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German Pages [952] Year 2011
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Politische Eliten in Salzburg
Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld
Philosophische Theologie im Umbruch Erster Band:
Ortsbestimmung Philosophische Theologie inmitten von Theologie und Philosophie
Böhlau Verlag Wien · Köln · Weimar
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Politische Eliten in Salzburg
Gedruckt mit der Unterstützung durch :
Otto Mauer Fonds, Wien Stift Geras
Umschlagabbildung: Vincent van Gogh, Der Sämann, 1888. © Collection Kröller-Müller Museum, Otterlo, The Netherlands Umschlaggestaltung : Michael Haderer
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Inhaltsverzeichnis Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 5 Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
Philosophische Theologie inmitten von Theologie und Philosophie Erstes Kapitel:
Der systematische Ort philosophischer Theologie innerhalb verschiedener Theologien 1. Zur Herkunftsgeschichte ,philosophischer Theologie‘ im Spannungsfeld mythischer, physischer und politischer Theologie....41
1.1 Die mythische Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
1.1.1 Grundzüge des Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 1.1.2 Der Gott und die Götter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
1.2 Die physische und natürliche Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
1.2.1 Erster Exkurs Ursprüngliches Physisverständnis in der griechischen Philosophie ...... 62
. . . 1.2.1.1 Sprachgeschichtliches über physis und natura
. . . . . .
(Worterklärung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
. . . 1.2.1.2 Ursprüngliches Physis-Verständnis (Sacherklärung) ...... 64
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Inhaltsverzeichnis
1.2.2 Anfänge in der Auseinandersetzung von Mythos und physischer Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
. . . 1.2.2.1 Thales von Milet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
. . . 1.2.2.2 Anaximander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 . . . 1.2.2.3 Xenophanes von Kolophon . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
. 1.2.2.4 Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
. . a) Anbahnung der theologia tripartita . . . . . . . . . . . . . . . . 90
. . b) Zur physischen Theologie Platons . . . . . . . . . . . . . . . . 93
. . c) Physis-Denken und physische Theologie . . . . . . . . . . . . 96
. . 1.2.2.5 Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
. . 1.2.2.6 Stoa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
. . a) Schuldisziplinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
. . b) Physisverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
. . c) Seinsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
d) Existenzielles und kontemplatives Philosophieverständnis . . 122
. . e) Unmittelbares Walten des Göttlichen im Kosmos . und im Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
. . f ) Würdigung der physischen Theologie im Rahmen der . . . theologia tripartita sowie Ausblick auf die Rezeptions- geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
1.3 Politische Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
1.3.1 Politische Theologie der öffentlichen Herrschaft . . . . . . . . 149
1.3.2 Politische Theologie der Philosophen und Offenbarungs . . theologen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 1.3.3 Wechselseitige Herausforderung philosophischer und . . politischer Theologie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
Inhaltsverzeichnis
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2. Philosophische Theologie und jüdisch-christliche Offenbarungstheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 2.1 Annäherung an den ursprünglichen Sinn der Theologie jüdisch-christlicher Offenbarung im Spannungsverhältnis zur philosophischen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
2.1.1 Eine Gefährdung im Zugang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
. . . 2.1.2 Feuer-Theophanie und Wort-Ereignis bei Pascal . . . . . . und Moses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180
. . 2.1.3 Der Ursprung der Theologie als Gotteswort im . . . Menschenwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 2.2 Zur Positionierung philosophischer Theologie und Offenbarungs theologie als Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 2.2.1 Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 2.2.2 Spezialwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 2.2.3 Offenbarungstheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
2.2.3.1 Heideggers Positionsbestimmung . . . . . . . . . . . . . 207
. . . a) Ontologisch bestimmte Wissenschaftsaufgliederung . . . . . 207
. . . b) Offenbarungstheologie: eine positive Spezialwissenschaft . . 209
c) Zur ontologisch mitanleitenden Bedeutung der . . . . Philosophie für die Offenbarungstheologie . . . . . . . . . . . 210
. . d) Kritische Anfragen an Heideggers Verhältnisbestimmung . . . von Philosophie und Offenbarungstheologie . . . . . . . . . 212
2.2.4 Lebensweltliche Basis der Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . 221
. . 2.2.4.1 Vorrang der Wissenschaft gegenüber der Lebenswelt? 221
. . 2.2.4.2 Vorrang lebensweltlicher Subjektivität gegenüber . . . Weltobjektivierung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
. . 2.2.4.3 Dasein: ontologisches Sichverstehen auf die Lebenswelt? 227
2.2.4.4 Zusammenspiel der Wissenschaften auf lebensweltlicher Basis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228
. . . a) Erstes Beispiel: Die Welt des Hörens . . . . . . . . . . . . . . 230 . . . b) Zweites Beispiel: Die sichtbare und die unsichtbare Sonne . . 239
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Inhaltsverzeichnis
2.3 Zur dialogischen Partnerschaft von Philosophie und Offen barungstheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 2.3.1 Methodisch-systematisches Interesse der Offenbarungs theologie an der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
. . 2.3.1.1 Systematisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
. . . 2.3.1.2 Methodisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 . . . a) Ursprünglicher Sinn des Methodischen . . . . . . . . . . . . . 252 . . . b) Gegenläufigkeit von Erkenntnis- und Sachordnung . . . . . 257 . . . c) Zur Bedeutung des Methodischen für die Offenbarungs . . . . theologie des christlichen Weges . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 . . . d) Kritische Schlussfolgerungen für das partnerschaftliche Verhältnis von Wissen und Glauben, Vernunft und . . . Offenbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
2.3.2 Interesse an einer auf Offenbarungsglauben vorbereitenden . . . Philosophie innerhalb der Offenbarungstheologie . . . . . . . . 267
2.3.3 Dialogisch-partnerschaftliches Interesse der Offenbarungs . . . theologie an einer selbständigen Philosophie samt . . . philosophischer Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
Zweites Kapitel:
Sachprobleme systematischer Ortsbestimmung philosophischer Theologie innerhalb der Philosophie 1. Vorschau auf die Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
1.1 Hermeneutische Phänomenologie ursprünglicher Erfahrung . . . . . 281
1.1.1 Zum Phänomenverständnis der Phänomenologie . . . . . . . . . 283 1.1.2 Zum Logos der Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
1.1.3 Ontische und ontologische Dimension des Phänomens . . . . . . 288
1.1.4 Zum phänomenologischen Verständnis ursprünglicher Erfahrung 289
1.2 Erweiterung zu einer akroamatischen Phänomenologie? . . . . . . . . 293
Inhaltsverzeichnis
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1.2.1 Verschiedenheit und Gemeinsamkeit von Sehen und . . Hören im weltbezogenen Sichverhalten . . . . . . . . . . . . . . . 295 1.2.2 Ergänzung der Phänomenauslegung durch die . . akroamatische Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 1.2.3 Zur kritischen Hinterfragung der Wissensintentionen . . . . . . 305 2. Zweiter Exkurs
Zur Einübung in die Philosophie: philosophische Propädeutik . . 319
2.1 Sammlung als Aufgabe einer philosophischen Propädeutik von heute . . 319
2.2 Zur ,Not-wendigkeit‘ der Sammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323
2.3 Zur Bedeutung einer Phänomenologie der Sammlung für die philosophische Propädeutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325
2.4 Unterschiedliche Bedeutungen des Wortes »Sammlung« . . . . . . . . 326
2.5 Unspezifische Vorbedingung oder Grundvollzug des Philosophierens? 328
2.6 Worum es in der Sammlung geht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330
2.7 Konkretisierung einiger Wesenszüge der Sammlung im Rückgang auf das eigene ,Da-sein‘ als leibhaftiges Sein mit Anderen . . . . . . . . 333 3. Dritter Exkurs
Zur Einführung in die Philosophie: Einführung in die Ontologie 341
3.1 Zur Fraglichkeit philosophischen Fragens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341
3.1.1 Das Fragen nach der Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 3.1.2 Unechtes Fragen und problematische Fragehaltungen . . . . . . 345 3.1.3 Das Vorfragliche und das ursprünglich-existenzielle Fragen........ 351
3.2 Die Grundfrage der Ontologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358
3.2.1 Erörterung der Grundfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362
. . a) Die Frage nach dem Ganzen und dem Grund als rangmäßig erste Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363
. . . b) Die Grundfrage eröffnet der Philosophie den Anfang . . . . 366
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Inhaltsverzeichnis
c) Zum Versagen der Gründlichkeit der Grundfrage in der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368
d) Die Grundfrage ist die Frage aller Fragen . . . . . . . . . . . . . . 373
3.2.2 Zur Entfaltung des Fragens der Grundfrage . . . . . . . . . . . 376
. .
a) Die Grundfrage als postulatorische Frage . . . . . . . . . . . 378
. .
b) Die Grundfrage als responsorische Frage . . . . . . . . . . . 380
. .
c) Zur Beantwortbarkeit der Grundfrage . . . . . . . . . . . . . 382
. .
d) Die vorläufige Antwort und ihr Status . . . . . . . . . . . . . 384
3.3 Seiendes, Sein und Nichts als Hauptthemen der Ontologie . . . . . . 391
3.3.1 Zum Wissenschaftscharakter der Ontologie in Abhebung vom . . . Gegenstandsbereich moderner Fachwissenschaften . . . . . . . 391
3.3.2 Das Seiende als das sich in seinem Sein Zeigende . . . . . . . . 395
3.3.3 Möglichkeit eines verbalen und nominalen Verstehens des . . . Seienden und des Seins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399
3.3.4 Konstruktion und Problematik des nominalen Verständnisses des Seienden in seinem Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 3.3.5 Ideologiekritische Dekonstruktion des begrifflichen . . . Seinsverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403
3.3.6 Vorrang des verbalen Seinsverständnisses . . . . . . . . . . . . . 405
3.3.7 Ein Paradigma verbalen Seinsverständnisses: . . . Thomas von Aquin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409
3.4 Abgründigkeit des Seins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421
3.5 Übergang zur Seinsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423
3.6 Das Sein und das Nichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428
4. ,Metaphysik‘ als Ort des Grunddenkens theologischer Philosophie 439 4.1 Philosophische Theologie – Annex oder zentrale Thematik der Philosophie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439
4.2 ,Metaphysik‘ als Denken des Ganzen hinsichtlich seines Grundes...... . 441
4.2.1 ,Metaphysik‘ als Ausdruck bibliothekarischer Verlegenheit ...... . 442
Inhaltsverzeichnis
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4.2.2 ,Metaphysik‘ als Sachtitel für eine platonistische Schuldisziplin . . 444 4.3 Zur Typengeschichte der Ortung philosophischer Theologie innerhalb der Metaphysik vom Mittelalter bis zur Neuzeit . . . . . . . . 445 4.3.1 Gott als Grund des Subjekts der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . 448 4.3.2 Gott als eines unter mehreren Subjekten der Metaphysik............ 453 4.3.3 Gott als Teil des Subjekts der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . 456
4.4 Die ganze Philosophie als im Grunde philosophische Theologie?........ 462
5. Philosophische Theologie in enger Nachbarschaft zur Religions philosophie bzw. zu den Religionswissenschaften . . . . . . . . . . . . 464
5.1 Zum religionswissenschaftlichen Religionsverständnis . . . . . . . . . . 465
5.2 Differenz und Zusammengehörigkeit von philosophischer Theologie und Religionsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470 5.3 Religionsphilosophisches zur Hinterfragbarkeit interreligiöser Kommunikation und Geltungsansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472 6. Vierter Exkurs:
Integrale Zusammengehörigkeit des Einen und Vielen im Sein (Walten) des Ganzen jenseits von Totalitarismus und Pluralismus. 478
6.1 Annäherungen an einige Hauptfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478 6.1.1 Zur Unumgänglichkeit der Frage nach dem Eins-, Vieles- und Ganzsein für eine philosophische Theologie . . . . . . . . . . . . . 478 6.1.2 Ausweitung einer Ontologie der Vielheit ontischer Einheiten (Entitäten) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 6.1.3 Zur Fragwürdigkeit der Rede vom Eins-, Vieles- und Ganzsein als Weise des Sichverstehens auf das Dasein . . . . . . . . . . . . . 481 6.2 Grundriss einer Ontologie der Einheit und Mannigfaltigkeit bei Thomas von Aquin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 6.2.1 Das Einssein des Seienden als Ungeschiedensein in sich . . . . . . 487 6.2.2 Das Anderssein des Seienden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490
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Inhaltsverzeichnis
6.2.3 Transzendentale Vieleinheit der Seienden und Seins konstituenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493
a) Vielheit als transzendentale Eigenheit des Seienden............ 493
b) Zum Unterschied von transzendentaler und kategorialer Vieleinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495
c) Zur Notwendigkeit einer kritischen Weiterführung............ 500
6.3 Zur aporetischen Dialektik der verschiedenen Auffassungen von Ein heit und Vielheit, Ganzem und Teil (Totalitarismus und Pluralismus) 501.
6.3.1 Das totalitäre Ganze
a) Totalitärer Ausschluss oder einschmelzende Aufhebung der Pluralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503
b) Totalitaristische Einheit durch Unterordnung (Subordination) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504
6.3.2 Das pluralistische und anarchistische Ganze . . . . . . . . . . . . 506
a) Das elementaristische Ganze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506
b) Ganzheitskonzeptionen radikaler Pluralität . . . . . . . . . . . 508
6.3.3 Dialektik der totalitären und pluralistischen Ganzheitskonzepte . 513
6.4 Integrales und integratives Ganzsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525
6.4.1 Ganzsein als Korrelation von Eins- und Vielfältigsein . . . . . . . 525
6.4.2 Ganzsein als transzendentales Eins- und Vielfältigsein . . . . . . 527
6.4.3.1 Zum integralen Ganzsein in aristotelischer Tradition . . 528
. . . . . .
6.4.3.2 Paradigmen zum neueren Verständnis des . . . . . . integralen Ganzenintegralen . . . . . . . . . . . . . . . . 534
. . .
a) Johann Wolfgang von Goethe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537
. . .
b) Franz Xaver von Baader . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 538
. . .
c) Caspar Nink . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539
. . .
d) Romano Guardini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542
. . .
e) Wladimir Sergejewitsch Solowjew . . . . . . . . . . . . . . . . 544
. . .
f) Leo Gabriel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 546
. . .
g) Pierre Teilhard de Chardin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550
Inhaltsverzeichnis
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7. Philosophische Theologie (Metaphysik) und praktische Philosophie (Ethik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 7.1 Zur Grundlegung praktischer Philosophie in einer Metaphysik des Gutseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563
7.2 Über Schwundstufen des Ontologieverständnisses in den Ethiken........ 566
7.3 Fünfter Exkurs: Das Gutsein als ontologisches Ursprungsphänomen praktischer Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 576
7.4 Das dem Sein entsprechende Ethos im Unterschied zur Ethik als
philosophischer Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587
Editorische Notiz – Zur Verwendung von Anführungszeichen und Klammern: Halbe Anführungszeichen wurden für Wortverwendungen innerhalb eines Zitats, jedoch auch zur Hervorhebung besonderer Fraglichkeit, Ungewöhnlichkeit (auch in der Rechtschreibung) oder bei Vorbehalten gesetzt. In runde Klammern Gesetztes sowie Hervor hebungen innerhalb von Zitaten sind stets dem Original entnommen. Dagegen steht in ecki ge Klammern Gesetztes für Auslassungen im oder Satzergänzungen zum Originaltext, aber auch für eigene Interpolationen, die nicht nur dem besseren Verständnis dienen sollen, sondern gelegentlich ein sachlich mögliches Mehr an dem von den zitierten Autoren ausdrücklich Gesagtem andeuten wollen, ohne deswegen schon eine Überinterpretation zu sein. – Ein gemeinsames Personenverzeichnis ist in Band 2 des Werkes vorhanden.
Danksagung Wenn hier eine Frucht jahrzehntelanger Lehre und Forschung vorgelegt wird, so verdankt sie der kritischen Offenheit ehemaliger Hörerinnen und Hörer, den alten Lehrern, Freunden und Mitarbeitern Unwägbares an Einsichten. Ausdrücklich möchte ich meine ehemaligen Assistenten nennen: den herausragenden Nietzscheforscher Univ.-Prof. für Religionswissenschaft DDr. Mag. Johann Figl, den früh verstorbenen Univ.-Doz. Dr. Mag. Erwin Waldschütz, der mir das Verständnis für Meister Eckhart aufgeschlossen hat, a. o. Prof. Dr. Mag. Hans Schelkshorn, dessen Engagement für lateinamerikanische Befreiungsphilosophie und moderne Ethik an mir nicht spurlos vorübergegangen ist, und den interkulturellen Religionsphilosophen und Phänomenologen, Kenner der Spiritualitätsgeschichte und Lehrer des Yoga Univ.-Doz. Dr. Mag. Karl Baier. Letzterer und Univ.-Doz. Dr. Mag. Bernhard Dolna, Assistenzprofessor für ökumenische und jüdische Studien, haben sich durch ihre sachkundige Durchsicht des Manuskripts und wertvolle Hinweise um das vorliegende Werk verdient gemacht. Ganz besonderer Dank gebührt auch Mag.a Karin Fink, Dr. Mag.a Sigrid Mühlberger und der Lektorin Mag.a Birgit Schweiger für ihre so professionell durchgeführten Korrekturarbeiten. Mag. Robert Januschka sei für die Hilfe bei den Recherchen gedankt. Nicht zuletzt gilt mein Dank auch Dr. Peter Rauch, Dr. Eva Reinhold-Weisz und Ulrike Dietmayer vom Böhlau Verlag, die das Vorhaben mit Geduld gefördert haben. Ihnen und den vielen anderen, die hier nicht genannt wurden oder gar nicht genannt werden konnten – da ihre Beteiligung an der Herstellung dieses Buches für mich anonym geblieben ist –, möchte ich von Herzen danken.
Wien, im Spätsommer 2009
Einführung Philosophische Theologie ist nicht theologische Theologie – jüdische, christliche und islamische –, sondern Theologie, die sich auf den Denkweg der Philosophie beschränkt. Sie ist anderen Ursprungs als Christentum und Islam; ihr angeblich nur griechischer Ursprung im Raum der Vielfalt mediterraner Kulturen muss heute auch das hellenistische Judentum einbeziehen. Sie hat eine lange Geschichte der Veränderungen, des Vergessens und der Erneuerungen hinter sich. In der Stoa, zu einer eigenen Disziplin der Philosophie verselbständigt, wurde sie im Zuge der ,Inkulturation‘ des Juden- und Christentums in die mediterrane Welt vom christlich motivierten Denken zunächst nur zögernd, doch schon bereits in der Spätantike ausgiebig rezipiert. Im Mittelalter erfuhr sie eine facettenreiche Weiterentwicklung und intensive Pflege ihres Gedankens nicht nur im west- und ostkirchlichen Raum, sondern darüber hinaus auch im Rahmen jüdischer und besonders islamischer Philosophie, deren Ausbreitung sich von der Iberischen Halbinsel bis in den südwestasiatischen Raum erstreckte und gelegentlich noch heute an islamischen Hochschulen tradiert wird. Diese Rezeption philosophischer Theologie der griechisch-römischen Antike im islamischen Raum müsste einer eigenen Monographie vorbehalten sein, wird aber mangels ausreichender Sprachkenntnisse keine Berücksichtigung finden. Hingegen wird dem Umbruch innerhalb der mittelalterlichen Denkwelt im lateinischen Westen des 12. bis 14. Jahrhunderts größere Aufmerksamkeit gewidmet, da hier die Ursprünge nachfolgender und moderner Konzeptionen philosophischer Theologie liegen. Philosophische Theologie wurde in der europäischen Neuzeit wieder als eigene Schuldisziplin erweckt und besonders in der Neuscholastik des 19. Jahrhunderts hochgehalten, ist aber nach Neuaufbrüchen im 20. Jahrhundert aus dem Zentrum der philosophischen Arbeit gerückt. Wird philosophische Theologie heute da und dort dennoch gelehrt, so meist nur mehr im Schatten katholisch-theologischer Lehranstalten, Fakultäten und Universitäten – dort allerdings als ein (nicht unumstrittenes) Pflichtfach, und das immerhin in vielen Teilen der Welt. Eingedenk ihres griechisch-orientalischen Ursprungs ist es heute wohl unbestritten, dass sie logisch und methodisch von Offenbarungstheologie, auch von der ihres derzeitig wichtigsten Brotgebers, der römisch-katholischen Kirche, unabhängig ist (oder zu sein hat) und ein eigenständiges Teilgebiet der Philosophie darstellt.
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Einführung
Einstmals galt philosophische Theologie als Krönung der Metaphysik. Aristoteles nannte sie in seiner Metaphysik theologische Philosophie (ϑολοικ ), das heißt den Gott sagende Philosophie. Doch ein Sagen, das stimmlich verlautet oder verschriftet wird, nimmt die Gestalt des Redens bzw. einer Rede an. Steht nichts Sagbares zur Rede, kann man auch reden, ohne dass man etwas erfahrungs- und sachbezogen zu sagen hat. Wird philosophische Theologie als eine Weise der Rede von Gott bestimmt, so fragt sich erneut, was sie wirklich zu sagen hat oder ob sie nicht vielmehr als Nichts-Sagende ihr Schicksal mit dem behaupteten »Ende der Metaphysik« teilt. Vielfach ist sie ins Abseits geraten, für überholt und beendet erklärt worden.1 Ihre Sache gibt dennoch aufs Neue zu denken: Ist philosophische Theologie wirklich mit der Metaphysik (mit welcher?) untergegangen? Wurde sie nicht längst durch kritische Aufhebung in systematische Theologie christlicher Offenbarung (Dogmatik) oder in religionswissenschaftliche Theorien respektabel ersetzt? Oder ist sie nicht doch noch für die Philosophie zu retten (etwa durch Verlagerung in anthropologische Fragestellungen oder durch das strengere Denken sprachanalytischer Philosophie)? Viele Versuche einer Wiederbelebung der Totgesagten scheinen mir heute zu sehr dem metaphysikkritischen Trend eines sich nachmetaphysisch bzw. ontologiefrei gebärdenden Denkens nachzuhinken. Ich möchte hier gerne einbekennen, dass ich kritisch verbesserten und philosophiegeschichtlich vertieften und daher beachtenswerten Fortsetzungen bisheriger Entwürfe vieles verdanke. Sie berücksichtigen aber zu wenig oder oft gar nicht, dass erstens der heute weltweit verbreitete radikale Antitheismus oder Atheismus bzw. der atheisierende Indifferentismus in der europäischen Neuzeit im Raum der lateinischen Christenheit West- und Mitteleuropas entstanden ist, und sie fragen zweitens nicht gründlich genug, woran er sich entzündet hat – möglicherweise an einem entstellten Gottesverständnis und einer die Religion verzerrenden Praxis. Theistische Indoktrinationsversuche und Religionsvermarktung könnten dann an atheistischen und neuerdings wieder antitheistischen Theoremen, Einstellungen und Aktionen sowie an dem inzwischen globalisierten und unauffällig schleichenden Religionsverlust (der mehr als ein Sechstel der Weltbevölkerung betreffen dürfte) bedenkenswert mitbeteiligt sein. Sollte philosophische Theologie überhaupt möglich sein, so dürfte sie sich nicht ängstlich in der unfruchtbaren Bekämpfung der Schwächen atheistischer Religionskritiken bekümmerter oder verbitterter Menschen erschöpfen, sondern müsste sich 1 Vgl. G. Haeffner, Verstummt die Gottesfrage in der modernen Philosophie? Zwischen dem seither zunehmenden Interesse an philosophischer Theologie und der Wiederbelebung atheisierender, aund antitheistischer Literatur scheint mir eine Korrespondenz zu bestehen.
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umgekehrt der Stärke ihrer Einsichten öffnen und vor allem sich mit deren Kritik an einem ungöttlichen Gott solidarisieren. Müsste sie nicht, von den Fesseln des ungöttlichen Gottes befreit, eine post-atheistische sein? Mag es auch utopisch, naiv und unrealistisch sein, zu meinen, dass es bald ein post-atheistisches Zeitalter geben könnte, so ändert das nichts an der steten Aufgabe einer selbstkritischen Läuterung einer Philosophie, die den für ihren äußersten Widersacher gehaltenen modernen Atheismus in seiner philosophisch-kritischen Artikulation ernst nimmt. Sollten sich die den Religionsverlust befördernden Anti- und Atheismen als kritische Antworten auf die seinsvergessene Erfahrungsferne und Lebensfremdheit herausstellen, von der auch die überlieferte philosophische Theologie befallen ist, dann gilt es, den Anliegen dieser Kritik nachzugehen und von ihnen zu lernen. Um dieser Aufgabe auch nur entfernt gerecht zu werden, bedarf es der mühsamen Arbeit eines Umbruchs der Schuldisziplin ,Philosophische Theologie‘, der über Reparatur- und Reanimationsversuche hinausgeht. Dieser Umbruch (kein Abbruch!) soll sie wie verhärtete Ackerkrume auflockern, damit die darin schlummernden Samen nicht ersticken. Insgesamt geht es also um einen Beitrag zu diesem Umbruch, der das, was an philosophischer Theologie seit ihren antiken Anfängen im mediterranen Raum entstanden und überliefert wurde, in seinen Grundgedanken anfänglicher zu denken sucht. Methodisch gesehen heißt das: Freilegung der vielfach versiegten und verschütteten Erfahrungsquellen eines Anfangs der ,Metaphysik‘ samt ihrer philosophischen Theologie. Damit wird der Raum für einen phänomenologisch-hermeneutischen Aufweis des Daseins von so etwas wie einem ,Göttlichen, ,Heiligsten‘ oder ,Gott‘ frei, und zwar im Rückgang auf die ursprüngliche, und das will heißen auf die durchgemachte und verstandene Eigenerfahrung unseres Menschseins. Diese nährt sich aus dem, was uns gemeinsam im Grunde unseres Daseins und in der Weite seiner Welt-Offenheit als das Unergründliche und an sich unaussprechlich Bleibende schweigend in Anspruch nimmt und, wie ich meine, zur Sprache gebracht werden will. Die Situation ähnelt der des Kindseins, wo erste kommunikative Kompetenzen auftauchen, die uns lebenslang bleiben, ja die uns zur Vertiefung und Erweiterung aufgegeben sind. Zunächst widerfährt einem als Kleinkind solches, wovon es nicht sprechen kann. Allmählich hört es zu schweigen auf. Doch das Schweigen eröffnet den Raum, innerhalb dessen es horchend anwesend und offen für das wird, was sich ihm in seiner Fragwürdigkeit zuspricht und was es daher mit noch unverbrauchter Intelligenz zu sagen hat. Philosophische Theologie muss sich aus spekulativer Verstiegenheit möglichst in die Erfahrungsnähe und damit zur bleibenden Quelle, die zu denken gibt, zu-
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rückrufen lassen. Sie wird verständlich aus der Weise, wie wir uns in der jeweiligen Situation auf unser leibhaftiges Anwesenkönnen verstehen, und zwar als Mitmenschen, denen für den endlichen Weltaufenthalt Zeit zu sein gegeben ist. Was uns selbst als weltoffen Anwesende da in seiner Ursprünglichkeit zu bedenken aufgegeben ist, ist unsere Teilnahme an eben diesem Sein, an dem uns gewährten Anwesen – eine ontologische Thematik, die mir für das Vorverständnis, ja für jede haltbare Durchführung philosophischer Theologie unumgänglich erscheint. Sie weiß sich einem anfänglicheren Seinsdenken, als es bisher in philosophischen Theologien häufig der Fall war, verpflichtet. Die vorliegende philosophische Theologie beschränkt sich jedoch nur behelfsmäßig auf einige wichtige Grundfragen und Sachgebiete der Ontologie, die in Form von Exkursen (siehe die gelb geränderten Seiten) dem theologischen Kontext zur Klärung des jeweiligen Vorverständnisses beigefügt wurden. Diese können auch hintereinander, unabhängig vom Kontext dieser philosophischen Theologie als eine Art systematische Einführung in die Ontologie, die gleichfalls ein Fragment bleiben muss, gelesen werden. In den nachfolgenden Bänden sollen sie noch etwas an Ergänzung finden. Die Größe der Aufgabe einer theologischen Philosophie postatheistischer Provenienz übersteigt bei Weitem das, was jemand im Alleingang vorbringen kann, auch wenn er sich auf das Auszeichnen weniger Grundzüge oder Leitlinien beschränkt. Das dürfte sich von selbst verstehen, verlangt aber von der Leserin und dem Leser nicht nur wohlwollende Nachsicht, sondern möchte sie auch an die unerschöpfliche Größe des noch zu Denkenden heranführen. So muss es im Bewusstsein der materialen Unvollständigkeit sowie der (teils auch sachlich bedingten) Eurozentrik in der Perspektive bei einem Projekt bleiben, das faktisch nur eine Auswahl bruchstückartiger Entwürfe zur Neuorientierung und einige Denkanstöße bietet. Der vorliegende erste Band sucht die Grundstellungen und Standorte philosophischer Theologie innerhalb der verschiedenen Theologien einerseits und innerhalb der Philosophie andererseits zu erkunden, um so das Arbeitsfeld für den Umbruch der Disziplin in den Blick zu bekommen und abzustecken. Versteht man mit Kant unter Topik, dass man verstreuten Erkenntnissen einen Ort im System derWissenschaften zuweist,2 so geht es in dieser Topologie philosophischer Theologie darüber hinaus darum, den Ursprungsbereich ihrer Zugänglichkeit in einem Den2 Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 24 /2: Vorlesungen über Logik, Bd. 1/2, 596: »Wenn jemand über eine Sache nachdenken will, muß er wissen zu welcher Wißenschaft sie gehört. In dieser sind Hauptteile in welche dieses oder jenes als in seinem Plaz gehört. Die Hauptteile heißen loci, und die regelmäßige Einteilung aller Thematen der Wißenschaft unter welchen jede Erkenntniß ihre Stelle bekommt, heißt Topik.«
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ken der Wahrheit des Seins zu orten, d.h. philosophische Theologie innerhalb einer Topologie des Seins zu verstehen. Umreißt der erste Band überblickshaft das Terrain für die Forschung, so, um für den zweiten Band die geschichtliche Dramatik der Zweifrontenbildung freizulegen, in welche die philosophische Theologie zwischen fideistische Offenbarungstheologie und atheistischer Philosophie geraten ist. Im dialogischen Lernprozess enthüllt sich, dass sich die Metaphysikkritik beider Fronten von entgegengesetzten Seiten her in einem gemeinsamen Anliegen trifft: dem der Befreiung von einem ungöttlichen Gott. Der erstmalig geführte Nachweis, dass atheistische Grundstellungen weitgehend im Raum der Metaphysik verbleiben, die sie sogar kreativ weiterführen, veranlasst, den Blick erneut und grundlegender auf die ontologischen Implikate philosophischer Theologie zu lenken, exemplifiziert am Schöpfungsgedanken, dessen Ontologie der Gabe, der Freigabe zu ureigenstem Sein, weithin von einer ökologisch desaströsen Ontologie der Herstellung verdeckt wird. Der geplante dritte Band ist dem phänomenologischen Aufweis des Daseins Gottes aus ursprünglicher Erfahrung und den Anfangsgründen unserer Gotteserkenntnis gewidmet. Es geht hier um Methodenfragen, insbesondere um die einer Phänomenologie der ontologischen und religiösen Erfahrung des Ursprungs, sowie um die Kritik und die phänomenologische Herausarbeitung der den Gottesbeweisen zugrunde liegenden ontologischen Prinzipien (Ontotheologie, Kontingenz, Partizipation, Gabecharakter). Der abschließende vierte Band sucht, ausgehend von der gewonnenen Grundlage, die bedeutendsten überlieferten und auch neuere Gottesbeweise durchsichtig zu machen. Er endet mit dem Versuch, philosophische Theologie als praktische Philosophie zu verstehen. Erst in diesem Zusammenhang kann gegenüber den Aporien der Theodizee-Problematik die Grunderfahrung der ontologischen Begabung des Menschen, sich an der Zurückdrängung des Übels in dieser Welt beteiligen zu dürfen, gewürdigt werden und rundet so den Aufweis von Gottes Dasein ab.
Hinführung Die »Theologie«, um die es in der vorliegenden Untersuchung geht, ist die philosophische. Das, was unter Theologie zu verstehen ist, soll ,philosophisch‘ zur Sprache kommen. Indes ist strittig, was unter dem Philosophischen der Philosophie zu verstehen ist. Doch möchte ich mich noch nicht länger dabei aufhalten und umschreibe Philosophie vorläufig als Sichverstehen auf das Daseinsganze, oder, was mit Rücksicht auf dessen Strukturiertheit dasselbe sagt: Philosophie ist Welt-, Menschen- und Selbstverständnis. Ein solches Verständnis kommt jeder und jedem zu, jede und jeder hat es, auch wenn man die Entfaltung solchen Sichverstehens niederhalten und beiseiteschieben wollte, etwa weil es nutzlos oder abwegig, beunruhigend oder gar beängstigend erscheint. Allein ein ausweichender Bezug bleibt immer noch ein Bezug, ein Festhalten in der verdeckten Form der Verweigerung. Welt, Mitmensch und das eigene Selbst sind aber uns gegenüber nichts Vorhandenes und auch nichts bloß Vorliegendes, das verstehbar und durchschaubar wäre, wenn man sich darüber klar und damit vertraut wird. Worum es geht, ist die Ausbildung eines Verstehens, das auf das unmittelbare Vollzugswissen, Lebenkönnen, Selber-Anwesen-Können zurück- und eingeht. Dieses kann kein distanziertbeobachtendes Verhalten, kein Erstellen evidenter Theorien oder Erklärungen, kein Erweitern des Bewußtseins, kein Entwurf eines Modell-Wissens (ein Menschenund Weltbild ) sein, das man sich über ein Selbstsein, Mitsein und In-der-Welt-Sein macht. Denn vielmehr ist ein unmittelbares Sichverstehen auf das Sein des eigenen Selbst, auf das Anwesen als Mitmensch, auf das gemeinsame Anwesen in der Offenbarkeit von Welt gemeint. Das Sichverstehen, wie es solcher menschlichen Offenständigkeit für das Daseinsganze entspricht, ist hier eben kein neutraler Verstehensvorgang, der vom eigenen Dasein abstrahiert, sondern etwas Ursprünglicheres: ein existenzielles Sein-Können. Sagen wir, dass wir uns auf etwas verstehen (etwa auf die Zubereitung von Speisen), so meinen wir damit, dass wir es können. Wir verstehen uns dabei auf etwas Partikuläres. Sagen wir dagegen, dass wir uns auf das Ganze unseres Daseins (untrennbar strukturiert als Selbstsein, Miteinandersein, In-der-Welt-Sein) verstehen, so heißt das, wir können es – nämlich sein. Dieser uns jeweils eigene Vollzug ist als solcher unhinter-
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gehbar. Er kann uns in seiner Fragwürdigkeit überkommen, aber streng genommen ist er nicht hinterfragbar, weil es zu ihm kein Gegenteil, kein Kontrarium gibt. Im Sinne des Sichverstehens auf das Daseinsganze ist der Mensch ein Wesen, das philosophisch zu existieren hat, ein animal philosophicum (wobei mit animal die seelische Lebendigkeit angesprochen ist) oder – mit Schopenhauer – ein animal metaphysicum.1 Vom Philosophieren ist kein Lebensalter ausgenommen; 2 ja im intrauterinen Dunkel muss es sich schon vorbereitet haben, denn wie könnte sonst das neugeborene Menschenwesen mit unfassbarem Erstaunen sowie mit Entsetzen vor der unheimlichen ,Abgründigkeit‘ des neuen Daseins an das Licht der Welt kommen? Philosophie ist primär keine historisch-kritische Erforschung der Wege philosophischen Denkens, auch nicht etwas, das als Forschungsergebnis schriftlich niedergelegt werden könnte, sondern sie ist im Philosophieren selbst wirklich. Im lebendigen Philosophieren sind wir es selbst, die im Innersten (Gemüt) vom eigenen Sein des Selbst, vom Sein der Anderen und vom Sein der Welt betroffen, berührt und ergriffen sind. Auch wenn jemand nur rein geistig zu denken vermeint und sich nur auf das, was ihn da angeht, intellektuell besinnt, so vernimmt und denkt er doch als ganzer Mensch, der sich leibhaftig in der Welt aufhält, selbst dort noch, wo er von sich absieht. Vernünftig denken heißt zunächst: sich in möglichst uneingeschränkter Offenheit als ganzer Mensch für das sich ihm Zusprechende vernehmend zu verhalten, und zwar in Anspruch genommen von sich selbst, als Mitmensch von den Mitmenschen her sowie durch dieses oder jenes, in einer ganz bestimmten Situation durch die Offenheit der Welt selbst. Das schließt die Beunruhigung über sich selbst, das Sorgetragen füreinander, das emotionale Bewegtsein nicht aus, im Gegenteil: Philosophieren als dieses im Sich-Verstehen-Können auf das Daseinsganze, im Beteiligtsein an diesem ist immer und notwendig ein gestimmtes und ein von dem her, woran wir beteiligt sind, be-stimmtes. Alles Vernehmen ist unmittelbar ein gestimmtes, das nicht bloß zufällig von auftauchenden Gefühlen begleitet wird, sondern das unmittelbar erschließt, wie 1 Vgl. A. Schopenhauer, SW, Bd. 3 = Bd. 2 von: Die Welt als Wille und Vorstellung, 176: Über das metaphysische Bedürfnis; ders., a.a.O., Bd. 6 = Bd. 2 von: Parerga und Paralipomena, 364: Über Religion. Schopenhauer meint unmittelbar an Kant anzuknüpfen, der Metaphysik als gegebene »Naturanlage (metaphysica naturalis)« menschlicher Subjekte angenommen hat, sodass »irgend eine Metaphysik zu aller Zeit gewesen« ist (KrV, B 21 f.). Er fragt nicht wie Kant transzendental nach der notwendigen Bedingung der Möglichkeit von Metaphysik als Wissenschaft, sondern nach den (natürlichen) Bedingungen dieses Fragens: der Verwunderung über das »eigene Dasein« angesichts der Kontingenz (Tod, Endlichkeit, Vergeblichkeit alles Strebens). Dennoch ist beiden die anthropologische Wende gemeinsam, die das sogenannte ,metaphysische Bedürfnis‘ subjektivistisch verankert. Demgegenüber geht es mir hier um eine radikale Wende vom (scheiternden) Bedürfnis weg zur Ansprechbarkeit für das Daseinsganze. 2 Vgl. R. Guardini (1996), Die Lebensalter, dort »Die Lebensalter und die Philosophie«, 79– 89.
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einem ist, wie es einem geht, wie jemand sich selbst im Verhältnis zu sich, zu den Anderen und von ihnen her, zur Welt verhält und sich in ihr befindet. Philosophieren ist immer ein gestimmtes und befindliches, ob uns nun das Sein der Welt, des Menschen, des eigenen Selbst im Staunen oder in Freude aufgeht oder ob es uns in Angst und Verzweiflung bedrückt oder gar kalt und gleichgültig sein lässt bzw. auf privative Weise ,ungestimmt‘, oder aber ,verstimmt‘ in Anspruch nimmt.3 Vielleicht sind wir zu voreilig auf die Sache (Sachdefinition) der Philosophie losgegangen, und zwar ohne der Verbaldefinition des Wortes »Philo-sophie« Beachtung zu schenken. Dieses griechische Wort sagt zunächst adjektivisch gebraucht, dass jemandem (dem Philosophierenden) an der Weisheit liegt, dass er sie gern hat und sie verehrt, dass er ihr daher nachgeht und sie annimmt. Weisheit könnte man nun als ein dem Daseinsganzen (Welt, Mitmensch, Selbst usw.) entsprechendes und angemessenes Sichverstehen umschreiben. Diese Weltweisheit (schon mhd. werltwîsheit) ist wesenhaft situativ verankert, sodass man jemanden ,weise‘ nennen kann, der das der Situation Entsprechende verlässlich zu tun weiß. Doch wie könnten wir von woanders her auf das der jeweiligen Situation Entsprechende kommen, wenn nicht aus dem Anwesenlassen des Daseinsganzen? Dieses eigentümliche Sichverhalten im Sichverstehen auf das Daseinsganze spricht uns m.E. im griechisch verstandenen Wort ,Philosophie‘ an. 1. S o wie es facettenreich und daher strittig sein kann, was sachgemäß unter Weisheit zu verstehen ist, so ist erst recht die der Weisheit entsprechende Gesamthaltung nicht eindeutig festzulegen. Vieles spricht dafür, dass zur ,Philo-sophie‘, sachlich ursprünglich gedacht, Liebe zur Weisheit gehört. Diese Liebe meint kein Sichwünschen, kein Begehren und Verlangen nach Weisheit (vgl. das nl. wijsbegeerte), auch keine für Schattenseiten des Daseins phänomenblinde Leidenschaft, sondern dass wir sie mit ganzem Herzen kennenlernen mögen und zulassen. Der Philosophierende stünde demnach eingestimmt auf das Daseinsganze im Einklang mit dem Daseinsganzen (dieses versammelnd), im zusammenklingenden Entsprechen und abgeklärten Einverständnis mit ihm.4 Philosophie wäre somit als Lebens- und Weltweisheit das lebenspraktische Waltenlassen der Übereinkunft von Mensch und Welt. Dieses Übereinkommen schließt Differenziertheit und Differenz nicht aus, im Gegenteil; vermutlich wachsen Übereinkunft und Differenziertheit in gleicher Proportion und nicht in umgekehrter Proportion miteinander. 3 Vgl. dazu auch vom Verf. (2006), Über den Bezug der Emotionen zur Wahrheit. 4 Vgl. dazu unter Bezugnahme auf Heraklit: M. Heidegger, Was ist das – die Philosophie?
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Erst die prekäre Erfahrung, dass dieser beglückende Einklang im Widerstreit der Auffassungen verstummt, verdeckt oder verloren gegangen ist, und dies gar durch ein Philosophieren, das sich im ideologischen oder weltanschaulichen Schein der Weisheit bewegt oder marktorientierter Gefälligkeit und Nutzbarkeit verfällt, gab und gibt den Anlass zur Veränderung des philosophischen Grundverständnisses. Philosophie wird zum Streben und Suchen, zum Eros, ja zur Jagd nach jener Weisheitsfülle, die sie verloren glaubt oder noch gar nicht gewonnen hat. Sie erweckt ein Bedürfnis nach Harmonie, das sich bis zur Sehnsucht steigern kann, ja eine Hoffnung (Aussicht) auf ein Je-immer-Mehr an Weisheit. Niemand könnte sie ernsthaft suchen, hätte er nicht schon etwas von ihr gefunden, hätte er nicht in ihrem Vor-Schein gestanden. Philosophie bestünde so im Erwecken und Wachhalten jener Weisheit, die sich bei aller Gebrochenheit der Übereinkunft dennoch von je immer größerer Übereinkunft von Mensch und Welt umgriffen weiß. Philosophie als Weltweisheit in Selbsterfahrung, im Sichauskennen in der jederzeit unmittelbaren Lebenswelt, in praktisch-vernünftiger Lebensgestaltung steht im Spannungsfeld zur Wissenschaft. Das uns allen mögliche philosophische Daseinsverständnis kann nun in Ausübung eigener Besinnung systematisch-methodisch enthüllt und ausgearbeitet werden. Philosophie als Wissenschaft ist Ausarbeitung des uns eigenen Weltverständnisses in methodisch-kritischer und systematisch-zusammenhängender Form und ist heute so im Wissenschaftsbetrieb der Universitäten und Hochschulen als Forschungsrichtung etabliert, was mit dem persönlichen Leben und Lebensstil des Berufsphilosophen nichts zu tun haben muss. Demgegenüber hat sich auch unter einigen akademischen Philosophen eine Wendung angebahnt, an der besonders der französische Religionswissenschaftler Pierre Hadot beteiligt war, der sagt: »Ich habe erkannt, daß die Philosophie nicht nur eine bestimmte Art ist, die Welt zu sehen, sondern eine Art zu leben, und daß alle theoretischen Diskurse nichts sind im Vergleich mit dem konkreten gelebten philosophischen Leben.«5 Philosophie wurde vorläufig als Welt-, Menschen- und Selbstverständnis bestimmt. Wir selbst verstehen uns als Menschen wesenhaft im offenen Bezug auf die Welt, auf das Ganze des Seienden, an dem wir teilhaben und dessen wir inne sind. Wir verstehen uns selbst auf die Abgründigkeit und Tiefe unseres Daseins in Entsprechung zur Offenheit der Welt im Ganzen. Im Durchmessen der Abgründigkeit unseres Daseins suchen wir dem Ganzen (All) auf den es durchragenden Grund (wie immer er be5 P. Hadot, Philosophie als Lebensform. Antike und moderne Exerzitien der Weisheit, 9; vgl. ders., Wege zur Weisheit, oder: Was lehrt uns die antike Philosophie?
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stimmt werden mag) zu gehen. Dieses Anliegen der Philosophie formuliert Aristoteles im Rückblick auf die frühgriechischen Denker als Denken des Ganzen und des Grundes. Er nennt das Erste Philosophie. Das heißt nicht, dass sie numerisch die erste ist, nach der es numerisch eine zweite, dritte usf. gibt, sondern sie ist die anfängliche, die ursprüngliche und grundgebende, die das Ganze des philosophischen Denkens nachhaltig eröffnende Philosophie: die Fundamentalphilosophie. Philosophiegeschichtlich gilt Metaphysik als Titel für jene Schriften des Aristoteles, die er selbst »Erste Philosophie« nannte. Sie beziehen sich ausdrücklich auf ein »theo-logisches«, das heißt Gott-sagendes Philosophieren, das von nicht-philosophischen Wegen der Theologie abgehoben und später philosophische Theologie genannt wurde. Philosophische Theologie bewegt sich in dieser Spannung zwischen lebensweltlicher Erfahrung, praktischer Weltweisheit und Wissenschaft (Verwissenschaftlichung). Will man sie als Wissenschaft charakterisieren, dann kann man aus dem Titel ,Theologie‘ eine Verbaldefinition herauslesen: Das Wort ,Theologie‘ setzt sich zusammen aus theós (Gott) und lógos (Wort im Sinne von Aussage, sinnvoller Rede). Eine Rede gilt in ausgezeichneter Weise als sinnvoll, wenn sie wissenschaftlich ist, das heißt methodisch ausweisbar und systematisch geordnet entfaltet wird und im begründenden Zusammenschluss von Sätzen besteht. Wir kennen Wissenschaften, die mit Wortverbindungen wie »Bio-logie«, »Psycho-logie«, »Onto-logie« betitelt werden. Man bezeichnet damit die Wissenschaften vom Leben, vom Seelischen, vom Seienden u.a.m. Das Suffix »-logie« besagt in ihnen »Wissenschaft von …« sowie »Lehre«. Also meint man mit »Theo-logie« auch eine Wissenschaft (scientia theologica) unter anderen, nämlich die von Gott oder vom Göttlichen. Insofern Philosophische Theologie als ein Teilbereich der Philosophie gilt, teilt sie ihren Wissenschaftscharakter mit der Philosophie. Theologie wurde tatsächlich auf wissenschaftliche Weise betrieben oder soll im Zuge wissenschaftlicher Bestrebungen zu einer Wissenschaft erhoben werden. Doch welche Wissenschaftlichkeit könnte ihr angemessen sein? Mit dieser Frage stellt sich ein schwerwiegendes Problem. Versteht man nämlich unter Wissenschaft jede planmäßig und berechnend betriebene Sicherstellung von Wirklichkeitsbereichen für unser Erkennen, dann entsteht die Frage: Ist Gott überhaupt als Gegenstand (Objekt) zugänglich und auf diese Weise verfügbar, sodass er in einer solchen Wissenschaft auftreten könnte? Wer ist Gott, dieses unendlich abgründige, namenlose Geheimnis unseres Daseins, dieser über alles Denkbare hinaus unendlich Erhabene, der nur erahnt, erfahren und erkannt werden kann, wenn er sich selbst mitteilt und von sich aus zeigt? Spottet seiner nicht jedes Begreifenwollen, das über ihn definitiv verfügen möchte? Wie könnte er als ,Gegenstand‘ in eine menschliche Wissenschaft eingehen? Ist nicht schon das Ansinnen dessen eine Gotteslästerung (Blasphemie)? Zu diesem
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Einwurf kann gesagt werden, dass Gott in seiner Göttlichkeit niemals wie ein innerweltliches Seiendes, das man rechtens zum Gegenstand machen kann, dafür in Frage kommt. Doch wenn Gott oder Göttliches grundsätzlich nicht als Gegenstand einer Fachwissenschaft in Frage kommen kann, so doch in einer Besinnung, die sich vom Ganzen und Grund unseres Daseins angesprochen weiß, und die in einem entsprechenden wissenschaftlichen Vorgehen Rechenschaft über sich zu geben sucht – das heißt eben auf dem Denkweg der Philosophie. Dieser kommt mit einer gewissen Zurückhaltung für ein Gott-Sagen sehr wohl in Frage. Doch hat man gegenüber einem solchen philosophischen Vorhaben noch weiter geltend gemacht, dass wir im ursprünglichen religiösen Vollzug (in dem wir uns auf dem Grund des göttlichen Entgegenkommens, seiner Gnade, selbst vollziehen) über uns hinausgehen und so auf das Unergründliche, auf Gott bzw. das Göttliche hin uns selbst überschreiten oder erhoben werden. Und zwar indem wir uns selbst unmittelbar für das Unergründliche öffnen, uns ihm zuwenden, und indem wir sein ,Antlitz‘ suchen, zu ihm reden, ihn also mit ,Du‘ ansprechen. Daher können wir streng genommen nicht über oder von Gott (in der dritten Person) angemessen reden. Das setzt freilich voraus, dass überhaupt ein Gott oder Göttliches sich uns gibt und nicht bloß postuliert wird. Damit solches Reden in seiner Du-haftigkeit den göttlichen Ansprechpartner erreicht und nicht ins Leere geht, müsste jener uns entsprechend seiner Göttlichkeit erfahrbar, offenbar und ansprechbar geworden sein. Nach dem Gesagten kann der Ursprung der Theologie als eines Redens über und von Gott niemals darin liegen, dass wir uns auf Gott hin so überschreiten, dass wir zu ihm eine Verbindung, eine Du-Beziehung herstellen, um zu ihm zu sprechen, sondern einzig darin, dass wir uns selbst als die erfahren, denen Gott bzw. Göttliches sich selbst gewährt und mitteilt, indem, weil und während er bzw. es uns ins Sein ruft. Dieser Erfahrung von ,Kreatürlichkeit‘ wird im nachfolgenden Band nachgegangen werden. Ferdinand Ebner, der zu wenig bekannte unter den personal-dialogischen Denkern, hat diesen religionsphilosophischen Grundgedanken wie kaum ein anderer durchdacht. Zusammenfassend sagt er: »Wie nun im Sinn des Satzes ,Ich bin und durch mich bist du‘ das Verhältnis Gottes zum Menschen, so liegt in der Umkehrung ,Du bist und durch dich bin ich‘, das [Verhältnis] des Menschen zu Gott. Vom Sinn dieser Umkehrung wird jedes Gebet getragen […].«6 Das hier angesprochene Gespräch ist nicht äußerlich zu verstehen, indem man auf das Schriftbild achtet und es auf ,Grund-Sätze‘ reduziert. Diese lapidaren Sätze 6 F. Ebner, Schriften, Bd. 1: Versuch eines Ausblicks in die Zukunft (1929), 785; weitere Stellenangaben bei F. Scharl, Weg(-ung) im Denken Ferdinand Ebners, 171 f., 179.
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haben nichts mit Urteilsbehauptungen zu tun. Ihr Sinn ist vielmehr ein axiomatischer, der das, worum es im Daseinsganzen geht, in seiner Würde zum Vorschein bringt und wahrt, indem er einen anfänglichen Anspruch an das jeweilige Dasein im Denken zur Sprache bringt. Die beiden ,Axiome‘ sagen dasselbe, jedoch nicht das Gleiche. Sie wollen selbstverständlich nicht buchstäblich-reportagehaft verstanden werden, sondern holen in bildhafter Rede »aus dem tiefer verstandenen Wesen des [schöpferischen] Wortes« heraus, was es heißen mag, dass Gott schaffend spricht7 und der Mensch sich im Sichereignen des Geschaffenwerdens angesprochen und ansprechbar erfährt. Methodisch ist für das Folgende von Gewicht, dass der phänomenale Erkenntnisgrund (ordo cognoscendi) beachtet wird, durch den wir erst auf den Seinsgrund (ratio essendi) kommen können. Der Erkenntnisgrund ist das, was von sich her das für uns Nächstliegende ist oder uns näher als die zu erkennende ,Sache‘ liegt. Auszugehen ist deshalb nicht vom ,Grundsatz‘ »Ich bin und durch mich bist du«, sondern von der Umkehrung dieses Satzes, dem ,Kehrsatz‘ »Du bist und durch dich bin ich«, oder besser ,ich bin, weil Du bist‘. Dieser Gedanke entspricht – falls er gangbar ist – dem Erfahrungsweg des Denkens. Man muss sich eben hüten, die erst aufzuweisende Seinsordnung und ihr Anfängliches (aus Enthusiasmus?) vorwegzunehmen. Was nun den Einwand angeht, eine Rede über und von Gott könne niemals erlaubt oder angemessen sein, da ihre Ursprünglichkeit nur dem personalen, religiösen Vollzug vorbehalten sei, muss darauf hingewiesen werden, dass mit diesem Einwand selbst über und von Gott zu uns und nicht zu ihm geredet wird. Wie sollte es auch anders möglich sein, zu anderen Menschen von Gott oder über ihn zu reden als indirekt, in der dritten Person? Schließlich hat Ebner auch selbst zwischen der realen, primär-direkten Rede mit Gott und der ideellen, sekundär-indirekten Rede über Gott unterschieden.8 Dabei hebt er die Nichtursprünglichkeit und Umwegigkeit eines solchen (wissenschaftlich ,ambitionierten‘) indirekten Redens hervor, das aber gerade dadurch zu seinem Recht kommen soll. Übrigens bringt Ebner sein Anliegen der Relativierung der indirekten Rede nur dadurch vor, dass er nicht direkt zu uns ,redet‘, sondern es (im Notizheft) stumm für sich aufschreibt, für anonyme Andere. Und erst wir, die seine Leser geworden sind, suchen das Verschriftlichte zur Sprache zu bringen, allenfalls in horchend-vernehmender Aufgeschlossenheit für solches, was uns da gemeinsam in Anspruch nehmen könnte. So können wir seinem 7 F. Ebner, a.a.O., 780. 8 Dazu vgl. vom Verf. (1985), Personales Sein und Wort. Einführung in den Grundgedanken Ferdinand Ebners, 213, 216, 276–285 und auch 232–248: »Das Sprachproblem der Substantivierung personalen Seins« (das Ich, das Du, das Sein des ,bin‘ und ,bist‘).
