem Buch Von Hege! zu Nietzsche stellte er den "revolutionären Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts" bei Kierkegaard und Nietzsche heraus. Er berief sich abschließnd darauf, dass Overbeck "protokollarisch" das Ende des christlichen Zeitalters aufnahm. Die Lebensweisheit des Christentums sei nach Overbeck eine Todesweisheit, doch habe er ihr die Todesbetrachtung von Montaigne und Spinoza vorgezogen. Das memento mori des Kartäusergrußes weise nicht mehr auf eine Zukunft im Jenseits, mit der man den Glauben anderer bestreiten kann. Es heiße bei ihm: "Respektieren wir vielmehr im Tode das unzweideutige Symbol unserer Gemeinschaft im Schweigen, das er als gemeinsames Los über uns Alle unausweichlich verhängt. "257 In Amerika konnte Löwith 1949 sein Buch Meaning in History herausbringen; es erschien auf Deutsch unter dem Titel Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie. Theologen benutzten das Buch oft, um ihre Heilsgeschichte gegenüber einer weltgeschichtlichen Betrachtung zu rechtfertigen. Doch suchte Löwith über alles geschichtliche Denken hinauszukommen zur "Natur". Damit war nicht die Natur gemeint, die etwa durch die Forschungen Werner Heisenbergs neue Züge gezeigt hatte und von Löwiths einstigem Freund Oskar Becker zum Thema gemacht wurde. Löwith glaubte, etwa mit japanischen Zugängen zur Natur, die Natur in ihrer Unmittelbarkeit jenseits der geschichtlichen Zugänge zu ihr ansiedeln zu können. Als Löwith 1966
255 Vgl. Heinrich Ott: Hermeneutic and Personal structute of Language. In: On Heidegger and language. Ed. by Joseph J. KockeImans. Evanston 1972. S. 169 ff. - Zum folgenden vgl. Pöggeler: Bild und Technik (s. Anm. 247). S.117 ff., 195 ff. 256 S. Anm. 69 und 70. - Zum folgenden vgl. Löwiths angeführten Aufsatz in Heidegger. Perspektiven zur Deutung seines Werkes (s. Anm. 28). S. 54 ff. 257 Vgl. Kar! Löwith: Von Hege! zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts. 7. Aufl. Hamburg 1978. S. 402 ff., vor allem 414, 412.
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Vorträge und Aufsätze zusammenstellte, sah er sie alle bestimmt von der These der "philosophischen Fragwürdigkeit der christlichen Überlieferung".25B Am 24.8. 1925 schrieb Heidegger an Löwith: "Was noch ,Leben' zeigt, ist die Barth-Gogarten-Bewegung, die in Marburg durch Bultmann selbständig und vorsichtig vertreten wird ... " Er selbst sei ständig dem "Zugerechnetwerden zur Theologie ausgesetzt"; doch habe er anlässlich eines Vortrags von Heitmüller seine "Skepsis deutlich genug zum Ausdruck gebracht". "Wenn indirekt von meiner Arbeit etwas abfällt, dann kann ich das nicht hindern. Nur lehne ich jede Absicht und Verantwortung ab." Diese Mitteilung nimmt Löwith auf, wenn er in seinem Bericht über die Religiosität des jungen Heidegger sagt: "Noch 1925 schien ihm geistiges Leben nur in der Theologie vorhanden, bei Barth und Gogarten. Am vertrautesten stand er damals mit Bultmann, mit dem er ein Seminar über den jungen Luther abhielt." In solchen Vereinfachungen wird freilich übersehen, dass Heidegger damals zum späten Scheler fand, seit 1929/30 Nietzsches Vernunftkritik neu aufnahm. Löwith will auch nicht wahrhaben, dass Heidegger erst nach der Übersiedlung nach Freiburg 1928/29 zeitweilig für Hitler optierte (aber gegen das Parteiprogramm). Am 30 Juli 1925 schrieb Heidegger an Löwith, dass die Theologen in Marburg sehr rührig seien. Die Studenten seien uneinig, gruppierten sich vor allem um Bultmann. Dieser sei in allem vorsichtig und sachlich und steche gegen den Barthianismus und Kierkegaardismus wohltuend ab. Der letztgenannte "Rummel" werde "allmählich grauenerregend". Die unfähigsten Leute seien auf die Dialektik gekommen und operierten damit sogar so echt, dass sie gleichzeitig sagten, "sie dürften eigentlich nicht so reden". "Es zeigt sich immer wieder viel Hohlheit und Kompromisstüchtigkeit hinter den Theologieen und solange Overbeck nicht ,widerlegt' ist, wird alles künstlich und Ausweg bleiben." Sicherlich hatte Heidegger gesehen, dass die damaligen Freunde Oskar Becker und Karl Löwith auf anderen Wegen waren als er selbst. Doch war noch nicht abzusehen, wie Löwith die "Destruktion", die er von Heidegger lernte, gegen diesen selbst wenden würde. Im späten Rückblick in schweren Jahren der Emigration und nach der schließlichen Rückkehr nach Deutschland trennte er Karl Barth und Martin Heidegger auch in politischer Hinsicht. Es vetwunderte ihn nicht, dass Heidegger nach dem kurzen Anschluss an Hitler gegenüber dem neuen "man" des Nationalsozialismus bald in der alten Weise opponierte. Das widerspreche nicht "seiner substanziellen Zugehörigkeit" zum Nationalsozialismus. "Denn der ,Geist' des Nationalsozialismus hat es nicht so sehr mit dem Nationalen und Sozialen zu tun als vielmehr mit jener radikalen Entschlossenheit und Dynamik, die jede Diskussion und Verständigung ablehnt, weil sie sich einzig und allein auf sich selber verlässt - auf das je eigene (deutsche) Sein-können. Es sind durchwegs Ausdrücke der Kraft und Entschlossenheit, die das Vokabular der nationalsozialistischen Politik und von Heideggers Philosophie bestimmen. Dem diktatorischen 258 Vgl. Kar! Löwirh: Zur Kririk der chrisrIichen Überlieferung. Srurrgarr, Berlin, Köln, Mainz 1966. S. V.
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Stil der Politik entspricht das Apodiktische in Heideggers pathetischen Formulierungen." Karl Barth habe einen Monat nach Heideggers Rektoratsrede von 1933 seinen Aufruf an die Theologie gegen die Gleichschaltung mit den Mächten der Zeit geschrieben (Theologische Existenz heute). "Diese Schrift war und blieb die einzige ernsthafte Äußerung eines geistigen Widerstands gegen die reißende Zeit."259 Nicht verkannt werden darf, dass die dialektischen Theologen mit Heidegger darin übereinkamen, dass sie "rücksichtslos" (wie das Lieblingswort lautete) die Tendenz zum Ausgleich abwiesen. Auch suchte Gogarten eine kurze Zeit vom Begriff des "Volkes" her eine Annäherung an die Deutschen Christen. Dagegen stand Bultmann, von Karl Barth zuerst misstrauisch betrachtet, mit seinem Schüler Schlier entschieden auf der Seite des Widerstandes (auch gegen die Akklamationen des Theologen E. Hirsch). Bei Karl Barth gab es früh wie spät andere verfängliche politische Tendenzen. Wenn man die politische Verflechtung von Theologie und Philosophie im einzelnen diskutieren will, dann kann man die antidemokratische Haltung der Baseler Bachofen und Burkhardt und Zugereister wie Nietzsche und Overbeck nicht außer acht lassen. 26o Dieses Forschungsfeld muss hier beiseite bleiben. Es kann auch nicht darum gehen, dass die Publikation aus Overbecks Nachlass Christentum und Kultur von 1919 heute als eine unhaltbare Kompilation abgelehnt wird. Auch die neue Overbeck-Ausgabe muss aus Overbecks Nachlass auswählen. Overbeck hatte die Gewohnheit, alles Gelesene mit seinen eigenen Gedanken zu kommentieren (auch Zeitungsartikel). Heidegger nahm auf, was er in den schon vorliegenden Texten fand. Er wollte den Weg des Theologen begreifen, der in Basel zum Freund Nietzsches wurde. Overbeck bekannte sich als Schwer von Ferdinand Christian Baur in der Vorrede zu seiner Bearbeitung des de Wetteschen Kommentars zur Apostelgeschichte. Nach Basel berufen, schloss er sich in seiner Antrittsvorlesung Baurs rein historischer Betrachtung der Heiligen Schrift an. Wegbleiben sollte das, was bei Baur noch von Hegel herkam. 261 Baur zeigte in seiner Abhandlung Die Christuspartei in der ko-
rinthischen Gemeinde, der Gegensatz des petrinischen und paulinischen Christentums in der ältesten Kirche, der Apostel Petrus in Rom (1831), dass dem Paulus in Korinth judaisierende Petrusanhänger entgegentraten. Overbeck folgerte, dass die Paulusreden in der Apostelgeschichte und die Pastoralbriefe nicht von Paulus selbst sein können. Auch hob er das Johannesevangelium mit seiner "ideellen Tendenz" von den Synoptikern ab. Das Johannesevangelium kann nicht mehr (wie im Deutschen Idealismus) bevorzugt werden. Doch stimmt Baur mit Hegel darin überein, dass Jesus unmöglich so gesprochen haben könne, wie er es an den Evangelienstellen über die nahe Wiederkunft tut. 259 Vgl. Karl Löwith. Sämtliche Schriften. Band 2. Stuttgart 1983. S. 517, 522. 260 Vgl. dazu Andreas Großmann: Spur zum Heiligen. Bonn 1996. S. 217 ff. - Vgl. ferner Lione! Gossman: Anti-Theologie und Anti-Philologie: Overbeck, Bachofen und die Kritik der Moderne in Basel. In. Franz Overbecks unerledigte Anfragen an das Christentum. Hrsg. von Rudolf Brändle und Ekkehard W. Stegemann. München 1988. S. 17 ff. 261 Vgl. Kümme! (s. Anm. 35). S. 250, zum folgenden 158, 172.
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Overbeck hat Theologie gelehrt, obwohl er den Glauben verloren hatte. Mit der Voraussetzung radikalen Unglaubens folgte er freilich auch nur einer unter den damaligen Tendenzen im Verhältnis zum Neuen Testament. Doch wurde er frei dafür, unabhängig von gängigen Auffassungen zu urteilen. Seine Schrift Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie zeigte, dass die Naherwartung der Wiederkunft zum Urchristentum gehörte und eine Theologie als weltliches Wissen oder Wissenschaft ausschloss. Die alte Kirche habe in einer allegorischen Interpretation der heiligen Urkunden "eine Art von Surrogat für den nicht mehr selbst lebendigen Mythus" gehabt. "Unsere heutige Theologie dagegen weiß nicht nur nichts mehr von einer anderen Interpretation der christlichen Religionsbücher als der historischen, sondern huldigt überhaupt dem fast unbegreiflichen Wahne, dass sie des Christentums auf historischem Wege wieder gewiss werden könne, was jedoch, wenn es gelänge, höchstens eine Gelehrtenreligion ergäbe, d.h. nichts, was mit einer wirklichen Religion sich ernstlich vergleichen lässt. "262 Offensichtlich war dies der Punkt, auf den sich Heidegger bei der Berufung auf Overbeck in den Marburger Diskussionen über die Interpretation des Neuen Testaments bezog. In seinem Aufsatz Die Anfinge der patristischen Literatur von 1882 machte Overbeck aufmerksam auf den Unterschied zwischen der "Urliteratur" des Evangeliums und der patristischen Literatur. Auch hier konnte Heidegger ihm folgen. Im Evangelium, der Apostelgeschichte, der Apokalypse fand Overbeck Formen, die dann aus der christlichen Kirche verschwanden. Das Erhaltene ist nur ein Rest; die christliche Kirche teilte die Apokalypse mit der jüdischen Literatur. Wenn Rudolf Bultmann so wenig Begeisterung zeigte für Overbeck, dann mochte das auch daran liegen, dass er mit Schmidt und Dibeliurs eine Formgeschichte in ganz anderer Weise suchte, z.B. in den Erzählformen Paradigma und Novelle Formen fand, die das Evangelium aufbauen. Overbeck betont in seinem "Schriftchen" auch, dass das Mönchtum die Weltverneinung des Urchristentums bewahrt habe. Das Mönchtum habe dann der christlichen Welt die Schätze der Antike überliefert; vom vierten Jahrhundert bis zur Reformation sei nichts Großes in der Kirche geschehen, "was nicht aus dem Kloster hervorgegangen wäre oder doch irgendwie damit zusammenhinge". Die Erwartung der Wiederkunft Christi, "unhaltbar geworden in ihrer ursprünglichen Form", habe sich verwandelt "in den Todesgedanken", in das memento mori des Karthäusergrußes. 263 Heidegger konnte sich durch Overbeck auch darin bestätigt sehen, dass er sich von den Marburger Diskussionen distanzierte, statt dessen aber im Kloster Beuron das Samenkorn für Zukünftiges sah. Er nahm den T odesgedanken in seiner formal anzeigenden Phänomenologie dadurch auf, dass er in Sein und Zeit vom Vorlaufen zum Tode zum Gewissen-haben-wollen führte. Noch 1954 verwarf Heidegger die "konventionelle Religiosität und Selbstzufrie262 Ebenda S. 254. 263 Vgl. Franz Overbeck: Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie. Neudruck Darmstadt 1963. S. 83, 87.
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denheit" des "verbürgerlichten Christentums" und sprach ihm die Kraft zu einer Erneuerung Europas ab. Er war 1952 mit Medard Boss nach Perugia und Assisi gereist und sagte nun: "Die Kraft lebendigen Glaubens ist eher noch im italienischen Volk vorhanden. "264 Heidegger schließt 1954 seine Hinweise für das Gespräch an der DrewUniversität über das Sprechen in der heutigen Theologie mit der Frage, "ob die Theologie noch eine Wissenschaft sein kann, weil sie vermutlich überhaupt nicht eine Wissenschaft sein darf'. Eine Beilage verweist auf Rilkes Sonette an Orpheus und deren Vers "Gesang ist Dasein". Doch will Heidegger gerade anders als Rilke nicht den Gesang als Gesang eines Gottes fassen, sondern vielmehr mit Hölderlin den Gesang des Dichters da sein lassen für den Gott. Auf dem Weg von Overbeck über Nietzsche zu Hölderlin verschwindet bei Heidegger auch die Zusammenarbeit von Nietzsche und Overbeck in ihrer Konkretheit. Inzwischen aber hat die Forschung gerade darauf das Augenmerk gerichtet. Vermutet wird, dass Nietzsche in seinen Überlegungen über griechische Dichtung die Literaturgeschichte als Formengeschichte verstanden und Overbeck diese Überlegung auf die frühchristliche Literatur angewandt habe. 265 Overbeck trennte Jesus von seiner Gemeinde (wie Franziskus von seinem Orden). Tat das nicht auch Nietzsche? Er sah in Jesus nicht mehr mit Renan das Genie; er wandte das Wort "Idiot" auf ihn an. Nietzsche hat sich auf Dostojewski bezogen; wenigstens indirekt ließ sich auch erschließen, dass er vom Roman Der Idiot wusste. Dort kann der Fürst Myschkin, diese christliche Gestalt, in der Welt nicht bestehen; er verschwindet in Schweizer Sanatorien. Bei Overbeck wie bei Nietzsche müssen wir akzeptieren, dass sie über das christliche Zeitalter hinausstrebten. Diesen Weg suchte Heidegger in seiner seinsgeschichtlichen Besinnung zu vertiefen, um sich so mit Hölderlin einer anderen Zukunft zuwenden zu können.
2. Das Erbe earl Schmitts Dirk van Laak hat 1993 ein Buch mit einem gegensätzlich scheinenden Doppeltitel vorgelegt: Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik. Darin sagt er über das Verhältnis zu Nationalsozialisten nach 1945: "Bei aller Nachsicht, die ansonsten den Umgang mit Belasteten prägte - bei Carl Schmitt schien es eine Frage des Prinzips, ihn nicht erneut zu integrieren, um die Grundsätzlichkeit der Abkehr von der vorangegangenen Epoche zu demonstrieren." Dirk Blasius zitiert in seinem Buch Carl Schmitt. Preußischer Staatsrat in Hitlers Reich 2001 diesen Satz. Er 264 Vgl. Japan und Heidegger. Hrsg. von Hartrnut Buchner. Sigmaringen 1989. S. 179. Vgl. dazu Martin Heidegger: Zollikoner Seminare. Hrsg. von Medard Boss. Frankfurt am Main 1987. S. 307, 364. 265 Vgl. Huben Cancik, Hildegard Cancic-Lindemaier: Der "psychologische Typus des Erlösers" und die Möglichkeit seiner Darstellung bei Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche. In: Franz Overbecks unerledigte Anfragen (s. Anm. 260). S. 108 ff., vor allem 131.
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weist dann darauf hin, dass Schmitt nach eigener Formulierung am 20. Juli 1932 seinen Rubikon überschritt, also wie einst Cäsar die Gesetze und beschworenen Verträge hinter sich ließ und seinem Schicksalsruf folgte. Franz von Papen hatte damals die preußische Staatsregierung abgesetzt; in bürgerkriegsähnlichen Zuständen gab es im Juni und Juli 1932 allein 72 Tote. Papen gab mit seinem Staatsstreich gegen Preußen die Gleichsetzung der Kommunisten und Nationalsozialisten auf und sah allein noch in den Kommunisten die staatsfeindlichen Kräfte. Ebendiese Entscheidung unterstützte Carl Schmitt. Er suchte Preußens Geschichte aufzunehmen in die nationalsozialistische Bewegung. 266 Bezeichnend für die Arbeit des Wirtschaftshistorikers Blasius ist, dass ein Name wie Leo Strauß nicht vorkommt. Damit aber fehlt eine wichtige Auseinandersetzung um das Wesen von Politik. Es ist in der Tat Carl Schmitt gewesen, der im zwanzigsten Jahrhundert die Erörterung des Wesens von Politik maßgeblich geprägt hat. Er veröffentlichte 1922 seine Schrift Politische Theologie. Dort geht es nicht darum, den Begriff der Politischen Theologie etwa von T. Varro her aufZunehmen. Schmitt wendet sich gegen den Anarchismus, den Bakunin der "politischen Theologie" des italienischen Politikers Mazzini mit der Formel "Ni Dieu ni mahre" entgegenstellte. Schmitt fasst im Gegensatz zu Bakunin die politische Theologie durchaus positiv. Politik ruht in der Religion, mag diese sich auch in mannigfachen Weisen umgestalten oder mag sie gar verneint werden. Carl Schmitt publizierte 1927 als Zeitschriftenaufsatz und dann 1928 separat die Abhandlung Der Begriff des Politischen. Er unterschied den politischen Feind (hostis) vom privaten Feind (inimicus). Er zeigte, wie das Politische in der Geschichte immer stärker neutralisiert wurde und so verloren ging. Zur zweiten Auflage seiner Schrift von 1932 konnte Schmitt ,,Anmerkungen" veröffentlichen, die von Leo Strauß stammten. Strauß sagte in einem Brief vom 4. 9. 1932, dass die Menschen sich einigen müssen gegen andere Menschen und so Gruppen bilden. "Jeder Zusammenschluss von Menschen ist notwendig ein Abschluss gegen andere Menschen. Die Abschließungstendenz (und damit die Freund-Feind-Gruppierung der Menschheit) ist mit der menschlichen Natur gegeben; sie ist in diesem Sinn das Schicksal." Das Politische, so verstanden, sei aber nur die Bedingung des Staates, der seinem Wesen nach "Ordnung" sei. 267 Diese Ordnung wollte Strauß als Wesensordnung fassen, wie es in der klassischen philosophischen Tradition bei Platon und Aristoteles und ebenso bei Maimonides im Mittelalter geschehen sei. Ausgeschlossen werden soll, mit der christlichen Religion in Jenseitsvorstellungen zu fliehen. Zwar habe die moderne Aufklärung Religion nicht wirklich überwinden können (Hamann sei tiefer als Mendelssohn). Doch soll die Philosophie den Glauben an Offenbarung als eine Ausflucht zurücklassen. 266 Vgl. Dirk Blasius: Carl Schmitt. Preußischer Staatsrat in Hitlers Reich. Gättingen 2001. S. 9, 37,71 ff. 267 Vgl. Heinrich Meier: Carl Schmitt, Leo Strauß und "Der Begriff des Politischen". Zu einem Dialog unter Abwesenden. Erweiterte Neuausgabe Stuttgart 1988. S. 133.
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Zum achthundertsten Geburtstag des Maimonides erschien 1935 auch ein Buch von Leo Strauß: Philosophie und Gesetz. Beiträge zum Verständnis Maimunis und seiner Vorläufer. Gershorn Scholem konnte dieses Bekenntnis zum Atheismus aus jüdischem Mund nur als völlig irrsinnig abtun. 268 Nach Strauß ist die Natürlichkeit philosophischen Fragens, wie sie Platons Höhlengleichnis darstellt, verloren. Gerade deshalb fordert er ein Lernen im Lesen, das die Tradition des Einbruchs der Offenbarungsreligion in die Geistigkeit des Abendlandes abbaut. So hat Strauß in seinen Arbeiten und seinen Lehrveranstaltungen die Geschichte der Philosophie im ganzen aufgearbeitet, dabei auch einen Autor wie Xenophon rehabilitiert oder Maimonides einen herausragenden Platz gegeben. In seiner Schule hatte Strauß nicht nur Spezialisten für die klassischen und die modernen europäischen Sprachen, sondern auch für das Arabische. Da in Amerika dogmatische Disziplinen wie Theologie und Jurisprudenz eine eigene Divinity School oder Law School haben, konnten die Seminare für Politische Wissenschaft sich in den Universitäten als Schwerpunkte ausbilden (während in Deutschland die Juristen das Staatsrecht für sich reklamierten und so die Politische Wissenschaft eher zurückdrängten). Durch Leo Strauß wurde die Universität Chicago in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts zum Zentrum einer Erneuerung der Politischen Philosophie. So konnten Politiker ausgebildet werden, die den imperialen Ausgriff Amerikas z.B. auf den Nahen Osten mittrugen. Das aber bedeutet nicht, dass man die Philosophie von Leo Strauß selbst für diese Entwicklung verantwortlich machen könnte (wie das versucht wurde). Man hat 1953 von Leo Strauß in deutscher Übersetzung das Werk Naturrecht und Geschichte publiziert in der Hoffnung, die naturrechtliche Tradition sei eine Hilfe gegen das Weiterwirken der Relativierung des Rechts, wie der Nationalsozialismus sie radikalisiert hatte. Doch blieb dieses Unternehmen ohne größere Wirkung. Hans-Georg Gadamer hat in der Diskussion über Naturrecht und Geschichte 1960 in seinem ersten Hauptwerk Wahrheit und Methode andere Wege gewiesen: Sicherlich gebe es ein positives Recht, das eine Sache der Vereinbarung sei, so die Verkehrsregel des Rechtsfahrens (auf dem europäischen Kontinent, schon nicht in England). Doch gebe es auch im Recht das "natürliche Recht", das der Natur der Sache folge. Diese Natur der Sache enthält nach Gadamer Spielräume, die auch eine geschichtliche Weiterbildung zulassen. 269 So kann Gadamer es Leo Strauß nicht zugestehen, dass der Begriff des Vorurteils der Polemik der Aufklärung zugehöre und nur negativ zu fassen sei. Gadamer setzt sich auseinander mit den Thesen von Strauß in dessen Arbeit Persecution and the Art of Writing: Nur wenn man ein sachliches Verständnis als Schlüssel verwende, lasse sich die Verstellung aufschlüsseln, die das Schreiben unter Bedingungen der Verfolgung (durch eine Orthodoxie) annehme. Diese Aufschlüsselung sei parallel zu der 268 Vgl. Heinrich Meier: earl Schmitt, Leo Strauß und "Der Begriff des Politischen". Zu einem Dialog unter Abwesenden. (s. Anm. 267). S. 133. 269 Vgl. Hans-Georg Gadamer. Wahrheit und Methode. Tübingen 1960. S. 302, zum folgenden 255,278 f.
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Weise, in der die historische Quellenkritik hinter die Überlieferung zurückgehe. Dem gegenüber reklamiert Gadamer eine Hermeneutik, in der die "Wirkungsgeschichte" zentral ist. Muss nicht die Rechtsbildung wie auch die Theologie (in gewisser Weise selbst die Medizin) sich den immer neuen Aufgaben stellen, wie sie sich in der Geschichte herausbilden? Diese kritische Weise der Rezeption des Denkens von Leo Strauß behielt nicht einfachhin das letzte Wort. Nachdem Heinrich Meier 1988 die Auseinandersetzung zwischen Carl Schmitt und Leo Strauß von 1932 dargestellt hatte, nutzte er Jahrzehnte lang das Potential der Siemens-Stiftung dafür, dass die Schule von Leo Strauß in ihrer ganzen Breite auch in Deutschland sich vorstellen konnte. Meiers Schrift Das theologisch-politische Problem von 2003 verortet dieses Problem durch den Untertitel Zum Thema von Leo Strauß An dieser zusammenfassenden Darstellung wollen wir uns orientieren. Strauß ist innerhalb seiner frühen Studien andere Wege gegangen als später. Darüber schrieb er 1930 in einern Brief an Gerhard Krüger, der sich nach dem Studium bei Heidegger und Bultmann der metaphysischen Tradition zuwandte. Strauß meinte, die Analysen von Sein und Zeit eröffneten erstmals den Zugang zu einern angemessenen Verständnis des Gewissens und damit zu einer Interpretation der Religion. Doch nahm Strauß in der Mitte seines philosophischen Lebens das theologisch-politische Problem neu auf. Er schrieb in einern Brief an Karl Löwith vorn 15. 8. 1946, er habe wieder einmal Schiffbruch erlitten und und sehe sich veranlasst, "noch einmal von vorne anzufangen". In gleichzeitigen Aufzeichnungen formulierte Strauß: "Unter dem Eindruck Kierkegaards und in Erinnerung an meine früheren Zweifel, muss ich die Frage nochmals und so scharf wie möglich stellen, ob denn das Recht und die Notwendigkeit der Philosophie völlig evident ist." Da das der Fall sei, werde viel wichtiger als das Thema "Sokrates und Introduction to political philosophy" das Problem "Philosophy and the Law" bzw. "Philosophy or The divine guidance". Die Philosophie wird also eine Alternative zum göttlichen Gesetz oder zur Offenbarung. 27o Strauß hat in den dreißiger Jahren den Streit zwischen den Alten und den Modernen neu entfacht. In einern Vortrag Reason and Revelation vorn Januar 1948 spitzt er diesen Streit zu der Frage zu, ob Philosophie die Möglichkeit der Offenbarung widerlegen könne oder nicht. Strauß erwägt mögliche Einwände. Er verbindet den Dichter Conrad Ferdinand Meyer und den Philosophen Martin Heidegger in Bezug auf das Thema "God is death". Anderthalb Jahrzehnte später schreibt er ein Vorwort zur amerikanischen Ausgabe seines Spinoza-Buches. Dort heißt es, die Präsenz des Gottes Asklepios sei Halluzination gewesen. Dann wird verwiesen auf C.F. Meyer und Heidegger. Eine erläuternde Fußnote sagt: "Consider C. F. Meyer Die Versuchung des Pescara". Vorausgesetzt in diesen Überlegungen ist Martin Bubers Verbindung der "absoluten Erfahrung" mit der Offenbarung Gottes, auch die Rede vorn "ganz Anderen", wie sie bei Rudolf Otto und 270 Vgl. Heinrich Meier: Das theologisch-politische Problem. Zum Thema von Leo Strauß. Stuttgart / Weimer 2003. S. 76, 51, zum folgenden 73/f.
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dann in der dialektischen Theologie üblich wurde. Heideggers Interpretation des Gewissensrufes wird gegen Buber aufgeboten, dann selbst zusammen mit den theologischen Parallelen kritisiert. "Jede Behauptung über die absolute Erfahrung, die mehr sagt, als dass das, was erfahren wird, die Präsenz oder der Ruf ist, dass es nicht der Erfahrende ist, dass es nicht Fleisch und Blut ist, dass es das Ganz Andere ist, dass es der Tod oder das Nichts ist, ist ein ,Bild' oder Interpretation; dass irgendeine Interpretation die schlichtweg wahre Interpretation ist, wird nicht gewusst, sondern ,bloß geglaubt'." Der Tod macht, wie ein Gott, das Dasein empfänglich für den Ruf. Diese Deutung ist nach Strauß aber auch nur ein Glaube! Pescara ist in Conrad Ferdinand Meyers Novelle der Feldherr Kaiser Karls V. Er, der für einen Gottlosen gehalten wird, bekennt: "Ich glaube an eine Gottheit, und wahrlich keine eingebildete." Seine Gottheit ist der Tod. Der Ruf dieser dunklen, aber weisen Gottheit verwandelt ihn, der es vermied, eine christliche Stätte zu betreten. So zeigt sein Antlitz schließlich nichts anderes "als Frömmigkeit und Gehorsam". Er wird unerreichbar für die Versuchung, die politische Seite zu wechseln. Er folgt nicht der Italienbegeisterung seiner Frau, der Dichterin Victoria Colonna. Strauß kann im Januar 1965 an Seth Bernadette schreiben, das ganz Andere, schrecklich und berückend zugleich, sei Tod und Nichts. Die Furcht, die zum Schrecklichen führt, und die nichterfüllte Liebe, die das Schöne und Berückende sucht, leiteten zum Göttlichen. Auf Conrad Ferdinand Meyer bezog sich Heidegger in seinem Kunstwerkaufsatz, aber auch Hans Jonas und Rudolf Bultmann taten es. Meyer mit der gennanten Novelle und Heidegger sind nach Strauß verbunden in einer elementaren Erfahrung: Das Verlangen nach Sicherheit und Gerechtigkeit einerseits, nach dem Schönen andererseits schafft die Götter!271 Wenn bei Strauß die Philosophie und der Offenbarungsglaube bzw. die Berufung auf Eigendichkeit gegeneinander stehen, dann ist die Philosophie nicht nur die eine Seite der Alternative. Sie will auch die andere Seite von deren Motiven her erklären. So kann Heinrich Meier im Anschluss an seine Überlegungen Warum Politische Philosophie? in der Unterscheidung der Philosophie von der Politischen Theologie eine Lösung des theologisch-politischen Problems finden. 272 Meier beschließt seine Erörterungen mit dem Hinweis darauf, dass Platon und Xenophon uns das Leben des Sokrates "in der unverkürzten Spannung von Eros und Tod" als "das philosophische Leben schlechthin vor Augen gestellt haben". Montaigne sage von Sokrates, "dass er das Sterben als ein natürliches und moralisch indifferentes Ereignis betrachtete". Ebendeshalb sei der Tod des Sokrates in Athen "zum geschichtlichen Gründungsereignis der Politischen Philosophie" geworden. Damit wird abgewiesen, wie z.B. Heidegger das Vorlaufen zum Tod und die Endlichkeit des Daseins als Einstieg in eine Philosophie nahm, die hinaus verwies über sich selbst (etwa auf die Theologie). 271 a. a. O. S. 79 ff. - Vgl. auch oben S. 192. 272 a. a. O. S. 68, 9, zum folgenden 82. - Vgl. auch Heinrich Meier: Warum Politische Philosophie? Sruttgart 2000.
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Es soll nicht im einzelnen erörtert werden, welche Motive Martin Buher für seinen Weg nach Israel hatte. Auch bei Carl Schmitt wäre zu fragen, ob er nicht Recht hatte darin, dass er die Jurisprudenz sich beziehen ließ auf die Aufgaben, wie sie sich im Zusammenleben der Menschen geschichtlich stellen. Folgt Leo Strauß nicht selbst dem Weg, den die Deutschen seit Winckelmann und Hölderlin zu den Griechen suchten? Eben darin, dass er die klassische griechische Philosophie zum Maßstab von Philosophie überhaupt macht? Hier soll wenigstens kurz erörtert werden, ob Strauß (wie Heinrich Meier als sein Interpret) den methodischen Ansatz Heideggers überhaupt in den Blick bekommt. Zugestanden werden muss, dass Heidegger mit seiner zeitweiligen Option für Hirler selber sein Philosophieren diskreditierte. Doch versuchte Heideggers Phänomenologie als formal anzeigende Hermeneutik ihrem Ansatz nach, die Spielräume für mögliche Entscheidungen offenzulegen. Die Entscheidungen selbst bleiben dann Sache des Glaubens, der Sittlichkeit, der Politik. Diese Hermeneutik musste selbst hermeneutisch fortgebildet werden, nämlich in die Geschichte des Seins als des Ist-Sagens hineingestellt werden. Heinrich Meier formuliert am Schluss seines Überlegungen über Conrad Ferdinand Meyer und Heidegger: "Die Autorität, die Heidegger dem Tod zuerkennt, hat ihre Entsprechung im Primat, den seine Philosophie der Praxis zuspricht, im Aufruf zur Eigentlichkeit und im Bestehen auf einer letzten Gewissheit, die unerschütterlich ist. Nach dem Tode Gottes rückt der Tod an die Stelle des unveränderlichen Seins oder jener unerschütterlichen Macht, in deren Angesicht alles Eitle zergeht..." In Wahrheit erörtert Heidegger, wie Theorie und Praxis (aber auch Poiesis) zueinander stehen. Das Vorlaufen zum Tod rückt in die Endlichkeit ein, kann aber nicht selbst mit seiner Eingefügtheit in die Geschichte eine "letzte" Gewissheit sein. Der Tod Gottes ist für Heidegger der Tod des Gottes der metaphysischen Tradition; er macht so gerade frei für den Anspruch des Göttlichen, wie es sich geschichtlich und unverfügbar zuspricht. Das Geflecht, in dem Buber, Heidegger, Schmitt und Strauß stehen, kann nicht ausgelotet werden ohne die Berücksichtigung Hegels. Dieser prägte vor allem über seine Phänomenologie des Geistes die Diskussionen in Europa und dann auch in Amerika. Leo Strauß kam mit einer Empfehlung von Carl Schmitt nach Frankreich und England. So konnte er der Diktatur Hitlers entgehen und gelangte schließlich nach Amerika. Er hat 1936 in einem Buch Hobbes als den Zerstörer der klassischen politischen Philosophie dargestellt. Hegel sei in seiner Phänomenologie des Geistes Hobbes gefolgt, indem er in der Dialektik des Selbstbewusstseins von einem ursprünglichen Kampf auf Leben und Tod zum Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft, dann auch zur Religion des unglücklichen Bewusstseins geführt habe. So werde der Mensch der Geschichte ausgeliefert. Strauß versprach, mit Mr. Alexandre Kojevnikoff zusammen diese Dinge darzustellen. Der Freund und Schicksalsgefährte Alexandre Kojeve hat in seinen Pariser Vorlesungen diese Hegelinterpretation durchgeführt und dabei für den verfemten Historismus plädiert. So wurde Hegel von seiner Phänomenologie her in neuer Weise aktualisiert. Der Pater Fessard wollte mit den Gedanken Hegels die Einseitigkeit
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von Faschismus und Komunismus, Frantz Fanon den Nord-Süd-Gegensatz auf dieser Erde überwinden, usf. Allan Bloom, lange Zeit Kronprinz der StraußSchule, legte 1987 seinen Bestseller The Closing 0/ the American Mind vor. Nach Bloom hat Amerika zwar in einer Art von Kreuzzug Mussolini und Hitler besiegt; es hat dann aber die Augen geschlossen vor seiner freiheitlichen Tradition der Menschenrechte, indem es sich auf das deutsche Philosophieren und dessen Pariser Aktualisierung einließ. Der Weg von Hegel und Nietzsche bis Heidegger habe den Historismus erzeugt und sei dem "Schweizer" Rousseau in ein romantisches Abseits gefolgt. Nachdem Bloom (an Immunschwäche) gestorben war, hat sein Freund, der Romanschriftsteller Saul Bellow, Blooms Geschick zum Thema einer Satire gemacht. Bellow hatte sich mit einer Schülerin Blooms verbunden; so lässt er auch noch einmal Platons Lehre von der Liebe als der Suche des einen Teils der Menschheit nach der anderen aufscheinen. 273 Strauß hat darauf bestanden, dass Heidegger nicht vorschnell von dieser oder jener Verirrung her kritisiert werden dürfe. Als Leo Strauß in Chicago bei der Erörterung des Sokrates-Themas sagte, in seinem Seminar werde der Name Heideggers nicht erwähnt, musste George Steiner sich diesen Namen, den er nicht verstanden hatte, durch einen Doktoranden aufschreiben lassen. Doch dann las er Bücher Heideggers und kam so auf den Weg, sich mit Heideggers Sophoklesinterpretation auseinanderzusetzen. 274 Als das Sowjet-Imperium zusammenbrach, glaubte ein amerikanischer Regierungsberater, Francis Fukuyama, mit Hegel oder doch mit Kojeves Hegelinterpretation in einem Bestseller The End 0/ History zeigen zu können, dass die Nutzung der Natur mittels Arbeit und Technik im liberalen Kapitalismus und die demokratische Ordnung der Gesellschaft in der Anerkennung aller durch alle aus der Geschichte herausgeholt habe, was an Möglichkeiten in ihr stecke. Fukuyama, Amerikaner japanischer Abstammung, musste sich freilich fragen, welche Bedeutung eine spezifische Sozialstruktur hat: Ist nicht die Familie und die Bindung der Menschen an Ranghöhere für die wirtschaftlichen Erfolge Japans mitverantwortlich? Wie kommt es zu der geringen Ergiebigkeit der Privatisierungstendenzen in Oste uropa, dem Scheitern der Versuche, den Vorderen Orient durch demokratische Strukturen zu stärken, schließlich zu den Katastrophen südlich der Sahara? Als neue Aufgaben in der Geschichte sieht Fukuyama den Bau des Staates, vor allem in drei Funktionen: der Verlässlichkeit der öffentlichen Verwaltung, dem leistungsfähigen Bildungssystem, dem Rechtssystem als Gewährleistung von Sicherheit und Berechenbarkeit. 275
273 Vgl. S. Bellows Roman Ravelstein, deutsch Köln 2000. - Zu den einzelnen Schritten der Hegel-Interprettion vgl. Otto Pöggeler: Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes. 2. erw. Aufl. Freiburg / München 1993. S. 404 ff. Vgl. auch Otto Pöggeler: Die Phänomenologie Konsequenz oder Krise in der Entwicklung Hegels? In. Die Eigenbedeutung der Jenaer Systemkonzeptionen Hegels. Hrsg. von Heinz Kimmerle. Berlin 2004. S. 257 ff. 274 Zu Steiner vgl. Michael Jakob (s. Anm. 192). S. 205. 275 Vgl. Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? München 1992; Staaten bauen. Die neue Herausforderung internationaler Politik. Deutsch Berlin 2005. - Zum folgenden vgl. Francis Fukuyama: Scheitert Amerika? Supermacht am Scheideweg. Deutsch Berlin
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Als dann die Biotechnik versprach, den Menschen nach seinen genetischen Grundlagen hin ändern zu können, sah Fukuyama völlig neue Kräfte auch mit großen Gefährdungen in die Geschichte eintreten. So nahm er explizit seine These vom Ende der Geschichte zurück. Im April 2005 teilte Fukuyama in einem Vortrag an der Yale-Universität Gedanken mit, die dann zu dem Buch Scheitert Amerika? Supermacht am Scheideweg führten. Die Neokonservativen hätten auf den Kalten Krieg zu reagieren gehabt. So aber sei in den neunziger Jahren eine Militarisierung der amerikanischen Außenpolitik betrieben worden, die schließlich zum Irak-Krieg habe führen müssen. Die geradezu apokalyptische Sicht der Bedrohung, die von der muslim ischen Welt ausgehe, ist nach Fukuyama unangemessen. So trennt er sich von seinen einstigen Weggefährten durch einen "realistischen Wilsonianismus", der von einem "ziemlich breiten Spektrum der amerikanischen Bevölkerung" unterstützt werde. Der amerikanische Präsident Wilson hatte 1917 durch das Prinzip der Selbstbestimmung der Völker und durch den Völkerbund einen demokratischen Internationalismus vertreten. Kann dieser sich jetzt an die Vereinten Nationen anschließen? Hier hat Fukuyama seine Zweifel. Der Sicherheitsrat der UNO sei nicht zu reformieren. "Die Welt ist viel zu mannigfaltig und komplex, als dass ein einzelnes globales Organ sie beaufsichtigen könnte. Wahrhaft liberale Prinzipien sprächen nicht für eine einzige umspannende, durchsetzbare liberale Ordnung, sondern für eine Vielfalt von Institutionen und institutionellen Formen, um über ein breites Spektrum von Sicherheits-, wirtsschaftlichen, Umwelt- und anderen Problemen zu wachen." Kann earl Schmitts Denken mit seinen Umbrüchen bei diesen Überlegungen beiseitegeschoben werden? Schmitt sieht in einem Rückblick von 1958 in seiner Kindheit den "eifel-moselanischen Katholizismus", aus dem seine Familie kommt, entortet ins Sauerländische, nämlich in die eher protestantische Umwelt von Plettenberg (und das märkische, nicht kurkölnische Sauerland).276 Den Jahren im bischöflichen Konvikt zum humanistischen Gymnasium in Attendorn schreibt er einen "enttotalisierten Konviktsklerikalismus mit humanistischer Bildung" zu. Der Klerikalismus ist gebrochen durch den humanistischen Unterricht, der auf das Griechische und Lateinische ausgerichtet ist. Schmitt nennt auch "patriotische Fabrikanten", die ihre Fabriken außerhalb der alten Stadtmauer (d.h. des Rings der Promenade über den einstigen Schutzwällen) bauten. Offensichtlich ist diese Beortung durch die neu expandierende ehemalige Hansestadt völlig verschieden von der ländlichen Herkunft Heideggers, die den erstgeborenen Sohn einer Mesnersfamilie nur über kirchliche Stipendien den Weg zum Gymnasium und zur Universität finden ließ. 277 Bald nach der juristischen Pro-
2006. S. 11, ferner 10, 100, 164. - Vgl. auch Otta Pögge!er. Ein Ende der Geschichte? Von Hege! zu Fukuyama. Opladen 1995. 276 Vgl. H. Quaritsch (Hg.): Complexio Oppositarum. Berlin 1988. S. 105. 277 Vgl. Reinhard Mehring. Carl Schmirr zur Einführung. Hamburg 1992. S. 34 f. Mehring kennt freilich den Unterschied zwischen Meßlcirch einerseits und Plerrenberg bzw. Arrendorn andererseits nicht. Über Heidegger und Schmirr vgl. Pögge!er: Neue Wege mit Heidegger (s. Anm.
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motion in Straßburg publizierte Schmitt unter einem Pseudonym die Schattenrisse. Darin parodierte er die damaligen Großschriftsteller und setzte sich so satirisch ab von der Kultur oder Unkultur des Wilhelminismus. Mit der Zuwendung zu Theodor Däublers Nordlicht stellte er sich eher in ein Abseits; doch konnte er aus diesem heraus zu einem gediegenen katholischen Dichter wie Konrad Weiß finden. Nach dem Krieg erschien die Abrechnung mit der politischen Romantik, die aber durchaus abfällt etwa gegenüber der Romantikkritik Hegels oder Kierkegaards. Wenn Schmitt 1956 mit Harnlet oder Hekuba. Der Einbruch der Zeit in das Spiel seine eigene Tätigkeit wieder in der Auseinandersetzung mit der Dichtung und ihrer Deutung reflektiert, liegt die Katastrophe des Nationalsozialismus und der Verstrickung in sie hinter ihm. Vorher hatte sein Wirken als Staatsrechtler die Beteiligung an der Literatur und der Literaturkritik verdrängt. Die Monographie Die Diktatur von 1921 hebt die kommissarische Diktatur als eine Ausnahme hervor, die der Wiederherstellung der Ordnung dient. Damit ist das leitende Thema des Staatsrechtlers angeschlagen, und zwar von der Geschichte Roms und von der lateinischen Tradition aus. Dadurch bewegt Schmitt sich in einer Welt, die Heidegger durchaus fremd geblieben ist; auch an der Auseinandersetzung um Hobbes hat Heidegger nicht teilgenommen. Sicherlich hat er sich 1933 bei Schmitt für die Zusendung der neuen Auflage der Schrift über den Begriff des Politischen bedankt. Das war vor allem eine Sache der Höflichkeit; wenn Heidegger 1942 in der Vorlesung über Hölderlins späte Hymne Der Ister von der griechischen Polis her zur Konzeption eines eigenen Bezugs zum "Vaterland" zu finden sucht, bleibt ihm nur die Heimat an der oberen Donau (am "Ister" Hölderlins). Heidegger bekämpft dabei entschieden die "Totalität des Politischen", die er von Carl Schmitt und Ernst Jünger her sieht. Er nimmt seinen Ausgang von der agonalen Politik der Griechen über das Medium des griechischen Dichtens und Denkens. Wer war Carl Schmitt? Muss man ihn etwa mit Karl Löwith als einen Opportunisten nehmen, der seine Überzeugungen je nach der Lage wechselte? Auf Anregung von Ernst Wolfgang Böckenförde kam Carl Schmitt im März 1957 nach Münster, um im Collegium philosophicum von Joachim Ritter aufzutreten. Die Veranstaltung wurde als durchaus "privat" deklariert und so dem Protest von Seiten der Universität entzogen. Henning Ritter schreibt richtig, es gehöre "zu den irrigen Ansichten über jene Jahre", dass man damals gegenüber verdeckten nationalsozialistischen Einstellungen noch weniger wachsam gewesen sei als nach 1968. Doch dann fährt der Sohn Joachim Ritters fort, es sei ihm in der persönlichen Begegnung mit Carl Schmitt gewiss geworden, dass Schmitt damals "seinem nationalsozialistischen Engagement keineswegs nachhing". "Mehr noch, dass er von seiner geistigen Herkunft und seinen intellektuellen Loyalitäten her keine substantiellen Beziehungen zum Nationalsozialismus hatte." Schmitt habe seit der
83). S. 76 f. Zu Heideggers Polemik gegen die Totalität des Politischen vgl. Heidegger: Hölderlins Hymne "Der Ister" (s. Anm. 145). S. 118.