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Anliegen folgen, für das er, soweit er es vermochte, methodisch und systematisch – aber keineswegs grundsätzlich philosophie- und wissenschaftsfeindlich – sich abmühte, und es verständlich machen. Die Frage, die uns immer wieder wachhalten sollte, ist daher die: Wie müsste eine Wissenschaft sein, in der sich Gott so zur Sprache bringen lässt, dass in ihr wirklich von Gott die Rede ist und sie sich wahrhaft Rede vom wirklichen Gott nennen dürfte? Jedenfalls kann das Maß der Wissenschaftlichkeit der Theologie niemals einfach von einer anderen Wissenschaft vorgegeben, diktiert oder kopiert werden, weil sie sich nur aus der Einzigartigkeit des ihr eigenen Bereichs zu bestimmen hat. Nur innerhalb ihrer selbst kann entschieden werden, ob sie und was sie als philosophische Wissenschaft und als Lebensweisheit sein kann. Spätestens in ihr spitzt sich das philosophische ,Methodenproblem‘ eines Denkens in der Spannweite zwischen strenger Wissenschaft, vorwissenschaftlicher Lebensweisheit und dem ihr zugehörigen Wort der Dichtung zu, welche die ganze Philosophie in verschiedenen Akzentuierungsmöglichkeiten im Unterschied zu allen anderen Fach- oder Spezialwissenschaften betrifft. Vorausgesetzt, dass Theologie in irgendeiner Weise philosophische Wissenschaft sein kann, die auf das Ganze hin und diesem auf den Grund geht, so ist das nach dem Gesagten nicht exklusiv, sondern nur präzisiv (offenlassend) zu verstehen.9 Kann es eine Theologie als philosophische Wissenschaft geben, dann kann sie wie jede Wissenschaft gelehrt werden. Theologie als lehrbare, für Unterrichtszwecke geeignet gemachte Wissenschaft von Gott betitelt man daher häufig mit »Gotteslehre«. Allein bliebe hier zu bedenken, dass das, was uns in ihr bewegt und zu denken gibt, vermutlich etwas immer wieder Erstaunliches, der Frage Würdiges und unergründlich Bleibendes ist. Philosophie und mit ihr theologische Philosophie ist ursprünglich gar nicht als Lehre, Lehrsystem, Schulphilosophie wirklich, sondern ist im Philosophieren selbst beheimatet. Und das ist sie nur insofern, als sie sich auf einen Selbstvollzug des Daseins besinnt, der nicht auf ein System des absoluten Wissens aus ist, sondern je immer größerer religiöser Erfahrung und Praxis offensteht. Die philosophische Besinnung auf Erfahrung und Praxis schließt freilich nicht Tradier-, Lehr- und dem entsprechend Lernbares aus. Wenn das vorliegende Buch nicht beansprucht, ein Lehrbuch zu sein (es mag allenfalls zum Verfassen von Lehrbüchern hilfreich sein), dann will damit der unersetzliche Wert didaktisch gut ausgearbeiteter Lehrbücher nicht geschmälert werden, schließt doch das Lehrhafte höch9 Zu beachten ist, dass Irrtümer seltener in dem, was positiv (d.h. präzisiv) gesagt wird, sondern häufiger in dem, was ausgeschlossen wird, liegen.
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ste Ansprüche nicht aus. Ist es nicht gerade das Lehren, das die Lehrenden nötigt, engagierter und genauer nicht ihre Vorlieben (subjektiven Interessen) zu hegen, sondern auf das zu achten, was sie mit den Lernenden verbindet, das gemeinsame Geschick, das alle in Anspruch nimmt? Übrigens können und wollen daher die Lehrbücher der Gotteslehre zumeist auch nicht abschließende Antworten auf das in ihnen Erfragte geben und selbst ihre größten Summen versammeln nur Bruchstückhaftes, das eine Spurenlese bietet, die das Abwesende im Anwesenden wie eine prägnante Spur wahrnimmt, welche die von den Grannen, Hülsen und Spelzen getrennten Körner in der Spreu hinterlassen haben. Zu beachten ist, dass lehrhafte Antworten (Schulthesen) nur aus den eigenen Fragen (quaestiones) sowie den Anfragen anderer zu verstehen sind, die zu ihnen geführt haben. Im Bedenken der (zumeist nur implizierten) Fragestellungen eröffnen sich weitere Möglichkeiten des Denkens, werden wir vor die vorfragliche Sache gebracht, die uns überhaupt erst zu denken gibt, indem sie uns fragen lässt. Was unbegreiflich und erstaunlich stimmt, lässt uns fragen, wie und warum beispielsweise ein Farbiges, das blau in Erscheinung tritt, in seinem Geben als Gegebenes, das blau ist, eben hinzunehmen ist. Die uns betroffen machende Sache, die das Fragen erweckt und leitet, taucht als das fraglos immer schon Erschlossene, wenn auch mitunter als ein nur dunkel oder diffus Zugängliches auf: eben als das Vorfragliche. Dieses widersteht als das Erstaunliche allem Zweifel, wobei zweifelsohne unser Zweifeln-Können sowie alle Hermeneutik des Verdachts selbst noch erstaunlich sind. Der Anfang und Ursprung allen Fragens ist notwendig das zur Frage selbst gehörige Befragte als das Fraglose, das Vorfragliche oder gar jenes ,Vonwoher‘ das Fragen kommt. Unmittelbar hin- und anzunehmen ist, dass wir selbst mit Anderen in der Welt nicht bloß zum vorhandenen Bestand an Menschen zählen, sondern selber anwesend sind, indem wir uns leibhaftig im Verhältnis zu ihnen und unserer Welt aufhalten. Dieses Ganze unseres In-der-Welt-Seins kann uns als das uns in Frage Stellende erschütternd überkommen und es erweist sich in dieser Erfahrung als das allen Fragens zutiefst Würdige, um das es uns alltäglich geht, wenn auch zumeist verdeckt. Es stellt sich dabei als das unbezweifelbar selbst vorfragliche Sein (das Befragte) heraus, und zwar als solches, das nicht hintergehbar ist und auch nicht durch ein Hinterfragen, das sich daran vorbeizudrücken sucht, zum Verschwinden gebracht werden kann. Philosophie ist in der sachlich ursprünglichen Bedeutung von Weisheitsliebe dem Menschen eigen, der in der Fragwürdigkeit allen Daseins steht. Das Fragen eröffnet zwar der Philosophie den Anfang, aber dennoch kann Philosophie (bzw. Metaphysik) mit dem Fragen, der Fraglichkeit und Fragbarkeit des fragenden Menschen nicht den Anfang machen. Denn alles Fragen ist nachträgliche Antwort. Es
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geht nämlich von dem aus, womit sich die/der Fragende vorfraglich im Einklang befindet und so in fragloser Übereinkunft sich übereignet ist. Die Übereinkunft von Welt und Mensch kann sich dabei in wachsender Offenheit von der Welt her und vom weltoffenen Menschen her ereignen. Daher kann mit total radikalisierter Fraglichkeit nicht der Anfang des Philosophierens gemacht werden, denn ein Fragen, wo nichts (kein Befragtes) sich mehr zu erfahren gibt, hebt sich als Fragen auf. Das Gesagte suspendiert Philosophie aber nicht von der ihr eigenen Radikalität des Fragens. Anders gewendet: Das total radikalisierte Fragen ist im eigentlichen Sinne gar nicht radikal, da es nicht wahrhaft an die radix, an die Wurzel des Fragens, geht und an das Vorfragliche heranreicht. Verkannt wird, dass jedes ,Wurzelwerk‘ (franz. rhizom) mit seinen Knollen, Knötchen, Verästelungen, Sprossen, Würzelchen, kurz: mit den Vielheiten auf vieldimensionalen Konsistenzebenen (um im Bild zu bleiben), sich dem Wurzelgrund, dem Erdreich und der Sonne des Himmels verdankt. Deswegen muss zwar auch gefragt werden, ob oder ob nicht ein im üblichen Sinne radikales Fragen als ursprünglichste Gebärde philosophischen Denkens in Frage käme. Doch durchschaut dabei der wahrhaft Philosophierende jene aggressiv zertrümmernde Fragehysterie, die von vornherein nichts respektvoll behalten oder gar verehren mag und wie im Traumflug in realitätsenthobener Schwebe verharrt. Gewiss wird eine echte Radikalisierung der Fraglichkeit dessen, was als das Vorfragliche der Frage würdig ist, vonnöten sein; es wird dadurch zum Befragten, zum In-Frage-Stehenden. Philosophische Theologie kann mit Fragen ihren Anfang nehmen, aber das Frageverhalten ist nicht ihr Anfang. Aus diesem Blickwinkel gesehen nimmt es sich wunderlich aus, wenn Darstellungen philosophischer Theologie sich häufig unter dem Titel der »Frage nach Gott« präsentieren,10 obwohl in ihnen das grundstürzende In-Frage-gestellt-Werden des Daseins durch ein wie auch immer geartetes vorfragliches Widerfahrnis kein Thema ist. Stattdessen arbeitet man kluge 10 Als Beispiele seien angeführt: H. M. Baumgartner/H. Waldenfels, Die philosophische Gottesfrage am Ende des 20. Jahrhunderts; N. Fischer, Die philosophische Frage nach Gott: Ein Gang durch ihre Stationen; N. Hoerster, Die Frage nach Gott; R. Langthaler/W. Treitler (Hg.), Die Gottesfrage in der europäischen Philosophie und Literatur des 20. Jahrhunderts; H. Ogiermann, Sein zu Gott: Die philosophische Gottesfrage; J. Ratzinger (Hg.), Die Frage nach Gott; G. Scherer, Die Frage nach Gott. Philosophische Betrachtungen; G. Schrimpf, Die Frage nach der Wirklichkeit des Göttlichen. Eine wirkungsgeschichtliche Hinführung zu klassischen philosophischen Texten. – Die Titel stehen freilich insofern nicht für den Inhalt, als man in ihnen nach einer Ausarbeitung des Wesens philosophischen Fragens vergeblich sucht. Vgl. auch W. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 130: »Der Gedanke, daß der Mensch als solcher ,Frage‘ nach Gott sei, war in der evangelischen Theologie nach dem ersten Weltkrieg weit verbreitet und vertrat gewissermaßen die Funktion der alten ,natürlichen Theologie‘ in einer Zeit, in der die theoretische Beweiskraft der Gottesbeweise fragwürdig geworden war, die aber an der darin ausgedrückten Erhebung des Menschen zum Gedanken Gottes festhalten wollte.«
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Antworten auf schulphilosophisch vorgebahnte Fragen (die fraglos bleiben) aus: ob ein Gott existiere, wie er beschaffen sei usw. Warum das? Ich kann nicht annehmen, dass die Autoren solcher Werke nur ihren Job tun wollen. Wollen sie ein (latentes) Fragen bei den Lesern wecken, auf das sie ihnen Antwort geben möchten? Wollen sie bei denen anknüpfen, die meinen, dass man auf diesem Feld ohnedies nichts Haltbares weiß und daher im Buchtitel nichts darüber hinaus versprechen soll? Oder wollen sie bloß den Anschein vermeiden, dass sie sich endgültige Antworten im Umkreis des Unergründlichen und Erhabenen anmaßen oder gar von oben herab zu indoktrinieren gedenken? Nach dem Gesagten ist Philosophie ein Teilnehmen an und Mitgehen mit der zu vernehmenden Sache, die in Frage kommt, und erst in abkünftiger Bedeutung ist sie ein Stellen von Fragen. Dieses Fragen, das einem kommt und einen überkommt, trägt sich im Streben nach Weisheit, nach Einsicht, nach evidenter, verstandener Anwesenheit des Offenbaren aus. Dieses Streben oder Begehren ist in sich nichts Selbstverständliches, sondern mitunter Zwiespältiges, ja überhaupt erst zu Entwirrendes. Geht es in diesem Streben um ein Sich-verstehen-Können auf das Dasein im Ganzen, so ist diese Art der Sorge für das Ganze in ihrer Motivation zu klären. Verstehen wir unter Motivation das Offensein für einen Anspruch, der uns bewegt und daher als Beweggrund in Frage kommt, so stellt sich die Frage, von welcher Art der Anspruch dieses Beweggrundes ist, der uns heißt, dem Daseinsganzen zu entsprechen. Ist es die Erfahrung des Mangels (einer pejorativ verstandenen Endlichkeit), die nach Abhilfe schreit? Fordert die durch das Abwesen des Verlangten hervorgerufene unerträgliche Not Entlastung oder Kompensation? Weichen wir der Realität durch Sinnpostulate aus? Oder ist es die Erfahrung der in die Gegenwart hineinreichenden Anwesenheit von noch Abwesendem, welche als Unbedingtes, als das Anziehende, Faszinierende und Erschütternd-Bewegende (Heilige) erfahren wird? Anders gewendet: Im subjektzentrierten Streben kann man den Mangel an erfüllender Anwesenheit des Erstrebten als das Movens und seiner reale Erfüllung als das Quietiv (Beruhigungsmittel) deuten. Doch wird ein Streben bloß durch die Abwehr des Fehlenden, das als Übel empfunden wird, in Gang gehalten? Konstituiert der Mangel an Anwesenheit realer Erfüllung das Streben und macht er es verstehbar? Doch wie sollte aus der Abwehr eines Mangels etwas existenziell Positives (Erstrebtes) hervorgehen oder erreicht werden? Das formallogisch gültige Gesetz der doppelten Negation von etwas, die mit dessen Bejahung identisch ist (¬¬x = x), ist nicht auf den realen Strebensprozess übertragbar. In der Realität verstrickt man sich gewöhnlich durch direkte Abwehr nur tiefer in das Übel. Die Postulierbarkeit einer Abhilfe, welche die Unzufriedenheit über die Unerfülltheit eines Strebens aufhebt,
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setzt die Aussicht auf Erfüllung voraus. Sie müsste phänomenal ausweisbar sein. Hier genügt keine zur Abhilfe bloß geforderte (postulierte) möglicherweise entdeckbare Bedingung seiner Möglichkeit. Vielmehr ist ein echtes und ursprüngliches Streben aus dem (unscheinbaren, zumeist verdeckten) Anspruch des Aufgegebenen selbst (dessen wir inne sind) zu verstehen. Was verführt, ist, dass man sich eine bloß denkbar mögliche Vollzugsbedingung der Möglichkeit mühelos als notwendige Bedingung der Möglichkeit vorstellen kann, ohne dass die Verfälschung auffliegt. Die Notwendigkeit dieser Bedingung müsste aus dem Bedingen der Bedingung selbst mit erschließbar und von ihr her phänomenal erschlossen sein. Eine bloß denkbare Möglichkeit einer Notwendigkeit erstrebter Weisheit kann diese nicht durch den Zaubertrick transzendentaler Sinnpostulate als einholbar und real erfüllbar behaupten. Die zu findende Weisheit müsste denn auf dem Weg des Suchens von ihr selbst her, also schon als eine solche vorverstandene, erschlossen worden sein, und sie dürfte nicht wie bei selbst versteckten Ostereiern in den Suchprozess hineingeschmuggelt werden. Ein fragendes Suchen wäre daher dann echt und ursprünglich, wenn es schon auf der Basis des Vorfraglichen selbst aufweisbar ein Gefundenhaben und Finden des Vorgegebenen ist. Das Gesagte führt auf eine grundlegendere Unterscheidung: Es ist oft nicht klar, ob es in diesem Suchen, Nachforschen und Nachfragen (zthsiß) oder Streben (appetitus, desiderium naturale, rexiß) um die je größere Selbsterschlossenheit des eigenen Daseins in der Offenheit der Welt geht oder um ein selbstverschlossenes Begehren, bei dem das Erreichen dieser Erfüllung durch eigene Anstrengung im Vordergrund steht bzw. einem passiv erfüllbaren Bedürfnis folgt, das als ein suchtanaloges Verhalten (,Sehnsüchtigkeit‘) zu verstehen ist und die Abwandlung eines Wünschens darstellt, das eben selbst nichts ausführen und wollen kann.11 Solche Sucht (als 11 Etymologisch hat das Wort ,Suchen‘ eher etwas mit Spüren und Wittern, das uns zu etwas führen mag, zu tun als mit ,Sucht‘, worunter mhd. Krankheit, Siechtum verstanden wurde. Suchen und Sucht sind nicht dasselbe. Bringt man im alltäglichen Sprachgebrauch von heute ,Sucht‘ mit einer krankhaft unerfüllbaren Suche zusammen, so liegt hier ein Bedeutungswandel vor. Als süchtig gilt, wer an einer Sucht leidet. Gleichfalls hat das heutige Sehnen mit dem ahd. senen, d.h. ,kraftlos, unlustig sein‘, nicht viel zu tun und spezifiziert in ,Sehnsucht‘ nur das Kranksein. Sehnsucht besagt ein inniges, wehmütig bis schmerzliches Ergriffensein von einem Verlangen, wobei wir dem Verlangten nachhängen. Sie ist eine Weise des Hangs und unterscheidet sich vom Wunsch und vom Drang. Im Wünschen langen wir nach einer Erfüllung aus, die wir aber nicht aktiv anstreben. Besonders wichtig ist die Unterscheidung von Drang und Hang für ein besseres Verständnis des Verfallens in Abhängigkeits- bzw. Suchtbeziehungen mit ihren zerstörerischen Auswirkungen. Auch im Hang entdecken wir die Sorge um uns selbst, aber gerade in dem, was ein Drang sonst abdrängt: Wir halten uns gegenwärtig immer schon bei etwas (das also auch gewesen ist) auf, und zwar uns vorweg bei etwas bzw. jemandem; doch lassen wir uns ziehen, um von eigenen, eigentlichen und auf uns zukommenden Möglichkeiten des Selbstseins wegbleiben zu können. So ist ein Hang nicht immer etwas Harmloses, er kann zur tödlichen Bedrohung auswachsen. Es ist die Sorge um Leben und Tod, die auch als Hang verdeckt ist; jedoch verdeckt und verstellt
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Sehnsucht) beim Wort genommen (wie beispielsweise in ,Selbstsucht‘ oder anders in ,Neu-gier‘, wo die verschlingende Gier nach dem ,Wissen‘ des Allerneuesten und nach der Zerstreuung Befriedigung verschafft), verstellt, wenn sie einen als Stimmung fesselt, mit ihrem Verlangen und Ersehnen gerade das, worauf zurückzukommen wäre: das verstehbare und zu verstehende Offenbarsein des Sichzeigenden. Das Gestimmtsein auf Sehnsucht verengt das für das Begegnende offene, freie Weltverhältnis. Das vielgestaltige Suchtverhalten ist vermutlich eine Erscheinung der Flucht vor menschlicher Nähe, vor der Annahme des eigenen Daseins im Miteinander- und Selbstsein. Der sich hier aufdrängende Einwand, dass Suche und Sucht etymologisch nichts miteinander zu tun haben, hat nur insofern seine Richtigkeit, als ,Suchen‘ auf die ahd. Ausgangsbedeutung von Spüren, Wittern (des Jagdhundes) zurückführt im Gegensatz zu ,Sucht‘, das mhd. als suht Siechtum, Hinfälligkeit und Krankheit bedeutete. Deswegen spricht man im klinischen Sprachgebrauch statt von Sucht eher von einem Abhängigkeitsverhältnis, das oft nur mehr auf psychologische oder physiologische Abhängigkeit von psychoaktiven Substanzen eingeengt definiert wird. Damit ist die mit dem Suchtverhalten einhergehende Realitätsflucht ausgeblendet, ja sogar die Frage nach einer den zahlreichen Suchterkrankungen gemeinsamen Grundstruktur scheint damit verstellt zu sein. So könnte man in der Selbstsucht die Grundstruktur aller Süchte vermuten, wo das eigene Selbst expansiv, dort, wo es nicht ist, nämlich in Anderen bzw. auf dem Umweg über sie, gesucht wird. Und sie besteht im stets misslingenden Versuch, in Anderen zu sich selbst kommen zu können und über Andere bei sich und für sich sein zu wollen. Gleichzeitig sucht man die Unabhängigkeit, die Befreiung aus diesem Verstricktsein in das Dasein Anderer, indem man sie daran hindert oder ihnen einspringend abnimmt, dass sie unabhängig ganz sie selbst sein können. Nun kann bekanntlich das Sehnen mit Suchtcharakter (aus der Macht der Wunschwelt) im Bereich der Religion zur stärksten Kraft der (Wieder-)Herstellung der Ganzheit, des Heilen und Heiligen werden: ein Sicherleben in der Unendlichkeit des Beruhigenden oder aufpeitschend Rauschhaften. Als leitende Kraft behindert es den ,nüchternen‘ Rückgang auf das, was als das Heilige, Göttliche oder Gottheitlider Hang nicht, indem er verdrängt, sondern indem er sich von etwas oder jemandem hin-zuziehen lässt. Dieses »Hin-zu« ist nicht wie beim Drang durch den Antrieb bestimmt. Im Sichziehen-lassen von solchem, dem der Hang nachhängt, dem alle Sorge gilt, ist ein eigentliches Sich-vorweg-sein verdeckt. Im Hang sind wir – immer schon mitten im gegenwärtigen ,Sein-bei‘ – aus auf ein Wegbleiben des Daseins von ihm selbst. Zum Phänomen von Hang und Drang vgl. den § 41 (»Das Sein des Daseins als Sorge«) in M. Heidegger, GA, Bd. 2: Sein und Zeit, 257–260. Sehnsucht als Hang wird hier von mir nicht psychologisch als psychischer Akt oder Erleben gedeutet, sondern philosophisch als eine Weise des Seins in der Welt.
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che von ihm selbst her uns widerfährt und zur Erfahrung kommt. Man beruft sich stattdessen auf ein höheres, zentrales, unterstützendes, eben das religiöse Bedürfnis – ein Wünschen, das ohne reale Erfüllbarkeit keinen Sinn hätte – und auf eine Sehnsucht nach etwas Göttlichem, auf dieses schmerzliche Verlangen nach etwas Entbehrtem und Fernabliegendem, das einem höchste Erfüllung oder Hilfe zu gewähren verspricht. Es lässt sich kaum abschätzen, wie repräsentativ diese Bedürfnisreligiosität für den schöngeredeten Megatrend von Heute ist. Vielleicht stehen wir noch global unter der Vorherrschaft eines solchen Suchens, das insofern Suchtcharakter hat, als man sich genötigt erfährt, sich selbst in seinem Sein begründet, gesichert und versichert zu wissen. Doch scheint der Megatrend Religion merklich konterkariert durch einen Trend, der nicht mehr vom unmittelbaren Einsturz ehemals politisch abgestützter Religion, nicht mehr von den Erfahrungen des Todes und der Verwesung Gottes, nicht mehr von der Verfinsterung der Welt durch Sinnentleerung, auch nicht mehr vom Absterben des metaphysischen Bedürfnisses, sondern von seinem Verschwinden geprägt ist – ein Ausfall, der nicht mehr als Not, sondern notlos als neues Selbstverständnis erfahren wird. Die religiöse Suche nach Selbsterfüllung und nach Bewältigung der Kontingenz der Welt durch eine Transzendenz, eine Über- und Wunschwelt, Verdoppelung der Welt usw. kann eben auch in das Gegenteil eines solchen Strebens, in ,Anorexie‘, in den Ausfall dieses Begehrens umkippen. Immer wieder begegnen einem Menschen, die erklären, dass sie so etwas wie religiöse, metaphysische oder weltanschauliche Bedürfnisse nicht hätten. Statt auf die großen Meta- und Einheitserzählungen der Philosophie zurückzugreifen, plädiert Jean-François Lyotard bekanntlich für die Zustimmung zur Multiplizität mit der Zeitdiagnose für die postmoderne Welt: »Die Sehnsucht (nostalgie) nach der verlorenen Erzählung ist für den Großteil der Menschen selbst verloren.«12 Müsste man heute nicht von einem Megatrend des Schwunds religiöser oder metaphysischer Bedürfnisse sprechen? Die Frage wird uns noch beschäftigen. Doch könnte einstweilen einsichtig werden, dass ein Daseinsverständnis, das sich aus dem Sichwollen versteht, einen Willen zur Herrschaft entbindet, der sich möglichst allen Weltseins zu bemächtigen, zu versichern und mit ihm zu rechnen sucht. Dieses Selbstverständnis erwächst nicht aus einem sprachlich verfassten, die ansprechende Offenbarkeit des Daseins vernehmend-gestimmten Denken, sondern aus der Denkbarkeit und der Gesetzmäßigkeit konstruktiver Potenzen eines Denkens, das sich so als neue Instanz der ,Vernünftigkeit‘ der Vernunft kreiert. Die selbst- und welterklärende Hypothese der Hergestelltheit der Welt kann nun 12 J.-F. Lyotard, Das postmoderne Wissen, 122 (La condition postmoderne, 68).
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wegfallen, man ist über Weltverdoppelungen desillusioniert, schätzt virtuelle Welten (zugegebenermaßen als Flucht vor der Alltagslast des nichtigen Daseins). Das vormalige metaphysische Bedürfnis ist vielfach vertrocknet und mutiert zu einer totalen In-Anspruch-Nahme der konstruktivistischen Selbst- und Weltherstellung – eine Bürde, die man allenfalls ohne Entlastungsangebote, höhere Drogenkultur, nicht tragen möchte. Wo man noch aus einer Mangelerfahrung über den Sinnverlust heraus – etwa zur Bewältigung der Kontingenz – das Bedürfnis nach theologischer Metaphysik oder bloß aus theoretischer Neugier nach Mehrwissen heraus die Gottesfrage ventiliert und so aus einer über sich nicht aufgeklärten Sehnsucht heraus fragend einem Gott nachstellt, fragt man, ob seiner Vorstellung etwas in der Wirklichkeit entspricht. Solches kann man (wie auch eine religiöse Praxis) gerade noch mit dem Augenzwinkern des vermeintlich Wissenden zugestehen. Das aber nur so lange, als es die Ebene der gehobenen Unterhaltung, der für harmlos gehaltenen Narkotika, der tröstenden Kulturillusionen und der jedermann zugestandenen Meinungsfreiheit und Hobbys nicht verlässt. Wogegen sich die Frage erhebt: Ist nicht jede Sehnsucht nach einem Göttlichen, Übermenschlichen auszutrocknen, da sie nichts als vergebliche Ablenkung, Megadroge, illusionäre Weltverdoppelung ist und die Konzentration aller menschlichen Anstrengungen zur Selbst- und Weltbeherrschung gefährlich stört? Müsste daher nicht jede derartige Suche nach einem Außerweltlichen, Übernatürlichen, Jenseitigen fallen gelassen werden? Nun scheint es mir, dass der grassierende Verlust des metaphysischen Bedürfnisses (als Stütz- und Anhaltspunkt für den Zugang zu Religion und Theologie) nicht zu beklagen ist; er kann vielleicht eine große Chance in sich bergen: Es könnte doch sein, dass das hier angesprochene süchtige Sichverhalten (egal ob offen oder abgedrängt) aus der Flucht vor dem Anspruch der Nähe des uns gegebenen Seins stammt, die sich im Selbst-, Mitmensch- und Weltsein versammelt. Dieses Verfallensein würde dann gerade im süchtigen Sich-selbst-begründen-Wollen nicht nur gegen die Nähe zum eigenen Dasein, sondern auch gegen die Nähe zu einem Göttlichen und Heiligen immunisieren. Alternativ dazu wäre es, sich gelassen für den Empfang und die Annahme des eigenen In-der-Welt-seins offenzuhalten. Das hieße mit anderen Worten: Das Suchen mit Suchtcharakter samt seinem Gegenstück, der Anorexie, wäre preiszugeben und loszulassen – was aber keineswegs hieße, dass es ausgelöscht und bedeutungslos werden müsste. Eher wäre hier an eine kritische Läuterung, Reinigung und Wandlung zu denken, die eine Wesensaufklärung über das Suchen und Streben brächte. Im Blick auf das »Seyn« spricht Heidegger paradox von einem »ursprünglichen Fund«, der das »ursprüngliche Suchen« birgt, denn wer das Fragwürdigste gefunden hat, würdigt es dadurch, dass er im Suchen
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als einem Fragen verharrt. Dieses »ursprüngliche Suchen ist jenes Ergreifen des schon Gefundenen, nämlich des Sichverbergenden als solchen«. Suchen ist »schon das sich-inder-Wahrheit-halten, im Offenen des Sichverbergenden und Sichentziehenden«.13 Gesucht wird also, weil gefunden wurde, weil das Fragwürdigste uns fragen lässt und fraglicher wird, während gewöhnliches Suchen aufhört, sobald es gefunden hat. Darum fällt mit dem in philosophischer Theologie schon Gefundenen nicht jedes Suchen und erst recht nicht das ursprüngliche Gottsuchen weg. Was jedoch wegfallen muss, ist der Primat des Suchens vor dem Finden, nicht das ursprüngliche Suchen eines auf uns Wartenden, den wir im Offenen des Sichverbergens und Sichentziehens finden können.14 Doch die Not des Suchens ist nur erfahrbar, wenn wir uns vom zu Suchenden finden (,erblicken‘) lassen und ihm nicht ausweichen. Ein Vorrang des Suchens vor dem Finden entspricht nicht einem ursprünglichen Philosophieren, das sich je immer mehr im Einklang mit dem, was uns Denken heißt und uns im Denken auf-gegeben ist, erfährt – wovon wir eingenommen und vielleicht auch zu Recht ,voreingenommen‘ sind. Vermutlich bedarf es hier einer radikalen Ortsverlagerung von der Subjektzentriertheit zum »Da-sein«, dem Sein (Anwesen) in der Offenheit des weltweiten ,Da‘. Statt sich an der Leitlinie des Bedürfnisses zu orientieren und an das eigene Ich zu klammern, tut es not, sich zu dem hin zu wenden, was uns von sich her in Anspruch nimmt und was ein Suchen und Streben erst begründet. Statt jenem Bedürfnis nachzugeben, das sich selbst in allem (Welt, Mitmensch, Ding usw.) sucht und will, ist eine freie Umkehr zur Offenheit des Daseinsganzen notwendig. Wir verhalten uns dann selbst primär nicht mehr subjektzentriert, eingeschlossen im ,ich-einsamen‘ Kreis der Reflexion, der aus sich herausgeht und zu sich zurückkehrt, sondern umgekehrt, überallher aus dem uns vorgegebenen Sein und zurück zum Sein. Wir geben damit den repressiven Herrschaftsanspruch der Subjektivierung, d.h. der Unterwerfung des Seins, zugunsten der Anerkennung unserer Zugehörigkeit zur Offenbarkeit, Offenheit und zum Offensein der Welt auf, die aus dem Verborgenen, aus fernster Ferne uns nahekommt. So gewinnen wir uns als jene offenständigen Wesen, als die wir uns selbst (als Mitmenschen in der Welt) gegeben sind, um diese Offenheit 13 M. Heidegger, GA, Bd. 65: Beiträge zur Philosophie, 80. 14 Einen gewissen Vorrang des Suchens (nicht mit der gewöhnlichen Vorordnung des Suchens vor dem Finden zu verwechseln!) suggerieren zumindest schon viele Titel. Als Beispiele seien angeführt: A. Ganoczy, Suche nach Gott auf den Wegen der Natur. Theologie, Mystik, Naturwissenschaften – ein kritischer Versuch; A. Halder u.a. (Hg.), Auf der Suche nach dem verborgenen Gott. Zur theologischen Relevanz neuzeitlichen Denkens; J. Stallmach, Suche nach dem Einen. Gesammelte Abhandlungen zur Problemgeschichte der Metaphysik; R. Walter /A. Raffelt (Bearb. der Quellentexte), Auf der Suche nach dem unfassbaren Gott.
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der Welt (die Wahrheit des Ganzen) walten zu lassen und an ihr – sie hütend – teilzunehmen. Das Gesagte hat eine radikale Konsequenz für den Einstieg in ein Philosophieren, das philosophischer Theologie angemessen ist. Schelling hat auf sie in seinem Er-langer Vortrag »Über die Natur der Philosophie als Wissenschaft« provokantbeschwörend aufmerksam gemacht. Er soll ausführlich zu Wort kommen, was nicht heißen soll, dass ich mich seiner Willensmetaphysik des absoluten Subjekts anschließe, die den Hintergrund zu seiner Wesensbestimmung der Philosophie abgibt. Nun ist das, wie Schelling sagt, worum es in der Philosophie geht, »alles«, nichts bloß Einzelnes, Stillstehendes, Endliches. »Es ist nichts [Partikuläres], das es wäre, und es ist nichts, das es nicht wäre«, insofern doch alles Partikuläre in das Ganze gehört und das Ganze im Partikulären anwesend ist und sich fasslich macht. Der in keine bestimmten Grenzen einschließbare Bereich der Philosophie »ist in einer unaufhaltsamen Bewegung, in keine Gestalt einzuschließen […], das Unfassliche, das wahrhaft Unendliche. Zu diesem muss sich erheben, wer der vollkommen freien, sich selbst erzeugenden Wissenschaft [der Philosophie] mächtig werden will. Hier muß alles Endliche, alles, was noch ein Seyendes ist, verlassen werden, die letzte Anhänglichkeit schwinden; hier gilt es alles zu lassen – nicht bloß, wie man zu reden pflegt, Weib und Kind, sondern was nur Ist, selbst Gott, denn Gott ist auf diesem Standpunkt nur ein Seiendes. […] Also selbst Gott muß der lassen, der sich in den Anfangspunkt der wahrhaft freien Philosophie stellen will. Hier heißt es: Wer es erhalten will, der wird es verlieren, und wer es aufgibt, der wird es finden. Nur derjenige ist auf den Grund seiner selbst gekommen und hat die ganze Tiefe des Lebens erkannt, der einmal alles verlassen hatte, und selbst von allem verlassen war, dem alles versank, und der mit dem Unendlichen sich allein gesehen […]. Wer wahrhaft philosophieren will, muß aller Hoffnung,15 alles Verlangens, aller Sehnsucht los seyn, er muß nichts wol15 Zum Wesen der Hoffnung gehört die Aussicht, die in einer schon gegebenen Erfüllbarkeit (einem Möglichsein) gründet. Die hier genannte Hoffnung lebt hingegen nicht aus der Übernahme ihres Möglichkeitsgrundes, ihr fehlt die konkrete Aussicht (,Zu-kunft‘) auf das ein Ankommen gewährende Offene; sie meint hier im Anschluss an Spinoza so viel wie eine Wunschvorstellung, ein affektgeleitetes Verlangen und Auslangen nach einer bloß als zukünftig vorgestellten Sache. Demgemäß konnte Spinoza (Opera, Bd. 2: Ethica, pars III, schol. prop. 47) sagen: »Je mehr wir nach der Führung der Vernunft zu leben streben (conamur), um so mehr streben wir, weniger von der Hoffnung abzuhängen, uns von der [mit ihr verbundenen] Furcht zu befreien, das Schicksal, so viel wir können, zu beherrschen und unsere Handlungen nach dem sicheren Rat der Vernunft zu leiten.« Vgl. dazu G. Marcel, Structure de l’espérance, 76: »Cette confusion ruineuse de l’espérance et du désir, nous la trouvons chez Spinoza et dans tous les systèmes de pensée qui dérivent de lui. Ceci me paraît absolument capital, et il faut y insister. Une formule telle que nec spe nec metu contribue d’ailleurs à diffuser, à populariser cette confusion. Le désir et la crainte sont des termes complémentaires dans leur opposition même.
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len, nichts wissen, sich ganz bloß und arm fühlen, alles dahingeben, um alles zu gewinnen. Schwer ist dieser Schritt, schwer, gleichsam noch vom letzten Ufer zu scheiden.«16 Wenn Schelling die Adepten der Philosophie auffordert, alles, selbst Gott zu verlassen, von ihm nichts mehr zu wollen, ja von ihm nicht einmal mehr etwas wissen zu wollen, dann wiegelt er sie nicht zum radikalen Atheismus auf, sondern dazu, einen Gott, der ungöttlich ist, loszulassen, denn Gott ist auf diesem Standpunkt nichts als nur ein nach innerweltlichen Maßstäben vorgestelltes Seiendes, ein bloß als allerhöchstes ausgedachtes Seiendes (summum ens), eben ein ungöttlicher Gott. Dieses Idol von Gott müssen wir loswerden; es muss verlassen werden, um alles und damit den wahrhaft göttlichen Gott zu gewinnen. Der Gottlosigkeit, zu der Schelling aufmuntert, die den Schritt in letzte Uferlosigkeit hinein wagt, ist die Funktionalisierung Gottes entgegengesetzt, jene verkappte Gottlosigkeit, die sich über die Halt gebende Sicherheit des rettenden Ufers mit ihren vertrauten Anlageplätzen täuscht. Sie beruht auf unfreier Anhänglichkeit und ist vielleicht ,atheistischer‘ als jene unverhohlene, die bekümmert, rabiat oder sonst wie sich ein Leben lang mit Gott herumgeschlagen hat.17 Nicht soll der phänomenoffene Erfahrungsweg vernünftig-vernehmenden Denkens beschränkt werden, um der moralistischen Idee eines übersinnlichen Deus ex Machina Platz zu machen, der unser irdisches Wohlverhalten mit überirdischem Wohlstand zu vergelten verspricht, sondern, wie Schelling sagt: »Alles ist zu lassen«, und das heißt soviel, wie das Seiende sein (anwesen) zu lassen, es ist in das Äußerste seiner Erscheinungspotenz freizugeben. Die vorerst Schwindel erregende Abgründigkeit des Daseins muss sich gelassen öffnen dürfen, um auf jenen Grund kommen zu können, der noch als Halt gebender zu lassen ist, jenen grundlosen »Grund seiner selbst«, der nicht mehr postuliert, nicht mehr aus Angst, dass alles ins Bodenlose versinkt, für sich und seinesgleichen festgehalten wird, sondern der sich als »die ganze Tiefe des Lebens« ereignet. Mag sein, dass diese uns entgegenblickende Tiefe im Antlitz der Welt sich uns in der Offenbarkeit der Seienden aus ihrem Sein erweist. Philosophie würde sich dann in selbstlos befreiender Freiheit und heiterer Gelassenheit der Weisheit der Welt als Schöpfung verdanken.
L’espérance se situe dans une tout autre dimension.«; vgl. ders., Werkauswahl, Bd. 1: Entwurf einer Phänomenologie und einer Metaphysik der Hoffnung, 118 –154. 16 Schellings Werke, Bd. 5, 11 f.: Über die Natur der Philosophie als Wissenschaft. 17 Von diesen Gestalten des Atheismus wird der folgende Band handeln.
Philosophische Theologie inmitten von Theologie und Philosophie Erstes Kapitel:
Der systematische Ort philosophischer Theologie innerhalb verschiedener Theologien Das, was hier philosophische Theologie genannt wird, ist im Laufe der Geschichte unter verschiedenen Namen aufgetreten: physische oder metaphysische Theologie, scientia theologica, theologia naturalis und rationalis, philosophische Gotteslehre, Ontotheologie, ja sogar Theodizee u.a. Diese Titel geben, wenn wir auf ihren Sachgehalt eingehen und sie in einem größeren Zusammenhang betrachten, bedeutungsvolle Aufschlüsse über zentrale Gesichtspunkte und Richtungen und können als Leitfäden berücksichtigt werden. Die mit diesen Titeln bezeichneten Sachbereiche gehören aber zur Philosophie. Die Sachbereiche von Philosophie und Theologie scheinen sich eigentümlich zu überschneiden. Um Wesen, Aufgabe und Vorgehen philosophischer Theologie entsprechend würdigen zu können, müssten wir sie wenigstens überblickshaft innerhalb des umfassenden Ganzen dessen, was überhaupt ,Theologie‘ genannt wurde, sichten. Es erhebt sich die Frage: Welches ist der mögliche systematische Ort philosophischer Theologie innerhalb verschiedener ,Gattungen‘ von Theologie? Diese Frage nach der Ortung philosophischer Theologie innerhalb verschiedener Theologien ist (als der weiteren Frage) der Frage nach ihrem Ort innerhalb der Philosophie (zweites Kapitel) vorzuordnen. Philosophische Theologie gibt es in der klassischen Tradition nur im Plural von ihren Herkunftsbereichen nach völlig verschiedenen Theologien, im Spannungsfeld von mythischer, politischer bzw. ziviler Theologie. Um die Bedeutung und Tragweite philosophischer Theologie richtig zu würdigen, muss sie sich selbst in diesem übergreifenden Zusammenhang sehen lernen. Das geschieht, indem wir allgemeinste Bahnungen des Blicks kennenlernen, innerhalb derer sich so etwas wie ,Theologie‘ zeigen konnte, vernommen und in eine feste, lehrhafte Gestalt gebracht wurde (1).
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Der systematische Ort philosophischer Theologie innerhalb verschiedener Theologien
Methodisch gesehen kann die Frage nach dem Ort philosophischer Theologie innerhalb der Theologien nur transdisziplinär beantwortet werden, wenn einige dieser Theologien von der Philosophie zu unterscheiden sind, gleich ob diese sich von ihr abgrenzen oder im Dialog mit ihr stehen. Das gilt besonders, wenn es sich um sogenannte ,Offenbarungstheologien‘ handelt. Um hier nicht ins Uferlose der Weltgeschichte der Religionen zu geraten, aber auch aufgrund der wechselvollen Rezeptionsgeschichte philosophischer Theologie vor allem durch die jüdisch-christliche Offenbarungstheologie, wird diese als Paradigma für eine Verhältnisbestimmung bevorzugt (2). Für die christliche Offenbarungstheologie gehören philosophische Einsichten, wie solche in das Dasein, in Eigenart (Eigenschaften) und Verhalten eines mit Vorbehalt ,monotheistisch‘ zu nennenden Gottes, zu den notwendigen Präambeln, d.h. Vorgegebenheiten des Glaubens, und werden heute wenigstens noch in römisch-katholischen Lehranstalten in der Einleitung in die christliche Offenbarungstheologie (»Einführung in das Heilsmysterium«), in Fundamentaltheologie sowie Systematischer Theologie (»Dogmatik«) näher geklärt oder man bedient sich philosophischer Disziplinen, nimmt sie auf bzw. integriert sie in sein offenbarungstheologisches Denken.1
1 Als wegweisend seien hier nur zwei Beispiele angeführt: Zunächst K. Rahner (Sämtliche Werke, Bd. 26: Grundkurs des Glaubens, dort: »Teil A. Einführung in den Begriff des Christentums«). Rahner sucht dem Auftrag des II. Vatikanischen Konzils nach einer besseren Abstimmung der philosophischen und theologischen Disziplinen aufeinander dadurch zu entsprechen, dass er eine innere und ursprüngliche »Einheit von Philosophie und Theologie« übergreifend von einem auf das Mysterium Christi hin konzentrierten Gesamtentwurf der ganzen Theologie entwirft, die faktisch in einzelne Disziplinen aufgesplittert ist und insofern die ihr eigene Interdisziplinarität eingebüßt hat. Hier wird in der Theologie philosophiert, sodass diese Theologie »eigentlich schon ,Philosophie‘ ist« (17) – eine literarische Gattung, die an die als ,die wahre Philosophie‘ sich verstehende christliche Theologie der Spätantike erinnert, weil deren »ursprüngliche Einheit […] im konkreten Leben des Christen schon gegeben« ist. Zu reflektieren sind die transzendentalen und geschichtlichen Bedingungen menschlicher Möglichkeit der Offenbarung in einem unauflösbaren hermeneutischen Zirkel von philosophischer Frage und offenbarungstheologischer Antwort (17 f.), in welcher der Mensch sich in einem zweiten Schritt als auf das »Gott« genannte »absolute Geheimnis« verwiesen reflektiert und Gott in und aus seinem Anwesen erfährt und erkennt (48–90). Die legitime Möglichkeit einer diesen Ausführungen gegenüber eigenständigen philosophischen Theologie wird (wenigstens ausdrücklich) nicht bestritten. Anders betont Hans-Martin Barth in seinem Lehrbuch der »Dogmatik« (»Evangelischer Glaube im Kontext der Weltreligionen«) die Notwendigkeit rationaler Glaubensvergewisserung durch die Erkenntnis des Gottes, der sich nach christlichem Verständnis selbst geoffenbart hat, die aber durch Einbeziehung außerchristlicher Entsprechungen und Zugänge zu einer »Gotteswahrnehmung« ganzheitlicher und metarationaler Art (im Judentum, Islam, hinduistischer Tradition, Buddhismus) ergänzt wird. Der religionsgeschichtlich orientierte transreligiöse Entwurf muss freilich eine Skizze bleiben, die die Aufgabe einer Aufarbeitung philosophischer Theologie nicht ersetzen kann und das wohl auch nicht beansprucht.
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1. Zur Herkunftsgeschichte ,philosophischer Theologie‘ im Spannungsfeld mythischer, physischer und politischer Theologie Erhält jemand heute in der Europäischen Union den Doktorgrad in Theologie, so hat er christliche Theologie studiert. Man denkt nicht daran, dass das Wort ,Theologie‘ im außerchristlichen Denken, dem der Griechen, beheimatet ist und nur zögernd, nicht ohne Widerstände und unter Wandlung seiner Bedeutung in das kirchliche Denken des christlichen Glaubens aufgenommen wurde. Wir finden es weder im Alten noch im Neuen Testament. Auch dort, wo man sich gegenüber der Philosophie reserviert bis ablehnend verhält, findet man heute gar nichts dabei, etwa von einer »Bibeltheologie« zu reden. Doch schon ein umfassend gebildeter römischer Gelehrter wie Marcus Terentius Varro (116 –27 v C) referierte eine bereits etablierte Unterscheidung von Theologien,2 die ihren Sachmotiven nach bis hinein in Platons »Politeia» und »Nomoi« verfolgbar sind.3 Varro unterscheidet drei Gattungen der Theologie: eine mythische, eine physische und eine zivile. Man weiß das vor allem durch Augustinus, der in seinem Werk »Von der Bürgerschaft Gottes« (De civitate Dei) die schon in drei Teile unterteilte Theologie (theologia tripartita) des Varro dem lateinischen Westen überliefert und sich am ausführlichsten mit dieser vorchristlichen und »heidnischen« Theologie seiner Zeit kritisch auseinandergesetzt hat.4 Diese erstaunlich frühe terminologische Differenzierung, die zur sogenannten hellenistischen Zeit (der Staatssysteme von Alexanders des Großen Eroberungen bis zum Untergang des Ptolemäerreiches in Ägypten 30 vC) höchstwahrscheinlich über die Stoa hinaus in unterschiedlichen Fassungen den verschiedenen philosophischen Schulen gemeinsam war, muss uns zu denken geben. Dass von Gattungen (genera) gesprochen wird, konnotiert unterschiedliche Herkunftsbereiche, denn lat. genus (griech. gnoß) besagt Abstammung, Herkunft. Dem entsprechend referiert Augustinus im Anschluss an Varro:
2 Seine Antiquitas rerum humanarum et divinarum sind verloren gegangen. Dasselbe Schema zitiert Augustinus (De civitate Dei = civ., lib. IV, cap. 27) auch nach dem Oberpriester (Pontifex Maximus) Quintus Mucius Scaevola, der 82 vC ermordet wurde und dessen gleichnamiger Onkel (170 – 87 vC) ein Hörer und Freund des der mittleren Stoa zugeordneten Panaitios aus Rhodos (um 185–110 vC) gewesen ist, woraus sich stringent keine Abhängigkeit rekonstruieren lässt. 3 Hierzu vgl. G. Lieberg, Die »theologia tripertita« in Forschung und Bezeugung (mit einem Anhang der Fundamentalstellen zur theologia tripertita: 107–115); G. Pasorek, Eine historische Notiz zur Scheidung von »theologia civilis« und »naturalis«. 4 Augustinus, civ., lib. IV, cap. 27; VI, 5–10; VII, 5– 6.
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1. Die mythische Theologie, die Göttergeschichten der Dichter. 2. Die physische Theologie der Philosophen, die es mit der Physis, der natura deorum, dem Wesen und Walten der Götter bzw. des Gottes zu tun haben. 3. Die politische oder zivile Theologie für die städtische Bürgerschaft (civitas) bzw. für das Volk (populus) im Rahmen des von Priestern verwalteten und vollzogenen öffentlichen Kultes, der durch staatliche Autoritäten eingerichtet und erhalten wurde. Augustinus hat die referierte mythische und politische Theologie rundweg abgelehnt. In einer Zeit des Übergangs von verfallender römischer Religiosität zum aufblühenden Christentum schockiert ihn besonders die menschenverachtende Unterhaltungsindustrie der antiken Theaterwelt mit ihren Göttergeschichten.5 Die Theologie der öffentlichen Religionsausübung hält er für zwiespältig, da sie sich ernsthaft von den gleichen, teils ausschweifenden und obszönen, jedenfalls für verwerflich zu haltenden Mythen bestimmen ließe. Im Übrigen ist er als Religionskritiker durch eine rücksichtslose Theorie des Volksbetrugs,6 den er den ,polytheistisch‘ verstandenen Mythendichtern anlastet, wirkungsgeschichtlich bedeutsam geworden. Methodisch ist die nur kritisch-ablehnende, ja moralisch vernichtende Wertung des Mythos und der politischen Theologie durch Augustinus als Leitidee vorläufig auszuklammern. Sie ist in ihrer Schärfe einer außergewöhnlichen Situation verhaftet, nicht nur dem Religionsverfall, sondern besonders der länger dauernden Phase militärischer Bedrohung der ,ewigen Stadt‘ Rom, die vom Westgotenkönig Alarich 410 erobert und geplündert wurde. Nun sieht er die Christen dem Vorwurf besonders vonseiten konservativer Kreise des römischen Adels ausgesetzt, der Fall Roms sei durch den Abfall ihrer ,Frommen‘ zum fremden Gott der Christen hervorgerufen worden, ja die Invasoren seien selbst Christen gewesen (wenn auch aus Sicht der Rechtgläubigen arianische Häretiker). Musste dies nicht den Zorn der Götter erregen? Die drei Tage lang dauernde Plünderung war zugleich Rache und Warnung vor einer endgültigen Vernichtung Roms, sollten sich die Stadtrömer nicht in letzter Stunde von ihrer ,Gottlosigkeit‘ bekehren. Augustinus stand also vor einer historischen Infragestellung der Verchristlichung des römischen Imperiums, dessen politische Schwäche auf den Verlust der Identität von Kultur und Religion zurückgeführt wurde. Seine Apologie des Christentums sympathisiert zwar mit der außerchristlichen Tradition philosophischer bzw. physisch5 A.a.O., lib. II, cap. 8 –14; IV, 26. Vgl. auch F. van der Meer, Augustinus der Seelsorger, 71–75, 194, 373, 480 f., 485. 6 Augustinus, civ., IV, 27, 30–31.
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theologischer Kritik an der Mythologie (den Götter-»Fabeln«), setzt sie aber christlich transformiert fort. Ohne jedoch nun auf Augustins Kritik der drei unterschiedlichen Theologien näher einzugehen, soll im Folgenden versucht werden, auf deren Sinn, Anliegen und Bedeutung einzugehen, wobei wichtige Wandlungen der Anliegen physischer und politischer Theologie besonders hervorgehoben werden sollen.
1.1 Die mythische Theologie
1.1.1 Grundzüge des Mythos
Das Wort ,Mythos‘ ist heute zu einem zerfledderten Modewort abgesunken. Unerklärliches oder für besonders tiefsinnig Gehaltenes werden ebenso wie unglaubwürdige Gerüchte als Mythos bezeichnet. Das von der Forschung mit Mythos Angesprochene ist äußerst unscharf, vieldeutig, oszillierend und ausweitbar, sodass man »Familienähnlichkeiten« (Analogiebildungen) in ihm zu erkennen glaubt und nach einer »Kernfamilie« fragt.7 Man versteht unter Mythos vielfach eine altüberlieferte Geschichte, die in dichterisch-erzählender Sprache ur- oder endzeitliche Geschehnisse und Gestalten vergegenwärtigt oder uns in ihre Gegenwart ruft. Inhaltlich lassen sich verschiedene Grundtypen des Mythos unterscheiden, wie Sagen von der Entstehung der Götter, Göttinnen und Halbgötter, der Welt, der Herkunft und Bedeutung wichtiger Kulturerrungenschaften (Feuer, Ackerbau, Viehzucht u.a.) oder sozial bedeutsamer Einrichtungen und Geschehnisse (Königtum, Heldenmythen bis hin zu Ahnen- und Geistergeschichten) sowie auch Mythen vom Untergang der Welt samt ihren Göttern und Göttinnen, also nicht nur Sagen von Heilbringern, von der Befreiung und Rettung von verschiedenen Übeln, sondern auch von Unheilbringern, von bösartigen Dämonen, ja überhaupt vom Ursprung und der Macht des Todes, des Bösen. Viel spricht dafür, dass die Erfahrung des Numinosen, Göttlichen, Heiligen (»Göttergeschichten«) sowie der Umgang herausragender Menschen mit Göttern den Kern der Mythen bilden, was hier im Blick auf eine Würdigung einer als mythisch gekennzeichneten Theologie besonders interessiert. Mit mythischer Theologie kommt vermutlich der sachlich ursprüngliche Sinn des mythischen Gott-Sagens in Frage, insofern er von der jeweiligen Mythologie (den erzählten Mythen, die man zu einer Mythenkunde ausgebaut hat) oder von Mythisierungen aller Art randunscharf unterschieden werden kann. 7 M. Leiner, Mythos – Bedeutungsdimensionen eines unscharfen [weil analogen] Begriffs, 30 ff. Umfassendste Information bei K. Hübner, Die Wahrheit des Mythos; vgl. auch H. G. Hödl, Mythos (eine religionswissenschaftliche Übersicht).
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Die Frage ist, was es mit solchen Mythen ihrem Wesen nach auf sich hat, sollte ihnen eine transkulturelle oder besser allgemeinmenschlich sinnstiftende Bedeutungsweite zugesprochen werden können. Die Frage überschreitet primär spezialwissenschaftlich eingeschränkte Perspektiven moderner Mythenforschung, welche für die Erstellung eingeengter Mythos-Begriffe (in Ethnologie, Psychologie, Soziologie, allgemeiner Kulturtheorie, Religions- und Literaturwissenschaften usw.) Verwendung finden. Um überhaupt etwas spezialwissenschaftlich erklären zu können, dürfte methodisch gesehen das zu erklärende Ausgangsphänomen (zu dem auch unser Vorverständnis gehört) nicht nur flüchtig hingenommen, sondern es müsste als bereits hinreichend erschlossen vorausgesetzt werden können. Verstehen wir schon etwas von dem, was ein stimmungsmäßig betroffen machendes mythisches Sagen uns an Widerfahrenem sehen lässt, so zehren wir von einem stets fragwürdigen Vorverständnis des Mythischen in seinem für uns heute so fremdartig anmutenden Wesen. Man kann es wie eine Black Box für gegeben halten und spezialwissenschaftliche Perspektivierungen in den Vordergrund stellen: Mythos und Mythologien können funktionalistisch als Symbolisierungsleistungen zur Regelung kultureller, sei es sozialer oder ökologischer, Beziehungen einer Gesellschaft und ihrer Welt bestimmt werden. Oder man kann literaturwissenschaftliche Abgrenzungen von Märchen, Legenden, Sagen, Novellen, Parabeln, aber auch von Tag- und Nachtträumen vornehmen, was aber gleichfalls die lebensweltlich-phänomenale Gegründetheit des Vorverständnisses voraussetzt. Es bedarf auch einer phänomenologischen Basis des Mythenverständnisses, damit kulturelle Idealisierungen, Moden, Leitideen, Lebensstile im Sportbereich, in der Unterhaltungsindustrie sowie andere Angebote am Medienmarkt, aber auch literarische Schöpfungen wie z.B. Robinson Crusoe oder Ideologien bzw. Weltanschauungsphilosophien (»große Erzählungen«) und Theoriebildungen innerhalb der Wissenschaft zu Mythen erklärt oder als mythenähnlich qualifiziert werden. Auch die Behauptung eines Absinkens mythischer Verständnisweisen (beispielsweise der Mythos von der »Flucht der Götter«) oder einer Ausweitung bis hin zu Werbung, Science-Fiction oder Populärwissenschaften lässt sich nur aufgrund eines originären Verständnisses beurteilen, von dem wir uns heute weit entfernt befinden und dem wir uns nur tastend nähern können. Suchen wir dem Phänomen näher zu kommen, dann gilt Schellings Einsicht, »es ist alles in ihr [der Mythologie] so zu verstehen, wie sie es ausspricht, nicht als ob etwas anderes gedacht, etwas anderes gesagt wäre«.8 Auf Grund der divergierenden Überfülle des uns da Ansprechenden kann der Mythos gewiss je immer mehr 8 Schellings Werke, Bd. 6: Historisch-kritische Einleitung in die Philosophie der Mythologie, 197.
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sagen (sensus plenior), als es den Anschein hat. Doch ist der Mythos, wie Schelling sagt, keine Allegorie, die etwas anderes zum Vorschein bringt (allo agoreuein, 3llo 2goreein), als sie sagt, etwa ein Versinnbilden einer geistigen Bedeutung, oder die Veranschaulichung eines Gedankens oder Begriffs oder die Personifikation eines abstrakten Begriffs (Gerechtigkeit als Frau mit verbundenen Augen und Waage). Eine solche allegorische Hermeneutik hält insgeheim an einem fragwürdigen weltund leiblosen Dualismus von Körper und Geistseele fest. In dieser Situation erscheint mir (nicht nur aus didaktischen Gründen) der Vorschlag hilfreich, von der Verwandtschaft von Mythos und Traum, von mythischem und träumendem In-der-Welt-sein zu lernen. Doch müsste auch hier gelten, dass Traumphänomene ohne jede Umdeutung und rationalistische Abwertung (als bloße Abbilder, Sinnbilder, Projektionen oder andere »psychische Realitäten« eines menschlichen Subjekts) auszulegen sind, und zwar aus gebührendem Respekt (»Ehrfurcht«!) »vor den Traumerscheinungen als eigenständiger Offenbarungen des Wesensgrundes aller Dinge«, für die das Existieren jeweils offener oder verschlossener ist.9 Sie verweisen uns auf das geschickhafte Gegebensein des Daseinsganzen und damit auf Numinoses. Ist diese Verwandtschaft einmal eingesehen, dann erscheint der Mythos ähnlich einem ,Großen Traum‘ mit janushaftem Gesicht, der die gemeinsame soziokulturelle Erfahrungswelt zwischen Unverborgenheit und Verborgenheit, Himmel und Erde, Licht und Finsternis, Menschen (Tieren, Pflanzen usw.) und Göttern verdichtet. Im Gegensatz zum Mythos eignet dem Traum nicht von vornherein die allgemeinverbindliche Mitteilbarkeit, die Öffentlichkeit, die eine größere Menschengruppe miteinander teilt. Das Träumen der/des Einzelnen ist mit Zügen, die mehr oder weniger dem Mythos gleichen, ausgestattet, ja kann als individueller Ursprungsboden des Mythos aufbrechen, wenn Existierende jeweils auf die ihnen eigene Weise in die Sphäre bedeutungsgeladener Mächte, Möglichkeiten, aber auch Unmöglichkeiten ihres ,privaten‘ Daseins eintauchen.10 Im Träumen verdichtet 9 M. Boss, Der Traum und seine Auslegung, 56 – 67, 236 –241, hier 141. Zur Verwandtschaft von Traum und Mythos vgl. E. Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese, Bd. 1, 132–140. 10 Der Traum schöpft aus der ontologischen Möglichkeitsfülle des Daseins; er entwirft und enthüllt reale Existenzmöglichkeiten, für deren freien Vollzug wir offenstehen; aber er enthüllt auch in Abwehr des uns Zugewiesenen Weisen unfreien und eingeengten Existierens, und zwar real Unmögliches, Weisen der Kreatürlichkeit wie beispielsweise ein abgelehntes, verstümmeltes Mann- oder Frausein, die Flucht vor dem Notwendigen oder vor dem Unvollziehbaren, das dennoch erstrebt wird (zum Beispiel ein Leben im Puppenhaus), das Sich-Verstricken in einen unfreien, verengten Weltbezug. In der Traumwelt meldet sich die reale Möglichkeitsfülle der Existenz im Sichöffnen für das, was Wirkliches ermöglicht und in der Wachwelt vollziehbar ist. Heißt Wirklichkeit, etwas ins Anwesen hervorbringen, so haben wir es im Traum mit Wirklichkeit zu tun; aber geträumte
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sich das Dasein bedeutungsvoll und offenbart unsere Teilnahme an jener Sphäre als das Eigenste unserer selbst (das persönliche Lebensschicksal) im Verhältnis zur gemeinsamen Welt. Mythos und Traum, Mythen und Träume können so einander gegenseitig und vielseitig erhellen.11 Wir können hier nicht auf die überaus komplizierte Götterwelt der Griechen und schon gar nicht auf die anderer Kulturen eingehen, um auf Grunderfahrungen aufmerksam zu machen, die uns gestatten, Wesentliches am Mythos anzusprechen und mitzuvollziehen. Es genügt für unser Vorhaben, sich in das Verständnis des mythischen Gott-Sagens hineinzuversetzen. Dem steht ein Hindernis im Weg, das wir uns stets vor Augen halten müssen: Wir verlassen uns meist auf Niedergeschriebenes (die sogenannte ,Literalität‘ einer Schriftkultur), während die großartige Gedächtniskultur, die einen Reichtum von Daseinsdeutungen mündlich weitergegeben hat, fast völlig verloren gegangen ist. Mythische Theologie ist diejenige, die den Dichtern zugeschrieben wird, als bereits literalisierte Theologie. Hier denken wir an das uns überkommene literarische Werk eines Homer, Hesiod, Archilochos, Sappho, Solon, Pindar, Aischylos, Sophokles, Euripides, auch noch eines Ovid und vieler anderer. Wir können über diese Dichter Bescheid wissen, ohne vom Logos des Mythos betroffen zu sein. Mythos war zunächst wohl dasselbe wie Logos. »Mythos heißt: das sagende Wort. Sagen ist für die Griechen: offenbar machen, erscheinen lassen, nämlich das Scheinen und das im Scheinen, in seiner Epiphanie, Wesende. […] Der mϑoß ist der alles Menschenwesen zuvor und von Grund aus angehende Anspruch, der an das Scheinende, an das Wesende denken lässt.«12 Dasselbe wie Mythos sagt Logos mit dem Plural ,Worte‘ (lgoi, nicht ,Wörter‘, peia). Das in »der Unverborgenheit seines Anspruchs« Scheinende13 bedarf hierbei nicht eines Mächtigen, der es als Machtwort durchsetzt, sein Anspruch verschafft sich selbst Gehör.14 Wirklichkeit ist reale Möglichkeit und Unmöglichkeit, die uns in der Wachwelt betrifft und wovon wir gewöhnlich als Wachende nichts wissen. Der Traum west und webt so als Auseinandersetzung zwischen der als möglicher Wirklichkeit entworfenen Möglichkeit und dem Entwurf des in Wirklichkeit Unmöglichen. Die Wirklichkeit des Träumens ist oft Manifestation der Sackgassen bzw. der Unmöglichkeit, in die das Wirklichgewordene geführt hat, ist exkommuniziertes Ungelebtes und ist noch als Möglichkeit Offengebliebenes. Die Traumauslegung bringt dann dem Wieder-Erwachten Lebensmöglichkeiten, die dem träumenden Existieren analog sind, zur Aneignung ans Licht. 11 Vgl. dazu u.a. C. G. Jung, Symbole der Wandlung, 496 ff., weitergeführt durch E. Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese, Bd. 1: Die Wahrheit der Formen, »Vom Traum zum Mythos«, 132–140; »Von der Tiefenpsychologie des Traumes zur Interpretation archetypischer Erzählungen«, 164 –249. 12 M. Heidegger unter Bezugnahme auf Parmenides (Fragment 8) in GA, Bd. 8: Was heißt Denken?, 12. 13 M. Heidegger, ebd. – Zur Problematik des Gegensatzes von Mythos und Logos vgl. M. Leiner, Mythos – Bedeutungsdimensionen eines unscharfen [weil analogen] Begriffs, 35 ff. 14 Vgl. zu »Mythos als Wort des Mächtigen« M. Leiner, Mythos – Bedeutungsdimensionen eines unscharfen Begriffs, 33 ff.
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Nach dem Gesagten ist das Wort des Mythos nicht zu verwechseln mit dem, was bereits ausgesagt wurde und als Bestand von Erzählungen gesammelt vorliegt: der Mythologie als Mythenkunde bzw. Mythenlehre. Was alle Menschen vom Grunde ihres Wesens als das Unbedingte anspricht und lautlos angeht, und worüber sie sich daher gemeinsam verständigen können, das scheint in seinem An-spruch, im Sagen der ,Sage‘ auf, im Wort des Mythos. Es ist nicht mit der mündlichen oder schriftlichen ,Rede von Gott oder den Göttern‘ als einer syntaktisch artikulierten Einheit, die etwas besagt, zu verwechseln. In diesem Sinne sagt der Mythos das Numinose, Göttliche, Heilige; er sagt Götter und den Gott, weil er um persönliche Begegnungen der Unsterblichen mit den Sterblichen weiß. Das Gott-Sagen des Mythendichters, der ein ,Theo-loge‘ ist, lässt den Gott in Worten (lgoi) erscheinen, bestrickend und erschütternd in die Unverborgenheit treten; im Begegnungsereignis wird er gegenwärtig. Gibt er sich erneut, nach- und mitvollziehbar zu erfahren und wird er vergegenwärtigt, so nicht im Sinne der ,Re-präsentation‘, der auf ein Subjekt rückbezüglichen Vorstellung eines mythischen Denkens oder symbolischer Objektivierungen eines (bloß subjektiven) Urerlebnisses, sondern als allgemein menschliche »Grundmöglichkeit des In-der-Welt-seins«.15 So erscheint das mythische Dasein von bedeutungsvollen Mächtigkeiten des Anwesenden, ja des Seienden im Ganzen unmittelbar ergriffen, benommen und überwältigt, von bedeutungsschwangeren Daseinsmöglichkeiten und -notwendigkeiten, zu denen nicht nur das Annehmbare, sondern auch das Bedrohliche (auch das aus dem eigenen Selbst aufsteigende) sowie das ein freies Existieren Verunmöglichende gehört. So erfährt sich das mythische Existieren der Übermacht des Seins schutzund haltlos ausgeliefert, ungeborgen preisgegeben, und wiederum geborgen, weil getragen, dem Sein anheimgegeben. Die Welt wie das eigene Dasein wird so von der Anziehung, aber auch der Unnahbarkeit des Numinosen, Göttlichen, Heiligen durchstimmt und durchwaltet erfahren. Das Dasein als wesenhafte Ortschaft dieser Erfahrung, als Erscheinungsort des Göttlichen, erscheint hierbei äußerst gefährdet, es kann sich selbst für das Unbedingte, für das Göttliche halten, bildet jedoch ihm gegenüber nur den Wurzelboden für seine Entsprechung in Religiosität und Kult. Vieles spricht dafür, dass der Mythos eigentlich zum Kult gehört, wenn er auch neben ihm bestehen kann und ihn vielfach nur verschriftlicht überlebt hat. Sein Gesang (oder seine Rezitation) und das rituelle Tun (symbolische Gebärden, Musizieren, Tanz, Waschung, Mahl, Opfer usw.) vollziehen ihn, verkünden ihn und 15 M. Heidegger, GA, Bd. 27: Einleitung in die Philosophie, § 41: »Zwei Grundmöglichkeiten der Weltanschauung«, hier 358.
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nehmen die Feiernden partizipativ in ihn auf. Kult ist hierbei nicht mit Ritus zu verwechseln, der selbst nur die bestimmte Art und Weise solchen Kultvollzugs ist. Mythen bilden daher primär keine literarische Gattung, sondern eine Weise des Daseinsvollzugs, ein religiöses Sagen, und primär auch keine Dichtung, für die ein Autor wie in der attischen Tragödie verantwortlich zeichnet, sondern tradiertes Geschehen, das mündlich feierlich nach- und neu erzählt und dann allenfalls niedergeschrieben wird. Die vom Erzähler ablösbare ,Sage‘ spricht Grundmöglichkeiten des Daseins im Weltaufenthalt mit Anderen an. Aber der Mythos ist keineswegs harmlos, sondern er führt uns grundsätzliche Unmöglichkeiten vor Augen, wie sie dem faktischen Leben und Weben der Daseinsmächte entsprechen, vor allem maßloses Begehren, das einem Vorbild (Idol) nachfolgt, also einer solchen Mimesis entspringt, die auf dem Weg spontaner Nachahmung zu erregten Reaktionen und Rivalität verführt, die Beteiligten überwältigt, sie zu Gewalttaten verleitet und sie mitreißt, sich zusammenzurotten, Opfer zu Tätern zu erhöhen, Täter zu Opfern zu erniedrigen, sich durch Abschottung und Exkommunikation zu definieren usw. Ontologisch sind es Unmöglichkeiten, d.h. man versucht solches ins Dasein zu versetzen, das nicht zum Sein freigibt und nicht sein kann. Sind solche ontologischen Ansprüche existenziell nicht (mehr) nachvollziehbar, dann bleibt man auf das, was man sich unter einem gelesenen Mythos gegenständlich vorstellen kann, angewiesen. Man konnte in den Mythen daher fiktive ,Fabeln‘, einen unterhaltenden Stoff oder ,lügenhafte‘ und amoralische Geschichten sehen. Dennoch muss auch dem aufgeklärten Einwand, was Mythen erzählen, sei doch niemals (in historisch-chronologischer Zeit) tatsächlich geschehen, zugestimmt werden, denn das Uranfängliche umfasst das Ganze unseres Existierens, es kommt erneut auf uns zu und ereignet sich immer wieder; es gründet und trägt die Bezugsmöglichkeiten des eigenen, weltoffenen Existierens. Im Vernehmen des Mythos werden diese Bezugsmöglichkeiten in ihrer Sinnfülle unmittelbar verdichtet angesprochen; sie werden deswegen noch nicht als Bezugsmöglichkeiten des eigenen Existierens vernommen, lassen aber vielerlei Deutungen zu, auch jene in Bezug auf Möglichkeiten des Seins in der Welt. ,Verdichtet‘ meint hier in Sinnbezügen zusammengezogen, die vor den Unterscheidungen wie Natur und soziokulturelle Welt, kosmisches Ereignis und Familienroman liegen. Wenn versucht wurde, über das Träumen einen Zugang zum Mythos zu gewinnen, darf man nicht übersehen: Wir sind im Träumen und Wachen dieselben Menschen und können ahnen, dass die Lebens- und Verhaltensmöglichkeiten des Träumenden und des Wachen einander rätselhaft entsprechen. Wir sind daher weit
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davon entfernt, die Mythenwelt, beispielsweise die der Griechen, einseitig zu verklären und ihre soziokulturelle Einbettung zu verkennen: Bis hinunter zum einzelnen Haushalt waren es Sklavenhaltergesellschaften, die von mimetischen Kämpfen um Monopole zentralisierter Gewalt heimgesucht und wie unsere heutige Welt von verbissenem Patriotismus, Kolonialismus, Machismus, Fremdenhass und Ähnlichem durchsetzt waren. Dennoch können Mythen in ihrem Wesen nicht einfach auf eine Fortsetzung des Wachlebens in eine Phantasiewelt hinein, auf illusionäre Spiegelungen, Projektionen, Kompensationen oder Ventile soziokultureller Zustände reduziert werden. Es geht in ihnen um eine Enthüllung der ursprünglichen Wahrheit unseres Daseins. Beispielsweise erfahren wir vom großen Chronos Wesentliches über unser alltägliches Verhältnis zur Welt, insofern das Leben ein Kampf ist. Dem entspricht auch die Weise des Hervortretens der Götter. So erfahren wir, wie wir da sind, und zwar unter dem gestirnten Himmel (Uranos) und auf der Erde (Gaia), die einander befruchten. Tausende Geschöpfe gebiert diese Gegensatzspannung; sie umgeben uns und wir gehören zu ihnen. Sehen wir genauer hin, dann erblicken wir, dass Chronos, der jüngste Sohn, der Zeitverlauf, zwischen dem zeugenden Elternpaar, Uranos und Gaia, scheidend eingreift. Mächtig wie ein König verändert er das ganze ,Familiensystem‘. Die Vielfalt der Geschöpfe muss sich nicht mehr vor dem Hass des Himmelsgottes gegen seine Nachkommenschaft im Inneren der Mutter Erde verbergen, sondern kann ans Tageslicht kommen. Aber dazu muss Uranos entmachtet werden. Gaia ersinnt die schändliche Tat und nur Chronos traut sich zu, sie auszuführen. Uranos wird drastisch entmannt. Diese große Auseinandersetzung der Titanen hat bei aller grausamen Anschaulichkeit der kunstvollen Erzählung mit Unmoral ebenso wenig zu tun, wie eine geträumte Kastration oder Mordtat eine sittlich zu verantwortende Handlung darstellt. Es geht vielmehr um unsere Welterfahrung unter dem Himmel und auf der Erde heute, um deren sich zeitigendes Einssein im Widerstreit uns zugewiesener Zeiten. Die uns gegebenen und von uns durchlebten Zeiten muten uns wie eine systemisch verstandene Generationsfolge an, die wir verlieren und deren Verlust uns empfindlich schmerzt: Kehren da nicht in uns, den Nachkommen, gefährliche Eigenschaften unserer Ahnen wieder? Verkehren sich ihre einseitigen Siege nicht in Niederlagen? Es ist wahr, dass Chronos der König unter allen Söhnen des Uranos ist, bestimmt doch die Übermacht der chronologischen Weltzeit unser ganzes Leben, aber es ist dem Chronos klar, dass seiner unterdrückenden Übermacht ein ähnliches Schicksal wie das seines ,Vaters‘ Uranos bestimmt ist. Um dem zu entgehen, schlingt das Riesenmonster seine zahlreichen Kinder sofort bei der Geburt hinunter: Alles Zeitliche, ja die Zeit selbst verrinnt;
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ein Jetzt jagt das andere, jedes Jetzt verschlingt unaufhaltsam das nachfolgende usw. So bestimmt Hektik unser Dasein. Und will man behaupten, dass das nicht stimmt?! Doch meldet sich ein Einspruch: Ist das bloß Vorübergehende und Vergängliche wirklich alles? Ist nicht alles Gewesene, in Erdentiefe versunken noch da, ein Bleibendes, selbst wenn es nun von der Zukunft abgeschnitten ist und verloren scheint? Um der Zukunft des Gewesenen willen gilt es daher, Chronos immer wieder zu überlisten. Aber wem sollte das gelingen? Das gelingt erst Zeus, der sein (ältester bzw. jüngster) Sohn ist. Zeus erscheint ja, wie alles, was erscheint, als Sohn des Chronos, und doch erweist sich Zeus als Vater der Götter und Menschen. Er gelangt nicht in den Bauch des alles verzehrenden Ungeheuers. Wie das geschieht, wird anekdotisch erzählt. Anstelle des Zeus wird dem Chronos ein tuchumschlungener Stein zum Verschlingen zugeschoben. Zu Stein gewordene Zeit nährt ihn. Die Täuschung durch den gerissenen Trick gelingt. So geschieht es in dieser Welt, dass Zeus der Unterwerfung unter die Vergänglichkeit entgeht und sich als Vater der Götter und Menschen erweisen wird: Er befreit die hinuntergeschlungenen Geschöpfe nun aus dem Bauch des Chronos und begründet damit alle menschliche Hoffnung. Über alle Vergänglichkeit hinaus wahrt er ihnen und uns, soweit es möglich ist, das Unvergängliche. So lässt er Gewesenes, das verloren geglaubt wird, immer wieder zurückkehren. Es ist das, was stets geschieht: Rettung durch Wiederholung, durch ein Wieder-Hervorholen, und Erweckung zu neuem Leben, wundervolle Wiederkehr des Gewesenen. Das im Grunde der verrinnenden Abfolge der Zeit Verborgene kommt dadurch zur Herrschaft. Der ,Listen sinnende Trug der Götter‘ hat, wenn man die oft grauenerregenden Erzählungen mit ihren heiteren Wendungen versteht und wenn man die Götter (Mächte und Gewalten) nicht ungebührlich außerhalb der eigenen Daseinsbezüge ansiedelt und dann noch den Mythos zu einer ,Lebensgeschichte‘ der Götter macht, mit Unmoral wenig, wenn überhaupt etwas, zu tun. Da Mythologie ihre Berechtigung aus der menschlichen Erfahrung der Anwesenheit von Göttern bzw. des Göttlichen und dem Umgang mit ihm schöpft, kann sie hinterfragt werden. Da man wusste, dass autoritative Worte von Mythenerzählern durchaus täuschend hätten sein können, hat man früh die Unterscheidung zwischen wahren und Pseudomythen, die den wahren Sachverhalt eher verdecken als offenbaren, getroffen. Zur »Grundmöglichkeit« des mythischen Daseins, das sich vielgestaltig an die Welt geschickhaft ausgeliefert und gebunden erfährt, gehört, dass es nicht einer einzigen Macht, die alles total bestimmt, verfallen muss, vielmehr bleibt offen, ob und wie sich Menschen von den Übermächtigkeiten des Daseins faktisch
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bestimmen lassen, ausdrücklich bestimmen lassen wollen und sich auch verantwortet bestimmen lassen können. Erzählungen wie beispielsweise die des Prometheus, Sisyphos und Narkissos künden mythisch bedeutungsvoll verdichtet davon. So begegnen uns im Mythos auch durchaus sittlich-religiöse Maßstäbe und können mythen- und moralkritische Gedanken geäußert werden. Können wir zum Verständnis der mythischen Geschichten noch aus gewissen Grunderfahrungen unseres Daseins schöpfen, so erscheinen sie keineswegs als Zeugen eines überwundenen kulturellen Kindheitsstadiums der Menschheit, wenngleich es unsere Kinder sind, die gegenläufig zur engen Tatsachenwelt vieler Erwachsener noch wie im Mythos oder in Annäherungen an ihn leben und ihn in spielerischen ,Identifizierungen‘ darstellen – wenn zum Beispiel ein Mädchen im Alter von kaum zwei Jahren einem Tannenbaum eine Blume zum Riechen gibt.16 Sie dürfen noch ein wenig nicht- und präliteral leben. Aus der nicht-literalen Welt träumenden Existierens, insoweit sie uns lebenslang erhalten bleibt, keimt uns die Gewissheit, der Quelle mythischen Daseinsverständnisses stets verbunden zu bleiben.
1.1.2 Der Gott und die Götter
Schon am historischen Beginn des uns bekannten mythischen Sagens bei den Griechen findet man eine Spannungseinheit zwischen einem einzigen Gott und Göttern vage formuliert: die Erfahrung der Uranfänglichkeit eines (nicht chronologisch auszulegenden) göttlichen Ursprungs (oder eines Ursprungsgeschehens, das die ganze Theogonie trägt) einerseits und andererseits die einer Vielzahl persönlicher Götter für Geschehnisse und Bereiche. Religionsgeschichtlich kann man von einer Art Göttervielheit (ein Sammelplural), die einem ,Monotheismus‘ rückverbunden ist, reden. Dieser ist jedoch völlig anderer Art als jener Monotheismus, der sich monokratisch und/oder exklusiv im Gegenzug zum Verfall jener Göttervielheit in einem Polytheismus (,Vielgötterei‘ oder ,Götzen‘) etabliert hat. Linguistisch gesehen ist oft von Gott (ϑeß) oder prägnanter von Gott mit Artikel ( ϑeß) die Rede, ohne dass in jedem Fall eindeutig oder bloß unbestimmt irgendeiner der Götter oder nur 16 Mit Absicht wird hier ein Altphilologe zitiert; es ist W. Pötscher, Hellas und Rom: Das PersonBereichdenken in frühgriechischer Periode, 49 – 69, hier 82. Er erblickt im Verhalten seiner Tochter ein Zeugnis für noch erhaltene Erlebnisweisen eines primitiven, vorkritischen Bewusstseins, das sachliche Gegebenheitsweisen (Weltbereiche) als personale Gottheiten versteht. – Dieses Verhalten könnte man als ,magische‘ oder ,illusionistische‘ Personifizierung von Gegenständen missdeuten, weil es aus der Sicht des Erwachsenen voraussetzt, dass eine apersonal-sachliche Gegebenheitsweise existiert, und der Erwachsene wäre dann verständnislos für das, wofür das Kind auf eine ursprüngliche Weise offen ist, wenn ihm das Begegnende zum Spielpartner wird.
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eine Einheit der Götter gemeint wäre. Walter Pötscher ist diesem Befund mit dem Ergebnis nachgegangen, dass »seit Homer […] neben den Göttergestalten, zuerst oft recht unvermittelt, später allmählich mit größerer Besinnung auf seinen Sinngehalt, von ϑeß gesprochen« wurde,17 und zwar eben nicht als einem unter den Göttern, sondern als dem einen Gott.18 Zum Beispiel lässt im siebenten Gesang der Ilias Hektor gegenüber Aias sein Verständnis für diesen Helden erkennen: »Ajas, weil dir Gott die Kraft und Größe verliehen, auch den Verstand und die Macht des Speers vor allen Achaiern […].«19 Es kommt hier keiner unter den Göttern infrage, der Aias mit einer solchen Wesensart (Größe, Kraft, Verstand) begabt hätte. Ähnliches begegnet uns im siebzehnten Odysseegesang, wo erblickt wird, dass Gleich und Gleich sich immer zusammen mit Gott gesellt hat.20 Die Übersetzung mit »einem Gott« unter anderen statt einfach (dem) Gott ist hier und in vielen anderen Fällen irreführend und setzt einen unberechtigt verallgemeinerten Polytheismus voraus. Schließlich sei bei Herodot neben den »beiden Weisen des Gotteserlebnisses, die unmittelbare als ,Gott‘ und die in der Entwicklung des Mythos festgelegte der Göttergestalten, ein Begriff des Göttlichen [t ϑeon] als Produkt der Reflexion getreten […], der aus dem auf () ϑeß oder die mythischen Götter zurückgeführten Geschehen abstrahiert worden ist«.21 Damit bleibt für uns heute fragwürdig, wie in den Göttergestalten der Mythen das Göttliche oder Gotthafte Gottes menschengestaltig vermittelt repräsentiert und erlebt (oder besser: erfahren) wurde und wie man überhaupt auf Derartiges kommen konnte. Bevor man im Anschluss an philosophische Mythenkritik von etwas bloß Vorgestelltem anthropomorpher Provenienz redet, empfiehlt es sich, näher auf das Gesamtphänomen einzugehen: Es ist das blitzartige Sichereignen des Gottes oder dass solches »mit Gott« (sn ϑe) einem widerfährt, das menschengestaltig sagbar erscheint, ja sogar in kunstvoll vergegenständlichten Gestaltungen herstellbar ist, und 17 W. Pötscher, Hellas und Rom: Götter und Gottheit bei Herodot, 3–36, hier 19, vgl. 8 f. 18 In Aspekte und Probleme der minoischen Religion (232, Anm. 21; vgl. 170) nimmt W. Pötscher für die minoische Religion als wahrscheinlich an, dass »im Mittelpunkt des religiösen Erlebens der Minoer mehr oder minder eine Göttin und ein Gott gestanden [sind], die jeweils als verschiedene erschienen und doch wieder jede und jeder jeweils als die Göttin oder der männliche Gott erlebt wurden. Daneben gab es auch noch andere niedrigere Götter, die deutlich als Mehrzahl ausgewiesen sind.« 19 Homer, Ilias, VIII, 288 f.: Aan, pe toi dke ϑeß mgeϑß te bhn te ka pinutn, per d’ gcei ’Acain frtatß ssi […]. Vgl. zur Interpretation W. Pötscher, Hellas und Rom: Götter und Gottheit bei Herodot, 9. 20 Homer, Odyssee, XIV, 218: ß ae tn moon 3gei ϑeß ß tn moon. Zur Interpretation vgl. W. Pötscher, a.a.O., 10 f. 21 W. Pötscher, Hellas und Rom: Götter und Gottheit bei Herodot, 27.
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zwar Göttliches, das uns, wie man später sagte, in den Göttern menschlich oder allzu menschlich nahekommt. Hilfreich zum besseren Verständnis des Verhältnisses von Gott und den Göttern erscheinen mir zwei Beobachtungen aus der altgriechischen Grammatik, die hier andiskutiert werden sollen: 1. Zunächst macht die Art und Weise, wie das mythische Dasein Götter oder Gott sagen kann, schon grammatisch einen Unterschied. Zu den Göttern rufen die Griechen »O Götter« ( ϑeo), nicht aber zum Gott (was der bedeutende Basler Linguist Jakob Wackernagel herausfand, aber ohne die Konsequenzen zu bedenken).22 ϑeß oder ϑeß – nicht zu verwechseln mit einem einzelnen mythischen Gott unter Göttern, sei er bestimmt oder nicht (ϑeß tiß)! – wird nicht angerufen, sondern steht ohne Vokativ stets in der Einzahl. Der Kasus des Anrufs, der Vokativ (de), findet sich zuerst im Spätgriechischen bei jüdischen und christlichen Schriftstellern. Man muss sich hier hüten, zu schnell moderne Kategorien hineinzutragen und von einem apersonalen, Es-haft anonymen Gott im Gegensatz zu einem personalen Gott oder von personifizierten Göttern zu reden. Wird der Gott nicht namentlich oder mit dem Personalpronomen ,Du‘ angerufen, wie es uns geläufig ist, so kann sich hier durchaus im Erfahrungsursprung das letztlich Unaussprechliche sich ereignender personaler Zuwendung als das noch unausgesprochen Gehütete, worum es eigentlich geht, verbergen. Das Überbordende der Ursprungserfahrung geht ja nie erschöpfend in unserer verbalen Antwort auf. Vielmehr kann in einer aus zurückhaltender Scheu freigebenden Begegnung mit dem Gotthaften es lautlich unausgesprochen bleiben, auf dass es im Raum des Schweigens gehütet sich nicht entziehe. Anders als zum ausgerufenen Gott sagt man zu Zeus, Apollon sowie zu anderen Göttern und Göttinnen ,Du‘ und behält dies bei, auch wenn (später) Zeus oder Apollon für den Gott der Götter bzw. höchsten Gott stehen. Der am Ort der Begegnung jeweils in Natur, Haus und Tempel oder anderen Lieblingsplätzen und Daseinsbereichen sich zeigende Gott kann in ein menschliche Partnerschaft erforderndes ,Du‘ einbezogen werden. Die philologische Tatsache, dass ϑeß noch keinen eigenen Vokativ hatte, sollte man nicht überbewerten, da dieser mit dem Nominativ lautident sein kann.23 Und es kann (beispielsweise) Zeus sein, der als allmächtiger Herrscher und »Vater der Menschen und Götter« in alles Herrliche und Furcht22 Ich stütze meine Auffassung vorzugsweise auf K. Kerényi, Die griechischen Götter; ders., Griechische Grundbegriffe; ders. Griechische Grundlagen des Sprechens von Gott; ders., Antike Religion, dort besonders »Theos: ,Gott‘ – auf Griechisch«, 157–164; ders., Umgang mit Göttlichem; weitergeführt von G. Hasenhüttl, Einführung in die Gotteslehre, 1–17; ders., Glaube ohne Mythos, Bd. 1: Offenbarung, Jesus Christus, Gott, 418– 432. 23 Vgl. dazu W. Pötscher, Hellas und Rom: Götter und Gottheit bei Herodot, 29.
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bare, das ihm offensteht, hineinblickt und Menschen mit Größe und Wahrheit beschenkt – ihnen aber auch Schlimmes beschert. Mit dem Gesagten hängt 2. zusammen, dass nach Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff der Gott der frühen Griechen ein »Prädikatsbegriff« sein soll24 – eine These, die vielfach Widerspruch hervorgerufen hat. Dazu bringt er ein Beispiel: Jene Helena aus der gleichnamigen Tragödie des Euripides, die nicht in Troja, sondern Ägypten war, erkennt nach langer Zeit der Trennung die Ihrigen wieder und ruft aus: »O Götter! Denn es ist Gott, wenn die Lieben erkannt werden« ( ϑeo: ϑe g!r ka t gignskein flouß).25 Die Götter werden angerufen, sie sind jedoch vom Gott, dessen Name nicht angerufen, sondern emphatisch ausgerufen wird, wesentlich unterschieden. Wenn einander Wiedererkennende nach so langer Zeit sich noch immer als Liebende erkennen, so ist dieses Ereignis Gott (ϑeß). Und so ist zu fragen, wäre es das nicht heute auch? Es wäre widersinnig, den Göttern erzählen zu wollen, dass solches Wiedererkennen auch (nur) einer von ihnen sei, oder dass der Zweifel, ob es Götter gibt, sich im Ausruf, es gibt tatsächlich solche, auflöst, sondern es ist der ihnen überlegene Gott, der den Menschen begegnet und gibt, dass Menschen einander in solch unvergesslicher Liebe inne werden. Dieses wunderbare EinanderWiederfinden ist eine Erfahrung, ein Geschehen, ein Ereignis, das Gott in seiner Huld schenkt und das ihn selbst, den Gebenden, anwesen, mit-erscheinen lässt. Gott kommt hier weder als tätiges Individuum noch als irgendeine seltsame unpersönliche Kraft infrage – ein Begegnungswissen, das noch nicht in ein Zustandswissen übersetzt ist. Ein weiteres Beispiel, wahrscheinlich ein Menanderzitat, das Karl Kerényi zu dieser Überlegung anführt, findet sich bei Plinius dem Älteren († 79 nC): »Es ist Gott dem sterblichen Menschen, wenn der eine [Mensch] dem anderen hilft« (deus est mortali iuvare mortalem).26 Einer begegnet dem Anderen, erkennt die Not, hilft absichtslos – und Gott geschieht. Gott wird im Ereignis nicht (mit ,Du‘) angerufen, sondern preisend ausgerufen. Der Mensch erfährt Gott als anziehend, als wohlwollend, und sich selbst in Gott als beschenkt; er empfängt sich im Ereignis neu. In den Beispielen, wo sich ein Erkennen Liebender oder Hilfe ereignet, kommt ϑeß bzw. deus weder als ein Satzsubjekt vor, das etwas tut, noch als ein Satzobjekt, das erkannt werden kann. Auch verhält es sich in den beiden Beispielen so, dass die24 U. von Wilamowitz-Moellendorff, Der Glaube der Hellenen, Bd. 1, 17 ff., 356. 25 Euripides, Helena, 560. Übersetzung und Interpretation im Anschluss an K. Kerényi, Griechische Grundlagen des Sprechens von Gott (14), der nicht abgeschwächt übersetzt, als wäre es irgendein Gott unter den angerufenen Göttern, die Lieben zu erkennen: O gods! For the recognizing of friends is a god. (Euripides, Helen, ed. E. P. Coleridge) 26 Plinius der Ältere, Historia naturalis, lib. II, 18 f.; vgl. K. Kerényi, a.a.O.
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ses Sichereignen nicht einfach für einen Gott gehalten wird, der als individuelle Entität oder Substanz irgendwie vorkommt, und zwar im Rahmen einer konstatierenden Feststellung (Tatsachenbehauptung), welche ein Ereignis mit Gott identifiziert und ihn als Prädikatsbegriff dem Ereignis anhängt.27 Das Ereignis ist nicht ,gotthaft‘, indem ihm Göttliches anhaftet wie das Begleitphänomen ,Briefmarke‘ dem Brief, sondern das Erscheinende selbst scheint, vom Göttlichen durchwirkt, Träger dieser Erscheinung und zugleich von ihr ermöglicht zu sein. Zu Recht insistiert Gotthold Hasenhüttl auf dem performativen Sinn des Ausrufs: »Nur in einem konkreten Ereignis geschieht Gott; und nur im Umgang mit diesem Ereignis kann er als ϑeß erkannt werden, ,ist [oder besser: west] Gott‘; […] Gott ist der, den man aus den Ereignissen kennt.« Mit jemandem umgehen, heißt nicht ihn umgehen. »Umgang besagt stets etwas Vertrautes.«28 Hebt man hervor, dass direkt nichts von oder über Gott ausgesagt wird, weil umgekehrt Gott von einem Ereignis ausgesagt wird, so ist das anachronistische Missverständnis zu meiden, man hätte (unpersönliche) Grundgestalten der Wirklichkeit für Götter oder Gott gehalten, personifiziert, vergöttlicht und hypostasiert oder sie sich gar nur im übertragenen Sinn gleich dem Salz, das göttlich schmeckt, vorgestellt. Erscheint uns ein Liebesereignis als göttlich, so kann man die Liebe für einen großen Gott halten.29 Die Gefahr einer ,nur‘ prädikativen Auflösung des Göttlichen in der Welt ist nicht zu bestreiten. Gleichfalls darf die Kritik nicht an einer späteren Gottesvorstellung anknüpfen, die Gott wie eine extramundane (individuelle) Entität behandelt. Wenn der Mensch ϑeß als Beschenkter erfährt, ist Gott weder eine weltjenseitige Existenz vor dem Ereignis, noch erschöpft er sich im Ereignis und ist ihm prädikativ nachgeordnet. Es geht nicht darum, ob Gott grammatisch (buchstäblich) als Satzsubjekt oder Prädikatsnomen fungiert, sondern um den erfahrungsnahen verbalen Sinn des Substantivs ,Gott‘. Es klingt geschraubt, 27 Es sei vorweg darauf aufmerksam gemacht, dass Logistik und Linguistik das Verb ,sein‘ prädikativ (als Qualität, Essenz) oder im Sinne einer Existenzbehauptung (als Setzung der Existenz) verstehen: ,Gott ist so und so‘ ≠ ,Gott ist vorhanden, er existiert‘. Hingegen wird hier ein anderer Sinn von Sein angesprochen, nämlich das ereignishafte Ins-Anwesen-Gelangen. Dieses ist weder ein Sosein noch ein Vorhandensein eines Anwesenden und auch nicht beides. Es stellt eine andere paralinguistische Satzkategorie dar, welche dieser Unterscheidung völlig entgeht und weder auf eine der beiden noch auf beide zusammengenommen reduziert werden kann. 28 G. Hasenhüttl, Einführung in die Gotteslehre, 8 f. 29 Diese Vertauschung von Subjekt und Prädikat (Gott ist die Liebe/die Liebe ist Gott) wird uns noch im Atheismus L. Feuerbachs beschäftigen. Vgl. auch H. Kleinknecht, Art. eß: Der griechische Gottesbegriff (ThWNT), der den griechischen Polytheismus und die christliche Auffassung in dieser Weise einander gegenüberstellt: »In dieser Vertauschung von Subjekt und Prädikatsnomen spricht sich ein Weltunterschied im Religiösen aus. Die griechischen Götter sind nichts anderes als Grundgestalten der Wirklichkeit […].« (68)
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könnte aber erhellend sein, wenn man das frühneuhochdeutsche »göttern« (außerhalb seines damaligen Kontextes) zu Hilfe ruft. Wie man sagt, ,es blitzt und donnert‘, so könnte man auch sagen, ,es göttert‘, und vom Göttern und der Götterung des Gottes reden, welches das jeweilige Ereignis enthüllt. Das mit prädikativem Sinn des Gott-Sagens Angesprochene ist nicht verallgemeinerungsfähig, sondern bezieht sich allenfalls auf die Aussage einer Erfahrung, die mit Gott – dem »Gott der Götter« (Hölderlin) – gemacht wird. Diese bringt ein Gott offenbarendes Geschehen, ein ihn enthüllendes ,Er-eignis‘ zur Sprache, das überdies in Göttern – diesen oder jenen, bestimmten oder unbestimmten – eine Anwesenheitsgestalt gewinnt. Aus der grammatisch prädikativen Verwendung (die für alle Substantive und Adjektive gilt) folgt also nicht, dass die frühen Griechen Gott oder Götter einfach prädikativ verstanden haben. Gott oder Götter können schon bei Homer (8. Jahrhundert vC) als Subjekte erscheinen und wie Personen handeln.30 Oder es kann in der altorphischen Spruchweisheit (Ende des 7. Jahrhunderts vC) heißen: »Zeus ist das Haupt, Zeus die Mitte, aber aus Zeus ist alles hervorgebracht (ttuktai)«, was Plato in Nomoi wiedergibt mit »Der Gott ( ϑeß) […] hat Anfang, Ende und Mitte alles Seienden (tn ntwn) [in Händen]«.31 Im prädikativen Gott-Sagen kommt – die beiden Beispiele der einander-liebenden und der Hilfe zeigen es – gewissermaßen erst nachträglich zum Widerfahrnis die Gotthaftigkeit des Ereignisses zur Sprache, und zwar nicht im Vokativ angesprochen, sondern im Nominativ begrüßt und ausgerufen – also nicht farblos prädikativ, sondern als ein eigentliches praedicare, Ausrufen: Siehe, hier (ist) Gott – der Wunderbares Erweisende, der im Vorübergang Anwesende, der als er selbst Vorwaltende!32 Die Möglichkeit eines erfahrungsnahen und ereignishaft-verbalen Verständnisses des Gott-Sagens ist aber wohl auch im nicht-prädikativen Gott-Sagen zu vermuten und zu berücksichtigen. Das bloß grammatisch unterscheidbare prädikative oder nicht-prädikative GottSagen kann nach dem Gesagten nicht als Kriterium für ein Gott-Sagen dienen, um den Gott der Götter von einem Gott unter Göttern zu unterscheiden, sondern ist aus dem Kontext im Vorblick auf die Sprache des Ereignisses und auf die Betroffenheit im Umgang mit ihm aufzuschließen. Was die relevanten Ereignisse von ihrem Ursprung und Grunde her selbst mit-aussagen, ist die Epiphanie des Gottes in den 30 W. Pötscher, Hellas und Rom: Götter und Gottheit bei Herodot, 30. 31 DKF, Bd. 1: Kap.1, Orpheus, B 6. 32 Den Ausruf Theós kann man lat. am besten mit Ecce deus! wiedergeben. Hört man den Ausruf der Sibylle (Vergil, Aeneis, VI, 46): »Der Gott, siehe da, der Gott! deus ecce deus!« Da geschieht es mit ihr. Angehaucht vom immer näher kommenden Gott gerät die ,Schamanin‘ außer sich in Raserei, in ,göttlichem Wahnsinn‘.
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Göttern. In bestimmten Formulierungen kann man des Geschehens eines ,Götterns‘ Gottes in Göttinnen oder Göttern innewerden. Dazu sei als Beispiel ein Satz aus einem Chorlied des Aischylos angeführt: »Das Glückhaben (Wohlbefinden, der gute Treffer) ist sowohl ein Gott als auch mehr als ein [solcher] Gott.«33 Was sich glücklich fügt, steht hier als einer unter den Göttern in prädikativer Stellung. Ja, dies gilt als solches, das Mehr-als-ein-Gott ist. Wieso ,mehr‘? Wird übertrieben? Nein, ein gutes Geschick, das sich uns zuschickt und trifft, enthüllt sich im überbordenden ,Göttern‘ als jenes Mehr, das sich zur Teilnahme nahebringt. Es erhebt uns über sich hinaus zum Göttlichen des Gottes selbst. Man könnte an Zeus denken, dessen Name ursprünglich nicht der Erleuchtete, sondern das »Aufleuchten« besagte, und zwar das Glück bringende Aufleuchten, d.h. also ein glückliches Ereignis. Jedenfalls wird kein vorhandener Wirklichkeitsbereich personifiziert, sondern Wohltuendes tritt aus dem unsagbaren Ursprung als gotthaftes Ereignis in Erscheinung. Angeführt sei ein weiteres Beispiel aus Homers Odyssee34, das zeigt, wie der eine Gott in einer Göttin verdichtet zum Ereignis wird: Odysseus erwacht auf Ithaka. Da kommt zu ihm Pallas Athene, zuerst aber nur als theós: »Denn Gott umhüllte ihn mit Nebel.« Gott könnte hier sowohl irgendein Gott als auch eine Göttin sein. Dann folgt ihr Name »Pallas Athenaie«, die große Tochter des Zeus, und bald auch ihre Erscheinung. Gott geschieht und sie bildet den Gott in einer seiner uns ansprechbaren Formen. »Man könnte sagen, dass theós nicht als [individuelle Entität oder] Substanz, sondern als Geschehen in der Gesamtheit der Götter wie in einem jeden einzelnen von ihnen immer wieder durchbricht, doch in keinem einzigen in der Form des Geschehens so theós-mäßig wie in Zeus. Er ist aber auch derjenige, dessen Name für theoí, die Götter, wie gleichwertig verwendet werden konnte. Homer tut es ungemein häufig.«35 Erst in dichterischer Fassung solcher ereignishafter Grunderfahrungen entsteht die Götterwelt der Mythologie als Götterlehre. Mythologische Theologie ist daher eine sekundäre Bildung, die mit der Gefahr der Ablösung vom Ereignis und einer allzu menschlichen Auslegung verbunden ist. Der Mythos steht unter dem Anspruch der Wahrheit und hat damit eine motivierende und gesellschaftlich verbindliche Kraft. Damit ist aber auch die Mythenkritik herausgefordert, die wahre von unwahren, moralische von unmoralischen, ursprüngliche von abgeleiteten Mythen unterscheidet und sich dabei innerhalb der eigenen Dichtung von anderer absetzt. Es mag fraglich sein, inwiefern diese Mythenkritik noch zum Kompetenzbereich der Dichter-Theologen oder schon zu ’ ϑ e ka ϑo o. 33 Aischylos, Choephoren, 59 f.: ’ , 34 Homer, Odyssee, XIII, 189 f. 35 K. Kerényi, Antike Religion, 161, 229, Anm. 454.
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dem der philosophierenden Theologen gehört. Wer solche mythenkritische Unterscheidungen trifft, kann ein Dichter sein, erst die argumentative Form verrät den Philosophen. Beispielsweise lässt ein Fragment des Komödiendichters Menander aufhorchen, wenn er ausruft: »O, die du die größte der Götter jetzt bist, Schamlosigkeit, wenn man dich Gott nennen soll. Doch man muss: denn das Überwälti g!r nn nomzetai ϑeß).«36 Die Verspottung gende gilt jetzt als Gott (t kratoun gelingt, wenn sie etwas unter dem Schein des zu Billigenden (hier die grassierende Schamlosigkeit) ins Lächerliche ziehen kann. Dass es einen Gott der Götter gibt, wird allgemein gebilligt, gleichfalls, dass ihm machtvolle Gewalt eigen ist. Aber es ist nicht gleichgültig, was faktisch als das alles Überwältigende und Bestimmende von Menschen identifiziert wird, denn es kann sekundär, verkehrt, schlecht oder gut sein. Eine Entscheidung, wer jetzt fälschlicherweise oder in Wahrheit als der größte Gott zu gelten hat, ist im Vorblick auf das in sich der Bewunderung Würdige sowie sich als gut und recht zu Erweisende möglich. Wer sich auf solchen Spott versteht, nimmt diesen Blick für sich in Anspruch, aber deswegen muss er nicht argumentieren. Eine rezeptiv-kritische Relektüre der Mythenwelt durch Philosophen konnte aus solchen kritisch klarstellenden und ähnlichen Texten gerade der Dichter noch implizit Gesagtes herausholen, womit aber das kunstvolle Erzählen nicht ersetzt werden konnte. Einiges spricht dafür, dass, je tiefer die Besinnung auf die Göttlichkeit Gottes im Sichereignen geht, diese eher beglückend als erschreckend erscheint, und dass Gott eher positive als negative Eigenschaften zugesprochen werden, die man als ,gut‘ im weiteren Sinn bezeichnen kann (also nicht eingeengt auf ein moralisches oder sittliches Gutsein). Dass sich der Gott in solcher Weise ereignishaft bekundet, ist jedoch keineswegs zu verallgemeinern. Nicht jedes beliebige Ereignis, das einen trifft, vermittelt einen Gott und schon gar nicht den ,einen‘ Gott, der Recht statt Ungerechtigkeit durchsetzt, Ruhm und Glanz verleiht, Ordnung garantiert, Wohlbefinden, Hilfe, Befreiung usw. bringt und dadurch für uns eindeutig als ,gut‘ erscheint. Dazu sei ein Beispiel aus den Schlussgesängen der Tragödien Andromache und Helena des Euripides angeführt:37
36 Vgl. W. Fahr, , 121. 37 Euripidis Fabulae: Schlusschor der Tragödie Andromache, Bd. 1, 1284 –1287, und nochmals: Helena, Bd. 3, 1688 –1691.
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n daimonwn, Viele Schicksalsformen gibt es aus polla morfa tw göttlichen Fügungen, Vieles, so nicht mehr gehofft, bringen poll! d’ 2lptwß kranousi ϑeo: die Götter zustande, Und auch das Erwartete erfüllt sich nicht, ka t! dokehϑnt’ ok telsϑh, n d’ 2doktwn pron h Den Weg des Unerwarteten aber fand Gott. tw re ϑeß. Der Daimon (bzw. das Daimonion, die göttliche Fügung) kann das Göttliche in seiner Beziehung zum sterblichen Menschen als dessen Geschick sein; weiter kann es gut oder schlecht und böse sein. Als guter Daimon bringt es beglückende Gottesnähe, als schlechter oder böser Daimon das Unglück, die Gottesferne. Hier ist Daimonion im Plural dieser zweideutige ,Zuteiler‘ in der Vielgestaltigkeit des Geschicks göttlicher Fügungen. Die Götter haben oft gegen alle menschliche Hoffnung die Möglichkeit, etwas zustande und zur Erfüllung zu bringen. Dennoch erfüllt sich vieles nicht, was Menschen erhoffen. Und dann – unerwartet, wo der Mensch nichts mehr zu hoffen wagt, eröffnet sich ihm ein Ausweg, findet sich blitzartig aufleuchtend ein Durchgang, ereignet sich überwältigend die Epiphanie des Gottes, die den Menschen aus der Zweideutigkeit seines Daseins herausreißt und unsagbar beglückt. Wie gesagt, sollte Mythenkritik sich auch vor moralisierenden Übertreibungen hüten und Zurückhaltung üben, und das auch, wenn einem Gott allzu menschliche Eigenschaften wie Neid und Missgunst zugeschrieben werden. Dazu ein kurzer Blick in Herodots Historien; ich folge einer geläufigen Übersetzung:38 »Du a) siehst, wie der Gott ( ϑeß) die überragenden Lebewesen (t! perconta z mit dem Blitz trifft und nicht zulässt, dass sie sich prunkend zur Schau stellen. Die Kleinen aber reizen (knzei) ihn nicht. Du siehst, wie er auf die höchsten Bauten und derartige Bäume seine Geschosse schleudert; es liebt nämlich der Gott, alles Überragende (t! perconta: was sich überhebt) zu stutzen. So wird auch ein großes Heer von einem kleinen in folgender Art vernichtet. Wenn ihnen der Gott aus Neid (fϑonsaß) Furcht einflößt oder einen Donner ertönen lässt, gingen sie dann unwürdig ihrer selbst unter. Denn der Gott lässt nicht einen anderen als sich selbst stolz (fronin mga) sein. Ein jedes Ding nun, das übereilt betrieben wird, bringt Fehler, aus denen schwere Strafen (Verluste, zh mai meg1lai) hervorzugehen pflegen.« Wenn man den Originaltext beachtet, stößt man auf eine durchaus moralische Argumentation, die besagt: Gott sorgt dafür, dass ,die Bäume nicht in den 38 Herodoti historiae, Bd. 2: H (VII), 10 e–z; Herodot, Historien, Bd. 4., (Übersetzung E. Richtsteig).
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Himmel wachsen‘. Das bedeutet, wenn ein Mensch im Überschwang seiner Anmaßung wie ein Gott sein will, dann pflegt der erhaben gesinnte (fronin mga) Gott sich menschlichem Übermaß zu verweigern. Insofern duldet der Gott kein Überschreiten menschlicher Grenzen. Weil die Ordnung der Welt und des Menschseins zu wahren ist, stürzt solche Überheblichkeit die Menschen im Widerspruch zu ihrer wahren Würde in den Untergang oder wird durch schwere Strafen abgegolten. So wie mit Theós verhält es sich bei Herodot auch mit dem Theîon:39 es erscheint deß, die Störung des dann als fϑnoß, als die Verweigerung, wodurch erst taracw glücklichen Zustandes im menschlichen Bereich, eintritt. Es mag als Frage offenbleiben, ob es nicht überhebliche Anmaßung ist, wenn man hier unter Berufung auf eine uralte und naive Vorstellung der Religionsgeschichte dem Gott oder den Göttern dieses Textes Neid und Stolz unterstellt. Lange vor dem Parallellaufen von spätantikem Unterhaltungstheater, das Mythenszenen naturalistisch und lasziv nachgeahmt hat, und von öffentlichem, rituell vollzogenem Kult nimmt die attische Tragödie im Mythos ihren Ursprung; sie entstammt den Frühlingsfesten des Dionysos, an denen sie einzig zur Darstellung kommt, und ist ihrem Wesen nach nicht aufregende Schreckensgeschichte, nicht Schicksalsdrama (Handlung, action), nicht Enthüllung bloß menschlicher Konflikte, sondern Aufklärung über solches, das längst im Verborgenen da war und sich nun als »die Enthüllung, der Sieg der göttlichen 2lϑeia« ereignet. Sie ist somit Kulthandlung, »Gottesdienst […]: sie dient dem ,erscheinenden‘ Gotte, der Epiphanie des Göttlichen – nicht in Person (leibhaftig), sondern als Wirklichkeit und Wahrheit«,40 diese als Aufgang in die Unverborgenheit des Seins aus ihrem strahlenden Ursprung heraus verstanden. In der Tragödie kulminiert die griechische Dichtung und mit ihr die mythische Theologie. In ihr enthüllt sich das Menschsein und tritt nur deswegen in die Unverborgenheit, weil dieses Offenbarungsgeschehen glanzvolles und siegreiches Erscheinen ihres göttlichen Ursprungs, göttliche Wahrheit ist. »Die Situation, in der diese Wahrheit aufbricht, ist aber jetzt […] mit Vorliebe das grauenvollste, den Menschen in seiner Preisgegebenheit entblößende, zwangshaft entlarvende und demütigende Leid.«41 Das Menschsein des erhöhten, königlichen Menschen offenbart n n fϑonern te ka taracw deß […]. Vgl. 39 Herodoti historiae, Bd. 1: A (I) 32, 12 f.: t ϑeon pa dazu W. Pötscher, Hellas und Rom: Götter und Gottheit bei Herodot, 6 f., 21–26. 40 W. Otto, Das Wort der Antike, 162–249, hier 168 und 179 f. Zur Diskussion und Veranschaulichung dieser Auffassung am Beispiel von Sophokles, König Ödipus, siehe auch vom Verf. (22003), Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Bd. 1: Über die Wahrheit in der Psychoanalyse Freuds, 307–325. 41 Vgl. dazu H. U. von Balthasar, Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik, Bd. 3/1: Im Raum der Metaphysik, 94–142, hier 96.
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sich erniedrigt in äußerstem Leid. In äußerste Finsternis geworfen enthüllt das tragische Geschehen, wer und was der Mensch in Wahrheit ist und von Anfang an war, und erhebt ihn damit in das Licht der Herrlichkeit des Ewigen. Wenn das Verhängnis seinen unerbittlichen Lauf nimmt, geht es nicht um Prädestination, nicht darum, dass der in Schuld verstrickte Mensch dem Grauenhaften verfallen muss, sondern darum, dass sogar Schrecklichstes und Leidvollstes angesichts der erhabenen Größe und Göttlichkeit der Wahrheit, in die der Mensch seinem Wesen nach gerufen ist, keine Gegeninstanz bildet. Darum wirkt die Tragödie so befreiend und reinigend, da sie Tieferes als alles bloß Moralische aufleuchten lässt.
1.2 Die physische und natürliche Theologie Es gibt zu denken, dass in unserer Dreiteilung der Theologie nicht von ,metaphysischer‘ (eine die Physis überschreitende Theologie), sondern von physischer Theologie die Rede ist. Physische Theologie fragt erst nach der Physis des Göttlichen, die man dessen Wesen, Eigenart und Walten nennen kann. Ihre Urheber sind Philosophen, sogenannte ,Naturphilosophen‘, denen ein genuines Physis-Verständnis zugeschrieben wird, das unmittelbar gar nicht das Göttliche, sondern das Sein unseres erfahrbaren Kosmos (die Natur) meint und für uns heute kaum mehr verstehbar ist. Aber ohne dieses Physis-Verständnis kann nicht von einer Physis des Göttlichen selbst geredet werden und gibt es keine physische Theologie. Wir suchen uns daher dem griechischen Physis-Verständnis anzunähern (1.2.1), indem wir zunächst sprachgeschichtlich bedenken, was die Namen physis und lat. natura nennen (1.2.1.1), dann erst ist der sachliche Sinn von Physis zu erheben, wie er in den Anfängen abendländischen Denkens lebendig war (1.2.1.2). Danach wird auf die Theologie dieses Physis-Denkens näher eingegangen (1.2.2). Da wir heute mehr oder weniger gut gelungene Versuche der Wiederbelebung philosophischer Theologie erleben, ist eine umsichtige Annäherung an ihre fraglos gewordenen oder vergessenen Grundlagen angebracht. Die methodisch umständliche Untersuchung scheint mir notwendig, um nur einigermaßen ermessen zu können, was es mit der wirkungsgeschichtlich machtvollen physischen Theologie auf sich hat.