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Theorie des Partisanen von 1963 seine Sicht des Politischen aktualisiert. 278 Demgegenüber geht Heinrich Meier 1993, längst in die Schule von Leo Strauß integriert, davon aus, dass Schmitt den Marxismus mit dem Liberalismus zusammengefasst und dieser Illusion einer Entpolitisierung den Faschismus und Nationalsozialismus "als die einzigen politischen Antipoden von realer Bedeutung" entgegengestellt habe. Hier ist es gerade das religiöse, das katholische Erbe, das Schmitt zum Nationalsozialismus geführt haben soll! In jedem Fall gehört zu Schmitts Denken und Wirken in den dreißiger Jahren die Feindschaft gegen die "Juden", mochten die Motive dafür eher religiös oder eher sozial begründet werden. Schmitt leistete Beihilfe für die Nationalsozialisten, als er 1932 als Anwalt des Reiches und der Nationalsozialisten gegen die legitime preußische Regierung von Otto Braun auftrat. Er war mit dabei, als im Juli 1933 der Preußische Staatsrat Prominente aus Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft mit den nationalsozialistischen Führern vereinen sollte. Vergeblich versuchte später die SS, Schmitt aus diesen Positionen zu entfernen. Dieser Versuch erwuchs aus dem Streit der verschiedenen Organisationen um die Vorherrschaft, denn Schmitt hatte sich genügend engagiert. Er sprach im Oktober 1936 auf der Münchener Tagung Das Judentum in der Rechtswissenschaft das Schlusswort und veröffentlichte es dann unter dem Titel Die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist in der Deutschen Juristen-Zeitung. Doch kam er dann auf andere Wege. Johannes Popitz, der preußische Finanzminister, hatte sich nach den Novemberpogromen von 1938 dem Widerstand zugewandt. Im April 1943 schickte Schmitt ihm nach Gesprächen ein Gutachten zu einer Arbeit über Lorenz von Stein und zitierte dabei aus Hölderlins Gedicht Der Frieden die Verse: Wer hub es an? Wer brachte den Fluch? Von heut Ist's nicht und nicht von gestern, und die zuerst Das Maß verloren, unsre Väter Wussten es nicht, und es trieb der Geist sie.
Popitz wurde im Februar 1945 in Plötzensee hingerichtet. 279 Offensichtlich war es Schmitts Aufmerksamkeit für die politischen Fragen der Zeit, die ihm immer wieder Beachtung verschaffte. Musste nicht sein Hinweis auf die neue weltgeschichtliche Figur des Partisanen verbindlich werden? Der Partisan kämpfte in der französischen Resistance gegen die fremde deutsche Besatzung und deren Kollaborateure. Hier konnte Rene Chars Tagebuch aus dem Maquis repräsentativ werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg kämpfte man in Algerien als Partisan für die angestammte Heimat und gegen die französische Oberhoheit. Rolf Schroers, eng verbunden mit dem deutsch-jüdischen Lyriker Paul Celan, glaubte von Char und Celan her vom jüdischen Widerstand im Warschauer Ghetto zur Figur des Partisanen hinführen zu können. Dabei wurde immer mehr 278 Vgl. Henning Ritter: Zu Besuch bei Carl Schmitt. Frankfurter Allgemeine Zeitung 9. 12. 2006.- Zum folgenden vgI. Heinrich Meier: Die Lehre Carl Schmitts. Vier Kapitel zur Unrerscheidung Politischer Theologie und Politischer Philosophie. Stuttgart 1994. S. 226 f. 279 Vgl. zum einzelnen Dirk Blasius (s. Anm. 266). S. 40 ff., 154, 179 f., 213.
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die technologisch durchorganisierte Weh zur universalen Entfremdung, gegen die es anzugehen gelte. So konnte schließlich der Partisan dem Terroristen weichen, der unabhängig von einer angestammten oder erstrebten Heimat seine weltweiten ideologischen Kämpfe betreibt. Rolf Schroers gehörte zu jenen, die mich (vergeblich) mitnehmen wollten zu Carl Schmitt, dem "Machiavelli unserer Zeit".280 Er blieb nicht der einzige, der jüdische Verfolgungserfahrungen mit den Gedanken von Carl Schmitt glaubte verbinden zu können. Einst hatte man die Einbettung in die Geschichte vom Thema Griechentum und Goethezeit her gesucht. Dabei konnte man einmal ausgehen von der Weise, wie Winckelmann von Rom aus die griechische Kunst nach ihren Epochen zu fassen suchte. Doch wurde es in Freiburg im Breisgau in den zwanziger Jahren zu einem Topos, gegen die Archäologie von Ludwig Curtius den genialen Ernst Buschor auszuspielen, der über das "Klassische" hinaus zu archaischen Formen vorstieß. Das kanonisch Gewordene, etwa die Unterscheidung zwischen dem Dorischen, dem Jonischen und dem Korinthischen, wurde so mit seiner Maßgeblichkeit in Frage gestellt. Hatte der Mythos nicht den Tempeln mit ihrer Plastik ebenso die entscheidenden Vorgaben gegeben wie der Dichtung mit den Hymnen Pindars und den Tragödien seit Aischylos? Konnte man nicht mit Hölderlin von Pindar wie von Sophokles aus die überlieferte Literaturgeschichte korrigieren? In jedem Fall schien Griechenland in der Geschichte völlig neue Schritte getan zu haben, auch z.B. auf dem Weg von der angewandten Mathematik in Vorderasien und Ägypten zur freien Mathematik. So konnte das Ägyptische zurückgedrängt werden in eine Vorgeschichte jener Geschichte, die das Abendland trägt. Stand dem nicht die Rolle entgegen, die Ägypten in der jüdisch-christlichen Überlieferung spielt? Einerseits versteht Israel sich vom Auszug aus Ägypten und von der Verwerfung aller Götzen-Verehrung her. Andererseits ist Ägypten der Ort, zu dem die Eltern Jesu mit ihrem Kind vor der Bedrohung durch Herodes fliehen. Das Alte Testament wurde in durchaus unterschiedlicher Weise in der christlichen Theologie herangezogen. Auf den Unterschied zwischen Martin Noth und Gerhard von Rad wurde hingewiesen. 28l Ein neuer Gegensatz in der Deutung vorderasiatischer und ägyptischer Geschichte brach dann auf zwischen Jan Assmann und EricVoegelin. Rudolf Bultmann bezieht sich im Druck seiner Vorlesungen Geschichte und Eschatologie auf Eric Voegelin nach der amerikanischen Ausgabe von Order and History I Israel and Revelation (1956). Der Text wurde später (München 2005) als Band II und III eingeordnet in Voegelins Bände Ordnung und Geschichte. Diese Reihe beginnt mit dem Band Die kosmologischen Reiche des Alten Orients - Mesopotamien und Agypten (hrsg. von Jan Assmann). Sie führt hin zu dem Band 10 Auf der Suche nach Ordnung. Bultmann 280 VgI. dazu Pöggeler: Spur des Worts (s. Anm. 161). S. 13 ff. - Für meine Weigerung, zu Schmitt zu gehen, vgl. Pöggeler. Ein Ende der Geschichte? (s. Anm. 275). S. 37 f. 281 Rudolf Smend betont, dass Noth und von Rad (Schüler von Albrecht Alt) ihren Gegensatz zu überwinden versuchten: Bibel und Wissenschaft (s. Anm. 162). S. 189 f. - Zum folgenden s. Anm. 28 und 29.
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übernimmt (von Voegelin und anderen) die Auffassung, es komme über mythologische Erzählungen hinaus zur Geschichtsschreibung in jenen Ereignissen, die ein Volk zu einer Nation oder zu einem Staat formen (in Israel nach dem Sieg über die Philister, in Griechenland nach den Freiheitskämpfen gegen die Perser). Die Griechen verstünden den Menschen nicht von seiner Geschichtlichkeit her, sondern bezögen ihn auf substanziell Bleibendes. Dagegen suche Israel in der Geschichte den Plan eines Gottes, der mit den Menschen handle. Der Rückblick in die Vergangenheit bedeute "kritische Prüfung der Vergangenheit und Warnung für die Gegenwart" (in der Predigt). Die nationale Katastrophe Israels werde zurückgeführt auf die Verstocktheit des Volkes; die Katastrophe könne die Verheißung nicht erschüttern. Doch erst die Apokalyptik und die Eschatologie könnten eine Anwort auf das Geschehen entfalten, die im Alten Testament (bei Jesaja) nur angedeutet werde. Auf Voegelin beruft sich Bultmann auch, wenn er Spengler und Toynbee kritisiert. 282 Es ist deutlich, dass Bultmann Voegelins Ansatz aufnimmt, von Israel wie von der Antike her zum christlichen Verständnis von Geschichte hinzuführen. Wenn Voegelin jedoch auch das Philosophieren Schellings und Hegels als gnostische Selbstvergottung brandmarkt, können Rudolf Bultmann und Hans Jonas sich nur distanzieren (1959).283 Doch beteiligte Bultmann sich an der Festgabe von 1962 zu Voegelins 60. Geburtstag mit einem Aufsatz Das Verständnis der Geschichte im Griechentum und im Christentum. Wenn Bultmann sich dabei auf Ernst Howalds Arbeit Vom Geist antiker Geschichtsschreibung bezieht, dann geht er nicht mehr wie früher weiter zu Voegelins Darlegungen. Er bringt die Trennung der Wege, zu der es gekommen war, nicht vor die Öffentlichkeit, sondern hält an der Gemeinsamkeit der Bemühungen fest. Rudolf Bultmann wusste Arbeiten zu nutzen, die es ihm erleichterten, die alttestamentliche Überlieferung vom Christlichen her anzueignen und dabei die christliche Grunderfahrung von der griechischen abzusetzen. Die Zusammenarbeit mit Heidegger seit dem Wintersemester 1923/24 und später der Bezug auf Sein und Zeit gaben ihm jene Grundbegriffe, auf die er sich schließlich festlegte. Damals aber war von Sein und Zeit nur die vorbereitende Daseinsanalyse veröffentlicht; Bultmann bezog sich auf diese Daseinsanalyse wie auf etwas Abgeschlossenes und fügte sie ein in jene Existenzphilosophie, die von Karl Jaspers entfaltet wurde. Machte Bultmann sich so nicht blind für Heideggers neue Wege, aber auch für die Weisen, die hebräische Bibel nicht nur als das "alte" Testament gelten zu lassen, sondern aus sich selbst heraus und mit dem Weiterwirken im jüdischen Selbstverständnis zu verstehen? Unter die Kritiker Bultmanns trat auch Jacob Taubes mit einem ebenso radikalen wie eigenständigen Bezug auf Paulus. Taubes, aus alter chassidischer Familie stammend und 1923 in Wien geboren, überlebte den Zweiten Weltkrieg in der Schweiz und ging dann nach Amerika. Als Professor für Hermeneutik in Ber282 Vgl. Buhmann: Geschichte und Eschatologie (s. Anm. 158). S. 15, 19 ff., 97. 283 Siehe oben S.158 f. - Zum folgenden vgl. Bultmann: Glauben und Verstehen. Vierter Band (s. Anm. 203). S. 91 ff., vor allem 93.
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lin veranstaltete er seit 1980 drei bedeutende Kolloquien, die auch publiziert wurden. Der erste Band Der Fürst dieser Welt. earl Schmitt und die Folgen fragt, ob man im Fürsten dieser Welt den Vertreter Gottes sehen dürfe. Der zweite Band Gnosis und Politik unterscheidet die gnostische Einstellung von der angeführten Sicht der Politik. Der dritte Band Theokratie sucht in einer messianischen Perspektive den kritischen Abstand von einer Theokratie, welche die Gottesherrschaft in Institutionen zu verwirklichen sucht. Als Taubes schon gezeichnet war durch eine unheilbare Krebserkrankung, hielt er im Februar 1987 in der Forschungsstätte der evangelischen Studiengemeinschaft Heidelberg seine Vorlesungen Die Politische Theologie des Paulus. Das Vorgetragene wurde nach Tonbandaufnahmen sechs Jahre später publiziert, freilich in einer stark redigierten Form. 284 Taubes setzt sich ab von der jüdischen und der christlichen Theologie, die damals durch Martin Buber und Rudolf Bultmann repräsentativ vertreten wurden. Er versucht bei Paulus eine "Heimholung des Ketzers" ins Jüdische. Nach seinem Empfinden ist Paulus jüdischer als jeder Reformrabbiner. 285 So muss er Paulus herausholen aus der Weise, in der Buber zu ihm hinführte. Paulus sei auch nicht Luther, und so grenzt Taubes ihn ab gegen "Bultmann und alle diese moderne, vollkommen daneben denkende, individual denkende Exegese". (67). Als Kierkegaard zugleich in der Philosophie wie in der Theologie zur Geltung gekommen sei, hätten die Theologen, die nach Sein und Zeit griffen, gar nicht gesehen, dass Heidegger diese Berufung auf Kierkegaard unterlief, das Christliche in Kierkegaard neutralisierte und "der Totengräber der Theologie" sein wollte. Taubes spricht von "Bultmannschen Naivitäten", wenn Bultmann den natürlichen Menschen mit Heideggerschen Kategorien, den christlichen Menschen mit paulinischen Kategorien begreifen wolle. Heidegger, ein "Taktiker" und "Stratege allerersten Ranges", habe mitgespielt und "den gesamten theologischen Marburger Kreis zu seinen Aposteln gemacht". (91) Bei Bultmann stehe, dass die Thora und das Weltgesetz eins seien und Paulus von dieser "Universalität" ausgehe. Doch sei Paulus "ganz illiberal" und "strampele" sich heraus aus diesem "Konsensus zwischen griechisch-jüdischer-hellenistischer Missionstheologie" . (37 f.) Als Taubes im Februar 1987 nach Heidelberg kam, las er in der Frankforter Allgemeinen Zeitung, dass eine Frau E. Kennedy die Begriffsbildung bei Habermas und der Frankfurter Schule mit Carl Schmitt verknüpfte. In der Tat habe Reinhart Koselleck, allerdings "durchtränkt" von Carl Schmitt, mit seinem Buch Kritik und Krise dazu beigetragen, dass Habermas den Strukturwandel der Öffentlichkeit habe analysieren können. Doch sei der Zusammenhang scheinbar gegensätzlicher Ansätze viel tiefer. Im Dezember 1930 habe Walter Benjamin sein Trauerspiel-Buch an Schmitt mit der Bemerkung geschickt, dass Schmitts staats-
284 Vgl. Jacob Taubes: Die Politische Theologie des Paulus. München 1993. Zur Kritik der Redaktion vgl. Otta Päggeler: Braucht Theologie Philosophie (s. m. 9). S. 26 ff. 285 Vgl. Taubes (s. Anm. 284). S. 22. Zahlen im Text beziehen sich im folgenden auf die Seiten dieser Publikation.
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philosophischen und seine eigenen kunstphilosophischen Vorstellungen "koinzidierten". (133 f.) Taubes erzählt die Weise, wie er an earl Schmitt geriet, so: Er habe 1948 an der Hebräischen Universität im geteilten Jerusalern studiert und für ein Referat herauszufinden versucht, ob der Begriff des Gesetzes bei Descartes ein juristischer Begriff oder ein Naturbegriff sei. Dabei habe er den Exkurs über Nomos in earl Schmitts Verfassungslehre nachschlagen wollen. Diese sei damals vom Justizministerium gebraucht worden für die Erarbeitung einer Verfassung, die dann wegen des Streites zwischen Orthodoxen und Säkularisierten nicht zustande gekommen sei. Er habe damals an Armin Mohler geschrieben, die Tatsache treibe ihn um, dass die zwei Bedeutendsten und Intelligentesten, Martin Heidegger und earl Schmitt, einen "Flirt" mit den Nazis gehabt hätten. Armin Mohler und er, der Rechtsextreme und der Linksextreme, hätten zusammen in Zürich studiert. Mohler, damals Sekretär von Ernst Jünger, habe den Brief Jünger gegeben, über Jünger habe Schmitt ihn bekommen und sich Kopien gemacht: "Brief eines jüdischen Intellektuellen, der mehr von mir versteht als alle ... " In Amerika sei er, Taubes, beim Studium in einem politologischen Seminar von dem Assistenten Kissinger aufgefordert worden zu einem Vortrag über politische Theologie, nämlich zur Kritik an earl Schmitt. Die Kritik an Schmitt habe gelautet, "dass die mystische Phase, also die demokratische Phase, von Schmitt übergangen ist, und es bei ihm ein rein hierarchischer Katarakt ist in Politische Theologie f'. Schmitt schickte ihm nach dem Kontakt alle seine Werke mit Widmungen und pädagogischen Anweisungen zur Lektüre. (134 ff.) In Schmitts Glossarium, das vom 28. 8. 47 bis zum 14. 8. 51 reicht, gibt es z.B. am 27. 6. 48 eine beißende Kritik an dem jungen Sombart, die nicht nur diesen meint, sondern seine Generation. 286 Der Name Taubes kommt nicht vor. Als Taubes nach Berlin auf einen Lehrstuhl für Hermeneutik berufen worden war, lud er im Januar 1967 (also während der Unruhen unter den Studenten) Alexandre Kojeve ein, "den bedeutendsten Philosophen der damaligen Generation und Hegel-Interpreten". Kojeve kam von Peking und fuhr weiter nach Plettenberg zu Schmitt: "Mit wem sonst ist in Deutschland zu reden?" (136 f.) Wenn Kojeve Hegels Deutung der Geschichte umformt, kommt es auch zu einer Diskussion mit Leo Strauß über die Diktatur, die nach Kojeve auch ein abgekürzter Weg geschichtlicher Entwicklung sein könnte. Freilich verkürzt Kojeve Hegels Denken um die entscheidende Dimension, nämlich um die spekulative Logik als Entfaltung der philosophischen Grundbegriffe. Taubes hat sich an dieser HegelDeutung oder Umdeutung beteiligt, aber deren Problematik nicht gesehen. Taubes beruft sich darauf, dass er von earl Schmitt auch Dinge erfuhr, die er "priesterlich mit Schweigen" bedenken will. Schmitt hat ihm offenbar gebeichtet, dass er sich von seiner ersten Frau scheiden ließ, weil sie unter falschem Namen gelebt hatte. Aber die zuständige Instanz der katholischen Kirche in Rom sprach die Scheidung nicht aus, weil ihr die Person offenbar wichtiger war als der Name, 286 Vgl. earl Schmitt: Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947-1951. Berlin 1991. S. 170 f.
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mit dem man unter andere Menschen tritt. Person oder Name - diese Problematik würde eine eigene Entfaltung verlangen. Taubes sagt, der Schmitt, den er getroffen habe, sei der Schmitt der Politischen Theologie 11 gewesem. (137) Dort sucht Schmitt eine Antwort zu geben auf die Kritik seines einstigen Bonner Freundes Erik Peterson. Dieser hatte auf dem Weg zur Konversion die dialektische Theologie herausgefordert; so hatte auch Rudolf Bultmann auf ihn sich einlassen müssen. Freilich konnte Heinrich Schlier Peterson nutzen, als er gegenüber Buhmann seinen eigenen Ansatz ausbaute. Doch von den Wegen der Bultmannschüler Schlier und Käsemann ist bei Taubes nicht die Rede. Peterson ließ 1935 in Leipzig eine gelehrte Abhandlung erscheinen: Der Monotheismus als politisches
Problem. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Theologie im Imperium Romanum. 287 Carl Schmitts Schrift Politische Theologie 11 (Berlin 1970) erzählt nach dem Untertitel Die Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie. Die Einführung hält fest, dass nicht nur die Atheisten, Anarchisten und positivistischen Szientisten die politische Theologie für erledigt halten. Auch ein frommer Theologe wie Peterson habe es 1935 getan. Zwar handele es sich dabei um eine gelehrte Abhandlung über die ersten Jahrhunderte der christlichen Zeit. Die letzten Textseiten verkündeten jedoch als Schlussthese in aller Schärfe die Erledigung jeder politischen Theologie. Eine Schlussanmerkung verweise auf Schmitts Schrift Politische Theologie von 1922 und nenne die eigene Arbeit den Versuch, "an einem konkreten Beispiel die theologische Unmöglichkeit einer ,politischen Theologie' zu erweisen". Doch Schmitts erstes Kapitel handelt dann über die "Legende" von der endgültigen theologischen Erledigung der Politischen Theologie. Inzwischen erspare man sich die konkrete Auseinandersetzung mit den Schriften von Schmitt selbst und von Peterson bei Christen wie Anti-Christen, z.B. bei Hans Maier und Ernst Topitsch. Schmitt erinnert daran, dass Franz Overbeck Adolf Harnack als wilhelminisch-preußischen Hoftheologen habe treffen wollen, als er den Bischof Eusebius von Cäsarea als Friseur "an der theologischen Perücke des Kaisers" Konstantin bezeichnete. Peterson habe in den Bonner Jahren 1924-30, in denen der Entschluss der Konversion zur katholischen Kirche reifte, das Dogma als argumentierende "Elongatur" der Logos-Offenbarung dargestellt. Die Abhandlung von 1935 gehöre in eine Situation, die politisch durch Hitler bestimmt gewesen sei. Hans Maier berufe sich aufPeterson, wenn er sich 1969 gegen die "Theologie der Revolution" wende, wie sie im katholischen Bereich z.B. von J. B. Metz vertreten wurde. 288 Für Taubes ist es zu billig, die deutsche Geschichte auf Genealogien wie von Luther zu Hitler, von Bismarck zu Hitler oder von Karl dem Großen zu Hitler, auch von Carl Schmitt zu Hitler festlegen zu wollen. In Frankreich lasse sich 287 Zu Peterson s. Anm. 209. 288 Zu Schmitts Begriff der Diktatur und des totalen Staates sowie zu H. Heller als Gegner Schmitts von 1932 vgl. Totalitarismus und Politische Religionen. Hrsg. von Hans Maier. Band. III: Deutungsgeschichte und Theorie. Paderborn 2003. S. 66 ff., 121 ff., 154 f.
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dann z.B. eine Genealogie mit Gobineau und Maurras durchführen. (138) Doch habe er , Taubes, in langem Nachdenken ein Gemeinsames zwischen Carl Schmitt, Heidegger und Hitler gefunden. Die deutsche Kultur der wilhelminischen Zeit und der Weimarer Republik sei "protestantisch und ein wenig jüdisch gefärbt" gewesen, mit wenigen katholischen Reservaten etwa in München und vielleicht in Bonn. Über Karl Barths Römerbriefhabe man sich ein bisschen aufgeregt. "Es hatte etwas Frisson, es war nicht mehr der alte Troeltsch". Doch im Prinzip habe dieser Römerbrief von Sachen gehandelt, die zum "Bildungsgut des Kulturprotestantismus" gehörten. Dagegen habe Heidegger - nach Taubes ein "Jesuiten-Zögling" - mit dem "Genie des Ressentiments" Calvin, Luther und Kierkegaard ganz neu gelesen. Auch Carl Schmitt sei ein ,,Aufstreber von der geächteten Minderheit der Katholiken" gewesen. (140 f.) Da Schmitt in Plettenberg Wege nach denen benannte, mit denen er zuerst dort gegangen war, konnte er auf dem "Joachim-Ritter-Weg" seinen Spaziergang mit Taubes machen und dann nach der Rückkehr ins Haus sagen: "wir lesen Römer 9-11." Es sei eines, mit Theologen und Philosophen Römer 9-11 zu lesen, "und ein anderes, mit dem größten Staatsrechtler dieser Epoche". (Mit dieser Charakterisierung Schmitts übernimmt Taubes italienische und amerikanische Einschätzungen, 11.) In Römer 9-11 sagt Paulus, dass er um seiner jüdischen Brüder willen selbst von Christus möchte geschieden sein. Freilich hätten die Heiden Gerechtigkeit ererbt, nicht aber die Juden, die diese Gerechtigkeit nicht im Glauben, sondern in den Werken suchten. Um der Verstocktheit der Juden willen seien die jüdischen Zweige des Ölbaums ausgebrochen, heidnische Zweige aufgepfropft worden. Doch trügen nicht die Zweige die Wurzel, sondern die Wurzel trage die Zweige. Paulus weiß ein "Geheimnis": Wenn die Fülle der Heiden eingebracht ist (wofür Paulus ja missioniert), dann wird Israel gerettet werden. Unbegreiflich sind Gottes Gerichte und seine Wege. - Es waren diese Gedankengänge des Paulus, die Carl Schmitt mit seinem jüdischen Bewunderer lesen wollte. Taubes hat erfahren, dass das Griechisch des Apostels Paulus als ein "Jiddisch" abgetan wurde (so durch den Germanisten und Sophokles-Übersetzer Staiger und den Religionshistoriker Latte). Doch gerade deshalb glaubt er es zu verstehen. (12) Er wendet sich gegen die interpretatio graeca, wie sie durch Wilhelm von Humboldt der europäischen Geschichte auferlegt worden sei. Ein "bißchen spät" habe er selbst eingesehen, dass eine Bibelstunde für die Studenten wichtiger sei als eine Hegelstunde. (13) Zum Thema hin führt die jüdische Religion. Die Religionsgeschichte wolle aber Paulus allenfalls als einen "Romantiker" gelten lassen. Hier wird Martin Buber zum wichtigsten Gegner. Buber hebt Paulus von Jesus ab: Jesus bleibe in der jüdischen Tradition beheimatet; bei Paulus werde durch seine Bekehrung der Glaube zu einem griechisch geprägten "Glauben an ... " Doch dieses "Glauben an ... ", so sucht Taubes zu zeigen, sei "beileibe nicht nur griechisch, sondern das Zentrum einer messianischen Logik". (16 f.) Mit Gershorn Scholem erinnert Taubes an den Sabbatianismus. Sabbatai Zwi, ein "mystisch sensibler Mann", übertrat in manisch-depressiven Zuständen immer wieder das
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Gesetz. Nathan von Gaza aber sah in ihm die Seele des Messias walten. Der Sultan stellte diesen "Messias" vor die Alternative: Tod oder Übertritt zum Islam. Sabbatai Zwi trat über und bekam eine Stelle am Hofe. Doch nach der kabbalistischen Vorstellung ist er herabgestiegen in die Abgründe der Unreinheit (die Welt), um dott die Funken der Reinheit einzusammeln. Nach Jesaja 53 trug er unserer Sünden Last. Dieser antinomistische Glaube ist paradox. Doch einem solchen Glauben sei Paulus gefolgt, als er in einem Verfluchten und Gekreuzigten den Messias erkannte. Das habe mit einem schablonenhaften Griechentum nichts zu tun. (18 ff., 154 ff.) Im ersten Teil seiner Vorlesungen behandelt Taubes Die Gründung eines neuen Gottesvolks bei Paulus und Moses. Der Römerbrief sei eine Kampfansage an den Cäsar, den Kaiser in Rom, wie Bruno Bauer 1877 in seinem Buch Christus und die Cäsaren gesehen habe. (27) In der Tat kann Taubes sich dabei mit Carl Schmitt treffen. Dieser erinnert in seinem Glossarium aus den Jahren 1947-51 immer wieder an Bruno Bauer; er bezieht sich auch auf Max Stirner, der schon zu seinen Attendorner Gymnasialjahren und seinen Plettenberger Jugendjahren gehört habe. Gott, der Vater, werde entthront, etwa bei Comte zugunsten der Ordnung; Sigmund Freud erscheine "im Zuge dieser Entthronung des Vaters".289 Taubes verbindet den Anfang des Römerbriefs mit dessen Ende. Dort fragt Paulus sich, ob er in Jerusalem willkommen sein würde, wenn er eine Geldspende überbringe. Musste er nicht fürchten, dass die Judenchristen den Geldhahn abdrehten, wenn man Geld von Heidenchristen annahm? (29 ff.) Paulus missionierte vor der Zerstörung des zweiten Tempels im Jahre 70, die dann auch das "Genick" der judenchristlichen Gemeinden im Westen brach. Im arabischen Raum, der damals florierende Städte hatte, gab es bis ins 10. Jahrhundert Gemeinden, die mehrheitlich oder ganz judenchristlich waren. Paulus hatte noch mit der Frage zu tun, wieweit Juden und Heiden unter den Christen Tischgemeinschaft pflegen konnten. Das zusammenfassende Wort "Christ" gab es bei ihm noch nicht. (33 ff.) Den Griechen, Römern und Juden sei die Rede vom "Gesetz" gemeinsam gewesen; Paulus entziehe sich aber diesem Konsensus. Der durch das Gesetz ans Kreuz Geschlagene sei für ihn der Imperator. Er werde sich durch nichts trennen lassen von Jesus Christus, dem Herrn. Es gehe ihm um die "Gründung und Legitimierung eines neuen Gottesvolkes". (42) Damit komme Mose ins Spiel. Taubes zieht den Talmud heran, um zu zeigen, wie Mose gemäß der innerjüdischen Erfahrung um Gott ringt: Gott wollte Israel seiner Sünden wegen der Vernichtung übergeben, doch betete Mose so lange, bis er den Herrn von seinem Schwur entband. Der Versöhnungstag der Juden, Jom Kippur, habe die Kontroverse zwischen Gott und Mose ins Ritual übersetzt. Auch die assimilierten Juden seien "Drei-Tage-Juden" gewesen, hätten die beiden Neujahrstage und den Versöhnungstag gefeiert, der die Gelöbnisse und Verzichte auflöst.
289 Vgl. Schmitt. Glossarium (s. Anm. 286). S. 100.
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Franz Rosenzweig habe im Stern der Erlösung dargelegt, dass an den Neujahrstagen und am Versöhnungstag zum Gebetsmantel der Rock hinzukomme und ihn zum vollständigen Sterbekleid mache. Der Jude empfängt dieses Sterbekleid am Hochzeitstag von seiner Frau und trägt es unterm Trauhimmel; er wird mit der Ehe ganz ein Glied seines Volkes. Der Tod ist das Letzte, die Grenze der Schöpfung; doch die Offenbarung weiß, dass die Liebe stark ist wie der Tod. (50 ff.) Nach Taubes stand Paulus vor demselben Problem wie Hosea: Das Volk hatte gesündigt, den Messias verworfen; Paulus selbst hatte vor Damaskus in einer Vision den Herrn erkannt. Dass Jesus nach dem Gesetz verurteilt worden war, spricht gegen das Gesetz. Doch will Paulus die Heiden einbringen, um auch das verstockte Israel zu gewinnen. (69) Auf einer berühmten Darstellung in Vezelay schüttet Mose oben das Korn in die Mühle; Paulus fängt unten das Mehl ohne die Spreu in einem Sack auf. Das ist die typologische Allegorese, die den Gegensatz zwischen Juden und Christen und das "Ich aber sage euch" der Bergpredigt aufgenommen hat. Ihr kann Taubes nicht zustimmen. So führt er jene ins Feld, die Hegels Rede vom "Geist" ökonomisch, philosophisch oder psychoanalytisch untergruben, also Marx, Nietzsche und Freud. (56 ff.) Taubes zieht Nietzsches Text Die Philologie des Christentums heran. Dort kritisiert Nietzsche das "unerhörte philologische Possenspiel um das Alte Textarnent". Er vermisst die Redlichkeit in der Weise, wie man das sog. alte Testament auf Christus vorausweisen lässt. Er fragt, ob jemand das Behauptete wirklich geglaubt habe. Dazu sagt Taubes: Ja, der Apostel Paulus tut es in Röm. 9-11! Nach dem Beispiel, an dem sich Nietzsche besonders erhitzt, ist Isaaks Bindung das Vorspiel der Kreuzigung. (64) Der Akzent liegt bei Paulus darauf, dass Gott den erwählt, den er erwählt - unabhängig von seinen Leistungen. Der Prophet Hosea musste eine Hure heiraten, um das Hurentum Israels anzuprangern. Nach Jesaja wird nur ein Rest Israels gerettet. Schon Mose will in seinen letzten Reden die Juden, die sich als das auserwählte Volk verstehen, eifersüchtig machen auf ein NichtVolk. (69 f.) Die Aufnahme der Heiden in Israel als das Reich Gottes führt zur Totenerweckung. Die Juden sind im Blick auf das Evangelium Feinde. Hier sei mit Carl Schmitt zu unterscheiden: Gemeint sei der Feind im heilsgeschichtlichen Sinn, hostis, nicht der Feind im privaten Sinn, inimicus. So sind die Juden "Geliebte" um der Väter willen (bei denen die Offenbatung begann). Taubes hält Schmitt aber vor, dass er sich durch die Tradition leiten lasse, wie sie nach 70, also nach dem Fall Jerusalems, entstand. Damit lasse Schmitt sich durch die Volkstradition des Antisemitismus bestimmen, nicht durch das Evangelium. (71 f.) Paulus verwandle in einem "absolut revolutionären Akt" das Doppelgebot, Gott und den Nächsten zu lieben, in das Gebot der Liebe als der Erfüllung des Gesetzes. Eine Revolution gegen staatliche Gewalt lohne nicht, da die Zeit zu kurz, das Ende nahe sei. (74 f.) Im zweiten Teil seiner Vorlesungen handelt Taubes über die "Wirkungen" von Paulus oder über Paulus und die Moderne bzw. Transfigurationen des Messianischen. Paulus habe zwei Ausgänge: die kirchliche Tradition (erwa in den Pastoralbriefen) und Marcion. Für Marcion sei die Schöpfung, in der es z.B. so viele
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Mücken gebe, miserabel; der Vater Jesu Christi könne nicht der Schöpfergott sein. Theodosius Harnack habe in seinem Buch Luthers Theologie (1862) in marcionistischer Gesinnung Gesetz und Evangelium, den grausamen Gott und Christus als den Liebenden "total auseinandergerissen". Sein Sohn Adolf von Harnack habe dann das Buch Marcion - das Evangelium vom fremden Gott geschrieben. Marcion schaffe eine Kirche, die durch Ehe- oder Kinderlosigkeit das Ende der Welt zu exekutieren suche. Die Kirche folge ihm, indem sie die Mönche zu einem eigenen Stand mache. Freilich werde dann im 12. Jahrhundert auch die Ehe als Sakrament anerkannt. Im Alten Testament schrieen die Frauen geradezu nach Kindern (Sara, Rebekka, Rahel, Hanna, die Mutter Samuels ... ). Es sei dagegen unvorstellbar, dass eine Frau am Kleid Jesu zerre mit dem Ruf: "Ich möchte einen Sohn". Wenn Johannes der Täufer von dieser Bitte her zur Welt kommt, dann sei das nicht neues Testament, sondern der Übergang vom alten zum neuen. (78 ff.) Harnack, von Overbeck zutiefst verachtet, billigte es, dass die Kirche im zweiten Jahrhundert das Alte Testament nicht verwarf, die Reformation sich ihm nicht zu entziehen vermochte. Es im 19. Jahrhundert noch als kanonische Urkunde zu konservieren, sei "die Folge einer religiösen und kirchlichen Lähmung". Durch diese Polemik ist nach Taubes der Protestantismus wehrlos gegen Tendenzen geworden, die 1933 die politische Macht gewannen. (84 f.) Taubes stellt dann mit Karl Barth und Carl Schmitt die "Zeloten des Absoluten und der Entscheidung" vor. In den Schützengräben des Ersten Weltkriegs sei in Frankreich, Mazedonien und Russland erwas aufgebrochen, was preußische Beamte wie Adolf von Harnack oder auch Hermann Cohen nicht mehr aufnehmen konnten. Neben der zweiten Auflage von Barths Römerbriefhätten Bubers Ich und Du, das über Bubers einstige Mystik hinausführte, Rosenzweigs Stern der Erlösung, auf Feldpostkarten geschrieben, auch Arbeiten von Hugo Ball und Ferdinand Ebner gestanden. Buber, Viktor von Weizssäcker und der Katholik Josef Wittig hätten zusammen die drei Bände Kreatur herausgegeben. Carl Schmitts Politische Theologie von 1922 beginne mit einem Paukenschlag: "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet." In der Ausnahme durchbreche die Kraft des Lebens die Kruste einer erstarrten Mechanik. Schmitt berufe sich auf Kierkegaard, nach dem die Ausnahme das Allgemeine und sich selbst erklärt. (86 ff.) Der Ausnahmezustand habe in der Jurisprudenz eine Bedeutung analog zum Wunder in der Theologie. Gegenüber dem "ewigen Gespräch" der Romantiker berufe Schmitt sich auf die Entscheidung. Gegenrevolutionäre Denker wie de Maistre, de Bonald und Donoso Cortes würden herangezogen. Die Frage "Christus oder Barrabas" verlange eine Entscheidung und könne nicht durch Einsetzung einer Untersuchungskommission vertagt werden. (92 ff.) Abschließend geht es Taubes um die Rechtmäßigkeit der Neuzeit, die um 1950 durch Guardinis Rede vom Ende der Neuzeit und Sedlmayers Verlust der Mitte in Frage gestellt wurde. Dagegen habe Hans Blumenberg die Rede von Säkularisierung als eine Kategorie des Unrechts zurückgewiesen: Die Neuzeit dürfe nicht an einer für sie vergangenen Geschichte gemessen, müsse vielmehr aus ihrer eigenen Legitimität verstanden werden. Taubes will Schmitts Frage nach den theologischen Poten-
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tialen juristischer Begriffe geistes- und realgeschichtlich aufnehmen. Es sei ihm selbst und Schmitt klar gewesen, dass sie "Gegner auf Tod und Leben" seien. Eine Übereinstimmung mit Paulus findet Taubes im Theologisch-politischen Fragment von Walter Benjamin. Benjamin sehe die Vergänglichkeit der Schöpfung. Die Ordnung des Profanen sei das Glücksstreben der Menschen; zum Pfeil dieses Strebens komme das Messianische als Pfeil aus entgegengesetzter Richtung. Beides könne zusammenkommen, da das Irdische im Glück seinen Untergang erstrebe. "Genau das Gegenteil von Goethes Faust, von Nietzsches ,Alle Lust will Ewigkeit'." Messianisch ist für Benjamin die Natur "aus ihrer ewigen und totalen Vergängnis". Diese Vergängnis auch fiir die Natur des Menschen zu erstreben, ist die Aufgabe der "Weltpolitik". So ist deren Methode der Nihiilismus. Nach dem Ersten Korinther-Brief (7,31) soll der Christ z.B. Frauen haben, als hätte er sie nicht - denn das Wesen dieser Welt vergeht. Paulus sei durch die Welt gegangen wie Kafka; sein Leben lang habe er keinen Baum gesehen. Die Natur stöhne unter der Vergängnis und Vergeblichkeit. Röm. 8 spreche vom SeufZen der Kreatur. Röm. 13 sehe den Tag des Heils näher gekommen. So sollten die Christen unter den gegebenen Obrigkeiten bleiben, also nicht auf gesellschaftliche Veränderung aus sein. Mit Luthers Politik, etwa gegen die Bauern, habe das nichts zu tun. Plotin in den Enneaden, Celsus bei Origines und dann Nietzsche kritisierten das "christlich-gnostische Gesindel", das überhaupt nichts mehr tun wolle. Bei Nietzsche findet Taubes keinen Gedanken, den nicht Celsus schon gehabt habe. Dem Ernst Benjamins gegenüber bleibe bei Bloch nur "wischiwaschi"; Adorno ästhetisiere den messianischen Blick zu einem Als-ob. Der Idealismus, der den Willen des Menschen beanspruche, der romantische Weg nach Innen, die "GoetheReligion" des immer strebenden Bemühens werden von Taubes abgewiesen. (100 ff.) Das abschließende Kapitel behandelt Nietzsche und Sigmund Freud unter dem Titel Exodus aus der biblischen Religion. Am Anfang der Neuzeit hebe Spinoza in seinem Theologisch-politischen Traktat für das Alte Testament den König Salomon hervor, der mit dem Buch Kohelet eine Tendenz zum Schicksalsglauben zeige. Aus dem Neuen Testament nenne Spinoza vor allem Paulus als Kronzeugen für die Lehre von der Prädestination. Am Ende der Neuzeit stünden dann die Anti-Philosophen Marx, Kierkegaard und Nietzsche. Nietzsche verknüpfe in einer ersten Phase die Kritik an der abendländischen Vernunft mit Sokrates; doch stelle Nietzsche dem aufweisen wollenden Wirken auf dem Marktplatz die Philosophen des tragischen Zeitalters entgegen (sonst Vorsokratiker genannt). Statt Sokrates rücke dann Paulus in den Vordergrund. Er stehe fiir den Priester, der die Menschen seinen Werten unterwerfe. Nach antiker Auffassung sei die Wahrheit zu erkennen; doch sei sie zwar immer vorhanden, aber nur wenigen zugänglich. Bei Hegel werde die Wahrheit in der Geschichte gewonnen, sei aber dann allen zugänglich. Nach Nietzsche müssten die einen als Sklaven arbeiten, damit es die Herren geben könne. Der Gegner dieser Konzeption sei Paulus; so schlage Nietzsche auf ihn ein. Er schreibe mit dem Zarathustra eine Parodie der Bibel und lege sich den Horrornamen des Antichristen zu. Nietzsche sei mit Dostojewski be-
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kannt geworden; er sehe von dessen Gestalten her Jesus als "Idioten" und damit als Gegenspieler des Genies. Schließlich stelle Nietzsche Dionysos gegen den Gekreuzigten. Dionysos, in Stücke geschnitten, werde wiedergeboren und zeuge für das Leben. Der Gekreuzigte sei ein Fluch auf das Leben. Taubes geht davon aus, dass Nietzsche vom Damaskus-Erlebnis des Paulus her seine Erfahrung der ewigen Wiederkehr denke. Nach ihr ist alles, wie es ist, und kann nicht moralisch beurteilt werden. Nietzsche suche gegen den quälenden Einspruch des Gewissens die Unschuld des Werdens. Menschern wie Luther, Augustinus, Paulus stehen nach Taubes dafür ein, dass die Moralität sich nicht decke mit dem bewussten Willen. So kann Taubes von Nietzsche fortschreiten zu Sigmund Freud. Nach Taubes gehört jener Freud, der aus der Psychoanalyse eine naturwissenschaftliche Theorie machen wollte, dem 19. Jahrhundert an. Taubes geht dagegen von dem Freud aus, der sich dem Problem der Schuld stellte. An die Stelle der Hypnose, mit der Josef Breuer in die verschlossenen Tiefen der Seele einzudringen suchte, habe Freud das Erzählen gestellt. Die pharaonische Herrschaft habe die monotheistische Idee auftauchen lassen; als diese von Israel aufgenommen worden sei, habe Israel sich als auserwählt verstanden. Freud sei als Emigrant in London in Der Mann Moses davon ausgegangen, dass die Feinde der Juden (die Nationalsozialisten) diese Auszeichnung aufnahmen unter Berufung auf die sog. Verschwörung der Weisen von Zion. Paulus, der Jude aus Tarsos, sei nach Freud auf die "urgeschichtliche Quelle" zurückgegangen. (126) Nicht der Mord an dem später vergötterten Urvater werde erinnert; vielmehr werde die Sühnung dieses Mordes phantasiert im Evangelium vom Tode des Gottessohnes. Dabei hätten orientalische und griechische Mysterien Einfluss ausüben können. Die Heilige Kommunion, das Sicheinverleiben des Leibes und Blutes des Herrn, übernehme die alte Totenmahlzeit ohne deren agressive Züge. Paulus habe das Spezifische der jüdischen Beschneidung aufgegeben; so habe die neue Religion universal werden können. Freud habe sich in die Rolle des Paulus eingelebt. Doch habe Paulus nach seiner Auffassung die Erlösung nur "phantasmatisch" (im Wahn der evangelschen Botschaft) bringen können; F reud habe sie als Arzt des Individuums und der Kultur verwirklicht. (131) Als die Bundesrepublik Deutschland aufgebaut wurde, gab es viele Richtungskämpfe. Auch in Israel blieb umstritten, dass Adenauer vom rheinischen Katholizismus aus auf den neuen Staat Israel zuging. Das taten auch politische Widersacher Adenauers wie Eugen Kogon und Walter Dirks. Schwerlich ist es angemessen, wenn earl Schmitt für Taubes "ein legitimer katholischer Antisemit" ist, der über den "katholischen Volks antisemitismus" habe Lektionen erteilen können. (141) Schlicht falsch ist die Behauptung, Heidegger habe dutch ein taktisches Bündnis mit Bultmann die Marburger Theologenschaft dominiert. (91) Dagegen spricht schon die Bedeutung, die Rudolf Otto in Marburg behielt. Überhaupt nicht berücksichtigt wird, dass Ernst Käsemann und Heinrich Schlier nicht auf die Existenz des Einzelnen setzten, sondern - mit den paulinischen Schriften auf das Volk als Kirche. Erik Peterson ist über den Widerspruch gegen Schmitt von 1935 hinaus wirksam gewesen, so mit der Einsicht, dass die gute Tat Hass
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und die Feindesliebe den Feind erzeugen kann. Der Feind ist in endzeitlicher Perspektive der Antichrist; vor ihm muss der Glaube bestehen. Für Carl Schmitt wird das Ende aufgehalten zugunsten der politischen Konflikte, die über sich hinausdrängen zu den religiösen Motiven. 29o Der Ägyptologe Jan Assmann hat 2006 einen älteren Vortrag Politische Theologie zwischen Agypten und Israel mit einem "Nach-Wort nach 14 Jahren" herausgebracht. Er zitiert den "konservativ-katholigschen Politologen" Erik Voegelin als Beleg dafür, dass das Politische im alten Ägypten ins Theologische übergriff, das Theologische aber auch (in Israels ,,Auszug" aus Ägypten) vom Politischen getrennt wurde. In Israel und Griechenland habe man so zu "differenzierten" Begriffen finden können. 291 Jan Assmann gibt an, die Mitarbeit an der Ausgabe der Paulus-Vorlesungen von Jacob Taubes habe ihm klargemacht, dass es (bei Carl Schmit) eine politische Theologie der Herrschaft gebe, bei Taubes dagegen eine politische Theologie der Gemeinschaft. Von Schmitt und Peterson sei der Begriff der politischen Theologie gegensätzlich "auf eine bestimmte christlich-postchristliche Problematik" verengt worden. Assmann bezeichnet es als sein Anliegen, den "Begriff der politischen Theologie so auszuweiten, dass er als Instrument vergleichender Kultur- und Religionsanalysen dienen kann". Der Rückgriff auf Walter Benjamin, der sich bei Taubes findet, war das Anliegen einer ganzen Studentengeneration. Wurde Benjamin dabei historisch richtig aufgefasst? Inzwischen wurden Benjamins Thesen über den Begriff der Geschichte nach dem Manuskript ediert, das Hannah Arendt retten konnte. Darin wird deutlich, dass Benjamin sich der russischen Revolution anschloss bis hin zur Übernahme kommunistischer Parolen. Diese geschichtlichen Verflechtungen sind wichtig für eine kritische Sicht des Erörterten, aber ein eigenes Thema. 292 Sicherlich kann man bei der Frage nach der Entstehung Europas nicht mehr davon ausgehen, dass eine phönizische Prinzessin Europa vom kretischen Stier nach Kreta entführt wurde und diese dunkle Vorgeschichte die Griechen in die Geschichte gerufen habe. Für Homer sei so schließlich der Kampf der Griechen um Troja zum Thema seines Epos geworden. Der junge Goethe konnte bei Homer, der zum originalen Genius geworden war, die Natur geschildert sehen. Dagegen konnte Droysen den Hellenismus (schon beim späteren Hegel als Fortschritt in der Geschichte angesetzt) in seiner Bedeutung herausstellen. War dieser Hellenismus nicht der Ausgangspunkt für jene Literatur, die dann auch Rom prägte und mit Ovid z.B. auf den autistischen und sich selber zerstörenden Narziss verwies? Als Raoul Schrott das Gilgamesh-Epos, dann die Ilias übersetzte, fand er bei Homer Parallelen zum Asiatischen wie zum Alten Testament. Auf sei290 Vgl. Die eigentümliche katholische Verschärfung. Konfession, Theologie und Politik im Werk earl Schmitts. Hrsg. von Bemd Wacker. München 1994. 291 Vgl. Jan Assmann: Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel. Dritte, erweiterte Auf!. München 2006. S. 30,118, zum folgenden 115, 127. 292 Vgl. Arendt und Benjamin. Texte, Briefe, Dokumente. Hrsg. von Detlev Schöttker und Erdmut Wizisla. Frankfurt am Main 2006. - Zum folgenden vgl. Raoul Schrott: Homers Heimat. Der Kampf um Troia und seine realen Hintergründe. München 2008.
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nen Reisen konnte er in Troja die Landschaft nicht finden, die von Homer geschildert worden war (als ob das nach mehr als zweieinhalb Jahrtausenden zu erwarten gewesen wäre!). Doch meinte er die Landschaft Homers in IGlikien (gegenüber Zypern) zu sehen. Dort hätten sich die Kulturen des östlichen Mittelmeeres und Vorderasiens durchdrungen; Homer habe als assyrischer Schreiber sein Werk schaffen können. Etymologien, die zu oft schon in die Hand von Scharlatenen gerieten, sollen die literarischen Verwandtschaften beweisen. Doch dieser gefeierte Schritt in der "Homer-Forschung" bleibt Sache einer frei schweifenden Phantasie. In den Jahren 1962/63 trat eine jüngere Generation nicht nur mit ersten Vorträgen und Aufsätzen, sondern mit Büchern hervor, die bedeutsam wurden (von Apel und Habermas bis zu Lübbe, vielen anderen und auch mir selbst). Von 1962 bis 1996 erschien mit 35 Bänden eine Zeitschrift mit dem programmatischen Titel Der Staat. Leitende Redakteure waren mit Ernst-Wolfgang Böckenförde, Roman Schnur und Helmut Quartisch Juristen, die entscheidende Impulse earl Schmitt verdankten, ohne dessen Schüler gewesen zu sein. Nicht von ungefährt ging earl Schmitt mit Jacob Taubes auf dem Weg, den er mit Joachim Ritter gegangen war und nach ihm benannte. Repräsentativ wurde ein Vortrag, den Ernst-Wolfgang Böckenförde 1972 in Düsseldorf hielt: Die veifassunstheore-
tische Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung individueller Freiheit. Böckenförde entfaltete von Ritters Hegel-Deutung aus den Unterschied zwischen der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer rechtlichen Absicherung einer autonom gewordenen Ökonomie einerseits und der staatlichen sowie der religiösen Sphäre andererseits. Die leitende These war, dass der moderne Staat die sittlichen Grundlagen, deren er bedarf, nicht selber legen kann. Joachim Ritter wies in der Diskussion darauf hin, dass die Expansion der Produktivkräfte die Frage nach ihrer Begrenzung (und damit der Schonung der Umwelt) stelle. Wir wüssten noch nicht, wohin uns dieser Weg der uns aufgegebenen Geschichte führe!293 Joachim Ritter hat mit seiner Schule in Münster earl Schmitt neu in die Diskussion eingeführt, aber so, dass die sozialen und liberalen Motive verstärkt wurden. So konnte Hermann Lübbe 1986 einen Rückblick wagen in seinem Vortrag Carl Schmitt liberal interpretiert. Abgewiesen wurden in gleicher Weise der Antiliberalismus von earl Schmitt wie der Neomarxismus (etwa von Jürgen Habermas).294 Der Staat war in den religiösen Auseinandersetzungen nach dem Dreißigjährigen Krieg schließlich aus dem Streit der Konfessionen herausgenommen und insofern säkularisiert worden. Gerade dadurch wurde die Grundlage dafür gelegt, dass konkrete Sittlichkeit und unterschiedliche Religiosität freie Entfaltungsmöglichkeiten bekamen.
293 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde: Die verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit. Opladen 1973. (Ritters Diskussionsbemerkung S. 50 tI) 294 Vgl. Hermann Lübbe: earl Schmitt liberal interpretiert.In: Quaritsch (s. Anm. 276). S. 427 ff.
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Exkurs: Hans Blumenberg und earl Schmitt Carl Schmitt gab der Politischen Theologie 11 von 1970 ein Nachwort mit Zur heutigen Lage des Problems: Die Legitimität der Neuzeit. Sicherlich wird darin vor allem Peterson oder die Legende von der Erledigung jeder politischen Theologie zurückgewiesen. Doch geschieht das in der Auseinandersetzung mit Hans Blumenbergs Buch Die Legitimität der Neuzeit von 1966. Diese Auseinandersetzung ist vornehm im Ton, aber unerbittlich kritisch in der Sache: Blumenberg versuche anders als der Theologe Peterson eine wissenschaftliche Kritik jeder politischen Theologie - wissenschaftlich in dem Sinne, dass sie kein Weiterwirken einer Heilslehre dulde. Diese "restlose Liquidierung" gehöre "zur Weltlichkeit der enttheologisierten Neu-Zeit". "Säkularisation" sei danach "eine Kategorie des geschichtlichen Unrechts", da sie die Neuzeit von dem her verstehe, was für sie Vergangenheit sei. Schmitt muss darauf hinweisen, dass Blumenbergs "pauschale Vermischung" Schmittscher Thesen "mit allen möglichen konfusen Parallelisierungen religiöser, eschatologischer und politischer Vorstellungen" Anlass zu Missverständnissen gebe. Das Wort "Legitimität" begründe etwa das Monopol einer Dynastie aus der Geschichte. Blumenberg verwende es jedoch für die Rechtfertigung eines Neuen. Für die Französische Revolution sei die gesetzmäßige Legalität als Botschaft der Göttin Vernunft eine neue, rationale Form der Legitimität gewesen. Die volkspädagogische Aufklärung von Bert Brecht verstehe Legalität nur als "Gangsterparole". Bei Blumenberg bedürfe die Erkenntnis nicht mehr der Rechtfertigung, sondern rechtfertige sich selbst. Die Wissbegierde sei dem ,,Autismus" der Argumentation immanent und gehöre in die "Selbstermächtigung des Menschen".295 Für Blumenberg werde die Neuzeit zur zweiten und gelungenen Überwindung der Gnosis, nachdem der christliche, vornehmlich augustinische Überwindungsversuch misslungen sei. Hier komme es auch zur Rechtfertigung der Neugier. Doch findet Schmitt das Wort curiositas als Bezeichnung für die Wissbegierde verharmlosend; treffender wäre das griechische Wort tolma, "Weil es als ein Ausdruck für Kühnheit und Freude an der Gefahr die Rechtfertigungsunbedürftigkeit impliziert". (Schon Erich Rothacker war nicht müde geworden, die Neugier gegen die Kritik in Sein und Zeit als Ansatz zum freien Wissen zu verteidigen; Blumenberg sprach den Nachruf auf Rothacker in der Mainzer Akademie.) Schmitt versucht vor allem, das berühmte lateinische Motto vor dem 4. Buch von Goethes Dichtung und Wahrheit auszulegen: "nemo contra deum nisi deus ipse". Der Ausspruch, den Goethe wohl selbst auf lateinisch formuliert habe, stamme aus den Fragmenten Catharina von Siena des Jakob Michael Lenz: Catharina sieht auf der Flucht vor ihrem Vater diesen wie einen "gekränkten Gott"; doch streckt er liebend beide Hände aus - "Gott gegen Gott". Catharina folgt Jesus und bittet diesen, sie vor ihrem Vater zu retten, "seiner Liebe, seiner Tyrannei". 295 Vgl. earl Schmitt: Politische Theologie 11. Die Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie. Berlin 1970, 3. Aufl. 1990. S. 109 ff., zum folgenden 119, 115, 122 ff.
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Schmitt will in einem "Gegenbild" zu Blumenbergs Thesen seine Position deutlich machen. Dabei sieht er das dauernde Officium jedes wissenschaftlichen Erkenntnisstrebens darin, die reale Möglichkeit eines Feindes auch in einem restlos enttheologisierten Gegenbild noch zu erkennen: "Seine Umbesetzung aus der alten politischen Theologie in eine der Prätention nach total neue, reine Weltlichkeit und humane Menschlichkeit kritisch genau zu beobachten". Schmitt schließt mit der Frage, welcher Freiheit "die intensivste Aggressivität immanent" sei: "der wissenschaftlichen Wertfreiheit, der technisch-industriellen Produktionsfreiheit oder der Bewertungsfreiheit des freien menschlichen Konsums". Blumenbergs Denken führt für Schmitt das auf die Spitze, wovon er selbst sich absetzt. 296 Blumenberg (1920-1996) hat Jacob Taubes das Faktum mitgeteilt, dass er 1971 den Kontakt zu earl Schmitt (1888-1985) gesucht und gefunden habe. Was Taubes betrifft, so war es für Blumenberg "zunehmend inakzeptabel, dass sich Taubes' intellektuelle Energien in der Polemik gegen die Lebensleistung anderer erschöpften, ohne selbst Kritisierbares zustande zu bringen".297 In Blumenberg und Schmitt standen sich das Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft und der Mitgestalter dieser Herrschaft gegenüber; doch ging es Blumenberg darum, über die unterschiedlichen persönlichen Erfahrungen und Einstellungen hinaus zu der geschichtlichen Konstellation und zur sachlichen Problematik durchzudringen. So konnte er in seinem Brief vom 27. 4. 76 festhalten, es sei unsere Schwäche, dass wir die "pagane Sakramentalisierung des Selbstmords in unerreichbare Ferne" gerückt hätten. "Man muss da aber nicht nur an Seneca denken, sondern auch an Masada und Warschau". Beim Versuch des Verstehens müsse man wohl nachforschen "im Umkreis des Gedankens, das Martyrium habe etwas mit dem Erweis von Wahrheiten und dem Verdienst um sie zu tun". Blumenberg macht in seinem Brief vom 7. 8. 1975 aufmerksam auf den Kongress der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland von 1962 in Münster über Die Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt. Karl Löwith hatte dort den Text Das Verhängnis des Fortschritts vorgetragen. Hermann Lübbes Vortrag Säkularisierung als geschichtsphilosophische Kategorie (in erweiterter Form auch separat gedruckt) gehörte in einem Kolloquium zusammen mit Blumenbergs Vortrag "Säkularisation ". Kritik einer Kategorie historischer Illegitimität. Lübbe wies darauf hin, dass "Säkularisierung" als geschichtsphilosophischer Terminus analog verwendet werde zur rechts- und verfassungsgeschichtlichen Rede von der Säkularisierung geistlicher Güter und Länder. Blumenberg wollte die "dialektische Theologie" beiseite lassen, die (etwa bei Gogarten) die steigende Verweltlichung zum Anlass einer Säuberung des Glaubens von der Welt nimmt. Dieser theologischen Rede gegenüber stehe die Säkularisation als geschichtsphilosophische Kate296 a. a. O. S. 124, 126. 297 Vgl. Hans Blumenberg / earl Schmitt: BriefWechsel 1971-1978 und weitere Materialien. Hrsg. und mit einem Nachwort von Alexander Schmitz und Marcel Lepper. Frankfurt am Main 2007. S. 261.
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gorie: Der vom Kommunistischen Manifest verheißene Endzustand wird gefasst als Säkularisation des biblischen Paradieses; in ähnlicher Weise geht dem modernen Arbeitsethos die christliche Askese voraus, der Schuld die Sünde, der theoretischen Gewissheit die Heilsgewissheit, dem Völkerbund die endzeitliche Einheit der bekehrten Menschen, dem Laplaceschen Dämon die göttliche Allwissenheit, der Gleichheit vor dem Gesetz die Gleichheit vor Gott, usf. Die Legitimität soll beim primären Eigentum liegen. Blumenberg schiebt aber dieser Behauptung einer "Kulturschuld" die Beweislast dafür zu, dass es bei der Säkularisation zu einem Entzug der früheren Legitimität komme. 298 Dieser Beweislast wird nach Blumenberg nicht nur nicht genüge getan; sie wird nicht einmal gesehen. Die Eschatologie rede vom Einbruch eines Transzendenten in die Geschichte, die Fortschrittsidee extrapoliere aus der Struktur der vergangenen und gegenwärtigen Geschichte die Zukunft. Nach Bultmann sei sogar der zyklische Geschichtsprozess der Stoa im Christlichen auf eine Periode verkürzt worden und die biblische Eschatologie aus einem Grundmythos von der ständigen Welterneuerung hergeleitet worden. Für Blumenberg greift die geschichtliche Erwartung im Jüdischen nach dem babylonischen Exil zu "Kompensationen" für die zerstörte nationale Existenz; die christliche Naherwartung verweist den Einzelnen auf die Sorge um sein Seelenheil und fordert die Preisgabe der Bindung an die Welt. Da die christliche Naherwartung des Gerichts enttäuscht wurde, betete die Gemeinde bald nicht mehr um das Kommen des Herrn, sondern um einen Aufschub. Geschichtliche Spekulationen konnten sich nun auf Daniel und die JohannnesApokalypse stützen. Schließlich wurden die kosmische und die individuelle Eschatologie unterschieden. Die Fortschrittsidee war nur eine der möglichen Antworten auf die Frage nach dem Geschichtsverlauf; sie wurde hineingezogen in die Problematik der Eschatologie und dabei ausgeweitet zu einer "metaphysischen Aussage über die Totalität der Geschichte". Säkularisation kann als elemtare Erklärungsform geschichtlicher Vorgänge erscheinen, weil ganz heterogene Gehalte die gleiche Funktion in der menschlichen Welt- und Selbstdeutung annehmen; doch diese historische Identität ist nur ein "Schein". Seit den Griechen wurde das Problem der Unsterblichkeit für die abendländische Tradition wichtig. Es ist jedoch den biblischen Urkunden der vorexilischen Zeit unbekannt. Die christliche Theologie kleidete sich aber in die Sprache antiker Philosophie; so gab sie vor, deren Fragen zu beantworten. Die Neuzeit verstand sich nicht nur als Erbe, sondern beanspruchte selbsterzeugte Wahrheit. Diese Neuzeit durch Säkularisation zu bestimmen heißt, das mittelalterliche Problemverständnis übernehmen. Die Neuzeit besaß zwar nicht "das frisch-fröhliche Selbst-und Rechtsbewusstsein", das "Burckhardt seiner Renaissance verlieh und das Nietzsche allem Nachchristentum zutraute". Säkularisation als Kategorie historischen Verstehens ist ein Symptom unter vielen für die Unsicherheit des Le298 Vgl. die Referate von Lübbe und Blumenberg sowie das Protokoll der Diskussion in Die Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt. Hrsg. von Helmut Kuhn und Franz Wiedemann. München 1964. S. 221 ff., 240 ff., 333 ff. - Zum folgenden vgl. S. 243-249 und 251-255.
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gitimitätsbewusstseins der Neuzeit. Doch ist sie eine "theologisch bedingte Unrechtskategorie". Blumenberg macht z.B. gegenüber der "Toposforschung" (von Ernst Robert Curtius und anderen) geltend, dass sie für die Topoi als "Konstanten" der Tradition eine substantialistische Ontologie der Geschichtsdeutung voraussetze und darin mit der Säkularisationsthese übereinstimme. Der Anspruch der Neuzeit, radikal neu anzufangen, stehe im Missverhältnis zur Realtität der Geschichte, die nie ganz neu anfange. Doch lässt sich überhaupt die Neuzeit unter dem Titel "Säkularisation" als Derivat des Mittelalters und seiner Theologie begreifen? Hier liege das Problem der "Legitimität der Neuzeit". Ihm galt Blumenbergs Buch von 1966, auf das Schmitt aufmerksam wurde. Das Buch beginnt mit einem Hinweis auf die "Zweideutigkeit des Himmels". Dieser zeigt den Griechen die ewige Ordnung über allem sterblichen Leben hier unter dem wechselnden Mond. Nachdem Kopernikus die Erde um die Sonne kreisen ließ, konnte Nietzsehe von einer kopernikanischen Entwertung des Menschen sprechen. Diesem Nihilismus setzt Nietzsehe die Lehre vom Willen zur Macht entgegen. 299 Demgegenüber bezieht Blumenberg sich darauf, wie die ersten Menschen, die auf dem Mond landeten, die Erde sahen - als Ausnahme in den kosmischen Wüsten. "Es ist mehr als eine Trivialität, dass die Erfahrung, zur Erde zurückzukehren, nicht anders hätte gemacht werden können als dadurch, sie zu verlassen. Die kosmislche Oase, auf der der Mensch lebt, dieses Wunder von Ausnahme, der blaue Eigenplanet inmitten der enttäuschenden Himmelswüste, ist nicht mehr ,auch ein Stern', sondern der einzige, der diesen Namen zu verdienen scheint." Wegen der Weiten des Kosmos sei es trotz aller Bemühungen nicht zu erwarten, dass die Menschen Botschaften von anderen Sternen empfangen und verstehen, gar Kontakt mit Lebewesen auf anderen Sternen haben würden. Dass in den Ordnungen der Lebewesen, die Selbstbehauptung suchen, Bewusstsein und Erkennen aufbrechen, ist für Blumenberg auch ausnahmehaft. So kann er gegen Überlegungen, wie wir sie von Hans Jonas kennen, sagen: "Nachdem der größere Teil unseres Sonnensystems in deutlichen Funkbildern und instrumentellen Sondierungen ausgekundschaftet worden ist, trifft die zur Gefälligkeitsphilosophie herabgesunkene These von der Präformnation der Materie für Leben und Vernunft eher auf Skepsis. Nichts von dem, was da oben leuchtet, scheint das Leben zu ertragen oder gar unablässig der Vernunft entgegenzueilen." Blumenberg bezieht sich auch auf die Weise, in der Heinrich Heine sein Verhältnis zu Hegel darstellte. Heine bemerkte, er habe Hegel selten verstanden und sei erst durch späteres Nachdenken dazu gekommen, Hegels Worte zu begreifen. Es habe seinem jugendlichen Hochmut wohlgetan, "als ich von Hegel erfuhr, dass nicht, wie meine Großmutter meinte, der liebe Gott, der im Himmel residiert, sondern ich selbst hier auf Erden der liebe Gott sei". Heine behauptet sich zu erinnern, dass er als zweiundzwanzigjähriger Schwärmer (also 1820) gegenüber Hegel von den Sternen als dem Aufenthalt der Seligen gesprochen habe. "Der 299 Vgl. Hans Blumenberg: Die Genesis der kopernikanischen Welt. Frankfurt am Main 1975. S. 30, zum folgenden 293 [, 292, über Hege! und Heine 83 ff.
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Meister aber brummelte vor sich hin: ,Die Sterne, hum! hum! die Sterne sind nur ein leuchtender Aussatz am Himmel." Die Rede von den Sternen als Aussatz hatten die Schüler und Freunde Hegels als Zusatz aus Hegels Vorlesungen zum § 268 der Enzyklopädie gestellt. Im Zusatz zum § 341 bemerkte Hege!, man habe diese Äußerungen "in der Stadt herumgetragen". Jeder konnte diese Äußerungen also gedruckt lesen. Heine will auch von Hegel gehört haben, beim Menschen werde das erhabene Werkzeug der Zeugung auch beim Urinlassen gebraucht. Diese Formulierungen Hegels aber liest man in der Phänomenologie des Geistes am Schluss der Kritik der Physiognomie Lavaters und der Schädellehre Galls. Eine fundierte Weiterführung und Kritik Hegels finden wir bei Karl Immermann, der in Düseldorf sein Tätigkeitsfeld fand. Leider ist die Vielleserei Blumenbergs nicht durchgestoßen zu einer kritischen Beurteilung der Auseinandersetzungen um Hegel. 300 Aus den Publikationen von Hans Blumenberg und den Veröffentlichungen aus seinem Nachlass sei hier ein Buch herausgehoben, dessen Thematik vor allem einschlägig ist: Matthäuspassion von 1988. Darin legt Blumenberg dar, dass die Zuwendung zur Matthäuspassion von J. S. Bach ihren Höhepunkt erreichte, als die historische Evangelienkritik ihre Konsequenz zu dem Zweifel trieb, "ob es diesen Jesus von Nazareth je gegeben habe" (8rO I • Goethes Werther ließ sich noch durch Homer zur Natur führen, ehe er Homer durch Ossian ersetzte. Doch dann zerlegte Friedrich August Wolf Homer in viele Autoren; Ossian erwies sich als eine Fälschung, die zeitgenössischer Sentimentalität diente (21). Nicht erst der "gnostische Schöpfer-Erlöser-Dualismus Markions" habe die Identität des Gottes, der aus der Bibel sprechen sollte, aufgelöst. Das Identitätsrätsel sei mit dem Schöpfergott schon gegeben gewesen (24). Blumenberg wird nicht müde, polemisch auf die theologisch-philosophische Situation in Marburg nach dem Ersten Weltkrieg zu verweisen: Rudolf Buhmann habe die Offenbarung auf ein "trotziges Dass-überhaupt" reduziert, um aus ihm herauszuholen, was er an Heidegger (also an Existenzanalyse) in sie eingebracht habe (39 u.ö.). Überraschender Weise reflektiert Blumenberg seinen eigenen Weg nicht so, dass er von der Dissertation zur Habilitation fortschreitet, also mit dem Ausgang von der Seinslehre beginnt. Er trägt vielmehr vor, was er als Kindheitserinnerung reklamiert: Im Lübecker Gymnasium an Sankt Katharinen hätten die Schüler (schon Thomas Mann) in der Aula auf die Reformatoren Luther und Bugenhagen blicken können, vor allem auch auf den Spruch "Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang" (28). Diese Furcht habe angeleitet zur Furcht vor den Lehrern. Doch will Blumenberg schon als Kind eine andere Lesart gefunden haben, die
300 Vgl. dazu die verschiedenen Artikel in Düsseldorf in der deutschen Geistesgeschichte (17501850). Hrsg. von Gerhard Kurz. Düsseldorf 1984. 301 Die Zahlen im Text hier und im folgenden beziehen sich auf die Seiten von Hans Blumenberg: Matthäuspassion. Frankfurt am Main 1988.
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dann der Tenor seiner Theologie geblieben sei, "sofern sie diesen Namen verdient". "Der gnostische Lehrer Justinus beschreibt das Entsetzen, das den Weltherrn packt, als er erkennen muss, dass er nicht der Gott des Alls war, nicht einmal nur einen Gott neben sich, sondern eine Übergottheit über sich hatte, die als Weisheit ihm genügend Weisheit induzierte, um seine Furcht in jene Bewunderung umschlagen zu lassen, die die Griechen - die hier immer auch im Spiel sind - die Weisheit entdeckt haben ließ." Als Blumenberg als "alter Mann" auf die gnostischen Texte stieß, die bei Nag Hammadi in Oberägypten gefunden worden waren, sei ihm klar geworden, in welcher "guten Gesellschaft von Häretikern" er sich befunden habe. Blumenberg verweist zusätzlich auf Schopenhauer, der die Furcht des Herrn als dessen Furcht vor den Menschen fasste (30 f.). J. S. Bach lässt seine Gemeinde mit Tränen sich über der Grabesruhe Jesu niedersetzen und gibt so gegenüber der erfahrenen Geschichte eine "Erleichterung" (36). Bach ist theologisch "großzügig": "In einer geradezu ökumenischen Vernachlässigung von Besonderheiten der reformatorischen ,Rechtfertigung' ist Bachs Passion vom Begriff des stellvertretenden Leidens des Lammes für die Seele durchzogen und belebt." (45) Das Lamm ist als das unschuldige, noch nicht geschlechtsreife Tier zum Opfer bestimmt. Doch wird das Opferlamm des PassahMahles Jesu und seiner Jünger ersetzt durch die Eucharistie von Brot und Wein. Die Opfer haben in Christus ihr Ende erreicht. In Zukunft weidet der gute Hirte seine Schafe, die nicht mehr geopfert werden (so auf einem Mosaik in Ravenna). Bachs Vorliebe für den guten Hirten spricht aus seinen Kantaten (65 f.). Blumenberg bedenkt, wie Nietzsche und Rilke die Matthäuspassion hörten. Ludwig Wittgensteins Schwester habe beim Hören der Passion gedacht, ihre Mutter wäre nicht (wie die Jünger auf dem Ölberg) eingeschlafen (75). Hans Carossa konnte als Knabe nach der Bastelei an einer Krippe wenigstens in einem Fieberwahn sagen: "Nie wird dies Kind gekreuzigt werden ... "(80) Diese Hoffnung wird schon durch die Erzählung vom Paradies zerstört: Gott möchte nicht durchschaut werden, denn jemanden durchschauen heißt, seinkönnen wie er. Wenn Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, werden sie aus dem Paradies ausgestoßen in das Leben von Sterblichen. Die Kürze der Lebenszeit veranlasst den Menschen, nichts von dem entbehren zu wollen, was der andere hat. Der Mensch ist nicht Herr über Leben und Tod. So hat er die Todesstrafe schlließlich aufgegeben. Der Mensch kann aber auch nicht durch Kunstfertigkeit das Leben ohne Maß erhalten (98). Muss der Mensch Gott nicht "großmachen" (gemäß dem Magnificat der Maria beim Besuch Elisabeths)? Nach E. M. Cioran sehen wir Gott "aufkeimen" und "existieren", wenn wir Bach hören. "Sonst wäre das gesamte Werk des Kantors eine zerreißende Illusion." (109) Schließlich kommt Blumenberg auf die Ablehnung der These zurück, die Idee der Großen Revolution in Frankreich sei das Säkularisat des Messianismus (273). Aus der Diskussion über Kafka zwischen WaIter Benjamin und Gerschom Scholern nimmt Blumenberg die Ablehnung des "revolutionären Illusionismus des Freundes Benjamin" durch Scholem auf (276). Die RomaufenthaIte Sigmund
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Freuds zeigten, wie er erst nach einigen Hemmungen mit und gegen das zweite, das christliche Rom sein "Heil" darin sah, der Heiland seiner Psychoanalyse zu sein (282). Blumenberg geht auf die Rede von der nicht vergebbaren Sünde gegen den Geist ein: Die Furcht, diese Sünde zu begehen, lässt "eschatologisch" verzichten auf weitere gewährte Weltzeit (290). Das abschließende Kapitel handelt über die "Exzesse des Philosophengottes" . Im Mythos kann jeder triumphierende Gott durch einen größeren überwunden werden. Der philosophische Gott scheint dieser Prozessform des Mythos näher zu stehen als der Geschichte des theologischen Dogmas. Wenn nach Anselm von Canterbury Größeres nicht gedacht werden kann als Gott, so kann dem Wesen Gottes die Existenz nicht mangeln. Die Mystik springt dann ins "Denkjenseitige". Der Spinozismus und Pantheismus setzt die Welt selbst als Gott (297 ff.). Das Erdbeben von Lissabon verweist auf das Scheitern der Theodizee. Doch gibt es nach Blumenberg eine weitere Eskalation Gottes: "Die Erhabenheit der Gottesidee zeigte sich erst am festgestellten, unbetrauerten und dennoch unverwundenen Gottestod." Gott ist als gewesener wirklicher "denn als vermeintlich beweisbarer und heilsnorwendig geglaubter" (301). Als sich die Apokalypse nicht erfüllte, war der leibliche Gott gestorben, aber die Welt war geblieben. Der Ausdruck "Passion" hat im Lateinischen die im Deutschen nicht nachbildbare Doppeldeutigkeit von Leiden und Leidenschaft. "Nur als Mensch, durch Menschwerdung, sollte Gott gelitten haben können. Aber die Eskalation Gottes zu betreiben scheint - aufs Ganze der Geschichte von Mythos und Religion betrachtet - so erwas wie die ,Leidenschaft' des Menschen zu sein." Noch einmal wird Cioran, "der nachlebende Wortführer aller Misanthropen" , zitiert für die Feststellung, es sei das historische Schicksal des Menschen, die Idee Gottes an ihr Ende zu führen (307). In diesen Ausführungen über die Matthäuspassion lesen wir: "Die meisten Dinge in der Welt geschehen zur Vermeidung der Langeweile" (88). Der Satz ist eine Art von Aphorismus, der schlaglichtartig eine Seite unseres In-der-Welt-seins erhellt. Freilich bedarf er anderer Schlaglichter für den Gewinn einer breiteren und ausgewogeneren Sicht. Wenig überzeugend ist die Polemik gegen den Eingangschor, der Jesus als das geopferte Lamm sieht und dabei "Lamm" auf "Bräutigam" reimt (60). Nach Blumenberg hinterlässt die Matthäuspassion die Gemeinde "in Trauer und Tränen, nicht in Hoffnung und Gewissheit" (231). Andreas Großmann bringt diese Worte zusammen mit der Rede Karl Barths von der Matthäuspassion als einer einzigen "Trauerode". Doch macht er geltend, das cmoll des Schlusschores sei mit den c-moll-Partien des ersten Teils zusammenzuhören. "Dann ergibt sich auch ein ganz anderer Sinn als der von Blumenberg und Barth nahegelegte. Nicht dunkle, ungewisse Trauer kann dann mit der Tonart cmoll zum Ausdruck gebracht sein, sondern eine Trauer, die der Osterfreude entgegensieht, bzw. sich von ihr aus artikuliert (weshalb Bach den Chor ja auch als Sarabande komponiert)." Das Wachen mit Jesus in Gethsemane gelange zur Erfüllung im Sich-Niedersetzen der trauernden Gemeinde am Grabe des toten Jesus. So schlage sich ein Bogen zum Eingangschor, "wo Bach in dem in das dop-
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pelchörige Gewebe eingeflochtene Choral ,0 Lamm Gottes, unschuldig' das Thema der ganzen Passion exponiert hat".302 Nach Blumenberg erfährt der Hörer beim "Verzweiflungsanruf des Eli, Eli" den "sich selbst preisgebenden, ja aufgebenden" Gott. Doch betet Jesus als frommer Jude im Sterben den Psalm 22. Zu den Schriften, die Blumenberg selbst veröffentlichte, tritt ein Nachlass von 30000 Karteikarten (etwa gegenüber 20000 Karteikarten von Niklas Luhmann). Auf einer Tagung in Marbach wurde 2007 die Frage erörtert, wie Blumenberg zu edieren sei. Die Edition des Briefwechsels mit Carl Schmitt bläht die 56 Seiten der wenigen Briefe und ihrer Kommentierung auf durch Materialien aus Blumenbergs und Schmitts gedruckten und ungedruckten Schriften und durch ein Nachwort über Differenzen und "Spuren des Gemeinsamen" bei Blumenberg und Schmitt. So entsteht ein Band von 310 Seiten. Unklar bleibt schon, ob Blumenbergs Sigle UNF auf "unerlaubte" oder "unfertige" Fragmente verweist. Einer der Herausgeber, Marcel Lepper, leitet in Marbach die Arbeitsstelle für die Erforschung der Geschichte der Germanistik. Steht diese Arbeitsrichtung (unter dem Direktorat von Ulrich Raulff) nicht in der Gefahr, wie die neue NietzscheEdition die Werke zugunsten des Nachlasses zu diskretieren und das Geschriebene überhaupt in das unruhige persönliche Leben und Erleben des Autors einzufügen? Die Marbacher Tagung zeigte unterschiedliche Zugänge zu Blumenberg: Manfred Sommer, einst Blumenbergs Assistent, möchte zu den "Einsichten" Blumenbergs führen. Anselm Haverkampf findet bei Blumenberg den Kampf gegen Schmitt, Gadamer und Joachim Ritter, der eine Parallele zu französischen Theoriediskussionen zeige. Blumenbergs Tochter Bettina spricht von der Liebe ihres Vaters zur Camouflage. "es hat ihn diebisch gefreut, dass die Leute sich die Köpfe heißreden".303 Jedenfalls kann keine Rede davon sein, dass Einverständnis darüber herrsche, wie Blumenberg zu lesen und vorweg zu edieren sei. Die Weise, wie Blumenberg immer wieder auf die Marburger Zusammenarbeit von Bultmann und Heidegger zurückkommt, ist schon so etwas wie eine Obsession, die Albernes nicht auslässt. Nach dem angeführten Bericht hatte Blumenberg einen Würfel, auf dem zur Täuschung der Erwartung eine Seite mit einem Heidegger-Foto beklebt war. Doch bleibt unerörtert und wohl unbekannt, wie die Existenzanalyse von Heidegger in eine Seinsgeschichte eingebettet wurde. Die Genesis der kopernikanischen Welt zitiert, dass Schelling im Bruno die Welt als Organismus zu sehen versucht, Hegel diese Sicht kritisiert, Heine aber "Pantheismus" als "verborgene Religion Deutschlands" fasst (S. 449 ff.). Um der leitenden Thematik willen hätte aufgenommen werden müssen, dass Schelling in seiner Freiheitsschrift das zu unterscheiden und zu einen versucht, was in Gott nur Grund ist und was er selbst ist. Heidegger hatte diesen Gedankengang 1936 aufgenommen, später aber Schelling in seine Seinsgeschichte eingeebnet. Was an 302 Vgl. Andreas Großmann: ,,Aus Liebe will mein Heiland sterben". Zur Theologie von J. S. Bachs Matthäus-Passion. In: Kerygma und Dogma. 40 (1994/1). S. 65 ff., vor allem 77. 303 Vgl. den Bericht von Patrick Bahners über die Marburger Tagung: In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 12. 12.2007.
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Heideggers Bemühungen um den Deutschen Idealismus zählt, bleibt ganz außerhalb von Blumenbergs Aufmerksamkeit. Auf Blumenbergs Zusendungen antwortet Carl Schmitt (etwa am 25. Juli 1978) freundlich, doch auf inhaltliche Fragen, etwa auf die Differenz zwischen Nikolaus von Kues und Giordano Bruno, geht Schmitt nicht ein. Gegenüber Schmitts Sicht der ständig neuen Neutralisierungen in der Geschichte bis hin zum Nihilismus verteidigt Blumenberg die Legitimität der Neuzeit und ihres Ansatzes in der Kraft des Ichs. Hier muss dann gefragt werden, ob der Ansatz des Nikolaus von Kues, vom Mittelalter zur Neuzeit zu führen, misslungen ist. Gegenüber dieser Unterstellung von Blumenberg lässt sich die Weise anführen, in der Heinz Heimsoeth die großen Themen der Metaphysik vorführte und durchaus auch mit Hegel verband. Heinrich Rombach suchte zu zeigen, wie Meister Eckhart und Nikolaus von Kues in eine Neuzeit führten, die ihr Ziel nicht im Deutschen Idealismus habe, sondern in einem Denken der Struktur (das dann auch den neuen Strukturalismus aufnehmen könne). Bei Heidegger bleibt Nikolaus von Kues freilich eine Leerstelle; gerade deshalb hat Hans-Georg Gadamer seinen Schüler Karl-Heinz Volkmann-Schluck über Nikolaus von Kues arbeiten lassen. An dieser Zuwendung beteiligten sich viele weitere Autoren. 304 Hier mag nur darauf hingewiesen werden, dass Jens Halfwassen die Arbeit von Werner Beierwaltes aufnimmt und fortführt. In methodischer Hinsicht kritisiert Blumenberg die "Toposforschung" von Ernst Robert Curtius als Suche nach "Konstanten" in der antiken und europäischen Literatur. Doch hatte Erich Auerbach, der romanistische Gegenspieler von Curtius, die figurale Allegorese, etwa der Deutung des Isaak als Vorbild Christi, mit dem Neapolitaner Vico verbunden. Dieser war auch für die juristische Methodenproblematik ins Spiel gebracht worden. Doch fiel Vico für Curtius und für Blumenberg aus (die Genesis der kopernikanischen Welt nennt nur den Namen, S. 427). Wenn Joachim Ritters Historisches Wörterbuch der Philosophie sich streng auf die Begriffe beschränkt, dann stellt Blumenberg zu diesem Ansatz seine Metaphorologie. Lange Zeit waren die Metaphern für die Philosophie Restbestände, die auf dem Weg zum Begriff übrigblieben. Demgegenüber verweist Blumenberg auf die "absoluten Metaphern", die die Begriffsbildung erst möglich machen, selbst aber nicht in Begriffe überführbar sind. Muss nicht gezeigt werden, wie die Philosophie aus der rhetorischen Tradition sich emanzipiert, das Denken aber immer schon dem Dichten gegenübersteht?305 304 Vgl. Heinz Heimsoeth: Die sechs großen Themen der abendländischen Metaphysik. 1922 u.ö.; Heinrich Rombach: Substanz, System, Struktur. 2. Aufl. Freiburg / München 1981. - Zum folgenden vgl., wie Jens Halfwassen in einer Fülle von Aufsätzen sein großes Werk: Hege! und der spätanrike Neuplatonismus (Bonn 1999) fortführt. 305 Vgl. Hans Blumenberg: Paradigmen zur Metaphorologie. 1961 und Frankfurt a. M. 1998. Vgl. dazu auch meinen Beitrag Dialektik und Topik zur Gadamer-Festschrift Hermeneutik und Dialektik. Hrsg. von R. Bubner, K. Cramer, R. Wiehl. Tübingen 1970. Band Il. S. 273 ff. Vgl. ferner Hans Ulrich Gumbrecht: Dimensionen und Grenzen der Begriffgeschichte. München 2006. Zum schnellen Aufsteigen der begriffsgeschichrlichen Forschung wird dort ein plötzliches Abebben gestellt.
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Da Carl Schmitt sich für den Bezug zur Neuzeit auf Blumenberg als Gegenspieler bezog, konnte dieser ihn als Gesprächspartner wählen. Dabei ging es ihm nicht um die Positionen von Personen in einer bewegten Geschichte, sondern um die grundlegenden Konstellationen und um den Sachbezug darin. Es musste Blumenberg "genieren", dass Carl Schmitt in der "Phase eines neuen Cäsarismus" das Verbot betrieb, jüdische Autoren zu zitieren. Doch konnte er ironisch darauf hinweisen, dass Schmitt selbst als Angeklagter im Nürnberger Prozess einen Juden zitierte. 306 Als Hans Blumenberg 1996 in den Tod ging, hinterließ er eine Sammlung von kleineren Texten unter dem Titel Ein mögliches Selbstverständnis. Darin macht er keine Konfessionen, spiegelt sich aber in anderen, so im Bericht, dass Helmut Schmidt als Bundeskanzler 1980 seinem Staatsgast Valery Giscard d'Estaing im Fonds des Autos anvertraute, sein Vater sei Jude gewesen, was bei ihm, Helmut Schmidt, in der Zeit des Nationalsozialismus Angst ausgelöst habe. Hat Blumenberg nicht seine wirkliche Lebensgeschichte in schwerer Zeit ausgelöscht zugunsten einer exemplarischen Bemühung um Überwindung aller Theologie durch den selbstbestimmten Menschen? Karl Löwith stellte in seinem Buch Weltgeschichte und Heilsgeschehen das zyklische Geschichtsdenken der Griechen der linearen Geschichtsauffassung gegenüber, wie sie aus dem christlichen Glauben erwuchs. Dagegen zeigte Michael Landmann, dass Herder und die Historische Schule eine dritte Geschichtsmetaphysik entwickelt hätten, die Metaphysik eines geschichtlichen Absoluten. Nur im offenen Nebeneinander der Kulturen sei der Sinn der Geschichte zu finden. Dabei verwies Landmann, jüdischen Kreisen entstammend, auf die Arbeiten Erich Rothackers, der aus einem durchaus anderen weltanschaulich-politischen Kontext kam, Doch diese unterschiedlichen Ausgangspunkte konnten in der Sachdiskussion keine Rolle spielen. 3D7 Carl Schmitt unterschied schon 1950 in Bezug auf die englischsprachige Ausgabe von Löwiths Buch Drei Möglichkeiten eines christlichen Geschichtsbildes. Er verwies darauf, dass man in der Französischen Revolution in gegensätzlicher Weise auf antiken Vorbildern bestand, dass der Sozialismus mit dem "neuen Christentum" von Saint-Simon einsetzte, Jakob Burckhardt sich durch Ernst von Lasaulx für diese Parallelisierung gewinnen ließ. Kyklisches wie eschatologisches Denken fänden in dieser Parallelisierung den Beweis für das Ende einer erschöpften Zeit. "Das kyklische Denken knüpft daran die Folgerung eines neuen Weltjahres, das progressistische Denken folgert die spiralförmige Steigerung einer vollkommeneren Zeit, das eschatologische aber die Erwartung des unmittelbaren Endes." Für den Christen blieben die Kernereignisse des Auftretens Christi in "unveränderter Präsenz lebendig". Doch ist für Schmitt der oder das katechon des zweiten Thessalonicher-Briefes zentral. Schon das mittelalterliche Kaisertum habe sich als Aufhalter des Endes verstanden; Calvin halte nicht mehr das Reich, sondern die Predigt für den entscheidenden Auf306 Vgl. Blumenberg I Schmirt (s. Anm. 297). S. 188 ff. - Zum folgenden vgl. Hans Blumenberg: Ein mögliches Selbstverständnis. Sturtgart 1996. S. 22. 307 Zu Landmann s. Anm. 244.
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halter. So habe Hans Freyer in seiner Weltgeschichte Europas "haltende Mächte" aufzeigen können. Schmitt kann gegen Löwith verweisen auf die Einmaligkeit der Inkarnation Christi in der Jungfrau, an seine Anfänge anknüpfen und auf das "marianische Geschichtsbild" des Dichters Konrad Weiß verweisen. 30s Schmitt schritt seine eigenen Wege aus, doch gab es dabei nicht zu erwartende Begegnungen. So hatte Walter Benjamin 1930 sich an Schmitt gewandt. Jacob Taubes wollte 1977 Benjamins Brief, 1970 von Hans-Dietrich Sander in seiner Dissertation mitgeteilt, einem breiteren Publikum zugänglich machen. Der Brief sollte in einem Suhrkamp-Band zusammentreten mit der Kontroverse SchmittPeterson. Hans Blumenberg sollte ein Vorwort schreiben. Doch dieser wehrte sich dagegen, die Gedankenspiele von den Listen der Vernunft oder des Hegelschen Weltgeistes fortzusetzen. "Meine Abneigung gegen dieses Denkmuster ist unüberwindlich", so schrieb er am 18. 12. 1977 an Schmitt. Blumenberg macht in seinem Buch Die Genesis der kopernikanischen Welt (S. 439) darauf aufmerksam, dass Giordano Bruno im Gefängnis ermahnt wurde, abzulassen von Wahnvorstellungen wie der von der Vielheit der Welten. ,,Aber noch auf dem Scheiterhaufen wird die Grundfigur des christlichen Selbstverständnisses, Gott habe sich auf die Singularität des Menschen im Universum und auf seine Rettung gegen die Welt eingelassen, für Bruno zu dem Ärgernis, das ihn dazu bestimmt, sich von dem ihm vorgehaltenen Crucifixus abzuwenden." In einer Anmerkung verweist Blumenberg darauf, dass der "jüdische Religionsphilosoph Franz Rosenzweig" in einem Brief von 1917 die Einmaligkeit der Offenbarung gegen den Kopernikanismus stelle. Immer noch lieben es die Touristen in Neapel, aus der Ferne zuzuschauen, wenn nach dem Ende eines Marktes die Händler ihre leeren Kisten und Kasten beim Denkmal des Giordano Bruno verbrennen und dieser noch einmal herausragt aus einem Flammenmeer. Als 2007 die Trierer Ausstellung Konstantin der Große stattfand, wurde sie von der Giordano-Bruno-Stiftung durch eine Gegenausstellung verhöhnt; dabei vertrat z.B. der Wissenschaftstheoretiker Hans Albert das monistische Weltbild. 309 Der Gegensatz zwischen Meister Eckhart und Nikolaus von Kues auf der einen und Giordano Bruno auf der anderen Seite reicht also hinab in weltanschauliche Kämpfe unserer Zeit. Damit darf man Blumenbergs Analysen nicht belasten. Doch kann umgekehrt auch nicht davon ausgegangen werden, durch Blumenberg sei Rosenzweig oder sei Joachim Ritter überholt. Vielmehr muss gefragt werden, wie Rosenzweig in den Jahren um den Ersten Weltkrieg, Ritter in den Jahren um den Zweiten Weltkrieg sich auf Europa und die "Europäisierung" der Welt bewgen haben.
308 Vgl. Blumenberg Schmitt (s. Anm. 297). S. 161 ff., zum folgenden 152 ff. 309 Vgl. dazu den Bericht von Thomas Thiel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 21. 7. 2007: Wir pfeifen auf den Kaiser, auf Kirche, Staat und Gott. Wir lachen lieber dreckig und suhlen und im Spott. Eine Gegenausstellung zur Trierer Konstantin-Schau.