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1.2.1 Erster Exkurs Ursprüngliches Physisverständnis in der griechischen Philosophie
1.2.1.1 Sprachgeschichtliches über physis und natura (Worterklärung)
Erster Exkurs
Eine Bemerkung zum Sinn der Etymologie eines Grundwortes sei vorausgeschickt: Grundworte wie z.B. das griech. physis oder seine lat. Übersetzung mit natura sprechen aus dem Anspruch des in ihnen genannten Bereiches und aus der Geschichte, wie diesem Bereich entsprochen wurde. Nehmen wir die Sprache beim Wort, so können wir durch die im Wort bewahrte Bedeutungsmannigfaltigkeit nach einer Grundbedeutung oder Bedeutungsrichtung suchen, die uns in das durch das Wort Genannte und zu Denkende einweist. Gesucht ist nicht nach einer Wortwurzel, sondern der uns ansprechende Sachbereich der Verwurzelung soll aufgesucht werden. Mit dem Ernstnehmen des Wortes, der Namen physis oder natura, dem Erkunden des Bedeutungsfeldes und der Bedeutungsgeschichte ist dennoch sachlich nichts bewiesen. Es wäre irrig zu meinen, man könnte durch Zurückverfolgen der Sprachgeschichte auf einen ewig-unveränderlichen Bedeutungskern stoßen, um aus ihm den wahren Naturbegriff hervorzuzaubern. Wir gewahren dank der Sprachgeschichte nur einen Wink oder unauffällige Hinweise auf das mit dem Wort Genannte, nämlich auf den ins Wort gerufenen Sachbereich, aus dem heraus das Wort spricht.42 Das griechische Wort physis (fsiß) vereinigt lexikalisch eine Vielzahl von Bedeutungen: u.a. Sein, Anlage, Wesen, Werden und Gewordenes, Beschaffenheit, Bau, Wachstum, Wuchs (Gewächs), Welt (Kosmos), Gattung und Geburt.43 »Der Stamm ist phy wie in dem Verb phyo, dazu die Endung -sis, die eine Aktion bezeichnet, gegenüber der auf -ma, die das Einzelding meint. Wir haben auch phyma, das Gewächs im medizinischen Sinne etwa, phytón, das Gewächs als Pflanze, und noch eine Reihe anderer Wörter.«44 Auch hier ist das Zeitwort, von dem das Substantiv physis sich herleitet, aufschlussreich: phyein (fein), was so viel wie ,wachsen lassen‘, ,hervortreiben‘, medial: ,wachsen‘, bedeutet. 42 Zu beachten wäre ferner, dass wir uns bei philosophischen Grundworten, die nicht mit Begriffen zu verwechseln sind, in einer sprachlich einzigartigen Situation befinden. Zum Nennen der philosophischen Sprache und zum namentlichen Nennen ihrer Urworte vgl. vom Verf. (1997c), Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Bd. 2: 200–204. 43 Zur ersten Orientierung im hier bevorzugten Physis-Verständnis sei verwiesen auf W. Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen. Tübinger Vorlesungen, Bd. 1; R. Kuhn, Physis. Ein geschichtlicher Beitrag zu ihrem Verständnis in der alten Theologie (darin auch physis in der vorchristlichen griechischen Philosophie); G. Picht, Der Begriff der Natur und seine Geschichte, 54 f., 160 –196; D. Mannsperger, Physis bei Platon, 38 –52. 44 W. Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, 202.
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45 Ebd., 202 f. – Als Beispiel sei das große Gedicht des Lucretius Carus (†55 vC) »Über die Natur« (De rerum natura) genannt. 46 W. Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, 203. G. Picht, Der Begriff der Natur und seine Geschichte, hebt gut belegt hervor, dass dieses Wachsen ein ans Licht Bringen ist und nicht ein quantitatives Größerwerden eines ausgedehnten Dinges (res extensa), das dann z.B. wie ein Wirtschaftswachstum ökonomische Grenzen haben kann.
Erster Exkurs
Das Gesagte birgt die Gefahr, dass man gedankenlos an Lauten und Bedeutungen kleben bleibt und überhört, dass uns hier Worte aus einer uns fernen und fremd gewordenen Welt, mit der doch unsere ,abendländische‘ zu sein angefangen hat, ansprechen. Immerhin forderte Wolfgang Schadewaldt, ein Altphilologe und Literaturwissenschaftler von Rang, eindringlich dazu auf, »dass wir uns im Umgang mit dem Wort [physis] von etwas lösen, das erst bei uns hineingekommen ist – bei den Römern auch noch nicht –, nämlich dass die Natur etwas Gegebenes, Objektives, Festes, Statisches sei, von dem man im Alltag spricht als von der ‚Natur da draußen‘, als Kollektiv von all dem, was es da [als Vorhandenes] gibt. Man macht einen Ausflug in die schöne Natur usw. Diese Vorstellung der Natur als etwas kollektiv Gegebenem, dem Menschen Gegenüberstehenden, des ganz Anderen – wie übrigens auch bei ‚Kosmos‘ – ist insofern geradezu verhängnisvoll, als diese so gefasste Natur dann zum Objekt unseres Forschens wird, mit dem wir machen können, was wir wollen. Sie ist uns unterworfen, wir machen ihre Kräfte uns dienstbar, und so wird sie schließlich zu nichts anderem als einem großen Ausbeutungsfeld und Energielieferanten, dem man für seine Zwecke abzugewinnen sucht, was man nur kann.«45 Verhängnisvoll ist nicht, dass diese moderne Naturauslegung, innerhalb eines methodisch bedachten Grundaktes reduzierender Vergegenständlichung, durch einen mathematischen Entwurf als »Objekt«, genauer: als Formalobjekt eines speziellen Bereichs der Erforschung des Seienden im Ganzen, konstituiert wird, sondern dass sie bloß zum Nutzobjekt herabgewürdigt wird – und, so müsste man hinzufügen, sich infolgedessen als fördernde Lebensgrundlage der Herrschaft des Menschen bedrohlich entzieht, mythisch gesprochen: dass sie ,zurückschlägt‘. Also nicht die fachwissenschaftliche Reduktion, sondern der weltanschauliche Reduktionismus ist hier kritisch angesprochen. »Dem steht gegenüber die ganz andere Bedeutung des Wortes Physis, das schon durch seine Endung -sis niemals solch objektiven Bereich umfassen kann, sondern ein Walten und Wesen darstellt, ein ganz umfassendes Walten und [zeitwörtlich zu verstehendes] Wesen im Sinne eines Hervortreibens und Wachsenlassens. Es ist charakteristisch, wenn man die Natur als ganze bezeichnen will, dass man nicht einfach sagen kann hê physis, sondern das Kollektiv der seienden Dinge muss umschrieben werden mit physis tôn ontôn, lat. natura rerum.«46 Hier ist Physis nicht die Washeit der Dinge, sondern Ursprung,
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Wachsen und Hervorgehen der Dinge: das Sein (Währen und Walten) der Seienden, also nicht statisch in einem Gegensatz zum Werden verstanden. Physis wurde »sehr früh, ehe die lateinische Literatur für uns beginnt«, mit natura übersetzt.47 Unser Wort ,Natur‘ dürfte in außereuropäischen Sprachen ohne gewachsenes Äquivalent sein – also eine »höchst eigenartige und bedeutungsvolle Konzeption«.48 Es ist uns in Umgangssprache, Wissenschaft und Dichtung so vertraut, dass einem leicht entgeht, dass ,Natur‘ in der deutschen Sprache ein Fremdwort ist. Natura ist eine alte lateinische Bildung. Sie ist lexikalisch außerordentlich vieldeutig und besagt: Beschaffenheit, Wesen; Charakter (Naturell); Weltordnung (Kosmos), aber auch schlechthin Ding u. Ä. Was ist es, das Menschen da anspricht, um in so verschiedene Bedeutungen auseinandergelegt zu werden? Vermutlich ist die verwirrende Vielfalt an Bedeutungen von der Grundbedeutung die Geburt her zu verstehen. Nach Schadewaldt findet sich natura zuerst »in Schriften über Tierzucht und im landwirtschaftlichen Bereich. Im strengeren Sinne bezeichnet natura die Gebärpforte am Muttertier, den Ort, wo die Geburt geschieht«,49 oder vielleicht richtiger den vom Geburtsereignis her zu verstehenden Ort, der von der Möglichkeit des Gebärens, des Zur-Welt-Bringens und Ins-Sein-Tretens umwittert ist, also Verschlossenes, das sich fruchtbar zu öffnen vermag. Berücksichtigt man weiter, dass sich natura vom Zeitwort nasci, d.h. geboren werden, wachsen, entstammen, herleitet, dann heißt natura ursprünglich das Geborenwerden, die Geburt als Ereignis,50 die etwas zulässt, das Wachstum, das Entstehen, das Hervorgehen von Tier und Mensch aus dem Mutterschoß, das Zur-WeltKommen aus dem Verborgenen, das aus dem Schoß her Kommen und an das Licht Hervorkommen, woraus die lebendige Gewachsenheit der Seienden wird.
Erster Exkurs
1.2.1.2 Ursprüngliches Physis-Verständnis (Sacherklärung)
Nach dem Gesagten ist physis im ursprünglich philosophischen Verständnis kein Wort für Seiendes, schon gar nicht für solches, das für ein Subjekt zum Gegenstand gemacht wird, also weit entfernt vom modernen (spezialwissenschaftlich geprägten) Naturverständnis: Natur als das dem Menschen unterworfene Material zur Selbstherstellung durch Arbeit sowie als die zu beherrschenden Erlebnis- und Erholungsräume. Das Geschehen, das wachsen und aufgehen lässt, beschreibt kein vorhandenes Seiendes, das andere bedingt oder verursacht und so erst macht, dass es wächst, sondern es lässt von sich her aktiv sein und gibt so Seiendes zu sein frei. 47 Vgl. W. Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, 202. 48 Ebd. 49 Ebd. 50 Die Geburt ist für ein Menschenkind ein Weltereignis.
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51 Aristoteles, Met. L 6, 1071 b 27 u.ö. 52 Aristoteles, Met. A 5, 986 b 14 u.ö. 53 Vgl. W. Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, 205. 54 Vgl. M. Heideggers Abhandlung: Vom Wesen und Begriff der Fsiß. Aristoteles, Physik B,1 (1939), in: GA, Bd. 9, 239–301; weiter die Vorlesungen über Heraklit (1943/44), in: GA, Bd. 55, dort bes. 87 f. und 101 ff., sowie Einführung in die Metaphysik, in: GA, Bd. 40, 15–20, 65 f., 108, 189 ff. Siehe auch u.a. G. Picht, Der Begriff der Natur und seine Geschichte, bes. 54 f. 55 Heidegger hat darauf hingewiesen, dass gegenüber der üblichen Auslegung von fein als »wachsen« die als »aufgehen« die ursprünglichere sei, die »wiederum vom Anwesen und Erscheinen her bestimmt bleibt«. Er beruft sich auf den von F. Specht (Beiträge zur griechischen Grammatik, 58– 63) aufgewiesenen »Zusammenhang« der Wurzel fu- mit fa- in f1oß, f1w = intr. fanesϑai (sich zeigen, erscheinen, ans Licht kommen) sowie t f1oß (Licht): »Die siß wäre so das ins Licht Aufgehende, fein, leuchten, scheinen und deshalb erscheinen.« (76) »Die Wortstämme fu- und fa- nennen dasselbe. Fein, das in sich ruhende Aufgehen, ist fanesϑai, Aufleuchten, Sich-zeigen, Erscheinen.« (108) Dazu vgl. auch F. Wiplinger (1971), Physis und Logos, 44 ff. 56 DKV, Bd. 1, 178: 22. Fragm. B 123: fsiß krptesϑai file. Das Aufgehen schenkt dem Sichverbergen die Geneigtheit, es gewährt ihm sein Wesen.
Erster Exkurs
Das Physis-Denken der von Aristoteles sogenannten ,Physiker‘ (fsiko)51 oder über die Physis Lehrenden (fsiolgoi)52 war in den Anfängen griechischer Philosophie ein Denken des Seienden im Ganzen auf dem Grund der physis. Es geht davon aus, dass alles, was um uns herum in Erscheinung tritt, ein einziges großes, zusammengehöriges Lebendig-Bewegtes bildet, das im Walten und Hervortreiben beruht, und zwar derart, dass da ständig hervorgetrieben wird, was ist (das Seiende) – so wie ein Baum Blätter treibt oder ein Tierleib Hörner. Von da her kann man gewiss die Vielzahl der lexikalisch-greifbaren Bedeutungen von physis ableiten: Im Übergangsbereich vom Walten und Hervortreiben zum gewissermaßen Gerinnen und Sichverfestigen des Wachsenlassens im einzelnen Ding stehen Gewachsenheit und Grundbeschaffenheit, diese dann weiter verfestigt als Beschaffenheit und Bau (Struktur der Wirklichkeit, der Sache), die Gesetzmäßigkeit der Erscheinung u. Ä.53 Doch ist die für uns entscheidende Überlegung darauf gerichtet, was als ursprünglicher Sinn von physis sachlich gesehen in Frage kommt und zu denken aufgegeben ist. Maßgebend neu durchdacht wurde der Physis-Gedanke von Martin Heidegger.54 Er übersetzt das phyein der Physis mit »aufgehen«. Das Hervortreiben und Wachsenlassen ist ja ein An-das-Licht-Kommen und Aufgehen.55 Physis wäre demnach ,der Aufgang‘ im Sinne eines Kommens aus der Verborgenheit ins Unverborgene. Zu diesem gehört freilich auch der Untergang und das Sichverbergen, oder besser: Physis ist nach Heraklit eben dieses Aufgehen (aus dem Sichverbergen), das sich dem Sichverbergen verdankt.56
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Erster Exkurs
Nach Heidegger bedeutet physis, wortgetreu (dem Sachanspruch gerecht werdend) gedacht: »Das Aufgehen im Sinne des Herkommens aus dem Verschlossenen und Verhüllten und Eingefalteten […]. Unmittelbar anschaulich wird uns dieses ‚Aufgehen‘ im Aufgehen des in die Erde versenkten Samenkorns, im Sprossen der Triebe, im Aufgehen der Blüte. Ferner weist der Anblick der aufgehenden Sonne in das Wesen des Aufgehens. Anders wiederum ist das Aufgehen in der Weise, wie der Mensch im Blick gesammelt aus sich hervorkommt, wie in der Rede sich die dem Menschen aufgehende Welt und in eins damit er selbst sich enthüllt, wie in der Gebärde das Gemüt sich entfaltet, wie im Spiel sein Wesen ins Unverhüllte verrinnt, wie im einfachen Dastehen sein Wesen sich ausragt. Überall ist, um vom Grüßen der Götter zu schweigen, ein wechselvolles Ein-ander-an-wesen aller ‚Wesen‘ und in all dem das Erscheinen im Sinn des auf- und hervorkommenden Sich-zeigens. Das ist fsiß.«57 Physis meint das immerdar ins Anwesen aufgehende Walten, das in die Erscheinung Treten und in ihr Bleiben, verweilendes Walten; ist also kein Vorgang, der unter anderem an Seienden beobachtbar ist, sondern das Sein selbst, kraft dessen Seiendes überhaupt beobachtbar wird und bleibt.58 Damit ist das Seiende im Ganzen in seiner Ursprünglichkeit, aber ohne jede Entgegensetzung gemeint. Physis bei den Griechen ist also ein Grundwort aus dem Anfang philosophischen Denkens und nennt das Sein, im Sinne von Von-sich-aus-Aufgehen und Sich-Verschließen, aufgehend-verweilendes Walten und Verbergung. Man könnte nach dem Gesagten, jetzt gelehrig geworden, Physis statt mit ,Natur‘ oder ,Gewächs‘ mit ,Aufgang‘ übersetzen. Verbleibt man aber auf eine bloß historische Untersuchung eingestellt, die berichtet, wie sich die frühen Denker der Griechen die Natur vorgestellt haben, dann ist nach Heideggers Auffassung schon etwas geschehen, und zwar wurde das philosophische Denken unterbunden. Ohne den von uns selbst erfahrenen Bezug zur primären Lebenswelt,59 zum Sein (Anwesen des Anwesenden), lässt sich physis nicht denken und vor Missdeutungen schützen. Im freien Anschluss an Heidegger sei auf einige Missverständnisse hingewiesen, vor denen die voraufgehende Deutung zu bewahren ist. Das erste Missverständnis besteht in der Meinung, eine vorwissenschaftlich-naive partikuläre Erfahrung (innerhalb der außermenschlichen Natur) hätte man generalisiert bzw. extrapoliert und auf alle Naturvorgänge übertragen, was illegitim wäre. Dem57 M. Heidegger, GA, Bd. 55: Heraklit, 87 f. 58 Sein hier in seinem Wesensreichtum und nicht als leerster und allgemeinster Begriff oder Existenz operator verstanden. Siehe dazu unten den dritten Exkurs 3.3. 59 Lebenswelt hier verstanden als selbst erfahrenes, übernommenes und vollzogenes Dasein in der Offenheit des jeweiligen Weltaufenthaltes mit Anderen.
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60 M. Heidegger, GA, Bd. 55: Heraklit, 88 ff. 61 Als neueres Beispiel wäre hier anzuführen: G. Minois, Geschichte des Atheismus (2000), 36: »Die vorsokratischen philosophischen Strömungen, die sich der Realität aus rationaler Sicht nähern, vermengen Natur und Gottheit, wobei sie ersterer den Vorrang geben, so dass ihr grundlegender Pantheismus an Atheismus grenzt. Es bedurfte nicht viel, um ihre Lehre in den naturalistischen Materialismus umkippen zu lassen. Ihr Grundgedanke ist, dass es eine substantielle Realität ohne Anfang und Ende gibt, einen ,Stoff ‘ (hyle), von dem alle Wesen lediglich eine Modifikation sind. […] Diese hylozoistische (von hyle, Materie, und zoe, Leben) Auffassung wird im allgemeinen als Ursprung des Materialismus betrachtet […].«
Erster Exkurs
gegenüber ist es »von Grund aus irrig zu meinen, das, was dieses Grundwort fsiß im Sagen der anfänglichen Denker nenne, sei zunächst am Anblick des aufgehenden Keimes, des aufgehenden Gewächses, der aufgehenden Sonne abgelesen und sei dann erst entsprechend auf alle sogenannten Naturvorgänge erweitert und schließlich auf die Menschen und Götter übertragen worden, so daß von der fsiß her gesehen ,Götter und Menschen‘ noch in gewisser Weise ,natur‘-haft vorgestellt werden. Als ob nicht, was uns da ,Natur‘ heißt, erst umgekehrt nur durch ein Nichtmehrverstehen der fsiß seine Bestimmung erhalten hätte. Die fsiß, das reine Aufgehen, ist weder nur aus dem engeren Bezirk der von uns so genannten Natur abstrahiert, noch ist die fsiß nachträglich erst auf Menschen und Götter als Wesenszug übertragen, sondern die fsiß nennt das, worinnen zum voraus Erde und Himmel, Meer und Gebirg, Baum und Tier, Mensch und Gott aufgehen und als Aufgehende dergestalt sich zeigen, so daß sie im Hinblick darauf als ‚Seiendes‘ nennbar sind. Im Lichte der fsiß werden für die Griechen die von uns so genannten Naturvorgänge in der Weise ihres ,Aufgehens‘ erst sichtbar. […] Das griechische Wesen der fsiß ist nun freilich keineswegs die passende Verallgemeinerung der, von heute aus gesehen, naiven Erfahrung des Aufgehens von Keimen und Blüten und des Aufgangs der Sonne, vielmehr ist umgekehrt die ursprüngliche Erfahrung des Aufgehens und des Hervorkommens aus dem Verborgenen und Verhüllten der Bezug zu dem ‚Licht‘, in dessen Helle erst das sogenannte Keimding und das Blütending in seinem Aufgehen festgehalten und darin die Weise gesehen wird, in der der Keim im Keimen, die Blüte im Blühen 60 ,ist‘.« Das erste Missverständnis ergibt ein zweites, besonders hartnäckiges materialistisches Vorurteil: Demnach waren die frühen griechischen Philosophen zum materialistischen Monismus und zum Atheismus hinneigende Denker,61 die Werke ,über die Physis‘ (per fsewß) geschrieben haben, welche alles von der außermenschlichen »Natur« her deuten. Beispielsweise hätten Thales, Anaximenes von Milet und Heraklit von Ephesos nur im Stofflich-Materiellen (Wasser, Luft, Feuer) den Urgrund (2rc) alles Seienden erblickt. Förderer dieser hyletischen Deutung ist Aristoteles. Wegen
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Erster Exkurs
anderer Voraussetzungen (Hylemorphismus) meint er, die meisten frühgriechischen Denker hätten ohne Kenntnis anderer Letztursachen das, woraus etwas ist, die Stoffursache (causa materialis), für den Urgrund gehalten.62 Man meint, die Denker irrten nur, insofern sie den Kosmos aus einem zugrunde liegenden Stofflichen, das selbst neben anderen Weltelementen im Kosmos vorkommt, für erklärbar hielten (pars pro toto); sie werden aber gönnerhaft gelobt, da sie immerhin begriffen hätten, dass jede Mannigfaltigkeit eine letzte Einheit und der Kosmos daher einen Urgrund voraussetzt. Ihr Denken macht – angesichts des Fortschritts unserer Naturwissenschaften – den Eindruck des Unbestimmten, Verschwommenen, Primitiven und Unentwickelten. Dieses Missverständnis kommt dadurch zustande, dass man von einem gegenüber dem ursprünglichen Physis-Denken eingeengten Naturbegriff ausgeht und die frühen griechischen Physis-Denker daher weder als anfängliche Seinsdenker noch als Theologen zu würdigen vermag.63 Indes dürfte das ,Wasser‘ des Thales von Milet, aus dessen Lebensbewegungen erst etwas auftaucht und sichtbar wird, das alles Tragende, Durchdringende, Belebende sein; mit diesem ,Urwasser‘ wäre dann dasselbe (nicht das Gleiche) angesprochen wie das alles Anwesende aufgehen lassende Sein.64 Ähnlich wäre die ,Luft‘ des Anaximenes zu verstehen, die als sie selbst nicht zum Vorschein kommt und keine Grenze, keine Bestimmtheit, kein Anwesendes bildet, überall (das Ganze) mit ihrem Anwesen und im Grunde alles Anwesende durchzieht, ein ,Nichts‘, das nur in seinem Anderssein sich zeigt. Sie ist die Lebensbewegung des Atems, das Atmosphärische und Verbindende, das Offene des Daseins als unaufhörliche Auflichtung und Sich-Verschließen: der unsichtbare Urgrund der Physis. Bleibt denen, die seit ihrer Geburt vom Anwesen der Weltatmosphäre umgriffen sind, die unsichtbare Luft weg, dann versagt sich ihnen der Lebensatem, das sie umgreifende Offene und Leben, das Sein in der Welt.65 62 Aristoteles, Met. A 3, 983b 7 f.: »Von denen, die zuerst zu philosophieren begannen, hielten die meisten dafür, dass die im Aussehen des Stoffes (n lhß dei) vorliegenden Anfänge die Anfänge von allem seien (2rc!ß e nai p1ntwn).« In ihrem Philosophieren ging es bereits um den Urgrund des Weltganzen. 63 Nachdem M. Heidegger den Nachweis zu erbringen suchte, dass es in der frühen griechischen Philosophie (insbesondere bei Parmenides und Heraklit) nicht um »Naturphilosophie« ging, die man als primitive Vorform der Naturwissenschaften einzustufen hat, sondern um das anfängliche Seinsdenken des Abendlandes, suchte W. Jaeger (Die Theologie der frühen griechischen Denker) zu zeigen, dass es in ihr überall um die wahre Gestalt des Göttlichen ging. Doch gilt für das ontologische wie für das theologische Motiv, dass es dort nicht überall in der gleichen Ausdrücklichkeit da gewesen ist. 64 Zu Thales von Milet siehe unten 1.2.2.1. 65 Vgl. zur Anaximenes-Deutung K.-H. Volkmann-Schluck, Die Philosophie der Vorsokratiker, 51– 62. Bedenkt man, dass Anaximenes wie Thales aus Milet phönizischer Herkunft war, so
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könnte in seinem Verständnis des Urgrundes auch altorientalische Erfahrung der göttlichen rwh. - ah (hebräisch) mitschwingen. (aramäisch) bzw. r u . 66 Vgl. M. Heidegger, GA, Bd. 7: Vorträge und Aufsätze, Aletheia (Heraklit, Fragment 16), 282– 288; hier auch Fragment 64.
Erster Exkurs
Spätestens bei Heraklit könnte einem klar werden, dass das ,immerlebendige Feuer‘ keines der Weltelemente ist, keine Extrapolierung aus materiellen Phänomenen wie Herd-, Fackel-, Opferfeuer, Aufleuchten der Sonne, der Gestirne oder des Blitzstrahls darstellt, sondern solches ist, das auch in diesen Phänomenen waltet: das Weltfeuer als das Lichtende, die Welt als Ereignis der Lichtung und zugleich Urweise des alles Wegweisenden und ins Anwesen versammelnden Sinnenden (t frnimon). Dieses Feuer ist dasselbe wie die Physis als Freigabe in den Aufgang der Seienden, sie ist, dasselbe nochmals anders gesagt, der Logos als das sich selbst kundtuende und alles Auseinanderstrebende vereinende Eine.66 Feuer brennt und verbrennt, es lodert auf, verstrahlt die Glut und erlischt. An ihm ist das Einssein von Hervorgang und Weggang, Aufgang in die Unverborgenheit und Untergang in die Verbergung ersichtlich. So ist die Physis das eigentliche Feuer. Ein drittes Missverständnis, das ,ontisches‘ Vorurteil genannt werden kann, kommt aus einer Einengung des Physis-Verständnisses (das auch schon von Schadewaldt angesprochen wurde). Das Sein der Physis wird für etwas Seiendes (n) gehalten. Das ist nicht ganz unrichtig, denn das, worüber dieses Wort etwas sagt, ist das Ganze dessen, was überhaupt ist: das Seiende. Dieses wird seit Platon und Aristoteles ta onta (t1 nta) genannt. Das Seiende im Plural meint die Physis als das All des Seienden in seiner ganzen Fülle, die Gesamtheit aller Seienden. Doch mit Physis ist mehr gesagt; es ist die Art und Weise, wie dieses Seiende ist und in sich gegründet ist, und zwar das Seiende im Ganzen und als solches, nur deshalb weil es Seiendes ist, d.h. mit diesem Wort wird das Seiende in seinem Sein genannt und dieses als aufgehendes Erscheinen, als der ,Aufgang‘. Tritt das Sein der Physis (ihr Walten selbst) in den Hintergrund zugunsten des Seienden (des Waltens des Waltenden, der nur Waltenden), so steht diese Deutung auf dem Weg der Umdeutung zum modernen Naturbegriff. Demnach bezeichnet der Begriff der Natur dasjenige, was der Mensch nicht gemacht hat und ohne sein Zutun da ist: die res naturalis (das durch sich seiende, naturwüchsige Ding) im Unterschied zur res artificialis (das hergestellte, gemachte Ding). Diese Definition ist negativ, da sie nur sagt, was Natur nicht ist (also keine Wertung!). Aus ihr spricht ein durchaus berechtigtes Interesse, die ,Natur‘ (Physis) nicht mit Machbarem und menschlichem Machwerk zu verwechseln (in der Wendung ,jemandem ein Kind machen‘ ist dies beispielsweise der Fall). Die Natur wird hier vom menschlichen Handeln im Sinne des
Erster Exkurs
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Der systematische Ort philosophischer Theologie innerhalb verschiedener Theologien
Hervorbringens (ins Unverborgene stellen), d.h. von der téchne (tcnh), abgehoben (modern ausgedrückt: vom Herstellen und Produzieren). Positiv könnte man im obigen Sinne die Natur definieren als Inbegriff dessen, was durch sich selbst besteht. Dennoch bietet sich hier eine neue Verwechslung an, denn unter einem Ding, das durch sich selbst besteht (das ein ens per se ist), versteht man in der aristotelischen Tradition eine konkrete Substanz, und diese ist ein selbstständiges Seiendes, das innerhalb der Welt vorkommt. Mit ihr wird die Natur im Ganzen als Gesamtheit der substanziellen Seienden und damit als etwas anderes gedacht als sie selbst ursprünglich ist. Dennoch ist es wiederum richtig, die Natur auch für das Kollektive (die Gesamtheit) von all dem, was es da dem Menschen gegenüber an von selbst Gewachsenem und Entstandenem gibt (die menschliche Natur mitgezählt!), zu halten. Diese vom Seienden ausgehende und daher ,ontisch‘ genannte Naturdeutung dürfte ein Hauptgrund dafür sein, warum Heidegger, aber auch Wiplinger sich gegen die übliche Gleichsetzung von physis mit »Natur« wehren. Natura verführt auch dazu, an Geburt im engeren Sinne oder an das Geborene zu denken sowie an das Eigentümliche, das dem Geschöpf im Zustand der Geburt (status naturalis) ontisch gegeben und mitgegeben ist: das Angeborene. Natur ist damit auch das chronologisch Frühere (in einer Kette von Ereignissen im Sinne von Zustandsfolgen), das Verlorene, das nicht mehr ist, oder das stets zu Überwindende, zu dem wir dann doch nicht mehr recht zurückkehren können. Mit dem ontischen Missverständnis ist ein viertes verbunden, das naturalistische, das den Menschen in seinem Wesen exklusiv von der außer- und untermenschlichen Natur her versteht – also nicht nur als ihr durch Evolution zugehörig, sondern im Sinne des Evolutionismus als nichts anderes als ein Produkt eben dieser Natur. Im Blick auf die ursprünglich griechisch gedachte Physis ist es nach Heidegger ein Vorurteil, »daß fsiß […] die von uns sogenannte ,Natur‘ (Erde und Himmel, Meer und Gebirge, Pflanze und Tier) bedeute und daß von diesem […] fsiß-Begriff aus dann auch der Mensch und die Götter fsiß-mäßig, d.h. naturhaft, gedacht worden sei. […] In Wahrheit meint jedoch fsiß, ohne den spezifischen Anklang von Gebirge und Meer und Tier, das reine Aufgehen, in dessen Walten jegliches Erscheinende erscheint und also ‚ist‘.«67 Die ontisch-naturalistische Verengung des Physis-Verständnisses war zugleich bereichernd und verhängnisvoll, weil dadurch aus der ,Natur‘ sich verselbständigende Gegenerscheinungen heraustraten: So gewannen die Bereiche des Sittlichen, der Bindung in Freiheit und der soziokulturellen Gestaltung des geschichtlichen Seins des Menschen eine herausragende Eigenständigkeit; sie fand ihren pädagogischen Nie67 M. Heidegger, GA, Bd. 55: Heraklit, 102.
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68 Mit ,Geschick‘ ist hier nichts Fatalistisches gemeint, sondern auf ihm beruht das geschichtliche Seinsverständnis (das noch zur Sprache kommen wird), insofern wir uns aus dem uns zu sein Gegebenen, diesem uns zukommenden Geschick, selbst und frei zu dem uns vorgegebenen Sein verhalten können, dürfen oder müssen. Zum vorgegebenen Seinsverständnis gehört auch die uns jeweils eigene ,Physis‘. Näheres zum Verhältnis von Ontologie und Fundamentalethik in Abschnitt 7. 69 Siehe dazu unten in 4.2.2. 70 Siehe dazu unten 1.2.2.4 b).
Erster Exkurs
derschlag schon in der griechisch-römischen Schulphilosophie der Stoa (ab dem 3. Jh. vC), wobei sich neben der Schuldisziplin Physik die Ethik (und auch die Logik) herausbildete. Damit verlor die Geschichte den Charakter aufgehend-verweilenden Waltens (des Geschicks) und konnte als Bereich des Machbaren in Gegensatz zur Natur treten.68 Der ganze Bereich des menschlichen Wissens um das Erzeugen und Bauen, das ontologisch nach wie vor ein Hervorbringen in die Unverborgenheit ist, tritt als téchne in Gegensatz zur physis, und zwar als kreativ-konstruktiv wissendes Verfügen über das freie Planen, Einrichten und Beherrschen von Einrichtungen. Das physische bzw. naturhafte Seiende wurde auf die Welt der bloßen Körper (der körperlichen Substanzen) eingeschränkt. Begreift dieses jedoch alles Seelische, Beseelte, Lebendige (darunter den Menschen) mit ein, wird das Physische bzw. Physikalische im modernen Sinne immerhin noch nicht dem Psychischen als Begleitphänomen entgegengesetzt. Schließlich wird der ganze soziokulturelle Bereich als der Natur entgegengesetzt ausgeklammert. Man spricht zwar noch von einer ,Natur‘ des Menschen, der Mensch ist aber von Natur aus ein Kulturwesen, dem bestimmte Gewohnheiten, Haltungen, Weisen des Sichaufhaltens in der Welt zur ,zweiten Natur‘ geworden sind, doch auch diese Naturverhaftung wird aufgrund des eingeengten Naturverständnisses systematisch als inkonsistent infrage gestellt, wenn nicht gegenläufig der Weg einer Naturalisierung des Menschen in die zum Objekt reduzierte Natur beschritten wird. Schon sehr früh, spätestens im Neuplatonismus, wird mit Platon die Welt der Körper der Welt der Ideen entgegengesetzt, die über das physische, naturhafte Seiende hinaus geht (met1). So konnte der später gegebene Sachtitel ,Meta-physik‘ im Sinne einer über die Physik hinausgehenden Wissenschaft Karriere machen,69 womit der Gegensatz zur philosophischen oder spekulativen Physik (zur philosophischen Kosmologie bzw. Naturphilosophie) vorausgebahnt war. Hierbei wird oft übersehen, dass Platon selbst kein Platonist war, der eine dualistische Zwei-Welten-Lehre vorgetragen habe, denn sein Ideendenken kann keineswegs als ausdrücklicher Bruch mit dem Physis-Denken gedeutet werden.70 Das kritisch zur Abwehr des ontischen Missverständnisses Vorgebrachte ist fünftens selbst wiederum missverständlich, da man meinen könnte, die Physis sei wie ein Raumbehälter vorzustellen, ist sie doch die apriorische Rahmenbedingung, die man
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über, hinter oder abseits der Erscheinung der Seienden annimmt, welche jedoch für das rechte Physis-Verständnis einzuklammern wären. Man meint, »fsiß ist das reine Aufgehen, in dessen Offenem und Lichtem alles erscheint. Das Erscheinende sind dann Berg und Meer, Pflanze und Tier, Häuser und Menschen, Götter und Himmel, so nämlich, wie wir uns inzwischen dieses Seiende vorstellen. Wir lassen die fsiß in der gemäßen griechischen Bedeutung des reinen Aufgehens gelten, nehmen dieses jedoch wie ein riesiges, allumgreifendes Behältnis und packen in dieses Behältnis die von uns modern vorgestellten Dinge als die Seienden hinein. Aber jetzt verfehlen wir erst recht das Entscheidende: denn die fsiß als das ständige Aufgehen ist nicht ein neutrales Behältnis, ein sogenanntes ,Umgreifendes‘, so, wie ein Lampenschirm über die Lampe übergreift, wobei die Lampe bleibt, was sie ist, ob sie der Schirm ,umgreift‘ und ,umdeckt‘ oder nicht. Das reine Aufgehen durchwaltet die Berge und das Meer, die Bäume und die Vögel; deren Sein selbst wird durch die fsiß und als fsiß bestimmt und nur so erfahren. Berge und Meer und jegliches Seiende bedarf nicht des ‚Umgreifenden‘, weil es, sofern es ist, ‚ist‘ in der Weise des Aufgehens.«71
1.2.2 Anfänge in der Auseinandersetzung von Mythos und physischer Theologie
Die physische Theologie der Philosophen wurde innerhalb der dreigeteilten Aufzählung nicht zufällig aufgegriffen, weil man sie faktisch vorhandenen Weisen des Gott-Sagens zuordnen kann. Sie fragt auch nicht nach einer Eigenart, eben der Physis, eines als bekannt vorausgesetzten Göttlichen, sondern sie ist in der griechischen Physis-Philosophie beheimatet. Dort verdankt sie sich der Auseinandersetzung der sogenannten Physis-Denker oder Physiologen mit dem Gottesverständnis der Volks- und Adelsreligion, insbesondere mit ihrem Mythos bzw. der Mythologie in der Fassung großer Dichtung. Aber nicht nur mykenisches und hellenisches, sondern zunehmend auch altorientalisches und ägyptisches Religions- und Gottesverständnis fanden hier Eingang. Von den frühen griechischen Denkern im Mittelmeerraum bis zu den Stoikern und Neuplatonikern suchte man die mythische Theologie bzw. den Mythos nicht zu eliminieren, sondern in einer dem Gott geziemenden (ϑeoprepß) Weise zu interpretieren. Eines ist es, einen Gott zu verehren, und etwas anderes, diesen Gott zu würdigen, indem in Frage gestellt wird, was er sei oder was das Göttliche des Gottes eigentlich 71 M. Heidegger, GA, Bd. 55: Heraklit, 102. Vgl. dazu das Physisverständnis der Stoa unten 1.2.2.6 b). Vielleicht auch eine Anspielung an den Gedanken des Umgreifenden in der »Periechontologie« von Karl Jaspers.
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sei. In diesem Vorhaben verbirgt sich die denkwürdige Antwort auf die für die ganze philosophische Theologie brisante Doppelfrage, wie sich der Aufbruch philosophischen Fragens und Denkens zur Religion verhält, genauer: zu dem, was Religion zur Sprache bringt, und umgekehrt, wie und in welchem Sinne der Gott und die Götter in die Philosophie kommen. Die hermeneutische Situiertheit der Doppelfrage ist zu beachten: Was uns ermöglicht, diesen Prozess geschichtlich zu verfolgen, ist das Immer-schon-Walten eines Vorverständnisses des Verhältnisses von Philosophie und Religion in den philosophiegeschichtlichen Arbeiten, das systematisch in philosophischer Theologie auszuarbeiten ist und das umgekehrt aus der Geschichte schon gelernt hat und weiter dabei ist zu lernen. Dieser hermeneutische Zirkel ist unvermeidbar. Nur ist hier keine philosophiegeschichtliche Monographie beabsichtigt, sondern ich beschränke mich auf den Hinweis auf einige Stationen dieser Begegnung, wobei die Kriterien der Auswahl wichtige Anfänge physischer Theologie, ja überhaupt philosophischer Theologie in Erinnerung rufen. Dieses Vorverständnis bedarf insofern einer entschiedenen Korrektur, als am Beginn abendländischer Philosophie Mythos und Philosophie (Logos) nicht als fixe Größen einander gegenüberstehen, sondern aus innigster Verbindung mit und aus dem Mythos, ja schon in ihm philosophiert wird. Die Philosophie erwächst aus dem Mythos und entwächst ihm in Auseinandersetzung mit ihm – zunächst nicht selten auf eine mythologisierende Weise. Der Gott und die Götter kommen gar nicht in die Philosophie. Sie sind als zu Denkendes immer schon, wenn auch nicht in gleicher Ausdrücklichkeit, für sie und in ihr da: Der Mythos vom Uranfang, von dem her alles zu verstehen ist, wird aus dem Physis-Denken neu rezipiert, und damit muss der Bezug zum Gott und zu den Göttern gleichfalls neu bestimmt werden. Das soll stichprobenartig bei den milesischen ,Physikern‘ Thales (1.2.2.1), Anaximander (1.2.2.2) und Xenophanes (1.2.2.3) sowie bei Platon (1.2.2.4), Aristoteles (1.2.2.5) und stoischen Denkern (1.2.2.6) gezeigt werden.
1.2.2.1 Thales von Milet (um 589 vC)
Thales aus dem Südwesten Kleinasiens, der als griechischer und erster Philosoph des Abendlandes gilt, steht wahrscheinlich nur an der Schwelle zum ihm einhellig attestierten Physis-Denken. Die neuere Forschung betont seine phönizische Abstammung väterlicherseits, seinen Aufenthalt in Ägypten und sein Schöpfen aus ägyptisch-altorientalischen Quellen. Vorweg sei gesagt: Eine philosophische ThalesDeutung wird über Konjunkturen kaum hinauskommen, spricht aber schwerwiegende Sachprobleme an, welche bereits die physische Theologie betreffen. Zwischen
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ihm und uns steht die wirkungsgeschichtlich übermächtig gewordene Interpretation durch Aristoteles, die in Thales den Urheber (2rchgß) des Physis-Denkens erblickt. Ihre Zuverlässigkeit ist zweifelhaft, mindestens dort, wo sie dem Grundgedanken des Thales einen doppelten Irrtum unterstellt: Erstens sei er von der Frage, woraus alles ist, geleitet und nimmt dem entsprechend als Urgrund der Physis eine Urmaterie an, und zweitens identifizierte er diese Urmaterie mit nur einem einzigen der materiellen Weltelemente und Ursachen, eben dem Wasser (hydôr). Fraglich ist, ob und inwiefern wir Thales überhaupt als einen Grund- und Physis-Denker verstehen dürfen, der das fließende Wesen der Physis hervorgehoben hat. Von Thales wird überliefert: »[…] der Anfang von allem [Seienden] sei Wasser und der Kosmos sei belebt (beseelt) und voll von [unsterblichen] Dämonen.« 72 Vermutlich sind das keine zusammenhanglosen Thesen, sondern liegt ein einziger Gang des Gedankens vor: Von allem, dem belebten und von Dämonen erfüllten Kosmos, bildet das Wasser des Thales den alles eröffnenden Anfang, die Quelle, die kein empirischer Teil der Welt ist, sondern allererst eine Welt zum Sein kommen lässt, die vom Lebensatem durchzogen und von mit Göttern erfüllten Bereichen hervorkommt. Doch Welt ist hier nicht als Behälter für Vorhandenes gedacht, sondern als ,Kosmos‘, als der vom Urwasser bestimmte Zustand der Seienden, ihre Weise zu sein aus dem Strom des Geschehens, Sichereignens. Das Wasser muss aus der vom Lebendigsein durchfluteten Welt, die es zum Vorschein bringt, als Verborgenheit und gründende Tiefe verstanden werden, welche im Sinne des Mythos von Dämonen, die Göttliches ereignen lassen bzw. von Hereinblickenden, den Göttern, voll ist. Aristoteles war eine Beziehung des Grundgedankens des Thales zum Mythos bekannt, die er für bemerkenswert hielt.73 Jedenfalls ist die mythische Sprache des Thales zu berücksichtigen und muss die entmythisierende Deutung des Aristoteles hinterfragt werden. Naheliegend war es, an den »Okeanos« des Homer zu denken, den jener den »Ursprung der Götter«74 und den »Ursprung von allem«75 nennt. Dieser Flussgott war ein überaus starker Strom und Gott in einer Person, ja mit seiner Frau Tethys von unerschöpflicher Zeugungskraft. Ihm entspringen fortwährend n dwr pestsato, ka tn ksmon 72 DKV, Bd. 1, 68: 11. Thales, A. 1: 2rcn d tw mqucon ka daimnwn plrh. 73 Aristoteles, Met. A 3, 983 b 27–32, berichtet von einer nicht gesicherten Auffassung über die Physis, wonach frühere Mythenerzähler – die ersten, die theologisierten (ϑeologsantaß) – ebenso wie Thales das Wasser für das Prinzip von allem gehalten haben, wenn sie Okeanos und Tethys zu Urhebern der Entstehung (gensewß patraß) machten. n gnesin, ka mhtra Thϑn […]. 74 Homer, Ilias, XIV, 201: […] ’Okeann te ϑew 75 A.a.O., 246: […] ’Okeanou, ß per gnesiß, ptessi ttuktai.
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Flüsse, Quellen und Brunnen, ja das ganze Meer. Er ist als Uranfang nichts bloß zeitlich Gewesenes, sondern das allezeit und wiederholt Währende; er fließt immer noch um den äußersten Rand der Erde, im Kreis zu sich zurückströmend, eine Art Umgrenzung des Ganzen, was bedeutet, dass der Okeanos der stete Ursprung der Welt und damit der übrigen Götter ist. Doch der Okeanos des Homer umfließt mit seinen Fluten nur die Erde, während bei Thales die Erde auf ihm ruht. Ein Unterschied, der Beachtung verdient.76 Vergegenwärtigen wir uns das Einzigartige dieses Wassers: Da gibt es den Wasserfluss von unten (Ströme und Meere, auch Überschwemmung, Grundwasser), da sind die Wassermassen als alles (die Erde) vom Grund her (wie Holz) Tragende und die von oben sich ergießenden Wasser (Regen, der keimen und wachsen lässt) sowie alles Feuchte (flüssige Nahrung, feuchter Samen nach Aristoteles77) als Wesensursprung für das Leben und Fruchtbarkeit Spendende. Man könnte noch die Aggregatzustände nennen, »das Wasser ist alles, was gegenwendig eines ins andere übergeht: das Feste, Starre, Kalte und das Fließende, Bewegliche, Warme; das Klare, Ruhige und das Tragende und das Verschlingende. […] All das Genannte west an, indem es in das Hervorkommen des anderen vergeht. Das Wasser geht als Eis hinweg, um als Flüssiges zu erscheinen. Es geht unaufhörlich weg in das aufgehende Erscheinen des Gegenteils.«78 Aber denkt Thales wirklich nur an die genannten Vorgänge, die uns mit der außermenschlichen Natur verbinden, und von ihnen aus? Man könnte doch vom lebensweltlich geschauten Wasser ursprünglich zur Erfahrung eines Hervorflutenlassens aus verborgener Tiefe in das Offene, in das vom seelischen Leben Lebendiger bzw. vom Lebendigsein alles Lebenden durchfluteten Kosmos gelangen und einsehen, dass auf diesem Hervorkommen erst Lebendiges beruht und im Leben da ist. Lässt sich hier eine Übereinstimmung mit dem, was als Wesen der Physis erblickt wurde (das als Aufgang wesende Sein, das AufgehenLassen, das erst Aufgehendes im Licht sehen lässt), erkennen? Führt dieses Wesen 76 Aristoteles, De caelo, B 13, 294 a 28 ff., kommt damit nicht zurecht, dass Thales die Erde auf dem Wasser ruhen lässt, sodass sie nun schwimmend auf ihr beharre wie irgendein Stück Holz. Thales stelle sich nicht die Frage, was auf der Erde und worauf das Wasser beruhe. Auch könne nicht die ganze Erde auf dem Wasser schwimmen, denn jedes beliebige Stück Erde sinke schon zu Boden. Seine Argumentation ist systemkonsistent, wenn Wasser als materielle Ursache und als ein Weltelement unter anderen (in unserer Lebenswelt) angenommen wird. 77 In Met. A 1, 983 b 22–27 vermutet Aristoteles – man möchte sagen ideologiekritisch und dekonstruktiv –, warum Thales zu seinem Irrtum kam: Erstens aus »der Annahme, dass die Nahrung aller Dinge flüssig sei und die Wärme selbst daraus entstehe und ihre Lebenskraft von dorther nehme«. Und zweitens, weil »die Samen aller Dinge über eine feuchte Physis verfügen. Das Wasß fseß).« ser aber ist für das Feuchte Anfang und Ursprung seiner Physis (2rc th 78 K.-H. Volkmann-Schluck, Die Philosophie der Vorsokratiker, 60.
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der Physis vom Wesen des Wassers weg oder zu ihm hin? Oder führt es vielleicht einerseits zu ihm hin und doch andererseits von ihm weg? Nimmt man nicht mehr an, dass Thales mit dem Wasser eine partikuläre Erfahrung außermenschlicher Natur naiv extrapoliert hat, also dachte, die Dinge seien alle aus Wasser und darin bestünden die metaphysische Einheit aller Dinge, das Permanente im Werden als Veränderung, die Unterscheidung von Wesen und Erscheinungsweisen und die einzigartige Eigenheit des ersten bewegenden Grundes, dann muss man sich fragen, ob Thales nicht selbstverständlich wusste, dass Erde nicht wie ein Stück Holz auf dem Wasser schwimme, da doch alles Gestein in ihm untergeht. Der Interpret muss sich davor hüten, dass man nicht am Ende ihm statt des in praktizierter Mathematik so kreativen Thales dessen angebliche Primitivität zuschreibt. Sicher denkt Thales nicht an unser chemisch-physikalisch reduziert bestimmtes Element. Wahrscheinlich hat er gelehrt, dass die Erde keine vorgegebene unableitbare Größe ist, sondern (entsprechend ihrer im Mythos erzählten Herkunft) entstanden ist, d.h. immerwährend ereignishaft im Entstehen ist, und zwar aus dem ,Wasser‘ heraus. Sie ist nämlich – wie Ägypten aus der Nilüberschwemmung bzw. dem ägyptischen Gott Nun (auch Nu) – daraus aufgetaucht, d.h. überhaupt erst in Erscheinung, ins Sein getreten, und wird davon getragen. Orientalisches Gemeingut war, dass die Erde aus dem Wasser auftaucht und in Erscheinung tritt. Das alltägliche Wasser partizipiert an den Bewegungskräften des Urwassers. In ägyptischen Weltdarstellungen wird die Erde (die selbstverständlich schwerer ist als Wasser) von einer geheimnisvollen Hebemacht über dem Wasser gehalten: dem Ka; dieses »ist ursprünglich ein anthropologischer Begriff, eine Daseinsmacht, die Gottheiten und Menschen am Leben erhält. Sie wird gelegentlich als zweiter Leib mit gewinkelt erhobenen Armen auf dem Kopf [des ersten Leibes] dargestellt.«79 Nun übersetzt Thales nicht das mythische Ursprungsprinzip in ein physikalisches Lebens- und Bewegungsprinzip, sondern der hier waltende Grundzug des Auftauchens und zum Sein Kommens macht erst außer- und untermenschliche Naturvorgänge, die u.a. mit Wasser und seiner Wässrigkeit zu tun haben, sichtbar und nicht wurde umgekehrt das Wasser nachträglich als Wesenszug auf alle Dinge übertragen. So gesehen ist es daher am wahrscheinlichsten, dass das Wasser für Thales ein dichterisch gut geeignetes Wort für das Auftauchen des Seienden in seinem Sein war, und das entspricht dem Wesensursprung der Physis (2rc thß fsewß)80 – selbst wenn beide Wörter (arche und physis) kaum die seinen sind, son79 O. Keel, Altägyptische und biblische Weltbilder, 39. 80 Vgl. Aristoteles, Met. I, 3, 983 b 27 b.
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dern einer retrospektiven Interpretation angehören. Angelehnt an den Gott Okeanos und noch viel mehr an den altägyptischen Gott Nun, die aus sich stets wiederholender mythischer Genesis alles werden lassen, nennt das Urwasser des Thales das Wesen philosophischer Genesis: das, was als tragend-durchflutendes ,Wesen‘ waltet und währt, jenes unhintergehbare Auftauchen, das Seiendes in seinem Sein in Erscheinung treten, in ihm walten und beruhen lässt. 81 Die Worte »Alles [ist] voll von Göttern« oder »der Kosmos ist belebt (beseelt) 82 und voll von Dämonen« lassen sich schwer angemessen auslegen. Sie scheinen aus einem ungebrochenen Verhältnis zum mythischen Weltverständnis gesprochen.83 Statt nur eingeleisig einen Übergang von den Mythen zur Philosophie, vom Mythos zum Logos oder zu einer Entmythologisierung festzustellen, sollte man besser auf die eigenständige philosophische Rezeption und Ergänzung des Mythos achten. Die uns interessierende Frage, ob und wie diese Götter oder Dämonen, die im Bezug zum Menschen Göttliches in gutem und bösem Sinne zuteilen, aus einem gemeinsamen im Grunde göttlichen Weltgeschehen zu verstehen sind, lässt sich für Thales nicht beantworten. Religionsgeschichtliche Kategorien wie Animismus oder Pantheismus greifen hier nicht recht: der Animismus nicht, weil es um die kosmische Ursprungsdimension geht und nicht um für beseelt angenommene Naturerscheinungen, der Pantheismus nicht, insofern er einen hier nicht gegebenen Monotheismus voraussetzt. Von einem Urwasser als Gott oder als oberste Gottheit der Götter wissen wir nichts. Fraglich ist, ob das Urwasser seinem Ursprung nach nicht für ,göttlich‘ gehalten wurde, denn wie wäre es sonst möglich, dass der aus dem Urgrund des Wassers sich erhebende Kosmos zum allerfüllten Ort der Anwesenheit göttlicher Mächte wird? Doch auch von einer Göttlichkeit des Urwassers bei Thales wissen wir nichts, können aber auch nicht sagen, er habe die religiös-numinose Komponente vergessen oder habe gar den Schöpfer der Welt mit dem Alltagswasser verwechselt.
1.2.2.2 Anaximander (um 560 vC)
Haben wir es bei Thales mit einer griechischen Version altorientalischer Philosophie zu tun, die dem später explizit hervortretenden Physis- und Seinsdenken verwandt ist, so verstärkt sich dieser Eindruck bei seinem Schüler und Nachfolger Ana-
81 Aristoteles, De anima I, 5, 411 a 7. 82 DKV, Bd. 1, 73: 11. Thales, A. 3. 83 Aristoteles stellt die Aussage religionskritisch infrage und bekundet mit ihr seine Distanz zur mythischen Erfahrung: »Auch behaupten einige, die Seele sei mit dem All vermischt, weshalb Thales glaubte, alles sei voll von Göttern.« (De anima I, 5, 411 a 7)
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ximander, der möglicherweise ein Verwandter war.84 In der Rezeption gilt er einhellig als Denker, dem es um die Physis ging (per fsewß)85 und damit um den Anfang ntwn),86 was überraschend verständlich wird, wenn dieser der Seienden (2rc t wn Anfang von der Sache her als das Sein des Seienden ausgelegt wird. Dasselbe scheint Anaximander auch als Urwasser zu denken; doch es erscheint nun in neuer, sachgemäß deutlicherer Fassung, und zwar als das Apeiron (t 3peiron). Dieses dürfte, wie Othmar Keel vermutet, zwei Bedeutungen haben, nämlich »ohne (räumliche) Grenze« und »ohne Erforschung«, während wir bei Erde und Meer oft wahrnehmen, wie die Grenzen sich gegenüber dem Umgrenzenden verschieben (z.B. der Horizont). Das Apeiron, das sich von Ende, Grenze, Vollendung (praß) herleitet, weist auf die unermessliche, grenzenlos-abgründige Tiefe des Ursprungs und Anfangs hin, und das Apeiron, das sich von peira (pera), Versuch, Erfahrung, herleitet, weist auf das Unerfahrbare, Nicht-Erprobbare hin. Die Zweideutigkeit dürfte hier eine wesentliche und gewollte sein, weil sich die beiden Weisen des Apeiron aufeinander beziehen: Der Anfang und Ursprung des Seienden (des in die Unverborgenheit hervorkommenden Anwesenden) steht nicht in Grenzen, ist das nicht in Grenzen zu fassende Unermessliche, das sich im Gegensatz zum Entsprungenen, zum Angefangenhabenden jedem Durchfahren, jeder Erprobung, jedem Maß entzieht. Im Anwesenlassen des Gestalthaften, das menschlicher Erfahrung zugänglich ist, enthüllt und entzieht sich zugleich sein Ursprung ins Gestalt-, Grenzenlose und Unerfahrbare, indem es als dem Anwesenden Anwesen Gewährendes in die Unverborgenheit hervorkommt und in das Verborgene weg- und zurückgeht. Nach Aristoteles kann als Anfang der Physis kein materieller Untergrund (Substrat) bzw. eine einzige stoffliche Ursache infrage kommen, weil aus grenzenlosem Stoff, ungestalteter Materiemasse, nichts in Form kommen kann.87 Das Argument trifft bei hyletischer Deutung, die eine qualitätslose unendliche Ursubstanz annimmt, durchaus für das »Grenzenlose« des Anaximander zu. Aber selbst wenn wir das Apeiron als das Sein, das Anwesen verstehen, hat es eine Beziehung zum Anwesenden, das jeweils gemäß seinem Sein ,west‘. Die Verhältnismäßigkeit zwischen dem je84 Zur Rezeption altorientalisch-ägyptischer Gedanken vgl. O. Keel, Altägyptische und biblische Weltbilder. Die Anfänge der vorsokratischen Philosophie, 40 ff. Nach O. Keel/S. Schroer, Schöpfung, 214 f., hat Anaximander »den Orient besser begriffen als Thales, da die tehom, der nun etc. nicht einfach Wasser sind, sondern ein durch Dunkel (äg. kek/kuk), Unendlichkeit (äg. heh/ hehet) und Geheimnis (äg. amun/amaunet) charakterisiertes urzeitliches Wasser […]. Es ist raumlos (schlafende Himmelsrichtungen) und zeitlos (Uroboros). Auch die Rückkehr alles Entstandenen in den nun ist eine typisch ägyptische Vorstellung.« (215) 85 Dazu vgl. G. Kirk/J. Raven/M. Schofield, Die vorsokratischen Philosophen, 111 f. 86 DKV, Bd. 1, 89: 12. Anaximandros, B. 1. 87 Vgl. Aristoteles, Met. I A 3, 984 a 16 –27.