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3. Europäisierung als Problem (Franz Rosenzweig, Joachim Ritter) Im Sommer 1914 galten in Sarajewo die Schüsse eines nationalistischen Extremisten nicht nur Menschen; sie trafen im österreichischen Thronfolgerpaar die politische Ordnung Europas. Ein Feuerfunke aus balkanischen Querelen brachte das Pulverfass, zu dem Europa geworden war, zur Explosion. In den Kriegen mit Napoleon hatte sich endgültig jene Pentarchie stabilisiert, die England und Frankreich, Österreich-Ungarn, Preußen-Deutschland und Russland als führende Mächte auszeichnete. Nach einigen Krisen, die noch bewältigt worden waren, schien es so, als müssten diese Mächte wie einst Griechenland und Persien im Kampf auf Leben und Tod über den Weg in die Zukunft entscheiden. Als die unseligen Phantasien der ersten Kriegsliteratur obsolet geworden waren, stellte Franz Rosenzweig 1917 unter dem Titel Globus die Konzeption einer neuen weltgeschichtlichen Ordnung vor. Er machte ernst damit, dass es nun nicht mehr um Völker oder Nationen ging. Die "Nibelungentreue", mit der PreußenDeutschland sich 1914 an die Seite von Österreich-Ungarn gestellt hatte, habe auf die neuen Weltreiche, die übernationalen Großräume verwiesen. Rosenzweig hatte bei Friedrich Meinecke promoviert mit einer Arbeit, die unter dem Titel Hegel und der Staat zu einem Standardwerk wurde. Doch hatte er selbst den Ersten Weltkrieg als eine neue Sintflut erfahren. Er nahm Gedanken auf, die Friedrich Naumann 1915 in seinem Buch Mitteleuropa entfaltet hatte. Doch meinte er, die antienglische Flottenpolitik des Admirals Tirpitz schließe sich nun über Österreich-Ungarn mit dem Interesse an Südeuropa zusammen. Nach Naumann setzten sich die Nachfolger der rheinischen Unternehmer aus dem Vereinigten Preußischen Landtag von 1847 gegen die preußischen Junker und die konservative Kreuzzeitung durch. Nach Rosenzweig integrierte der Krieg den staatlich denkenden Sozialismus und über die österreichischen Akzentuierungen auch die katholische Zentrumspartei in ein soziales Ganzes. Damit aber stelle sich eine neue Kultur gegen den Maschinenstaat, nämlich gegen die bloße Zivilisation im Weltreich der Engländer, dem die Franzosen sich angeschlossen hätten. Neben diesem Westen und neben Mitteleuropa und Russland zeige Ostasien mit der Führungsrnacht Japan den Ansatz zu einer Weltmacht; dazu komme Nordamerika. Rosenzweig sah als Soldat an der mazedonischen Kriegsfront im Bündnis der Mittelmächte mit der osmanischen Herrschaft in der Türkei nicht nur den Brückenschlag von Europa zum Vorderen Orient, sondern auch hin nach Afrika. Doch gestand er, dass ihm die Kraft des Islams zur Weltgestaltllng dunkel bleibe. Ein Feuilleton-Artikel vom Juni 1917 Die neue Levante sah im Fall von Byzanz 1453 eine Epochenscheide. Der Islam wurde damals längst nicht mehr von Arabern vertreten, welche die antike Philosophie aufnahmen und diese dem christlichen Europa vermittelten. In Europa verstärkten die Flüchtlinge aus Byzanz endgültig den Weg in eine "Neuzeit". Sicherlich hatten die Türken dann Europa be-
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droht; doch das oft besiegte Europa hatte den Siegern sein Lebensgesetz auferlegt. Das frühere Bündnis Frankreichs mit den Türken erschien ebenso verständlich wie das nunmehrige Bündnis der Mittelmächte mit dem Osmanenreich. Doch sei das türkische Reich eine Herrschaft über viele Völker geblieben; der Nationalgedanke aus der europäischen Geschichte müsse in dieses Reich noch ebenso eindringen wie der politische Realismus. Die Einführung des christlichen Kalenders weise auf eine weltgeschichtliche Veränderung hin, die seit langem im Gange gewesen sei. Rosenzweig formuliert: "Eine Türkei, die mit Europa zusammengewachsen ist, wird das Forum einer Europäisierung finden müssen, die ihr nicht das innerste Wesen ankränkeln darf. Sie wird eine ihr bisher fremde sichere Zweiheit in sich schaffen - schon dies obwohl ein Mittel gegen die Europäisierung doch selber ein Stück Europäisierung." Die Türkei mit ihrer Brückenfunktion gebe auch jenem Brückenschlag eine politische Relevanz, den Goethe in seinem West-östlichen Divan von der Dichtung aus versucht habe. 3lO Rosenzweig erkannte durchaus, dass die Weltgeschichte auf ganz neue Wege kommen könne. So hielt er fest, dass Japan und Amerika sich "herumdrehen" könnten. Sie würden sich dann nicht mehr auf Europa ausrichten, vielmehr vorrangig aufeinander beziehen. Doch blieb Rosenzweig Hegelianer darin, dass er weder Ostasien mit Taoismus und Zen-Buddhismus noch Indien als Partner Europas anerkannte. China und Indien werden gegenüber dem Weg vom IranischJüdischen und von der Auseinandersetzung mit den Göttern Griechenlands ein primitives Voraus zu Europa hin. Unterlag Rosenzweig nicht auch jener folgenreichen Unterschätzung des Islams, wie sie sich seit Hegel entfaltet hatte?311 Europa war die Mitte der Welt, aber nicht die Seele der Welt, da es noch nicht zu sich selbst gefunden hatte. Rosenzweig zweifelte, ob der Krieg zu Recht sofort als Weltkrieg angesprochen worden sei. Doch brachte das Jahr 1917 den Eintritt Amerikas in den Krieg und die Revolution in Russland. Die neue soziale Integration, die Rosenzweig sich erhofft hatte, wurde abgelöst durch den Weltbürgerkrieg der Ideologien. Mit dem Untergang des Osmanischen Reiches und des Habsburger Reiches waren die integrativen Kräfte in Mitteleuropa und im Vorderen Orient weggefallen. So sah Rosenzweig sich schließlich in einer neuen Sintflut. Er hatte teilgenommen an jener Besinnung auf Hegel, die votzüglich in Heidelberg im Schatten der Toleranz Max Webers entfaltet worden war, aber schließlich in einer großen Heimkehr verschiedenster Art das Neue in einem Alten gefunden hatte: bei Hamann oder Kierkegaard, beim späten Schelling oder bei Marx. 312 Rosenzweig selbst hatte zurückgefunden zum jüdischen Glauben. So zog er sich nun auf einen innersten Bereich zurück, indem er in der verbleiben310 Vgl. Franz Rosenzweig: Gesammelte Werke. Dordrecht I Boston I Lancaster 1978 ff. Band III. Zweistromland. S. 309 ff., vor allem 312; S. 313 ff. : Globus; vgl. vor allem 366. Vgl. ferner 301 Er. den Artikel Nordwest und Südost, vor allem 303 f. Zum folgenden vgl. aus Globus S. 367 f. 311 V gl. Otto Pöggeler: Ausgrenzung des Islam? Die Regensburger Papstrede im Kontext philosophischer Islamkritik. In: Rosenzweig Jahrbuch 2: Kritik am Islam. Freiburg I München 2007. S. 211 ff. 312 Vgl. zum einzelnen Honigsheim (s. Anm. 44).
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den Lebenszeit mit Martin Buber die hebräische Bibel neu ins Deutsche übersetzte und dabei das Sprachereignis "Hölderlin" nicht überging. Nicht Hegef und der Staat, sondern der große Entwurf Der Stern der Erlösung enthält Rosenzweigs "neues Denken". Als philosophische Hinleitung gilt darin das alte Hen kai pan: Von Jonien bis Jena sollte alles, was ist, in eine übergreifende Einheit zurückgestellt werden. Doch von Goethe bis Nietzsche habe das Individuum sich gegen die Einheit erhoben, die in Totalitäten entfaltet wurde. Der existierende Einzelne müsse sich aber für den Anderen öffnen und sich so der unabgeschlossenen Geschichte aussetzen. Der christliche Glaube habe diese Geschichte zu durchdringen versucht (so dass Goethe ihm zugerechnet werden kann). Dagegen stelle der jüdische Glaube seit dem Untergang des jüdischen Staates sich quer zur Geschichte, statt in ihr unterzugehen. Kann die Erfahrung des Anderen biblische Grundbegriffe wie Offenbarung, Wunder und Liebe rechtfertigen? Nach Rosenzweig zeigt eine theologiegeschichtliche Überlegung, dass das "Wunder" nicht Magie ist, sondern für die Möglichkeit des Anderen und der Zukunft einsteht. Das Hohe Lied verweise mit dem Satz "Stark wie der Tod ist die Liebe" den Einzelnen über Tod und Liebe an den Anderen. Herder und Goethe hätten gegen eine Jahrtausende alte Allegorisierung das Hohe Lied als weltliches Liebeslied gefasst; wenn aber der liebende Hirte in der Hochzeitswoche "König" sein dürfe, verweise die Liebe aus sich über das Verhältnis zwischen Zweien hinaus: Ein ganz Anderes gehe an dem Einen und dem Anderen vorbei, indem es jedem seinen Platz anweise. Diese Auffassung hat Rosenzweig brieflich auch gegenüber Bubers "Dialogik" verteidigt. Als die Lettre sur fes desirs von Hemsterhuis in der Rezeption von Herder und Jacobi auch Tübinger Theologiestudenten wie Hölderlin und Hegel erreicht hatte, formulierte Hegel in seinen Frankfurter Jahren seine Grunderfahrung mit Worten der Julia aus Shakespeares Tragödie: "Je mehr ich gebe, um so mehr habe ich." Rosenzweig stellte diese Grunderfahrung Hegels nicht wieder her. Er wollte mit seinen Freunden von Schellings später, der "erzählenden" Philosophie ausgehen. So erschien es ihm möglich, die jüdische Grunderfahrung in die deutsche Sprache aufZunehmen und dabei verstellende Traditionen zu durchbrechen. Rosenzweig schrieb 1921 an Gerschom Scholem, Cohens Worte "Idee" und "Korrelation" könnten nie heimkehren; sie könnten nicht ganz jüdisch werden, weil sie nie ganz deutsch gewesen seien. Er formulierte: "Vom ,Heil' führt zum Sha10m ein sichererer Weg als etwa von der Idee oder ihrem Abkömmling, dem ,Moralischen'." Als Heidegger 1928 in Davos mit Ernst Cassirer diskutierte, schrieb Rosenzweig von "vertauschten Fronten"; nicht der Cohen-Schüler und Neukantianer, sondern Heidegger mit seinem Ausbruch aus der Tradition sei der rechtmäßige Nachfolger Cohens, der in seinen späten Bemühungen um eine Religion aus den Quellen des Judentums noch nicht die entscheidenden Worte gefunden habe. 3I3 Der frühe Tod bewahrte Rosenzweig vor der Erfahrung, dass die Aus313 Vgl. Rosenzweig (s. Am. 310), S. 235 ff. - Über Rosenzweig und Hege! vgl. Sh. Avineri, O. Pögge!er und Sr. Moses in: Der Philosoph Franz Rosenzweig. Internationaler Kongress
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richtung auf Volk und Heil pervertiert werden konnte in einem Kampf um Weltherrschaft von einem kontinentaleuropäischen Imperium aus. Carl Schmitt suchte die neue Großraumpolitik juristisch auszugestalten; eine Formation wie die SS verstand sich mit ihren Mitgliedern aus den europäischen Nationen als eine europäische Avantgarde. Es verwundert nicht, dass Rosenzweigs Aufzeichnungen Globus mit ihrem Blick auf Mitteleuropa, aber auch auf die Türkei, den Islam und eine neue Weltordnung fast siebzig Jahre im Nachlass verblieben, obwohl Rosenzweig testamentarisch den Druck gewünscht hatte. An den lebhaften Diskussionen von Davos nahm auch Emmanuel Levinas teil. Der Sohn einer jüdischen Buchhändlerfamilie aus Litauen war in Straßburg auf die phänomenologische Philosophie gestoßen; er brach zu Husserl nach Freiburg auf, geriet aber in den Bannkreis des Durchbruchs von Sein und Zeit. Als Heidegger ihn mitnahm nach Davos, mimte er in übermütigen studentischen Theaterspielen die Rolle von Ernst Cassirer, aus dessen Perücke ein Heidegger in der Person Bollnows das stäubende Mehl schlug. Der Abschied vom Methodologismus des Kantianismus und vom Vorrang theoretischer Einstellung führte zu einer ersten Distanz gegenüber Husserls transzendentaler Phänomenologie. Doch musste das, was politisch geschah, gerade Heideggers Durchbruch in ein neues Licht rücken. Rosenzweigs Protest gegen Hegel wurde auch zum Protest gegen Heidegger, der immer noch das unterschiedliche Alles in die Einheit des Seins zurückzubringen schien. Was Rosenzweig vorgetragen hatte, sollte nunmehr phänomenologisch ausgewiesen werden. Ist das Denken aufmerksam für die Phänomene, dann darf es nicht nur in einer angeblich kritischen Einstellung Gewissheit und Selbstsicherheit suchen; es muss sich durch den Anderen betreffen lassen. Im Anderen zeigt sich die Andersheit, die auch bleibende Fremdheit sein kann. Andersheit oder Anderheit gehören in einen Entzug, der ins Unendliche weist. In diesem Unendlichen kann sich das ganz Andere zeigen, das den alten Namen "Gott" trägt; es weist jedem Einzelnen seinen Platz an, indem es den Einen auf den Anderen ausrichtet. So wird die gesuchte Einheit aufgebrochen. Sie kann auch nicht als Identität, die geschichtlich zu gewinnen sei, zurückgeholt werden, um sich dabei zu immer neuen Totalitäten zu entfalten. Bei Levinas führt das erste Hauptwerk Totalität und Unendlichkeit zum zweiten Hauptwerk Jenseits des Seins, das den Ermordeten aus dem Krieg der T otalitarismen gewidmet ist und im Gedenken an sie den unheilvollen Grundzug der Geschichte umzukehren sucht. Levinas bleibt bei Buber und der Dialogik nicht stehen. Zu dem Anderen, der verpflichtet, tritt der Dritte, der in gleicher Weise als Anderer geachtet werden muss. Der Ausbruch aus dem Einheitsdenken führt zurück zu Gleichheit und damit innerhalb begrenzter Spielräume zur Verbindlichkeit des Begriffs mit seiner Tendenz zur Allgemeinheit. 314 Kassel 1986. Freiburg / München 1988. Band II. S. 831 ff. - VgI. auch Otto Pöggeler: Franz Rosenzweig und die Konzeption ,Mitteleuropa'. In: Von der Idee zum Konvent Eine interdisziplinäre Betrachtung des europäischen Integrationsprozesses. Hrsg. von Jürgen Dieringer, Stefan Okruch. Andrassy Schriftenteihe Band 3. Budapest 2005. S. 35 ff. 314 Siehe dazu Anm. 160.
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat in seinen Berliner Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (gestützt auf Anhänger wie Victor Cousin und Schüler wie Heinrich Gustav Homo) Descartes als denjenigen Philosophen angesprochen, der die Neuzeit einleitet und mit seiner Verbindung von Denken und Sein zum System des Idealismus hinführt. Nach Levinas kann man diese Tradition nicht dadurch überwinden, dass man sie mit Heidegger unter dem Namen "Metaphysik" zusammenfasst und dann in der Erfahrung von Geschehen und Geschichte einen Weg über sie hinaus sucht. Man muss bei Descartes selbst den Bruch mit dieser Tradition aufweisen. So zeigte Levinas, dass die sog. metaphysische Tradition sich in der dritten Meditation von Descartes durch den Bezug zum Unendlichen selbst übersteigt. Das Unendliche ist eine Idee, die sich unserem Denken einprägt, indem sie sich diesem Denken zugleich entzieht. Am recht bedachten sozialen Verhältnis des einen zum anderen lässt sich diese Erfahrung des Unendlichen konkret aufweisen. Trägt man die missachtete Erfahrung von Anderheit und Unendlichkeit in die metaphysische Tradition ein, dann lässt sich das Jenseits des Seins (das nach Platon die Ideen erst Ideen sein lässt) als "Güte" deuten. Als Levinas mit Gabrielle Pfeiffer Husserls Cartesianische Meditationen ins Französische übersetzt hatte, konnte Oskar Becker darauf hinweisen, dass der Unendlichkeitsbegriff der dritten Meditation von Descartes sich in der Intersubjektivität phänomenologisch ausweisen lasse. Die fünfte Meditation von Husserl führe in eine "neue Welt", nämlich zur Monadologie von Leibniz. Diese Monadologie könne zu einem hermeneutischen Realismus radikalisiert werden: Der andere muss real sein, weil z.B. Michelangelo erfährt, dass er Kunst nicht so schaffen kann wie Raffael. 315 Doch sind verschiedene Zugänge zur Wirklichkeit zu unterscheiden. Die Weise, wie wir mit einem mathematischen Formalismus ein physikalisches Experiment "erklären", lässt sich kaum auf ein hermeneutisches "Verstehen" zurückführen. Es sind metaphysische "Hypothesen", die die Zugänge zu dem einen oder anderen Aspekt der Wirklichkeit in ihre Grenzen einweisen müssen. Mag man Schelers Spätphilosophie mit ihrer Polarität von Drang und Geist im einzelnen kritisieren, so behält Scheler im Ansatz doch Recht: Vom Weltgrund selbst her muss sich der Weltauftrag des Menschen, z.B.die Eingrenzung der Technisierung, bestimmen. Emmanuel Levinas und Oskar Becker führen die Cartesianischen Meditationen Husserls in durchaus unterschiedlicher Weise fort; offenbar taten sie das, ohne voneinander Notiz zu nehmen. (Außer Betracht bleiben muss hier, wie andere Schüler von Husserl und Heidegger - Ludwig Landgrebe, Eugen Fink, Jan Patocka - jeweils eigene Positionen suchten.) Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde deutlicher, wie Husserl und Heidegger in den dreißiger Jahren ihre Wege gingen, ohne den anderen noch im Blick zu haben (obwohl sie in der selben Stadt lebten). Edmund Husserl hat in seinen späten phänomenologischen Bemühungen gezeigt, dass in der Mundanisierung mit dem Ich immer schon der Andere da ist, dass so auch mit der Eigenwelt oder Heimwelt die Fülle der Sonderwelten und 315 Zum einzelnen vgl. meine Becker-Darstellung; s. Anm. 8.
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vor allem auch die Fremdwelt da sind. Was als Lebenswelt (natürlich oder auch geschichtlich) vorausgesetzt werden muss, wird in der Stiftung der "europäischen" GrundeinsteIlung zugleich auf das allgemein Menschliche bezogen. Wenigstens als regulative Idee muss die Aufhellung des Lebens zur reinen Durchsichtigkeit Wissenschaft und Philosophie leiten. Husserl hat in den Jahren 1934-37 an seinem letzten Werk Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzemdentale Phänomenologie gearbeitet. Heidegger schrieb gleichzeitig sein zweites Hauptwerk, die Beiträge zur Philosophie. Heidegger bestand anders als Husserl auf den Individualisierungen der Geschichte, die selbst die naturwissenschaftlichen Entwürfe prägen können. Sie dürfen nicht überspielt werden durch eine T eleologie, die allenfalls in begrenzten Bereichen ihr Recht hat. 316 Heidegger fasste 1936 in Rom in seiner Rede Europa und die deutsche Philosophie Europa als eine letzte, alles tragende Individualisierung. Diese muss von ihrem verstellten Ursprung aus ihre Identität erst noch erreichen. Der Aufbruch europäischen Denkens (etwa bei Heraklit) habe sich in geschichtlichen Entscheidungen von ,,Asien" abgrenzen müssen. Differenzierungen des Ursprungs erscheinen als Entwurzelungen (nämlich als Verlust jener "Bodenständigkeit", die Husserl in anderer Weise in der transzendentalen Phänomenologie suchte). Bei Heidegger wird nicht beachtet, dass die eine "deutsche" Philosophie mit ihren spekulativen Tendenzen sich nur in der Abgrenzung etwa vom englischen Philosophieren in die europäischen Zusammenhänge einfügen kann. 317 Wenn Heidegger später das Eigene des Europäischen vom Anderen des Ostasiatischen abgrenzt, werden taoistische Grundgedanken so als etwas "Rettendes" in die eigene Situation gerufen, dass der Gesprächspartner als solcher kaum hervortritt. Heideggers Denken bleibt zudem ohne Aufmerksamkeit für das, was im europäischen Bereich als das jüdische Erbe artikuliert wurde oder sich am Rande Europas als Weg der Türkei entfaltete. Andere Wissenschaftler wurden mit diesen Wegen der Geschichte existenziell konfrontiert. Der Romanist Erich Auerbach bemühte sich als Übersetzer und Interpret um Gianbattista Vico, also um jenen Gelehrten, der uns die Welt Neapels nach 1700 vermittelt, aber von so unterschiedlichen Autoren wie Ernst Robert Curtius und Martin Heidegger nicht beachtet wurde. 318 Mit der deutschen Romantik und mit Hegel deutete Auerbach 1928 Dante in einem Buch, das einen schon fast polemischen Titel trägt: Dante als Dichter der irdischen Welt. Als die nationalsozialistische Diktatur Wissenschaftler zur Flucht aus Deutschland zwang, konnten einige 316 Zu Heideggers Ansatz vgl. die kontroversen Deutungen von Klaus Held und mir, in: Zur philosophischen Aktualität Heideggers. Hrsg. von D. Papenfuss und O. Pöggeler. Band I. Frankfurt am Main 1991. S. 31 ff., 328 ff. 317 Vgl. Europa und die Philosophie. Hrsg. von Hans-Helmuth Gander. Frankfurt am Main 1993. S. 31 ff. - Zum folgenden vgl. den Abschnitt Westöstliches Gespräch. Heidegger und Lao tse. In: Otto Pögge!er. Neue Wege mit Heidegger (s. Anm. 83). S. 387 ff. 318 Vgl. Otto Pögge!er: Philologiam ad philosophicae princiipia revocare. La recezione di Vico in Auerbach. In: Bollettino de! Centro di Studi Vichiani. XXII-XXIII. Napoli 1993. S. 307 ff. Zum folgenden vgl. Gabriella Baptist: Zu Hege!s Dante-Deutung. In: Idealismus mit Folgen (Festschrift Pögge!er). Hrsg. von H.-J. Gawoll und Ch. Jamme. München 1994. S. 221 ff.
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einen ersten Unterschlupf in Istanbul finden. Dazu gehörte Erich Auerbach. Da er am Bosporus des bibliothekarischen Apparats beraubt war, konzentrierte er sich in der Arbeit an seinem Buch Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur auf ausgewählte Texte der abendländischen Dichtung. Die griechische Tragödie habe sich auf die großen Gestalten herausragender Geschlechter bezogen, deren Konflikte im Untergang der einzelnen auf die geschichtlichen Kräfte verwiesen. Diesem hohen Stil gegenüber zeigten schon alttestamentliche Texte, dann vor allem das Neue Testament den Alltag der Menschen, der nicht mehr der Posse oder der Komödie überlassen blieb. In der Geschichte Christi und seiner Jünger werde deutlich, wie im alltäglichen Leben der Massen der Augenblick hervortreten könne, der herausstelle, was das Entscheidende im Leben sei. Wenn das Irdische nicht in der üblichen Symbolik oder Allegorie auf ein bleibendes Wesen hin überstiegen werde, bekomme die figurale oder typologische Allegorese ihren Platz. Darin kann z.B. der gebundene Isaak vorausdeuten auf Christus am Kreuz. Diese ins Geschichtliche weisende Allegorese gibt auch Dante seinen Ort in der abendländischen Literatur. Sie findet nach vielen weiteren Wandlungen hin zum existenziellen Realismus im modernen Roman der Virginia W oolf. Erich Auerbachs Mimesis erschien 1946. Als Literaturgeschichte stellte sie selber literarische Ansprüche. Sie sollte die Werke aus der Weltgeschichte der Literatur jeweils auf ihren einmaligen Ort beziehen; der Sinn für Geschichte sollte in einer letzten Stunde noch einmal kultiviert werden, ehe eine alles vereinheitlichende Weltzivilisation solcher Sensibilität (wie Auerbach meinte) den Erfahrungsboden entzog. Ernst Robert Curtius setzte dann 1948 mit seinem Werk Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter Maßstäbe für eine nicht nur nationale, sondern europäische Literaturwissenschaft. Dort stand ebenfalls zur Diskussion, was das lateinische Mittelalter für die europäische Literatur erworben hatte. Nach Curtius hat Dante eingesammelt, was an gnostischem Gedankengut sich entfaltet hatte und dieses Gedankengut dann in der Gestalt der Beatrice verkörpert. Auerbach und Curtius wiesen in unterschiedlicher Weise die Wege der abendländischen Literatur auf und wurden mit ihren Rollen immer neu vergegenwärtigt. Hingewiesen wurde darauf, wie unter den Yale-Kritikern Harold Bloom 1989 mit seinem Buch Ruin the sacred truths hervortrat. Andrew Marvel hat in seinem Gedicht On Paradise Lost gefürchtet, durch Milton könnten die "Heiligen Wahrheiten" zu "Fabeln und Alten Liedern" ruiniert werden. J19 Harold Bloom gesteht, dass er Ernst Robert Curtius dem konkurrierenden Auerbach weit vorziehe. Mit Curtius sieht er in Dante den Autor "einer persönlichen Gnosis", für die Beatrice stehe. Doch findet Bloom bei Shakespeare etwas, was Homer oder die Bibel, Euripides oder Dante nicht erlangt hatten: Menschen, "die ihre eigene Rede überdenken und durch diese Überlegungen verändert werden". In diesen Menschen Shakespeares können wir uns selbst wiederfinden. Bloom kann 319 Vgl. Harold Bloom (s. Anm. 159). S. 6, 128, zum folgenden 44 ff.. , 58. Zu Auerbach s. Anm. 242.
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vom Jahwisten aus dem Anfang des Alten Testamentes bis zu Kafka, aufgefasst als jüdischer Autor, eine kanonische Literatur finden, in der das amerikanische Judentum sich von Eliots christlicher Vorliebe für Dante befreit und seine eigene Identität findet. Den deutschen Leser muss es freilich überraschen, dass der eigene Weg Europas wenig Beachtung findet und der Brückenschlag zwischen Europa und Ostasien einfach beiseite bleibt. Kann auch die Theologie, vor allem die Exegese, im Bezug auf Auerbach mitsprechen? Karl Löwith hat 1948 dargelegt, dass die Ideale des Gentleman und des Christen in mannigfache, auch gegensätzliche Beziehungen getreten seien. Erich Auerbach ging auf diese Darlegungen ein und bemerkte brieflich, es möge die perfekten Gentlemen hier und da noch geben. Dagegen würde "eine ernsthafte imitatio Christi doch wohl allerhand Aufsehen und Komplikationen mit sich bringen". Die Aufnahmebereitschaft für religiöse Erfahrungen und Phänomene sei geschwunden. 320 Diese Auffassung konnten die Theologen nicht teilen. Vielmehr suchten sie Auerbachs Analysen der abendländischen Literatur zu nutzen, wenn sie den christlichen Glauben aus den Motiven der Menschen verständlich machen wollten. Nachdem Friedrich Gogarten sich das Werk Auerbachs angeeignet hatte, suchte Rudolf Bultmann in seinen Vorlesungen Geschichte und Eschatologie die Aufhellung der Geschichtlichkeit des Menschen durch Erich Auerbach fortzuführen zur echten, vollen Geschichtlichkeit, wie der christliche Glaube sie erreiche. Dabei schloss er sich in seinen Formulierungen an Heidegger an, der selber Auerbachs Werk nicht beachtete. "Im Sinne des biblischen Menschenverständnisses ist die Verantwortung für die Vergangenheit das Sichschuldig-Wissen, die Verantwortung für die Zukunft die offene Bereitschaft für das, was die unverfügbare Zukunft an Gabe und Forderung bringt." Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen jene nach Istanbul, die durch ihre Kompromisse mit dem Nationalsozialismus ins Zwielicht geraten waren. So konnte Heinz Heimsoeth dort lehren. Als Joachim Ritter 1953-55 ihm gefolgt war, fasste er auf einer Bottroper Tagung Europäisch-asiatischer Dialog seine Erfahrungen in dem Vortrag Europäisierung als europäisches Problem zusammen. Der Weg der Türkei galt als Beispiel für die Weise, wie die Europäisierung auf alle Völker der Erde wirkte. Doch die Distanznahme zur Tradition gelte auch für Europa selbst. Ritter geht aus von Ernst Jünger, der in seiner Schrift Der gordische Knoten vom Gegensatz zwischen Ost und West gesprochen hatte: Europa muss sich verteidigen gegen den immer neu andrängenden "asiatischen Schrecken". Namen wie Marathon, die Katalaunischen Felder, Wien stehen für diese Verteidigung gegen persische Könige, gegen die Hunnen und Mongolen, gegen den Halbmond des Islam, dann auch gegen die Sichel der Sowjet-Union, die rote Sonne Japans, den Drachen Chinas. Was hier ,,Asien" genannt wird, ist nach Ritter aber nicht das, was in Indien, in Ägypten, in der Türkei wirklich geschieht und als Europäisie320 Auerbachs zwei Briefe an Läwith sind faksimiliert in Mathias Bormuth: Mimesis und Der christliche Gentleman. Warmbronn 2005. - Zum folgenden vgl. Rudolf Buhmann: Geschichte und Eschatologie (s. Anm. 158). S. 121 f.
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rung angesprochen werden muss. Führer wie Kemal Atatürk leiteten ihre "Nation" aus der Kolonisierung und Aufteilung heraus zur Selbstbestimmung; die zu sich befreite Nation übernahm die Erbschaft Europas mit dem westlichen Kalender und der lateinisch geprägten Schrift, dann auch mit einer laizistischen Bildung und Rechtssprechung, mit der Industrialisierung und Technik. Da der islamische Glaube in der arabischen Schrift überliefert war, trennte schon die Schriftreform vom alten Glauben und damit von der eigenen Herkunft zuerst einmal ab. Diese revolutionäre Umwandlung rief nicht nur die Restauration herauf, sondern auch eine Reaktion, die "fanatisch" auf der geheiligten Herkunft bestand. Der Widerspruch konnte sich rechtfertigen durch den Hinweis auf die primitiven Filme und Illustrierten, mit denen der "Westen" nicht nur die alten Lebensformen, sondern jedes sinnvoll geprägte Leben untergrub. Eine neue Vermittlung zwischen Zukunft und Herkunft blieb die Aufgabe, also auch neue Formen der Bewahrung von Religion und Sitte in der industriell geprägten Weltzivilisation. Doch eben diese Vermittlung ist auch und seit langem schon das Problem von Europa selbst. Der Vortrag wurde mit anderen Arbeiten Ritters eingebracht in den Sammelband Metaphysik und Politik von 1969. 321 Diese Studien zu Aristoteles und Hegel zeigen, wie Überlieferung und Herkunft in immer neue Entzweiungen eintreten. Schon Aristoteles gehe davon aus, dass sich der Mythos aufgelöst habe in die dichterische Bewahrung des Mythischen einerseits und Philosophie und Wissenschaft andererseits. Hegel fasse die Weise, wie die Menschen ihre Lebensbedürfnisse effizient durch eine rechtlich abgesicherte arbeitsteilige Wirtschaft befriedigten, als System der "bürgerlichen Gesellschaft". Er setze diese zwischen Oikos und Polis der Griechen als neue Vermittlung bei der. Hier wird gerade nicht mehr die staatliche Sphäre als bürgerliche Gesellschaft gefasst, sondern etwas ihr Vorausliegendes, das eine gewisse Autonomie erlangt und sich weltweit ausdehnt. Auf dem geschichtlichen Weg durch immer neue Differenzierungen verbinde sich die Metaphysik als Lehre von den Ordnungen unserer Welt mit der Politik, die über die neuen Entzweiungen zu entscheiden habe. Von der praktischen Philosophie aus bildet sich die Philosophie überhaupt zu einer hermeneutischen um, die Herkunft verwandelt als Zukunft bewahren lehrt. Im Jahre 1974 erschienen noch einmal sechs Aufsätze Ritters unter dem Titel Subjektivität. In einer Vorbemerkung sagte Ritter, dass er nicht den Titel "Subjektivität und Gesellschaft" gewählt habe, weil der "Fetischismus" im Gebrauch der Rede von Gesellschaft leicht "das Eigentümliche dieser Abhandlungen verschwinden lassen und überspielen könnte".322 Dieser Abwehr der neomarxistischen Tendenzen voraus ging die Distanzierung von phänomenologischen Ansätzen. Schon Ritters Hamburger Antrittsvorlesung vom Februar 1933 Über den Sinn und die Grenze der Lehre vom Menschen wendet sich im Namen einer kriti321 Vgl. Joachim Ritter: Metaphysik und Politik. Frankfurt am Main 1969. S. 321 ff. 322 Vgl. Joachim Ritter. Subjektivität. Frankfurt am Main 1974. S. 9. - Zum folgenden vgl. dort die Hamburger Antrittsrede S. 36 ff.
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schen Philosophie gegen die Verknüpfung metaphysischer Tendenzen mit der Anthropologie bei Max Scheler und Martin Heidegger, die der Konfrontation mit der Not der Zeit geschuldet war. Doch hat Ritter selbst sich der Aneignung der metaphysischen Tradition zugewandt, nach einer Arbeit über Nikolaus von Kues von 1927 dem Verhältnis Augustins zum Neuplatonismus 1937. Besonders wirkmächtig wurde die Rede bei der Übernahme des Rektorats der Universität Münster am 16. November 1962: Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der
modernen Gesellschaft.323 Martin Heidegger hat in den Vorträgen über den Ursprung des Kunstwerkes die Verbindung von Kult und Kunst in Pästum und Bamberg als einen Ursprung angesetzt, der vetwandelt zurückzuholen sei. Ritter geht in seinem Vortrag von Petrarca aus, der bei der Besteigung des Mont Ventoux (wie Jakob Burckhardt sagte) mit einem von Forschung und Wissen unabhängigen Sinn Landschaft als etwas Schönes wahrgenommen und genossen habe. Als die Natur wissenschaftlich und technisch erschlossen worden sei, habe sie in Dichtung und bildender Kunst vom empfindenden Menschen auch "ästhetisch" vergegenwärtigt werden können. Descartes und van Goyen seien im gleichen Jahr 1596 geboren worden. Später habe Friedrich Schiller zur Freiheit des Menschen und zur Verdinglichung als Aneignung der Natur den "ästhetisch" erzogenen Menschen gestellt. Die Aufspaltung der Bereiche der Wirklichkeit wie des menschlichen Seins aufzuweisen, sei Sache der Philosophie. Freilich ist der Weise widersprochen worden, in der Ritter im Anschluss an Jakob Burckhardt den dichterischen Aufbruch Petrarcas mit der Entdeckung der Landschaft und dem Beginn einer neuen Malerei verbindet. Ein Mitfühlen mit der Natur, wie wir es in Goethes Werther oder in Gedichten der Droste finden, ist Petrarca fremd. Petrarca erzählt oder fingiert den Aufstieg auf den Berg, um dem Macedonenkönig Philipp gleich zu sein, der nach Livius den Berg Hämus in Thessalonien bestieg. Doch liest Petrarca Augustinus, der uns mahnt, den Weg nach innnen nicht zu vergessen. 324 Hier sei herausgehoben, wie Ritter sich 1945 in der Kriegsgefangenschaft auf T. S. Eliot berief. Eliot war in den zwanziger Jahren mit Waste Land an die Spitze der modernen Lyrik getreten. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam er mit seinen Vier Quartetten und mit Schauspielen als führender Dichter zur Geltung. Mussten seine Leser aber nicht enttäuscht sein, wenn er zugleich mit krass konservativen Gedanken über Europa und eine christliche Gesellschaft hervortrat? Doch wandte Ritter sich in seinen "Bemerkungen zur Dichtung T. S. Eliots" unter dem Titel Dichtung und Gedanke gegen den Nietzscheanismus, für den Religion und Metaphysik als lebendige Tradition untergegangen seien. Eliots Dichtung zeige, wie die alten Bilder und Symbole nicht im romantischen Gefühl, sondern in der nüchternen Sprache unserer Zeit verwandelt aufgenommen würden. Damit ver323 Ebenda S. 141 ff. 324 Vgl. Wilhe1m Perpeet: Das Kunstschöne. Sein Ursprung in der italienischen Renaissance. Freiburg / München 1987. S. 110 ff. Perpeet kritisiert wie Bernhard König auch die Fortbildung der Thesen Ritters in Kunstgeschichte und Romanistik bei Max Imdahl und Karlheinz Stierle.
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weise der Dichter auf eine Aufgabe, die unserem Leben überhaupt und so auch der Besinnung des Denkens gestellt sei. "Es ist seltsam", so schrieb Ritter, "wie unversehens die Stunde kommt, in der überall die gleichen Wege gesucht werden und man ihrer bedarf." Aus einem Düsseldorfer Vortrag von 1952 ging Ritters Abhandlung Hegel und die französische Revolution von 1957 hervor; sie erschien 1963 auch in französischer Übersetzung. Weite Verbreitung erlangte die Ausgabe in der Bibliothek Suhrkamp von 1965 (mit einer ausführlichen Bibliographie zur politischen Theorie Hegels von Karlfried Gründer). Von dieser Arbeit zehrt auch noch die Heidelberger Antrittsvorlesung von Jürgen Habermas aus dem Jahre 1962 (aufgenommen in den Band Theorie und Praxis). Die leitende These ist, es gebe keine zweite Philosophie, die so sehr Philosophie der Revolution sei wie die Hegelsche. Damit wird freilich verkannt, dass Hegel von seiner Württemberger Orientierung aus eine korporative Repräsentation suchte, in der die Vertreter des Volkes indirekt durch die Kommunen und die Zünfte neuer Art gewählt wurden. So unterscheidet Hegel sich dadurch grundsätzlich von Theoretikern der Französischen Revolution wie Sieyes. 325 Doch konnte Ritter sich mit Eric Weil treffen, dem einstigen Mitschüler bei Cassirer in Hamburg. Weil war 1950 in seinem Buch Hegel et l'Etat früheren Einschätzungen Hegels entgegengetreten und hatte gezeigt, dass Hegel auf die revolutionären Ansätze setzte und noch in ein Preußen der Reformen berufen wurde. Diese Linie der Hegel-Deutung konnte Ritter in engem Austausch mit jenen französischen Bemühungen fortsetzen, die durch die Zeitschrift Archives de Philosophie zusammengehalten wurden. Ein englisch-sprachiges Buch über Carl Schmitts Wirkung in Europa von Jan-Werner Müller erschien 2003 und wurde 2007 in Darmstadt auf deutsch unter seinem Titel Ein gefährlicher Geist vorgelegt. Schmitt habe als bedeutendster europäischer Repräsentant des Antiliberalismus gegolten; doch habe man geglaubt, ihm kritisch die intellektuellen Ressourcen entnehmen zu können, die liberale und soziale Tendenzen "wehrhafter" machen könnten (5. 19). Verblüffend bleibt, dass die Schule von Joachim Ritter unter dem Titel Eine melancholische Moderne vorgestellt wird. Die "entzauberte" Moderne, von der Max Weber gesprochen habe, soll in sich auch ein Gefühl für die verlorenen Werte entdeckt haben. Odo Marquard habe sich "tristesse oblige" als Motto für seine philosophischen Schriften gewählt. Muss man aber nicht bezweifeln, dass von einer solchen Tendenz aus die Arbeit Ritters und seiner Schule im ganzen getroffen wird? Die Leistung Joachim Ritters lag darin, dass er gegensätzlich ausgerichtete Schüler um sich sammelte (und sie vom Drang zum Freiburg Husserls und Heideggers abbringen konnte). Wir finden auf dem rechten Flügel der Schule z.B. Günter Rohrmoser und den unglücklichen Bernard Willms, auf dem linken Flü325 Vgl. dazu die Arbeiten von Rolf Grawert und mir, in: Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte. Hrsg. von Hans-Christian Lucas und Octo Pöggeler. Stuctgart-Bad Cannstatt 1986. S. 257 ff., 311 fI
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gel Hans Jörg Sandkühler. In durchaus freier Weise schloss sich Hermann Lübbe an, der bei Wilhelm Szilasi in Freiburg promovierte, sich mit Wilhelm Kamlahs Hilfe in Erlangen habilitierte und an vielen deutschen, österreichischen und Schweizer Universitäten wirkte. Als SPD-Politiker arbeitete er als Staatssekretär im Ministerrang in Düsseldorf. Jens Hacke publizierte seine Dissertation, die an der Berliner Humboldt-Universität durch Herfried Münkler und Heinrich August Winkler betreut wurde, unter dem Titel Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik (Göttingen 2006). Die leitende Behauptung ist, dass ein liberal und sozial ausgestalteter Konservativismus durch die Rirter-Schüler von Lübbe, Marquard und Spaemann bis zu Kriele und Bökkenförde die neue Bundesrepublik Deutschland maßgeblich geformt habe. Die These wird aufgenommen, dass jene, die zwischen 1926 und 1930 geboren wurden, als ,,Aufsteigergeneration" das "Führungspersonal der westdeutschen Gesellschaft über lange Zeit dominiert" haben. Zu Professoren wie Dahrendorf und Habermas treten dann Schriftsteller wie Günter Grass und Martin Walser sowie Politiker wie Kurt Biedenkopf und die Brüder Vogel. Die Angehörigen dieser Generation waren "zu jung, um ein Nazi gewesen zu sein, aber alt genug, um vom Nazi-System mitgeprägt worden zu sein" und die Verführbarkeit durch politische Ideologien selbst erlebt zu haben. Als die "Junker" der nationalsozialisitschen Ordensburgen in den Krieg gezogen waren, konnten dort Gymnasiasten als ,,Adolf-Hitler-Schüler" ausgebildet werden, z. B. auf Sonthofen Odo Marquard, der nach dem Kriege diese Vergangenheit durch eine radikale Skepsis abschüttelte (S.30). Aus dem "affirmativen Institutionenverständnis der bundesrepublikanischen Liberalkonservativen" wird ein "Vorbehalt gegenüber jedweder grundsätzlichen Veränderung" abgeleitet: Die Begründungslast fällt dem zu, der Veränderungen erstrebt (S. 166 f.). Hacke macht aber auch darauf aufmerksam, dass die RitterSchüler die Bedeutung der Religion für die Gesellschaft durchaus unterschiedlich einschätzen. So sieht Robert Spaemann in den "funktionalisitschen Religionsbegründungen" Nebenwirkungen ("die positiven sittlichen Auswirkungen praktizierter Religion in der Gemeinschaft"). Diese würden zur Hauptsache gemacht, was zur Destruktion der Religion beitrage. Die Relativierung des Absoluten sei gleichbedeutend mit dessen Verschwinden (S. 250). Die Grundfragen stellen sich anders, wenn man aus dem philologischen Bereich (den Gadamer zusammen mit der Jurisprudenz als Anleitung nahm) zu den Historikern herübertritt. Hermann Lübbes Buch Religion nach der Aufklärung erschien erstmals 1986. In ihm meint "nach der Aufklärung" nicht, dass die Aufklärung erledigt sei. So wollte Jürgen Habermas polemisch die "neukonservative" Verwendung des Titels festlegen und einen ,,Alleinvertretungsanspruch" gegenüber dem Erbe der Aufklärung reklamieren. Lübbe setzt vielmehr die Aufklärung als eine erfolgreiche und durchaus nicht gescheiterte voraus (S. 9).326 Er beschränkt sich auf jene fortdauernden Wirkungen der Aufklärung, von denen die 326 Vgl. Hermann Lübbe: Religion nach der Aufklärung. 3. Aufl. München 2004.
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kulturelle Stellung der Religion abhängig ist. "Erstens unterliegt in aufgeklärten Gesellschaften die Wissenschaftspraxis keinerlei religiös bestimmter Weltbildkontrolle mehr." Das führt dazu, dass der Erkenntnisfortschritt in vollständiger Indifferenz gegenüber der Religion verbleibt. "Zweitens entkoppelt der Aufklärungsprozess religiöses Bekenntnis und Bürgerrechte." Das bedeutet Freiheit für Religion und Konfession. "Drittens setzt die Aufklärung Säkularisierungsprozesse frei." Wie weit der Trend zur Säkularisierung ausgreift, lässt sich vorweg nicht angeben. "Viertens ist die Kultur nach der Aufklärung eine sich selbst uneingeschränkt historisierende Kultur." Mit der rascheren Veränderung unserer kulturellen Lebenswelt vergrößert sich die Zahl von Relikten aus Epochen, die wir bereits hinter uns haben. (S. 10 ff.) Die Aufklärung entlarvte nicht Religion als Illusion; vielmehr erwies sich diese Erwartung als Illusion. Die Erfahrung jener Kontingenz, mit der wir im Seienden stehen, nötigt zu einer religiösen Einstellung. Großideologien wie der Marxismus, die die Religion abzulösen suchten, werden ihrerseits zu Ersatzreligionen (S. 17). Religion wird zur Bedingung der Erhaltung von Aufklärung. Eine religiöse Orientierung außerhalb des kirchlichen Lebens wird von amerikanischen Diskussionen her als "Zivilreligion" angesprochen. Das erinnert an Rousseau, der im letzten Kapitel vorm Schluss des Contrat sodal Zivilreligion gefordert hat: "Wer nicht an Gott glaubt, des ewigen Lebens nicht gewiss zu sein erkennen lässt und daher auch nicht in der Furcht des Jüngsten Gerichts lebt," gilt als unfähig, "die Gesetze und die Gerechtigkeit aufrichtig zu lieben und im Notfall sein Leben einer Pflicht zu opfern". (S. 308 f.) Diese Forderungen sind nach Lübbe voraufklärerisch; ihre Kritik führt dazu, Bürgerrechte von Bekenntnispflichten abzulösen und damit "Zivilreligion" anders zu fassen. Zivilreligion minimalisiert Relgion auf die Voraussetzung des Daseins Gottes hin. So heißt es in der Präambel des deutschen Grundgesetzes vom Deutschen Volk: "Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen.... " (S. 310). Dieser Satz und ähnliche Äußerungen in den Verfassungen und Politikerreden beziehen sich nicht auf Religion, sondern sind Religion. Kann aber ein Atheist die Toleranz gegenüber Atheisten sich garantieren lassen durch Verantwortung vor Gott und den Menschen? (S. 314) Viele Fragen schließen sich an: Darf z.B. eine Schulklasse unter einem Cruciftx unterrichtet werden? Da Friedrich Gogarten Karl Barths Verwurzelung in der Schweiz nicht teilte, kam es zu Annäherungen gegenüber dem herrschenden Nationalsozialismus. Er hätte sich die Freude über den Zusammenbruch der bürgerlichen Kultut verbieten müssen, statt (wie es auch Heidegger tat) den Kulturprotestantismus seines Lehrers Troeltsch einer Übergangszeit zuzuordnen (S. 285). Im Gegensatz zu solchen Optionen wird bei Lübbe die Aufklärung nicht grundsätzlich zur Regligionskritik. Vielmehr wird Religion zur Bedingung dieser Aufklärung. Dem Begriff der Zivilreligion werden die Symbole und Handlungen unterstellt, "durch die innerhalb des politischen Systems öffentlich ein Sinnbezug zu prinzipiell nicht disponiblen Voraussetzungen seiner eigenen Existenz hergestellt wird". Damit ist auch hier verwiesen auf die These von ErnstWolfgang Böckenförde, der liberale Staat lebe von Voraussetzungen, die er nicht
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selbst garantieren könne. In der Zivilreligion bezieht der Staat sich ausdrücklich auf diese Voraussetzungen. (S. 321 f.) Ein Vorwort von 2004 zur dritten Auflage dieses Buches legt verstärkt Akzente auf die Repolitisierung der Religion im Islamismus und auf den neuen amerikanischen Fundamentalismus. Doch wird betont, dass beide Bestrebungen nicht gewachsene Herkunft fortsetzen, sondern als Neuorthodoxien ein "nach der Aufklärung" voraussetzen (S. 6 f.). Hermann Lübbe hielt auf dem Historikerkongress im Berliner Reichstagsgebäude 1983 den Abschlussvortrag. Aufsehen (zuerst vor allem Widerspruch) erregte die These, das Beschweigen der Verstrickung in den Nationalsozialismus habe die Ausbildung der Bürgerschaft der neuen Bundesrepublik erleichtert. Der Text, der aus dem Vortrag entstand, wurde als Hauptteil aufgenommen in das Buch Vom Parteigenossen zum Bundesbürger. Über beschwiegene und historisierte Vergangenheiten. Eine Einleitung Worum es sich handelt macht darauf aufmerksam, dass es in Deutschland "weit über ein Dutzend Millionen Genossen der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei" gab, die mit ihren Angehörigen die Mehrheit des deutschen Volkes bildeten. Ein Rückblick zeigt dann, dass z.B. Eugen Kogons Buch Der 55-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager seit 1946 dauerhaft präsent war. "Komplementär" zum Beschweigen des lebensgeschichtlichen Anteils am Nationalsozialismus gehöre die "einschränkungslose Historisierung des Nationalsozialismus". 327 Lübbe hält fest, dass] ürgen Habermas in den Diskursen herausrage; er weist aber darauf hin, dass Habermas in den wirklich geführten Diskursen Gegner "bestenfalls in der Rolle eines emanzipitationsbehinderten und ideologiekritikbedürftigen Diskurskandidaten" sehe. Habermas stellte 2004 eine Sammlung von Interviews und Aufsätzen unter den Titel Der gespaltene Westen. Der erste Satz des Vorworts gibt die leitenden Themen an: "Nicht die Gefahr des internationalen Terrorismus hat den Westen gespalten, sondern eine Politik der gegenwärtigen US-Regierung, die das Völkerrecht ignoriert, die Vereinten Nationen an den Rand drängt und den Bruch mit Europa in Kauf nimmt." Habermas appelliert an die Führungsmacht USA, zurückzukehren zu den Antworten, die sie einst auf die Weltkriege gegeben haben, nach 1918 mit Wilsons Weg zum Völkerbund, nach 1945 mit der Gründung und Ausbildung der Vereinten Nationen. Nicht in einer einheitlichen Weltrepublik, sondern in einer mehrschichtigen föderalen Organisation liege die Möglichkeit zur Ausbildung des Kantischen Projekts des Völkerbundes. Die Europäische Union sei schon eine fortgeschrittene Föderation; nach ihrem Muster sollten sich auch die anderen Kontinente organisieren. Hinzutreten müsse der Weltbürger, der die Menschenrechte auch gegen seine Regierung zu wahren wisse (etwa mit
327 Vgl. Hermann Lübbe: Vom Parteigenossen zum Bundesbürger. Über beschwiegene und historisierte Vergangenheiten. München 2007. S. 8, 23, 9 f., zum folgenden 129. S. auch Anm. 294.
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Amnesty International). Er soll ein Weltbürgerparlament aufbauen, dessen Gedanke freilich einen "leichten Schwindel" verursache. 328 Die Einstellung gegen den Terrorismus ist konsequent: "Jeder Mord ist einer zu viel." Wenn der amerikanische Präsident Bush zum "Krieg" gegen den Terrorismus aufrufe, mache er Verbrecher zu Kriegsgegnern. Foltermethoden, außerhalb der Ländergrenzen in Guantanamo angewendet, unterminierten die angestrebte Mission des Kampfes gegen den Terror. Unterschieden wird zwischen den teils berechtigten Eingriffen in Bosnien, im Kosovo und noch in Afghanistan einerseits und dem Irak-Krieg andererseits. Mit Derrida und anderen europäischen Intellektuellen veröffentlichte Habermas am 31. 5.2003 ein Manifest, das auf die großen Demonstrationen gegen den Irak-Krieg in den europäischen Hauptstädten am 15.2.2003 zurückgriff: Der 15. Februar oder: Was die Europäer verbindet. Dabei wird Europa verstanden von jenem Kern-Europa aus, das vor allem Frankreich und Deutschland eint. Die sieben identitätsstiftenden Merkmale werden vom Interviewer so zusammengefasst: "Säkularisierung, Staat und Markt, Solidarität vor Leistung, Technikskepsis, Bewusstsein für die Paradoxien des Fortschritts, Abkehr vom Recht des Stärkeren, Friedensorientierung aufgrund der geschichtlichen Verlusterfahrung" . Natürlich geht es Habermas weiterhin um eine Zähmung des Kapitalismus. Doch der Terrorismus und der Krieg gegen ihn lenken den Blick auf die Problematik des Völkerrechts. Die marxistische Sicht könne "zu einer Diagnose der Zukunft des Völkerrechts nicht viel beitragen, weil sie schon auf der Ebene der Grundbegriffe dem normativen Eigensinn des Rechtsmediums einen Platz verweigert". So tritt 2004 (im Jahr der 200. Wiederkehr von Kants Todestag) Kant in den Mittelpunkt des Interesses. Zu Kants Schwächen zählt Habermas die aufklärerische Unterschätzung der explosiven Kraft des Nationalismus, dann den Eurozentrismus. Nicht erwähnt wird die Beschränkung des Bürgers auf den Besitzenden, die Betonung der "ungeselligen Geselligkeit" für den Fortschritt in der Geschichte. 329 Wird Kant nicht zu einer wächsernen Nase, die man nach Belieben drehen kann? Innerhalb der neoslavophilen Kritik des Westens hat Wladimir Ern vor dem Ersten Weltkrieg die Rede Von Kant zu Krupp publiziert: Der Kantische "Phänomenalismus"wie die Kanonen Krupps löschten aus, was ist, und ließen als herrschendes Subjekt nur das Deutschtum übrig. Ähnlich argumentierte John Dewey 1915 in German Philosophy and Politics. Sieht man von diesen Kontroversen um Kant ab, dann muss man in dem, was Habermas das Kantische Projekt nennt, die Dringlichkeit der maßgeblichen politischen Aufgaben finden. Habermas kann der Uno bescheinigen, dass sie bedeutende Erfolge im Kampf gegen Krieg und Unterdrückung erzielt habe. Doch die ungegliederte Vielfalt der Mit328 Vgl. Jürgen Habermas: Der gespaltene Westen. Frankfurt am Main 2004. S. 7, 107 f., zum folgenden 21 f., 39, 43 ff., 52. 329 ebenda S. 187, 144 f., zum folgenden vgl. Nikolai Plotnikov / Modest Kolerov: "Den inneren Deutschen besiegen". Nationalliberale Kriegsphilosophie in Russland 1914-1917. In:: Traum und Trauma. Russen und Deutsche im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Dagmar Herrmann I Astrid Volpert. München 2003. S. 15 ff., vor allem 24 f., 28.
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glieder bleibe ebenso problematisch wie die Beschränkung des Sicherheitsrates auf wenige Große mit Vetorecht. In seiner Polemik verliert Habermas gelegentlich die Angemessenheit. Er betont, dass er seit dem 16. Lebensjahr, also erst seit 1945/46 und den Nürnberger Prozessen, von den amerikanischen Idealen aus dem späten 18. Jahrhundert überzeugt gewesen sei. Doch wendet er die Nazisprache an, wenn er "Blairs Nibelungentreue zu Bush" anprangert. Polens Engagement an der Seite Amerikas im Irak-Krieg bleibt verstörend. Habermas sagt, dass "Rumsfeld und Konsorten" vorsätzlich Europa spalteten und schwächen wollten, wenn sie dem alten Europa das neue Europa (mit Polen) entgegenstellten. Sicherlich muss man von KernEuropa ausgehen; hielten sich aber nicht auch antiamerikanische Motive durch, wenn Chirac (nach Frankreichs Atombombenversuchen im pazifischen Raum) Deutschland auf seine Seite brachte?330 Hier musste die Bundesrepublik seit 2005 neue Wege gehen. Das Interview Fundamentalismus und Terror wurde auch zusammen mit einem Interview publiziert, das Jacques Derrida vor seinem Tod noch geben konnte. 331 Darin geht Derrida davon aus, dass der Terrorismus und der Krieg gegen ihn das "Böse" eher fördern als auslöschen. Beide Seiten erstrebten die Inszenierung ihres Wollens in den modernen Medien. War der Einsturz der beiden Türme des Welthandelszentrums in New York nicht noch ein "archaisches Theater der Gewalt"? Morgen könnten die Netzwerke der Information angegriffen werden, von denen auch die größte Macht der Welt abhänge. Derrida setzt seine Hoffnung auf die internationalen Organisationen, vor allem auf eine neue Entfaltung des Politischen von Europa aus. Europa habe in den letzten Jahrhunderten schmerzhafte Erfahrungen gemacht und könne von daher das Verhältnis von Politik und Religion zurechtrücken. Anstöße Joachim Ritters und die Auseinandersetzung mit ihm wirkten konkret hinein in die juristische Diskussion und Praxis. Dafür sei wenigstens kurz hingewiesen auf Ernst-Wolfgang Böckenförde. Er sprach im Oktober 2006 bei der Siemens-Stiftung in München zum Thema Der
säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtftrtigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert. Dabei musste er darauf eingehen, dass der säkularisierte Staat neuen Gefährdungen durch den religiösen und politischen Fundamentalismus ausgesetzt ist. Der Veröffentlichung des Vortrags (München 2007) beigegeben wurde ein Vortrag Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, der im Oktober 1964 gehalten wurde und 1967 in der Festschrift für Ernst Forsthoff erschien. Nach dem Zweiten Weltkrieg suchte man in Reaktion auf den Nationalsozialismus den Staat christlich zu gestalten (etwa mit staatlichen Konfessionsschulen). Böckenfördes Vortrag von 1964/67 zeigt demgegenüber, wie die Säkularisierung zum Telos der europäischen Geschichte wurde. Mit Historikern wie Otto Brunner wird dargetan, dass sich der Staat erst langsam aus un-staatlich strukturierten Herrschaftsordnungen entwickelte (S. 44). Da das Papsttum nach 330 Vgl. Habermas (s. Anm. 328). S. 96, 55, 89 f., zum folgenden 188. 331 Vgl. Jürgen Habermas / Jacques Derrida: Philosophie in Zeiten des Terrors. Berlin, Wien 2004.
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Suprematie strebte, mussten die weltlichen Gewalten ihre Eigenständigkeit auszubauen suchen. Nach den religiösen Spaltungen in der Reformation und im Grauen der Konfessionskriege zwischen Katholiken, Lutheranern und Reformierten übernahm die Politik die Aufgabe, Toleranz durchzusetzen. Die christliche Religion war nicht mehr Sache des öffentlichen Kultes; die weltlichen Ordnungen bezogen ihre Autorität nicht mehr aus überkommener Religion. "Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann." (S. 71) Von dieser Formulierung kann Böckenförde sagen, sie sei der meistzitierte Satz seines Werkes (S. 8). Sie ist wohl der meistzitierte Satz der einschlägigen Überlegungen über Religioon und Politik überhaupt. 332 Böckenfördes Vortrag von 2006/07 bestimmt den säkularisierten Staat als den Staat, der - anders als der "Staat" in Antike und Mittelalter - nicht mehr in einer Religion die Grundlage hat. Die Religion wird dem privaten und gesellschaftlichen Bereich zugewiesen. Zu Beginn der Neuzeit führte die Glaubensspaltung in die Konfessionskriege. Die Erklärung der Menschenrechte in Nordamerika und Frankreich legte die Freiheit der religiiösen Überzeugung und auch der areligiösen Einstellung fest. Die katholische Kirche bekannte sich in einer "kopernikanischen Wende" im Zweiten Vatikanischen Konzil zur Religionsfreiheit, die zu einem Gebot von Religion selbst wurde (S. 20 ff.). Im 21. Jahrhundert stehe der säkularisierte Staat vor neuen Problemen, so vor dem Schwinden einer tragenden christlichen Religiosität. Der Staat müsse schützend und stützend in die neuen Gefährdungen eingreifen, also Bildung und z.B. freie geisteswissenschaftliche Forschung ermöglichen. Könne der Staat noch gelebte Kultur voraussetzen angesichts zunehmender Migration? "Der unselige Kopftuchstreit, der nicht nur in Deutschland von einer Runde in die andere geht, ist ein Symptom für dieses Dilemma." Joseph Ratzinger hatte demgegenüber gefordert, was "ziemlich unzulänglich" Leitkultur genannt wurde. Böckenförde findet diesen Begriff "nicht gut". Religionsfreiheit sei "nicht teilbar" (S. 32 f.). Das hat seine Konsequenzen: "Die Fordwerke in Köln sollen ihre Arbeitsabläufe so organisiert haben, dass die überwiegend muslim ischen türkischen Arbeiter ihre Gebetszeiten einhalten können, und in den preußischen Gymnasien wurden samstags keine Klassenarbeiten geschrieben, damit die jüdischen Schüler Schulbesuch und Sabbatgebot miteinander vereinbaren konnten." Böckenförde will nicht auf den Laizismus zusteuern, wie er in Frankreich üblich geworden ist. "Die Menschen wollen nicht nur halb und privat, sondern zur Gänze aus ihren Wurzeln leben können, nicht davon abgeschnitten werden, und sie haben ein Anrecht darauf." Eine offene säkulare Freiheitsordnung soll auf freiheitsbezogene wie freiheitsbegrenzende Gesetze verpflichten. Hier, nicht in "ausgreifenden Wertbekenntnissen" , liege die Grundlage des Zusammenlebens. Auch gegenüber dem Islam müsse (mit dem Zentralrat der Muslime in Deutschland) die Anerkennung
332 V gl. dazu Anm. 293 über Böckenfördes Akademie-Vortrag von 1972.
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der Gesetze gefordert werden (5. 34 ff.). Wenn sie zweifelhaft bleibe, müsse der freiheitliche Staat "Barrieren" errichten (5.41). Ernst-Wolfgang Böckenförde hat auch auf die Frage geantwortet: Welchen Weg geht Europa? (München 1977). Nach dem Aufbau der Montan-Union von den alten Energien Kohle und Stahl her war der Versuch einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft gescheitert. Europa wurde von den Zusammenschlüssen der Wirtschaft her aufgebaut. Das Zerbrechen der Sowjet-Union führte zur Wiedervereinigung Deutschlands und zum Ausgreifen Europas nach Ostmittel- und Südeuropa. Das aber hieß, ein neues und anderes Europa in neue und andere globale Konstellationen zu stellen. earl Schmitt hatte schon darauf verwiesen, dass Hans Freyer haltende Mächte aufgezeigt habe. 333 Dieser Soziologe und Geschichtsphilosoph aus der konservativen Revolution suchte in den düsteren Jahren um 1945 mit seiner Weltgeschichte Europas (Wiesbaden 1948) einen neuen geschichtlichen Anfang. Was als Weltgeschichte universal ist, wird paradoxerweise mit der Besonderheit Europas verknüpft. Hegels geschichtsphilosophische Problematik, von Dilthey und Nietzsehe her zu neuer Offenheit geführt, soll eingelöst werden in einem Geschehen, das von Europa aus die mannigfachen Anfänge großer Geschichte zur einen Weltgeschichte hinführt. Freyer hat seine "Soziologie" als "Wirklichkeitswissenschaft" gegen Hegels Idealismus gestellt. Bleibt aber nicht auch er der Grundüberzeugung Hegels verhaftet, die dem einsamen Helden Zugang zu den geschichtlichen Entscheidungen zuspricht und die Weltgeschichte im ganzen als Erbe von einer selbstbewusst gewordenen Menschheit übernommen werden lässt? Joachim Ritter hat in Münster nicht nur jene aufgefangen, die aus dem Freiburg Husserls und Heideggers enttäuscht zurückkamen. Er hat in seinen Lehrveranstlungen auch einen Gegenenrwurf gegen die Aufnahme Heideggers bei HansGeorg Gadamer dargelegt. Doch die oft angekündigte Publikation von Ritters Vorlesungen über Hegel ist nicht erschienen. Das mag daran liegen, dass die Vorlesungen wegen der Kürze der Semester vor der Behandlung des absoluten Geistes abbrachen. Erst von daher lässt sich aber zeigen, wie die kommentierte Philosophie des subjektiven Geistes und die Auslegung des Miteinanders von Wirtschaft, Recht und konkreter Sittlichkeit zusammenhängen und wie die Verflechtung von Kunst, Religion und Wissenschaft sich darstellt. In jedem Fall hat Ritter auf die Fortführung seiner Gedankengänge verzichtet und sich asketisch der Vergabe und Redaktion der Artikel des Hisorischen Wörterbuches der Philosophie gewidmet. Es ist Erich Rothacker gewesen, dessen Reflexionen auf die Arbeit der Geisteswissenschaften zu dem Plan führten, ein "Wörterbuch der kulturphilosophischen Grundbegriffe" erarbeiten zu lassen. Seit 1955 brachte das Archiv für Begri./fsge333 Vgl. Blumenberg / Schmitt (s. Anm. 297). S. 164. - Zum folgenden vgl. Thomas Gi!: Hans Freyers Rekonstruktion der Weltgeschichte Europas. In: Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Hrsg. von Elisabeth Weisser-Lohmann und Dietmar Köhler. Bonn 1998. S. 251 ff.
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schichte "Bausteine zu einem historischen Wörterbuch der Philosophie". Z.B. schrieb Karl-Otto Apel über "Verstehen"; der Entwurf eines Artikels über "Gewohnheit" von Gerhard Funke entfaltete sich über mehrere hundert Seiten. Rothacker konnte in einem nachgelassenen Werk Zur Genealogie des menschlichen Bewusstseins sein Anliegen noch einmal vorstellten (Bonn 1966). Sein Schüler Wilhelm Perpeet hat nicht nur dieses Werk eingeleitet, sondern auch Rothackers Arbeit überhaupt kundig dargestellt. 334 Mussten nicht auch andere Bemühungen einbezogen werden, etwa die Toposforschung mit und gegen E. R. Curtius, die Wortfeldforschung der Sprachwissenschaft, die Metaphorologie, wie sie z. B. von Hans Blumenberg entfaltet wurde? Gegen solche Ausweitungen blieb die RitterSchule bei ihrem großen Projekt resistent. Man kann die Aufgabe auch darin sehen, Joachim Ritters Anliegen aus gewandelten Perspektiven weiterzutragen. Wolfram Hogrebe sammelt in seinem Buch Echo des Nichtwissens (Berlin 2006) Vorträge und Aufsätze, die seit 1993 erschienen sind oder Erstveröffentlichungen darstellen. Das Vorwort greift zurück auf eine Arbeit von 1991 aus Hogrebes Düsseldorfer Zeit. Damals konnte Alwin Diemer die wissenschaftstheoretischen Bemühungen in Düsseldorf weltweit bekannt machen. In Hogrebes Jenaer Jahren (1992-96) wurden Themen wie Sehnsucht und Schwermut entfaltet, dazu "orphische" Bezüge. Dann folgte die Bonner Zeit mit Gastaufenthalten in unterschiedlichen Regionen der Welt. Im Vorwort Die Qual der Geschichte führt Hogrebe Joachim Ritters Vortrag von 1961 über die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Welt fort. Mit Hegel habe Ritter dargelegt, dass die Ausbildung der Politischen Ökonomie durch Adam Smith und ihre rechtliche Absicherung die "bürgerliche Gesellschaft" nach ihrem neuen Wortsinn aus dem substantiellen Eingebettetsein in die Geschichte herauslösten. Nach dem Ritter-Schüler Odo Marquard kompensieren die Geisteswissenschaften Modernisierungsschäden. Sie "erzählen" und bewahren so in der Zeit der Versachlichungen "Geschichten". So ist der spezifisch moderne Sinn für das Geschichtliche entstanden: ,,Aus dem Geiste dieser Sensibilität wird das Museum, der Denkmalschutz, die Pflege des Brauchtums geboren, und, akademisch, die Geisteswissenschaften historischer Provenienz." (S. 11) Das Nachwort Die Qual der Bilder führt mit Horst Bredekamp die Ansätze von Aby Warburg und Martin Warnke fort. Danach stehen die Wissenschaften auf einem bildgebundenen Unterbau. Das führt zu einer Metaphysik im Sinne von Leibniz. Diese entflieht nicht der Welt, sie sichert vielmehr unseren Bezug zu ihr ab. "Erst wo Lebewesen eines wissenden Bezuges zur Welt fähig sind, der ins nur Geahnte, jedenfalls Nichtgewusste gestellt ist, wächst ihnen Geist zu." (S. 379).Platon und Aristoteles, dann Plotin und Proklos, aber auch Leibniz und Hegel antworten auf die Krisen ihrer Zeit. Heute führt die Globalisierung und der Dialog der Kulturen zu metaphysischen Erörterungen. Bedeutsam ist, wie 334 Vgl. Wilhe1m Perpeet: Erich Rothacker. Philosophie des Geistes aus dem Geist der Deutschen Historischen Schule. Bonn 1968; Derselbe: Kulturphilosophie. Anfänge und Probleme. Bonn 1997, vor allem S. 77 ff. über Rothacker. - Zum folgenden s. Anm. 305.
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Hogrebe dabei zur Hermeneutik die Mantik stellt. Über eine Hermeneutik, die etwa bei Schleiermacher die Mantik in sich aufgelöst hat, führt die Einsicht hinaus, dass das Bringen einer Botschaft und das Dolmetschen einerseits, das Wahrsagen andererseits in Hermes und Apoll jeweils ihre Gottheit haben. Mit Walter Benjamin wird das Lesen auf das Lesen in den Sternen oder den Eingeweiden von Opfertieren zurückgeführt. Durch unsere bildende Kraft entsteht Sprache, wenn die Zeichen in keiner Ähnlichkeitsbeziehung stehen, aber Bildnis, wenn sie es tun (S. 62). Nach dem Ende der Kunst, wie Hegel es festhielt, beginnt das Symbolisieren neu, wenn Josef Beuys mit Fell, Fett und Filz arbeitet (S. 65).335 Es bleibt nötig, das Philosophieren in seiner Bezogenheit auf seine Zeit zu sehen und philosophisch die Aufgaben zu übernehmen, die die eigene Zeit stellt. Joachim Ritter studierte (zusammen mit dem späteren Emigranten Eric Weil) bei Ernst Cassirer. Da auch von Hamburg aus die Pariser Manuskripte von Karl Marx aufgearbeitet wurden, gab es bei ihm marxistische Anfänge. 336 Ritters erste, jüdische Frau starb früh. Offenbar wollte er seine Chancen wahren, wenn er 1937 in die nationalsozialistische Partei eintrat. Er musste opponieren, als nach dem Zweiten Weltkrieg Martin Heidegger in einer neuen Wirkung das Philosophieren prägte. Doch bleibt zu fragen, ob Ritter und sein Kreis die Weise voll aufnahmen, in der Heidegger in der Auseinandersetzung mit dem Physiker Werner Heisenberg das Problem der Technik aufwarf. Die Ritter-Schule forderte zu Recht für das Streben nach Veränderungen Argumente. Kann der Bruch aber nicht nötig werden, der zu einem anderen Anfang führt? Wie wurde in diesem vorsichtigen Vorgehen der Rirter-Schule z.B. der 20. Juli 1944 aufgenommen? Ließ sich nicht vom Widerstand um den Grafen Stauffenberg her zeigen, wie die Antigone-Tragödie in ihrer Umbildung durch Hölderlin den Widerstand gegen die Zeit zu einer anderen Geschichte führt?337 Wie soll dieses Europa, das sich so mannigfaltig darstellt, aufgenommen werden in die vielfältige Weltkultur? Der Dichter Hermann Hesse wurde als Kind durch sein Elternhaus hineingestellt in die pietistischen Tendenzen wie in den missionarischen Ausgriff nach Asien. Davon musste er sich befreien, um mit dem SteppenwolJ ein Kultbuch zu schreiben, das auch noch für die amerikanische Jugend nach dem Zweiten Weltkrieg wichtig wurde. In seinem Alterswerk Das Glasperlenspiel von 1943 zeigt Hesse, wie China und Indien zu eigenständigen Partnern des Abendlandes geworden sind. Heidegger, durch seine japanischen Schüler zur Auseinandersetzung mit dem Zen-Buddhismus geführt, setzte schließlich doch stärker auf das Chinesische. Dabei ging es aber nicht um die 335 Zum einzelnen vgl. meine Besprechung in: Philosophische Rundschau 55 (2008), S. 85 ff. Zum Rückgriff auf den Gegensatz zwischen dem Mantischen und dem Hermeneutischen vgl. auch Wolfram Hogrebes Akademie-Vonrag Von der Hinfälligkeit des Wahren und der Abenteuerlichkeit des Denkers. Eine Studie zur Philosophie Oskar Beckers. Paderborn 2007. 336 Vgl. Gunter Scholtz: Joachim Ritter als Linkshegelianer. In: Joachim Ritter zum Gedenken. Hrsg. von Ulrich Dierse. Stuttgart 2004. S. 147 ff. 337 Das gilt auch für die unmenschliche Weise der Hinrichtung derer, die mit dem 20. Juli 1944 verbunden waren; vgl. Pöggeler. Schicksal und Geschichte (s. Anm. 143). S. 20.
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konfuzianische, sondern um die taoistische Tradition. Heute ist es unabdingbar, von Europa aus das Gespräch mit Ostasien in neuen weltpolitischen Konstellationen durchzuhalten.
4. Gespräch mit Ostasien Als die amerikanischen Schiffe des Admirals Parry 1854 die japanischen Häfen gewaltsam für den Welthandel öffneten, begann für Japan eine Geschichte, die zu mannigfachen Umkehrungen führte. Das Jahr 1941 brachte den vernichtenden Angriff auf die amerikanische Flotte in Pearl Harbour; die Japaner griffen weit in Ostasien aus, doch das Kriegsglück wendete sich schließlich. Der Abwurf von Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki brachte allenfalls noch eine Verkürzung des Krieges, darüber hinaus aber die Erprobung einer neuen Waffe. Da auch die Sowjet-Union sie erlangte, konnte der mögliche große Krieg zum "kalten Krieg" erstarren. In jedem Fall war Amerika nicht mehr ein Annex von Europa, sondern führende Weltmacht; das besiegte Japan entfaltete seine Wirtschaft und gewann so eine neue Rolle in der Weltpolitik. Zweifellos setzten die wirtschaftlichen Erfolge Japans eine besondere kulturelle Prägung voraus: Die Jugend fügte sich nicht über eine Rebellion, sondern über den Respekt in die bestehende Gesellschaft ein; auch die großen Wirtschaftsfirmen zeigten so etwas wie eine familiäre Struktur. Nicht allein die Zollpolitik, sondern vor allem der Spatwille der Bevölkerung brachte als Voraussetzung innovativer Investitionen Vorteile. Die Konditionierung der Menschen wurde im wirtschaftlichen Kampf um Vorherrschaft der einen oder anderen Weltregion wirksam; doch ging es nicht nur um kulturelle Vorprägungen, sondern um eigentümliche Regelungen des ökonomischen Prozesses selbst. Niemand wird die Anstöße leugnen, die einmal von Europa ausgingen; deshalb aber darf die T echnisierung nicht einfürallemal durch einen "metaphysischen" Weltzugriff seit Platon erklärt werden. Ist es nicht eine Sensibilität für anonyme Prozesse, die den Japaner besonders geeignet macht für bestimmte Weisen der Technisierung und Automatisierung, und trennt diese Sensibilität nicht Ostasien vom "Westen"? Als die japanische Wirtschaft im Weltmarkt an ihre Grenzen stieß, machte man dafür nunmehr einen "Nepotismus" in der japanischen Sozialstruktur verantwortlich. So kann das, was einmal als positiver Charakter einer Kultur oder einer Nation gesehen wurde, in eine eher negative Sicht geraten. Solche angebliche Erklärungen setzen, grundsätzlich betrachtet, zu Unrecht einheitliche geschichtliche Völker oder Kulturen voraus. Doch bleibt zu fragen, ob eine Kultur überhaupt eine geschichtlich entfaltete "Identität" hat, in der das Ganze alles Einzelne bestimmt, oder nur einen Zusammenhalt bringt, in dem Einzelnes eigene Wege gehen kann. 338
338 Vgl. die Debatte um Huntington sowie Elmar Holensteins strukturalistische Polemik gegen Klaus Helds Ausgang von Husserl und Heidegger in: Phänomenologie im Widerstreit.
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Welche Kulturen oder Völker gehen uns etwas an, und aus welchen Prägungen des eigenen Lebens heraus können wir ihnen begegnen? Stellen wir uns dieser Frage, dann sind die Unterschiede groß auch zwischen Menschen, die sich nahe stehen. So hat Martin Heidegger sich dagegen gewehrt, dass Gefährten wie Carl Friedrich von Weizsäcker oder Medard Boss sich vor allem auf die indische Tradition bezogen. Dabei werde nicht gesehen, dass menschliches Dasein eine bestimmte Bodenständigkeit auf dieser Erde habe und nur von dieser Eingelassenheit her offene geschichtliche Horizonte gewinne. Die Rede vom Schleier der Maya verhindere, dass das Dasein konkret zwischen Erde und Himmel zum Ereignis werde. Zuerst müsse das Dasein das Dunkel zulassen, in das die Erde sich entziehe, die ja schon vor dem Dasein gewesen sei. "Beim indischen Denken geht es um eine ,Entmenschlichung' im Sinne des Sich-Einverwandelns des Daseins in die reine Helle. "339 Ausgerechnet in einem Gespräch mit einem japanischen Gast betont Heidegger, dass ihm das Chinesische näher stehe als das Japanische. Gemeint war nicht die konfuzianische, sondern die taoistische Tradition (die freilich auch in der japanischen Zen-Meditation aufgenommen ist). Wegen der sprachlichen Schwierigkeiten zog Heidegger sich von der begonnenen Übertragung der Sprüche des Laotse zurück und suchte vom Abendländischen selbst her neue Wege für das Abendland zu finden. Als Karl Jaspers die wechselseitige Verschränkung von Sein und Mensch im Humanismus-Brief Heideggers sah, sollten ihm "Erinnerungen an Asiatisches" zum Verständnis verhelfen. Doch korrigierte Heidegger diese Auffassung: Die vermeintlichen Anklänge an Asiatisches hätten ihre Wurzel darin, dass ihn seit 1910 der Lese- und Leberneister Eckhart begleitet habe, der auf das Selbe von Denken und Sein (die Thematik schon von Parmenides) verwiesen habe. 340 In jedem Fall haben unterschiedliche Generationen japanischer Gäste Heidegger immer erneut zur Auseinandersetzung mit der chinesisch-japanischen Tradition herausgefordert. Dazu kam die Verbindung mit Malern, die wie Bissier und Tobey Asiatisches aufnahmen. Hans-Georg Gadamer hat dargelegt, dass der junge Heidegger vom Aristotelismus her die Analogie des Seins gegen Platon und Kant ausgespielt habe. Gadamer sagt dann: ,,Aus dem gleichen Interesse musste ihn 1923 die Veröffentlichung des Opus tripartiturn von Meister Eckhart begeistern. "341 In Gesprächen konnte Gadamer noch weitergehen: In der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre habe man von Heidegger nicht Sein und Zeit erwartet, sondern ein Buch über Zum 50. Todestag E. Husserls. Hrsg. von eh. Jamme und O. Päggeler. Frankfurt a. M. 1959.
S. 13 ff.
339 Vgl. zum einzelnen Päggeler: Schritte zu einer hermeneutischen Philosophie (s. Anm. 5). S. 68. - Zum folgenden vgl. über Heidegger und Laotse Päggeler: Neue Wege mit Heidegger (s. Anm. 83). S. 387 ff. 340 Vgl. Heidegger / Jaspers: Briefwechsel /s. Anm. 59). S. 178, 181 f. - Zum folgenden vgl. Päggeler: Bild und Technik (s. Anm. 247). S. 204 ff. 341 Vgl. Gadamer: Heideggers Wege (s. Anm. 110). S. 131; zum folgenden vgl. Hälderlins Verse in Heidegger: Reden und andere Zeugnisse (s. Anm. 57). S. 749 ff.
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Meister Eckhart. Doch hat Heidegger im Rückgriff auf seine frühen Lehrveranstaltungen vom geplanten Werk Sein und Zeit 1927 die Daseinsanalyse vorgelegt, die von Paulus, Augustin und Luther ausging. Dann aber ließ er sich durch Nietzsche und schließlich vor allem durch Hölderlin zu seinem zweiten Hauptwerk, den Beiträgen zur Philosophie von 1936/37, führen. Doch gab es noch Gespräche über Meister Eckhart, als er seinem Messkircher Landsmann Bernhard Welte die Anweisungen für sein Begräbnis gab. Am offenen Grabe wurden dann Verse Hölderlins gesprochen. Martin Heidegger hat in der für ihn schwierigen Zeit der "Entnazifizierung" 1946 begonnen, mit Hilfe eines chinesischen Lektors Sprüche von Laotse zu übertragen. Verse aus Laotse in chinesischen Schriftzeichen schmückten sein Arbeitszimmer. In seinen Gesprächen mit dem Physiker Werner Heisenberg spielten Gleichnisse des Tschuang Tse eine Rolle. Die Explosion der Atombombe war damals mit der Formulierung "heller als tausend Sonnen" angesprochen worden. Ließ sich nicht vom Sonnengleichnis Platons eine Linie zur Atomtechnik ziehen, die ebenso zerstörerisch wie aufbauend sein konnte? Heidegger suchte mit Hölderlin wie auch zeitweise mit der taoistischen Tradition einen Weg über diesen "metaphysischen" Weltzugriff hinaus. Hölderlin hatte im Gedicht Andenken vom "dunklen Licht" des Weins im Becher gesprochen. Zu dieser Formulierung stellte Heidegger ein Wort des Laotse über den Weisen: "Wer seine Helle kennt, sich in sein Dunkel hüllt." In den dreißiger Jahren hatte Heidegger die Wahrheit des Seins selbst als ein Wechselspiel von Entbergen und Verbergen gefassst. Nunmehr suchte er die "Lichtung", d.h. die offene Stelle im Dunkel des Waldes. Die Sonne wurde verdrängt durch den Stern, der in dunkler Nacht aufgeht. Heidegger sah den Weg seines Denkens als ein Zugehen auf einen Stern; nicht ein Kreuz, sondern einen Stern ließ er auf sein Grabmal meißeln. Hat Heidegger nicht auch versucht, die metaphysisch-technisch geprägte Sprache des Westens zu beziehen auf die chinesische Sprache, in der sich Wort und Bild entsprechen? Die Konzentration auf die Leitworte des eigenen Denkens führte zu dem berüchtigten "Etymologisieren"; leitete sie nicht zu Wegen, die anderen kaum noch zu vermitteln waren? Wenn Martin Heidegger und Rudolf Bultmann in ihren gemeinsamen Marburger Jahren eine große Nähe zueinander gewannen, so fallen doch die Unterschiede in ihrer geschichtlichen und sachlichen Grundorientierung auf. Bultmann behandelt zwar die mystische Tradition und ihr Verhältnis zum christlichen Glauben, doch von sekundären Quellen her. Das läuft dann hinaus auf eine Abwehr: "die Mystik sieht an der Geschichtlichkeit des Menschen vorbei".342 Bultmann wurde durch die (eher feindliche) Nähe zu Rudolf Otto an Indien erinnert. Ostasiatisches kommt nur vor, wenn andere erörterte Autoren sich darauf beziehen. Statt Hälderlin zieht Bultmann lieber die nachgoethesche Lyrik von
342 Vgl. Buhmann: Theol. Enzyklopädie (s. Anm. 131). S. 124. - Zum folgenden vgl etwa Buhmann: Glauben und Verstehen. Band 1 (s. Anm. 27). S. 307, 83.
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Conrad Ferdinand Meyer heran. Offenbar hat er die Nähe Heideggers zu japanischen Philosophen nicht beachtet. Der junge Heidegger legte seine Abkehr von Husserls transzendentaler Phänomenologie seiner berühmten Freiburger Vorlesung vom Sommer 1923 über Ontologie oder Hermeneutik der Faktizität zugrunde. Einer der Hörer, Hajime Tanabe, berichtete schon 1924 darüber in Japan unter dem Titel Die neue Wende der Phänomenologie. Heideggers Phänomenologie des Lebens. In Sein und Zeit sind es christliche Autoren, die über den Seinsgedanken der antiken Philosophie hinausführen. Als 1937-39 Keiji Nishitani bei Heidegger studierte, bewegte dessen Denken sich in einer anderen geschichtlichen Welt. Nishitani konnte ein Referat, das er bei Heidegger gehalten hatte, in Japan unter dem Titel Nietzsches Zarathustra und Meister Eckhart publizieren. 343 Erst seit 1939 erschienen in Japan auch Übersetzungen von Sein und Zeit. Nicht in eine begriffliche Sprache, die vom Chinesischen oder auch Europäisch-Amerikanischen bestimmt war, sondern in die gewachsenen japanischen Worte suchte Köichi Tsujimura 1967 Sein und Zeit zu übersetzen. Ryösuke Ohashi machte dann darauf aufmerksam, dass in den sieben japanischen Übersetzungen von Sein und Zeit selbst das Wort "Sein" auf zweifache Weise wiedergegeben wird. Die Zen-Geschichte Der Ochs und sein Hirte wurde durch Köichi Tsujimura und Hartrnut Buchner ins Deutsche übertragen, nämlich in eine Sprache, die durch Heideggers spätes Denken geprägt war. Von dieser Geschichte her thematisierte Shizuteru Ueda den Bezug zwischen der Mystik Eckharts, der Nihiilismusdiagnose Nietzsches und dem Zen-Buddhismus. Dabei wurden die europäischen Traditionen kritisch aufgenommen: Das Nichts, das bei Nietzsche negativ und bei Eckhart positiv aufgefasst wird, bleibt hinter der Fülle des Nichts zurück, auf die sich der Zen-Buddhismus richtet. 344 Gerade bei jenen Japanern, die sich dem deutschen Idealismus und der phänomenologischen Philosophie zugewandt haben, musste schließlich die Frage erwachen, ob Ostasien sich nicht auf seine Eigenständigkeit besinnen und andere als die europäisch bestimmten Wege gehen müsse. So zeigte Köichi Tsujimura an einem altchinesischen und einem holländischen Bild, dass der europäische Maler mittels der Perspektive vom Blickpunkt des Sehens ausgehe. Dagegen nehme die ostasiatische Verbindung von Bild und Gedicht den Menschen zurück in die Landschaft, die heimkehren lasse zur Natur. So könnten die Menschen in neuer Weise eine heilige Mitte für ihr Leben finden, von der das Auswuchern des Technischen begrenzt werde. Der Versuch Europas, über das Sein von Seiendem zum Sein selbst vorzudringen, und der ostasiatische Ansatz, sich durch den Tod auf die Fülle des Nichts verweisen zu las-
343 Vgl. Japan und Heidegger (s. Anm. 264). S. 89 /f., 34; zum folgenden vgl. Studia Phaenomenologica. Band V. Bucharest 2005: Translating Heideggers Sein und Zeit. S. 169. 344 Vgl. Die Philosophie der Kyoto-Schule. Texte und Einführung. Hrsg. von Ryosuke Ohashi. Freiburg / München 1990. S. 471 fI - Heidegger hat vieles Japanische, das an ihn herantrat, missverstanden; vgl. Pöggeler: Neue Wege mit Heidegger (s. Anm. 83). S. 104 ff-
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sen, ständen sich nicht ganz fern; doch bleibe zwischen ihnen letztlich eine Kluft, die anerkannt werden müsse. 345 In der alten japanischen Kaiserstadt Kyoto konnte sich (mit Nishida, Tanabe, Nishitani und deren Schülern) ein Denken ausbilden, das in intensiver Weise die Auseinandersetzung mit dem Deutschen Idealismus und der phänomenologischen Philosophie pflegte. Keiji Nishitani hat sich mit seinem Werk Was ist Religion? (1961, deutsch 1982) an breitere Kreise gewandt. Auch in der Zeit des Kalten Krieges zieht er die entscheidende globale Abgrenzung nicht zwischen dem liberalen Westen und dem kommunistischen Osten. Vielmehr beruft er sich auf Arnold Toynbees Buch Wie stehen wir zur Religion? von 1958, das die globale Kluft zwischen der buddhaischen und der westlichen-judaischen Gruppe von Philosophien und Religionen ansetzt. Wenn Toynbee den Buddhismus auf einen zyklischen Weltprozess festlegt, kann Nishitani ihm nicht folgen. 346 Für Nishitani hat der Westen seine Wurzeln darin, dass im alten Iran das Sollen vom Sein unterschieden, diese Ausrichtung auf den Menschen und seinen Willen sowohl in Israel wie in Griechenland fortgesetzt wurde und in der europäischen Neuzeit zum Zugriff auf die Herrschaft über die Welt führte. Doch habe es immer schon Gegenbewegungen gegeben, etwa bei Franz von Assisi. Mit diesem spricht Nishitani auch das oft so zerstörerische Feuer als "Bruder" an. Wird durch diese Einfügung des Menschen in die vielgestaltige Natur nicht die Frage vom Tisch gewischt, welche Verantwortung der Mensch zu tragen hat für die Feuer des atomaren Krieges? Schon vor dieser Frage liegt die andere, ob das Denken eine Mitverantwortung in der Entscheidung für den Krieg hatte. Mussten nicht in Deutschland wie in Japan jene sich melden, die durch Erörterungen über Sein und Nichts dazu angeleitet wurden, sich für Kleinst-Uboote oder Kamikaze-Flüge anwerben zu lassen? So konnte man Heideggers Rektoratsrede von 1933 zusammenstellen mit Nishidas Aufsatz Staatsräson von 1941, wo der Opfergang als Austrag der Wahrheit des Seins oder der Fülle des Nichts gefordert wird. Damit wurde es möglich, "die Metapher von den nach kurzer Blüte in den Sonnenstrahlen tanzend fallenden Kirschblüten zu benutzen, um den sinnlosen Tod der Selbstmordflieger poetisch zu erklären".347 Man darf nicht übersehen, dass in solchen Polemiken, so oberflächlich sie oft bleiben mögen, die Stimmen derer zu Wort kommen, die angeblich freiwillig, in Wirklichkeit mit vielem Zwang und mit Unterstützung eines vermeintlich besseren Denkens für geschichtliche Irrwege rekrutiert wurden. Martin Heidegger hat 1936 (als Hitler die Welt zu den Olympischen Spielen in Berlin begrüßte) in einer Vorlesung über Schellings Untersuchungen über das 345 Vgl. Die Philosophie der Kyoto-Schule (s. Anm. 344). S. 435 ff., vor allem 468 f. 346 Vgl. Keiji Nishitani: Was ist Religion? (s. Anm. 14). S. 310, 33, zum folgenden 422. 347 Vgl. Kenichi Mishima: Über eine vermeintliche Affinität zwischen Heidegger und dem ostasiatischen Denken. Gesehen im politischen Kontext der faschistischen und nachfaschistischen Zeit. In: Zur philosophischen Aktualität Heideggers (s. Anm. 70). Band 3 von 1992. S. 325 ff., vor allem 341. - Zu Heidegger vgl. Otto Pöggeler: Philosophie und Politik bei Heidegger. 2. erw. Auf!. Freiburg / München 1974.