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weiligen Anwesen und Anwesenden wäre daher aus einem gestaltlos-entgrenzten Apeiron nicht gegeben. Umso mehr muss es daher widersprüchlich erscheinen, dass das nicht fassbare Apeiron laut Überlieferung »alles umfasse (pericein) und steuen)«.88 Geht man jedoch von der hyletischen Deutung ab, so kann das re (kuberna so verstanden werden, dass das Unermessbare, mit dem das Seiende im Ganzen zu sein anfängt, den Seienden jeweils einräumt, als Anwesende anwesend zu sein, d.h. in Grenzen zu weilen, sich einander zu fügen; es bildet einen selbst nicht umfassten und umfassbaren ,Raum‘ des Anwesens für das umfasste Anwesende, das es ,umgibt‘, das so ein nicht-metrisch vorzustellendes ,In-Sein‘ des sich in Grenzen Aufhaltenden ermöglicht und gewährt. Das Apeiron gibt Anwesendes in seinem Anwesen frei. Das Unbegrenzte als das alles durchwaltende Anwesen ist so das ,aktiv‘ Umgreifende (pericon), das alles und jedes Anwesende als Umfasstes sein lässt, allem und jedem seinen Weg weist und die Zugehörigkeit zum Ort des Anwesens fügt. Der wichtigste Beleg für ein Seinsdenken des Anaximander ist ein Ausspruch, der, wie man vermutet, mindestens jene originalen Worte enthält, die in der umstrittenen (und hier ungenügend diskutiert bleibenden) Übersetzung gesperrt wiedergegeben sind: Urgrund »der Seienden ist das Apeiron. […]; woraus [all] das jeweils Anwesende seinen Hervorgang (seine Herkunft) hat, in dieses hinein entsteht auch sein Weggang (Untergang) | gemäß dem, was sich gehört; denn es gewähren sie (die jeweils Anwesenden) Fügung und Genugtuung einander gegenseitig [im Verwinden] des Ungefügtseins | gemäß der Zuweisung der Zeit.«89 Dem mittelbaren Zeugnis für das Apeiron ist zu entnehmen, dass als Physis Sein im Aufgang und Untergang des Seienden zu denken ist, Sein aber als Grenzenloses, aus dem Hervorgang in das Anwesen des Seienden (génesis) und Weggang, Verschwinden (phtorá) aus dem Bereich der Anwesenden. Das Seiende währt im Anund Abwesen, wie der Tag aufgeht und währt, indem er in die Nacht geht, oder wie das menschliche Dasein von Anfang an ein Gang in den Tod ist. Jedes Kommen ist ein Gehen. Was selbst grenzenlos ist, das Sein, lässt zum Vorschein kommen, was in Grenzen gefügt eine Weile währt. Das an sich Unbegrenzte waltet also nicht nur in 88 Aristoteles, Phys. III 4, 203 b 10 –14. Vgl. DKV, Bd. 1, 84: 12. Anaximandros A. 11: Anaximander sagte von der Physis: p1ntaß pericein toß ksmouß (sie »umgreife auch alle Welten«), wobei mit den Welten vermutlich ,Himmelssphären‘ gemeint sind. […] 89 DKV, Bd. 1, 89: Anaximandros, B. 1: […] […] ϑ . , ϑ . Übersetzung in Anlehnung an K.-H. Volkmann-Schluck, Die Philosophie der Vorsokratiker, 52, Kommentierung 51– 60, sowie M. Heidegger, GA, Bd. 5: Holzwege. Der Spruch des Anaximander, 321–373.
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der Fügung der gegenwärtig Anwesenden, sondern im Weggehen der in Grenzen gefügten Weggehenden auf die Weise der Entgrenzung. Das Apeiron ist Uranfang alles Seienden, indem es alles Seiende durchwaltet, alles von ihm her Anfangende durchherrscht, im Hervorgang und Weggang verweilen lässt. Weder ein Bleiben, Beständigsein und Verharren des Anwesenden, ein statisches Sein, noch ein dynamisches Sein, das Werden, Immer-wieder-anders-Sein oder in die Vergänglichkeit Fallende, rückt in den Vordergrund, sondern das aus dem Unerschöpflichen erteilte Währen, An- und Abwesen (in einem zeitlichen Sinn). Im gesperrt gedruckten Textteil kommt eine Begründung für das Gesagte zur Sprache. Das Weilen aus dem Hervorgang in den Abgang geschieht katà tò chreôn. Das wird oft mit »nach der Notwendigkeit«, aber auch mit »nach der Schuldigkeit« übersetzt. Beantwortet wird die Frage, wie das Anwesen das Anwesende (im Ganzen) ins Anwesen schickt, sodass die Anwesenden in Grenzen gewahrt und so als ,Be-endete‘ verweilen. Die Frage lautet also, wie ist das Anwesen, gemäß dem das Anwesende ist (an-wesend ist, ,west‘)? Nichts spricht für eine Notwendigkeit, ein Müssen im Sinne eines unentrinnbaren und verhängnisvollen Fatums, eher passt hier: ein ,Geschick‘, das freigibt, was aus der Saat wird. Man könnte an die Moira, die Schicksalsgöttin, denken, die dem Menschen Glück und Unglück zuteilt. Doch hier klingt etwas an, das man heute gerne als »Geschick des Seins« problematisiert. Das Anwesen teilt dem Je-weiligen eine Weile zu – zwischen der Heraufkunft und dem Weggang, es erteilt einen Anteil; und auch darin klingt ein Grundgedanke abendländischer Philosophie an, nämlich der der Partizipation, der Teilgabe und Teilnahme des Seienden am Sein. Das Anwesen als ápeiron verstanden entspricht dem chreôn. Das Anwesen, das ja kein Anwesendes ist und nicht in Grenzen steht, lässt also anwesen: Es schickt dem je-weilig Anwesenden das Weilen in Grenzen zu. In diesem chreôn liegt auch eine Art von Schuldigkeit, keine moralisch-juridische, sondern Schuldigkeit in einem weiteren Sinne, dass nämlich geschieht, was sich gehört und wie es sich gehört, es sich schickt, oder, wie man heute sagt, ,es passt‘. Der zweite Teil des Originalspruchs spricht angeblich davon, dass die Seienden Dike (Recht, Gerechtigkeit, aber auch Weisung, Fügung) sowie einander Genugtuung (Entgelt) gewähren für ihre Adikia (Unrecht, Ungerechtigkeit). Allem Anschein nach überträgt Anaximander eine rechtlich-moralische Idee, nämlich dass Vergeltung von Ungerechtigkeit eine Strafzahlung erfordert, auf das Weltganze – eine ,Vorstellung‘, die man auf primitivem Gesellschaftsniveau Lebenden zutraut. Vorsichtigere Textzeugen attestieren dem Spruch eine poetische Sprache, was mindestens insofern richtig ist, als das ursprüngliche nennende Sagen noch weit entfernt von einer terminologischen Begriffssprache war. Das ,Recht‘ spricht davon,
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dass jemandem zuteil wird, was ihm zukommt. Von Unrecht spricht man, wenn es ihm nicht zukommt, ihm nicht zuteil wird. Beispielsweise sagt man von einem Pferd, es fügt sich, wenn es der Weisung des Reiters folgt. Fügt es sich nicht, kann man im Griechischen von einem ádikos hîppos (3dikoß ppoß), einem ,ungerechten Pferd‘, sprechen, das unberitten ist und gegen die Weisung bockt. Sollte jedoch wirklich vom singulären Anwesen des Alls der Anwesenden die Rede sein, muss gefragt werden, wie das jeweils Seiende im Recht ist oder ihm Gerechtigkeit wegbleibt, wie es sich fügt oder aus den Fugen gerät. Es kann so walten, dass es mit rechten Dingen zugeht, eben sich fügt: Seiendes weilt und verweilt jeweils und erfüllt so sein Anwesen. Das Anwesende währt und fügt sich, es kommt ihm so Gefügtsein zu. Zu dieser Fügung gehört die Möglichkeit, ,aus den Fugen zu geraten‘. Das Seiende ist also gewissermaßen im Recht, wenn ihm das zukommt, worauf es einen Anspruch hat. Doch es weilt im Übergang vom Hervorkommen zum Hinweggehen, wenn ihm dieses ,Recht‘ nicht mehr zukommt; es ist nicht vernichtet, nicht verschwunden, sondern es kann ,aus den Fugen‘ in das Ungefügtsein geraten. Bedeutet ,Ungerechtigkeit‘ so viel wie sich dem Anspruch des Seins nicht fügen, so erhebt sich erneut die Frage, worin diese ,Ungerechtigkeit‘ näherhin bestehen soll. Kommt dem Seienden so Sein zu, dass es eine zugeteilte Weile währt, so kann es sich gegen den eigenen Weggang sperren; es spreizt sich nicht nur auf, sondern verweigert seinem Gegenteil jenen Aufgang ins Sein, der ihm zusteht. Das jeweilige Anwesende beharrt darauf zu verweilen, es trachtet danach, das ihm zu eigen gegebene Anwesen in dauernden Besitz zu nehmen. Ist in dieser Seinserfahrung, zu der das ,Unrecht‘ gehört, das Wesen alles Anwesenden ausgesprochen? Rühren wir hier an ein uns geläufiges Seinsverständnis, das vom Trend zur Sicherung der Beständigkeit, vom Willen zur Selbstbehauptung des Seienden, vom Kampf ums Dasein (Stichwort: egoistisches Gen) ausgeht? Keineswegs, denn es geht ja um ein Gefügtß dikaß): Anwesendes gibt Recht, fügt sich und sein des Ungefügten (dkhn … th gibt darüber hinaus Genugtuung für die Ungerechtigkeit. Auch eine immanente Tragik im Seinsgeschehen scheint hier nicht angedacht, wenn das tragische Phänomen als unabwendbarer Widerstreit einander vernichtender Mächte von gleich erhabenem Recht verstanden wird,90 eher geht es um Ermöglichung und Aufhebung des Unrechts. Die Betonung liegt auf dem Geben (didnai g!r). Geben heißt hier, dem anderen das ihm Eigene gehören lassen. Genugtuung (tsiß), die gewährt wird, meint hier ein 90 Zum ontologischen Phänomen des Tragischen vgl. M. Scheler, Gesammelte Werke, Bd. 3: Zum Phänomen des Tragischen, 149 –169, hier besonders 154 f., 158.
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Schätzen, ein Entsprechen dem Schätzen gegenüber, ein Anerkennen des anderen in dem, was ihm gebührt und gehört. Der Weggang des einen ermöglicht das andere, in die Anwesenheit aufzugehen: Er lässt das andere rücksichtsvoll sein. Wechselseitig lässt eines das andere im Aufgang und Untergang in anerkennender Bejahung sein. So wird im Gehörenlassen dem Geschätzten ,genug getan‘. Die Weise des Anwesens des Seienden (was sich gehört) ist somit ein Gefügtsein und Sichfügen in das Eigene seiner Zeit, die jeweils zugeschickte Weile seines Anwesens, darüber hinaus eine Weise, wie eines dem anderen das jeweils erteilte Sein zulässt, nicht wegnimmt, sondern so ,zu-gibt‘ und gewährt, dass das, was aus den Fugen geraten anwest, zwar nie endgültig beseitigt, aber doch verwunden wird. Anaximander scheint im Gegensatz zu Thales vom Mythos abgerückt zu sein. Auffallend ist, dass er dem Apeiron Eigenschaften zuspricht, die im Mythos bei Homer und Hesiod von Gott und den Göttern ausgesagt werden. Aristoteles nimmt sogar an, dass Anaximander und die meisten der frühen Physis-Denker ihren ersten Grund, den Urgrund (2rc), für göttlich gehalten haben: »[…] vom Apeiron aber gibt es keinen Anfang […]. Vielmehr scheint dieses der Anfang von allem zu sein, alles zu umgreifen und alles zu steuern, wie das all die sagen, die neben dem Apeiron keine anderen Ursachen (ataß) wie etwa den Geist [nouß: Anaxagoras] oder die Liebe [fila: Empedokles] ansetzten. Ferner sei dieses das Göttliche (t ϑe on); denn es sei unsterblich und unvergänglich (2ϑ1naton g!r ka 2nleϑron), wie 91 Anaximander und die meisten der alten Physiologen sagen.« Wenn die frühen Physis-Denker (wie Thales, Anaximander, Anaximenes, Parmenides, Heraklit) den Urgrund überhaupt für göttlich gehalten haben, folgt daraus nicht, dass sie ihn mit Gott identifiziert haben. Möglicherweise war es Aristoteles, der aus der Kennzeichnung des Urgrundes als unsterblich und unvergänglich, schloss, er müsse das Göttliche sein. Und selbst wenn sie die Göttlichkeit ihres Uranfangs behauptet hätten, folgt daraus nicht, dass sie ihren Urgrund mit dem (obersten) Gott oder einem Gott identifiziert hätten. Man muss nämlich unterscheiden, ob das Göttliche eines Gottes den göttlichen bzw. einen göttlichen Gott unter anderen meint, oder ob jemand oder etwas nur aus seiner Verbindung mit Gott oder den Göttern Göttlichkeit gewinnt und dann von seiner Göttlichkeit geredet werden kann, beispielsweise wenn jemand im aufblitzenden Licht des gottgegebenen Glanzes leuchtend als er selbst hervortritt und Gott oder die Götter so in Erscheinung treten.92 Dazu kommt, dass die Gültigkeit des Kriteriums für die Annahme des Gött91 Aristoteles, Physik. 4, 203 b 6.7–15. 92 Vgl. Pindar, Oden: Pythische Oden 8, 96 (agla disdotoß: gottgeschenkter Glanz).
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lichseins Gottes – Unsterblichkeit und Unvergänglichkeit – gerade bei Anaximander in der Frage nach den Göttern kontrovers war. Überliefert wird, dass Anaximander auch Götter angenommen und sie neu interpretiert hat: Diese Götter sollen nämlich identisch mit unzähligen Welten sein. Dabei fällt einem unwillkürlich die moderne Diskussion über jenseits unserer erfahrbaren Lebenswelt mögliche oder wirkliche Welten und über deren Seinscharakter ein. Diese anachronistische Versuchung sollte einen aber nachdenklich stimmen, denn aus dem Apeiron des Anaximander sollen »alle Himmel und die Welten in ihnen hervorgegangen« sein bzw. »die Himmel und [!] alle die kosmoi«, die ihrerseits wiederum »unendlich (2perouß)« sind.93 Das »und (kai)« könnte hier mit »und das heißt doch wohl …« einen späteren Zusatz einleiten. Doch statt nun bei kosmoi an eine Vielzahl von Welten, die jeweils ein Universum bilden, zu denken, könnten mit ihnen auch bloße Ordnungen (der Bewegung) gemeint sein. Lebensweltlich gibt es ja den Himmel gar nicht, sondern etwa den Tag- und den Nachthimmel mit den jeweiligen Himmelslichtern, die immerwährend, ohne Ende, in majestätisch langsamer Bewegung sind. Der alte Name »die Himmel« mag hier auch die Himmelssphären mit einschließen: also ,Welten‘, die von den Göttern bestimmt, ja als diese anwesend sind. Um das, worauf es hier eigentlich ankommt, zu verdeutlichen, mag ein späteres Zeugnis weiterführend sein. Cicero referiert in De natura deorum, Anaximander nehme an, »die Götter seien gewordene Wesen, die in langen zeitlichen Abständen (longis intervallis) entstünden und vergingen, und so seien sie unzählige Welten«.94 Cicero lehnt das strikt ab: »Wie können wir uns einen Gott anders denken als ewig?« Doch sein Bericht fügt sich gut in den Grundgedanken des Anaximander ein, der das Seiende aus dem, was ohne Grenzen ist, aus dem Hervorgang in das Anwesen des Seienden und Weggang aus dem Bereich der Anwesenden, denkt. Zudem ist die Nähe zum Mythos, insbesondere zur Theogonie des Hesiod, unverkennbar, der ein weltbildendes Heraufkommen und Vergehen der Götter kennt. Dann wären die Götter im Unterschied zum sterblichen Menschen nur vergleichsweise Unsterbliche, aber nicht Unvergängliche. Ob nun Anaximander die Göttlichkeit des Apeiron gelehrt hat oder nicht, die Denkfigur ist bemerkenswert und wir werden immer wieder auf sie zurückkom93 DKV, Bd. 1, 83, Zeilen 7 und 29 f.: 12. Anaximandros, A. 9 und 10. Zur daraus entstandenen Debatte vgl. G. Kirk/J. Raven/M. Schofield, Die vorsokratischen Philosophen, 133–138. Ich folge hier der Interpretationsintention von W. Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, 251 ff. 94 M. T. Cicero, Vom Wesen der Götter, I, 26, 34 f.
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men, denn es wird kein Gott angenommen, dem diese und jene Eigenschaften zugeschrieben werden, sondern aus dem Aufgang dessen, was ist, wird etwas erschlossen, von dem gesagt wird, es sei das, was man das (vorzüglich aus dem Bereich der Religion bekannte) Göttliche, den einen oder einen Gott nennt, oder es sei das Göttliche Gottes, aus dem die Götter hervorgehen, oder eine von Gott und den Göttern herstammende Göttlichkeit. Damit wird zwar auf den Mythos bzw. die Religion Bezug genommen, doch anscheinend ohne unmittelbar religiösen Sinn, ohne dass es um die Verehrungswürdigkeit des Gottes oder der Götter ginge. Doch angesichts des Mangels an überlieferten Aussagen über den Gott und die Götter sind daraus keine eindeutigen Schlüsse zu ziehen.
1.2.2.3 Xenophanes von Kolophon († um 470 v C)
Hinsichtlich der Überlieferung sind wir bei den Versen des Xenophanes in einer besseren Situation. Er soll ein Lehrgedicht »Über die Physis« verfasst haben. Zwar knüpft, was er über das physische Seiende dichtete, an die milesischen Physis-Denker an, soll diese aber angeblich unterbieten. Jedoch kommt in anderer Intention, die wohl die Zuhörer ansprechen musste, Neues zutage: Da ist zunächst einmal im Aufgang je eigenen Daseins »alles [sichtbar Anwesende] aus Erde, und in Erde endet alles (p1nta i)«95 – wie für die Sterblichen ihre Welt. Wir treffen auf ein leibhaftig geerdeteleuta tes Daseinsverständnis, das sich von der phänomenal gegebenen Umwelt ansprechen lässt: »Von der Erde sieht man diese [ihre] Grenze (peraß) nach oben hin zu seinen Füßen, so wie sie an die Luft anstößt. Das nach unten hin aber geht ins Unbegrenz96 te (3peiron).« Das hat alles nichts mit einer primitiven Elementenlehre oder Physik zu tun, vielmehr ist es die lebensweltliche Räumlichkeit des Daseins; sie kennt diese Dimensionen des Oben (oberhalb) und Unten (unterhalb). Oberhalb schwingt sich die Sonne über die Erde und erwärmt sie (und uns).97 Der Boden, auf dem wir stehen, unser schmaler und dennoch tragender Untergrund, erstreckt sich ohne Grenzen in die Weite und Tiefe. Vielleicht ist hier das Urwasser (mit) angesprochen, denn nun ist »Erde und Wasser alles, so viel da entsteht und wächst (gnont[ai] d fontai)«.98 Dies alles wieder im daseinsmäßigen Bezug: »Wir alle sind entstanden aus Erde und Wasser (kgenmesϑa).«99 Dann aber weiter ausholend: »Das Meer ist die Quelle des 95 DKV, Bd. 1, 135: 21. Xenophanes, B. 27; Übersetzung auch der nachfolgenden Fragmente nach W. Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, 301–306. 96 DKV, Bd. 1, 135: 21. Xenophanes, B. 28. 97 Vgl. a.a.O., 136, B. 31. 98 A.a.O., B. 29. 99 A.a.O., B. 33.
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Wassers, die Quelle des Windes.« Denn ohne das riesengroße Meer – blicken wir nur einmal auf das, was sich da draußen zusammenbraut – entstehen nicht Wolken, Winde, Regen und Ströme.100 Das mag genügen, um zu zeigen, dass unser Weltaufenthalt auf der Erde angesprochen wird. Man kann erwarten, dass Xenophanes diesen Boden phänomenaler Gegebenheiten in seinem Denken nicht verlässt. Der Denkanfang des Xenophanes unterscheidet sich von dem der milesischen Physis- und Seinsdenker, insofern er ausdrücklich ethisch-religiös motiviert ist. Xenophanes setzt sich kritisch mit dem Mythos auseinander und bringt, wenn man es retrospektiv so nennen will, die ,Physis‘ des einen Gottes und der Götter neuartig zur Sprache. Noch nicht religiös-reformatorisch, sondern allgemein ethisch erscheint die Sozialkritik am Luxus und Vornehmtun der Reichen. Kritik wird auch an der hohen Einschätzung sportlicher Wettkämpfe geübt, wo der rohen Kraft von Männern und Pferden statt der ,Tüchtigkeit‘ in Weisheit der ehrenvolle Vorzug eingeräumt wird. Die Stadt (polis) werde durch die sportlichen Leistungen nicht in eine bessere Verfassung versetzt.101 Doch ein Aufruf zum »Symposion«, dem gemeinsamen Trinken, unterscheidet sich beachtenswert von anderen; nicht nur dadurch, dass er zu maßvollem Trinken auffordert, sodass man noch allein, ohne Begleitung, nach Hause findet (sollte man nicht gerade altersschwach sein), sondern weil es ein festlich gestimmtes Trinken sein soll, das unter ethisch-religiösen Reinheitsgeboten steht, um dem Heiligen Raum zu geben: »Denn nun ist ja der Fußboden rein und aller Hände und die Becher. Gewundene Kränze legt uns einer ums Haupt, ein anderer reicht duftende Myrrhensalbe in einer Schale dar […]. In unserer Mitte sendet heiligen Duft der 102 Weihrauch empor, kaltes Wasser ist da, süßes, lauteres […].« Ein in der Mitte stehender, mit Blumen geschmückter Altar wird hervorgehoben. Bevor sie trinken und essen (Brot mit Käse und Honig zu sich nehmen) »sollen den Gott preisen Männer von rechter Gesinnung, mit Göttergeschichten (mythois), die heilig rein sind (euphémois) und mit reinen Worten«.103 Auffallend ist, dass Xenophanes zunächst »den Gott« nennt, der zu preisen ist, und keine Vielzahl an Göttern. Auch sie sollen zur Sprache kommen, aber in einer Weise, die von ihnen nichts Unmoralisches denkt; es können also nicht unterschiedslos und unverändert die Mythen der Volksreligion sein, denn sie müssen die läuternde Kritik der Religion bestanden haben, auf die noch einzugehen sein wird. Kommen aber die Götter geläutert 100 Vgl. a.a.O., B. 30. 101 Vgl. a.a.O., 128 ff., B. 2–3. 102 A.a.O., 126 f., B. 1. 103 Ebd. Übersetzung nach W. Schadewaldt.
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zur Sprache, so doch nur, um den einen Gott zu preisen. Besagt solches feierliches Preisen ( mne n) des Gottes, dass man ihn in seinem herrlichen Wesen und Walten angemessen hervortreten lässt und ans Licht bringt, dann wird verständlich, warum gerade die Göttergeschichten den einen Gott preisen, nämlich wenn dieser sich selbst in ihrem Walten zeigt und diese ihn in konkreten Ereignissen enthüllen. Das Symposion wird hier zum Gottesdienst, zur kultischen Feier mit Essen und Trinken, bei dem der eine Gott des Xenophanes vor allen Göttern und durch sie in das Zentrum rückt. Die Feier beginnt mit dem Lobgesang der einsichtsvollen Männer; hinzu kommt die Darbringung eines Trankopfers sowie ein Bittgebet um Verleihung der Kraft, Gerechtes (tà díkaia) vollbringen zu können. »Unter den Männern soll man den preisen, der, wenn er [maßvoll] trinkt, edle (sϑl!, wahre) Dinge ans Licht führt« und sich nicht wie üblich danebenbenimmt. »Dabei soll man nicht von den Kämpfen der Titanen, Giganten und Kentauren reden, plásmata, phantastischen Dingen der Vorzeit, und auch nicht vom Bürgerzwist […], sondern man soll immer der Götter gedenken, das ist gut (2gaϑn).«104 Das geforderte kultische Gedenken hat sich aus der Tagespolitik herauszuhalten und es ist gut, da den Göttern nichts Ungutes nachgesagt werden kann und darf, denn – man wird es zusammenfassend kaum anders sagen können – insofern sie im guten Handeln selber anwesend sind, erweisen sie letztlich den einen Gott als gut. Die Religionskritik des Xenophanes entfaltet sich vor allem in einer Mythenkritik. Diese ist wiederum mitbestimmt von der Relativierung der eigenen Götter durch die Bekanntschaft mit den fremden sowie von einem Mythenverständnis, das die Mythologie aus einem geläuterten und vertieften Gottesverständnis unter sittliche Maßstäbe stellt und moralisch bemängelt. Zunächst die Relativierung der Gottesvorstellungen durch Rückführung auf ihre Urheber: »Die Äthiopier (Schwarzen) behaupten, die Götter seien stumpfnasig und schwarz, die Thraker, [behaupten, sie seien] blauäugig und rothaarig.«105 Und dann dasselbe voller Spott: »Doch wenn die Ochsen und Rosse und Löwen Hände hätten und malen könnten mit ihren Händen und Werke hervorbringen wie die Menschen, dann würden die Rosse rossähnliche und die Ochsen ochsenähnliche Göttergestalten malen und sol106 che Körper bilden.« Jede Theogonie ist abzulehnen, denn die Götter können nicht, wie Hesiod berichtet, entstanden sein und dazu noch menschliche Erscheinungs- und Verhaltensweisen angenommen haben: »Doch wähnen die Sterblichen, 104 A.a.O., 127 f., B. 1. 105 A.a.O., 133, B. 16. Übersetzung auch der nachfolgenden Fragmente leicht verändert nach DKV. 106 A.a.O., 132 f., B. 15.
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die Götter würden geboren und hätten Gewand und Stimme und Gestalt wie sie selbst.«107 Solche Gottesvorstellungen, die man dem menschlichen Verhalten angepasst hat, entstellen die Göttlichkeit der Götter, besonders aber durch ihre moralische Bedenklichkeit: »Alles haben Homer und Hesiod den Göttern angehängt, was bei Menschen Schimpf und Schande ist: Stehlen und Ehebrechen und einander Betrügen.«108 Aus dem Gesagten folgt, die Menschen haben sich die Götter nach ihrem eigenen Bild und dem ihrer eigenen Unmoral ausgemalt. Diese Kritik an der mythologischen Dichtung betrifft, wenn man sie ernst genommen hätte, auch die gesamten Bildwerke und Statuen der Götter des griechischen und römischen Altertums. Doch der verbale Bildersturm (Ikonoklasmus) scheint damals wirkungsgeschichtlich völlig folgenlos geblieben zu sein. Die Mythenkritik des Xenophanes hat das Dasein der Götter in keiner Weise bestritten, sondern nur den Anthropound Heromorphismus der traditionellen Vorstellungen über die Götter verworfen. Sein kritisches Anliegen zielte auf Unterscheidung, Läuterung, Vertiefung des mythischen Religionsverständnisses. Fast könnte man vom ersten Religionsphilosophen des Abendlandes sprechen. Den Blick auf den Himmel und die ganze Welt gerichtet, soll Xenophanes gesagt haben, der Gott sei nur ein einziger.109 Das hat weder etwas mit Monotheismus und schon gar nichts mit Pantheismus im geläufigen Sinn zu tun, denn einerseits ist der Gott kein Mensch, seine Wesensart und Erscheinungsweisen sind ganz und gar nicht menschenförmig, und andererseits ist er auch nicht einer der Götter, wenn auch unter den vielen Göttern der Größte: »Ein einziger Gott, unter Göttern und Menschen am größten, weder an Gestalt den Sterblichen ähnlich [gleich geartet] noch an Gedanken.« Gott ist hierbei nicht nur graduell, sondern durch die Wesensart seiner Singularität und seines Ranges von den Göttern verschieden:110 »Gott ist ganz Auge, ganz Vernehmen (noe), ganz Ohr«, d.h. als Ganzer sieht er, als Ganzer gewahrt er, und als Ganzer hört er.111 So ist er, mit dem Ganzen (der von ihm unterschiedenen Physis?) sin), überall in der Welt da. In unzusammengewachsen (tn ϑen sumfuh toß pa 107 A.a.O., 132, B. 14. 108 A.a.O., 132, B. 11; vgl. B. 12. 109 Aristoteles, Met. I, 5, 986 b 24: »Auf den ganzen Himmel blickend, sagt er, das eine sei Gott.« 110 DKV, Bd. 1, 135: 21. Xenophanes, B 23: e ß ϑeß, n te ϑeosi ka 2nϑrpoisi mgistoß, oti dmaß ϑnhtosin mooß od nhma. Vgl. zu diesem vieldiskutierten Fragment W. Pötscher, Hellas und Rom: Zu Xenophanes, Fragm. 23 (143–162): »Die Götter sind nicht mehr einfach die zankenden, um Opfer und Liebesabenteuer buhlenden des Mythos, sondern diese als in so vielem verkannte Erscheinungsformen des einen Gottes, der doch in ihnen präsent ist und durch sie adäquat repräsentiert wird. […] Den Menschen also wird er [der eine Gott] in den Göttern sichtbar.« (148 f.) 111 DKV, Bd. 1, 135: 21. Xenophanes, B. 24.
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geteilter, vernehmender Offenheit lässt er alles seinem Anwesen nach sein. Er ist ein Hineinblickender, Gewahrender, Vernehmender; dies impliziert seine Allgegenwart, ohne dass daraus folgt, er sei dem Bestand nach mit dem, was er gewahrt, dem All, identisch. Insofern ist jeder Pantheismus ausgeschlossen. Gott ist dem entsprechend ohne Ortsbewegung, da er doch weder dahin oder noch dorthin geht, was eine anthropomorphe Vorstellung wäre; »er verweilt immerdar am selben Ort«, oder besser: hält er sich auf diese Weise auf, »und bewegt sich nicht«, aber umgekehrt scheint es, dass dieser, wie sollte man ihn anders nennen, ,unbewegte Beweger‘ alles zu bewegen vermag, und zwar »ohne Mühe« geradezu tänzerisch: Wie ein Tänzer die Tänzerin führt und sich selbst drehen lässt, »schwenkt er«,112 »schwingt er«, »erschüttert er« – die Übersetzungen von pánta kradaínei (p1nta kradanei) gehen hier auseinander – »alles durch den Gedanken seiner Vernunft (nou fren)«113. Auf Aristoteles vorgreifend übersetzt Wilhelm Capelle: »Doch ohne Mühe bewirkt er den Umschwung des Alls durch des Geistes Denkkraft.«114 Das Motiv der Religionskritik des Xenophanes muss aus zutiefst religiöser Betroffenheit von der verehrungswürdigen Erhabenheit seines Allgottes gekommen sein. Dieser überragt alle Götter so, dass man sich fragen konnte, wie es neben ihm überhaupt noch Götter geben kann. Doch Xenophanes gibt den Mythos nicht preis, er scheint in ihm beheimatet zu sein. Dass der eine Gott der größte unter den Göttern ist – das ist wohl mythisches Theologisieren –, heißt ja, dass er unter ihnen so gegenwärtig und in ihnen anwesend ist, dass sie seine Gerechtigkeit auf mannigfaltige Weise, der Eigenart der Daseinsbereiche entsprechend, manifestieren. Wahrscheinlich knüpft diese Auffassung an der überragenden Stellung des Zeus an, insofern er im Mythos unparteiisch und unbewegt im Götterkampf verbleibt. Mythisch erzählt ist der Gott zur Durchsetzung seines gerechten Willens auf die ,Mitarbeit anderer Götter‘ verwiesen, was mit anderen Worten heißt, dass die jeweiligen Daseinsbereiche der Götter das Gottsein des einen Gottes auf ihre besondere Weise zur Erfahrung kommen und anwesend sein lassen. In der späteren Schrift Über Melissos, Xenophanes, Gorgias wird berichtet, dass Xenophanes Gott für kugelförmig hielt,115 was wir nicht wörtlich von ihm überliefert haben. Aber kann man den erfahrenen Kritiker des Anthropomorphismus für so naiv halten, dass er sich Gott als Riesenkugel vorgestellt hätte? Indes ist nicht 112 W. Bröcker, Die Geschichte der Philosophie vor Sokrates, 22, weist auf den Zusammenhang des Wortes kradaínei (kradanei) mit dem Wort kórdax (krdax) hin, das einen Tanz bezeichnet. 113 DKV, Bd. 1, 135: 21. Xenophanes, B. 26 und 25. 114 W. Capelle, Die Vorsokratiker, 122. 115 DKV, Bd. 1, 117 f., 119 f., 122: 21. Xenophanes, A. 28, dort »de Melisso Xenophane Gorgia«, c. 3, 977 b 1 (7. 8. 11); c. 4, 978 a (8); 979 a (19), ebenso A. 33, 2.
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auszuschließen, dass Xenophanes Gott mit einer Kugel als Sphäre in sich vollendeter Vollkommenheit verglichen hat. Auch Empedokles (490 – 430 v C) – er scheint Xenophanes gekannt zu haben116 – hat Gott einen kugelförmigen Sphairos genannt. Doch weist das in eine andere Richtung; er spricht von einem Urzustand des Seinsganzen als Kugel,117 und zwar als etwas, das mit vollkommener Freude erfüllt ist.118 Doch aus ihr, der (mythisch gesprochen ,hochzeitlichen‘) Liebe, entsteht erst alles andere. Sie ist Anfang eines Differenzierungsprozesses, des verderblichen, gleich ursprünglichen Streits und der Rückverwandlung der Welt des Gewordenen in die Ureinheit – ein Zyklus äußerster Bewegtheit mit ruhigen Zwischenzeiten.119 Diese Einheit des Sphairos erinnert an den altorientalischen Mythos vom Weltenei. Aber auch dieser Gedanke führt hier nicht weiter. Die Kugel des Xenophanes gleicht in keiner Weise dem Weltenei, sie ist auch nicht mit dem Gedanken des Alls als einer Kugel oder dem Sein bei Parmenides120 zu verwechseln: dort übrigens auch nicht identisch mit einer Kugel, sondern nur »vergleichbar [!] dem Maße einer wohlgerundeten Kugel, von der Mitte aus überall gleichgewichtig«. Über eine Abhängigkeit von Parmenides, der laut Überlieferung ein ,Schüler‘ des Xenophanes war (was immer man darunter verstehen kann), oder über eine rekonstruierte umgekehrte Abhängigkeit zu streiten, führt hier wenig weiter. Der Vergleich mit einer Kugel kann den Gott als das in reiner Vollkommenheit ringsum das All Umschließende meinen. Er selbst wäre dann ohne Grenzen gegenüber dem Sein, das er durchwohnt und das in ihm ,west‘; so trüge und umgriffe er das All, wäre es aber nicht dem Bestand nach (viel später wird er der in reiner Gestaltlosigkeit – amorphía – Anzubetende). Bei Parmenides jedoch gleicht die Kugel in ihrer vollkommenen Gestalt der großen Zusammengehörigkeit von vernehmendem Gewahren und Sein, für die es von außerhalb keinen Beobachterstandpunkt geben kann; sie bildet eben die Sphäre, in Bezug auf die nichts ist, kein Sein außerhalb ist und sein kann. Die theologisch-ethische Motivation des Xenophanes und die ontologische des Parmenides driften (auf der Suche nach einem sie allenfalls verbindenden PhysisDenken) beachtlich und völlig unvermittelt auseinander. Wir werden demgegenüber bei Platon und Aristoteles auf sehr unterschiedliche Weisen auf einen Zusammenhang stoßen, der die Polisreligion bei Platon (1.2.2.4) und die Ethik bei Aristoteles (1.2.2.5) mit dem im Physisdenken erschlossenen ,metaphysischen‘ Anfang zusam116 Vgl. die dichterische Umformulierung der Anthropomorphismuskritik des Xenophanes in: DKV, Bd. 1, 365 ff.: 31. Empedokles, B. 134. 117 A.a.O., 325, B. 29 und 31. 118 A.a.O., 324, B. 27. 119 A.a.O., 290, A. 38; 315 ff., B. 16 f.; Aristoteles, Physik VIII 1, 250 b 26 ff. 120 DKV, Bd. 1, 238: 28. Parmenides, B. Fragm. 8, 43.
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menführt. Spätere Platoniker wie beispielsweise Philon von Alexandrien haben offensichtlich recht problemlos Gott mit der Idee des Guten identifiziert.121 Unter den Vorsokratikern hat das wahrscheinlich nur Empedokles getan, eindeutig jedoch der Vorplatoniker Diogenes von Apollonia (5. Jhd).122 Er identifiziert Gott mit der Luft, oder richtiger: Er erfährt das, was das Göttliche auszeichnet, in verschiedensten Abwandlungen anwesend als das, was dem Urelement Luft am nächsten kommt. Was er mit Luft meint, schließt vermutlich wiederum eine hyletische Deutung aus, welche die physische Luft zum Prinzip erhebt. Sie ist im Anschluss an Anaxagoras von Klazomenai ein noetisches Prinzip durchlässig-vernehmender Offenheit. Der Gott wäre demnach wie die Luft und mit der Luft, die überall weht, als die eigentliche Luft, die Urluft, da; er durchdringt alles mit seinem Anwesen und Walten. In allem ist er da, lenkt und durchherrscht alles, und zwar so, dass die Physis kein Werk blinden Zufalls ist, sondern in ihr alles teleologisch geordnet ist.
1.2.2.4 Platon (428/427–348/347 v C)
a) Anbahnung der theologia tripartita Das mythische, physische und politische Reden von Gott tritt bei Platon – aus dem Blickwinkel der theologia tripartita geurteilt – erstmals vorterminologisch in seinen wesentlichen Bahnungen greifbar hervor, und zwar aus einem überragend differenzierten philosophischen Gesamtverständnis heraus. Damit wird eine erste vorläufige Klärung des systematischen Ortes der philosophischen Theologie innerhalb dieser drei Theologien möglich. Wahrscheinlich hat Platon den Namen »Theologie« geprägt. Er findet sich jedenfalls im zweiten Buch der »Politeia«, wo die berühmten »Grundrisse über die Theologie« oder Theologietypen eingeführt werden.123 Er gebraucht das Wort theologia nur ein einziges Mal, da aber nicht beiläufig, sondern in Gestalt eines richtungweisenden Titels. Es handelt sich um den Titel einer Aufstellung von gesetzlich zu regelnden Richtlinien (gewissermaßen Lehrinhalten, Kriterien und Zensurvorschriften), nach denen sich die Dichter bei ihren mythologischen Epen, Liedern und Tragödien richten sollten, damit eine angemessene sittlichreligiöse Sozialisation gesichert werden könne. Diese typoi der theologia werden 121 Vgl. hierzu vor allem M. Bordts Hinweis (in: Platons Theologie, 150), dass Platon im Gegensatz zu vielen Platonikern »in weiten Teilen der überwiegenden Mehrheit der Vorsokratiker [folgt], die ihr erstes Prinzip auch nicht mit Gott identifiziert haben«; dazu ausführlicher 153–159. 122 Vgl. W. Jaeger, Die Theologie der frühen griechischen Denker, 188–195; über das erste Prinzip: 290 f. 123 Platon, Rep. 379 a 5 f.: o tpoi per ϑeologaß. Zum Folgenden und zur Diskussion im Einzelnen vgl. die grundlegende Monografie von M. Bordt, Platons Theologie.
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im Zusammenhang mit der Frage entwickelt, wie eine Polis zu gründen sei, in der Gerechtigkeit entstehen könne, und wie die Bürger dahingehend zu erziehen seien. Die Richtlinien waren für die ,Dichter‘ bestimmt, die gewissermaßen die Funktion von Religionspädagogen hatten. In der Athener Oberschicht befand man sich erst im Übergang von der Gedächtniskultur zur Schriftkultur und ließ die Schüler die großen Epen Homers, die Ilias und die Odyssee, auswendig lernen. Eine eigens auf den Grund gehende Kenntnis dieser Richtlinien war weniger für die ,Religionspädagogen‘ als vielmehr für die Wächter notwendig, aus denen die Herrscher hervorgehen sollten; dazu gehörte das Wissen um die philosophische Begründung der Richtlinien, die gleichfalls in der Politeia (sowie in anderen platonischen Dialogen) gegeben wurde. Die Voraussetzung für den Vorschlag solcher gesetzlichen Regelungen ist das politische Verständnis der Religion, das später als »politische Theologie« terminologisch gefasst wurde, ein inzwischen vieldeutig gewordener Begriff, der noch eigens zu bedenken sein wird: Die Polis hat nur Bestand, wenn ihre Bewohner ein möglichst gutes Leben führen, wofür die Staatsorgane Verantwortung zu tragen und worüber sie zu wachen haben. Staatstragend ist vor allem das rechte Sichverhalten in der wahren Religion und in der religiös begründeten Moral, und dieses hängt vor allem davon ab, was die Bürger über Gott und die Götter denken (und den Autoritäten glauben) sollen. Doch genau hierin weist die religiöse Erziehung gravierende Mängel auf, wenn sie bedenkenlos Falsches und frei Erfundenes tradiert,124 und zwar den Göttern Handlungen zuschreibt, die diese unmöglich ausgeführt haben können, wie beispielsweise die Kastration des Uranos durch seinen Sohn Chronos – ungerechte und korrupte, die Menschen ängstigende und andere verwerfliche Verhaltensweisen. Der leidenschaftliche Angriff richtet sich gegen unhaltbare Darstellungen der Götter bei Homer, Hesiod und anderen nicht genannten Dichtern, die einen verderblichen Einfluss auf die Charaktere junger Menschen haben müssten. Denken wir an Xenophanes, so steht Platon bereits in einer Tradition heftiger und spöttischer Kritik an den Mythen, die nur von Heraklits Beschimpfung übertroffen wird: »Homer verdiente, aus 125 den Kampfspielen verjagt und mit Geißelhieben traktiert zu werden.« Schärfe und realistischer Ernst der »Mythenkritik« Platons werden verständlicher, wenn wir im »Euthyphron« dem Dialog des Sokrates mit einem Priester, der von wirklicher Frömmigkeit keine Ahnung hat, folgen. Sokrates fragt ihn: »Glaubst du wirklich, etwas dieser Art habe sich zugetragen: […] dass die Götter Krieg führen 124 Platon, Rep. 377 a 1–7. 125 DKV, Bd. 1, 160: 22. Heraklit, B 42 (Übersetzung J. Pieper).
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untereinander, dass sie einander Feind sind, dass es Schlachten gegeben hat – und solcherlei Dinge mehr, wie die Dichter sie erzählen und wie man sie auf den Bildern sieht, mit denen die Maler unsere Heiligtümer schmücken? Sollen wir sagen, dies 126 sei die Wahrheit?« Man muss sich die Situation, in der diese Worte gesprochen werden, vergegenwärtigen: Die beiden, Sokrates und der Priester, begegnen einander im Gerichtsgebäude der Polis. Der Priester hat seinen eigenen Vater wegen Totschlags angeklagt. Gegen Sokrates ist bereits die Anklage wegen Gottlosigkeit erhoben worden, und zwar, wie er vermutet, deswegen, weil es ihn mit großem Widerwillen erfüllt, »wenn so [unkritisch] von den Göttern gesprochen wird«. Josef Pieper sagt dazu treffend: »Platon gibt hiermit zu verstehen, dass Sokrates für diese sehr besondere Art von ,Mythenkritik‘ in den Tod gegangen sei – nicht also weil er eine Wahrheit geleugnet, sondern weil er die Wahrheit über die Götter, wie sie in der legitimen heiligen Überlieferung und auch den von ihm selbst erzählten Mythen zutage tritt, gegen den Unernst spielerischer Phantastik verteidigt habe.«127 Vor diesem Hintergrund ist das Projekt der »Politeia« gewachsen, in der die Antwort des Sokrates an seinen jungen Gesprächspartner Adeimantos, den Bruder Platons, verständlich wird. Dieser fragt Sokrates, welche Geschichten über die Götter anstelle der Lügen-Mythen (Pseudo-Mythen)128 erzählt werden sollen. »Adeimantos, wir sind jetzt keine Dichter, ich und du, sondern Gründer (okista) einer Polis. Als Gründer müssen wir zwar die Grundzüge (typoi) kennen, nach denen die Dichter die Mythen dichten müssen und von denen sie nicht abweichen 129 dürfen, nicht aber selbst Mythen dichten.« Adeimantos bestätigt das, versteht, dass es um Grundsätzliches geht, und fragt daher weiter: »Aber nun eben diese 130 Grundzüge (typoi) in bezug auf die Theologie (peri theologias), welche wären sie?« Das Wort »Theologie« wird wie etwas Bekanntes vom Gesprächspartner eingebracht. Sokrates antwortet: »Eben wie Gott in Wahrheit ist […], so muss er immer dargestellt werden […].«131 Die Typen über Theologie stellen dar, wie Gott in Wahrheit ist. Die Frage ist, was unter Typos, Theologie und Wahrheit über Gott zu verstehen ist. Theologie meint hier selbstverständlich keinen Fachbereich. Die Vorschriften beziehen sich auf das Reden derer, die man Theologen nannte, die von Gott und den Göttern künden, ihn und sie zur Sprache bringen. Ihre Theologie war Dichtung: die später mythisch ge126 Platon, Euthyphron 6 b – c (Übersetzung J. Pieper). 127 J. Pieper, Werke in acht Bden., Bd. 1: Über die platonischen Mythen, 332–374, hier 367. 128 Platon, Rep. 382 e 6. 129 A.a.O., 378 e 8 –379 a 4. 130 A.a.O., 379 a 5 f.: ϑ. 131 Vgl. a.a.O., 379 a 8: ϑ […], d.h. wörtlich, wie er, der Gott, „sich ereignet“.
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nannte Theologie. Sokrates, der kein Dichter sein will, ging es um das Erstellen von Typoi mythischen Redens über Gott. Ein Typos ist etwas, das einen Abdruck hinterlässt, wenn es in etwas eingeprägt wird, so wie ein Siegel seinen Abdruck hinterlässt, wenn es ins Wachs gedrückt wird. Diese Typen sollen gewiss als Vorschriften, Regeln und Regelungen in der Polis zur Geltung kommen, aber da es um die Wahrheit über Gott geht, sind sie zunächst Grundzüge (skizzenartige Umrisse, Grundrisse), die in den Kompetenzbereich der Philosophie fallen: Vorgreifend auf die mittleren Bücher der Politeia interpretiert sind sie ,Urbilder‘ im Sinne der platonischen Ideen, an denen das Abbild teilhat, also ein ursprünglich entdeckendes Reden, und zwar weil gesagt werden soll, wie Gott seiner Physis gemäß ist, womit eine Thematik der später so genannten physischen Theologie vorweggenommen wird. Zusammenfassend kann man aus retrospektiver Sicht der theologia tripartita sagen, das Projekt befasse sich mit ,physischer‘ Theologie, die der politischen Theologie vorschreibt, nach welchen auf der Basis physischer Theologie begründeten Richtlinien ihre staatlichen Organe die mythische Theologie zu überwachen haben. Die bedrohliche Aktualität des platonischen Projektes durch das konfliktreiche Wiedererwachen gar nicht so unähnlicher, sich repressiv bestimmender Staatsgebilde in den letzten hundert Jahren unserer Weltgeschichte, die von theologischen oder atheistischen ,Ideo-logien‘ bestimmt waren und sind, ist selbstredend. b) Zur physischen Theologie Platons Platon gibt inhaltlich die Grundzüge der Richtlinien für die Dichter an, wobei er ohne umständliche Begründung nur thesenartig skizziert, wie »Gott in Wahrheit ist«. Darauf sei verkürzt eingegangen:132 Vor allem ist Gott in Wahrheit gut (agathos); er ist daher die Ursache (aitia) der guten Dinge, aber nicht aller Dinge; er kann ja nicht die Ursache der schlechten Dinge sein.133 Der Gott ist in jeder Hinsicht vollkommen,134 es mangelt ihm nicht an Schönheit und Tugend.135 Dem Gott kann die Unwahrheit nicht nützlich sein,136 er ist einfach und wahr137 und auch kein Zauberer,138 sodass er, wie viele Dichter behaupten, seine Gestalt verwandeln, aus
132 Zur ausführlichen Kommentierung vgl. vor allem wieder M. Bordts Standardwerk, Platons Theologie, 55–144. 133 Vgl. Platon, Rep. 379 b 3 – c 8; 380 b 1–7; 380 c 9 f. 134 A.a.O., 381 b 4. 135 A.a.O., 381 c 1 f. 136 A.a.O., 382 d 5–7. 137 A.a.O., 382 e 10. 138 A.a.O., 380 d 1.
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ihr heraustreten und vielerlei Gestalten annehmen könnte.139 Dagegen ist er unveränderlich und unbewegt.140 Das Gutsein Gottes ist solcher Art, dass es ihn (von ihm aus) zum besten aller Wesen macht. Den Besten würde jede Veränderung nur in einen schlechteren Zustand versetzen.141 Der unvermittelte Übergang von der Kritik an den Göttererzählungen, der Frage des Adeimantos nach den Vorschriften für das Reden der Dichter über die Götter, zu dem Gott in der Einzahl, wie er in Wahrheit ist, entspricht, wie Bordt überzeugend nachgewiesen hat,142 dem platonischen Denktypus, der das, was jeweils eine zu bestimmende Sache ist, als Abbild, das am Urbild ontologisch teilhat, aufzuzeigen sucht. Insofern gilt das, was hier von dem Gott gesagt wird, für die Götter der Dichter. Der Unterschied zwischen Gott und den Göttern ist ein sachlich-systematischer. Die Konsequenz ist, dass man nicht noch einmal nach einem Urbild, welches das Göttliche (to theion) Gottes wäre, und in diesem Sinne nach einem ,Wesen‘ Gottes fragen kann. Was es überhaupt heißt, ein Gott zu sein, wird hier am Paradigma des einen obersten Gottes im Sinne eines Urbilds für die Götter, die ihn in Vielfalt abbilden, charakterisiert. Nach einer zusätzlichen Idee Gottes wird also nicht gefragt und ist auch gar nicht zu fragen, wenn Gott strukturell (systemkonsistent) diejenige Stelle innehat, die in anderen Textzusammenhängen die Idee des Guten und schließlich die Vernunft (nous) einnimmt. Michael Bordt hat in seiner Darstellung von »Platons Theologie« auch überzeugend nachgewiesen, dass es Platons besondere philosophische Leistung war, einen starken Zusammenhang zwischen dem Gott der Polis-Religion und der Idee des Guten nahezulegen. Zudem erklärt Bordt hinreichend, warum Platon im Gegensatz zu vielen Platonikern (z.B. Philon von Alexandrien) an keiner Stelle die Identität von Gott und der höchsten Idee explizit behauptet. Zu beachten sind nämlich die verschiedenen Kontexte: Wo es um die Erziehung der Wächter zur GerechtigkeitsMoral in der Polis geht, die ohne entsprechende religiöse Erziehung unmöglich erscheint, ist von Gott und den Göttern die Rede. Wo es um die Untersuchung des letzten Prinzips der Realität geht, legt sich ein anderer Kontext nahe, den Bordt der Metaphysik zuordnet; in ihm geht es um Fragen der Ermöglichung des Verstehens und der Begründung religiöser Aussagen.143
139 A.a.O., 381 b 6. 140 A.a.O., 380 d 1 – 383 c 7. 141 A.a.O., 381 b 8 – c 10. 142 Vgl. dazu M. Bordt, Platons Theologie, besonders 85– 95; zum Zusammenhang zwischen Gott und der Idee des Guten: 145 ff. 143 Dazu a.a.O., 147–166, 238–248.
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Mit der Aussage, dass Gott gut sei, steht Platon zwar innerhalb einer mythenkritischen Tradition, die untersagt, dass man Gott und/oder den Göttern ,negative‘ Eigenschaften zuschreibe, da er oder sie gerecht seien; es gab darüber jedoch keinerlei allgemeinen Konsens, nirgendwo wurde gesagt, dass »Gott nicht anders als gut sein könne«, wofür Platon »einen ganz neuen Terminus zur Bestimmung Gottes wählt«, nämlich »agathos«.144 In der Politeia entspricht dem Gott, der gut ist und dem entsprechend Ursache alles Guten in der Welt, die höchste Idee, das Gute (idea tou agathou), das gleichermaßen die Ursache der Erkennbarkeit und des Seins und des Wesens der Dinge145 ist. In Nomoi und Timaios entspricht der Idee des Guten die Vernunft (nous), die »auch für die Götter ein Gott ist«.146 Die Vernunft ist die Ursache für die Ordnung der geschaffenen Dinge, die mathematisch beschreibbar sind, sowie die Ursache dafür, dass die geschaffenen Dinge so gut wie möglich sind; sie ist aber auch Ursprung der Gesetzgebung für die Polis, die eine ihr entsprechend vernünftige sein soll. Platon gebraucht dafür ein »mythologisches Bild«, wie Bordt es nennt,147 den Demiurgen. Dieser ist vom Wesen her gut; er bringt mit Hilfe der Ideen Ordnung in das an sich unstrukturierte Material (gleich der Idee des Guten), und er sorgt als die beste aller Ursachen dafür, dass die Dinge so gut wie möglich hergestellt sind. Die Welt ist dadurch strukturiert und in bestmöglichem Zustand. Der Anspruch, Gott darstellen zu wollen, wie er »tatsächlich« (Bordt), eigentlich oder in Wahrheit ist, und zwar als gut, scheint sich einer eindeutigen Interpretation zu entziehen, vielleicht nicht zufällig. Bordt überschreibt seine Ausführungen über die typoi der theologia wohl zu Recht mit »Die Eigenschaften Gottes«, spricht aber zugleich häufig vom »Gutsein« Gottes,148 was man auch als Wesensaussage verstehen kann. Frage ich, wie etwas ist, frage ich gewöhnlich nach der Qualität eines Seienden oder nach der Gesetzlichkeit des Verlaufs eines Geschehens. Die Frage ist nicht eindeutig. Ich kann mit der Wie-Frage auch entdecken wollen, wie das Seiende als es selbst anwesend ist, als was es selbst zum Anwesen kommt, sich ereignet, wie es eigentlich um sein Sein steht. Und hier ist es die Idee des Guten, die über dem Sein steht. Die Zweideutigkeit dieses Sachproblems ergibt sich vermutlich aus Platons Ansatz heraus.