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Wesen der menschlichen Freiheit das "Böse" thematisiert. Wenn er sich in den folgenden Jahren bevorzugt auf Heraklit bezog, dann dachte er den Logos-Begriff von einer vernehmenden Vernunft her, wie er sie bei Meister Eckhart kennengelernt hatte. So fällt in seinem späteren Bezug auf Schelling die Thematik des Bösen eher aus. Konnte nicht auch dieser Ausfall gestützt werden durch den Weg zum Taoismus? Diese Frage zeigt, dass das damals geführte Gespräch zwischen Europa und Ostasien kritisch überprüft werden muss. Das Abendland einerseits und Ostasien andererseits sind sehr verschiedene Wege gegangen; dazu gehörte auch, dass sie einander in bestimmten geschichtlichen Situationen entdeckten. Doch hatte jeder seine Geschichte selbst aufzuarbeiten. So war die Geschichte der Erfahrung des Schönen und der Ausbildung bestimmter Künste in Japan darzustellen. In seinem Versuch besteht Ry6suke Ohashi auf dem Schnitt (kire). Der Trockengarten z.B. schneidet das Leben ab und lässt das Natürliche sterben, um es so neu (als Kunst) zu gewinnen. Wenn eine gotische Kathedrale das Licht durch ihre Glasfenster eindringen lässt, so vergegenwärtigt sie in Bildern der Heilsgeschichte ein Jenseits. Dagegen kommt im japanischen Teeraum das Licht gar nicht von oben; es dringt ein durch das offene untere Drittel der Papierwände und ist in seiner Unmittelbarkeit negiert. Natur und Kunst sind so aufeinander bezogen, dass das Natürliche durch den Schnitt negiert und aus der Negation wiederhergestellt werden muss. 348 Nur von solchen Versuchen her, das Eigenständige in den unterschiedlichen Kulturen zu sehen, kann ein Gespräch zwischen Europa und Ostasien in Gang kommen ..
5. Gnosis in unserer Zeit? Hans Erich Nossack Am 31. Januar 1962 hielt Martin Heidegger in Freiburg einen Vortrag Zeit und Sein. Er griff auf den Titel des dritten Abschnitts von Sein und Zeit zurück, damit auf einen Abschnitt, an dem das geplante Werk gescheitert war. Die ersten beiden Abschnitte hatten eine Analyse des Daseins gegeben; im dritten Abschnitt sollte dann das Dasein als Da des Seins genommen werden: Von der Zeitlichkeit des Daseins aus sollte die Zeit in den Blick kommen, insofern ihre Artikulation in unterschiedliche Dimensionen verwies auf die Artikulation des Sinnes von Sein oder des Seins selbst in mannigfache Seinsweisen. Zu dieser Konstruktion des Sinnes von Sein sollte die Destruktion mit wiederum drei Abschnitten treten. Sie sollte (von Aristoteles, Descartes und Kant her) das Aufgezeigte in der Geschichte verwurzeln. Die Frage blieb, ob selbst der Sinn von Sein mit der Mannigfaltigkeit von Sein als zeitlich oder geschichtlich genommen werden müsse. Durch diese Frage wurde Heidegger 1929/30 zu seinem seinsgeschichtlichen Denken geführt. Trat damit die Geschichte nicht in einer einseitigen Weise in den Vordergrund? Sie kam nicht nur vor etwa in ihrer Unterschiedenheit von der Natur, sondern 348 Vgl. zum einzelnen Ry6suke Ohashi: Kire. Das Schöne in Japan. Philosophisch-ästhetische Reflexionen zu Geschichte und Moderne. Köln 1994.
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auch als Charakter der unterschiedenen Seinsbereiche. Diese Frage sollte 1962 geklärt werden. Vom 11. -13. September hielt Heidegger in Todtnauberg ein Seminar über seinen Vortrag. Das Protokoll dieses Seminars, angefertigt von Alfredo Guzzoni, wurde 1969 zusammen mit dem Vortrag Zeit und Sein in dem Bändchen Zur Sache des Denkens veröffentlicht. Am Schluss stand unvermittelt ein Satz aus der Erzählung Unmögliche Beweisaufoahme von Hans Erich Nossack: ,,Aber der Angeklagte winkte ab. Man müsse da sein, sagte er, wenn man angerufen werde, doch selbst anzurufen, das sei das Verkehrteste, was man tun könneo "349
Nossacks Erzählung erschien 1956 in Spirale. Roman einer schlaflosen Nacht, dann auch separat. Es überrascht, wie viele Formulierungen aus der Erzählung (schon der Titel) bei Heidegger Parallelen haben. Offenbar war es die Situation der Nachkriegszeit, die zu den Übereinstimmungen führte. In der Erzählung ist jemand angeklagt, er könne Mitschuld haben am spurlosen Verschwinden seiner Frau. Der angeklagte Versicherungsagent begründet, warum er sich im Büro von seiner Frau anrufen ließ: Sie konnte sich im Hören seiner Stimme seiner vergewissern. Hätte er selbst angerufen, dann hätte er sein Wissen um die Unsicherheit seiner Frau kundgetan; es hätte scheinen können, als ob er ein eigenes Tun verbergen wollte. Eines Abends nach der Heimkunft, als seine Frau schon ins Schlafzimmer des oberen Stockes gegangen war, setzte sich bei ihm der ,,Aufbruch ins Nicht-Versicherbare" durch. 350 Wenn zwei Menschen nicht zueinander kommen sollen, wird als Begründung dafür oft die konfessionelle Verschiedenheit oder ständischer Hochmut ins Spiel gebracht. Das Leben selbst bestraft jene, die solche Gesetze übertreten. So hat nach dem Angeklagten die Anklage gegen ihn in jedem Fall Recht. Einst kam seine spätere Frau zu ihm, obwohl sie mit einem anderen verheiratet war; dieser andere wurde dann mit einer Frau, die gegen sein erstes Wissen für ihn bestimmt war, im Leben und auch in seinem Beruf glücklich. Der Posten des Bürgermeisters winkte ihm (60 ff.) . Der Angeklagte vereinbarte dagegen mit seiner Frau beim Eheschluss, dass sie auf keinen Fall Kinder haben wollten (36). Hier tritt ein gnostischer Zug zutage: Das "Körperliche" war für die beiden das "Unmenschliche" (46 f.). Von der Mutter (die in eine Lebensrolle einweist) hatte der Angeklagte "Vernichrung" gefürchtet und sich möglichst von ihr ferngehalten (93): Hier hat der Roman autobiographische Parallelen. Der Angeklagte will das, was ihm widerfuhr, nicht als Schuld angesprochen sehen, sondern als "Schicksal" (110). Über die Rede vom ,,Aufbruch" kann er nur lachen. Das Nicht-Versicherbare sei überall unter den Menschen: "Man befinde sich plötzlich darin, das heißt, man erkenne plötzlich, dass man sich darin befinde und dass man sich schon immer darin befunden habe" (113). Der Angeklagte lebte immer "wie auf dem Sprung", in der "Untuhe des Wartens", aber eines Wartens auf nichts Bestimmtes (127). Die Erfahrung des Nicht-Versicherbaren 349 Vgl. Heidegger. Zur Sache des Denkens (s. Anm. 62). S. 58. 350 Vgl. Hans Erich Nossack: Unmögliche Beweisaufnahme. Frankfurt am Main 1956 und 1961. S. 29, 10. Im folgenden verweisen die Zahlen im Text auf diese Ausgabe.
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erleide man; sie führe in die Einsamkeit. Man könne darüber nicht sprechen; die Sprache sei "Schweigen" (136). Seiner Frau und ihm fehle eine schützende Haut, die andere hätten. Schlaf und Traum brächten die schlimmsten Schrecken. Wer wachend der Gefahr sich aussetze, dürfe nicht angerufen werden, sonst zerplatze er wie eine Seifenblase. Als seine Frau aber in dieser Situation zu ihm kam, sah er nur die Möglichkeit, gemeinsam zu fliehen, was immer dann passieren möge (143 ff.). Für eine Annahme, seine Frau sei von einem anderen gerufen worden, und sei das auch ein Engel, müsse das Gericht Beweise beibringen (156). Er betont, er habe seine Frau nicht mit dem schweren Aschenbecher erschlagen; er sei mit ihr fortgegangen und habe sie dann (im September!) im Schneesturm verloren (163). Er weist zurück, dass er Mitleid mit seiner Frau empfunden habe oder gar einen "abgrundtiefen Hass", dessen Ausbruch er habe verhindern wollen. Er nimmt auch die Rede vom Engel auf: Als Kind kenne man die Engel aus den Erzählungen der Großmütter; später sei die Erfahrung von Engeln allenfalls sehr kurz und "schon im Entgleiten" (175 f.). Vier Stunden nach dem Fortgehen aus dem Haus hatte ihn jedenfalls ein Schutzmann am See nach seiner Frau rufen hören und aufgegriffen (180). Die Erzählung ist durchflochten von Überlegungen, die die tiefere Problematik dessen hervorheben, was die einzelnen Personen erfahren. Der ,,Angeklagte" wusste schon sehr früh in einer Runde von Junggesellen, dass er nicht zu ihnen gehörte. Er sieht sich zum Tode verurteilt (obwohl die Todesstrafe doch abgeschafft ist); er schwitzt unter den Achseln, wie es zum Tode Verurteilte tun (189 ff.). Sein Verteidiger sagt zu ihm, dass er die Sprache überstrapaziere, nämlich das Metaphysische, welches das physische Dasein entscheidend beeinflusse, "mit physischen Vokabeln" zu erklären versuche. Dieses Metaphysische entziehe sich der juristischen Diskussion. Auch von der intimen Vereinigung der Geschlechter bleibe in der Erinnerung "der Eindruck einer Lücke" zurück, "ja, einer Aufhebung der gewohnten logischen und physischen Gesetze" (166 f.), Der Angeklagte habe dazu gesagt: "Wer mit der Psychiatrie paktiert, erklärt sich für bankrott. Der Mensch fängt überhaupt erst dort an, wo sie nicht hinkommt." (171) Das Zusammenleben der Menschen wird geordnet durch Institutionen, wie die Ehe eine ist. Bezeichnend für Nossack ist, dass bei ihm Kinder nicht vorkommen. Die Leiblichkeit und die Inkarnation im Zeitlichen werden verachtet. Diesen Ordnungen entziehen sich jene, die gegen alle Widerstände aus Herkommen und gegen wirtschaftliche Zwänge zueinander gerufen sind. So hat der Angeklagte nach langer Bahnfahrt seine Frau aus deren familiären Verhältnissen herausgeholt. Doch ihr Leben bleibt bestimmt durch ihr Weinen im Nebenzimmer. Nach den berühmten sieben Jahren bricht sie auf. War ihr Mann an ihrem spurlosen Verschwinden mitschuldig, ist er also zu Recht angeklagt? Er vermutet sie noch irgendwo, doch mag sie nun auf einen anderen Namen hören, damit einem anderen Schicksal folgen (291 f.). Von diesem schicksalhaften Geschehen ist gerichtlich und juristisch nichts fassbar; so bricht denn auch das Protokoll ab. Der Angeklagte sagt, er habe sich im Schneesturm nach seiner Frau umgesehen; doch wäre sie nicht mehr neben ihm gewesen. Das erinnert an Orpheus, der
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Eurydike aus dem Hades zurückholen durfte; er verlor sie, weil er sich verbotener Weise nach ihr umsah (sie als Lebende haben wollte und nicht als erinnerte Gestalt). Der Schnee macht blind; die Richtung ist nicht mehr erkennbar. So verfehlte der Angeklagte die richtige Richtung. Sein Rufen erreichte seine Frau nicht mehr, sonst wäre sie zu ihm gekommen. Das "Großartigste" ist für ihn, dass im Fallen der Schneeflocken alles, auch die eigene Spur, verschwindet. "Es schneit doch schon ewig und es schneit immer noch. Dicke weiße Flocken. Auch zwischen uns hier schneit es." Der Dampf aus der Suppe, die man gemeinsam isst, steigt empor und fällt als Schnee zu Boden (211 f.). Im Bändchen Das Mal und andere Erzählungen (I987) trägt die Erzählung Die Schalttafel ein Motto von Georg Büchner: "Er tat alles, wie es die anderen taten." So heißt es am Schluss von Büchners Erzählung Lenz. Doch fährt die Erzählung über den unglücklichen Straßburger Gefährten Goethes noch fort: "Es war aber eine entsetzliche Leere in ihm ... sein Dasein war ihm eine notwendige Last." Nossacks Erzählung spricht von einem Studenten, der abrupt aus seiner Verbindung austrat. Ein Kommilitone mit dem Allerweltsnamen Schneider besuchte ihn. Dieser tat alles, wie andere es tun, Mit einer Schalttafel regelte er sein Leben; Gefahr und Überraschung, aber auch "Schicksal" sollten ausgeschlossen werden. Um ganz anonym zu sein und im Kollektiv unterzugehen, wollte er sogar heiraten und Kinder haben wie die meisten. Er war sich sicher: Das Elend der Vorstädte ist ein Thema für die Wahlreden der Politiker; aber was ist, wenn die Wohlfahrt für alle erreicht ist? Was dieser Schneider dann selbst tat, war nur eine Infamie gegen den, dem er seine Suada vorgetragen hat. Es verwundert nicht, dass Jean Paul Sartre sich für Nossack einsetzte. Gemeinsam war ihnen, dass sie gegen das Man und die Vielen standen, aber nicht unkritisch waren gegenüber dem beanspruchten Selbstsein. Nossacks Erzählung Das Mal spricht vom Eindringen in die unbekannten Regionen der Wüste und des Eises um den Polarkreis. Zu einer Forschungsexpedition haben sich jene zusammengetan, denen das Aufgehen im Gewohnten nicht mehr genügt. Sie treffen im ewigen Eis auf jemanden, der vor ihnen das Wagnis des Aufbruchs unternahm, weil man ihn zuhause nicht für voll nahm. Er erfror im Stehen und steht nun als Mal da. Ein Expeditionsteilnehmer will ihn fotografieren: "Er scheint mir aus dem Material zu sein, aus dem von jeher Götter gemacht wurden. Und dafür ist immer Bedarf." Noch wichtiger als dieses Mal, zu dem andere Male treten können, ist die Stille, die plötzlich statt des Sturms herrscht, gegen den man ankämpfen musste. "Heimkehr" wird dann zu einem Aphrodisiakum: "Zu den Altären zurückkehren. Und zu den Mädchen ins Bett." Früher wurde man in solcher Ausgesetztheit ein Heiliger. "Doch es entspricht leider nicht mehr der Entwicklung unseres Gehirns. "351 Kann dieses Mal die heilige Mitte bilden für eine Sinnsuche, eine Sinnsetzung im Sinnleeren? Mit dieser
351 Vgl. Hans Erich Nossack: Das Mal und andere Erzählungen. Frankfurt am Main 1987. S. 18, 20 f.
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Frage steht Nossack durchaus in einer längeren Tradition. Friedrich Nietzsche begann sein polemisches spätes Buch Der Antichrist mit den Sätzen: ,,- Sehen wir uns ins Gesicht. Wir sind Hyperboreer - wir wissen gut genug, wie abseits wir leben. ,Weder zu Lande noch zu Wasser wirst du den Weg zu den Hyperboreern finden'. Das hat schon Pindar von uns gewusst. Jenseits des Nordens, des Eises, des Todes - unser Leben, unser Glück... " Bei Franz Kafka führt der Weg des Landvermessers zum Schloss in immer neue Schneewelten, in die es weiter hineinschneit. Als 1941 der deutsch-russische Krieg begann, starben Abertausende von Soldaten den Tod im Schnee. Vor der Erzählung Das Mal von 1963 erschien 1961 Nach dem letzten Auf stand, wohl Nossacks bedeutendster Roman. Dort begegnet einem jungen Mann in einer verstörenden Situation, nämlich gerade nach seiner Scheidung, ein Engel auf der Leopold-Straße in Schwabing, dem Münchener Vorort der Künstler und Literaten. Ist der Engel die Erinnerung an einen Freund, der das Ungewöhnliche wollte und so in die Fremdenlegion ging? Ist er die Projektion eines Unbewussten, das sich gegen das bewusste Wollen und Wünschen durchsetzt? Solche Erklärungsversuche sind letztlich keine. Der Engel ist so wirksam und damit wirklich, dass der junge Mann vor Schreck unter einen Autobus hätte geraten können. Ein alter Nachtportier nimmt sich seiner an; er sorgt für Beruhigung, indem er ihn zu den Dirnen schickt, die ihre Nachtarbeit hinter sich haben. Was dem jungen Mann widerfährt, ist auch sonst gegenwärtig. München kennt nicht nur Oktoberfeste und Eucharistische Kongresse; es hat auch das Theater, wo eine alternde Schauspielerin Elisabeth von England oder die schreckliche Medea spielt. Gelegentlich macht auch sie dem Nachtportier Geständnisse. ",Weshalb ich nicht einschlafen konnte', sagte sie, ,ich habe heute Nachmittag eine heimatliche Begegnung gehabt. Ja, auch ich', fügte sie hinzu und meinte damit den Engel. ,Als ich dann abends wieder auf der Bühne stand und die mir angewiesene Rolle spielte, sagte man: Heute waren Sie großartig, Gnädigste. Ein dummes, kränkendes Wort.'" Vor der Stadt pflegen Klosterfrauen in alten Gemäuern, die zum Heim wurden, Behinderte und Geisteskranke. Es wird immer noch erwas getan, was auf keinen Nutzen ausgerichtet ist, sondern sich in sich selbst erfüllt. 352 Ein letzter Aufstand hat zugunsten der organisierten allgemeinen Wohlfahrt die Begegnung mit so erwas wie Engeln abgeschafft. Doch die Vorzeit bleibt in der Erinnerung. In dieser Zeit war der Nachtportier der Begleiter eines Jünglings, der zum "Gott" auserwählt war. Neun Monate lang durfte er im Schoß der Geliebten liegen (die später zu der alternden Schauspielerin wurde). Er sollte in die Göttlichkeit eingehen, nämlich ein Leben führen, das in aller seiner Begrenztheit seinen Sinn in sich selbst trägt. Dann wurde er feierlich geopfert (wie es in altamerikanischen Riten geschah). Die Menschen gierten nach Reliquien, um selbst aus der Teilnahme an diesem Weg zum Ewigen zu leben. Der "oberste Diener" musste diese Zeremonie durchführen, doch glaubte er selbst nicht mehr an sie.
352 Nossack: Nach dem letzten Aufstand (s. Anm. 235). S. 59.
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(Er zehrte sich selbst auf und starb an Magenkrebs.) Nach dem letzten Aufstand, in der Gegenwart, ist die Zeit dieser Zeremonien vorbei. Doch sind die Grunderfahrungen auf dem Theater oder bei den stillen Klosterfrauen vor der Stadt noch da. Der Nachtportier des Schwrzen Lamms in München war einst Kellner in einem Wanderzirkus. Dabei konnte ihm der Tod eines Schriftstellers nahe kommen. Die Reden bei seinem Begräbnis erwähnten, "dass auf dem Nachttisch neben seinem Bett, in dem er starb, ein Heft gelegen habe, und die Überschrift des Heftes hieß: GESPRÄCHE MIT ... " Der Hinweis ist deutlich. 353 Doch hat Nossack auch in autobiographischen Überlegungen gesagt, wer gemeint war: Cesare Pavese. Nossack berichtet, dass er mit zwölf oder dreizehn Jahren (oder auch mit vierzehn) in der Bibliothek seines Vaters an die Tagebücher Hebbels geriet und selbst ein Mann wie Hebbel werden wollte. Hebbel habe wie ein diktatorischer Lehrer Tag und Nacht neben ihm gestanden, um ihm auf die Finger zu klopfen, wenn er beim Schreiben pfuschen wollte. Später sei ihm Ähnliches mit Strindberg geschehen. Stendhal habe ihn gelehrt, sich schlicht und ohne Bluff auszudrücken. Dostojewskijs Memoiren aus einem Totenhaus und Vincent van Goghs Briefe an seinen Bruder hätten auf ihn Einfluss gehabt. Im Alter von fünfzig Jahren sei ihm das Scheitern eines Menschen zur Bestätigung des eigenen Wegs geworden: "Ich spreche von Cesare Pavese. Nachdem ich sein Tagebuch Das Handwerk des Lebens und seine Gespräche mit Leuko, die man auf dem Nachttisch neben dem Bett, in dem Pavese sich umbrachte, fand, gelesen hatte, konnte ich sagen: Aha! An diesem Punkt also, lieber Bruder, an dem du aufgibst, muss man versuchen, weiter ins Dickicht vorzudringen, um den Dingen auf die Spur zu kommen." Nicht ein Werk mit seinen Büchern ist entscheidend. "Es sind die Männer selbst gewesen, ihre Haltung, ihr Schicksal oder wie immer man es nennen will, die mich verpflichteten. Wenn man die Bücher, durch die sie sich mir mitteilen, zusammenfassend beurteilt, sind sie allesamt kompromisslose Monologe. Dazu sollte ich anscheindend erzogen werden ... " Das Dickicht sind letztlich weder die Wüste noch die Polarreigion, sondern die großen Städte. Pavese hat sein Leben (auch als Verlags lektor) in der Umgebung von Turin geführt. Er war 1945 in die kommunistische Partei eingetreten und hatte literarisch den damaligen amerikanischen Realismus aufgenommen (etwa in dem Roman Der Genosse). Er wurde 1950 mit dem bedeutendsten italienischen Literaturpreis ausgezeichnet. Doch bald darauf beging er Selbstmord. Sein Buch Gespräche mit Leuko schildert, wie die Götter, die "Unsterblichen", die Gebärden sterblichen Lebens auf Dauer stellen. Die Götter des Olymps "vergessen" das Sterbenmüssen, das zum Leben gehört. "Sie dauern in einer Welt, die vergeht. Sie bestehn nicht: sie sind. Jede ihrer Launen ist ein verhängnisvolles Gesetz. Um eine Blume zu schaffen, zerstören sie einen Menschen." Gemeint ist hier im
353 a. a. O. 244. Zum folgenden vgl. Hans Erich Nossack: Aus den Akten der Kanzlei Seiner Exzellenz des Herrn Premierministers Tod. Frankfurt am Main 1987. S. 13, 19 ff.
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Gespräch zwischen Eros und Thanatos Hyakinthos. Vielfach ist zum Thema gemacht worden, wie die vorolympischen Götter durch die olympischen besiegt worden sind. (Zwar nicht Hölderlin, aber Walter F. Otto oder Mircea Eliade wurden für Pavese wichtig. Hervorzuheben ist Vicos Darlegung, dass Dichtung nur möglich ist auf der Grundlage der phantasiegeschaffenen Universalien des Mythos.)354 Nossack stammte aus einem Hamburger Handelshaus, das einen wichtigen Stützpunkt in Brasilien hatte. Die Mutter kam aus einer führenden Hamburger Familie. In der Glosse Orest sagt Nossack, die Zuneigung zu dem antiken Muttermörder habe ihm den Vorwurf "eines Anti-Mutter-Komplexes" eingetragen. Seine Mutter habe ihn nach einem Unglücksfall durch monatelange Pflege vor dem Tode gerettet. Doch wenn die Mutter ihre Autorität benutze, "ihre Kinder zu domestizieren", werde sie zu einer "gefährlichen Gegnerin". Herrschsucht, als Mutterliebe maskiert, sei "eine tödliche Gefahr für die Söhne". Einer seiner Brüder sei daran zugrundegegangen. Ernst Barlach habe im Drama Der tote Tag gezeigt, wie Mütter ihre Söhne zu "lebendig Toten" machen, wenn sie sie so an sich binden, dass sie deren zentrifugalen geistigen Möglichkeiten vernichten. Barlach forsche "noch im Ekligen nach dem Engel". Eine Aufnahme von Barlach, kurz vor seinem Tode gemacht, hing als einziges Bild in Nossacks Arbeitszimmer (so berichtet Nossack in seinem Bekenntnis zu Barlach). Beim Untergang Hamburgs im Bombenkrieg wurden auch die Manuskripte Nossacks bis auf zufällig Erhaltenes vernichtet. So heißt es in Nossacks Feuilleton Über das Eigenleben von Manuskripten: ~s nun Hamburg im Juli 1943 in Flammen aufging, stand ich ein paar Kilometer südlich der Stadt in der Heide unter Tausenden von Flüchtlingen, die über Nacht dorthin gelaufen waren." Davon spricht Nossacks Text Nekyia. Durch ihn konnte er sich mit Hermann Kasack treffen, der 1947 mit dem Roman Die Stadt hinter dem Strom von dem neuen Totenteich gesprochen hatte. 355 In seinem Beitrag Jahrgang 1901 in dem entsprechenden Sammelband von 1966 sieht Nossack seinen Geburtsjahrgang durch "das Ausbrechen in ein noch unerforschtes Exil" und damit durch den "Partisanen" charakterisiert. Nierzsche habe ihn jedoch abgestoßen, weil er sich dauernd überschreie und gerade so von den Nationalsozialisten aufgenommen werden konnte. Europäische Intellektuelle aus den verschiedenen Klassen und Nationen glichen sich in ihren Lebensläufen. "Wir erwachten zum Bewusstsein unserer selbst in der Morgentöte der Russischen Revolution. Es war natürlich, dass wir uns den Parteien anschlossen, die in unsern Ländern dieselben Ideale verkündeten, die wir aus Russland hörten. Es war eine Selbstverständlichkeit, dass wir in die Illegalität gingen, als die Diktaturen in Europa begannen, und sicher wären wir auch in Russland in die Illegalität
354 Vgl. Cesare Pavese: Gespräche mit Leuko. Frankfurt am Main 1991. S. 2, 11,42 f.; vgl. auch das NachwortvonJ. Hösle, S. 214, 222 f., 227. 355 Nossack: Aus den Akten (5. Anm. 353). S. 29 f., 42 f., zum folgenden 85, 48.
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gegangen und bei einer Säuberungsaktion liquidiert worden." Nossack hatte beim Studium in Jena kurzzeitig einer schlagenden Verbindung angehört. Er trat 1922/23 der kommunistischen Partei bei, wurde Fabrikarbeiter, aber bald arbeitslos. Der Anschluss an die kommunistische Partei in den Jahren 1930-1933 sei "mit innerer Distanz und nur aus taktischen Gründen" erfolgt; nur diese Partei schien ihm den Nationalsozialismus verhindern zu können. "Bei der Hausdurchsuchung um 1933 stutzte die Gestapo jedes Mal merklich, wenn sie mich zu Gesicht bekam. Ein Mann mit Mensurnarben konnte doch unmöglich ein Kommunist sein." Nossack flüchtete zur Zufriedenheit seines Vaters in die väterliche Firma. 356 Nach 1945 war er zumeist dabei, wenn es um die Verleihung literarischer Preise oder um wichtige Akademie-Sitzungen ging. Doch dieses geschäftige Treiben geschah ohne Beteiligung an dem Versuch, die Zerstörung einer demokratischen Bürgerlichkeit durch das Zusammenspiel von Kommunisten und Nationalsozialisten vor 1933 durch eine erneuerte Demokratie rückgängig zu machen. Nossack konnte das Bürgertum, das die neue Bundesrepublik aufbaute, offenbar nicht von den Auswüchsen des Bürgerlichen, wie er sie erfahren hatte, unterscheiden. Für unsere Thematik wichtig ist Nossacks Erzählung Das Testament des Lucius Eunnus. 357 Lucius Eurinus ist Bürger Roms in hoher Stellung; er ist vom Kaiser beauftragt mit der Überwachung der Maßregeln gegen die zersetzenden T endenzen der Christen (54). Schon Herodot fand es befremdlich, dass der kleine balkanische Volksstamm der Geten meinte, "es gäbe keinen andern Gott als den ihrigen". Dieser "engstirnige nationalistische Hochmut" ist nach Lucius Eurinus auch den Juden eigen; von diesen hätten die Christen ihn übernommen (15). Lucius Eurinus will dorthin, wo eine Hungersnot zur Unruhe treibt, Getreide bringen lassen und so auch der "Epidemie" der Christen entgegenwirken (17). Der Römer muss erkennen, dass seine eigene Frau Christin wurde. Dadurch wurde die natürliche Vertrautheit der Ehegatten zerstört. Darin hat man einen Beweis für die "absolute Religionsfeindlichkeit" der Christen, "der weit endgültiger ist als Opferverweigerung und sonstige Renitenz". Die äußeren Grenzen des Landes lassen sich verteidigen. "Werden aber die selbstverständlichen Werte geleugnet, verlieren die Grenzen ihren Sinn und fallen von innen her." (26) Die Christen, vorzüglich Leute ohne traditionelle Verwurzelung, sprechen in ihrer Propaganda "die Neidgefühle und den Hass derer an, die ohne Herkunft sind oder den Boden ihrer Herkunft verlassen haben" (38). Zwar sei die Kritik an der Hinrichtung Jesu berechtigt, doch würden durch sie Unmündige fanatisiert. ,,Aus dem bedauernswerten Schwärmer wird ein Sohn Gottes gemacht, den die bösen Römer hingerichtet haben, weil er zu gut für sie war." (43) In einem Gespräch mit einem alten Mann, den die Christen ihren "Bischof" nennen, erkennt 356 Ebenda. S. 123, 140 ff., 131. - Im folgenden wurden Nossacks Tagebücher nicht angefühn, vgl. Hans Erich Nossack: Die Tagebücher 1943-1977. Frankfun am Main 1977. 357 Geschrieben 1963, nach einem bibliophilen Privatdruck von 1964 in der Edition Suhrkamp Frankfurt 1965. Im folgenden beziehen sich die Seitenzahlen auf die letztgenannte Edition.
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der Römer an, dass er in einer Übergangszeit lebt und dass überhaupt "Systeme" vergehen, also auch die Namen der römischen Götter; "aber was nicht vergeht, sind die, die uns wollen, die Unsterblichen". Nach dem Willen der Unsterblichen, so sagt der Römer dem Bischof, hätten auch die Christen sich zu richten. "Sonst zerstören Sie die Natur und das Leben und den Menschen". Der Bischof sieht die Unsterblichen hinter dem Römer stehen; es ist ihm entsetzlich, dass sein kleines zeitliches Gebet wenig gegen sie vermag (87 f.). Der Römer sieht im bereitwilligen Sterben der Christen die "Rache des kleinen Mannes". Ihrem "propagandistischen Martyrium" setzt er den selbstgewählten Tod als ein "Bekenntnis zum Leben" entgegen (99 f.). Dass Hans Erich Nossack eine prägende menschlich-dichterische Möglichkeit des zwanzigsten Jahrhunderts darstellt, wurde früh erkannt. Der deutsch-jüdische Lyriker Paul Celan bekam ein Jahr vor Nossack den Büchner-Preis (1960). Es interessierte ihn, dass Nossack ihm nachfolgte; auch er wies gesprächsweise darauf hin, dass Sartre sich in Frankreich für Nossack verwandt hatte. Vor den schrecklichen Augen des Obersten der Diener fühlt sich die Gespielin des Gottes, die spätere Schauspielerin, "nackter als nackt".358 Erinnert das nicht an Celans Schlüsselgedicht Lob der Ferne aus dem Band Mohn und Gedächtnis von 1952? Dort wirft das Herz, das unter Menschen geweilt hat, die Kleider von sich, um "schwärzer im Schwarz" nackter und "abtrünnig" treu zu sein. Doch suchte Celan einen anderen Weg als Nossack (und als Gottfried Benn). Im Schnee der Ukraine kamen auch die Juden aus der Bukowina um. In seiner Erzählung Gespräch im Gebirg (1959/60) stehen die Schneernassen, in denen das Wasser gefroren ist, für die Ermordeten. Doch aus dem Gletscher kommt schließlich grünes Wasser, das ein neues und anderes Mit-einander-Ieben ermöglicht. Hingewiesen wurde schon darauf, dass der Theologe Eugen Biser Nossacks Roman Nach dem letzten Auf stand neben Dantes Göttliche Komödie stellt. Die Weise bleibt Nossack fremd, in der ein junger Intellektueller wie Hans Jonas die weltflüchtige Gnosis in die deutsche Philosophie und Theologie einbrachte, um ihr schließlich ein Bekenntnis zum "Leben" entgegenzustellen. Der alten Gnosis wurde in der Polemik gegen sie unterstellt, dass sie die menschliche Leiblichkeit und die Einbettung in die Gemeinschaft unterlaufe. Lässt solche "Gnosis" sich verbinden mit dem neuzeitlichen Bestehen auf Leistung und Forschung, die auch in unbekannte Regionen wie die Wüste und das Eis der Polarregion eindringen? Eben das hat Nossack versucht. Wenn er aber mit den Kommunisten, deren Ideologie er schon nicht mehr teilte, den Weg des Nationalsozialismus zur Macht verhindern wollte, blieb er blind für die Zerstörung des Bürgertums, das durchaus Wege zu einem demokratischen Aufbau gefunden hatte. Verließ er nicht das Verhalten, das im guten Sinn "menschlich" genannt wird, wenn er über den Untergang seiner "Mutter-Stadt" Hamburg im Bombenkrieg
358 Vgl. Nossack: Nach dem letzten Aufstand (s. Anm. 235). S. 307. Siehe dazu Pöggeler: Der Stein hinterm Aug (s. Anm. 161). S. 219 ff. zu Biser s. Anm. 235.
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jubelte? Unabhängig von diesen kritischen Fragen bleibt, dass Nossack die tieferen Impulse der Zeit gesehen und für sie eine neue Sprechweise und neue dichterische Formen gefunden hat. Greift man etwa zu seinem Roman Spätestens im November von 1955, dann wird man unwiderstehlich hineingezogen in den atemlosen Lauf der Lebensgeschichten, die die Katastrophe in sich tragen. Doch steht das Überzeugende solcher Dichtung neben der Dichtung anderer, die uns gültigere Wege weist ..
C PHILOSOPHIE UND HERMENEUTISCHE THEOLOGIE
Als Assistent von Edmund Husserl und Dozent suchte der junge Martin Heidegger seinen Zugang zu Augustinus und zur augustinischen Tradition. Vor Hörern, die später maßgeblich für das deutsche Philosophieren wurden, fasste er im Sommer 1923 die Phänomenologie als eine hermeneutische. Musste dieser neue Zugang zur Tradition nicht kritisch genommen werden, als man sich mit und gegen Husserl und Heidegger Augustinus, aber auch z.B. Meister Eckhart in philosophiegeschichclicher Detailarbeit zuwandte? Im folgenden soll dieser Frage zuerst, in Beschränkung auf Max Müller und Hans-Georg Gadamer, nachgegangen werden. Dann soll in systematischer Weise gefragt werdeb, wie die Philosophie eine Theologie ins Spiel bringen hilft, die das Adjektiv "hermentuisch" für sich beansprucht.
1. Mit Augustinus auf neuen Wegen
(Max Müller, Hans-Georg Gadamer)
Hans-Georg Gadamer hat 1981 in seinem Aufsatz Martin Heidegger und die Geschichte der Philosophie darauf hingewiesen, in wie vielfältiger und wechselnder Weise Heidegger die Geschichte der Philosophie als Anstoß für sein eigenes Denken genommen habe. Da Heidegger die Analogie des Seins mit dem Aristotelismus gegen Husserls transzendentales Ego und Platons Idee des Guten ausspielte, musste ihn ,,1923 die Veröffentlichung des Opus tripartitum von Meister Eckhart begeistern".359 Die lateinischen Arbeiten Eckharts können zeigen, wie Eckhart auf dem klassischen, platonisch-aritotelischen Erbe fusst. Vom "dreigeteilten" Werk sind vor allem (im dritten Teil) Kommentare zur Heiligen Schrift und Entwürfe zu lateinischen Predigten erhalten. Wie die überlieferten Prologe zeigen, führte das Werk im ganzen von den Propositionen und Quaestionen zu den Expositionen. Ließ sich nicht von ihm her klarmachen, wie der Logos der Philosophie sich aufbaut? Käte Oltmanns(-Bröcker) konnte in der Umbruchszeit um 1933 bei Heidegger über Meister Eckhart promovieren. Dabei ging sie aus von Sein und Zeit und von der Seinsfrage. Das war schon in der Zeit, in der Heidegger sich mit Nietzsche und dem Nihilismus auseinandersetzte und sich Hölderlin näherte. 360 Das Interesse an Eckhart zog sich bei ihm durch bis zu seinem Tod. Die kleine Erzählung Der Feldweg von 1949 spricht von einem Weg, der in Meßkirch vom Schlossgarten aus ins Land führt und Heidegger von Kindheit an zum Spiel oder zur einsamen Lektüre auf einer Bank einlud. Die Eiche, die Äcker und Wiesen, damit die "gewachsene Weite" am Feldweg spendeten "Welt". Es heißt: "Im Ungesprochenen ihrer Sprache ist, wie der alte Lese- und Leberneister Eckehardt sagt, Gott erst Gott." Hier zitiert Heidegger ein Wort aus Eckharts Predigt Misit dominus manum suam. Eckhart sagt dort, die Kreaturen möchten in allen ihren Werken Gott sprechen, doch bleibe Gott ungesprochen. Die Mystik geht also über die Gottesbeweise hinaus, die vom Geschaffenen aus auf den Schöpfer schließen. Heideggers Münchener Vortrag Das Ding (entnommen den Bremer Vorträgen Einblick in das was ist vom Dezember 1949) führt Meister Eckhart an, weil er das Wort "dinc" sowohl für Gott wie für die Seele gebraucht habe und überhaupt für alles, was ist. Der Freiburger Theologe und Religionsphilosoph Bernhard Weite, der auch aus Meßkirch stammte, hat Heideggers Denken zu Recht abgehoben von den 359 SieheAnm. 341. 360 Vgl. Käte Oltmanns: Meister Eckhart. Frankfurt am Main 1935. Zum folgenden vgl. Martin Heidegger: Aus der Erfahrung des Denkens (s. Anm. 64). S. 87 ff., vor allem 89; Martin Heidegger: Vorträge und Aufsätze. Pfullingen 1954. S. 175.
MIT AUGUSTINUS AUF NEUEN WEGEN (MAX MÜLLER, HANS-GEORG GADAMER)
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Gedanken des Thomas von Aquin. Dieses Vorgehen, so meinte Heidegger, sei etwas anderes als die thomistische ,,Apologetik" des Jesuiten Johannes B. Lotz. Heidegger bestätigte, dass bei Meister Eckhart "wirklich ein neuer Schritt" folge gegenüber der spekulativen Theologie des Thomas (dem Welte freilich auch einen "Hintergedanken" zuschreiben wollte}.361 Heidegger bat am 14. Januar 1976, vier Wochen vor seinem Tod, Welte um ein Wort an seinem Grabe. Im Laufe des Gesprächs fragte er ihn, "mit einer bedächtigen und ihres Weges sicheren Frage nach der Abgeschiedenheit im Sinne des Meisters Eckhart". Weite hielt damals eine Vorlesung über Eckhart; sie erschien 1979 als Buch Meister Eckhart. Gedanken zu seinen Gedanken. Welte wollte Meister Eckharts Mystik und die ostasiatische Meditation zusammenfassen. Damit wich er von Heidegger ab, der das geschichtlich Unterschiedene in seiner Verschiedenheit festhielt, auch zu verschiedenen Zeiten mit unterschiedlichen Akzenten versah. In der AristotelesVorlesung vom Sommer 1931 hat Heidegger die Frage nach der Analogia entis mit Eckhart verbunden. Er bemerkte jedoch, dass auch dieser die Frage nicht durchhalte. üb das Sein oder das Erkennen bei Eckhart auf Gott vetweist, wird immer noch diskutiert. 362 Heidegger hat Meister Eckhart zeitweilig aus der Mitte seines Denkens verdrängt. In den Beiträgen zur Philosophie von 1936/37 tritt Hölderlin vor Nietzsche und Kierkegaard; von Meister Eckhart ist nicht die Rede. Heidegger stellte ihn dann zurück in die Seinsgeschichte, die zu einem anderen Anfang führen sollte. So gab er 1944/45 in einer Erörterung der Gelassenheit zu bedenken, dass Meister Eckhart die Gelassenheit innerhalb jenes "Willensbereiches" denke, den Heidegger zu unterlaufen suchte. 363 Diese Erörterung, erstmals 1959 in dem Bändchen Gelassenheit publiziert, stammt aus den "Erdachten Gesprächen" von 1944/45, die als Feldweg-Gespräche zusammengefasst wurden. Im Gespräch Der Lehrer triffi den Türmer an der Tür zum Turmaufiang wird über Heraklit gesagt, er könne nicht "zu den Mystikern" gerechnet werden, "die nach den Ursprüngen jagen sollen". "Dem Griechentum sind Mystik und Ursprünge gleich fremd." Ein Gespräch "selbdritt auf einem Feldweg" wendet sich einem Fragment Heraklits zu: Anchibasie, In-die-Nähe-gehen. Ein kleines Nachwort trägt die Datierung "Messkirch, am 7. April 1945". Beilagen bringen Zitate aus Meister Eckharts Reden der Unterweisung. Dazu gehört auch der Satz, die selig gepriesenen Armen im Geiste seien "arm an Wollen". Bei Kriegsende flüchtete Heidegger nach Meßkirch, zog dann zur nahen Burg Wildenstein, wohin die Freiburger Philosophische Fakultät ausgelagert worden war. Am 27. Juni 1945 361 Vgl. Martin Heidegger I Bernhard Weite: Briefe und Begegnungen. Mit einem Nachwort von Bernhard Caspar herausgegeben von Alfred Denker und Holger Zaborowski. Stuttgart 2003. S. 29, zum folgenden 124 ff., 149. 362 Vgl. zu den Arbeiten von K. Albert und R. Imbach Pöggeler: Neue Wege mit Heidegger (s. Anm. 83). S. 387. 363 Vgl. Martin Heidegger: Gelassenheit. Pfullingen 1959. S. 35 f. - Zum folgenden vgl. Martin Heidegger. Feldweg-Gespräche (GA 77). Frankfurt am Main 1995. S. 185, 157, 158; - Zur Armutsthematik vgl. Pöggeler; Bild und Technik (s. Anm. 247). S. 97 ff.
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hielt er im Forsthaus Hausen einen Vortrag über den Hölderlin zugeschriebenen Satz: "Es koncentrirt sich bei uns alles aufs Geistige, wir sind arm geworden, um reich zu werden." Ein kurzer Text Die Armut unterbaute die Thematik. Heidegger hatte einst die humilitas der Mystiker aufgenommen; nun verstand er die Armut von der Ausrichtung auf das Sein her, die den Menschen erst in seinem eigensten Wesen wohnen lässt. Die Vorlesung Was heißt Denken? von 1951/52 sagte, lateinische Worte wie anima und animus brächten kaum den Grundzug jenes Entsprechens zum Sein in den maßgebenden Ansatz, das den Menschen auszeichne. "Das lateinische Wort animus lässt sich auch durch unser deutsches Wort ,Seele' übersetzen. ,Seele' meint in diesem Falle nicht das Lebensprinzip, sondern das Wesende des Geistes, den Geist des Geistes, das Seelenfünklein des Meisters Eckehart." In diesem Sinne sage Mörike: "Denk es, 0 Seele"; unter den Dichtern aus dem zwanzigsten Jahrhundert spreche Trakl von "Seele" in diesem hohen Sinne. Die Vorlesung sagt auch, wenn der christliche Glaube in der Reue die Vergangenheit als das anspreche, was verwandelt weitergeführt werden müsse, dann bleibe diese Reue doch auf den "ewigen Willen Gottes" bezogen und sei "metaphysisch" bestimmt. Nicht erörtert wird, ob und gegebenenfalls wie Meister Eckhart aus dieser Metaphysik ausbricht. 364 Wenn Heidegger im Sommer 1943 mit Heraklit zum Anfang des griechischeuropäischen Denkens zurückzukommen sucht und im Sommer 1944 Heraklits Lehre vom logos entfaltet, dann rechnet er Meister Eckhart zur Metaphysik. Trotzdem kann man nicht übersehen, dass Heidegger Eckhart noch im Hinterkopf hat, wenn er den logos als Sprache vom Entsprechen her fasst. Trotz aller Kritik an Eckhart bleibt dieser es, der in den Schrecken des Mittelalters und am Ende des Zweiten Weltkriegs zur Gelassenheit aufruft. Während Heidegger jedoch seine Bemühungen um Laotse aus den Jahren 1946 und 1947 aufgibt, halten Zen-Philosophen wie Nishitani und Ueda den Bezug auf Meister Eckhart fest. 36s Heideggers Bezug auf Augustinus ist von seinen Schülern fortgeführt worden. So konnte Hannah Arendt, Heidegger wie Bultmann und Jaspers folgend, über Augustinus promovieren. Ihre Arbeit Der Liebesbegriffbei Augustin erschien 1929. Ihr nachgelassenes Werk Vom Leben des Geistes enthält ein Kapitel Augustinus, der erste Philosoph des Willens. Wilhelm Kamlah, der Dilthey-Schule und Heidegger folgend, stellte die "vernehmende" Vernunft der Alten gegen die "selbstrnächtige" Vernunft der Neuzeit und publizierte 1951 ein Buch von 1940 wieder unter dem neuen Titel Christentum und Geschichtlichkeit. Werner Beierwaltes suchte Heideggers Polemik gegen den Neuplatonismus bei Augustinus durch den Nachweis zu entkräften, dass Heidegger den Neuplatonismus nie ernsthaft studiert hat. Die Widerlegung von Heideggers Kritik am Neuplatonismus läuft darauf hinaus, die abendländische Geistesgeschichte überhaupt vor der Negativität von Heideggers
364 Vgl. Martin Heidegger: Was heißt Denken? Tübingen 1954. S. 96 und 44. 365 Siehe Anm. 343 und 344.
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Destruktion zu retten. 366 Im folgenden soll nur von Heideggers Weg mit Augustinus die Rede sein und dann von der Weise, wie Max Müller und Hans-Georg Gadamer Heideggers Bezug auf Augustinus umbildeten. Heidegger hat nach der Vorlesung vom Sommer 1921 die Auseinandersetzung mit Augustinus weitergeführt, so in Sein und Zeit. Schon Husserl nutzte die Zeitanalyse im 11. Buch der Konfessionen Augustins; ähnlich ging Heidegger vor. Am 26. 10. 1930 hielt er den Mönchen in Beuron einen Vortrag über das 11. Buch der Konfessionen. Sein Interesse an Augustins Konfessionen hatte sich seit dem Vortrag Der Begriff der Zeit von 1924 auf das 11. Buch verschoben. Aber dieser Bezug auf die Zeitanalyse Augustins unterlag einer Wandlung, als "Geschichte" von Heidegger neu thematisiert wurde. So traten andere Gestalten vor Augustinus; Heidegger orientierte sich neu. Noch im Herbst 1931 ging er wie gewohnt zum Kloster Beuron, um seine Arbeit mit der Einsamkeit der Wälder und dem Rhythmus des Chorgesangs der Mönche zu verbinden. Doch am 18.9. 1932 schrieb er an Elisabeth Blochmann, er gehe in diesem Jahr nicht nach Beuron, da er in seiner Hütte in Todtnauberg "viel einsamer als im Kloster" sei. Als Heidegger im März 1933 Jaspers besuchte und sich mit diesem für eine "aristokratische" Universität im neuen Reich einsetzen wollte, kaufte er dem Freund "eine Platte mit Gregorianischer Kirchenmusik", die man sich anhörte. In seinen damaligen Vorlesungen führte Heidegger den logos im frühen griechischen Denken zurück auf Denken und Dichten; so konnten Hölderlins Elegien und Hymnen an die Stelle der Gregorianik treten. Aus der Antigone des Sophokles übersetzte Heidegger von Hölderlins Übersetzen her das erste Standlied. Vielleicht hatte er ein solches hymnisches Gedicht ursprünglich für die Feiern im neuen Reich verwenden wollen. 367 Heidegger hatte seit 1931/32 für Hitler optiert als den Retter des Landes aus schlimmster Arbeitslosigkeit. Als er einen ersten Abstand zu dieser Option gewonnen hatte, suchte er im Wintersemester 1934/35 in seiner Vorlesung Höldertins Hymnen" Germanien" und "Der Rhein" von jenem Dichter her, dem er Einzigartigkeit zuschrieb, eine Revolutionierung aller Lebensverhältnisse von der "Innigkeit" aus. Hölderlins "Halbgötter" Herakles und Dionysos werden als "Führer" angesprochen. Heidegger sagt: "Führersein ist ein Schicksal und daher endliches Seyn." So bleibt Christus aus dem Kampf um die Geschichte ausgeschlossen, weil er gemäß dem Konzil von Nicäa Gott dem Vater nicht nur wesensähnlich ist, sondern wesensgleich. Heidegger sieht Meister Eckhart, Hölderlin und Nietzsche unter der Macht Heraklits stehen und auf eine "Urmacht des abendländisch-germanischen geschichtlichen Daseins, und zwar in ihrer Auseinandersetzung mit dem Asiatischen" verweisen. Diese Geschichtsklitterung richtet sich selbst. Auch ist offensichtlich, dass Heraklits Abwehr der Politik seiner Hei366 Vgl. dazu Pöggeler: Schritte zu einer hermeneutischen Philosophie (s. Anm. 5). S. 423 ff. 367 Vgl. zum einzelnen Pöggeler: Schicksal und Geschichte (s. Anm. 143). - Zum folgenden vgl. Heidegger: Hölderlins Hymnen "Germanien" und "Der Rhein" (s. Anm. 138). S. 249, 210, 133 f.
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matstadt als Kinderspiel mit Nietzsche vom Kind als der Unschuld des Werdens her verstanden wird, der logos Heraklits vom Verstehen her, wie Meister Eckhart es entfaltet. Von Augustinus hat Heidegger sich entfernt. So sagt er in seinem zweiten Hauptwerk, den Beiträgen zur Philosophie von 1936/37, Philo und Augustinus hätten die platonisch-aristotelische und überhaupt die griechische Philosophie nur noch als "den Rahmen und den Begründungsbereich" für den jüdischen oder christlichen Glauben genommen. Die griechische Philosophie habe so als V orläufer des Christentums ausgegeben oder als "Heidentum" für überwunden erklärt werden können. 368 Die Vorlesung Was heißt Denken? von 1951/52 führt Augustins Zeitauffassung auf die Auslegung des Seins als Anwesenheit und damit auf die sog. metaphysische Einstellung zurück. Augustinus gehört nicht mehr zu den Gestalten, von denen her das Denken Heideggers produktive Anstöße erhält. Das war in den zwanziger Jahren anders. Die Vorlesung Einleitung in die Phänomenologie der Religion vom Winter 1920/21 erläuterte den logos der Phänomenologie in der folgenden Weise: ,,,logos' im Sinne von ,verbum internum' (nicht im Sinne von Logisierung".369 Die polemische Rede gegen die Logisierung richtet sich gegen die Tradition, aber auch gegen den Lehrer Husser!. Um "Wahrheit" wieder Problem werden zu lassen, hat Heidegger an die 5. und 6. der Logischen Untersuchungen Husserls angeknüpft und die Orientierung des Satzes am Urteil sowie die Dominanz der theoretischen Einstellung abgelehnt. Max Scheler hatte vorgearbeitet, indem er die Sphäre des Emotionalen betonte. Die Überlegungen zum logos der Phänomenologie in § 7B von Sein und Zeit verweisen auf die Bitte, die auf ihre Weise offenbar mache und so Wahrheit vermittele. Der § 29 zitiert anmerkungsweise neben der entsprechenden Formulierung Pascals den Satz Augustins, nur durch die Liebe träten wir in die Wahrheit ein. Augustinus ist es, der im § 32 die vielfältige Neugier als Laster entlarven hilft. Eine Anmerkung zum § 40 bezieht sich auf Augustins Lehre vom timor castus und servilis, führt dann aber Luther an und sagt, dass Kierkegaard in der Analyse der Angst am weitesten vorgedrungen sei. Heidegger verzichtet auf den expliziten Bezug auf Augustinus, wenn er im zweiten Abschnitt von Sein und Zeit das sterbliche, zum Tod vorlaufende Dasein auf das Hören der Stimme des Gewissens ausrichtet. Augustinus wird dann im § 81 zusammen mit Aristoteles angeführt für die uneigentliche oder "vulgäre" Zeiterfahrung. Heideggers These, Augustins verbum internum führe über die "Logisierung" hinaus, ist auf unbekannten Wegen zu Schülern wie Hans-Georg Gadamer gekommen. Gadamer wollte in einem Interview von 1996 mit dem DiltheyJahrbuch die Logik in das breitere Feld der Rhetorik einfügen, um eine einseitige "Wissenschaftlichkeit" zu vermeiden. Er sagte: "Ich habe mich da auf das verbum internum eingeschossen. Das werden Sie von Grondin zur Genüge gehört ha368 Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie. Frankfurt am Main 1989. S. 211; zum folgenden vgl. Heidegger. Was heißt Denken? (s. Anm. 364). S. 41. 369 Vgl. Heidegger: Phänomenologie des religiösen Lebens (s. Anm. 4). S. 63.
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ben."37o Als Jean Grondin 1988 Gadamer fragte, worin der universale Aspekt der Hermeneutik bestehe, bekam er als Antwort. "Im verbum internum." Im lateinischen bedeutet inter als Präposition und als Adverb zwischen, inmitten von. Der Komperativ ist interior, interius, der Superlativ intimus, intimum. Im Französischen kann interieur auch das Innere meinen und das wohlausgestattete Zimmer. Im Englischen lässt sich interior substantivieren und meint dann das innere oder wahre Wesen. Wie fügt sich der Bezug auf dieses Wortfeld ein in die philosophische Hermeneutik? Gadamers Hauptwerk Wahrheit und Methode von 1%0 legt im ersten Teil die Wahrheitsfrage von der Erfahrung von Kunst her frei und weitet sie im zweiten Teil aus auf das Verstehen in den Geisteswissenschaften. Der dritte Teil bringt eine "ontologische Wendung der Hermeneutik am Leitfaden der Sprache". Mit Platons Kratylos wird gefragt, ob der Bezug des Wortes auf die Sache konventionell sei oder ein Zugang zur Sache. Schon die Stoiker hätten den logos vom äußerlichen Nachsprechen abgehoben und den inneren und äußeren logos unterschieden. Augustinus suche nicht das Wort der vielen Sprachen, sondern das innere Wort, das mit dem Denken so wesenseins sei wie Gottsohn mit Gottvater. Bei Thomas sei das innere Wort "der bis zu Ende gedachte Sachverhalt" geworden. 371 Das menschliche Wort, in das Meinen von diesem und jenem zerstreut, bleibe als ein Geschehen immer auf dem Wege. So schreibt Gadamer den Komparativ verbum interius dem Augustinus zu. Er macht darauf aufmerksam, dass Max Müller in seinem Buch Existenzphilosophie im geistigen Leben der Gegenwart Heidegger aus der Existenzphilosophie von Jaspers und Sartre gerade herauslöse und auf die Seinsfrage beziehe. In seinem Buch Sein und Geist habe Max Müller mit Heidegger die Patristik und Scholastik produktiv interpretieren können. Nach Kurt Flasch unterscheidet Augustinus von der Außenfunktion des Gedächtnisses, memoria exterior, das innere Gedächtnis, memoria interior. Dem inneren Gedächtnis gehe es um das innere Wort; es erinnere nicht äußere Dinge, sondern reflektiere und führe so zur Gegenwart des Geistes. Gegenüber Platon und gegenüber der Stoa entwickle Augustinus ein drittes ontologisches Modell, das "trinitarische". Gott sei Trinität, indem er sich durch Aufgliederung reflektiere und so selbst erfasse. Mit diesen Gedankengängen weise Augustinus voraus auf Meister Eckhart und auf Kant und Fichte. 372 Der junge Heidegger wird dafür gelobt, dass er die phänomenologische Philosophie von Augustinus her konkreter ausgestaltet habe. "Seit Heidegger wurde der Gegensatz von griechischer Auszeichnung der Ewigkeit und christlicher Zeitbejahung vielfach variiert." Doch habe Marrou zu Recht die ,,Ambivalenz" der Geschichtszeit bei Augustinus be370 Vgl. Dilthey-Jahrbuch 11 (1997-98). S. 19 ff., vor allem 25. - Zum folgenden vgl. Jean Grondin: Einführung in die philosophische Hermeneutik. Darmstadt 1991. S. IX. Vgl. auch meine Besprechung von Grondins Gadamer-Biographie, in: Hegel-Studien 35 (2000). S. 225-234. 371 Vgl. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode (s. Anm. 269) S. 383 ff., 398 f., zum folgenden 459. 372 Vgl. Kurt Flasch: Augustin. Einführung in sein Denken. Stuttgart 1980. S. 344 ff.• 412, 288, zum folgenden 267 f., 283 f., 294, 347.
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tont; für Augustins Rückgang zum Platonismus (nicht zu Platon) sei Zeit "eher ein Skandal als eine positive Leistung des menschlichen Bewusstseins" gewesen. Heidegger und Wittgenstein kritisierten zu Recht, dass Augustinus sich am Sehen und am Vorhandensein orientiere. Doch Augustinus stelle (auch über Plotin hinausführend) neben einen "kosmologischen Weltbegriff einen mehr anthropologisch-historischen". Da Augustinus über die kartesische Unterscheidung von Ausdehnung und Denken hinausweise, habe er bei der Entstehung von Sein und Zeit eine wichtige Rolle spielen können. Die Kritik bleibt nicht aus. Die psychoanalytische Forschung habe die Parallele zwischen Augustinus und Äneas ausgeführt. Die "frigide" Mutter Monica habe den Sohn für sich beansprucht. Augustinus habe die Mutterliebe und die Nächstenliebe nicht zu verbinden gelernt, den christlichen Glauben mit dem zölibatären Leben verbunden. m Da Augustinus sich als Bischof in Afrika der konkreten Politik entzog, kam er zu seiner Lehre von den zwei Reichen. Doch blieb die Ausweitung des christlichen Glaubens auf die Weltgeschichte dogmatisch. So beginnt Flasch sein abschließendes Kapitel Der Zwiespalt Augustins mit dem Satz: "Augustin hat Europa irregeführt und gequält." Zugleich habe er Europa auf die Aufgabe verwiesen, sich neu zu konstituieren. "Plotin war ein konsequenterer Denker als Augustin. Aber Augustin begründete eine Welt." Johann Kreuzer hat eine Ausgabe von Augustins De trinitate eingeleitet und "Überlegungen zum ,inneren Wort' bei Augustin" unter den Titel Die Sprachlichkeit der Erinnerung gestellt. 374 Nach seiner Auffassung übersetzt Augustinus lögos durch verbum, weil ratio nicht die gleiche schöpferische Potenz in sich trage. Memoria wird von Kreuzer nicht durch Gedächtnis wiedergegeben, sondern durch Erinnerung. Sprache sei die "abgründigere Tiefe der Erinnerung"; dieser entspreche das intimum verbum. Platons Auffassung des Denkens als des lautlosen Gesprächs der Seele mit sich selbst werde zu dieser Erinnerung. Das innere Wort gehöre zu keiner der Sprachen der Völker und könne nicht in einem gesprochenen Wort gesagt werden. Es müsse im Herzen gesprochen werden. Der Superlativ intim um entspreche am besten der Denkbewegung Augustins. So weise Augustinus voraus zu Meister Eckhart und auch zu Hölderlin. Für die Jahrestagung der Martin-Heidegger-Gesellschaft von 1991 wählte man das Thema Europa und die Philosophie. So konnte der Tagungsband den Vortrag Europa und die deutsche Philosophie aufnehmen, den Heidegger in Rom neben seinem Vortrag Hölderlin und das Wesen der Dichtung am 8. April 1936 in der Bibliotheca Hertziana gehalten hat. Hans-Georg Gadamer sprach 1991 über Europa und die Oikumene. 375 Was in der Zeit des Aristoteles die Oikumene, also die 373 Ebenda. S. 236 ff., zum folgenden 402, 421. - Zu Eugen Bisers Kritik an Augustin s. Anm. 236. 374 Vgl. Aurelius Augustinus: De trinitate. Hamburg 2001; ferner Johann Kreuzer: Die Sprachlichkeit der Erinnerung. Überlegungen zum ,inneren Wort' bei Augustin. In: Kodikas / Code. Ars Semeiotica 20 (1997). S. 217 ff. 375 Vgl. Hans-Georg Gadamer: Europa und die Oikumene. In: Europa und die Philosophie (s. Anm. 317). S. 67 ff., vgl. ferner 225, 31 ff.
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bewohnte Welt war, sollen nach Gadamer die Züge Alexanders zeigen, die vom Indus und Kaukasus bis nach Nordafrika und Spanien weisen. Im 18. Jahrhundert sei China, im 19. Jahrhundert Indien in diese bewohnte Welt aufgenommen worden. Heidegger habe ein klares Bewusstsein davon gehabt, dass das Ostasiatische vom Europäischen verschieden sei. Heute erstrecke sich die Oikumene mit ihrem Weltverkehr und dem Nachrichtenwesen über den ganzen Planeten. Durch die Waffentechnik (etwa der Atombomben) und durch die ökologische Krise bedrohe diese Welt sich selbst. Gadamer sagt in Erinnerung an die einstigen Kriege der Türken gegen Europa, dass im zwanzigsten Jahrhundert der Gegensatz zwischen der westlichen Welt und dem Islam sich neu zugespitzt habe. Israel sei ein europäisch-amerikanisch verfasster Staat mitten im Kulturbereich des Islam. Die intellektuellen Oberschichten in den Öl fördernden Ländern des Nahen Ostens seien europäisch gebildet; sie griffen aber nur zu oft im Anschluss an den einstigen europäischen Nationalismus zu neuen Nationalismen und Regionalismen. Eine philosophische Hermeneutik müsse auf diese aktuellen Konstellationen der Geschichte antworten. Jacques Derrida hat in seinen Gesprächen mit Gadamer dem Ausgehen von Dilthey Nietzsche entgegengehalten. So verweist Gadamer auf Nietzsches Gedicht Sils-Maria. Als Nietzsche im Engadin den "Großen Mittag" erfuhr, fand er die Lehre von der ewigen Wiederkehr. Eins wurde zu Zwei. Zarathustra trat aus Nietzsche heraus, aber nun als jener, der die Unterscheidung des historischen Zarathustra zwischen Gut und Böse verwirft. In der Stille des Mittags sind die Dinge vollkommen; dieses In-sich-ruhen kann nicht mehr moralisch angefochten und der Zeit mit ihrem Wandel unterworfen werden. Die Rede von der ewigen Wiederkehr meint eben diese Abwehr. Doch bleibt die grundsätzliche Frage. Darf der ästhetische Zugang zur Welt den moralischen ausschalten? Gadamer hat einst mit Heidegger das sechste Buch der Nikomachischen Ethik des Aristoteles mit der differenzierenden Lehre von den Affekten und Verhaltensweisen oder Stimmungen und Tugenden gegen Platon aufgerufen. Doch findet er schließlich die Aristotelische Analogie des Seins schon bei Platon, so dass Aristoteles und Platon zu einer Einheit zusammenrücken. Der Sache nach wendet Gadamer sich am Ende seines Vortrags Europa und die Oikumene gegen Heidegger. Er sagt, man solle nicht von einem Ende der Philosophie sprechen, also auch nicht von einer Seinsvergessenheit am Anfang der philosophischen Tradition und damit nicht von der einen Metaphysik als der tragischen Bewegung von den Vorsokratikern bis Nietzsche, die einen anderen Anfang des Denkens verlange. In der Gadamer-Festschrift von 1970 hat Oskar Becker das "pythagoreische Prinzip" zu rechtfertigen versucht. Danach sind die Dinge Zahlen; sie haben eine mathematisch deutbare Struktur. Dieses mathematische Deuten unterscheidet sich von dem, was Heidegger im Anschluss an die christliche Tradition als Hermeneutik fasste und als Verstehen von Geschichtlichkeit und Geschichte ausarbeitete. Wolfram Hogrebe geht in seinem Buch Mathematik und Mantik noch über Oskar Becker hinaus: Im Rauschen der heiligen Haine und im Stammeln der delphischen Pythia sagt Apoll nichts, aber er deutet an. Die Christen ersetzten
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diese Mantik durch die Hermeneutik der Geschichte. Die naturwissenschaftlichen Mantiker wären nicht möglich geworden, wenn ihnen nicht "die Zauberer, Alchymisten, Astrologen und Hexen" vorausgegangen wären. 376 Man verkennt aber den Weg Gadamers, wenn man ihn auf eine einseitig gefasste philosophische Hermeneutik von Wahrheit und Methode festlegt und nicht sieht, dass er mit seinen Studien über Platon ein zweites Hauptwerk vorgelegt hat (Gadamer spricht immer in der latinisierten Form von Plato). Gadamer hat auch mit Oskar Becker lebenslang ein Gespräch geführt; dadurch gelangte er von der philosophischen Hermeneutik zu einer hermeneutischen Philosophie. Es geht nicht darum, den Prozess des Verstehens universal auszuweiten; vielmehr muss die Hermeneutik als Philosophie das mantische Deuten in sich selbst ansetzen und nicht als Grenzfall des Verstehens an dessen Ränder abschieben. Diese hermeneutische Philosophie muss dann gerade bei Platon gefunden werden. 377 Mit mehr als neunzig Jahren veröffentlichte Gadamer den Beitrag Wort und Bild - "So wahr, so seiend'~ Philosophie und Kunst werden verbunden. Platon wird von Goethe her aufgenommen, der von den Seeschnecken und Taschenkrebsen am Meer vor Venedig sagte: "wie wahr, wie seiend". Von der spätplatonischen Dialektik aus zeigt Gadamer, dass jenes ,,Angemessene", mit dem der Mensch auf die Aufgaben von Leben und Welt antwortet, eine Vielfalt ist: das Gemessene, das Geziemende, der günstige Augenblick, das was man soll. Auch das Messen in Wissenschaft und Technik gehört zu unserem Weltbezug, doch kenne Platon auch ein anderes Maß, z.B. das Maß für das Wohlbefinden oder für das Schöne. "Man liest", so sagt Gadamer, "das Ganze heute mit Wehmut ... Es hat das Schicksal der Neuzeit gezeichnet, dass nur das Messen, das ein Maß an eine Sache heranträgt und so Wissen vermittelt, als wirkliches Wissen gilt, so dass die neuzeitliche Wissenschaft Herrschaftswissen und, wie Heidegger es genannt hat, kalkulatorisches Denken geworden ist. "378 Nimmt man das Messen in Gadamers kritischer Weise auf, dann kann man nicht mehr, wie Heidegger es im Anschluss an Scheler tut, die Kunst gegen die Technik ausspielen und einen Physiker wie Werner Heisenberg auf die in sich selbst technisch gewordene Wissenschaft festlegen. Vor allem bekommt Platon eine andere Rolle, als er sie bei Heidegger hat. Von Reflexion spricht Gadamer im Sinne von Hegels Kritik der "Reflexionsphilosophie". Damit ist eine Selbstkritik des Denkens keineswegs abgewlesen. Sicherlich musste Heidegger verblüfft sein, als Schüler wie Max Müller und Hans-Georg Gadamer den Bezug auf Augustinus in neue Bahnen brachten. War 376 Vgl. Wolfram Hogrebe: Metaphysik und Mantik. Frankfurt am Main 1992. S. 201 ff. - Vgl. jetzt Hogrebe: Echo des Nichtwissens. Berlin 2007; s. dazu Anm. 335. 377 Vgl. Gadamers Akademie-Vortrag von 1976: Die Idee des Guten Zwischen Platon und Aristoteles. Jetzt in Gesammelte Werke. Band 7. Tübingen 1991. S. 128 ff. - Zum folgenden vgl. Gadamer: Gesammelte Werke. Band 8. Tübingen 1993. S. 382. 378 Vgl. Gadamer: Europa und die Oikumene (s. Anm. 375). S. 81.Zur Eigenständigkeit von Gadamers Spätwerk vgl. auch Otto Päggeler: Europa come destino e come compito. Correzioni nella filosofia ermeneutica. Napoli 2008. S. 51 ff.
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darüber hinaus bei Meister Eckhart das innere Wort zum Wort des Herzens geworden? Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte Heidegger wegen seiner politischen Verirrung um 1933 eine schwere Zeit. In dem "Hütten-Büchlein" Aus der Erfahrung des Denkens suchte er 1947 wie ein Genesender Halt an der Todtnauberger Landschaft und am Rhythmus der Tages- und Jahreszeiten. Zum Singen des Windrädchens vor dem Hüttenfenster im aufziehenden Gewittersturm stellte er den Satz: "Sobald wir die Sache vor den Augen und im Herzen das Gehör auf das Wort haben, glückt das Denken." Als der deutsch-jüdische Lyriker Paul Celan nach langem Zögern 1967 Heidegger aufsuchte, sprach er in seiner Eintragung ins Hüttenbuch und in seinem Gedicht Todtnaubergvon "einer Hoffnung, heute, auf eines Denkenden kommendes Wort im Herzen". Celan suchte auch in der jüdischen Mystik, wie Gershorn Scholem sie dargestellt hat, Hilfe für ein Verstehen und Bestehen jenes Geschehens, das man in den fünfziger Jahren mit Buchenwald und Dachau, später mit Auschwitz verknüpfte. 379 Kann die rechte Weise, das innere Wort als Wort des Herzens zu hören, eine Orientierung geben in den Schrecknissen unserer Zeit?
379 Vgl. dazu Pöggeler: Spur des Worts (s. Anm. 161). S. 259 ff.
11. Theologie als Hermeneutik
Wie schon Wilhelm Dilthey, so ging auch Hans-Georg Gadamer ursprünglich davon aus, dass die Reformation in der Glaubensspaltung und mit ihrem Rückgang auf die Schrift (sola scriptura) das "hermeneutische Problem" bewusst gemacht habe. 3Bo In weit ausgreifenden Studien zeigte Hasso M. Jaeger, dass der Straßburger Theologe Johann Conrad Dannhauer 1629 die Neuprägung hermeneutica gebraucht, 1630 über die Idee des guten Interpreten geschrieben habe. Von ihm erschien dann 1654 Hermeneutica sacra sive methodus exponendarum sacrum litterarum. Offenbar blieb bei der Rede von Hermeneutik leitend, dass Aristoteles in seinem Organon auch Überlegungen peri hermeneias hatte. So suchte Dannhauer parallel zur Logik eine Hermeneutik, welche klarlegte, wie Theologie, Jurisprudenz und Medizin arbeiten, also jene Disziplinen, die sich in praktischer Ausrichtung um den Glauben der Menschen, ihr Zusammenleben und ihre Gesundheit kümmern. Bekam so nicht die Rede von einer hermeneutischen Theologie ihre Legitimation? Wilhelm Weischedel ging nach dem Zweiten Weltkrieg von der damals leitenden Erfahrung der "Fraglichkeit" von allem aus. Auch er führte sie darauf zurück, dass wir von einem unverfügbaren Geschehen bestimmt werden. Im Winter 1963/64 führte er ein Streitgespräch mit dem Theologen Helmut Gollwitzer, der die Position Karl Barths verschärfte. Weischedel suchte die philosophische Grunderfahrung gegenüber der theologischen als die umfassendere zu erweisen. 381 Das zweibändige Werk Der Gott der Philosophen (Darmstadt 1971/72) löst die metaphysische Theologie der abendländischen Tradition auf, um im Zeitalter des Nihilismus eine philosophische Theologie zu entwickeln. Dieser Gott der Philosophen erscheint (§ 128 ff.) als das "Vonwoher der Fraglichkeit", so als "Geheimnis". Das Leben der Menschen ist jedoch so, dass sie über das gegebene Leben hinaus ein besseres Leben suchen und es in vielfältigen Gruppenbildungen durchsetzen wollen. Muss die philosophische Hinführung zur Theologie diese Einbettung in Gesellschaft und Geschichte nicht erörtern? Gerhard Ebeling hat sich schon 1942 in einem umfangreichen Buch (und später immer wieder) mit "Luthers Hermeneutik", der Evangelienauslegung des Reformators, befasst. Er publizierte 1961 seine "Thesen zum Verhältnis von Philosophie und Theologie" unter dem Titel Verantworten des Glaubens in Begegnung mit dem Denken M. Heideggers. Im Jahr 1962 führte er unter dem Titel Theologie 380 Vgl. Seminar: Philosophische Hermeneutik. Hrsg. von Hans-Georg Gadamer und Gottfried Boehm. Frankfurt am Main 1976. S. 8. -Zum Folgenden vgl. die Nachweise bei Jean Grondin: Einführung in die philosophische Hermeneutik. Darmstadt 1991. S. 62 ff. 381 Vgl. Helmut Gollwitzer und Wilhe1m Weischedel: Denken und Glauben. Ein Streitgespräch. Stuttgart 1965.
THEOLOGIE ALS HERMENEUTIK
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und Verkündigung erneut ein "Gespräch mit Rudolf Bultmann". Im Jahr 1965 hielt er an verschiedenen Orten den Vortrag Hermeneutische Theologie? und publizierte ihn sofort. Die Bemühungen um eine kritische Schleiermacher-Edition wurden ihm wichtig. Kulturpolitische Probleme waren immer wieder sein Thema. So wies er 1976/77 in einem Arbeitskreis über die Aufgabe der Geisteswissenschaften darauf hin, dass die Theologie eng verflochten sei mit anderen philologischen und historischen Wissenschaften. Diese Verflechtung kommt zur Geltung, wenn die Theologie mit ihren vielen Disziplinen in Deutschland an den staatlichen Universitäten vertreten und nicht (wie zumeist in den USA) an die Einrichtungen unterschiedlicher kirchlicher Denominationen gebunden ist. Diese Stellung der Theologie muss gegen immer neue Gegner verteidigt werden, solange das Leben der Bürger sie trägt. 382 Gerhard Ebeling formuliert sein Thema als Frage: Hermeneutische Theologie?83 Mit der hermeneutischen Theologie ist nicht eine Teildisziplin oder ein spezieller Bereich theologischer Arbeit gemeint, sondern eher das, was im katholischen Bereich die Fundamentaltheologie ist: "die Frage nach dem Grund der Norwendigkeit von Theologie überhaupt". Theologie ist Hermeneutik, weil sie zur Verantwortung für das Wort anhält und sich als Ort der Ermächtigung zu dieser Veranrwortung Geltung verschafft hat. Sie ist dogmatisch nicht mehr in dem früheren Sinn, dass das Fragen systematisch vorgegeben wird. Vielmehr sieht sie sich historisch in die Geschichte einbezogen. Hier kann an T roeltsch angeschlossen werden: In der Krise des Historismus erwuchs die Hermeneutik als Problem, insofern sie in ein angemessenes Verhältnis zur Sache der Theologie bringt. Die Rede vom Dogmatischen betont das Assertorische; dieses muss im Kontakt mit der Tradition ausgebildet werden. Der Bezug zur Auslegung biblischer Texte muss dabei tragend bleiben. Doch geht es letztlich darum, in die Situation einzuweisen, in der wir stehen, und so darum, das Wort Gottes zu "verifizieren". Gerhard Ebeling wehrt sich dagegen, dass Jürgen Moltmann in der theologischen Enrwicklung nach 1921 zwei Linien hat sehen wollen: eine Theologie der Verkündigung und eine Theologie der Hermeneutik. Das Gespräch zwischen Moltmann und Ebeling hat dann diese Unterscheidung relativiert. "Eine ,Theologie der Verkündigung', die nicht ,Theologie der Hermeneutik', und eine ,Theologie der Hermeneutik', die nicht ,Theologie der Verkündigung' sein wollen, sind gleichermaßen Unsinn. "384 So wird in differenzierter Weise wiedergewonnen, was beim jungen Heidegger die formal anzeigende Hermeneutik war, 382 Vgl. Geisteswissenschaft als Aufgabe. Hrsg. von Hellmut Flashar, Nikolaus Lobkowicz, Otto Pöggeler. Berlin I New York 1978. S. 99 ff. Zu den Publikationen Ebelings vgl. die Bibliographie in: Verifikationen. Festschrift für Gerhard Ebeling zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Eberhard JüngeI, JohannWall mann, Wilfrid Werbeck. Tübingen 1982. S. 523 ff. 383 Vgl. jetzt Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften. Hrsg. von Hans-Georg Gadamer und Gottfried Böhm. Frankfurt am Main 1978. S. 320 ff.; zum folgenden vgl. S. 325, 327 f., 335,338,341 f. 384 A. a. O. S. 343, 330. - Hans-Georg Gadamer hat beachtet, dass ein Schüler Bultmanns wie Ebeling Bultmanns Anliegen in der konkreten Geschichte verwurzelte; s. die Ausführungen oben S. 11 f.
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PHILOSOPHIE UND HERMENEUTISCHE THEOLOGIE
bei Bultmann als existenziale Analyse vom existenziellen Glauben unterschieden wurde. Ebelings drei bändige Dogmatik des christlichen Glaubens versucht, den christlichen Glauben mit dem weltlichen Wissen zu vermitteln. Dabei kann sie auch die Tradition des Predigens und des protestantischen Kirchenlieds aufnehmen, nicht aber die bildende Kunst des christlichen Zeitalters. Nach Ebeling haben die Auferstehungsdarstellungen einen "eindeutig anderen Charakter" als die Auferstehungsgeschichten der Evangelien. 385 Doch hatte schon die Verkündigung des Jesus als des Christus bestimmte Formen aus der antiken und jüdischen Überlieferung aufgenommen; der Gregorianische Gesang hatte längst vor dem protestantischen Kirchenlied die christliche Botschaft kultisch ausgeformt. Nach Alfred Jäger entwickeln die Barthianer in ihrer Kritik an Heidegger doch ein Verständnis für den ganzen Weg Heideggers; die hermeneutische Theologie bleibt im Bezug auf "ihren" Philosophen bei Sein und Zeit stehen. So habe ich in der Festschrift für Gerhard Ebeling 1982 durch einen Vortrag Heidegger und die hermeneutische Theologie (1980 in Rom gehalten) hingewiesen auf Heideggers Beiträge zur Philosophie (im Druck erst 1989 vorgelegt). Dort ist die Erfahrung von Natur und Kunst als Leitfaden aufgenommen, Hölderlins Übertragung der griechischen Tragödie entscheidend geworden. Wichtig wurde auch, dass Heidegger über seine japanischen Schüler den Zen-Buddhismus aufnahm und schließlich sich am Taoismus orientierte. Muss man nicht heute, wo die Erdteile sich enger zusammengeschlossen haben, die Rede von einer "hermeneutischen" Theologie von diesem weltweiten Gespräch her entfalten? Als Paul Klee mit seinen Freunden Moilliet und Macke kurz vor dem Ersten Weltkrieg nach Tunesien reiste, wollte er konkret dem Orient begegnen. Nolde und Pechstein suchten in der Südsee ihre Anregungen. Mehr als 80 Jahre später gab es u.a. in Köln die Ausstellung Kunst- Welten im Dialog. Von Gauguin zur globalen Gegenwart. Gauguin war einst von seinen Kunsthändlern in die Südsee geschickt worden, um für den Kunstmarkt neue Kunstformen bei jenen "Wilden" zu finden, die freilich längst auf ihre Weise europäisiert waren. Ist inzwischen der globale Austausch selbstverständlich geworden? Der Nigerianer Okwui Enwezor, der in New York arbeitet, kommt nun zu Wort. Er versuchte 1997, die zweite Biennale in Johannesburg über eine bloße Ausstellung hinauszuführen. Johannesburg, so schrieb er, "appears to be a model for the hybridisation of the world where roots are replaced by routes taking peoples on unsure travels into the future". Der Kunsthistoriker Belting berief sich darauf und nannte jene Kunst "hybrid", die z. B. ihr afrikanisches Erbe in die Weltkunst einbringt und sich so wandelt. 386 Museumsleiter können heute ein paar Wochen nach Japan reisen und dann zeigen, wie die Zen-Kunst europäische und amerikanische Architekten in385 Vgl. Gerhard Ebeling: Dogmatik des christlichen Glaubens. Tübingen 1979. Band H. S. 295.Zum folgenden vgl. Alfred Jäger: Gott. Nochmals Martin Heidegger. Tübingen 1978. S. 93 If. 386 Vgl. Kunst-Welten im Dialog. Von Gauguin zur globalen Gegenwart. Hrsg. von Mare Scheps u.a. Köln 1999. S. 329. - Vgl. zum Zusammenhang Päggeler: Bild und Technik (s. Anm. 247). S. 233 ff.
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spmerte. Ist nicht längst die Zen-Meditation in der Psychotherapie wie in der Zuwendung zur Kunst aufgenommen worden, um vielfache Modelle der Selbstvergewisserung zu erzeugen? Was dabei als Zen-Meditation vorausgesetzt wird, ist in Jahrhunderten aufgebaut worden; lebenslanges Üben kann plötzlich zur "Erleuchtung" führen und das Leben verwandeln. Lässt sich im Museum diese Meditation vermitteln?387 In jedem Fall bleibt immer noch die Frage, ob die ZenPraxis nicht auch missbraucht werden kann (etwa für groben Zwang in der Ausbildung von Kamikaze-Fliegern). Sucht man das, was wir hermeneutische Theologie nennen, als Hermeneutik weltweiter Ansätze zu entfalten, dann muss man zur Kenntnis nehmen, dass in der Zen-Tradition schon der Bezug der Menschen auf das Göttliche, also die Grundlage von Theologie, zu etwas Vorläufigem herabgestuft wird. Wir können uns heute als Europäer in Japan oder im lebenslangen Gespräch mit japanischen Freunden bilden lassen. Dann aber steht der letzte Anspruch an den Menschen vor unterschiedlichen Möglichkeiten. Die Ausrichtung auf "Theologie" wird schon ein Problem. Hier kann aus unserer Tradition ein Philosoph wie Franz von Baader gegenüber Hegel und Schelling bedeutsam werden, der die Folge der Religionen nicht durch metaphysische Prinzipien festgelegt sehen wollte. Es kann dann durchaus sein, dass im Aufbrechen eines anderen dieses Andere das Fremde bleibt, das sich in offene Möglichkeiten entzieht. In einer hermeneutischen Theologie muss die Frage zur Herzmitte werden, ob wir den Schritt zum Theologischen überhaupt tun müssen oder dürfen. 388 Als Philosophie darf ein Bemühen gelten, das die Fragen der Menschen aufnimmt und dabei keine Frage abweist. Diese Philosophie steht immer in einem gesellschaftlich-geschichtlichen Kontext. Sie muss einweisen in Glaubens- und Verhaltensweisen, durch die die Menschen sich bestimmen lassen. Diese Einweisung kann dann zu einer kritischen Aufnahme des Gelebten führen. Wenn von einer hermeneutischen Theologie gesprochen wird, dann wird zugestanden, dass der theologische Ansatz überhaupt seine Problematik hat. So kann der eine sich mit seiner Glaubensentscheidung vom anderen abheben; dabei bleibt er aber eingebunden auch in übergreifende Vorgaben der großen Kulturen. Das gilt vom Weg der Indienfahrer bis zum deutsch-japanischen Gespräch, von der Konfrontation zwischen der jüdischen Geschichte und dem griechisch-römisch geprägten Europa, vom Widerstand arabischer Gruppen gegen die Dominanz Amerikas. Daraus resultiert für die Philosophie die Verpflichtung, sich jedem grundlegenden Ansatz im Dialog und Widerstreit der Kulturen zu stellen, diesem Dialog und Widerstreit aber jene Offenheit zu lassen, die immer neu und auch schmerzhaft sich durchsetzt. In diesem Sinn bleibt das Wechselspiel zwischen der Philosophie und einer hermeneutischen Theologie immer wieder neu auszutragen. 387 Vgl. Otto PöggeIer: West-östliche Todeserfahrungen. In: Zukünftiges Menschsein: Ethik zwischen Ost und West. Hrsg. von Ralf Elms, Mamoru Takayama. Baden-Baden 2003. S. 209 fr. . - Zum folgenden s. Anm. 347. 388 S. Anm. 19 und 20.
NACHWORT
Die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Theologie lässt sich von verschiedenen Ausgangspunkten aus stellen. Jede Perspektive, die sich dadurch ergibt, hat ihre Begrenztheiten. Wenn der Titel des vorliegenden Buches von einer "hermeneutischen Theologie" spricht, ist der Versuch im Spiel, von der philosophischen Besinnung aus für die heutige und künftige Theologie einen bestimmten Charakter nahezulegen. Das Nachwort soll den Zugang des Autors zur Sache und seine Zielsetzung anzeigen. So hätte es eigentlich petit gesetzt werden müssen. Damit wäre der Unterschied zur Erörterung der Sache offengelegt worden. Dieses Vorgehen verbot sich mit Rücksicht auf die Augen des Lesers. Doch kann das Nachwort dem Leser indirekt helfen, zu einer kritischen Erörterung zu kommen und andere mögliche Wege zu finden. So mag die Übertretung des Gebots, der Autor habe von sich selbst zu schweigen, gerechtfertigt sein. Im Wintersemester 1949/50 konnte ich an der Universität Bonn mein Studium in den historischen und philologischen Fächern beginnen. Es verwunderte mich, dass man in den Räumen der Universität, aber auch draußen bis hin zum Kaiserplatz in Gruppen zusammenstand und über "Entmythologisierung" diskutierte. Ein Pfarrer, der aus einem Provinznest angereist war, fragte mich, wie er Ethelbert Stauffer oder wenigstens dessen Schriften finden könne. Offenbar suchte er Hilfe dafür, sich in seinem Pfarramt vor dem Ansturm der Entmythologisierer retten zu können. Dagegen spotteten junge evangelische Theologen über Stauffer und dessen "realistische" Sicht des Neuen Testaments. Als Sammelbände unter dem Titel Kerygma und Mythos das theologische Gespräch erfassten, tat dort Rudolf Buhmann in einer Anmerkung Stauffer ab: "Ich denke, mit ihm schiedlich-friedlich auseinanderztukommen, wenn wir uns nur gegenseitig ein Eingeständnis machen: ich, dass ich von der Reahheologie nichts verstehe, er, dass er von der Emtmythologisierung nichts versteht." Redete man so in einer Kirche miteinander? Ich musste mir eingestehen, dass es am Ausgang der Antike und in Byzanz, in der Reformationszeit und im Berlin von Hegel und Schleiermacher nicht anders gewesen war. 389 Der erste Band der Reihe Keryma und Mythos von 1948 beginnt mit Bultmanns Vortrag Neues Testament und Mythologie von 1941. Die bangen Fragen der Amtsbrüder folgen: Wenn das Kreuz vor allem in meiner Umkehr da ist, verliert es dann nicht seinen Ort in der Geschichte? Helmut Thielicke äußert sich als Systematiker; seine Arbeit war 1942 als Gutachten für den ev. Kirchenrat in Württemberg erstattet worden. Thielicke stieg nach dem Krieg auf zum Rang setzenden Großschriftsteller (man berechnete das Honorar für Vorträge seiner Kol389 Vgl. Kerygma und Mythos II (s. Anm. 155). S. 179.
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legen auf Y2 Thie, 1,4 Thie usf.). Er fasste das mythische Denken als adäquaten Ausdruck von Religion. So scheute er sich nicht, auf Bachofen und dessen Ausleger Alfred Baeumler zu verweisen. 39o Der zweite Band von Kerygma und Mythos beginnt mit dem Vortrag Entmythologisierung oder Realtheologie?, den Ethelbert Stauffer 1949 hielt. Bultmann wird nach verschiedenen Hinsichten hin "widerlegt". Er gilt als der radikalste Testamentsvollstrecker der liberalen Theologie, der die Jesusüberlieferungen auf ein belangloses Minimum reduziert, jedenfalls als Produkt der Gemeindetheologie deutet. Fritz Buri bringt die Freisinnige Schweizer Theologie ein. Buhmann kann gegenüber Thielicke darauf bestehen, dass wir uns in der existenzialen Interpretation der mythischen Denkweise entledigten, weil der Mythos seine Intention nicht adäquat zum Ausdruck bringe. Bultmann legt sich bei der existenzialen Analyse (unterschieden vom existenziellen Sichverstehen) darauf fest, dass deren Sätze "den Sinn zeitloser Wahrheiten" haben. Man fragt sich: Lässt sich der Mensch der Vor- und Frühgeschichte oder des Alten Orients und Chinas als "Existenz" fassen? Von Karl Barth fügt dieser Band ein, was dessen Dogmatik gegen Bultmann vorträgt: Die Erscheinung des Auferstandenen sei eine wirkliche Geschichte, nicht primär Sache des Glaubens der Jünger. Bultmann setzt die Philosophie nicht für den Glauben, aber für dessen theologische Aufarbeitung voraus. Doch ist das, was als Philosophie beansprucht wird, überhaupt angemessen? Von dieser Frage aus schaltete Karl Jaspers sich in den Streit um die Entmythologisierung ein. Jaspers war in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur entschlossen, mit seiner Frau in den Tod zu gehen, wenn diese (als Jüdin) abgeholt würde. Er stellte sich den Fragen, die nach dem Kriege öffentlich diskutiert wurden. Hatte Nietzsche durch seine Kritik des Christentums dem Nationalsozialismus vorgearbeitet? Hatten die Deutschen, nicht nur als einzelne, sondern als Kollektiv Schuld an dem, was geschehen war? Im Juli 1947 (ehe er nach Basel berufen wurde) hielt Jaspers an der Universität Basel die Gastvorlesungen Der philosophische Glaube, 1948 als Buch erschienen. Darin erkannte Jaspers an, dass die abendländische Philosophie in der biblischen Religion ihren "geschichtlichen Grund" habe. Doch wies er den Ausschließlichkeitsanspruch des Glaubens zurück zugunsten eines philosophischen Glaubens, der sich auf ein Umgreifendes bezieht, aber offen bleibt für andere Einstellungen. - Arnold J. Toynbee hatte damals die universalgeschichtliche Thematik Spenglers neu dargestellt; darauf reagierte Jaspers 1949 mit dem Buch Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. Hatte Hegel die ,,Achse" der Weltgeschichte im Auftreten Christi gefunden, so setzte Jaspers seine Achsenzeit um 600 vor Christus an, als Konfuzius in China, Buddha in Indien, Zarathustra in Persien, die Propheten in Israel, die ersten Philosophen in Griechenland auftraten. (Hätte ich diese Datierung ernst genommen, wäre ich wohl von meinen Lehrern im Fach Geschichte aus dem Seminar verwiesen worden.) 390 Vgl. Kerygma und Mythos I (s. Anm. 152). S. 117. - Zum folgenden vgl. Kerygma und Mythos H. S. 22, 85 ff., 185,201.
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In München erschien 1954 von Jaspers und Bultmann Die Frage der Entmythologisierung. Es überrascht, dass Jaspers nicht weiß, ob schon Heidegger oder erst Bultmann den Unterschied "existenzial/existenziell" eingeführt hat. Die Differenz zu Bultmann formuliert Jaspers von Kierkegaard her: "Sokrates ist für den Anderen Anlass, denn ein Mensch kann dem anderen Menschen die Wahrheit des Glaubens nicht geben, sondern nur die Wahrheit, die er verborgen in sich hat, zum Bewusstsein bringen. Christus aber und er zu jeder Zeit in der Verkündigung durch das Wort, gibt mit der Wahrheit den Glauben selber, d.h. die Gnade, das glauben zu können, was verkündigt wird. "391 Auch Jaspers sieht in der Entmythologisierung die Konsequenz der Rechtfertigung allein aus dem Glauben, doch findet er dies "Lutherische" schrecklich und unverständlich. Bei Bultmann (seinem einstigen Mitschüler in Oldenburg) sieht er die "untilgbare fromme Kindheitserinnerung standhalten". Bultmann sei "liberal und nicht autoritär orthodox"; doch bleibe er ein "Granitblock", der neben seine liberalen Forschungen die orthodoxe Predigt setze. Jaspers dagegen blickt auf dreitausend Jahre Menschheitsgeschichte, die das Umgreifende mit vieldeutigen Chiffren umspiele. Die Weise, wie Jaspers aus der Schweiz heraus in die vielen Auseinandersetzungen in der jungen Bundesrepublik eingriff, konnte nicht überzeugen. Das gilt für jene Verdächtigung der Politik dort, die Ulbricht begrüßte, wie für die Überlegungen über eine Verwendung der Atombombe, die Mitbetroffene wie Heisenberg nur abstoßen konnten. Als man 1954 des hundertsten Todestages von Schelling gedachte, wurde deutlich, dass der Anschluss an den Deutschen Idealismus auf unterschiedliche Wege führte. Jaspers machte in seinem Buch Schelling. Größe und Verhängnis (München 1959) zwei gegensätzliche Seiten bei diesem Philosophen aus, der in seiner Spätzeit noch einmal über den Weg von Kant bis Hegel hatte hinausführen wollen. Wenn Jaspers bei Schelling Scharlatanerie geißelte, dann nahm man an, dass er seinen einstigen Weggefährten Heidegger treffen wollte. Jürgen Habermas schrieb bei Erich Rothacker in Bonn seine Dissertation Das Absolute und die Geschichte. Von der Zwiespältigkeit in Schellings Denken. Vergebens bemühte er sich darum, eine Nachschrift von Heideggers Auslegung der Schellingschen Freiheitsschrift zu bekommen. Ein Heidelberger Vortrag von 1961 begründete dann den Übergang von hochspekulativen Gedankengängen zum Marxismus: Dialektischer Idealismus im Übergang zum Marxismus - geschichtsphilosophische Folgerungen aus Schellings Idee einer Contraction Gottes. J92 Den entscheidenden Gegensatz in der Schellingrezeption trugen Walter Schulz und Horst Fuhrmans aus. Schulz verstand Schellings Widerspruch gegen Hegel aus einer bleibenden Ambivalenz der neuzeitlichen Metaphysik seit Eckhart und dem Kusaner, in die auch noch Heidegger integriert wurde. Fuhrmans wollte den Weg Schellings mit seinen Erfahrungen und offenen Fragen für ein neues Philosophieren nutzen. Dabei konnte dann auch aufgenommen werden, wie Oetinger, 391 Vgl. Kar! ]aspers / Rudolf Bultmann: Die Frage der Entmythologisierung. München 1954. S. 13 f., 83, zum folgenden 49, 84, 54, 113. 392 Vgl. Jürgen Habermas. Theorie und Praxis. Neuwied am Rhein und Berlin 1963. S. 108 ff.