144 Damit ist ein ausführlich begründetes Ergebnis der Arbeit von M. Bordts, Platons Theologie, wiedergegeben. 96–127, hier 97, 125. 145 Platon, Rep. 509 b 6–8. Dazu vgl. M. Bordt, Platons Theologie, 160. 146 Platon, Gesetze, 897 b 1; vgl. hierzu bei M. Bordt, Platons Theologie, besonders 234 f. 147 Dazu a.a.O. besonders 221, 235, 247, 249. 148 Dazu die Überlegungen a.a.O., 55 Anm. 1, 129 ff.
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c) Physis-Denken und physische Theologie Physis kann bei Platon das Ganze dessen, was überhaupt ist, in seiner anfang- und endlosen Fülle meinen: das Seiende. In diesem Sinn kann er ganz unbefangen von den Seienden (ta onta, t! nta149) sprechen, den Seienden in ihrer Vielzahl und Gesamtheit, in ihrem Bezug aufeinander und zum Ganzen. Seiendes (n) ist in sich nur als Physis möglich, wobei das Sein des Jeweiligen darin mit Bezug auf das Ganze selbst als Physis mitverstanden wird.150 Das, was Platon als das Sein (osa) der Seienden, des Aufgehend-Sichzeigenden, des Werdenden (genesis des Seienden) und der Geburt (genos, Stamm, Herkunft des Seienden; das, was zur Welt kommen lässt) denkt, gehört zur Physis. Man kann aber nicht sagen, dass Platon die Physis exklusiv für etwas Seiendes gehalten hätte, was hieße, dass er die Physis ontisch missdeutet hätte, zudem unklar bleibt, ob er Sein als Anwesenheit oder als Seiendes, Anwesendes verstanden hat. Doch für Platon ist Physis einfach fraglos und atmosphärisch da. Man gewinnt den Eindruck, sie ist in seinem ganzen Denken hintergründig gegenwärtig; sie wird immer wieder genannt,151 ist ein oder das Grundwort, das in Nachbar- oder Begleitwörtern wie Sein, Idee, Eidos, Grund u.a. differenziert und unter Berufung auf sie zur Sprache kommt. Aber Physis als solche ist in ihrem Aufgang kein Thema, sondern der wie selbstverständlich immer schon bereits aufgegangene Wesensraum dessen, worin als Wesensfolge der Physis im Ganzen das Sein des Jeweiligen von Natur aus ( physei als adverbialer Dativ) bzw. seiner Natur gemäß waltet oder wider die Natur ist ( physin als Akkusativ mit den Präpositionen katá oder pará). Methodisch geht es darum, die Physis des Jeweiligen aufzuweisen, indem die Einzelnatur nicht unabhängig von der Natur des Ganzen (3neu thß lou fsewß)152 durch eine Idee entdeckt wird, wobei die Individualphysis sorgsam, ihren natürlich gewachsenen Gelenkstellen gemäß (wie von einem guten Koch), in Einheiten zerteilt wird.153 Die Frage nach dem Sein der Physis – nach der Art und Weise, wie dieses Seiende ist, in die Unverborgenheit aufgeht und in sich selbst und in seinem Sein gegründet ist – wird nicht gestellt. Nun besteht nach Platon die Aufgabe der Philosophie darin, das Anwesende (osa) – das mehr oder weniger ,physisch‘ Seiende – auf dem Weg 149 Als Beispiel sei hier Platon, Rep. 382 b 22: per t! nta, angeführt. 150 Vgl. D. Mannsperger, Physis bei Platon, 156 –175. 151 Dazu a.a.O.: »Die Physisvorstellung selbst ist nicht Gegenstand des platonischen Philosophierens […]; direkte Aussagen über sie oder gar Definitionen treffen wir nirgends. Umso mehr leistet sie als Werkzeug der Welterfassung, das zugleich ein wichtiges Stück Wirklichkeit in sich trägt.« (34) 152 So Platon, Phaidros 269 d 3 –271 a 8. 153 A.a.O., 265 e 1–3.
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des Fragens und Antwortens in seinem Sein aufzuweisen.154 Platon versteht das so, dass er die Pluralität der Seienden, exemplarisch und stufenweise gesteigert, auf das Allgemeinste und denkbar Höchste hin zu begreifen sucht, von woher und warum es sich als es selbst zeigt und um wessentwillen es eigentlich ist, d.h. nicht nur gut, sondern gesteigert gedacht, das Beste ist. Er geht nicht von der Physis als Physis aus, sondern von dem, was ihm an der bereits aufgegangenen Physis begegnet: Die bereits erschienenen Gestalten des Anwesenden (Seienden) bieten gemäß ihrer Physis einen Anblick (Eidos) und ein Aussehen (Idee) dar. Damit rückt etwas, das nachträglich zu jenem Sein ist, das Seiendes in Erscheinung treten lässt, in die vom Denken umkreiste Mitte. Dieses Nachträgliche, der im Sinnlichen aufleuchtende übersinnliche Anblick, wird nun zum Sein der Seienden erhoben. Folgerichtig bilden nun Sein und Werden, unveränderliche Idee und veränderliches Seiendes, das mehr oder weniger die Idee abbildet, eine ontologische Differenz. Die Auslegung des Seins der Seienden (der Physis) als Idee scheint dabei etwas völlig Neues zu sein. Sie kann im Reichtum ihrer Folgen und späteren terminologischen Prägungen besser verstanden werden, wenn wir auf die Vorbahnungen des platonischen Fragens im sokratischen Fragen achten. Dieses bedenkt gegenüber dem angemaßten Wissen, dem Scheinwissen, ein wesenhaftes und unabschließbares Wissen des Nichtwissens und des Nichtwissenkönnens. Die Weise, wie Platon dieses Fragen aufgenommen hat, dürfte seinen Blick entscheidend gebahnt haben. Die sokratische Besinnung hat hier das sittliche Handeln im Auge, das immer nur dann ein echtes Handeln ist, wenn es nicht blind, nicht unwissend, sondern besonnen, um sich selbst wissend (in Selbsterkenntnis), auf das gerichtet ist, weswegen gehandelt wird, auf das sittliche Leben im Guten. Ob das ursprüngliche Philosophieren damit seine praktische Verwurzelung in allen menschlichen Weisen des Seins und Sichverhaltens gefunden hatte oder auf dem Weg war, sich von ihnen zu entfernen, ist hier nicht zu erörtern. Sokrates hat sich angeblich von der Naturphilosophie weg der Ethik zugewandt. Aber das vorsokratische Physisdenken steht noch nicht im thematischen Gegensatz zur Ethik, es hat hinsichtlich des menschlichen Daseins sein Ethos, den Aufenthaltsort im Kosmos, der dem Menschen zugewiesen ist, bedacht. Sokrates insistiert auf dem, was für eine dem entsprechende Lebensführung notwendig ist, und das ist ein Wissen, das es durch Klärung seiner Voraussetzungen und Begründung, der Zufälligkeit und der sophistischen Beliebigkeit zu entreißen gilt. Für Platon gibt enai ka rwtw nteß ka 154 Platon, Phaidon 78 c 9 – d 1: t osa, ß lgon ddomen to 2pokrinmenoi.
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es ein praktisches, ethisches Wissen nur im Horizont der Physis, insofern gut zu sein dem Menschen im Erdenleben geschickhaft zugewiesen, möglich und für ihn erlernbar ist. Mythisch gesprochen kann sich die Seele an alles vorgeburtlich Gesehene erinnern, da es die vormals erblickte ganze Physis ist, die mitgegeben und mitgeboren wird.155 Daher sind wir, die durch das Hindernis (empódion, mpdion156) des Leibes in das Irdische verstrickt sind, auch nicht von Natur aus Tugendhafte und Wissende, sondern wir sind es nur als Lernende durch mühsame Anamnese des Vergessenen. Wenn uns irgendwo etwas vom Seienden offenbar wird, so nur durch die Vernunft, durch das Denken und /oder durch göttliche Eingebung, und zwar orientiert am Höchsten und Besten, das es gibt. Zu beachten ist, dass Platon sich dieses Höchstdenkbare in konsistenter Verlängerung zu diesem ,anthropologischen‘ Ansatz völliger Entmenschlichung, weil Vergeistigung, als Vernunft vorstellt. Die Aufgabe besteht darin, die Tugend (das Gutseinkönnen) auf das Niveau eines festen, begründeten Wissens zu erheben. Dazu muss herausgestellt werden, was Tugend ihrer Wesensgestalt nach überhaupt ist,157 beispielsweise Gerechtigkeit als solche und Frömmigkeit als solche. Aber ist es wirklich so, wie der platonische Sokrates meint, dass es die Frömmigkeit selbst ist, die den, der sich nach ihrer Wesenserkenntnis richtet, fromm macht oder dass es die Gerechtigkeit selbst ist, die jemanden, der sie zum Vorbild nimmt, gerecht macht? Inwiefern muss er, um sich selbst gerecht oder fromm machen zu können, schon wissen, was Gerechtigkeit und Frömmigkeit sind? Ist mit dieser Intention begründeten lehr- und herstellbaren Wissens die Eigenart praktisch-ethischen Wissens in seiner Ursprünglichkeit – etwa dass uns zu sein aufgegeben ist – getroffen? Damit berühren wir einen der heikelsten Punkte platonischen Denkens. Nach Heidegger ist für Sokrates »die Herstellung der Boden der Besinnung. Doch fragt er nicht nach dem Werk und seinen Seinsmöglichkeiten, sondern nach der Herstellungstätigkeit, z.B. eines Schusters. pohsiß, tcnh [nach dem Herstellen, poiesis, und der Kunstfertigkeit, téchne]. Frage: Was muß der Handwerker in erster Linie verstehen? Den einzelnen Schritten der ausführenden Tätigkeit geht voraus das Verstehen dessen, was er eigentlich herstellen will. Ständige sokratische Frage nach dem t stin [was es ist]; später die Frage nach dem edoß [eidos], nach dem, wie das ,aussieht‘, womit ich es zu tun habe. Dieses t [Was, Wassein, Wesen] ist der Grund für das, was im Herstellen faktisch wird. […] Das Was muß primär erkannt und verstanden sein. Aus der Erkenntnis des Wesens gewinnt die Herstellung als Verhaltung ihre fsewß p1shß suggenou ß […]. 155 Vgl. Platon, Menon, 81 d 1–3: Ate g!r ß 156 Platon, Phaidon 65 a 8. 157 Vgl. Platon, Euthyphron, 6 d: at t e doß.
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Durchsichtigkeit.«158 Aber zur vollständigen Erkenntnis im Sinne des Sokrates gehört, dass wir nicht nur eine Idee von etwas (vom Wesen) haben, das hergestellt oder herzustellen ist, sondern auch wissen, wofür etwas nützlich und letztlich gut ist, ja was für es das Beste ist. Die Antwort auf die sokratische Frage, ,was ist‘, die Platon gibt, ist zunächst die Idee, nicht nur im Blick auf irgendein Seiendes, sondern schließlich auf das All des Seienden (ta onta), die Gemeinschaft (koinonia, koinwna) der Ideen. Die Frage ist, wie das Seiende als solches aussieht. Als was zeigt sich das Seiende an ihm selbst? Wie sieht es aus, wenn wir Seiendes nicht hinsichtlich bestimmter Eigenschaften, sondern nur als Seiendes, in dem, was es eigentlich ist, betrachten? Wel chen Anblick (edoß) bietet es, wenn wir die Was-Frage durchhalten? Die Methode des sokratischen Fragens und Untersuchens wird grundsätzlich in die Ideenlehre aufgenommen und radikalisiert. Das Seiende als Seiendes betrachtet, wird in der Idee zugänglich und gesichtet. Wenn das Sein als Idee und Eidos charakterisiert wird, ist die dem zugrunde liegende Orientierung nicht aus den Augen zu verlieren. Die Frage nach dem Sein ist nicht so sehr an der Praxis, sondern eher am anschauenden Erfassen und Erkennen orientiert. Wird eine einzelne Gestalt (morphé) in ihrem Wesen (Eidos) erblickt, so ist dieses Wesen (in seinem Wassein) der Grund sowie der Maßstab (die Norm), unter der dieses Einzelne steht. Aus dem, was es ist (dem t), wird etwas in seinem Grund, warum es so ist und sein kann, verstanden. Genau das ist das Gesichtete, die Idee, wobei der Hinblick auf das Einzelne nur der Anlassfall ihres Erblicktwerdens ist. Sie ist das schon mitgebrachte Frühere, das Vorwissen und Vorverstandene (proeidenai, proeidnai),159 das immerwährend Bleibende, Unveränderliche und das daher eigentlich Wissbare, das uns entdecken lässt, wie es immer schon gewesen ist. Macht die Seele das Dasein des Menschen aus, so kann gesagt werden: »Jede Seele des Menschen hat von Natur aus das Seiende schon gesehen«160 – mythisch gesprochen, in ihrem früheren Leben. Die »Wiedererinnerung« (anamnesis, 2n1mnhsiß)161 an die vorgeburtliche Existenzweise erweckt uns aus der Vergessenheit des vormals Geschauten, der Seinsgestalten der Ideen, des eigentlichen Seins. Dem entspricht, dass wir das Sein (die Ideen) nicht da oder dort unter dem Himmel erblicken, sondern die Ideen sind in ihrer Gesamtheit im Verhältnis zu unserer Erfah158 M. Heidegger, GA, Bd. 22, 249. 159 Platon, Phaidon, 74 d 9 – e 4. 160 Platon, Phaidros, 249 e 4 f. Also keine ,meta-physische‘ Überschreitung des Erfahrungsbereiches, sondern eine innerhalb der Physis verbleibende und ihr gemäße Aussage. 161 Vgl. Platon, Menon, 81 d 5 f.
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rungswelt an einem »überhimmlischen Ort«,162 und doch hat alles in der Erfahrung zugängliche Seiende eben als Seiendes an der Idee teil; das Jeweilige hat seinen Erkenntnis- und Realgrund im Wassein der Idee durch Teilhabe (mϑexiß, Partizipation). Verdankt es, dass und was es ist, der Idee, so bleibt es im Hinblick auf das Dasssein und Wassein hinter ihr mehr oder weniger zurück. Die Idee ist das vom erfahrbaren Seienden Unterschiedene, der Seinsart nach verschieden, dem Ort nach getrennt, aus einer anderen Gegend her scheinend, präsent und anwesend, und wird dann doch im Anschluss an das Seiende bestimmt, jedoch als das »seiendste Seiende« (ntwß n), das so seiend ist, wie eben Seiendes überhaupt nur sein kann. Die Ideen sind nur auf dem Grund der Physis zu verstehen. Streng genommen sind sie nicht Seiende, sondern das Seiendste am Seienden, ihrer Intention nach jedenfalls nicht seiende Objekte (Entitäten) im Irgendwo, weder etwas Objektives noch etwas Subjektives. Sie sind das Unverborgenste, die ursprüngliche Wahrheit als Unverborgenheit, Bild, Anblick (Eidos), Licht des Wasseins. Sie sind das Sein, das zur Unverborgenheit freigibt; sie lassen das Gesichtete eben sehen. Sie überwinden wohl die Verbergung des Verborgenen und sind auf diese Weise der Physis gemäß, aber sie kommen bei Platon nicht als Physis ans Licht; zwar kommen sie von der Physis her noch im Aufgang in die Unverborgenheit, die vom Falschen und vom Schein freizuhalten ist, doch ihr ursprünglicher Bezug auf das Verborgensein – diesen Quellgrund – ist zurückgetreten. Was aber ist es, das die Ideen in diese Unverborgenheit stellt? Was ermächtigt das Sein zum Offenbarmachen von Seienden? Eine Berufung auf die Physis wäre hier nicht unrichtig, aber zur näheren Begründung nicht ausreichend. Heißt es beispielsweise, etwas ereigne sich physei, so lässt dies die Frage offen, wie es von der Natur her oder in der Natur oder durch die Natur oder mit und entlang der Natur usw. ist. Wie nun etwas nur sichtbar ist, wenn es im Licht steht, vorzüglich (im Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren) unter der Sonne, so kann die Idee nur durch das verstanden und von der Vernunft (nous) erfasst werden, was sie in die Unverborgenheit stellt und sie überragend zur Wahrheit ermächtigt, gewissermaßen durch die höchste Idee, das Gute selbst. Das ist mit einem anderen Wort dasselbe wie die göttliche Vernunft, und zwar als das, was am Ende (praß) des Verstehbaren liegt, worauf alles Verstehen stößt und wodurch es seine Vollendung erfährt. Die Idee des Guten ermöglicht und begründet sowohl das Offenbarmachen von Seienden als auch das Seinsverständnis; insofern ist sie »über das Sein noch hinaus«.163 Sie ist 162 Platon, Phaidros, 247 c 3: perour1nioß tpoß. 163 Platon, Rep. 509 b 9: pkeina thß osaß.
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das Worumwillen des Verstehens (tloß), Strebens und Handelns der Seele. Was jede Seele anstrebt und um dessentwillen sie alles tut, ahnend, es gäbe so etwas, das ist das Gute.164 Das Gute ist das, worum es geht, um dessentwillen Seiendes ist, in dem die Frage nach dem Sein sich selbst transzendiert. Es geht in allem Sein um das es ursprünglich Ermöglichende, den Urgrund (arche, 2rc), den »Anfang von allem«.165 Das Gute ist nicht das Sein, sondern das Umwillen des Seins; es ist allem vorzuziehen und so das Vorzüglichste. Es kann als seiende Eigenschaft, die den übrigen Ideen zukommt, oder auch als Seiendes, wie es sich zuhöchst denken lässt, missdeutet werden. Die ontische Auslegung der höchsten Idee des Guten als das vorzüglichste Seiende führt dann das alles Sein des Seienden Ermöglichende auf ein Seiendes zurück, eine zirkuläre Problematik, die uns noch reichlich zu schaffen machen wird. Von Gott wird jedoch (in mythischer Entsprechung zur Idee des Guten) wie von einem Seienden geredet, das eine seiende Eigenschaft (das Gute) besitzt, die ihm wesenseigen ist, d.h. immer zu ihm gehört, soll sich Gott als Gott zeigen. Er kann sich in dieser Eigenschaft zeigen, weil er gut ist, aus dem Grund seines Gutseins, und daher lässt er anderes, Seiendes, an seinem Gutsein teilnehmen, ihm ähnlich werden, und zwar vermittelt durch Götter, denen wiederum strukturell die Gemeinschaft der Ideen entspricht. Nun ist Gott Ursache alles Guten, das es außer ihm gibt. Doch »Gott, der ja gut ist, ist nicht die Ursache von allen Dingen […], sondern nur von wenigen ist er den Menschen die Ursache«. Was es für den Gott heißt, Ursache zu sein, deutet Michael Bordt so: »Er ist es, der bewirkt, dass etwas so geschieht, wie es geschieht. Diese Auffassung entspricht der traditionellen griechischen Auffassung von einem Gott.«166 Das heißt, er wirkt als Vorbildursache, die bestimmt, wie das Sosein des Wirkens und dadurch die Wirkung bestimmt sind. Als Wirkendes, von dem das Wirken insgesamt ausgeht, kommt bei Platon nun doch die Physis in Frage. Die Ideenlehre lässt so verstehen, warum bei uns weniger Gutes denn Übles geschieht und dass dafür Gott nicht die Verantwortung trägt. Einerseits ist es die schlechte Lebensführung der Menschen, welche Übel in der Welt verursacht, andererseits ist Gott in seiner Macht durch das ihm zur Ordnung vorgegebene Material begrenzt. Ursache sein heißt für den Gott Platons nicht Schöpfer der Welt sein, sondern derjenige zu sein, der eine gute, d.h. vernünftige Ordnung in der Welt durch Teilgabe am Guten auf die bestmögliche Weise herstellt. Diese Teilgabe ist als wirklicher 164 A.a.O., 505 e 1 f. 165 A.a.O., 511 b 7. 166 M. Bordt, Platons Theologie, 131.
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nti) gesichtet,167 aber sie ist nur in einem eingeGrund des Seienden (t ation t schränkten Sinn Grund einer Weltherstellung (poiesis als Machen, Herstellen, Verfertigen, Hervorbringen in die Unverborgenheit). Das Wort ,Schöpfung‘ ist, weil missverständlich, eher zu vermeiden. Platon nennt seinen Gott treffend einen Demiurgen und sein Tun demiurgisch. Demiurg ist zunächst jemand, der aus irgendeinem Material etwas für die Allgemeinheit erarbeitet und anfertigt, dann, in platonischer Überhöhung, der die Gestalt gebende Hersteller der Dinge nach dem Vorbild der Ideen. Der Demiurg ist hierbei strukturgleich der mathematischen Vernunft. Zu beachten ist, dass dieser Gott »gut« ist; er »wollte, dass alles gut ist« und dass nach Möglichkeit »ihm alles möglichst ähnlich werde«.168 Die Ideen und die durch sie vermittelten Abbilder sind ja um willen des Guten. Auch wenn das Demiurgsein als mythische Metapher herangezogen wird, kann deswegen für den Prozess der Herstellung ihm als allerhöchstem Werkmeister (technítês, tecnthß) gegenüber keine ontisch-gegenständliche Unabhängigkeit der Ideen herausgelesen werden, dennoch verweist uns das Bild auf ein vernünftiges Tätigsein im Sinne eines herstellenden Handelns, auf den Gedanken einer Herstellungsätiologie. Auf die verbleibende Problematik der durch die Ideenlehre vorgezeichneten Herstellungsätiologie soll unten eingegangen werden. Sie gehört jedenfalls in das PhysisVerständnis Platons. Analog zur Physis, deren Sein als Idee sich enthüllt und so als Sein des Jeweiligen zum Vorschein kommt, scheint Platon auch von einer Physis Gottes zu reden, kraft derer Gott ist, wie er ist.169 Abschließend kann gesagt werden: Jede Idee konstituiert sich unmittelbar als Physis. Die Physis der Idee ist der Grund für das, was eine jede Idee aus sich selbst heraus ist. Im Herstellungsprozess wird deutlich, dass die Idee und das durch sie begründete Seiende innerhalb der Physis im Ganzen zu verstehen sind. Wohl hebt Platon die Idee als das einigende Eine (abgesehen von der Teilhabe an anderen bestimmten Ideen) von der Mannigfaltigkeit der Seienden ab, aber diese versteht er edouß),170 das Andere als als die der Idee gegenüber andere Physis (tra fsiß tou das, wofür das Wesen Wesen, die Idee Idee ist, d.h. das an den Ideen Teilhabende, das vom jeweils Einen verschiedene Mannigfaltige. Dieses ist an sich, seiner Physis nach, das Grenzenlose (apeiron),171 ein grenzenloses Auseinander. Von dieser Physis minderen Grades aus wurde erst später die Ideenwelt die ,meta-physische‘ genannt, 167 Platon, Phaidon 99 b 2 f. 168 Platon, Timaios, 29 e –30 a. 169 Dazu vgl. D. Mannsperger, Physis bei Platon, 248 f., 264 –272. 170 Platon, Parmenides, 158 c 6 f. 171 A.a.O., 158 e 2 f.
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sie ist aber eigentlich eine komparativisch gesteigerte Physis. Die Rede von einer ,Metaphysik‘ Platons scheint mir daher irreführend. Nicht nur die Ideen und Körper haben bei Platon jeweils ihre Physis – man spricht gewöhnlich von ,Welten‘ (gemeint ist die ihnen eigene Weise des eidetischen Aufgangs in die Unverborgenheit und der Anteilnahme an ihr) –, sondern auch Gott als Idee des Guten und die Vernunft werden gemäß der Physis und das heißt innerweltlich bestimmt. Insofern die Körperwelt, die Ideenhierarchie und der Gott noch in einer Physis, in einer Welt verbunden sind, finden wir bei Platon eine beachtliche Neurezeption des anfänglichen Physisdenkens. Physische Theologie besagt bei Platon nicht nur, wie Gott (seiner Natur nach) für sich ist und wie von ihm zu reden ist, sondern sie entfaltet sich im Horizont eines umfassenden Physisdenkens. Platonauslegungen sollten das nicht übergehen, sondern überprüfen, ob und wie eine solche Auslegungsrichtung angemessen ist, zumal sich in der Rede von der Idee des Guten, die den mythischen Charakter nicht gänzlich abgestreift hat, eine philosophische Motivation verbirgt, die im Keim atheistische Reaktionen verständlich machen könnte.
1.2.2.5 Aristoteles (384 /383–322/321 v C)
Das aristotelische Denken erscheint nicht nur wie das platonische als Nachklang frühgriechischen Physis-Denkens, sondern als dessen entschiedene Erneuerung und zugleich als Versuch einer kritischen Überbietung. Seine Mitte bildet die Physis, wobei nicht eindeutig ist, inwiefern ein die Physis überschreitendes, ,meta-physisches‘ Denken angebahnt wurde, wie es jedenfalls rezeptionsgeschichtlich große Bedeutung erlangt hat. Dieses ,Metaphysische‘ der Physik entfaltet sich als Weise des Wissens um das Göttliche (epistéme theologikê, lat. scientia theologica). Der später geprägte Titel einer metaphysischen Theologie (theologia metaphysica), der wichtige Erweiterungen und Verschiebungen in der Bedeutung mit sich bringt, wird noch eigens zu bedenken sein.172 Hier nur das Nötigste zur Eigenart des aristotelischen Physisdenkens in seiner theologischen Ausrichtung. Aristoteles weist darauf hin, dass jemand, der weiß, warum etwas zu tun ist, ein höheres Wissen hat, als der, der nur weiß, was zu tun ist.173 Was in der Philosophie als Wissen (episteme, pistmh) gesucht wird, ist dem entsprechend nicht nur ein Sichauskennen in einem Sachbereich, sondern ein Wissen im Vor- und Hinblick auf Gründe und Ursachen.174 Zu den Ur-Sachen gehören »das Gute und das 172 Siehe unten 4.2. 173 Aristoteles, Met. I (A) 1, 981 a 24 –30. 174 A.a.O., XI (K) 7, 1063 b 36 f. u.ö.
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Weswegen«175 und daher das Fragen, was »das Gute für jedes Einzelne und im Ganzen das Beste (ariston, riston) in der gesamten Physis« sei.176 In diesem Sinne ist das Wissen um die Physis ein Wissen, wofür sie Grund ist und worin sie gründet. Sie führt zuletzt auf das Wissen um das Göttliche, das in ausgezeichneter Weise als ein theoretisches, schauendes Wissen bestimmt wird. Doch schon das Wissen um die Physis, das zur Einsicht in das Göttliche führt, wird als ein theoretisches bestimmt.177 Die theoria wurde in der Antike als ,göttliche Lebensweise‘ und das Wort sprachverwandt mit theos, Gott, als Schauen des Göttlichen verstanden. Das schauend offene Wissen ist in seiner Eigenständigkeit ein den Göttern ähnlicher ,herrschaftlicher‘ Lebensvollzug, der um seiner selbst willen ist, also in sich selbst (im Bezug auf das Dasein) sinnvoll und gut ist und sich unterscheidet von einem ,sklavisch‘ in den Dienst zu nehmenden Wissen, das für etwas anderes gut, verwendbar oder nützlich sein soll, beispielsweise um Macht über andere auszuüben. Aus einem bestimmten Gottesverständnis heraus als Theorie entworfene Wissensweisen (in denen sich menschliches Dasein selbst vollzieht!) sind ein von den faktisch zu bewältigenden Lebensbedürfnissen, Bedrängnissen und Anforderungen freier Lebensvollzug.178 Die Weisen des theoretischen Wissens um das Physische und um das Göttliche werden überdies von den nichttheoretischen Wissensweisen, Praxis und Poiesis, abgehoben.179 Im praktischen Wissen geht es darum, den Menschen gut zu machen. Das poietische Wissen dient der Herstellung nützlicher oder schöner Werke. Dagegen nimmt das theoretische Wissen Seiendes nicht als Mittel, sondern lässt das Seiende in seinem Aufgang in die Unverborgenheit sein, was es eigentlich, als solches, im Grunde und im Ursprung, ist. Da das theoretische Wissen aus sich selbst und um seiner selbst willen bestimmt und vollzogen wird, ist diese Verstehensweise ihrer Möglichkeit und Aneignungsweise nach als göttlich (theion) zu bezeichnen. Das heißt, sie liegt nicht in der Möglichkeit und Reichweite des Menschen180 als eines bloß leib-seelischen Lebewesens, sondern kommt ihm insofern zu, als er durch die ihm verliehene Vernunft das theoretische Wissen mit den Göttern teilt. Überlebensnotwendig ist dieses Wissen nicht, aber besser als alles andere. Auch neiden die Götter den sterblichen Menschen das n atwn stn. 175 A.a.O., I (A) 1, 982 b 9 f.: ka g!r t t2gaϑn ka t o neka n tw 176 A.a.O. vgl. 982 b 6 f. 177 Vgl. a.a.O., VI (E) 1, 1025 b 25–28; XI (K) 7, 1064 a 10 –19, sowie NE VI 7, 1141 a 15–20. 178 A.a.O., Met. I (A) 1, 981 b 17–24; 982 b 21–28. 179 Vgl. a.a.O., XI (K) 7, 1064 a 10 –19 u.ö. 180 A.a.O., I (A) 1, 982 b 29 f.
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theoretische Verstehen nicht,181 das ihnen vorzüglich zu eigen ist, und zwar nicht, weil sie emotionsfrei oder gütig wären, sondern weil sie ihrem Wesen nach anders als die Menschen ewig in reiner Schau verweilen, ja diese reine theoria sind. Menschliche Theorie entfaltet sich demgemäß im Nach- und Mitvollziehen der göttlichen Weise, zu erkennen. Der Erkenntnismodus physischer Theologie ist damit so bestimmt, dass in gewisser Weise das Göttliche nur durch das Göttliche selbst erkannt werden kann, jedoch nicht unter Umgehung der Physis, sondern nur in und aus ihr selbst. Nun ergibt sich eine Schwierigkeit, da Aristoteles einerseits die Physik (im Sinne des Sachbereichs als auch seiner Vorlesung) der theoretischen und damit der göttlichen Wissensweise zugeordnet und andererseits der Physik im Unterschied zum theologischen Wissen um das Göttliche ausdrücklich den Rang einer ersten und umfassenden (kathólou, kaϑlou)182 Philosophie abgesprochen hat.183 Unter der »Ersten Philosophie« versteht er jenes philosophische Wissen um Ursachen und Gründe, welches das vom Ursprung her Anfängliche und damit das Ganze, Grundlegende und Umfassende bedenkt.184 Die »Erste Philosophie« umfasst vor allem zwei zusammenhängende Bereiche theoretischen Sich-Auskennens: In einem geht es um die Frage nach dem Seienden als einem Seienden (to on he on, t n n), d.h. nach dem Anwesenden in seinem Anwesen, und zwar insoweit es in einem eigentlichen Sinne anwesend ist. Zu bedenken ist das, was jegliches und alles Seiende betrifft, das Seiende im Ganzen, das Seiende der Welt, der Physis (des gestirnten Himmels samt allem, was da unter ihm ist), die Gesamtheit der physisch Seienden (die physei onta, fsei nta) im Hinblick auf ihr Sein. Im zweiten Bereich geht es um das, was sich als das Seiende im eigentlichsten und höchsten Sinne von Anwesenheit verstehen lässt und letztlich Anwesenheit als solche besagt: das Göttliche des Gottes. Aristoteles spricht von einer mit dem Adjektiv theologisch gekennzeichneten theoretischen Philosophie ([filosofa] ϑeologik).185 Rückblickend sprechen wir von Ontologie und philosophischer Theologie, welche in der »Ersten Philosophie« des Aristoteles zusammengehören, ja ineinandergehen.186 181 Vgl. dazu a.a.O., 982 b 32–983 a 11. 182 A.a.O., VI (E) 1, 1026 a 29–31. 183 A.a.O., 1025 a 26 –28. 184 Vgl. zum Folgenden a.a.O. das Kap. VI (E) 1. 185 A.a.O., VI (E) 1, 1026 a 19. 186 Ich übergehe hier die Mathematik. Dann bleibt eine Doppelung der Thematik übrig. Diese kehrt konzentriert im 12. Buch Lambda der Metaphysik des Aristoteles wieder. Vgl. dazu die sorgfältigst gearbeitete und maßgebende Werkinterpretation von M. Bordt, Aristoteles’ »Metaphysik XII«, 30 f.
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Was meist in den Hintergrund tritt, ist, dass Aristoteles seine Ontologie und überhaupt die »Erste Philosophie« samt ihrer Theologie aus dem Fraglichgewordensein der Physis neu und ausdrücklich entfaltet.187 Auffällig ist der Gegensatz zur fraglosen All-Gegebenheit der Physis bei Platon: Die Frage nach der Physis wird eigens ausge ma fsikn), wie arbeitet. Leitfaden der Ausarbeitung ist der ,physische Körper‘ (sw er in sich selbst und von sich selbst her aufgehend erfahren wird. Er hält im Werden und Sichverändern sein Anwesen durch, was immer auch ein Bleiben und Ausbleiben, ein Anwesen und Abwesen von Sein besagt. Mit dem Fragen nach dem Ursprung und Grund der physischen Körper ist eine Dimension im phänomenalen Geschehen selbst eröffnet, die nicht in einen anderen Bereich, nicht platonisch in eine Überund Hinterwelt abspringt, sondern vielmehr ihren Ausgang von der sinnenhaften Erscheinung des wahrnehmbaren Körpers selbst nimmt und beibehält. Der physische Körper erscheint von sich her und in sich bewegt; er kommt hervor, steht vor uns, ist von sich her gegenwärtig, west an und verweilt. Aristoteles orientiert sich am bewegten Körperphänomen, weil ihm am meisten und augenscheinlichsten das Sein (ousia) zukommt.188 Damit ist die Physis im aristotelischen Daseinsverständnis der Zugang zur Ontologie, ja überhaupt zur ganzen Ersten Philosophie. Unserem Erfassen nach ist die sinnenhafte Erscheinung des physischen Körpers das Erste und Nächstliegende. Doch von ihm selbst her ist das sich als Körperphänomen zeigende physische Seiende (fsei n) in seinem Sein und seinen Seinsweisen bzw. im Bezug auf seine Ursachen und Gründe für unser Erfassen (sofern es am Phänomen bleibt und von ihm nicht abspringt!) weiter oder am weitesten entfernt und daher eben das Zweite und Schwierigste. Sachlich (physei) verstanden, verhält es sich jedoch umgekehrt, da sind die Gründe und Ursachen der im Anwesen der Erscheinungsgestalten zugänglichen Physis das Erste. Die Physik-Vorlesung des 187 Vgl. F. Wiplingers groß angelegten und durch seinen frühen Tod (1971) unterbrochenen Versuch, die Frage nach der Physis bei Aristoteles aus heutiger geschichtlicher Erfahrung nachzuvollziehen und so zu wiederholen: Physis und Logos. Zum Körperphänomen in seiner Bedeutung für den Ursprung der Metaphysik bei Aristoteles. 188 Vgl. Aristoteles, Met. VII (Z) 2, 1028 b 8 ff. – Ousia (osa) ist aus zwei Wortteilen gebildet, dem Partizip ,on‘ (n), das seiend, anwesend, waltend und während bedeutet, und dem Suffix ,-ia‘, das das Partizip zu einem abstrakten Nomen macht, was eine Übersetzung mit Seiendheit, lat. entitas, Entität, auch Wesenheit und Washeit nahelegen würde. Doch ein Partizip ,partizipiert‘, d.h., wie das Wort schon sagt, es nimmt teil, und zwar am nominalen sowie am verbalen Sinn des Zeitworts sein (einai, nai). Dieser verbale Sinn ist im alltäglichen Sprachgebrauch, wo er Eigentum oder Grundbesitz und Grundbestand eines griechischen Haushaltes oder ,Anwesens‘ nennt, bei der Übernahme des Wortes in die philosophische Sprachwelt lebendig, manchmal sogar vorherrschend. Was ousia (mit dem Plural ousiai) heißt, wäre dann wörtlich eher mit ,das Seiend-sein‘ und jeweils nach dem Kontext mit Sein, Anwesen (des Anwesenden), aber auch mit (seiendes) Wesen sowie mit Substanz zu übersetzen. Siehe dazu im folgenden Bd. den Exkurs über einige Grundzüge der Substanzmetaphysik.
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Aristoteles bahnt diesen Gang des Denkens über die durch die Physis bestimmten Seienden zur Physis selbst an und gipfelt im letzten Buch (VIII) in der Annahme, dass kein Bewegtsein ohne einen bewegungsfreien Urquell möglich ist und dass die ewige und ununterbrochene Kreisbewegung der Himmelsschale als fundamentales Weltgeschehen ein erstes Bewegendes notwendig hat, das selbst ewig und unbewegt ist. Dieses wird in der sogenannten ,Metaphysik‘ des Aristoteles mit dem Gott (des Mythos) identifiziert.189 Aus der Sicht des uns Zugänglichen ist also das physische Seiende der Physik das für uns Erste, Frühere und der unbewegte Beweger das zuletzt Erreichte. Von der Sache her (physei) verhält es sich jedoch umgekehrt: »Wenn es aber ein unbewegtes Seiendes gibt, so ist dieses das [der Sache nach] Frühere und die Philosophie [die es bedenkt] die erste und die umfassende; und ihr würde es zukommen, das Seiende als Seiendes zu schauen […].«190 Zweite und erste Philosophie, ontische Physik und ontologische Physik (mit ihrem theologischen Grund), Physisdenken und Grunddenken sind wohl unterscheidbar, aber nicht zu trennen. Physik und Metaphysik wie übereinander gebaute Stockwerke oder Ebenen auseinanderreißen zu wollen, würde zu folgenschweren Missinterpretationen führen. In gewisser, noch zu klärender Hinsicht ist die Ontologie dasselbe wie die philosophische Theologie. Um den inneren Zusammenhang von Physik und Erster Philosophie deutlicher zu vergegenwärtigen, blicken wir zunächst auf die physischen Körper. Sie gehören dem Welt-All der bewegten Seienden (ta physei onta) an. Diese sind einfache Elemente (Erde, Luft, Wasser, Feuer), Pflanzen, Tiere und Menschen. Die Physis ist ohne Beginn und Ende, sie umfasst Irdisches, das unter dem Himmel vergeht und entsteht und sein Sein hat unter der Sonne, die immer gleichmäßig erscheint, ihren Gang geht und wieder verschwindet. Physis ist auch das, was ununterbrochen ist: dieses Immer-Währende, das wie die Gestirne und überhaupt die Sphäre des Fixsternhimmels in ewiger Kreisbewegung verweilt. Ihrem Sein nach besagt Physis das aufgehende Walten als in die Unverborgenheit Treten und im Licht Stehen der Seienden bzw. das jeweils ins Offene Anwesen der Seinsgestalten (ousiai). Die innere Zusammengehörigkeit von Physik und Ontologie mit Theologie wird weiter deutlich, wenn wir sehen, dass Aristoteles ganz anders als Platon, ja im Gegensatz zu ihm, nicht von der unwandelbaren Idee ausgeht, deren Licht am konkreten Seienden aufleuchtet, präsent und anwesend ist, und zwar insofern dieses In-sich189 Vgl. M. Bordt, Aristoteles’ »Metaphysik XII«, 121 f. 190 Aristoteles, Met. VI (E) 1, 1026 a 29 –32: d’ t ti osa kto, at pota ka filooa pt, ka kaϑlo oto ti prt. ka pe to to , tat ϑwsai […].
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Dastehende einen dem vernehmenden Denken zugänglichen Anblick und ein Aussehen (das Was-Sein, eidos) darbietet. Aristoteles erblickt das Seiende als ein von Natur aus oder naturhaft In-sich-Dastehendes (physei on), und zwar als das seinem Seinssinn nach Bewegte (ta kinoumena, t! kinomena) und Bewegliche (kineton, kinhtn). Das Bewegte ist für uns besonders dunkel und schwierig zu denken; es ist weder etwas, das an einem Bewegungsfreien auftaucht, noch ist Bewegtheit selbst das Sein des Beweglichen, wenn sich von ihm her die Dimension des Grundes bzw. der Gründe öffnet. »Die [Wissenschaft] des Physikers aber handelt nur von dem, was den Grund der Bewegung (kinéseôs archên, kinsewß 2rcn) in sich selber 191 trägt.« Das physische Seiende »hat in sich selbst Ursprung von Bewegung und Stillstand«.192 Zum Sein des Ruhenden und Stillstehenden gehört höchste Bewegtheit, d.h. Beweglichkeit, und zwar als diejenige Seinsmöglichkeit, von der aus Bewegung (Erscheinung) innerlich möglich ist. Mit der Frage nach der Bewegung ist das Sein der Seienden angesprochen. Sein ist hier nicht im Gegensatz zum Werden verstanden, sondern insoweit es (gegenwärtig) waltet, währt und verweilt. Ja, das Erscheinen des Erscheinenden als ein In-das-Sein-Treten besagt so nahezu dasselbe wie Bewegung in einem ursprünglichen Sinne. Gehen wir nach dem Gesagten auf die mehrfachen Bedeutungen von Physis bei Aristoteles noch etwas näher ein.193 Physis meint keineswegs nur das sinnenhaft Gegebene, die physischen Körper oder gar nur die Materie (hyle), sondern umfasst auch Form (morphê) und Wesen (eidos), ja auch das, was im unmittelbaren Anwesen die Verwahrung, Sammlung und so ,Voll-Endung‘ aller Bewegung in sich hat, die vollendete Wesensgestalt, die Entelechie (ntelceia). Physis ist dann auch, was Aristoteles crit (chôristós) nennt, welches jenes aus eigener Gegend (chôra) her Scheinende und Wesende ist, das sich einen eigenen Ort zu sein einräumt (wie Wesensgestalt und menschliche Psyche). Man übersetzt das nicht sehr glücklich mit abgetrennt oder abtrennbar, für sich bestehend, selbstständig, transzendent, abgesondert. In diesem Sinne wäre auch die ewige Vernunft (nous) – dieses erste, uranfängliche ,Sein‘ 194 (ousia), »das Göttlichste von allen Phänomenen« – etwas , Abgesondertes‘. Das Göttliche transzendiert offenbar die Physis, sonst könnte Aristoteles nicht sagen, »von einem solchen Grund hängen der Himmel und die Physis ab«.195 Gemeint ist höchstwahrscheinlich das Unsichtbare des Himmels und überhaupt des ganzen 191 A.a.O., XI (K) 7, 1064 a 15 f. 2rcn kinsewß ka st1sewß. 192 Aristoteles, Phys. II 1, 192 b 13 f.: […] n autw 193 Dazu vgl. Aristoteles, Met. V (D) 4, 1014 b 15–1015 a 19. 194 A.a.O., XII (L) 9, 1074 b 16. 195 A.a.O., XII (L) 7, 1072 b 14.
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sichtbaren Universums, denn der sichtbare Himmel gehört ja zur sichtbaren Physis. Dem entspricht, dass die »Physis des Ganzen«196 wiederum das ganze Universum meint, wie es seiner Natur nach gut ist, ja auf Eines hin bestens zusammengeordnet erscheint. Im Hinblick auf das Von-wo-aus seiner Herkunft »ist in allem am allermeisten das Gute Grund (to agathón arché)«.197 Das eine Gute, worum es vorzüglich im Grunde geht, ist in allen physisch Seienden das als Grund Waltende.198 Besonders bemerkenswert ist noch: »Metaphorisch verstanden wird jedes Sein (ousia) Physis genannt, weil auch die Physis in gewisser Hinsicht Sein (ousia) ist.«199 Vermutlich kann deshalb von einer »anderen Physis« (tra fsiß) die Rede sein. Diese wäre dann im Blick auf die Physis der aristotelischen Physik das ,abgesonderte‘ und unbewegte Sein (osa cwrist ka 2knhtoß).200 »Und wofern es in den Seienden (n to ß osin) eine derartige Physis gibt, da dürfte es wohl auch das Göttliche (t ϑion) geben, und 201 sie dürfte dann wohl der erste und vorherrschende Grund (kriwt1th 2rc) sein.« Doch als erste und vorherrschende Bedeutung von Physis hält Aristoteles fest, dass sie das Sein (ousía) derjenigen (Seienden) ist, die als solche und in sich selbst den Grund des Sichbewegens (und Ruhens), der Entwicklung und des Wachstums haben – sei er entweder dem Vermögen (dn1mei) oder dem Sich-in-der-Vollendung-des-Anwesens-Haltens (entelécheia, ntelceia) nach in ihm enthalten.202 Physis ist schon ausgelegt vom Walten und Währen ihrer Ursprünge und Gründe her. Das Physisdenken entfaltet sich als Seinsdenken. Sein ist hier zunächst im leibhaftig offenen Anwesen der menschlichen Physis zugängliches Dasein. Physis waltet als die gefügte Ordnung (Logos) im Aufgang des Phänomens. Von der Erscheinung der Körper aus fragt Aristoteles nach dem und den Seienden im Ganzen und als solchen, nach der ursprünglichen Einheit des mannigfaltigen Gesagt-seins des Seienden (den Kategorien), nach der Wahrheit als Entbergung des Seienden aus den ersten Gründen und Ursachen, die selbst wiederum als Anwesende (ousiai) erscheinen, und nach der besten und ersten ousia, dem in sich unwandelbaren, alles bewegenden Grundsein des Göttlichen selbst. Die leitende Frage dieses Seinsdenkens ist, worum es in allem geht und worum sich alles dreht, was als das Gute und Beste uns in Anspruch nimmt. Das ewige 196 A.a.O., XII (L) 10, 1075 a 10. 197 Ebd., a 37. 198 Sodass man, wie man kopulativ von »Gott und die Welt« reden kann, auch »Gott und die Physis« verbinden kann, die »nichts ohne Grund machen«: Aristoteles, De caelo A 4, 271 a 33: d sin. ϑeß ka fsiß oudn m1thn poiou 199 Aristoteles, Met. V (D) 4, 1015 a 11–13. 200 A.a.O., XI (K) 7, 1064 b 9–14. 201 A.a.O., 1064 a 36 –1064 b 1. 202 Vgl. a.a.O., V (D) 4, 1015 a 13–19.
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Kreisen der Sphäre des Fixsternhimmels erscheint dadurch in Bewegung gehalten zu sein, dass es einen unbeweglichen und unbewegten Grund anstrebt bzw. total auf ihn hin als auf das um seiner selbst willen Beste (oder ihm Ähnliche) ausgerichtet ist. So bewegt der erste unbewegte Beweger nicht wirkursächlich alles, sondern indem sich um ihn alles dreht wie bei einer Zielursache. Was ihn in allem nachahmbar und so anziehend macht, ist, dass er das beste Leben in reiner Vernunfttätigkeit führt. Alles, was sich vernunftgemäß zeigt, also auch wir selbst, ahmt dieses Leben nach, aber nur nach Möglichkeit. Kurz ist die Zeit, in der wir daran Anteil haben. Ausgerichtet auf das letzte Weswegen aller Bewegung hängt vom Erstbeweger als Grund, wie gesagt, nicht nur der Himmel, sondern die ganze Physis ab (als eine direkt oder vermittelt bewegte). Seinem Seinssinn nach ist der erste Beweger materiefreies, den unerfüllt-vielfachen Möglichkeiten zu etwas entzogenes, immerwährendes Im-WerkWalten (enérgeia), in sich vollendetes Anwesen und Sichoffenbarsein, und zwar im Sinne der theoria. Vollkommene Theorie heißt reine Vernunfttätigkeit (noêsis, nhsiß). Sie ist denkendes Vernehmen des eigenen vernehmenden Denkens (noeseôs noesis, nosewß nhsiß),203 d.h. Lebendigsein der Vernunft, die sich selbst im reinen Innesein ihrer selbst schaut, wie sie sich in unbegrenzter Offenheit und Selbigkeit mit dem Gedachten, d.h. mit allen denkbar möglichen Seinsformen, vernimmt. Neben seiner theologischen Philosophie kennt Aristoteles die nicht-philosophische Theologie der Volksreligion. Den Mythenfreund (philómythos, filmϑoß) schätzt er nicht gering ein, denn dieser teilt mit dem Philosophen, dem Weisheitsfreund, dieselbe Grunderfahrung des Staunens vor dem Wunderbaren und Göttlichen, dem jener aber im Gegensatz zum Philosophen ausweglos ausgeliefert bleibt und dadurch nicht zur Klarheit durchkommt. Aus philosophischer Überlieferung schöpfend rezipiert Aristoteles im Gegensatz zu Platon die mythische Theologie doch nur sehr zurückhaltend, kritisch, wie eine Vorstufe zur theologischen Philosophie.204 Doch er bejaht ausdrücklich, was er als haltbare Kernaussage verdorbener mythischer Überlieferung als auch ihrer (Selbst-)Kritik versteht: dass die Alten »die ersten ousiai [die Himmelskörper] für Götter hielten« und dass »das Göttliche die ganze Physis umfasst«.205 Die erste (anfängliche) ousia ist Gott und mit ihm sind erste ousiai, die Götter. Aristoteles nimmt also nicht nur eine einzige ewige und unbewegte ousia an, die er beiläufig mit Gott identifiziert,206 sondern er sucht über die sinnlich wahrnehmbaren, immerwährenden oder vergänglichen ousiai hinaus eine Vielzahl nicht 203 Aristoteles, Met. XII (L) 9, 1074 b 34. 204 Vgl. u.a. Aristoteles, Met. I (A) 1, 982 b 11–18, 32 – 983 a 5; III (B) 4, 1000 a 5–19. 205 A.a.O., XII (L) 8, 1073 b 38 – 1074 a 3. Vgl. M. Bordt, Aristoteles’ ,Metaphysik XII‘, 137 f. 206 Vgl. M. Bordt, Aristoteles’ ,Metaphysik XII‘, 121 f.
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wahrnehmbarer unbeweglicher und ewiger ousiai nachzuweisen. Für die Bahnen der am Himmel entlangziehenden Planeten hat Aristoteles im Anschluss an die Astronomie seiner Zeit 55 (oder 49) Sphären, die sich um die eigene Achse drehen, berechnet. Bemerkenswert ist: Er spricht von einer »Physis der Gestirne«, die »eine ewige ousia« ist.207 In ihrer Vielzahl werden sie durch ousiai bewegt, »die ihrer Physis nach ewig und an sich unbewegt und ohne Größe sind«.208 Diese als Götter identifizierten unbewegten Beweger sind dem ersten unbewegten Beweger als Intellekte ähnlich. Nach dem Gesagten ist die von Aristoteles als theologisch gekennzeichnete theoretische Philosophie im Ganzen eine ,physische Theologie‘, insofern das ganze Physisdenken auf einen letzten Grund als Bewegungsursprung zurückführt. Auch Andeutungen einer möglichen Rede von Derartigem, wie einer Physis Gottes (oder des Göttlichen), wie sie Hauptgegenstand des stoischen Fachausdrucks gewesen war, kann man bei ihm ausfindig machen. So scheinen wesentliche Bestimmungen des Göttlichen auf: das erste Seiende (bzw. Sein),209 das Gute (Gutsein), der alles bewegende Zielgrund, das immerwährend Ewige, Unbewegte, abgesondert und transzendent für sich Bestehende, die rein im Werk währende Vernunft als das göttlichste aller Phänomene, als bestes Leben,210 als theoria, die höchste Freude gewährt,211 usw. Diese Bestimmungen gestatten, metaphorisch von einer Physis Gottes (des Seins des ersten Seienden) bei Aristoteles zu reden. Auch die unbewegten Beweger werden im Horizont der Physis gedacht. Damit wird es fraglich, ob die Physis selbst (im bevorzugten Wortsinn als Sein der Seienden) überschritten wird. Kann man sagen, dass das Göttliche nur in diesem Physis-Ganzen, nur in der Welt, als selbst noch zu ihr gehörend und in ihr waltend, begegnet? Dieser Deutung einer innerweltlich verbleibenden Transzendenz steht entgegen, dass das Göttliche gerade als etwas abgesondert Selbstständiges, wie gesagt, die ganze Physis umfasst. Daher kann zu Recht von der Anbahnung eines ,meta-physischen‘ Gottesverständnisses die Rede sein. Versteht man religionswissenschaftlich unter Henotheismus eine Erfahrung und Verehrung des obersten Gottes in augenblicklichen Ereignissen, durch deren Viel207 Aristoteles, Met. XII (L) 8, 1073 a 34 f. 208 Ebd., 38. 209 Ungeklärt erscheint, wie es möglich sein soll, Gott als Grund des Seins der Seienden (im Sinne eines Worumwillens) doch wiederum wie ein Seiendes, wenn auch wie das Erste unter den Seienden, zu denken, denn das Sein des Seienden kann nicht wiederum durch ein Seiendes erklärt werden. 210 Vgl. Aristoteles, Met. XII (L) 7, 1072 b 26 ff.: […] g!r nou nrgeia zw […]. Das in sich vollendete Tätigsein der göttlichen Vernunft ist Leben, bestes und immerwährendes Leben, sich vernehmendes Offensein. Leben besagt Lebendigsein, äußerste ,Bewegtheit‘ jenseits von physischer Beweglichkeit und Unbeweglichkeit (Erstarrung). 211 Ebd., 24: t diston.
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falt sich das wahre Göttliche als solches (in konkreten göttlichen Gestalten ,verdichtet‘) erweist, dann tritt Gottes alle überragende Größe gerade durch die Vielfalt göttlicher Ereignisse in Erscheinung. Es ist paradoxerweise ein Monotheismus, der gerade durch einen Polytheismus nicht relativiert, sondern stark wird. Man könnte jedoch aus einem anderen Gottesverständnis heraus einen Monotheismus für stark halten, bei dem die Götterwelt zum Verschwinden gebracht wird, oder für schwach, wenn die Götter hinter dem einen Gott nur wenig zurücktreten. Es scheint, dass innerhalb des griechischen Denkens ein solcherart ,starker‘ Monotheismus als Minderung Gottes verstanden und zurückgewiesen wurde. Der zentrale Gedanke war, dass die Vielfalt gerade die Einheit offenbart und die Fülle der Einheit sich in der Vielfalt zeigt. Gott erweist die Größe seines Göttlichseins eben in den unterschiedlichsten Erfahrungen von Göttern, die aber deswegen nicht dem Bestand nach identisch mit Erfahrungen von Welt bzw. innerweltlich Seienden sind. Als herausragendes Beispiel aus dem 3. Jahrhundert nC preist und verteidigt Plotin – immerhin richtungweisend für den von ihm begründeten Neuplatonismus – diese Art von Polytheismus als Offenbarwerden der Größe des einen und einzigen Gottes: Man schreite dazu fort, »die [innerweltlichen] geistigen Götter (nohtoß ϑeoß) zu preisen, und über allen schließlich den großen König der oberen Welt, der seine Größe gerade in der Vielzahl der Götter aufweist (ndeiknmenon); denn nicht das Göttliche (t ϑ eion) auf einen Punkt verengen (sustelai), sondern seine Fülle aufzeigen, wie er sie selbst aufzeigt, heißt wahrhaft um Gottes Kraft (dnamin) wissen, welcher, verharrend in seinem Sein, eine ganze Zahl von Göttern hervorbringt ), alle mit ihm verknüpft, alle durch ihn und von ihm seiend«.212 (poi Blicken wir nach dem Gesagten wieder auf die Erste Philosophie des Aristoteles zurück, so gewahren wir ein entpersönlichendes Schrumpfen der mythischen Götterwelt. Die Götter haben sich, mythisch gesprochen, von der Erde weg in den nächtlichen Himmel mit 55 (oder 49) Trabanten des Ersten Bewegers zurückgezogen. Alles erweckt hier den Anschein einer Verarmung und Enge (aus dem Blickwinkel mythischer Theologie geurteilt), und das ganz im Gegensatz zur Offenheit Platons gegenüber der Volksreligion – man denke beispielsweise daran, wie er seinen Sokrates (im Phaidon) hoffen lässt, zur Gemeinschaft mit den herrschenden Göttern zu gelangen, und wie dieser um einen heilbringenden Tod betet, und an das letzte Wort des Sterbenden, der dazu auffordert, dem Asklepios, dem göttlichen Arzt, einen Hahn zu opfern. Dieser Sohn des Apoll heilt die Sterblichen und erweckt vom Tode zum Leben. Ihm soll für eine solche Auferweckung zur Unsterblichkeit Dank 212 Plotins Schriften, Enneaden II, 9, 32–39; Seite 130 f.
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erstattet werden. Bei Aristoteles finden wir nichts dieser Art und zudem nichts von Unsterblichkeit der menschlichen Seele. Sein unbewegter Beweger wirkte in vielem befremdlich. Ja, man könnte meinen, einem typisch apersonalen ,Gott der Philosophen‘ zu begegnen, der mit einem religiösen Sichverhalten zu ihm gar nichts zu tun hat. Nach dem Heidegger-Schüler Walter Bröcker hat Religion in der Philosophie des Aristoteles überhaupt keinen Platz: »Wenn das Wort ,Gott‘ im religiösen Sinn genommen werden soll, dann ist die aristotelische Philosophie Atheismus.«213 Sehen wir jedoch genauer hin. Berücksichtigt man die Psychologie und Ethik des Aristoteles, in denen es ja um ein Sichverhalten des Menschen zu sich und zu Anderen geht, und zwar aus der Physis zur Physis und ihrem göttlichen Grund, dann überrascht ein anderer Gesamtzusammenhang, der phänomenal überzeugender verständlich macht, dass und wie uns nach Aristoteles das Gute und Beste in Anspruch nimmt. Zunächst handelt die theoria für Aristoteles »vom Ehrwürdigsten unter allem Seienden«.214 Das göttliche Seiende bzw. Sein, das alles umgreift, zeichnet sich dadurch aus, dass es in allem und in jedem anwesend ist. Wenn es auch als Seiendes nichts sinnlich Wahrnehmbares ist, so muss seine Anwesenheit auf irgendeine Weise zugänglich sein. Da Sein des Seienden nahezu dasselbe wie Anwesendsein des Anwesenden bedeutet, musste das gar nicht besonders hervorgehoben werden, zumal der inzwischen geläufig gewordene abstrakte Begriff der Entität (entitas) unbekannt war. Wird nun vom Sein Gottes gesprochen, impliziert das die erhabenste und eigentlichste Anwesenheit. Sie eröffnet eine Einsicht in die Physis des Göttlichen aus der uns bewegenden und motivierenden Anwesenheit des Göttlichen in uns. Dieses Gottesverständnis ist vorausgesetzt, sonst könnte gar nicht allgemein gesagt werden, das erste Seiende bewege alles, »wie einer, der geliebt wird«, nämlich wie ein erotisch Angestrebtes und innig Geliebtes (hôs erômenon, ß rmenon),215 d.h. das göttliche Seiende wird aus dem, worum willen es ist, verständlich gemacht. Nun kann nicht angenommen werden, dass es angestrebt, in seinem eigenen Sein nachgeahmt und auch denkend vernommen wird, wenn es nicht als Gutes in den Seienden gewissermaßen allgegenwärtig ist. Alles Seiende bestünde dann (metaphorisch gesprochen) in immer-währender ,Liebe‘ zu dem es Bewegenden, in dessen Anwesenheitsraum es verweilt. Dieser großartige teleologische Entwurf ist, das wäre nun zu erwägen, vermutlich nicht in einem abwertenden Sinn ,spekulativ‘, wenn wir berücksichtigen, dass das Göttliche des Gottes der Metaphysik in den Phänomen zwischenmenschlicher Liebe sowie der Selbstliebe seinen ausgezeichneten konkreten Erstzugang besitzt. 213 W. Bröcker, Aristoteles, 221. 214 Aristoteles, Met. XI (K) 7, 1064 b 5 f. 215 A.a.O., XII (L) 7, 1072 b 3.
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Der Erstzugang zur aristotelischen Metaphysik ist der Frage, was im menschlichen Dasein Denken und Liebe ursprünglich begründet, zu entnehmen. Diese Frage lässt sich klären, wenn die Möglichkeit des Menschen, am Göttlichen teilzuhaben, und damit sein ihn motivierendes Verhältnis zur Göttlichkeit Gottes als ,Vernunft‘ herausgearbeitet werden. Wir müssen dem nachgehen, wie sich Denken ereignet und wodurch die Seele (das Lebendigsein des Lebewesens Mensch) erkennt. Dabei ist nicht zu vergessen, dass die Erforschung der Seele »am meisten für die [Erkenntnis der Wahrheit] über die Physis« beiträgt.216 Die Vernunft, insofern sie alles vernimmt, ist dabei vom schlussfolgernden, diskursiven Denken der Seele zu unterscheiden. Die Vernunft, die selbst nicht untergehen oder vergehen kann, tritt als eine bestimmte Seinsweise (ousía tis, osa tiß) in die Seele ein. Das kann an einem Beispiel deutlich werden: Wenn mit dem Greisenalter der Mensch zugrunde geht, verfällt nicht die Vernunft, sondern das Erinnern und Lieben, »denn dies [Erinnern und Lieben] war nicht jener [der Vernunft] eigen, sondern dem Gemeinsamen [der Menschen], das zugrunde geht. Die Vernunft aber ist wohl etwas Göttlicheres (theioteron, ϑeitern) und Leidensunfähiges.«217 Die Vernunft ist als solche, d.h. als göttliche Energeia, reine Aktualitätsfülle und Lebendigkeit. Mit dem Verfall der Organe des Menschen können die seelischen Vermögen nicht mehr wirken. Beispielsweise verfällt das logische Schließen als Funktion des beseelten Lebewesens, aber nicht das Vernehmen (noein) der Vernunft selbst. Ihr Sein verfällt niemals; es ist von der Seele der Sterblichen, denen es möglich ist, an der Vernunft die kurze Zeit ihres offenständigen Lebens teilzuhaben, abzuheben und trennt sich im Tode vom Menschen. Aristoteles nimmt also an, »dass die Vernunft allein gleichsam durch die Tür von außen (ϑraϑen) hereinkommt und allein göttlich (ϑen) ist«.218 Ihrer Seinsart nach ist die Vernunft das einzige Göttliche im Menschen. Hierbei ist zu bedenken, dass ein Mensch das, was er mit Hilfe eines durch Liebe Bewegenden kann, gewissermaßen durch sich selbst kann.219 Hier ist es der Mensch, der sich von diesem Sein angesprochen und motiviert weiß. Die göttliche ,Hilfestellung‘ besagt, dass der Mensch in ausgezeichneter Weise als der Ort der Anwesenheit und Einwohnung von etwas Göttlichem erfahren wird. Dieses Ewige und Unsterbliche, das sich dem Menschen mitteilt, ist ihm von Natur aus (physei) eigen, wodurch für den Menschen »das Leben gemäß der Vernunft« das eu-
216 A.a.O., De anima I (A) 1, 402 a 6. 217 Vgl. a.a.O., I (A) 4, 408 b 18 –29. 218 Aristoteles, De generatione animalium, II 3, 736 b 27. 219 Vgl. Aristoteles, NE 1112 b 27 f.
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daimonischste ist,220 weil er ja durch die göttliche Vernunft »am meisten der Mensch ist«.221 Doch bliebe hier noch die Aristoteles zugeschriebene Frage zu bedenken, ob und wie Gott »entweder Vernunft ist oder etwas Besseres als Vernunft«.222 Das Anwesen des Göttlichen ist also das, wodurch der Mensch am meisten Mensch ist. In diesem Aufscheinen (Phänomen) des Göttlichen im Menschen und in dieser Erfahrung gründet nun alle Liebe zum Mitmenschen und zu sich selbst, insofern sie nicht nur um des Nutzens oder des Angenehmen willen, sondern um ihrer selbst willen motiviert ist, also in diesem Anspruch des Göttlichen gründet, das vom Ursprung her Menschlichste des Menschen zu lieben. In dieser erstaunlichen Begründung der Ethik (immer noch gemäß der Physis!) liegt meiner Meinung nach für uns der primäre phänomenale Zugang zu diesem theologischen Wissen. Die in der Physik und Metaphysik vermisste Lebensnähe des Aristoteles hat hier ihren Sitz. Seine Ethikbegründung führt uns auch auf einen religionsphilosophisch zu würdigenden Bezug, insofern die eine göttliche Vernunft in ihrer Präsenz die Menschen miteinander verbindet und das Göttliche im Menschen als das der Verehrung würdigste Sein (timiótaton ón) unser Dasein und Handeln motiviert.223
220 A.a.O., X 7, 1177 b 28. Man findet das Eudaimonischste mit »das Glücklichste« oder »Glückseligste« recht unglücklich übersetzt. ,Eu-daimonie‘ ist bei Aristoteles das sorgsam gewählte Grundwort, das den Erfahrungsbezug von Gott und Mensch anspricht. Es sollte vielleicht beim Wort genommen werden: Dann wäre der ,Daimon‘ derselbe wie der Gott der Metaphysik bzw. seiner Physik, und zwar insofern er im Zuteilen des Guten (eu) waltet, weil er den Menschen zur ureigensten Möglichkeit des guten Lebens und Handelns (zum Tätigsein in Sinne der Tugend) freigibt. Daher kommt es in Praxis und Theorie auf die Eudaimonie an, die, mit Glück oder Glückseligkeit übersetzt, nur das Moment stimmungsmäßiger Erschlossenheit des Vornehmsten und Besten in uns selbst nennt. Vgl. dazu vom Verf. (1997c), Zur philosophischen Theologie des Aristoteles. Liebe und Eudämonie in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles. Eine Anfrage an die herkömmliche Interpretation, in: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Bd. 2, 243–268; M. Riedenauer, Orexis und Eupraxia. Ethikbegründung im Streben bei Aristoteles, 279–345. 221 Aristoteles, NE X 7, 1178 a 6 – 8. 222 Aristoteles, Fragmenta selecta, 57. 223 Die phänomenologisch und sachlich berechtigte Intention dieser überaus problematischen, weil kurzschlüssig übermenschlichen und überindividuellen Ethikbegründung scheint in der Aristoteles-Forschung kaum auf Interesse zu stoßen. In der Rückbesinnung auf Aristoteles hat Averroes (Abûl-Walîd ibn Ruschd, †1198) die den Menschen gemeinsame und verbindliche Erkenntnis exklusiv durch die direkte Teilnahme an der einen universalen göttlichen Vernunft verstehen wollen. Dagegen sollen die individuellen Wahrnehmungen, Erinnerungen, Vorstellungen des einzelnen Menschen diese Allgemeinheit der Erkenntnis nicht teilen. Vermutlich ist mit dem Auftreten und der Zurückweisung des Averroismus, und zwar durch die Annahme eines individuellen, persönlichen, potenziellen und universalen Intellekts, auch die Aristoteles eigene Begründung der Ethik aus der Erscheinung des eigenen Daseinsgrundes in den Hintergrund getreten; vor allem die Selbstliebe war vielfach Missdeutungen ausgesetzt.
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1.2.2.6 Stoa
In der hellenistischen Zeit war die physische Theologie der Stoa maßgebend. Ihre wirkungsgeschichtliche Bedeutung für die philosophische Theologie ist kaum zu überschätzen, obgleich sie heute im Gegensatz zum Platonismus innerhalb der philosophischen Theologien und der aktuellen Auseinandersetzungen kaum mehr (als solche) wahrgenommen wird. Die physische Theologie gehört zur stoischen Physik als einer Schuldisziplin (a) und vollendet sie. Zu ihrer Würdigung (in f) ist daher das mit ihr verbundene Verständnis der Physis (b) und des Seins (c) zu berücksichtigen. Insofern die Physis weltgestaltender Logos ist, wird sie mit Gott identifiziert, der sich in seinem Walten überall, besonders im Menschen, bekundet. Dem entspricht, dass das Interesse an Ethik und an physischer Theologie im Zentrum steht. Philosophische Weisheit wird daher als ungetrenntes »Sichverstehen auf göttliche und menschliche Angelegenheiten« bestimmt.224 Dazu gehört ein betont existentielles Verständnis von Philosophie (d), die auf das Walten des Göttlichen im Kosmos und im Menschen eingeht (e). Abschließend gilt es, die physische Theologie im Rahmen der theologia tripartita sowie durch einen Ausblick auf ihre Rezeptionsgeschichte zu würdigen (f). a) Schuldisziplinen Die stoische Schulphilosophie erarbeitete wie keine andere Philosophenschule ihrer Zeit eine organische Verbindung der in Logik, Physik und Ethik eingeteilten Disziplinen (disciplinae), d.h. der Sachgebiete, die dem Schüler (discipulus) im Unterricht vermittelt wurden. Sie durchdringen und implizieren einander untrennbar. Die Reihenfolge der Disziplinen ist daher nicht festgelegt. Die Physik kann vor der Ethik oder die Ethik vor der Physik und die Logik an dritter Stelle kommen. Eine Verständnisweise, die uns zu denken geben sollte. In der späteren Stoa tritt das Interesse an Physik und Logik gegenüber dem an der Ethik zurück. Wenn man der Stoa auch vorgeworfen hat, das ursprüngliche philosophische Fragen zugunsten der Schulung, dem Einbringen von Wissen in Wissensgebiete (logische, physische, ethische Wissenschaft, pistmh), verlassen zu haben, so ist ihre Popularisierungstendenz auch als ,Demokratisierungsbemühen‘ des Philosophierens zu verstehen. Die Einteilung weiß sich ausdrücklich dem pädagogischen Anliegen und den Erfordernissen des Unterrichts sowie des kontinuierlichen spirituellen Fortschreitens verpflichtet:225 224 Stoicorum veterum fragmenta = SVF, Bd. 2, Fr. 36: […] tn d sofan pistmhn ϑewn te ka 2nϑrwpnwn pragm1twn. Vgl. Fr. 35 und 1017. Vgl. M. Pohlenz, Die Stoa, Bd. 1, 93; Bd. 2 (Erläuterungen), 53 f. 225 Vgl. dazu die Klassifikation der Einteilungen antiker Philosophie in Typen von P. Hadot, Art.
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Verbreitung nicht-graduierbarer Weisheit für alle, die im Gegensatz zu dem, was nicht von uns abhängt, für das, was von uns abhängt, die volle Verantwortung übernimmt; ein Leben in Annahme und Erhaltung des jeweils eigenen Seins in voller Übereinstimmung mit der Physis, die mit Gott insofern identifiziert wird, als er »Anfang und Ursprung von allem« ist.226 Physische Theologie gehört somit in die Physik und ist ohne das stoische Physis- und Seinsverständnis nicht verstehbar. b) Physisverständnis Diogenes Laertius berichtet: »Es ist aber die Physis ein (dauerhaftes Sich-)Verhalten, das sich aus sich selbst heraus bewegt gemäß den Samengedanken und welches das, was aus ihr entsteht, vollendet und zusammenhält in angemessenen Zeiträumen und es zu etwas so Geartetem macht wie das, woraus es entstanden ist. Sie zielt auch auf das Zuträgliche und auf die Freude, wie aus der kunstvollen Verfertigung des Menschen offenkundig ist.«227 Was selbst keines Beweises mehr bedarf, weil es in der Selbsterfahrung offenkundig ist, ist die Schicksalhaftigkeit unseres Daseins. Diese wird so verstanden, dass wir uns selbst in unserem Geschick auf etwas ausgerichtet erfahren, das uns mit Gunst entgegenkommt, um sich so vorteilhaft zu fügen. Sollte es auch tatsächlich eintreffen, so gibt es Grund zur Freude. Von da her erblicken wir uns von der Physis her stammend und diese als das, was aus sich selbst besteht, das den Kosmos Umgreifende und Zusammenhaltende (tn suncousan tn ksmon) sowie das, was, auf Erden erzeugt, aus sich selbst wachsen lässt und waltet (tn fousan t1 ß),228 und zwar das Unbelebte sowie Belebte mitsamt Menschen und Göttern. p gh Die Physis geht uns so ereignishaft als die Hervorbringende und das Hervorgebrachte auf, eine Unterscheidung, die von Spinoza im Rückgriff auf die Stoa als natura naturans und natura naturata terminologisch neu gefasst wurde. Immer wieder werden wir vom Denken der Stoa dazu angehalten, von dem uns zunächst Begegnenden und Offenkundigen auszugehen. Und da wird, ausgehend von dem uns begegnenden Seienden, dieses als ein Hervorgebrachtes so verstanden, dass es vorweg eine Synthese von Stoff (hyle) und Logos darstellt. Der hervorbringende Logos ist vom Anfang an mit der Hyle eins und in je verschiedener Philosophie, I., F. Die Einteilung der Philosophie in der Antike, in: HWP, Bd. 7, Sp. 599 – 607, »Der organische oder dynamische Klassifikationstyp« bei den Stoikern. (Sp. 601 ff.) n p1ntwn ist. 226 SVF, Bd. 1, Fr. 153: Zenon und Chrysipp nehmen an, dass Gott die 2rc tw 227 SVF, Bd. 2, Fr. 1132: sti d si i at kio kat speratiko lo, sa potelos te ka sosa t at isoi o ka toiata d soto stoesϑai ka doh , dh lo k th iw pekϑ. tat d ka to ϑpo dhmioga. 228 Ebd.
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Hinsicht dasselbe wie Pneuma und Seele sowie Vernunft des Weltalls. Der Hauptgedanke ist hier: Der ewige Grund (2rc) und das Ganze (aller Seienden), das aus ihm hervorgeht, bestehen einerseits aus dem ursächlich Wirkenden, aus Formenden, Belebenden, dem alles durchdringenden göttlichen Logos und andererseits aus dem Passiven, dem leidend-empfangenden, qualitätslosen Stoff.229 Logos und Hyle werden nicht für zwei Anfänge (Urgründe) gehalten, die untrennbar verbunden sind, sondern es sind einander ergänzende Hinsichten (Betrachtungsweisen) ein und desselben Uranfangs, der in einem Prozess des Sicheinigens (der Synthesis) die innerweltlichen Seienden samt ihren Gesetzlichkeiten vernunftgemäß hervorbringt und gestaltet. Das Wesen dieser Gesetzlichkeiten wird nach dem mythischen Wort für das unentrinnbar waltende Geschick, heimarméne (emarmnh, lat. fatum), benannt; es ist die lückenlose »Reihe der Ursachen«, durch die mindestens das, was tatsächlich eintritt, bedingt ist, wobei alle Glieder des Kosmos in Wechselwirkung zueinander stehen und in alles vereinigender Sympathie miteinander verbunden sind. An dieser mit Vor(her)sehung bzw. ,Vorverständnis‘ ( pronoia, prnoia, lat. providentia) verknüpften Schickung göttlicher Vernunft kann kein Gott etwas ändern. Massiv wird in diesem kosmologischen Entwurf die platonistische Zweiweltenlehre (phänomenale und noumenale Welt) zurückgenommen. Im Ausklang der Stoa fasst Marc Aurel das, was Physis ist, als Kosmos zusammen: »Alles ist miteinander verflochten, und die Verbindung ist heilig (snϑesiß er!), fast in keiner Weise ist das eine dem anderen fremd. Denn es ist gemeinsam angeordnet und bildet gemeinsam (sgkosme) denselben Kosmos. Der Kosmos ist nämlich einer aus allem (x p1ntwn), und Gott ist einer durch alles (hindurch [waltend]), und das Sein (osa) ist eines, und die Weltordnung (nmoß) [ist] eine, nur ein Logos [ist], der allen denkenden Lebewesen gemeinsam ist, und die Wahrheit ist eine, jedenfalls wenn die Vollendung der Lebewesen, die eine gemeinsame Herkunft haben und am selben Logos teilhaben (lgou metecntwn zwn), eine ist.«230 In der Physis begegnen wir immer nur Seienden, die aktuell untrennbar geeinte Gestaltungen von empfangendem Stoff und aktivem Logos sind. Der stoffliche Träger des Logos, ja die Ursubstanz, ist Feuer bzw. Wärme. Diese ist im Ursprung nicht lebensfeindliche Hitze, gestaltauflösende Feuersbrunst, sondern so etwas wie ein stärker oder schwächer ,dosiertes‘, kontrolliertes Feuer, beispielsweise unsere menschliche Wärme, sei es im Verdauungsleben oder in Sympathie. Ohne Wärme gedeiht kein Leben. Der feurige Logos ist der Urgrund, das im Kosmos Bleibende, das sich zur Vielheit der Einzeldinge, die nichts anderes sind als organische Teile des einen 229 Vgl. SVF, Bd. 2: Physicae doctrinae fundamenta, § 1, Fr. 111–116. 230 Marc Aurel, Wege zu sich selbst, lib. VII, 9, 155.
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Ganzen, entfaltet. Durch die zwei Seiten des Seienden erklärt man aber meist auch eine zyklische Periodisierung des Weltgeschehens, wonach zum immerwährenden Wesen der Physis nicht nur die Weltbildung, sondern auch die Weltauflösung (als Weltbrand, ekpyrosis, kprwsiß) gehört. Die Physis im Ganzen (der Makrokosmos) wird wie ein Lebewesen von einem vernunftgemäßen Herrschaftsprinzip (hegemonikon) in organischer Entfaltung geleitet. Darin besteht eine Analogie zu allen Lebewesen, insbesondere zum Menschen (als Mikrokosmos). Dieser verkörpert eine vernünftige Seele ( psychê), deren lenkender Teil (das hegemonikon) im Kopf bzw. in der Brust lokalisiert wird. Die Gestaltung der einzelnen Phänomene ereignet sich in lebendiger Entwicklung. Wir betreten die Lebenswelt des Ackerbauern, der Samen in die mütterliche Erde streut, deren Produkte ihm kraft göttlicher Wirksamkeit aufgehen, oder die mythische Welt, wo Hera als Gattin des Zeus gilt; sie wird als Hyle verstanden, welche die samenhaften Gedanken des Gottes empfängt. Zeus ist der die Physis urhebend Durchwirkende, der durch ihren Nomos alles Leitende,231 »gleichsam als Vater von allem«.232 Das Urfeuer ist gewissermaßen sein Sperma als Herkunft, Keim, Grundstoff, Wirkursache, aus dem die anderen Elemente (Luft, Wasser, Erde) entstehen; aber immer konkret verstanden: Spermahafter Logos wirkt (zeugt) als Keimkraft, als der das aufgehende Ganze leitende Samengedanke, der wiederum in vielen samenhaften Logoi aufgeht, die vernünftig und naturgesetzlich wirken und wieder vergehen, sodass der Urzustand immer wieder zurückbleibt. Das Wirken ist körperlich, leibhaftig, organisch, doch mehr organisch als mechanisch;233 die Weltbildung ist georgomorph und nicht technomorph konzipiert. Alles, was wirkt, ist körperlich, breitet sich dreidimensional aus und erfüllt so den leeren Raum. Man kann dieser Auffassung Verständnis entgegenbringen, wenn man n. 231 SVF, Bd. 1, Fr. 537: fsewß 2rchg, nmou mta p1nta kubernw 232 SVF, Bd. 2, Fr. 1021: e nai d […] sper ptr p1ntwn. Vgl. auch den Zeus-Hymnos des Kleanthes, SVF, Bd. 1, Fr. 537 (122, Zeile 30), und G. Schrenk, »Der Vater als Erzeuger und die Synthese von König und Vater in der Stoa«, in: ThWNT, Bd. 5, 955 f. ,Vater‘ wird in der Stoa physisch als Erzeuger verstanden, und auch im religiösen Vollzug – als Anrede für den, der fürsorgend Kindschaft stiftet – gebraucht. Daher konnte in Apg. 17,29 a gesagt werden, »Wir sind sogar von seinem Geschlecht«. Paulus zitiert hier ein bekanntes Wort des Stoikers Aratos von Soloi (um 310 –345). Den im Hellenismus verbreiteten Gedanken hat er freilich nicht in spezifisch stoischer Auslegung verstanden. Dazu siehe unten S. 130, Anm. 270, sowie K. Fink, Der freundliche Zeus in den Hymnen der Stoiker Kleantes von Assos und Aratos aus Soloi, hier bes. 180 f. 233 Vgl. M. T. Cicero, De natura deorum, II, 82, 236 –239: »Wenn wir dagegen sagen, die Welt bestehe durch die Natur und werde von ihr geleitet (administrari), dann wollen wir damit nicht sagen, sie sei wie ein Erdklumpen, ein Felsbrocken oder sonst etwas Derartiges ohne jeden organischen Zusammenhang (cohaerendi natura), sondern wie ein Baum oder wie ein Lebewesen, bei denen sich keine Zufälligkeit, sondern Ordnung und eine Art von Kunstfertigkeit zeigt (ordo apparet et artis quaedam similitudo).«
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bedenkt, dass es streng genommen keine Phänomene menschlichen Existierens gibt, die unleiblich wären. Dann könnte gesagt werden, dass unser aller offenes Anwesen ein ,leibendes‘ Menschsein ist, da alles, was immer ist, uns mit ,Leib und Seele‘ in Anspruch nimmt. Dieses Offenständigsein wäre das, was ,leibt‘, und erst über dieses ,Leben und Leiben‘ wäre uns dreidimensional Körperliches zugänglich in Höhe, Tiefe und Breite. Doch hält man in der Stoa das Leibsein, das sich dem Blick zunächst aufdrängt, also das Sinnenhaft-Wahrnehmbare, undifferenziert für das Erste der Sache nach und unterscheidet es nicht genügend vom offenen Anwesen im Weltbezug und vom Offenen der Welt, die als Ermöglichungsgrund für Begegnendes das der Sache nach Vorhergehende ist. Da Körper und Leib nicht unterschieden werden, könnte man von graduell abgestufter körperlicher Leiblichkeit oder leibhaftiger Körperlichkeit reden, von deren Vorhandensein (als Entwicklungsprodukt) her verstanden alles, was ist, gedacht wird. Körperlich sind die Affekte, die Krankheiten, das Gute und das Böse im Handeln. Körperlich sind sogar Gott und die Götter, sie dürfen nur nicht in menschlicher Gestalt vorgestellt werden. Gott ist unlöslich eins mit dem Element des Feuers, ja er ist »künstlerisch [den Kosmos] gestaltendes Feu r tecnikn).234 er, das auf dem Weg zum Hervorbringen schreitet« (pyr technikón, pu Insofern er mit der Physis, dem Weltall (kósmos) als Ganzem, identifiziert wird, kommt ihm (eine aus mehreren Sphären gebildete) vollkommene Kugelförmigkeit zu, welche die vollkommene Gestalt des Weltalls ist.235 c) Seinsverständnis Mit der Annahme der Körperlichkeit alles Physischen hat sich das überkommene Seinsverständnis verändert. »Das Seiende wird nur von Körpern ausgesagt.« 236 Physisches, Körperliches und Seiendes besagen dasselbe. Alles, was wirkt oder eine Einwirkung erfährt, ist körperlich. Nur durch räumliche Annäherung oder Berührung kann etwas wirken. Unkörperliches kann nicht wirklich sein, denn es kann nichts wirken oder erleiden. Vier Arten des Unkörperlichen werden unterschieden: das nur Ausgesagte (lektn), das Leere (Vakuum), der Raum und die Zeit. Das Unkörperliche ist Nichtseiendes; das sind auch die Dinge, insofern sie sich aussagen lassen. Unkörperlich ist solches, das von Körperlichkeit nicht zur Gänze eingenommen wird, sowie das, was über die Ausdehnung gegenwärtiger Bewegung hinausgeht, wie Vergangenes und Zukünftiges. Dieses ist kein wirkliches Seiendes 234 SVF, Bd. 2, Fr. 1027 (306, Zeile 20), Fr. 1031. 235 SVF, Bd. 2, Fr. 1028–1048; M. T. Cicero, De natura deorum, II, 47, 115 f. 236 SVF, Bd. 2, Fr. 329: […] t n kat! swm1tn mnn lgesϑai […].
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(n, lat. ens, quod est), aber deswegen nicht einfach nichts, sondern ein »Etwas« (ti, t, lat. quid). Damit begegnen wir einem Vorbegriff der spätmittelalterlichen Seiendheit (entitas) und der modernen Entität. Es wird von späteren Stoikern als der erste und umfassendste Gattungsbegriff (geniktaton) der Seienden angesetzt, von der die stoische Kategorienlehre ihren Ausgang nimmt. Rückblickend kann gesagt werden: Die Auslegung der Physis geht von ontischen Eigenschaften des innerweltlichen Seienden aus und bleibt an ihnen haften. Das Physis- bzw. Welt-Verständnis wird eingeengt auf das wirklich vorhandene Seiende und vom Seienden her wird noch das Sein der Physis bestimmt. Das Sein der Physis wird für etwas Seiendes (n) gehalten. Dem entspricht die von der Stoa entwickelte ontische Kategorienlehre. Daran ändert auch der betonte Werde-Charakter des Seienden nichts. Am ,ontischen Vorurteil‘ hinsichtlich des Phänomens der Physis wird fraglos festgehalten.237 Die von der Stoa ausgearbeitete Ontologie wirkt im Vergleich zum stoischen Physis-Denken wie ein episodisches Accessoire. Das Anwesen alles Begegnenden, welches das ,Sein‘ der Physis wäre, wird fraglos mit dem einen Gott und seinem gewährenden Walten identifiziert. So nimmt Chrysippos an, »dass das gesamte Sein [Seiende im Ganzen] geeint ist, indem ein gewisses [göttliches] Pneuma durch das ganze Sein hindurchdringt, von dem es zusammengehalten wird und so Bestand hat; auf diese Weise ist das ganze All mit dem Pneuma gleich gestimmt.«238 Diese Identifikation des einigenden Seins (der ousía als Allsubstanz) mit dem Logos (insofern er hier als Pneuma wirkt) wird argumentativ vielfältig in Erweisen des Daseins Gottes ausgebaut, deren Sammlung und Ausbau später einen Hauptbereich der ,natürlichen Theologie‘ bilden wird. Auf sie wird im Rahmen der Würdigung stoischer Theologie (f) noch eingegangen werden. Vielfach wird in der Rezeptionsgeschichte suggeriert, dass physische Theologie die Natur als besondere Seinsweise des Göttlichen, ja die ursprüngliche Wahrheit und das Wesen des Göttlichen oder sogar die Göttlichkeit Gottes selbst zum thematischen Gegenstand habe. Das ist insofern richtig, als diese Göttlichkeit sich im stoischen Denken nur als das ursprünglich Physische der Physis erschließt. Doch geht es nicht um die Physis Gottes im Unterschied zum Kosmos, denn das Göttliche Gottes transzendiert nicht den Kosmos wie bei Aristoteles oder im Neuplatonismus. Im Gegenteil, das Göttliche umgreift als das Naturganze exklusiv immanentistisch alles, was ist, und es erscheint so in allem als Ausgelegtheit des unthematisiert bleibenden Seins aller Seienden. 237 Zum ontischen Missverständnis siehe oben den ersten Exkurs 1.2.1. sϑai mn potϑetai 238 SVF, Bd. 2, Fr. 473: sti d Crsppo dxa per kr1sewß de: nw ß dikontoß, f’ o snceta te ka tn smpasan osan, pnematß tinoß di! p1shß ath t pa n. smmnei ka smpaϑß stin at
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Motivisch könnte man meinen, es ginge im Ansatz um ein dem Wesen des Göttlichen entsprechendes Gott-Sagen, das dem Aufgang, der Offenbarkeit des verborgenen, verdeckten oder entstellten Anwesens Gottes verpflichtet ist, geht es doch um die Wahrheit Gottes und der Götter im Sinne von Unverborgenheit, und das im entschiedenen Gegensatz zu den Vorstellungen von Gott und Göttern, die sich bloß menschlicher Setzung (thésis) verdanken. Aber im Aufgang der Physis, im Offenkundigwerden, fehlt vollkommen der Bezug zur Fragwürdigkeit und zum Fragwürdig-Bleiben des Verborgenen. So wird das Sein des Seienden ontisch ausgelegt und kurzschlüssig für Gott ausgegeben und damit die Fragwürdigkeit der Physis, ihre Abgründigkeit, verdeckt.239 d) Existenzielles und kontemplatives Philosophieverständnis Die Stoa teilt mit den anderen philosophischen Bildungsstätten jener Zeit die Auffassung, dass Philosophie eine Lebensform ist:240 Lebenslehre und -weisheit, individuelle oder auch gemeinsame Einübung in die Lebenspraxis der Selbstwerdung und Kunst der Lebensführung. Die auf der Philosophie aufbauenden Schulen konnten sich auf die sokratische Bildung praktischer Selbsterkenntnis berufen, bezogen auf die Sorge um das Leben, und zwar um das gute, gelingende, glückliche, ruhig-besonnene Leben, und auf die Verantwortlichkeit für das eigene, aber auch gemeinsame Leben (im Horizont des Weltbürgertums der Stoa); primär gab es also keine abgehobene Theorie, die nachträglich in irgendeiner Weise erst ,praktisch‘ zu verwerten und zu verwenden wäre. Dennoch steht die Stoa im Gegensatz zu den anderen antiken Schulen der Epikureer, Skeptiker und (den Stoikern nahestehenden) Kyniker, da sie das Verhältnis der Physis in der Göttlichkeit ihres Logos zur Lebenspraxis bedenkt. Das ihr angemessene »Leben« ist nicht modern biologisch zu verstehen, sondern vom menschlichen Sein, vom Selberanwesen im Offenständigkeitsbereich der Physis, des Kosmos her. Im jeweiligen Weltaufenthalt waltet in allem die Weltvernunft bzw. Weltseele und daher stehen wir unter dem An- und Zuspruch des für göttlich gehaltenen Weltlogos, und zwar in inniger Verbindung mit ihr und in sittlicher Entsprechung zu ihm. Dem Weltlogos entspricht ein den göttlichen Anspruch vernehmendes, universales Weltethos.
239 Zur Dekonstruktion des Pantheismus hinsichtlich seines ontologischen Verständnisses vgl. vom Verf., in: Befreiung und Gotteserkenntnis, 223–234, Thomas von Aquin und die Überwindung pantheistischer (monistischer) Tendenzen. 240 Vgl. dazu besonders P. Hadot, Philosophie als Lebensform. Antike und moderne Exerzitien der Weisheit.
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Die Stoa ist ethisch und auch ,religiös‘ (d.h. physisverbunden) praxisorientiert, aber deshalb nicht theoriefeindlich, sondern erst recht ein Denken des Ganzen (Physis) und seines Wesens (Logos). Ein dem Sein entsprechendes Denken ist von vornherein ein praktisches, wenn es ein Gewahren des Anspruchs ist, das Selbstsein-Können als solches anzunehmen und zu übernehmen, und zwar wenn es noch nicht von allen kunstvollen (technischen) Verfahrensweisen im Dienst des Tuns und Machens aufgesogen ist. Ist nun Apathie das eigentümliche Ziel stoischer Ethik, so meint dies Gelassenheit und Seelenfrieden, die in Selbstständigkeit und Freiheit errungen werden, sowie eine das Sein erschließende Grundbefindlichkeit, die dem unmittelbaren Innesein göttlichen Waltens entspringt. Apathie ist daher nicht mit Technologie oder mit der zu ihr gehörenden Lebenskunst zu verwechseln: der Affekt- und Leidenschaftslosigkeit, der Befreiung von der freiheitshemmenden Wirkung der uns überwältigenden Affekte sowie vom vernunftlosen Streben und der Vorherrschaft der Unvernunft. Ist der »Mensch dazu geboren, das Weltall zu betrachten und nachzuahmen«,241 so verhält er sich jenseits des Entweder-Oder zwischen dem Primat der Theorie, die zweckfrei, praxisenthoben, vom (eigenen) Leben Abstand nimmt, und dem Primat der Praxis, welcher die Theorie (unmittelbar) um des Handelns willen oder gar als Anleitung zur Herstellung (poiesis) betreibt. Der Mensch ist gezeugt, um einfach für sich selbst da zu sein in voller Entsprechung zum Weltall. Philosophische Theorie ist als Besinnung (Meditationsübung) höchste Form der Praxis, und zwar nicht nur um des Ethischen willen (um recht zu handeln), sondern um willen der gesamten Grundverfassung, um willen des Menschseins, d.h. der ihm eigenen Physis (»ein winziges Teilchen des Vollkommenen«242), und seines Bezugs zur allumfassenden Physis, zur Welt, daher ,Weltweisheit‘. Philosophie ist Meditation oder besser: Kontemplation,243 kontemplative Einübung in die persönliche und gemeinsame Lebenspraxis und Beratung, Anleitung zu einem besseren, sinnvolleren Leben (Wandlung), zum Selbstwerden – durch die Übungen (Askese, Exerzitien), die ganz wach und gegenwärtig werden lassen; durch bewusst überlegte, durchdachte Teilnahme am Weltganzen, Weitung des Selbst in Übereinstimmung mit der Physis (dem Sein im Ganzen, das uns als Wahrheit aufgeht), Eingehen auf die Zugehörigkeit zum Ganzen, eingefügt in die Totalität der Welt.244 241 M. T. Cicero, De natura deorum, lib. II, 37: homo ortus est ad mundum contemplandum et imitandum. 242 Ebd. 243 ,Contemplari‘, das ursprünglich die Himmelsbetrachtung der Auguren meint, dient bei Cicero und ~ vgl. G. König, Art. »Theorie I«, in: HWP, Seneca zur Übersetzung des griechischen ϑewrein, Bd. 10, Sp. 1131 ff., Anm. 17; vgl. oben M. T. Cicero, De natura deorum, II, 37, 184 f. und 665 f. 244 L. A. Seneca, Briefe über Ethik 66, in: Philosophische Schriften, Bd. 3, 6: animus intuens vera […] toti se inserens mundo. – Der Sinn des »In-der-Welt-sein« liegt nicht in einer Information
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Sich im jeweiligen Augenblick als Teil der Natur in der Gegenwart des Ganzen zu gewahren, bedeutet nicht, sich im Ganzen zu verlieren, sondern all ihren Geschehnissen die Aufmerksamkeit zuzuwenden (in omnis eius actus contemplationem suam mittens). Daher üben wir uns in voller Aufmerksamkeit, in ständigem Wachsein (prosochê, prosoc) in Bezug auf uns selbst und in steter Geistesgegenwart in angemessener Spannung (tónos, unterschieden von epikureischer Entspannung, wellness). Es geht um ein Leben im Augenblick in Frieden, Harmonie und Freude, um ein Leben in Gelassenheit gegenüber Distress, in freudiger Hinnahme der Handlungen, die einem von der Natur zugemessen sind und die nicht in unserer Macht stehen konta), ja um ein Leben angesichts der Übel sowie des Endes, mit (kathekonta, kaϑh dem die Lebensganzheit im Tod beendet ist. Philosophie ist jenes Sterbenlernen (mori discere bzw. commentatio mortis 245), das ein Lebenlernen ist, weil die meditierte Nähe zum Tod dem gelebten Augenblick die volle Kostbarkeit zurückgibt. Das so gewonnene Leben in heiterer Gelassenheit befreit von Ängsten und dies mit der therapeutischen Letztintention des leidenschaftsfreien Seelenfriedens. Dazu sind unterstützende Techniken und Verfahrensweisen nötig, z.B. Therapie der Leidenschaften, schriftliche Erkundung, Erforschung und Prüfung des Gewissens u.a. Wer diese Übungen der Weisheit praktiziert, d.h. diese Lebensregeln einübt, ist wirklich ein Philosoph, einer, der die Weisheit liebt, die nicht nur Kenntnisse über Wissensgebiete vermittelt, sondern zu einer neuen Daseins- und Seinsweise führt. e) Unmittelbares Walten des Göttlichen im Kosmos und im Menschen Das existenzielle Physisverständnis antwortet auf eine Erfahrung unmittelbarer Anwesenheit des Göttlichen in allen Seienden. Zenon aus Kition (Zypern),246 dem Schulüber die Selbstverständlichkeit eines Vorhandenseins in ihr, womit die Sache erledigt wäre, sondern im alltäglichen Vollzug des »In-Seins«, des stetig geweiteten Zulassens unseres Anwesenheitsbereiches, mit dem wir immer schon vertraut waren; dieser Vollzug aber ist Antwort auf ein Sich-inAnspruch-nehmen-Lassen durch das Offene des Anwesens (der Welt). Das ist aber ohne Übung (Askese) nicht zu erreichen. 245 M. T. Cicero, Tusculanae Disputationes, I, 75, 70. 246 Zenon, Sohn des Manasse, ist nur bedingt ein griechischer Philosoph zu nennen. Die von M. Pohlenz im Deutschland von 1943 (!) mutig verfochtene These des semitischen Ursprungs der Stoa und ihrer erst späteren Hellenisierung lässt sich heute nicht mehr vertreten. Wahrscheinlich ist dennoch, dass das Denken und die Frömmigkeit Zenons von seiner phönizischen oder (wie H. L. Goldschmidt in: Stoa heute. Aus den Quellen des Judentums, überzeugend dargetan hat) sogar jüdischen Herkunft mitbestimmt waren. Zenons zweiter Nachfolger Chrysipp aus Soloi (Kilikien) stammte väterlicherseits aus Tarsos. Sein Vater hat möglicherweise dem aramäisch sprechenden hellenistischen Judentum angehört. Die Provinzhauptstadt Tarsos (Geburtsstadt des Saulus/Paulus), ein Zentrum der Philosophie und allgemeinen Bildung, hatte vermutlich über längere Zeit hinweg eine nicht unbedeutende Schule stoischer Philosophie.
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gründer der Stoa (333/2–262/1 vC), wird das Wort zugeschrieben, Gott sei durch die Materie der Welt »hindurchgegangen wie der Honig durch die Waben«. Denselben in der ganzen Stoa wiederkehrenden Gedanken vom Durchwaltetsein der Welt durch Gott fasst im Ausgang der späten Stoa Kaiser Marc Aurel (121–180 nC) in die Worte: 247 »Es ist ein Gott durch alles hindurch.« Aus dieser Grunderfahrung heraus wird vom Anfang der Stoa an (Zenon, Chrysipp) das »Sein« (osa) der ganzen Welt und des kugelgestaltigen Himmels (also die Physis) mit dem einen Gott identifiziert.248 Marcus Tullius Cicero (106 –43 vC), repräsentativ für die Überlieferung der alten und besonders der mittleren Stoa, sagt mit Nachdruck, dass »diese unsere Welt, die das Vorzüglichste ist, was es überhaupt gibt, ein beseeltes [Wesen] und Gott ist (animantem esse et deum)«.249 Folgerichtig ist dann: »Außer der Welt gibt es nichts.«250 Die in der Stoa keineswegs völlig einheitliche pantheistische Grundposition bedarf einer Präzisierung, denn der göttliche Logos ist nicht einfach dasselbe wie das ganze Sein, sondern als Grund und Ziel durchdringt und durchzieht er das ganze Sein.251 Die Welt ist daher nur insofern Gott, als sie das immerwährende Ganze, Grund und Ursprung alles in ihr Hervorgebrachten ist. Daher sind nach Epiktet Naturwesen und somit unsere Körper, besonders aber unsere Seelen, »mit Gott verbunden wie dessen Teile und Stücke«.252 Die Welt wird organisch, analog zu einem Lebewesen verstanden; ihre Teile und Glieder sind ihrer Seele entwachsen, die im Hervorgebrachten anwesend ist und sich selbst wahrnimmt. Daraus leitet sich »die Verwandtschaft [syngéneia, sggneia] zwischen Gott und dem Menschen« und »mit den Göttern« her.253 Gleichfalls sind die Menschen nach Seneca »Genossen und Glieder Gottes«.254 Diese Zugehörigkeit zu Gott kann aber so weit gehen, dass nach Epiktet der alles sehende und für alles Sorge tragende Gott in uns (als dem anderen seiner selbst) bei sich ist: Denn sind unsere Seelen so eng mit dem Ganzen verbunden, dann ist anzunehmen, dass Gott jede ihrer Regungen als seine eigenen empfindet, da sie von Natur aus zu ihm gehören.255 247 Marc Aurel, Wege zu sich selbst, VII, 9: siehe oben Anm. 230. 248 SVF, Bd. II, Fr. 1022, 305. 249 Vgl. M. T. Cicero, De natura deorum, II, 45; vgl. II, 39. 250 A.a.O., II, 37: praeter mundum quoi nihil absit […]. osaß dikonta lgon […]. 251 Marc Aurel, Wege zu sich selbst, V, 32: […] tn di’ lhß ϑe 252 Epiktet, Diatriben, I, 14, 6: […] a quca mn otwß sn ndedemnai ka snafeß t mria osai ka 2pospsmata […]. §te atou 253 A.a.O., I, 9, 1 und 11. 254 L. A. Seneca, Epistulae morales, lib. XIV, ep. 92, in: Philosophische Schriften, Bd. 4, 30: […] aliquid existere qui dei pars est? Totum hoc quo continemur, et unum est et deus: et socii sumus eius et membra. n kinmatoß §te okeou ka so ϑeß 255 Epiktet, Diatriben, I, 14, 7: […] panß d’atw asϑ1netai.
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Im Gegensatz zu dieser Identifikation von Gott und Welt in ihren Teilen können die göttlichen Vollkommenheiten, Gottes Güte und Herrlichkeit, seine väterliche Fürsorge gegenüber dem Menschen, der sich in dessen allweisen Willen freiwillig einzubergen hat, hervorgekehrt werden. Herausragend ist hier der wohl für die Feiern der stoischen Schulgemeinde gedichtete Hymnus des Kleanthes, der auf die Verherrlichung (Ehrung) des Menschen antwortet und Gottes Herrlichkeit (Ehre) im Lobgebet hervortreten lässt.256 Darin klingt ein personal-dialogisches Gottesverständnis an, das eher an eine Identität im Vollzug zwischen Gott und dem von ihm gezeugten Menschen denken lässt als an eine Identität dem Bestand nach. Gott als das dem Bestand nach vom Menschen Verschiedene kann in allem, was er umgreift, so anwesend sein, dass er mit ihm dem Vollzug nach eins (vereinigt) ist. Doch wird das Verhältnis von Gott und Mensch als ein Verhältnis von Ganzem und Teil angesetzt, wodurch partikulär eine Identität des Bestandes behauptet wird, sei es, dass der Mensch zum Teil das vollkommenste Wesen mit ausmacht, oder sei es, dass er teilweise Gott selbst ist, insofern Gott selbst ein Teil des Menschen ist. Bei Marc Aurel ist der Gott verwandte Teil im Menschen der Logos bzw. die Vernunft; er wird als Dämon bezeichnet – ein guter Dämon, der »im eigenen Inneren« wohnt.257 Er ist »die Vernunft und der Logos jedes Einzelnen«, den »Zeus als ein Stück von sich selbst jedem Einzelnen als Beschützer und Führer gegeben hat«.258 Die Vernunft bzw. das Vernünftigsein jedes Einzelnen, die – wie man sagen könnte – offenständig vernehmende Daseinsweise in ihrer Leibhaftigkeit, ist dem Einzelnen vom Ganzen der Physis her, die mit Gott identifiziert wird, »zugeflossen« und wird logisch konsequent im Horizont von Ganzem und Teil als »Gott« bezeichnet.259 Die tiefe, sympathisch gestimmte Verbundenheit des Menschen mit der Physis, die augenfällig sichtbare Ordnung der Lebenswelt (Himmel und Erde), die Vollkommenheit und Schönheit des Weltalls wird als Walten des Göttlichen (des Hervorbringenden) im Kosmos, das sich bis in die kleinsten Bestandteile und Glieder erstreckt, ausgelegt. Die Folgen dieser Auffassung unmittelbaren Inneseins der Physis sind für die Ermöglichung physischer Theologie grundlegend. Dazu gehört die tragende, der damaligen Welt gemeinsame Überzeugung vom Dasein der Götter und des Göttlichen. Cicero spricht sie an: Es »steht bei allen Menschen auf der ganzen Welt die Hauptsache fest; allen ist ja angeboren und gleichsam in die Seele eingemeißelt: 256 Siehe oben Anm. 232. 257 Marc Aurel, Wege zu sich selbst, II, 13. 258 A.a.O., V, 27. 259 A.a.O., XII, 26.
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Es gibt Götter. Über ihr Wesen gehen die Meinungen auseinander; ihr Sein wird von niemandem [dem man einen gesunden Menschenverstand zubilligen kann] geleugnet.«260 Diese Überlegung ist für den Entwurf einer Gliederung der physischen Theologie wichtig. Stoische Lehre wäre nach Cicero erstens, das Sein der Götter aufzuzeigen,261 und zwar als Erscheinungsform der Göttlichkeit der Welt.262 Erst darauf aufbauend ist zweitens ihre Eigenart aufzuweisen, drittens ist zu zeigen, dass die Welt von ihnen gelenkt und verwaltet wird, und viertens, dass sie sich der menschlichen Angelegenheiten annehmen (consulere).263 Uns interessiert hier nur das Erste, was mit dem Sein (esse) der Götter gemeint ist. Das Sein der Götter, das für alle durchsichtig (perspicuum) ist,264 ist weiter aufzuschließen, und zwar mit zur Physik gehörigen Begründungen.265 Sein ist nicht anachronistisch mit ,Existenz‘, Vorhandensein von etwas unsichtbar Existierendem, das zu beweisen wäre, zu übersetzen.266 Was phänomenal offenkundig ist, ist in dem, was sich eigentlich in der Erfahrung zeigt, im Blick auf das eigene Verhältnis zum Ganzen und zum Grund, näher zu bedenken und zu betrachten. Hierbei wird der allgemein verbreiteten Auffassung respektvoll große Bedeutung beigemessen. Ein consensus in der Wahrheit (durch die in allem waltende Sympathie ermöglicht) rechtfertigt zwar die Wahrheit gewisser Auffassungen, aber was das ist, das wir von der Physis empfangen haben, nämlich unsere Natur und das zu unserer Naturausstattung gehörende, uns eingepflanzte gemeinsame Vorverständnis,267 das sich in gemeinsamen Ge260 M. T. Cicero, De natura deorum, II, 12 f.: […] inter omnis omnium gentium summa constat; omnibus enim innatum est et in animo quasi insculptum esse deos. Quales sint, varium est, esse nemo negat. Vgl. auch Marc Aurel, Wege zu sich selbst, XII, 28: »(Antworte) denen, die fragen: ,Wo hast du denn die Götter gesehen, die du so verehrst, oder woraus hast du erfasst, dass sie (da) sind (kateilhfß, ti esn)?‘ Erstens: Sie sind auch den Augen sichtbar (qei rato). Zweitens: Ich habe auch meine Seele noch nicht gesehen und dennoch ehre ich sie. Das gilt auch für die Götter: Aus der Tatsache, dass ich ihr machtvolles Können ( ) immer wieder erfahre und spüre (peirwmai), erfasse ich, dass sie (da) sind, und deshalb verehre ich sie (ti te es, katamai).« Die Katalepsis (lat. comprehensio, ergreifende Hinnahme) geht hier von lamb1nw ka adou dem aus, was offenkundig vorliegt, und von dessen Sinn (Logos), wie er uns (jeweils) in Anspruch nimmt. Zur Frage der Sichtbarkeit des Göttlichen im Griechentum und Hellenismus vgl. W. Michaelis, Art. r1w, in: ThWNT, Bd. 5, A 2, Sp. 319–324: »Das ϑeon ist seiner Seinsweise nach für den Griechen höchst charakteristisch [… (im Gegensatz zum Hören, und zwar als)] etwas, das gesehen wird, etwas, das sich nur dem Schauen offenbart.« (322) 261 Marc Aurel, Wege zu sich selbst, II, 3. 262 A.a.O., II 39. 263 A.a.O., II, 3. 264 A.a.O., II, 44. 265 A.a.O., II, 23. 266 Daher ist Sein (esse) nicht wie a.a.O., II, 3, 13, 23, 44 u. ö. mit Existenz zu übersetzen. 267 SVF, Bd. 3, Fr. 17: émphytoi prolépsis (mfutoi prolpsiß); vgl. M. T. Cicero, De natura deorum, II, 45: Wir haben bezüglich des Seins Gottes, das die Welt beseelt und wofür es in der
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danken268 artikuliert, ist nicht selbstverständlich. Die Übereinstimmung (nicht Einstimmigkeit!) ist, kritisch in Bezug auf den Volksglauben und andere philosophische Positionen, im Licht der Lehre vom göttlichen Logos zu erheben, und das ist nur möglich, insoweit und weil wir an ihm teilhaben. So sehr unter voller Anerkennung der populärphilosophische Aufweis des Daseins Gottes aus der Übereinstimmung aller (consensus omnium) bzw. der Völker (gentium) in Religionsausübung und Philosophie als vorphilosophischer Ausgangspunkt rezipiert wird, folgt diese Argumentation doch nicht naiv fremdbestimmt dem Sog des bloß Für-wahr-Gehaltenen. Wahr ist etwas nicht, weil es alle meinen (oder wenigstens eine Mehrheit meint) und weil ,man‘ es immer schon gesagt hat, sondern solches ist wahr, das allen gemeinsam zugänglich ist, weil es sie gemeinsam angeht und so offenkundig erscheint, dass es – wie das Sein des Göttlichen – von niemandem geleugnet wird oder zu leugnen ist. Und dieses Offenkundig- und Zugänglichsein ist aufzuschließen, und zwar aus dem Physis-Denken. Was wir immer schon irgendwie kennen, ist zu erkennen. Das Vorwissen, Meinung und Vorurteil sollen vernünftig aufgeschlossen werden.269 Aus dem basalen Grundverständnis, d.h. der gemeinsamen, primären Kenntnis der Lebenswelt, erfließt ein Lebensverständnis, das der Physis entspricht, mit ihr übereinstimmt, weil es von ihr bestimmt ist. Ganz im Gegensatz zum Platonismus ist das nichtelitäre und nichtaristokratische, aber wohlwollende und dennoch keineswegs unkritische Bedenken dessen auffallend, was uns gemeinsam lebensweltlich und lebensnah (im sensus communis) unmittelbar aufgeht. f) Würdigung der physischen Theologie im Rahmen der theologia tripartita sowie Ausblick auf die Rezeptionsgeschichte Physische Theologie entsteht philosophiehistorisch gesehen aus Fragestellungen, die im griechisch-südwestasiatischen Denken ab dem 5. Jahrhundert aufbrechen. Was ganzen Welt nichts Besseres gibt als Gott, eine Vorahnung (praesensio) und eine Kenntnis, einen Vorbegriff (notio). Siehe auch oben Anm. 260. Der Unterschied zwischen ,natürlicher‘ Kenntnis des Menschen von etwas, das man Gott nennt, und der Entfaltung dieser Kenntnis zu einer begründeten Erkenntnis ist von größter Bedeutung für eine philosophische Theologie. Vor der Verwirrung, die entsteht, wenn man diese noch nicht hinreichend im Blick auf ihre Ursprünglichkeit verstandene Erfahrung bzw. Möglichkeit einer Erfahrung bereits »natürliche Theologie« nennt, warnt W. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 86 f., vgl. auch 121–132. 268 Koinai ennoiai (koina nnoiai) als Kriterium der Wahrheit, vgl. SVF, Bd. 2, Fr. 154. 269 Vgl. M. T. Cicero, Tusculanae disputationes, I, 36, 38: […] ut deos esse natura opinamur, qualesque sint ratione cognoscimus […]. Von Natur aus meinen wir, dass es Götter gibt, erkennen aber ihr Eigensein durch vernünftige Überlegung.