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einer der "Schwabenväter", in der Leiblichkeit das Ende der Wege Gottes sah: In der Predigt ergreift Gottes Wort den Geist; doch muss auch die Leiblichkeit (in den Sakramenten immer schon angesprochen) erreicht werden. Diese Tradition hat Schelling eigens aufgenommen, indem er die Natur und schließlich die Mythologie als Themen seines Philosophierens zur Transzendentalphilosophie und zur Offenbarung stellte. 393 In den philosophischen Seminaren in Bonn galt nach dem Zweiten Weltkrieg zuerst Max Scheler als der Philosoph, der dem Denken des zwanzigsten Jahrhunderts die entscheidenden Impulse gegeben habe. Dann rückte Jaspers in den Vordergrund, wurde aber bald abgelöst durch Heidegger. Immer war Hegel im Spiel, dem die Franzosen seit Jean Wahl, Alexandre Kojeve und Jean Hyppolite neue Wegweisungen abgewonnen hatten. Für uns Bonner Studenten war eindeutig Paris die Hauptstadt; der Austausch mit der französischen Studentenschaft war eng. Im Bonner Contrakreis, einem Kellertheater, wurden die Dramen von Sartre gespielt, der als Philosoph Sein und Nichts in einer neuen Ontologie verkmüpfte. Schließlich rückte Ludwig Wittgenstein in den Vordergrund, gefolgt vom analytischen, sprachanalytischen und pragmatistischen Philosophieren aus England und Amerika (mit Skandinavien als Annex). So konnte Karl-Otto Apel das Philosophieren fast geographisch festlegen auf die Dialektik im Osten, die analytischen und pragmatistischen Ansätze im Westen, die Existenzphilosophie im freien Teil Kontinentaleuropas. 394 War es nicht angemessener, in Bezug auf Deutschland von hermeneutischen Tendenzen zu sprechen, die sich spekulative, geisteswissenschaftliche und wissenschaftstheoretische Anliegen zueigneten, sich darüber hinaus mit den anderen philosophischen Strömungen verständigen mussten? Es gab dazu so etwas wie eine "Heilige Allianz" von Philosophie und Theologie, die die Untaten Hitlers und Stalins zugunsten einer anderen Zukunft verwinden sollte. Wenn Heinrich Schlier in Bonner Vorlesungen seinen Lehrer Rudolf Bultmann kritisierte, dann ging er vorweg gleichsam auf die Knie und bat um Verzeihung. Doch glaubte er abweichen zu müssen von der Weise, in der man auch in Artikeln des Kittelschen Wörterbuches zum Neuen Testament die Begriffe aus der griechischen Philosophie nur als Absprungsbasis für die neutestamentlichen Begriffe nahm. Mit Wilhelm Kamlah sprach Schlier von einer vernehmenden Vernunft, die unserem Einbezogensein in Geschichte gerecht werde. So konnte man auch Augustinus neu sehen; bei ihm sollte nicht mehr die faktisch-historische Erfahrung des urchristlichen Glaubens einer fremden, griechisch geborenen Begriffiichkeit unterliegen (wie Heidegger es 1921 in seiner Augustinus-Vorlesung ausgeführt hatte). Vielmehr sollte eine Vernunft am Werk sein, die vernehmend offen war für die Wirklichkeit und so die Verbindung von Natur und Gnade bei Thomas vorbereitete. Diese Tendenz reicht bis in die heutige Aneignung der
393 Vgl. Pöggeler: Leiblichkeit als Ende der Wege Gottes (s. Anm. 181). 394 Vgl. Apels Einführung in Charles Sanders Peirce: Schriften I. Frankfurt am Main 1967. S. 13 ff. - Siehe auch Anm. 11.
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metaphysischen Tradition, die z.B. Werner Beierwaltes mit einer Kritik an Heidegger verbindet. 395 Wenn Schlier zur Kur oder zu Ferien ins Badische Land fuhr, besuchte er kontinuierlich Heidegger zu Gesprächen. Dass ihm trotzdem fremd blieb, wie Heidegger nach der Zuwendung zu Hölderlin und nach den Beiträgen zur Philosophie von 1936/37 eine Wende in der Auffassung des Abendländischen vollzog, wurde mir deutlich in Schliers Dank für mein Buch über den Denkweg Heideggers. Schlier schrieb am 16. Juni 1963: ",Formal' ist m. E. Heideggers Denken einfach das der Hl. Schrift. Die Wahrheit, die sich gibt, indem sie sich zurückhält und als Geheimnis auf eine zukünftige Offenbarung weist, oder die Wahrheit, die sich entzieht, indem sie sich gibt, ist die aletheia des Johannes-Evangeliums."396 Wilhe1m Kamlah, von dem Schlier sprach, war ausgegangen von Dilthey und Herman Nohl wie auch von der christlichen Heilsgeschichte. So konnte er auch auf Heidegger aufmerksam werden. Sein Buch Christentum und Selbstbehauptung (Frankfurt 1940) zeigt die Selbstbehauptung in der Geschichte als eine Gegenbewegung gegen die christliche Eschatologie. Ohne die zeitgenössischen Einschlüsse konnte Kamlah seine Gedanken umformulieren zu dem Standardwerk Christentum und Geschichtlichkeit (Stuttgart / Köln 1951). Man ahnte in den fünfZiger Jahren nicht, dass Kamlah sich mit Paul Lorenzen zusammentun würde, der von der Mathematik her zur Philosophie kam. Er publizierte mit diesem eine Logische Propädeutik oder Vorschule des vernünftigen Redens (Mannheim 1967) . Wenn ich seit dem Winter 1949/50 in Bonn zur Universität ging, sah ich Lorenzen zu Oskar Becker eilen, der gegenüber dem Haupteingang der Universität die Wohnung Schliers übernommen hatte. Auf der Klingel hatte er nur Schliers Namen durchgestrichen und seinen eigenen Namen hingekritzelt. Doch so nahe Schlier und Becker sich, äußerlich gesehen, waren, so fern und fremd blieben sie sich in ihrer Aneignung Heideggers. Nach Becker war Heidegger nur hindurchgegangen durch die Aneignung der Paulus-Briefe, denen er die Entstehung des geschichtlichen Bewusstseins entnahm. Oskar Becker hatte 1954 in seinem Orbis academicus-Band Grundlagen der Mathematik in geschichtlicher Entwicklung die Geschichte und die leitenden Motive der Mathematik aufgezeigt. Gleich nach der Fertigstellung meiner Dissertation habe ich mehr als ein halbes Jahr darauf verwandt, diesen Band zu studieren und seinen Hinweisen zur grundlegenden Literatur zu folgen. Lorenzen steht mit seinen bahnbrechenden Arbeiten am Ende der Reihe der großen Mathematiker. Da Lorenzen zeitweilig Leiter eines Studentenheims war; hatte ich, im benachbarten Studentenheim wohnend, wenigstens alle vierzehn Tage Gelegenheit zu einem Abendessen auch mit ihm. Er wollte jedes Gespräch (etwa über das Ver395 Vgl. Werner Beierwaltes: Heideggers Rückgang zu den Griechen. Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie d. Wiss., Phil.-historische Klasse. Jg. 1995. Heft 1. München 1995. Vgl. dazu Ivo De Gennaros Antikritik in: Heidegger-Studien 16 (2000). S. 93 ff. 396 Vgl. dazu Otto Pöggeler: Heideggers Weg von Luther zu Hölderlin. In: Heidegger und die christliche Tradition. (Festgabe für Karl Kardinal Lehmann). Hrsg. von N. Fischer / F.-W. von Herrmann. Hambutg 2007. S. 167 ff., vor allem 185 f.
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hältnis der Bundesrepublik zur Deutschen Demokratischen Republik) auf Grundbegriffe zurückführen und forderte für diese Definitionen. Nicht erst der Theologe, schon der Jurist musste solche Forderungen zurückweisen. Oskar Bekker betonte, dass er "Skeptiker" bleibe gegenüber dem Versuch, die Arbeit der Wissenschaften auf eine einheitliche Sprache zurückzuführen. Repräsentativ wurde später die Logische Propädeutik von Kamlah und Lorenzen (Mannheim 1967).Niemand ahnte damals, dass Kamlah einmal den Freitod rechtfertigen würde und diesen dann auch wählte. Die Schule Lorenzens, die überhaupt auf das deutschsprachige Gebiet beschränkt blieb, brach schließlich auseinander. War sie in genügender Weise den Grunderfahrungen gefolgt, die Becker mit Heidegger bei Dilthey und in der christlichen Tradition fand?397 Im Frühjahr 1957 war ich für wenige Wochen zu einem Arbeitsaufenthalt in Paris in der Bibliotheque Cousin. Ich hatte viel freie Zeit, da die Sorbonne mit ihren Bibliotheken wenigstens jeden zweiten Tag geschlossen war wegen der Demonstrationen für ein französisches oder ein freies Algerien. Man konnte Nachschriften von Jean Wahls vielsemestrigen Vorlesungen über Heidegger an den Sorbonne-Ausgängen kaufen (sie waren auch in die Bonner Bibliotheken gekommen). Wahl verwies weiter auf Levinas, mit dem ich später in Löwen gemeinsame Seminare machen konnte. 398 Es wurde mir klar, dass man in Paris nicht mitreden konnte ohne ein Interesse für Heidegger. Der Lyriker Paul Celan, zu dem ich ein engeres Verhältnis gewonnen hatte, verwies mich auf die späten Aufsätze Heideggers. In Bonn hatten wir uns über die Sprachmanierismen erwa am Schluss des Vortrags Das Ding lustig gemacht. Celan nahm gerade Heideggers vielgeschmähte Etymologien ernst und versuchte sich selbst auf diesem Gebiet. Als ich Heidegger meinen Bericht über Jean Wahls Rezeption seines Denkens schickte, lud er mich 1959 und 1961 zu drei tätigen Gesprächen ein. Ich bekam die Beiträge zur Philosophie im Typoskript zu lesen, musste also aufnehmen, dass die Orientierung der frühen Freiburger Vorlesungen an der urchristlichen Erfahrung von Geschichte den Wegweisungen Nietzsches und vor allem Hölderlins gewichen war. Meine Leitfrage blieb: Nimmt Heidegger die Tradition abendländischen Denkens so auf, dass die Aufgaben der Zukunft deutlich werden? Mein Aufsatz Sein als Ereignis erschien 1959 zum siebzigsten Geburtstag Heideggers und fand eine breite Aufmerksamkeit. Mein Buch Der Denkweg Martin Heideggers, ursprünglich für japanische Kollegen auf deren Aufforderung hin geschrieben, ist dann in die meisten europäisch-amerikanischen und ostasiatischen Sprachen übersetzt worden. Ursprünglich war ein zweiter Band geplant, der die Kritik von einzelnen Themen her in den Vordergrund stellen sollte (gerade darauflegte Heidegger Wert). Zu diesem Band bin ich nicht gekommen, da ich einsah, dass man Werner Heisenberg und Rudolf Bultmann nur gerecht werden könne, wenn man sie von ihren eigenen Ansätzen und deren Ausgestaltungen her
397 S. Anm. 8. 398 S. Anm. 160.
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sieht. Beckers Kritik an Heidegger führte zu einer anderen Auffassung von der Technik und damit von unserer Geschichte, als Heidegger sie entwickelt hatte. Wenn ich davon sprach, wie Becker die Natur auch von der Psychoanalyse aus zusammen mit den übergeschichtlichen Gebilden der Mathematik gegen Geschichte und Verstehen stellte, sagte Heidegger in Erinnerung an die Diskussionen der zwanziger Jahre: "Ich höre Becker reden!" Heidegger besuchte Becker sogar in Bonn, doch zu einem wirklichen Austausch kam es nicht. 399 War das bei Bultmann und Heidegger anders? Damals herrschte noch die Auffassung, Heidegger sei durch die Begegnung mit Rudolf Bultmann aufmerksam geworden auf den urchristlichen Glauben. Für eine breitere Öffentlichkeit war die Nähe und Ferne zwischen Philosophie und Theologie durch Heideggers Eingehen auf Bultmann sichtbar geworden. Demgegenüber wusste ich vor allem durch Beckers Berichte über Heideggers frühe Freiburger Vorlesungen, dass Heidegger schon 1920/21 die Paulus-Briefe für seine systematischen Anliegen nutzte. (Wenigstens als Anhang sind diese Vorlesungen schließich auch in der Gesamtausgabe zu den Vorlesungen gestellt worden, die Heidegger allein hatte gelten lassen wollen.) Für Heidegger ordneten sich wenigstens im Alter die Dinge anders. Er erzählte gern, er habe mit Bultmann Seminar gemacht, als der Pedell hereingestürzt gekommen sei mit dem Ruf, die Universität brenne. Bultmann und er hätten aber gesehen, dass nur der andere Universiätsflügel betroffen war; sie hätten also weitergemacht mit ihrem Seminar. Diese Erzählung war durchaus symbolisch zu verstehen. Die Universität, die in der Weimarer Republik neu aufgebaut worden war, mochte niederbrennen. Heidegger und Bultmann waren auf anderen und neuen Wegen. Wieweit aber trug die Gemeinsamkeit? Spätestens mit Heideggers Berufung nach Freiburg 1928 trennten sich die Wege. Doch gerade da sagten Heidegger und Bultmann "Du" zueinander. Heidegger verpflichtete Bultmann auf den Johannes-Kommentar, an dem sie auch zusammen gearbeitet hatten. Er selbst ging !929/30 mit Nietzsche und Hälderlin den Weg zu den Beiträgen zur Philosophie. Der Mythos wurde in einer neuen Weise Thema. Hermann Märchen und Wilhelm Anz haben berichtet, dass man in Marburg erstaunt war, als Heidegger beim Universiätsjubiläum von 1927 mit den katholischen Professoren in die katholische Kirche einzog. War er garnicht der Philosoph, der die protestantische Theologie erneuern wollte?4oo In den Herbstferien pflegte er für Wochen zum Kloster Beuron zu gehen, um an jener Liturgie teilzunehmen, die noch etwas von der mythischen Prägung des Lebens bewahrte. In den dreißiger Jahren fand Heidegger dann in Hälderlins Hymnen das, was er im gregorianischen Choral gesucht hatte. In jedem Fall blieb die Frage: Lässt sich nicht Heideggers Denkansatz so aus den frühen Vorlesungen herausarbeiten, wie man seit Dilthey den Ansatz von Hegels Denken aus Hegels "theologischen Jugendschriften" hat gewinnen wollen? 399 Vgl. dazu Heideggers Brief an mich vom 29. l. 1960: (s. Anm. 82). S. 24 f. 400 S. Anm. 116.
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Diese Frage war nicht nur die meine. Karl Lehmann war in Heideggers Heimat, in und um Sigmaringen, aufgewachsen. Er hatte sich als Student im Freiburger Theologenkonvikt 1956/57 die Möglichkeit erstritten, Vorträge Heideggers zu besuchen. Im August 1959, dann wieder im August 1961 konnte er in Meßkirch Heidegger sprechen (während Frau Heidegger die "Schwarzen" ähnlich wie die Freundinnen ihres Mannes in Freiburg eher zurückdrängte). An der Gregoriana in Rom erarbeitete Lehmann von 1959-62 eine Dissertation von fast 1500 Seiten: Vom Ursprung und Sinn der Seinsfrage im Denken Martin Heideggers. Er nahm Kontakt mit mir auf, da Beckers Mitteilungen über Heideggers frühe Vorlesungen für ihn zentral waren. Ich bekam von ihm ein Verzeichnis der Vorlesungen, die Heidegger besucht oder die er selbst gehalten hatte. Wir trafen uns 1962 bei den Heidelberger Hegel_Tagen. 401 Wenn jetzt Lehmanns Dissertation besser verfügbar geworden ist, dann sollte nicht übersehen werden, dass die Edition der Werke von Husserl, Heidegger und Scheler inzwischen eine neue Situation für die Aneignung der Geschichte der phänomenologischen und hermeneutischen Philosophie gebracht hat. Auf der Grundlage seiner Dissertation veröffentlichte Karl Lehmann 1963/64 den Aufsatz Metaphysik, Transzendentalphilosophie und Phänomenologie in den ersten Schriften Martin Heideggers (1912-1916). Als "weitere Folge" erschien 1966 der Aufsatz Christliche Geschichtserfohrung und ontologische Frage beim jungen Heidegger. Lehmann sagte, dass Heidegger ihm die Richtigkeit der Mitteilungen bestätigt habe, die ich nach Oskar Beckers Bericht über seine frühen Freiburger Vorlesungen gegeben hatte. 402 Dagegen hatten jene protestiert, die nach dem Zweiten Weltkrieg Seminare Heideggers besuchten und nun unterstellten, Heidegger habe den Weg zur Seinsfrage durch beständiges Meditieren über das Sein gefunden (auch wenn sie sich dann, wie Heidegger bei Alfredo Guzzoni hervorhob, einen Fidel Castro-Bart zulegten). Heribert Boeder hat später aus dieser Rezeptionsrichtung das Buch Topologie der Metaphysik von 1980 verfasst. Schon Hegel erscheint in diesem Zusammenhang nur mit wenigen Thesen, die seine Position in der Geschichte der Metaphysik belegen sollen. Meine Auffassung war allerdings die andere, dass Hegel nur zu verstehen sei aus der Verarbeitung der religiösen und politischen Erfahrungen der Zeit, mit der er vor allem in Frankfurt und Jena auf die Anstöße reagierte, die von Hölderlin und Schelling kamen. Es war Werner Marx, dem ich eine konkrete Einführung in die amerikanischen Bemühungen um Heidegger verdankte. Doch musste ich seinen Weg zur Ethik kritisch sehen. 403 Meine Auffassung stieß auf Widerstände, weil sie Heideggers Denken von der Erörterung der christlichen Geschichtserfahrung oder der neuen Mythologie 401 Vgl. Daniel Deckers: Der Kardinal Kar! Lehmann. Eine Biographie. München 2002. S. 65 f, 93 f Vgl. ferner Anm. 396. 402 Vgl. jetzt Lehmanns Aufsatz in: Heidegger. Perspektiven zur Deutung seines Werks (s. Anm. 28). S. 140 ff., vor allem 161 f. 403 Vgl. Päggeler. Schritte zu einer hermeneutischen Philosophie (s. Anm. 5). S. 356 ff.: Gibt es auf Erden ein Maß?
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Hölderlins und Schellings her sah, nicht als eine in sich stehende Spekulation. In Übereinstimmung mit Oskar Becker und Hans-Georg Gadamer ging ich davon aus, dass seit 1922 eine neue "Scholastisierung" den Weg zu Sein und Zeit gebahnt habe. Anders als Becker und Gadamer lernte ich, dass Heidegger die formal anzeigende Hermeneutik mit Max Scheler als Schematisierung im Sinne Kants und so als Bezug des Begriffs auf die Zeit gefasst hatte. Diese Frage wurde aktualisiert, als Heidegger im Januar 1962 in Freiburg den Vortrag Zeit und Sein hielt und damit den Titel des zurückgehaltenen dritten Abschnitts von Sein und Zeit wie auch die Thematik einer "Kehre" direkt aufgriff. An diesen Diskussionen war ich nicht beteiligt, da ich mit Oskar Becker in anderen Fragebereichen mich bewegte. Als Heidegger uns 1964 im Siebengebirge besuchte, hielt er den Vortrag Das Ende der Philosophie und die bleibende Aufiabe des Denkens. In der Diskussion suchte Wilhelm Perpeet ihn darauf festzulegen, dass er von der großen Tradition der Kunst (in Päsrum und Bamberg) ausgehe, aber die Entfaltung der modernen Kunst nicht beachte. Heidegger bestand gegenüber Perpeets Einwänden auf dem Dictum: "Zuerst die Seinsfrage!" Doch kann man diese vor der Zuwendung zu jenen Problemfeldern entwickeln, die als Leitfäden dienen? Damals war nur wenigen bekannt, dass Heidegger von Paul Klee her die Situation der Kunst in der technischen Weh hatte aufzeigen wollen. Doch auch dieser Weg brach 1962 mit den Griechenlandreisen wieder ab. 404 Heidegger verwies gern auf die Bemühungen des Nachfolgers von Karl Barth in Basel, Heinrich Ott, zwischen Bultmann und Barth zu vermitteln. Ich hörte Heinrich Ott im September 1969 auf dem International Colloquium on Heideggers conception 0/ Language, das Joseph J. Kockelmans an der Pennsylvania State University organisierte. Der Vortrag Hermeneutic and Personal Structure 0/ Language überbot Heideggers hermeneutischen Ansatz durch den personalen Ansatz von Martin Buber. 405 Das Verhältnis Heidegger-Buber war ein altes Thema. Nach dem Zweiten Weltkrieg beherrschte zuerst Martin Buber in Deutschland die Diskussion, ehe Heidegger von Frankreich her in den Vordergrund rückte. Buber hatte 1959 bei der Vortragsreihe Die Sprache, organisiert von der Bayerischen und der Berliner Akademie der Künste, wegen des Todes seiner Frau nicht sprechen können, seinen Vortrag dann aber nachgeholt. Alle Welt fragte sich, ob er Heidegger habe widerlegen wollen. Paul Celan ging 1960 in seiner BüchnerPreis-Rede Der Meridian von Heideggers Besinnung auf die Sprache weiter zu Bubers Bestehen auf dem Gespräch. In seinen Marginalien zu Celans Rede wies Heidegger diesen Weg aber ab; auch das Gespräch und der Dialog bedürften des Da, der Offenheit eines Ortes. 406 Doch dieses Da war für Buber nur ein Neu-
404 Vgl. Wilhe1m Perpeet: Heideggers Kunsdehre. Hrsg. von Frank-Lomar Kroll mit einer Einleitung von Qtto Pöggeler und einem BriefWechsel zwischen Martin Heidegger und Wilhe1m Perpeet. Bonn 2005 . - Zum folgenden vgl. Pöggeler: Bild und Technik (s. Anm. 247). 405 S. Anm. 255. 406 Vgl. die Wiedergabe von Heideggers Notizen in Pöggeler. Schritte zu einer hermeneutischen Philosophie (s. Anm. 5). S. 435 ff. Vgl. jetzt auch Qtto Pöggeler: Die Mittagslinie. In: Geist
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trum. Damit war der alte Streit zwischen einem ontologisch-phänomenologischen und einem dialogischen Ansatz neu aktualisiert. Heidegger war aus dieser Diskussion ausgeschert, als er nicht mehr mit Ludwig Binswanger (oder gar mit Otto Friedrich Bollnow), sondern mit Medard Boss seinen Denkansatz für die ärztliche Tätigkeit fruchtbar machen wollte. Boss hat vielen Menschen geholfen und war immer voller Freundlichkeit. Doch seine Grundlegung der Medizin von Heidegger her hat mich nicht überzeugen können. Blieben nicht schon Schelers und Beckers Hinweise auf antagonistische Strukturen in der Anthropologie entscheidende Einwände? Es waren vor allem Unstimmigkeiten mit dem Umkreis von Boss, die Heidegger vor seinem Tod auch das Verhälltnis zu diesem wirkllichen "Anhänger" abbrechen ließen. In meinem Buch über den Denkweg Martin Heideggers von 1963 habe ich Heideggers politische Verstrickung beiseite gelassen. Ich glaubte - auch nach einem Studium der Jurisprudenz z.B. bei Friesenhahn - über Recht und Politik bei Heidegger wirklich nichts lernen zu können. Inzwischen gab es jene breit gefächerten Bemühungen um eine Rehabilitierung der Praktischen Philosophie, mit der Heidegger erklärtermaßen nichts zu tun haben wollte. Im Gespräch gestand er mir, dass er sich 1933 völlig getäuscht habe. Doch glaubte er, diese Phase seines Weges sei vergessen. Er sah sich von Rene Char, dem Widerstandskämpfer, als ein Freund akzeptiert, der geistigen Widerstand gegen die Diktatur geleistet habe. Heidegger wie Char fassten die Provence als Brücke nach Griechenland hin; doch werde das Land zerstört durch die Installation von Raketen. Char, Heidegger und Hannah Arendt stimmten überein in der Hochschätzung von Melvilles Erzählung Billy Bud. Dort erschlägt der von Natur Gute im Zorn spontan den Bösen und muss dafür hingerichtet werden. Würde nicht auch ein Sieg Abels über Kain Regeln nötig machen für das Zusammenleben?407 Muss man über die Auszeichnung des Politischen, wie Hannah Arendt sie gibt, nicht weiter gehen zur Ausarbeitung einer Praktischen Philosophie, die neben der Ethik eine Politik sowie eine Rhetorik enthält? Diesen Weg lehnten Heidegger und Hannah Arendt strikt ab. Heidegger berief sich in den letzten Lebensjahren darauf, dass er dem Journal Der Spiegel Auskunft über sein politisches Verhalten 1933/34 gegeben habe. Als das Gespräch verabredungsgemäß nach seinem Tode erschien, war es eine große Enttäuschung. Heidegger brachte nur noch einmal vor, was er im Entnazifizierungsverfahren gesagt hatte (als ein Angeklagter, der zu seinen Gunsten sprechen durfte). Er sagte auch: "Nur noch ein Gott kann uns retten." Man nahm diesen Satz als ein Bekenntnis zu einem allein noch bleibenden Gottvertrauen. Doch sprach Heidegger von "einem" Gott, also einer Gestalt, in der sich das Heilige sammelt, das dem Leben eine Mitte gibt. So kann "der Gott" das Land retten (wie einst Athene die Wege der Stadt Athen ordnete). und Literatur. Modelle in der Weltliteratur von Shakespeare bis Celan. Hrsg. von Edith Düsing und Hans-Dieter Klein. Würzburg 2008. S. 327 fI 407 Vgl. zum einzelnen Otto Pöggeler: Heidegger in seiner Zeit (s. Anm. 6). S. 242 f., 146. - Zum folgenden vgl. Antwort. Martin Heidegger im Gespräch. Hrsg. von Günther Neske, Emil Kettering. Pfullingen 1988. S. 90 f., 99 f.
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Die Politisierung der Studenten der USA hatte im Vietnam-Krieg ihren Ursprung. Als sie in Paris im Mai 1968 hervortrat, war das angestrebte Bündnis mit den Arbeitern von vornherein eine Illusion. In Deutschland wollten die Studenten ihre Väter und Großväter verantwortlich machen für das, was geschehen war. Konnten diese sich nicht zurückziehen auf die Weise, in der sie als einzelne ein menschliches Verhalten bewahrt hatten? Ulla Hahn hat in ihrem Roman Unscharfe Bilder (München 2003) diese Einstellung problematisiert, damit auch die Devise des Schweigens und Verschweigens aufgebrochen. Ich selbst glaubte in meinen Heidelberger und Bochumer Lehrveranstaltungen seit 1966, aber auch in auswärtigen Vorträgen und Seminaren, davon ausgehen zu können, was Heidegger mir selbst berichtet hatte. Als diese Arbeiten 1972 und erweitert 1974 unter dem Titel Philosophie und Politik bei Heidegger erschienen, war Heidegger verletzt: Ich hätte der Öffentlichkeit ausgeliefert, was er mir privat gesagt habe. Ich selber meinte mit Hegel die "Öffentlichkeit" nicht im "Man" sehen zu dürfen, sondern in dem Raum, wo politische Verantwortung ausgeübt wird. Hatte Heidegger 1933 nicht allzu "öffentlich" gesprochen? Heidegger schien Hannah Arendt auf seine Seite ziehen zu können, doch diese hat sich offenbar umbesonnen. Das Angebot einer Stelle an der New School in New York habe ich schließlich auch deshalb abgelehnt, weil sie plötzlich verstarb. Auch das Verhältnis zu Heidegger renkte sich wieder ein. Von Delphi aus, wo die Erde sich aufgetan und im Orakel geprochen hatte, habe ich mich von Heidegger kurz vor seinem Tode verabschiedet. Das schloss aber ein, dass für mich selbst die Zeit vorbei ist, in der ein Philosoph aus dem Gespräch mit der griechischen Frühe glaubt denken und leben zu können. So war es ein Wahn, wenn Heidegger um 1933 mit seinem Denken den "Führer" führen wollte. Dieser kannte wohl nicht einmal den Namen "Heidegger", und von dem Tun des zeitweiligen Freiburger Rektors erwartete er sich sicherlich nichts. So ist es Unsinn, wenn heute noch jemand wie Heidegger selbst meint, es wäre alles politisch besser gelaufen, wenn Hitler sich mit dem damaligen "Denken" Heideggers verbunden hätte. Was die Theologie angeht, so habe ich selbst nie Theologie studiert. Nur einmal habe ich eine theologische Vorlesung belegt; das war Heinrich Schliers V orlesung Exegese des Epheserbriefis im Wintersemester 1953/54. Es war für mich eindrucksvoll, wie Schlier eine Vorlesungsstunde lang über ein einziges Wort reden konnte (und sei es auch nur ein hoti), dann aber am Schluss eine Zusammenfassung und einen Durchblick auf grundsätzliche Fragen gab. Die Wege, die er (mit seiner Konversion) ging, suchte ich eher in anderer Richtung zu nehmen. Hingewiesen habe ich darauf, dass mir in Bonn außerhalb der Lehre Martin Noth nahe kam, in Heidelberg Gerhard von Rad und seine Schule. Geprägt wurden meine Heidelberger Lehrveranstaltungen dadurch, das Schüler Käsemanns mit zwei oder drei Autos von Tübingen herüberkamen, um sich über Heideggers Verhältnis zur Theologie kundig zu machen. Die Diskussionen mit ihnen waren nicht bestimmt durch das, was dann durch den Weg der Tochter Käsemanns zu den mittel- und südamerikanischen Freiheitsbewegungen offengelegt wurde. Vielmehr ging es um das Problem, ob eine Theologie, die so spezialisiert und in sich spannungsvoll
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geworden war, überhaupt noch in der Predigt an die Gemeinden weitergegeben werden könne. Diese Weitergabe verlangte ich, konnte für diese Einstellung aber fast nur die Studentinnen gewinnen. Das war eine Entwicklung, die weiterging, aber in sich ihre Gefahren trägt. Sicherlich sollen Frauen Pfarrer und Bischöfe werden können; doch könnte ihr großes und einseitiges Übergewicht auch der Theologie beim Hineinwirken in die Gesellschaft schaden. Ähnlich prekär bleibt es, die Theologie von der Seelsorge als Tätigkeit am Krankenbett und Sterbeort her zu sehen. Ich ging 1968 von Heidelberg nach Bochum, um an der neugegründeten Ruhr-Universität das Hegel-Archiv zu installiren, das in Bonn entstanden war. Ich konnte sicherlich mehr als zweihundert Gäste zu langfristigen Aufenthalten in Bochum begrüßen; so entstanden konkrete Arbeitskontakte vor allem nach Japan und Nordamerika hin. Als ich 1969 zum erstenmal in die USA flog, sagte mir Hans-Georg Gadamer, wer mich begrüßen werde, heiße entweder Thomas oder Josef. Das meinte: Wer sich dort für kontinental-europäische Philosophie interessiere, habe in Löwen studiert oder komme von der Theologie her, etwa aus den Kreisen um Tillich und Niebuhr. Da ich Karl-Otto Apels Arbeiten meist schon im Manuskript lesen konnte, gewann ich ein völlig anderes Bild: Die analytischen und sprachanalytischen Tendenzen traten in den Vordergrund und führten zurück zum ursprünglichen Pragmatismus von Peirce. Durch eine Vertretung an der Pennsylvania State Universität (von Stanley Rosen) gelangte ich in nähere Verbindung zur Schule von Leo Strauß. Ich konnte nicht nur Schriften von Strauß zu Platon oder Machiavell lesen, sondern auch viele Ausarbeitungen im Typoskript studieren. Es hatte für mich etwas Imponierendes, wenn die Strauß-Schüler sich trafen und dabei nicht nur Experten für die großen abendländischen Philosophen hatten, sondern auch für die hebräische oder arabische Sprache. Das gab es in Deutschland nicht. Die Weise von Strauß, die Philosophie dem Glauben an Offenbarung wie der Berufung auf "eigentliches" Existieren entgegenzustellen, scheint mir dem Charakter der Philosophie zu widersprechen, aus einer Distanz heraus doch in das Leben und seine Aufgaben einzuweisen. Es wurde mir aber deutlich, dass Leo Strauß bei all seiner Polemik gegen Heidegger oder Carl Schmitt selber nur allzu "deutsch" darin war, dass die "Alten" maßgeblich blieben für die "Modernen". Konnte man wirklich Hobbes für die angeblichen Irrwege Hegels, vor allem für dessen Phänomenologie des Selbstbewusstseins, verantwortlich machen? Blieb nicht Carl Schmitt bei allen seinen politischen Verirrungen den Aufgaben nahe, wie sie uns durch die Geschichte gestellt werden? Auf dem Gymnasium in Attendorn bekamen wir nach dem Kriege für die Schulbibliothek Buchgeschenke von Carl Schmitt, der einmal vom erzbischöfliche Konvikt aus Schüler des Gymnasiums gewesen war. Da Bücher damals noch Mangelware waren, wollte ich beim Beginn meines Studiums in Bonn diesen freundlichen Spender als Autor kennenlernen. So las ich seine Kritik des Parlamentarismus der Weimarer Republik, auch hörte ich, wie er (als Jurist!) von einer angeblichen Gräfin über deren Stand betrogen wurde. Er geriet in einen Streit
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mit der Kirche, die die Ehe mit der falschen Gräfin nicht annulieren wollte, Die kirchliche Kontrollbehörde stellte die Person, die jemand ist, über den Namen, mit dem man seinen Stand in der Gesellschaft gewinnt. Von verschiedenen Seiten wurde ich damals eingeladen, Schmitt im nahen Plettenberg zu besuchen. Ich habe in der Einleitung hingewiesen auf den Schriftsteller Rolf Schroers, den ich als Freund Paul Celans kennengelenrt hatte. Er wollte vom Aufstand im Warschauer Ghetto und überhaupt von der Verfolgung der Juden her die Problematik des Partisanen entfalten, der für eine angestammte Heimat kämpft und sich schließlich gegen die "verwaltete" oder technologisch beherrschte Welt überhaupt wenden muss. Ich hielt schon eine Verbindung Celan-Schmitt trotz der Partisanenthematik für unmöglich. 40B Als ich mich später in Amerika weigern wollte, zu einem Vortrag über Carl Schmitt zu gehen, brachte das die Universität in Aufregung: Der deutsche Gastprofessor will nicht zu einem Vortrag gehen über den größten europäischen Juristen des zwanzigsten Jahrhunderts! Um nicht zuviel Schaden anzurichten, ging ich dann doch zu dem Vortrag. Schmitt erschien dabei so, als hätte er wie Heidegger die Vorsokratiker studiert (während er doch auf die lateinische Tradition eingeschworen war). In Italien kam es noch schlimmer. .. Da der Neuaufbau des Hegel-Archivs in Bochum nicht ohne ständige Hilfe des Ministerialdirigenten Eberhard Freiher von Medern möglich war, erbat dieser eine Gegenleistung: Ich sollte mitwirken am Aufbau einer Ausgabe der Werke jenes Carl Schmitt, ohne den nach Reinhart Koselleck ein Verständnis des zwanzigsten Jahrhunderts nicht möglich sei. Zu meinem Glück wusste ich dan als noch nicht, dass von Medern sich krasser als Schmitt selbst in der Zeit des Nationalsozialismus gegen Juden in der Rechtswissenschaft gewandt hatte. Ich war am 29.9. 1968 als Heidelberger Universitätsdozent nach Bochum berufen worden. Der Rektor Kurt Biedenkopf sagte mir bei der Aushändigung der Berufungsurkunde, an der Universität müsse es Konkurrenz geben, und in dieser müsse auch ich mich nun behaupten. Dieser Mahnung bin ich gefolgt. Hans Blumenberg suchte damals als Bochumer Professor mit allen Mitteln Hegel und Heidegger aus der Universität zu vertreiben. Da er nachts arbeitete, kam er erst nachmittags zum philosophischen Sminar. Dann aber waren alle wichtigen Entscheidungen längst gefallen. Ich konnte der Hilfe von Hermann Lübbe sicher sein, der zeitweise als Staatssekretär in Düsseldorf wirkte. Als Joachim Ritter Vorsitzender der Hegel-Kommission wurde, musste ich ihm alle vier oder fünf Wochen in Münster Bericht erstatten. Man erzählte sich, er sei nach dem Tode eines Kollegen zur Universität gekommen. Dort hatte man auf einem Plakat "Requiem für Professor Most" das ,,0" des Namens in ein "i" verwandelt. Ritter habe sich umgedreht und die Universität nicht mehr betreten (auch bei der RuhrUniversität in Bochum, an deren Gründung er maßgeblich beteiligt war, betrat er schließlich nur die abgelegenen Räume). Er konnte zu Recht nicht akzeptieren, dass man im Namen irgendeiner Politisierung einem Menschen seine Würde nimmt. 408 S. Anm. 16.
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Am 28. 2. 1987 hielt ich in der 309. Sitzung der Geisteswissenschaftlichen Klasse der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften in Düsseldorf den Vortrag Philosophie und hermeneutische Theologie. Es gab eine breitgefächerte Diskussion. So bezeugte Ludwig Landgrebe, dass Heideggers Vorlesung Ontologie vom Sommer 1923 ein "Ereignis" gewesen sei, da sie die transzendentale Phänomenologie Husserls als Hermeneutik der Faktizität gefasst habe. Husserl habe von der Theologie nicht viel mehr gekannt, als was man im Konfirmationsunterricht lerne. Doch habe er die eingeschlossenen Probleme gesehen, wenn er die Geschichte das große Faktum des absoluten Seins genannt habe. (Inzwischen können wir diesen Fragen besser folgen, da die einschlägigen Vorlesungen und Niederschriften von Husserl und Heidegger ediert worden sind.) Der Alttestamentler Siegfried Herrmann wies darauf hin, dass Rudolf Otto Religionshistoriker gewesen sei, Karl Barth dagegen Theologe. Wenn Bultmann für die Theologie existenziale Voraussetzungen suche, dann frage sich, ob die biblische Theologie überhaupt philosophiefähig sei. Könne der Kairos auch eine philosophische Kategorie sein? Wilhelm Anz, Philosoph in Bethel, bemerkte, Kierkegaard sei der Gewährsmann dafür, dass der Augenblick entscheide. Werde die Philosophiefähigkeit des Augenblicks bestritten, dann werde die existenziale Interpretation sinnlos. Rudolf Bultmann habe gesagt, dass die Philosophie sich des Augenblicks "bemächtige".409 Auf einer Tagung der Bultmannschüler in Bethel habe Heidegger diese Aussage zurückgewiesen. Die Rede von einer hermeneutischen Theologie, Nietzsches Bezug auch auf Jesus selbst, das Verhältnis zwischen Barth, Bultmann und Heidegger sowie zwischen deren Schülern wurden thematisiert. Trotz des großen Echos habe ich mich damals (leider) gescheut, den Vortrag zu publizieren. Es erschien mir unabdingbar, vor einer zureichenden Diskussion die Quellen für das Gespräch zwischen Buhmann und Heidegger (so die Briefe, die die beiden gewechselt haben) zur Publikation zu bringen. In den Jahren 1991-93 traten Pfarrer Klaus W. Müller und Frau Antje Bultmann-Lemke mit der Bitte an mich heran, für den transkribierten Briefwechsel Buhmann-Heidegger letzte Ergänzungen zur Kommentierung der HeideggerBriefe beizusteuern. 410 So kam eine zuverlässige Ausgabe des Briefwechsels zwischen Buhmann und Heidegger in Gang, in die ich durch die Freundlichkeit von Andreas Großmann Einsicht nehmen konnte. Am 27. September 2006 hielt ich in der Düsseldorfer Akademie der Wissenschaften den Vortrag Braucht Theologie Philosophie? Von Bultmann und Heidegger bis Voegelin und Assmann (aus äußeren Gründen war der Vortrag zweimal um ein Jahr verschoben worden). Gemäß dem Schluss des Vortrags braucht christliche Theologie Philosophie, um den Glauben auf die leitenden Motive der Menschen beziehen zu können. Sie hält aber auch die Theologie dazu an, bestimmte Aussagen etwa des Apostels Paulus als zeitbedingt zu verstehen und damit aufzugeben. So sagt Paulus im elften Kapitel des Ersten Korintherbriefes, Gott sei das Haupt Christi, Christus das Haupt des Man409 Vgl. RudolfBultmann: Glauben und Verstehen. Erster Band (s. Anm. 27). S. 301. 410 Siehe den Bericht S. 172 f. Vgl. auch Anm. 31 und 131.
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nes, der Mann das Haupt der Frau. Deshalb solle die Frau ihr Haupt bedecken und überhaupt in der Gemeinde schweigen. Diese Auffassung könne aber nicht mehr die unsere sein, und so begegne die Kanzlerin der Bundesrepublik dem Papst ohne Kopftuch oder Schleier. Wenn islamistische Tendenzen diese Sicht nicht anerkennen wollten, missachteten sie die Vernunft, die der Islam gemäß . semen gro ß en T rad·· monen beanspruche. 411 Als Papst Benedikt XVI. auf dem Jugendtreffen in Köln sprach, waren es die Massen, die ihm zuhörten (durchaus nicht nur Katholiken). Bei seinen Auftritten in der Türkei stellte er sich als kirchlicher Repräsentant zusammen mit Repräsentanten der Ostkirche und konnte auch mit muslimischen Theologen diskutieren. Sein Buch Jesus von Nazareth von 2007 wurde ein Weltbestseller, mochte es die neuen Wege der Jesus-Forschung auch kaum aufnehmen. 412 James M. Robinson konnte mitJesus und die Suche nach dem ursprünglichen Evangelium (deutsch ebenfalls 2007) da nicht konkurrieren. Ist es nicht trotzdem dieses kleine Buch, das die zweihundert Jahre der Jesusforschung konkret aufnimmt und in den Glauben der Gemeinden einbringt? Man darf sich freilich nicht verhehlen: An Forschung und Besinnung ist die breitere Öffentlichkeit nicht interessiert, wenn nicht etwas Sensationelles dabei vorgebracht werden kann .. Wer mit Winckelmann, Hölderlin und Heidegger die Griechen als Maß unseres Lebens nahm oder doch als Partner eines Gesprächs über dreitausend Jahre hinweg, für den war Ägypten eine graue Vorzeit. Er musste zur Kenntnis nehmen, dass Reformen in Ägypten entscheidend geworden waren für das Selbstverständnis von Israel, Griechenland, Rom und Europa. Andere Paradigmenwechsel folgten. Die arabische Welt konnte in ihrem Widerstand gegen Amerika neue weltgeschichtliche Konstellationen herbeiführen. Japan und Europa z. B. sind sich nach vielen Jahrzehnten engerer Beziehungen so nahe gekommen, dass man trotz bleibender Unterschiedenheit als Japaner in Europa heimisch sein kann, aber auch als Europäer in Japan. Ein Verständnis von dem, was ist, ergibt sich in unterschiedlicher Weise aus verschiedenen Kulturen. So bleibt es hineingestellt in den übergreifenden Dialog dieser Kulturen, für den wir ein konkretes Maß oder ein Endziel nicht angeben können. Trotzdem kann die Philosophie helfen, eine hermeneutische Theologie auf den Weg zu bringen, die die Verbindlichkeit der eigenen Position nicht auflöst, sondern sie gerade dadurch gewinnt, dass sie das offene Gespräch über die letzten Dinge zulässt. Kontroversen wie die angeführten über Mose und über Paulus oder über Homer und über Spinoza können dann nicht einfach aufgelöst werden. Vielmehr steht die Philosophie dafür ein, dass das Gespräch zwischen den unterschiedlichen Kulturen und Religionen seine Verbindlichkeit wie seine Offenheit behält.
411 Vgl. Päggeler: Braucht Theologie Philosophie? (s. Anm. 9). S. 31 f. 412 Zu den Kontroversen Ratzingers vgl. Menke (s. Anm. 26); zum folgenden s. Anm. 28.
Otto Pöggeler bei Wilhelm Fink:
Schicksal und Geschichte Antigone im Spiegel der Deutungen und Gestaltungen seit Hegel und Hölderlin 2004, 197 Seiten ISBN: 978-3-7705-4047-1 Bild und Technik Heidegger, Klee und die Moderne Kunst 2002, 247 Seiten ISBN: 978-3-7705-3675-7 Der Stein hinterm Auge Studien zu Celans Gedichten 2000, 195 Seiten ISBN: 978-3-7705-3466-1 Hegels Kritik der Romantik 1999,248 Seiten ISBN: 978-3-7705-3343-5 Heidegger in seiner Zeit 1999, 304 Seiten ISBN: 978-3-7705-3390-9