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ist an den theologischen Aussagen von Natur aus, d.h. von sich aus, wahr? Verdankt sich ihre Geltung nicht vielmehr bloß menschlicher Setzung (thésis), der Gewohnheit, dem Herkommen, ja politischen Interessen? ,Physische Theologie‘ ist der Titel einer bestimmten Antwort auf diese Fragen. Gattungen von mythischer, physischer und politischer Theologie dürften ab Platon, aber mindestens ab dem Hellenismus Gemeingut verschiedener griechischer Denker und Schulen gewesen sein. Die Einteilung ist quellenorientiert, verweist auf Dichter, Denker und Politiker/Priester als Urheber. Doch über das ihnen Gemeinsame, dass sie alle Gott zur Sprache bringen, scheint doch das stoische Denken insofern hinauszugehen, als es die Dreigeteiltheit (tripartita) einer lebendig gegliederten Ganzheit samt den darin unterschiedenen Teilbereichen voraussetzt. Insofern der physischen Theologie darin die maßgebende Aufgabe zur Läuterung der mythischen Theologie und der staatlich geregelten Religionspraxis zukommt, könnte man vermutlich doch von einem stoischen Sondergut reden. Der physischen Theologie der Stoa eignet eine herausragende ,Frömmigkeit des Denkens‘, die selbst wie ein Religionsersatz wirkt, oder, richtiger gesagt, den Anspruch erhebt, eine vernünftige Grundlegung der wahren Universalreligion zu sein. Die Volksreligion270 wird traditionell als für den Bestand des Staates unentbehrlich gehalten, aber einer teils harten, teils wohlwollend-schonenden Kritik unterzogen. Das impliziert auch eine Kritik an der ,politischen Theologie‘, damit der durch staatliche Autorität eingerichtete Kult nicht das Wesen des Göttlichen aus politischen Interessen verfälscht. Ein Polytheismus mit selbstständigen Gottheiten wird abgelehnt. Die sterblichen bzw. vergänglichen Götter entstammen vielmehr dem alles durchwaltenden göttlichen Urgrund der Welt, der allein unsterblich ist. Die Physis als Grund innerweltlichen Werdens ist ja das fraglos Immerwährende – ohne Beginn und Ende. Physische Theologie ist also für beide Bereiche, für Mythologie und Politik, die kritisch maßgebende Theologie: Religionsphilosophie. Diese steht neben der Ethik im Zentrum der Philosophie. Ihre kritische Spannung zum Wesen bzw. Unwesen etablierter Religionen hat besonders Poseidonios (135–51 v C) herausgearbeitet. Er stammte aus Apameia (Syrien) und war Schüler des Panaitios von Rhodos, des Begründers der sogenannten mittleren Stoa. Über Cicero, dessen Lehrer er war, kam er wirkungsgeschichtlich besonders zur Geltung. Nach Poseidonios geht die Volksreligion auf eine Urreligion zurück. Diese bildete sich ohne sterbliche Lehrer, Mystagogen oder Riten. Sie nahm ihren Ursprung aus der allen Menschen gemeinsamen Verständnisweise des Göttlichen und ihrer Zugänglichkeit dafür, die sich später bei den einzelnen Völkern 270 Zum Folgenden vgl. M. Pohlenz, Die Stoa, Bd. 1, 96 – 98, Bd. 2, 55 (Quellenhinweise); ders., Stoa und Stoiker: Panaitios (211 ff.), Poseidonios (340 –343).
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ausdifferenziert hat und dabei durch verschiedene Faktoren verfälscht wurde, wie Unsittlichkeit, infantile und anthropomorphe Vorstellungen (auch in bildender Kunst) sowie dichterische Phantasie, die Vergöttlichung von Wohltätern und Herrschern, nützlichen und schädlichen Naturerscheinungen usw. Unter Mithilfe der überkommenen, von der Stoa gebündelt rezipierten Religionskritik ergibt sich die Notwendigkeit einer Erneuerung und Wiederherstellung der ursprünglichen Gotteserkenntnis auf Grundlage der Verwandtschaft der Menschen mit Gott und den Göttern. Die Menschen sind ja nicht fern von den Göttern und der Gottheit, nicht außerhalb des Bereiches ihrer Anwesenheit, sondern sie sind in der Gottheit und mit ihr verwachsen, umstrahlt von den göttlichen Lichterscheinungen des Himmels und der Gestirne, umfangen von einem Kosmos unendlicher Vollkommenheit und vollendeter Schönheit. Es gilt wieder zu staunen und zur wahren, von Aberglauben freien Gottesverehrung und Kultgestalt (in Feier, Musik, Tanz) zurückzukehren. Nach Max Pohlenz wirkt dieser Gedanke vom Verfall und der Rückkehr zum Anfang sogar noch in der Areopagrede, die Paulus vor Stoikern und Epikureern gehalten hat (Apg 17), nach. Wobei auch das »In ihm leben, weben und sind wir« pantheistisches Gedankengut des Poseidonios ist, das Paulus im Horizont des jüdischen Schöpfungsverständnisses umgedeutet hat. Stoische Philosophie lässt nach ihrem Selbstverständnis ihren Eingeweihten die letzten Mysterien schauen.271 Damit soll der in Krisen geratenen Religion der verloren gegangene Halt wiedergegeben werden.272 Methodisch bedient sich die stoische Philosophie zur Wiederherstellung mythischer Theologie in ihrer Ursprünglichkeit einer allegorischen Deutung der Mythologie, die den Sinn der Dichterworte im Hinblick auf ihre verborgene Wahrheit durch eine moralkritisch orientierte und gewaltsame Umdeutung zu entschlüsseln vermeint. Der Deutungshorizont dieser traditionsreichen Allegorese ist von der stoischen Kritik an den Volksreligionen bestimmt. Sie beansprucht, in ihnen den als irrig angesehenen Glauben aufdecken zu können: In den Gottheiten (wie Hephaistos als Gott des unterirdischen Feuers, Hera, Demeter, Poseidon u.a.) werden die Naturelemente (wie Feuer, Luft, Erde und Meer) tendenziell zu Recht als göttlich verehrt. Oft gehören zur Entschlüsselungstechnik auch kühne, phantasiereiche Etymologien – so soll beispielsweise der ursprüngliche Logos etymologisch in Götternamen (wie Hera = Luft273) aufscheinen. 271 Vgl. SVF, Bd. 1, 538; M. Pohlenz, Die Stoa, Bd. 1, 93; ders., Stoa und Stoiker, 80 f.; ders., Paulus und die Stoa. 272 Im Hellenismus begegnet uns die Frucht der Begegnung griechischer und altorientalischer (und dazugehörig spezifisch jüdischer) Gotteserkenntnis, deren gegenseitige Beeinflussung man als hermeneutisch zirkulär bezeichnen kann. Auf sie kann hier nicht eingegangen werden. 273 Die aus dem platonischen Dialog Kratylos (404 b – c) bekannte Etymologie lautet Hra ~ 2r.
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Durch die Auslegung der Physis in ihrem Sein als Gott wird die Ontologie in pantheistische Theologie transformiert und das Sein zu etwas Beiläufigem. Der stoische Pantheismus (oder besser Panentheismus, weil alles in Gott ist) gründet in der intensiven Erfahrung des In-Seins (der Immanenz) aller Geschöpfe, insbesondere des ganzen Menschen in Gott, weil dieser Gott als den erfährt, in dem wir sind und leben. Hier drängen sich die Fragen auf: Ist das Sein des Seienden Gott? Verdankt es sich nicht eher einem Geben, das uns auf ein Verborgenes und Unergründliches verweist, von dem zu fragen ist, ob es Gott genannt werden darf? Hält man dagegen das Sein des Seienden schon für Gott, wird dann nicht das Seiende um sein eigenes, ihm zugehöriges Sein hinsichtlich seiner Teilnahme am Sein gebracht? Nimmt man da nicht den Seienden weg, was sie auf Grund des ihnen ständig zu eigen gegebenen Seins wahrhaft selber sein können und sind? Wird nicht das Seiende, das offenkundig um es selbst zu sein, freigegeben wird, nur scheinbar in die Würde eigenen Seins und selbstständigen Vollbringens erhoben, tatsächlich jedoch herabgesetzt, weil es statt des eigenen Selbstvollzugs nur ein Moment göttlichen Selbstvollzugs sein soll? Gewiss muss im Panentheismus dem Seienden systemkonsistent eine gewisse Eigenständigkeit zugestanden werden, damit es die Eignung besitzen kann, ein göttliches Vollzugsmoment zu sein. Diese Auffassung wird besonders deutlich durch die biomorphe Auslegung der Physis gleich einem unsterblichen Lebewesen, dessen ewig währendes Ganzes im steten Umwandlungsprozess seiner Teile und Glieder aus dem Göttlichen vorherbestimmt erscheint, und zwar so, dass in Bezug auf die menschliche Freiheit nur noch das Ja-Sagen zur unumgänglichen Notwendigkeit des Geschehens übrig bleibt. Die Stärke dieser Auffassung liegt in ihrer faszinierenden Ganzheitlichkeit, ihre Schwäche im totalitaristischen Verhältnis von Ganzem und Teil,274 vor allem aber in der Verdunkelung des Seins und seiner Wesensherkunft. Wird damit nicht auch die Göttlichkeit Gottes angetastet und als in das Seiende verstrickt gedacht? Relativiert man darin nicht auch das Göttliche, wenn es zum notwendigen Wesen der Physis wird? Kann dann das Göttliche noch das Vollkommenste sein, als das es ausgegeben wird? Die christliche Rezeptionsgeschichte physischer Theologie hat viele stoische Motive aufgenommen und neu interpretiert, wie den Gedanken der Keimgründe und Logos-Anteile, das Vorherwissen und die Vorherbestimmung Gottes im Einklang mit der Freiheit des Menschen – und vor allem Lösungsversuche des Theodizeeproblems und die Gottesbeweise. Aus ihnen ragen die später sogenannten teleologischen Gottesbeweise heraus, die aus der schönen, zielgerichteten und kunstvollen Ord274 Ontologisch Grundsätzliches dazu im vierten Exkurs, besonders 6.3.1.
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nung der Naturphänomene auf das Dasein eines weisen Schöpfers schließen und sich besonders in der Neuzeit unter dem Titel der ,Physiko-Theologie‘ in einer erstaunlichen Vielfalt und Breite entfaltet haben. Darauf soll noch ausführlicher eingegangen werden. Für die Rezeptionsgeschichte der stoischen Theologie ist es wichtig, auf die mehrfache Bedeutungsverschiebung im Physisverständnis zu achten, die wir unter dem gleichbleibenden Wortlaut des Titels ,natürliche Theologie‘ im Raum christlichen Denkens gewahren. Die feste Zuordnung einer eigenen philosophischen Theologie, die der Wissenschaft vom Glauben als eigene Disziplin vorausgeht, war von der Spätzeit der Antike bis ins Hochmittelalter hinein undenkbar. Sie ist ja die Frucht der konfliktreichen Auseinandersetzung und des Gesprächs mit den als heidnisch eingeschätzten Philosophen und deren philosophischen Theologien. Das Gespräch wurde m.E. erst möglich, als man bei ihnen vorweggenommene, identische, verwandte oder für das christliche Daseinsverständnis brauchbare und hilfreiche Gedanken zu finden glaubte.275 Diese wurden in das christliche Denken aus der Stoa und vielleicht noch reichlicher aus Platon und dem Platonismus übernommen. So bildete sich ein Überlieferungstyp christlichen Philosophierens, der bis zur Hinwendung zum scholastischen Aristotelismus des Hochmittelalters fast ein Jahrtausend lang christliches Denken teils beherrscht und teils mitbestimmt hat. Er ist im östlichen Christentum noch heute maßgebend.276 Im Überlieferungsbewusstsein philosophischer Theologien der Gegenwart scheint mir die christliche Platonismusrezeption eher lebendig zu sein als die der Stoa, die deshalb hier besonders hervorgehoben wurde. Ein herausragendes Beispiel für eine solche dialogische Auseinandersetzung und Rezeption hellenistischer Philosophie, die in ihr vorweggenommenes und verwandtes christliches Gedankengut zu entdecken glaubt, findet sich in den zwei Apologien des in Rom lehrenden Justinos († um 165), den man den »Philosophen und Märtyrer« genannt hat. Er hat sich, enttäuscht vom anfänglichen Studium der Stoa und abgeschreckt von den Honorarforderungen der Peripatetiker sowie durch die von ihm abverlangten Vorstudien (Musik, Astronomie, Geometrie) der Phythagoräer, schließlich zum Platonismus bekannt. Die Apologien des Christ gewordenen Philosophen sind Eingaben an die Behörde und richten sich (fiktiv?) an den Kaiser zur Verteidigung angesichts der lebensbedrohenden Vorwürfe gegen die Christen, 275 Zur facettenreichen Rezeption philosophischer Theologie in der christlichen Theologie vgl. u.a. die übersichtliche Darstellung von Ch. Stead, Philosophie und Theologie, Bd. 1: Die Zeit der Alten Kirche. 276 Noch immer grundlegend: E. von Ivánka, Plato Christianus. Übernahme und Umgestaltung des Platonismus durch die Väter.
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die im Atheismus-Vorwurf gipfeln. Justin macht geltend, dass dieser Vorwurf schon gegen Sokrates erhoben wurde. Er geht von der Parallele aus, die er zwischen Sokrates als Märtyrer der Wahrheit und Christus zieht.277 Er erblickt im Lebensgeschick des Sokrates, ja überhaupt im Wahrheitszeugnis der vorchristlichen Philosophen, eine Teilnahme an der Erscheinung Christi. Dieser ist der ganze göttliche Logos, die (sich offenbarende) Kraft des unsagbaren Vaters, der der Mensch gewordene Logos (mit Leib und Seele) ist.278 Der zuletzt dem mittleren Platonismus zugeneigte Justin transformiert hier der Stoa eigene Gedanken, sodass man annehmen konnte, er habe sich in der zweiten Apologie an den Kaiser Marc Aurel gewandt. Für Justin stehen nicht nur die vorchristlichen Denker bereits im Lichte christlicher Offenbarung, sondern allen Menschen ist schon vor ihrer Begegnung mit Christus, wie ihr Denken und Verhalten zeigt, Anteil am göttlichen Logos gegeben, da ihnen Logos-Teile (mére, mrh) bzw. Keimgründe oder Samen jenes Logos, der die volle Wahrheit ist,279 eingepflanzt wurden (émphyta spérmata tou lógou, mfta sprmata tou lgou). Und zwar konnte jeder (die vorchristlichen Philosophen, Dichter und Historiker) auf dem Grunde des vom göttlichen, säenden Logos ihm zugeteilten, ausgesäten und in ihm anwesenden Teils das mit dem göttlichen Logos Verwandte – das wahre Seiende (t! nta) – sehen und zur Sprache bringen.280 Der christliche Logos wurde jeder Menschenseele also schon vor der Begegnung mit dem Christentum keim- und samenhaft geschenkt. Als Empfänger und Teilhaber des göttlichen Logos werden Heraklit, Sokrates, Platon, Stoiker, also überhaupt Philosophen, sowie Dichter, Historiker, Gesetzgeber, doch insgesamt nicht nur Schriftsteller, sondern auch ganz gewöhnliche Menschen wie Sorgetragende (patreß) und Handwerker (dhmiourgo) genannt.281 Was sie durch Forschen und Anschauen mit Mühe erarbeiteten und zutreffend sagten, entspricht dem Anteil, den ihnen der Logos gab.282 Dieser hat ihr jeweils unterschiedliches Verhältnis zur Wahrheit so gestiftet, dass er ihnen jeweils einen Teil bzw. Anteil seiner selbst gab, d.h. einen Anteil am Sein und an der Kenntnis jener Wahrheit des Alls, die der 277 Justinos, Dazu u.a. 1. Apologie 5, 44, 46 (PG, Bd. 6, Sp. 336, 395, 397) sowie 2. Apol. 10 (PG, Bd. 6, Sp. 460 f.). Vgl. E. Benz, Christus und Sokrates in der alten Kirche. 278 Vgl. Justinos, 1. Apol. 5 (PG, Bd. 6, Sp. 336); 2. Apol. 10 (PG, Bd. 6, Sp. 460 f.), hier: dnamß 2rrtou Patrß (461). sti tou 279 Vgl. Justinos, 1. Apol. 44 (PG, Bd. 6, Sp. 395) und 2. Apol. 13 (PG, Bd. 6, Sp. 463). 280 Justinos, 2. Apol. 13 (dort auch 7 und 10); hierzu auch J. H. Waszink, Bemerkungen zu Justins Lehre vom Logos Spermatikos, 385 ff. 281 Justinos, 2. Apol. 10 (PG, Bd. 6, Sp. 461). 282 A.a.O., Sp. 460.
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Mensch gewordene Logos selbst ist (vgl. Joh 16,4; Kol 1,17), und zwar in der Vorgestalt eines ausgestreuten Samens bzw. aufgehenden Keimes.283 Da die Menschen vor der Menschwerdung Christi und der Begegnung mit ihm noch nicht zur vollen Frucht der Offenbarungswahrheit in ihm gekommen sind, handelt es sich um ein dunkles, fragmentarisches Seins- bzw. Wahrheitsverständnis, das Widersprüche enthalten kann.284 Modern gesprochen sind sie insofern ,anonyme‘ Christen, als sie auf Grund der Anwesenheit des göttlichen Logos selbst (die Justin in jedem Menschen und in der gesamten Menschheit annimmt)285 an der Christlichkeit der Wahrheit des Seins teilnehmen. Erstaunlich ist die Weite dieser im Eigentlichen christlichen Theologie der bisherigen Philosophie, die das vor- und außerchristliche Denken in das christliche Daseinsverständnis einzubergen suchte. Von dieser apologetischen Theologie aus konnte sich zunächst noch keine eigene physische Theologie als Sonderbereich innerhalb des christlichen Denkens herausdifferenzieren. Das philosophische Traditionsgut wurde kritisch ausgesiebt, umgebildet, adaptiert und in das Ganze der Offenbarungstheologie integriert, aber auch umgekehrt suchte sich die Offenbarungstheologie philosophischen Ansprüchen gemäß verständlich zu machen. Dennoch kommt es auch hier, im lateinischen Mittelalter etwa ab dem 12. Jahrhundert, (besonders mit der zunehmenden Aristoteles-Rezeption) zu einem Wandel. Dieser wird bei Thomas von Aquin besonders deutlich, wenn er sehr klar zwischen den Erkenntnisbereichen der Theologie der Philosophen, der Metaphysik einerseits und der in der heiligen Schrift tradierten Theologie (theologia quae in sacra Scriptura traditur) andererseits, unterscheidet.286 Zwar verfasst auch er kein selbständiges Werk einer philosophischen Theologie, lässt aber erkennen, wann er offenbarungstheologisch und wann er philosophisch argumentiert, zumal er überwiegend außerchristliche Philosophie (besonders griechische und arabische Autoren) rezipiert und kommentiert. Methodisch werden die verschiedenen Quellen und Ordnungen der Beweisführung in philosophischer und offenbarungstheologischer Theologie unterschieden. Die philosophische Argumentation beruft sich zur Erkenntnis Gottes auf die das gemeinsame Sein (esse commune) aller Seienden ,vernehmende‘ Vernunft und nicht auf jene die Fassungskraft menschlicher Vernunft überschreitende göttliche Offenbarung (comprehensionem rationis excedit revelatio divina).287 Sie betrachtet die 283 Justinos, 2. Apol. 13 (PG, Bd. 6, Sp. 463). 284 Justinos, 1. Apol. 44 (PG, Bd. 6, Sp. 396). 285 Justinos, 1. Apol. 46 (PG, Bd. 6, Sp. 397): tn Cristn […] lgon nta, o pa n gnoß nϑrpwn. 2. Apol. 10 (PG, Bd. 6, Sp. 460): Lgoß g!r ka stin n pant n. Christus, der Logos, ist und war in allen Menschen anwesend. 286 Vgl. dazu Thomas von Aquin, In Boethii de Trinitate, Lect. II, q. 1, a. 4. 287 Vgl. Thomas von Aquin, Sth I, q. 1, a. 1.
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göttlichen Dinge (res divinae) als Prinzipien des uns gegenüber zunächst gegebenen Seienden (principia omnium entium), und zwar insofern ihr das Sein mitteilende Wirken (per effectus) in diesem Seienden manifestiert wird. Und diese göttlichen Dinge offenbaren sich nicht selbst (secundum quod ipsae seipsas manifestant), wie das in der von den heiligen Schriften überlieferten Theologie der Fall ist.288 Die Theologie bzw. Wissenschaft vom Göttlichen (scientia divina) ist daher eine zweifache, eine philosophische Theologie und eine theologische Theologie. Diese beiden Theologien werden dann am Beginn der Summa theologica ausdrücklich unterschieden: die natürliche Theologie als Teil der Philosophie bzw. der philosophischen Disziplinen (theologia quae pars philosophiae ponitur) und die Theologie, die zur Offenbarungstheologie gehört (theologia quae ad sacram doctrinam pertinet).289 Im Gesamtwerk des Thomas finden sich viele kleinere und auch größere zusammenhängende Texte mit Elementen einer philosophischen Theologie (verwiesen sei nur auf das erste Buch der Summa contra gentiles). Dadurch wurde es möglich, aus dem Gesamtwerk eine methodisch einheitliche, systematisch aufgebaute metaphysische Theologie herauszulösen.290 Dass so etwas stringent durchgeführt werden konnte, ist nicht selbstverständlich und entspricht einer späteren wissenschaftstheoretischen Konzeption. Wir finden auch bei Thomas noch nicht die terminologische Entgegensetzung von einer an der Welt als ,die Natur‘ festgemachten natürlichen Theologie und der übernatürlichen Theologie der Gnadenmitteilung Gottes. Thomas kennt wohl den adjektivischen Unterschied zwischen natürlich und übernatürlich,291 ist aber weit von einer Tendenz zu dem berüchtigten Stockwerkdenken entfernt, das die zu ,Natur und Übernatur‘ substantivierten Adjektiva verdinglicht. Die Unterscheidung von natürlich/übernatürlich, die völlig anderes im Sinne hat als nur auf einer Ebene liegende und sich da unterscheidende ,Naturen‘, hat im Raum christlichen Denkens einen neuen Typ natürlicher Theologie begünstigt. Dieser kann zwar eine gewisse wirkungsgeschichtliche Abhängigkeit von der physischen Theologie der Stoa als einer relativ eigenständigen Schuldisziplin nicht verleugnen, 288 Vgl. Thomas von Aquin, In Boethii de Trinitate, Lect. II, q. 1, a. 4. 289 Vgl. Thomas von Aquin, Sth I, q. 1, a. 1. 290 Als rezentes Beispiel sei hier nur genannt: L. J. Elders, Die Metaphysik des Thomas von Aquin in historischer Perspektive, Bd. 2: Die philosophische Theologie. 291 Als Beispiel sei Thomas von Aquin, Sth II/II, q. 2, a. 3, c und ad 1 angeführt: Weil die Natur des Menschen von der höheren Natur, dem allumfassenden Ursprung des Seins (universale essendi principium), abhängt, genügt zu seiner Vollendung nicht die natürliche Erkenntnis, sondern ist eine übernatürliche Erkenntnis erforderlich (quia natura hominis dependet a superiori natura ad eius perfectionem non sufficit cognitio naturalis, sed requiritur quaedam supernaturalis), d.h. eine übernatürliche Teilnahme am Gutsein Gottes. Diese ist eine letzte Glückseligkeit, die in der übernatürlichen Schau Gottes besteht. Vgl. auch I, q. 3, a. 8.
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ist aber zugleich so konzipiert, dass ihm im Dienst christlicher Offenbarungstheologie eine fundamentale Rolle eignet. Ein mittelalterliches Werk, das diese Richtung paradigmatisch angebahnt hat, ist das wirkungsgeschichtlich äußerst einflussreiche Liber naturae sive creaturarum des Katalanen Raimundus von Sabunde (Ramon Sibiuda, † 1436).292 Der Titel (anscheinend ein Hendiadyoin) des kurz vor seinem Tode beendeten Werkes ist dem Prolog des Buches entnommen. Doch merkwürdig ist, dass der Erstdruck aus 1485 bereits mit Theologia Naturalis betitelt ist, obwohl das Buch überwiegend eine theologische Summula christlicher, ausdrücklich als übernatürlich293 gekennzeichneter Offenbarungsinhalte (samt christlicher Moraltheologie) darstellt. Uns interessiert zunächst die von den Herausgebern im Titel angezeigte Bezugnahme auf die Natur. Ihr Horizont ist das jüdisch-christliche Weltverständnis, das im Gegensatz zum panentheistischen Physisverständnis der Stoa unter Natur ausdrücklich die Gesamtheit der von Gott geschaffenen Seienden (Naturen) versteht, eben die Kreaturen. Sie entspringen ihrer ganzen Substanz nach einem Geben (dare) und Mitteilen (communicare) Gottes aus Nichts (dat esse creaturis ex nihilo). Ihr Sein und Wesen als ein Hervorbringen (productio) wird als Gabe, freiwillig Gegebenes und Mitgeteiltes (communicatum et datum) bestimmt.294 Sachlich ursprünglich ist Natur jedoch nur die Gott selbst eigene Natur. In ihr ist die geschaffene Natur auf die Weise, wie ein Kunstwerk (vor seiner Ausführung) im Künstler (artifex) ist, enthalten.295 Gott ist das Sein selbst, das durch sich selbst existiert (ipsum esse per se existens bzw. subsistens);296 er ist seiner Natur nach, also in sich selbst, von Ewigkeit her immer schon ein Geben (eins mit dem Empfangen). Ja zu geben, ist dem trinitarischen Gott in der höchsten Weise natürlich, eigentümlich und angemessen.297 So gesehen erstreckt sich der Titel Theologia naturalis auch auf die Offenbarungstheologie. 292 Vgl. Raimundus Sabundus, Theologia Naturalis, sive Liber Creaturarum specialiter de homine, et de natura ejus inquantum homo: et de his quae sunt ei necessaria ad cognoscendum seipsum, et deum, et omne debitum ad quod homo tenetur et obligatur tam deo quam proximo, Leyden, 1541, wird zitiert nach dem Neudruck1966, Theologia naturalis seu liber creaturarum. 293 A.a.O., Prologus, 35*. 294 A.a.O., t. (= titulus) 50, S. 58 – 60; vgl. t. 3, S. 9, t. 16, S. 23–25, t. 96, S. 121: Die Gabe ist Aufgabe (munus). 295 A.a.O., t. 21, S. 31 u.ö. 296 A.a.O., t. 16, vgl. t. 12, S. 17: Gott ist sein Sein, alle anderen Dinge haben das ihnen gegebene Sein empfangen. 297 A.a.O., t. 50, S. 58– 60: […] dare est Deo naturalissimum et summe proprium […]. Aus den verschiedenen Weisen, wie jeweils den Kreaturen gemäß ihrer Natur und ihrer Aufnahmefähigkeit Sein zukommt, das sie weitergeben können, zeigt sich, dass es in Gott einen ewigen Hervorgang (productio) des ihm eigenen Seins geben muss, und das im höchsten Grad – womit eine Voraussetzung des Trinitätsverständnisses angesprochen wird. Zur Trinitätstheologie der göttlichen Personen und über die innergöttlichen Hervorgänge auf die Weise des Erkennens und Wollens in Freiheit vgl. t. 51 f., S. 60 – 64.
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Der systematische Entwurf bezeugt nur den längst etablierten Wandel im Grundverständnis philosophischer Theologie, der nicht nachhaltig genug gedacht werden kann. Was ontologisch Natur (als erschaffene Welt) ist, scheint im Gegensatz zu herausragenden Denkern wie Augustinus oder Thomas von Aquin fraglos als bekannt vorausgesetzt zu werden. Die Schöpfung wird aus dem Unterschied zur übernatürlichen Heilsgnade, zum dreifaltigen Gott und zur Menschwerdung Gottes in Jesus Christus gegenüber seiner Kreatur erfahren und ausdrücklich gedacht. Raimund drückt dies durch das altchristliche Gleichnis von den »Zwei Büchern« aus, die Gott, der ihm eigenen Natur gemäß, dem Menschen gegeben hat: das uns zunächst und allgemein zugängliche Buch der Natur (liber universitatis creaturarum sive liber naturae) und das für Kleriker zugängliche, die Hl. Schrift,298 deren Worte Gott gesprochen hat.299 Letzteres ist für die gefallenen Adamskinder hilfreich, um das Buch der Natur richtig zu verstehen. Auffallend ist, dass sich der Blick auf diese beiden Manifestationen der göttlichen Natur und ihr Verhältnis zueinander verlagert und sich nun auch der Gesichtskreis für sie eingeengt verfestigt hat. Die antike Auseinandersetzung der alten physischen Theologie mit der mythischen und der politischen Theologie ist außer Sichtweite geraten. An ihre Stelle traten nun variantenreiche Rezeptionsweisen der ,heidnischen‘ physischen bzw. natürlichen Theologie. Die Auftrennung und Verabschiedung der theologia tripartita gilt auch dort, wo eine Theologie, die von der Gesamtheit der geschaffenen Seienden ausgeht, metaphysische oder nur philosophische Theologie (bzw. Gotteslehre) genannt wurde und wird. Doch was da aus der Sicht gekommen ist, die Sachproblematik der dreigeteilten Theologie, ist damit nicht verschwunden. Sie konnte daher später in veränderter Gestalt, vor allem als religions-, gesellschafts-, staatsphilosophischer oder soziologischer Inhalt, wieder auftauchen. Gehen wir noch kurz auf den philosophischen Gehalt der Theologia naturalis des Raimund von Sabunde ein, ohne unser Thema der Bedeutungsbestimmung physischer Theologie zu verlassen. Raimund führt uns ein Universum verschiedener Wesen und eine Ordnung der Dinge vor Augen. Sie umfasst vier verschiedene Stufen von Geschöpfen: solche, die nur Sein (esse) haben wie Mineralien, solche die auch leben (vivere) wie die Pflanzen, weiters solche, die sind, leben und empfinden (sentire) wie die Tiere, und schließlich als höchste Stufe der Mensch, der alle vorhergehenden enthalten und überdies noch denken (intelligere) und frei entscheiden (liberum arbitrium) können muss.300 Der Schlüsselgedanke ist die existenzielle Erfahrung: Der Mensch muss (über das esse, vivere, sentire) zu sich selbst kommen, sich und sei298 A.a.O., Prologus, 35* ff. 299 A.a.O., t. 210 –216, S. 306 –327. 300 A.a.O., t. 1–3, S. 1– 9.
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ne Natur erkennen.301 Wie es bei allen anderen Wesen der abgestuft aufsteigenden Naturordnung (Mineralien, Pflanzen, Tiere) ist, deren Leben ich in mir trage, mir als Mensch zeigt sich meine Natur so, dass ich mich selbst nicht angeordnet, mich selbst nicht gegründet, mich mir nicht gegeben habe und dass folglich auch ich von jemandem, der dies alles in sich hat, vom unsichtbaren Gott mir gegeben, gegründet (condidit) und angeordnet bin.302 Im Übrigen verbleibt das Denken hier ontologisch fraglos nur im ontischen Bereich der auf verschiedene Weise vorhandenen Naturen ausgerichtet. Die Vielzahl der niedrigeren Naturen und Arten erstreckt sich hin bis zur singulären Natur menschlicher Individuen, und diese bis zur höchsten, der einzigartigen Natur des Herrschers der Menschen. Die Einheit der Ordnung in der Vielzahl der Dinge beweist, dass der Ordner einer sein muss.303 Dieser Gottesbeweis Raimunds, der von der menschlichen Selbsterfahrung ausgeht und von den immer vollkommeneren Stufen des Lebens auf das vollkommenste Wesen schließt, verweist uns auf stoisches Gedankengut, auf einen der wichtigsten Gottesbeweise der Stoa.304 Raimunds Gedanke bezieht sich aber auf eine andere existenzielle Grunderfahrung, die nicht panentheistisch ist, sondern aus der persönlichen Erfahrung des vom transzendenten Gott gegebenen, mitgeteilten und solcherart geschaffenen Seins schöpft. Dennoch besteht hier eine Ähnlichkeit, insofern der stoische Beweisgang ein Vorwissen, ein Innesein, eine ursprüngliche Erfahrung eines Geschicks des Naturganzen entfaltet, wenn es auch vorschnell mit Gott identifiziert wird. Die Physis, das Sein, das wir in allen Seienden erfahren können, wird für Gott und alles in ihr für ein von Gott Gemachtes und Geschicktes gehalten, und zwar – das ist der Schlüsselgedanke – für etwas, das der Mensch nicht gemacht hat, sondern das über ihn hinausgeht. In diesem Sinne überliefert Cicero einen Schluss des Chrysipp: »Wenn es etwas gibt, was der Mensch 301 A.a.O., t. 1, S. 2: Necesse est ergo, quod homo cognoscat seipsum et suam naturam, si aliquid velit certissime probare de seipso […] necesse est, quod intret in se et intra se, et veniat ad se, et habitet intra se. 302 A.a.O., t. 3, S. 8 f. 303 A.a.O., t. 4, S. 11. 304 Das Werk des Raimund von Sabunde steht nicht isoliert da, es schließt vor allem an Raimundus Lullus (Ramon Llull; 1232/33–1315/16) an. Vgl. J. de Puig, Les sources de la pensée philosophique de Raimond Sebond. Die vom stoischen Weg abweichende Fassung des Stufenwegs bei Raimund führt uns zurück auf einen der ersten Gottesbeweise im Mittelalter durch den Alkuinschüler Wizzo, dessen Dicta Candidi de imagine Dei irrtümlich dem Bruun Candidus von Fulda († 845) zugeschrieben wurden. Wizzo hat nahezu sicher direkt aus Ciceros, De natura deorum geschöpft. Die Cicero-Lektüre verliert im Mittelalter an Bedeutung und wird erst wieder im 14. Jahrhundert aufgenommen. Petrarca meint sogar überschwänglich, dass Cicero ein Christ gewesen wäre, hätte er die Lehre Christi vernehmen können. Zur Nachwirkung Ciceros vgl. Wolfgang Gerlach und Karl Bayer, in: M. T. Cicero, De natura deorum, bes. 791–798. – Zum Stufenbeweis in der Stoa vgl. M. T. Cicero, De natura deorum, II, 33–36; vgl. dazu Kleanthes: SVF, Bd. 1, Fr. 529; M. Pohlenz, Die Stoa, Bd. 1, 94 f., Bd. 2, 54.
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nicht zustande bringen kann (efficere non possit), dann ist der, dem dies gelingt (efficit), besser als der Mensch; der Mensch aber kann das, was in der Welt ist, nicht zustande bringen (efficere non potest); wer das vermochte, steht über dem Menschen. Wer aber könnte noch über dem Menschen stehen außer Gott? Also gibt es einen Gott.«305 Vor dem Hintergrund dieses existenziellen Daseinsverständnisses der Stoa ist nun das Beweisverfahren von den Stufen des Lebens zu lesen. Diese Stufen werden ,phänomenologisch‘ (kontemplativ) aufgewiesen. Beginnend mit unvollkommenen Wesen, die Glieder des Weltganzen sind, wird auf die Pflanzen als die unterste Stufe verwiesen, und zwar insofern sie von der Natur im Ganzen (!) erhalten werden. Sie erhalten sich selbst, ernähren und vermehren sich. Den Tieren sind darüber hinaus von der Natur Sinne und Bewegung gegeben, wodurch sie ihnen Zukömmliches anstreben und Schädliches vermeiden können. Eine dritte Stufe der Vollkommenheit hat sich für den Menschen durch die Zugabe der Vernunft aufgetan, wodurch er sein Gemütsstreben selber zu leiten versteht. Die vierte und höchste Stufe der Vollkommenheit umfasst alle diese Wesen, ist das Weltall selbst, die absolute Vernunft und Weisheit. Wenn wir nun auf den Stufenbeweis des Raimund von Sabunde zurückkommen, so erkennen wir, dass er in Gott als welttranszendentem Schöpfer, der einfach und ohne Teile ist, nicht die höchste und letzte Stufe, sondern überhaupt keine innerweltlich anvisierbare Stufe erblickt. Dennoch, wenn Gott in der Welt unzählig viele Arten seiner Geschöpfe ausgebreitet hat – Mineralien und Himmelskörper mit Sein, Pflanzen mit Leben, darüber hinaus Tiere mit Sinnesempfindungen (teilweise auch mit Erinnerungsvermögen) und die Gattung des Menschen mit Verstehen und Freiheit –, so muss der Mensch die Vollkommenheiten der voraufgehenden Stufen in höchstem Maß besitzen.306 Dasselbe wird in der Stoa panentheistisch von der alles umfassenden Physis (der Natur im Ganzen, dem Weltall) ausgesagt. Im Rahmen der christlichen Rezeption dieses Beweises wird auf die – nicht mehr stoisch mit Gott identifizierte – Erfahrung des Seins der Seienden zumeist zwar überhaupt nicht eingegangen, jedoch wird Gott als Schöpfer nicht mit einem in der Stufenleiter allerhöchsten Seienden (einer Allsubstanz) identifiziert. Völlig problematisch wird der Beweis, wenn nicht nur Weltbezug und Welterfahrung wegfallen und damit das innerweltliche Seiende auf allen Stufen in den Vorrang drängt, sondern auch der für Raimund von Sabunde noch grundlegende existenzielle Gabecharakter des Seins aller innerweltlichen Seienden sich der Erfahrung entzieht. 305 M. T. Cicero, De natura deorum, III, 25, vgl. auch 26 und II, 16. 306 Vgl. Raimundus Sabundus, Theologia naturalis, t. 8–10, S. 14 –16.
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Die Vergewisserung nimmt dann nur mehr von der ontisch beeindruckenden Zusammenschau des Universums innerweltlicher Seiender her ihren Ausgang, um ein über dieses hinausgehendes höchstes Seiendes zu fordern, das man sich nach dem Verursacherprinzip als Hersteller alles übrigen Seienden vorstellt. Bei Raimund von Sabunde wird mit zunehmender Anerkenntnis der Gottgegebenheit der Vielzahl von Wesen (»Naturen«) des Universums die Einsicht stärker, dass ich mir von Gott gegeben bin, um der Ausstrahlung des Schöpfers in seiner Herrlichkeitsvollkommenheit, Schönheit, Güte (auch in den Wohltaten der Geschöpfe) mit Freude zu begegnen. Auf diese Weise ist alles in der Welt einzig für den Menschen da; es geht ihm (in seinem Bezug zur Welt) um sich selbst.307 Daraus erwachsen freilich Verpflichtungen zur Rückgabe des Empfangenen in Liebe an Gott.308 Auch mit dieser nur bedingt anthropozentrischen Sichtweise begegnen wir bei Raimund von Sabunde einem der Stoa geläufigen Gedanken,309 den er schöpfungstheologisch transformiert hat. Der wichtigste Gottesbeweis der physischen Theologie der Stoa ist nicht der aus den Stufen der Vollkommenheit, vielmehr findet dieser eine neue Entfaltung, wenn er im Kontext eines umfassenderen Physisverständnisses gelesen wird: Es ist der später so genannte teleologische Gottesbeweis.310 Raimund hat diesen in der Stoa reich ausgebauten Gottesbeweis, auf den noch kurz eingegangen werden soll, tradiert. Dem teleologischen Grundverständnis der Physis gemäß suchen die Stoiker zu zeigen, dass nichts zufällig, sondern alles teleologisch und providenziell bestimmt ist. Da finden wir Raimunds folgenschwere Idee eines Vergleichs der Natur mit einem Buch, also mit etwas Verschriftlichtem, vorgebahnt.311 Bestritten wird gegen 307 Illustrationen können freilich lächerlich wirken, wenn sie an einzelnen Finalisierbarkeiten aus dem Bereich des für Menschen Dienlichen exemplifiziert werden, so zum Beispiel, wenn das Hausschwein nur dazu da sein soll, um für den Menschen geschlachtet zu werden (SVF, Bd. 1, Fr. 516; Bd. 2, Fr. 1154). Es geht vielmehr um das Aufschließen konkreter Selbsterfahrung: dass und wie und warum der Mensch in der Welt möglich ist. 308 Raimundus Sabundus, Theologia naturalis, t. 96 –101, S. 158 –164. 309 M. T. Cicero, De natura deorum, II, 37. 310 Das Suffix ,-logie‘ im Titel ,Teleologie‘ verweist nicht auf den stoischen Logos, sondern gilt als Wortprägung von Christian von Wolff (1679 –1754) und besagt ,Lehre‘ vom Telos (Vollendung, Zweck, Ziel), und zwar von den naturimmanenten Zweckursachen sowie von den Bezwecktheiten oder »Absichten« des Schöpfers. Vgl. den Artikel »Teleologie« von H. Busche in: HWP, Bd. 10, Sp. 970. 311 Schon in der Antike waren das Buch und die Schriftrolle Symbol, Metapher und Chiffre des Schicksals, des Lebens, und dann für die zwei von Gott verfassten Bücher, das Buch der Schöpfung und das Buch der Erlösung. Dazu vgl. auch I. Illich, Im Weinberg des Textes, 99 –133, der darauf hingewiesen hat, dass sich im Mittelalter ein Wandel vom aufgezeichneten Reden zum Aufzeichnen des Denkens, vom Verweis des Buches auf die Schöpfung und Gott zum Verweis des Textes auf den Verstand angebahnt hat. In der Verschriftlichung liegt schon die folgenschwere
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den epikureischen Atomismus die Entstehung des Kosmos durch ein zufälliges Zusammentreffen von Körpern mit dem Argument: Wie Buchstaben des Alphabets zusammengewürfelte Atome ergeben nichts Lesbares, keinen Sinn (Logos). Daher könnte auf diesem Weg kein Epos wie die Annalen des altlateinischen Dichters Quintus Ennius entstehen.312 Was uns nach der Stoa der wichtigste Anreiz ist, die Gründe der Dinge (rationes rerum) zu erkunden, ist die Sprache der Phänomene im Ganzen wie in ihrer Mannigfaltigkeit und im Einzelnen. Sie sind bewunderungswürdig (admirabilia)313 und wecken als Grundstimmung ein ehrfurchtsvolles Sichverwundern (admirari) und Bestaunen. Ihr im Grunde Erstaunliches ist nur durch Gewöhnung verdeckt, was zum Beispiel die Pracht des Himmels im Wechsel von Tag und Nacht, die unwandelbaren Bahnen der Gestirne, ihre Ordnung und ihr Nutzen usw. uns sagen. Es muss also ein intelligentes Wesen geben, denn dies alles, was der Mensch nicht hervorgebracht hat, muss entsprechend vollkommener als der Mensch sein.314 Auf dem Weg der Kontemplation der Schönheit der Dinge (contemplari pulchritudinem rerum earum)315 geht uns auf, dass die göttliche Vorsehung (divina providentia) sie konstituiert hat. Aufs Geratewohl, blindlings und zufällig entsteht also nichts, sondern ähnlich wie ein Baum oder ein Tier eine kunstähnliche Ordnung zeigten, besteht die Welt durch die Natur und wird von ihr geleitet.316 Die göttliche Vorsehung spüren wir in allem; dies wird reich illustriert, indem die Bereiche der Lebenswelt durchgegangen werden und gezeigt wird, dass die göttliche Natur fürsorglich ist und in der Physis nichts ohne Telos (tloß) tut.317 Die Bedeutung von Telos ist eine mehrfache; es ist zunächst ein Phänomen, nichts bloß Hineingelegtes, subjektiv Finalisiertes. Physisch Seiendes ist seiner Sache und Bedeutungsfülle (Logos) nach solches, das fertig ist, im vollständigen Dastehen sich ereignet, an sein äußerstes ,Ende‘ im Vollendetsein gekommen ist, und zwar enthüllt es sich als das, weswegen oder worumwillen der Logos des Begegnenden zu sein hat, zum Beispiel wenn Voraussetzung einer Abwendung vom ursprünglichen In-Anspruch-Genommensein durch die zu denkende Sache und einer Hinwendung zu einer Möglichkeit ihrer Vergegenständlichung und Verdinglichung, doch man ist noch weit entfernt vom völligen Verkennen dieser Abkünftigkeit im ,linguistic turn‘, der die materiellen Zeichen als Träger der Bedeutung zur Grundlage erklärt. Vgl. dazu vom Verf. (22003), Zur phänomenologischen Kritik der herrschenden Sprachauslegung, in: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Bd. 1, bes. 64 – 67. 312 M. T. Cicero, De natura deorum, II, 93. 313 A.a.O., II, 115. 314 A.a.O., II, 16. 315 A.a.O., II, 94, 96, 98. 316 A.a.O., II, 82: […] dicimus natura constare administrarique mundum […]. Hier ist die Differenz zwischen der ursprünglich bleibenden, der göttlichen Natur der Welt (dem Sein bzw. Wesen der Welt) und dem in ihr Hervorgebrachten angesprochen. Vgl. 87 ff. 317 A.a.O., die wunderbare Einrichtung der himmlischen und irdischen Dinge: II, 91–153, bes. 115 ff.
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es einfach schön und erfreulich ist, dass der Pfau sein Rad schlägt.318 Aber vor allem ist der Kosmos selbst in seiner Vielfältigkeit Telos, insoweit er nach Chrysipp »eine Zusammenfügung aus Göttern und Menschen [und den Dingen] ist, die um ihretwillen geschaffen sind«.319 Auf dem Boden dieser phänomenalen Grundbedeutung kann Telos ein Zweck bzw. die Zweckmäßigkeit (Funktion) sein, und zwar das, wozu etwas ist, beispielsweise, wenn Wesen für die Ernährung und so für ihre Selbsterhaltung sorgen oder durch Fortpflanzung die Erhaltung der Gattung sichern, oder wenn die Luft dazu da ist, Pflanzen, Tieren und Menschen den Lebensodem zu geben. Telos ist auch das Ziel bzw. die Zielstrebigkeit als das, woraufhin etwas aus ist oder ausgerichtet ist, etwa eine zielbewusste Lebensführung. Vom Telos bestimmt ist der Bau der Welt im Ganzen wie in ihren Teilen, die einerseits ihre eigene Vollkommenheit haben und andererseits ineinandergreifen, wobei die jeweils niedrigeren Daseinsformen für die höheren da und auf sie ausgerichtet sind. So ist die Erde den Pflanzen dienlich und diese wiederum dienen den Tieren als Nahrung usw. Der dem Gott durch seinen Logos verwandte Mensch ist Nutznießer und Herr aller Dinge; ihm enthüllt sich das Telos der Welt im Ganzen wie in ihren Teilen. Dadurch erfährt er sich berufen, die Größe und Schönheit der Welt zu würdigen und seinem Urheber die Ehre zu geben,320 d.h. der Physis gemäß, aus der er ja stammt, gut zu leben. Kehren wir wieder zu Raimund von Sabunde zurück; seine Theologia naturalis gehört durchaus in den Strom christlicher Rezeption physischer Theologie der Stoa. Ihr ist die physiko-theologische Bewegung der Neuzeit verbunden.321 Sie hat besonders ab der Mitte des 17. Jahrhunderts eine breite, ja populärwissenschaftlich geradezu ausufernde Entfaltung gefunden und reicht bis in die Gegenwart.322 Sie wird bereits im 18. Jahrhundert auf Raimund von Sabunde zurückgeführt. Man tradiert vielfach aus der Stoa überkommenes Gedankengut und bereichert es mit den neuen naturkundlichen Kenntnissen und Entdeckungen aus Physik, Biologie, Physiologie, Geographie, Astronomie usw. 318 Vgl. SVF, Bd. 2, Fr. 1163 f. M. T. Cicero, De natura deorum, I, 47. n ka 2nϑrpwn ssthma ka k tw n neka 319 SVF, Bd. 2, Fr. 527 (ähnlich 526): […] k ϑew totwn gegontwn. 320 Vgl. den für die Feiern der stoischen Schulgemeinde gedichteten Hymnus des Kleanthes, der auf die Verherrlichung (Ehrung) des Menschen antwortet und Gottes Herrlichkeit (Ehre) im Loblied hervortreten lässt. Siehe oben Anm. 232. 321 Vgl. dazu auch W. Philipp, Das Werden der Aufklärung in theologiegeschichtlicher Sicht. Zum ideengeschichtlichen Rückbezug der physiko-theologischen Bewegung auf Sabunde vgl. 47–53; »Raimund de Sabunde und das 16. Jahrhundert«, 53; zum Traditionsstrom der Physikotheologie im 16. Jahrhundert der Reformation sowie im 17. Jahrhundert des Barocks, 53 –71. 322 Als Beispiel wäre hier anzuführen: Ch. Kardinal Schönborn, Ziel oder Zufall? Schöpfung und Evolution aus der Sicht eines vernünftigen Glaubens.
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Kant sind die angesprochenen Phänomene selbstverständlich nicht entgangen; er schreibt: »Die gegenwärtige Welt eröffnet uns einen so unermesslichen Schauplatz von Mannigfaltigkeit, Ordnung, Zweckmäßigkeit und Schönheit«, dass »über so viele und unabsehlich große Wunder« »sich unser Urteil vom Ganzen in ein sprachloses, aber desto beredteres Erstaunen auflösen muß«.323 Er definiert die Physikotheologie durch den physiko-theologischen Gottesbeweis, den »Schluss […] von der in der Welt so durchgängig zu beobachtenden Ordnung und Zweckmäßigkeit […] auf das Dasein einer […] Ursache«, die mit Gott identifiziert wird.324 Nach eindringlichen Vorüberlegungen hat er erst in der Kritik der reinen Vernunft die völlige »Unmöglichkeit des physiko-theologischen Beweises« bzw. dessen Deutung als teleologischen Gottesbeweis nachzuweisen versucht.325 Spricht Kant vom »Dasein« der letzten Ursache, so meint er hier kein sinnlich erfahrbares Anwesen, kein phänomenales Gegebensein, sondern ein übersinnlich denkbares Existieren, ein Vorhandensein, das wir im setzend-urteilenden Sichvorstellen behaupten. Phänomen und Noumen fallen bei Kant auseinander: Von den partikulären Erfahrungsgegebenheiten aus gibt es grundsätzlich keinen Weg zur Idee, die, wie die Gottesidee, Totalität ist. »Denn, wie kann jemals Erfahrung gegeben werden, die einer [deren Horizont bildenden] Idee angemessen sein sollte?«326 Gott ist ja kein Gegenstand der Sinnenwelt, und daher ist der physiko-theologische Beweis, der sich auf Grund wahrnehmbarer Gegebenheiten eine übersinnliche Letzt ursache ausdenkt, unmöglich. Seine Beweisgrundlage ist unzureichend, und zudem wird er als ein ontologischer Beweis entlarvt, der das transempirische Dasein einer höchsten Idee, die erst zu beweisen wäre, verkappt voraussetzt. Physiko-Theologie ist nicht auf die von Kant analysierte Beweisart festzulegen, sie besagt anderes und viel mehr. Sie ist eine religiös gestimmte Bewegung, die sich anlässlich des Betrachtens (engl. contemplate) der Körperwelt (welche durch naturwissenschaftliche Forschung in Richtung Mikro- und Makrokosmos erweitert wurde) von der Herrlichkeit (engl. glory) Gottes leibhaftig, über den sinnenhaft eröffneten Wahrnehmungsbereich, ergriffen weiß. Das erinnert bei aller Andersartigkeit an religiöse Intentionen der Stoa. Man erblickt besonders in neu entdeckten und überhaupt in faszinierenden Naturphänomenen konkrete Beweise, Erweise, Demonstrationen des Daseins und der Eigenschaften Gottes. Sie werden als natürliche Wunder aufgefasst, welche Gottes Herrlichkeit loben und preisen.327 323 I. Kant, KrV, B 650. 324 A.a.O., B 655. 325 A.a.O., B 648 – 658. Zur intensiven Befassung Kants mit der Physiko-Theologie vgl. G. B. Sala, Kant und die Frage nach Gott, 15–38, 83–94, 144 –161, 188 –199, 321–343, 345, 347, 431– 435. 326 I. Kant, KrV, B 649. 327 Wenn unmittelbar an das Alte Testament angeknüpft wird (beispielsweise an Psalm 148), wo die
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Es geht also in der physiko-theologischen Bewegung mehr um Doxologie als um philosophische Theologie. Die Selbstbezeichnung »Physiko-Theologie«, welche diese Richtung im Barockzeitalter 1652 durch Walter Charleton erhalten hat, bezieht sich daher nicht nur auf Entdeckungen im Rahmen naturwissenschaftlicher Physik, sondern kann sachlich gesehen als eine Erweckung und Neufassung physischer Theologie der Stoa gelten. Doch nicht zu übersehen ist die damit einhergehende Rezeption dessen, was man für die Lehre der Stoa gehalten hat – herausragend hier die imponierende und originelle Synthese stoischer Philosophie durch Spinoza sowie dessen Wirkungsgeschichte im Spinozismus (u.a. bei Goethe, im deutschen Idealismus), wo besonders dessen theologischer Systemansatz (deus sive natura naturans) vielfältig rezipiert wurde. Zu fragen wäre, ob die bedeutendste Physiko-Theologie der gesamten Neuzeit nicht in den Werken Teilhard de Chardins (1881–1955) zu finden ist. Dahingehend hat er, soweit ich sehe, bisher keine Würdigung gefunden, was mit einem verbreiteten Missverständnis seines differenzierten Methodenverständnisses zusammenhängen mag. Teilhard selbst hat auf den Zusammenhang seiner Physik – die keinesfalls mit der modernen naturwissenschaftlichen Disziplin zu verwechseln ist – als einer Phänomenologie des Kosmos mit dem griechischen Physis-Denken aufmerksam gemacht. Physik ist für ihn im Verhältnis zur Naturwissenschaft »Ultraphysik« als »die wahre ,physike‘ der Griechen«.328 Im Gegensatz zur Tradition der physischen Theologie und der Physikotheologie ist jedoch bei ihm das ontologische Gewissen wach und er fundiert sein Physisverständnis in einer Metaphysik der Einheit und Vielheit.329 Auf Kants lehrreichen Nachweis der Unmöglichkeit der Physiko-Theologie wurde schon kursorisch hingewiesen. Besonders bemerkenswert bleibt seine Auffassung, der Beweis könnte, wenn überhaupt, »höchstens einen Weltbaumeister, der durch die Tauglichkeit des Stoffs, den er bearbeitet, immer sehr eingeschränkt wäre, aber nicht einen Weltschöpfer, dessen [transzendentaler] Idee alles unterworfen ist, dartun, welches zu der großen Absicht, die man vor Augen hat, nämlich ein allSchöpfungswerke ihren Schöpfer preisen, so ist dies nicht nur israelitische Tradition, sondern begegnet auch in der altorientalischen Umwelt Israels (insbesondere in Ägypten). In dieselbe altorientalische Welt verweist uns die noch dunkle Herkunftsgeschichte vieler Stoiker, die solches Denken in das griechische eingebracht haben. Hier schließt sich wieder der unentwirrbare Zirkel der Begegnung von griechischem und altorientalischem Denken, da eine für eine späte Rezeptionsgestalt stoischen Denkens infrage kommende frühere Quelle unmittelbar nicht zur Verfügung steht. 328 Zur Frage nach der Methode bei Pierre Teilhard de Chardin, vgl. vom Verf. (1997c), Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Bd. 2, 379–394, bes. 387 ff. 329 Siehe Vierter Exkurs: Integrale Zusammengehörigkeit des Einen und Vielen im Sein (Walten) des Ganzen. Dort 6.4.3.2 g): Pierre Teilhard de Chardin.
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genugsames Urwesen zu beweisen, bei weitem nicht hinreichend ist«.330 Das Urteil hat den platonistischen Demiurgen vor Augen, trifft auch das stoische Physis-Denken, insofern deren Physis im Grunde nichts anderes als eine Weltvernunft (logos) oder höchste Intelligenz ist, die demiurgisch, artifiziell-gestaltend in allem waltet – analog einem Baumeister für das Weltgebäude. Doch ist dieser in der Stoa nicht für die Formierung widerspenstiger Materie zuständig, sondern die Vernunft des Weltalls waltet in untrennbarer Identität mit der Materie, ,körperlich‘, weswegen man recht hilflos von einem Materialismus der Stoa gesprochen hat. Wenn es zutreffend ist, dass das Sein des Seienden im panentheistischen PhysisDenken der Stoa mit Gott identifiziert wurde, dann müssten zur Dekonstruktion dieser Konfusion die ontologischen Fundamente ausreichend geklärt werden und man müsste von einem bloß ontisch-kategorialen Verständnis der innerweltlichen Seienden und ihrer ontischen Teleologie abrücken. Vielleicht wäre dann eine schöpfungstheologische Umwandlung und Weiterführung physischer Theologie sowie einer Physiko-Theologie aussichtsreicher. So aber bleibt nur die Faszination des teleologischen Gottesbeweises oder die schwankende Basis des in seinen ontologischen Erschließungsmöglichkeiten (Bewunderung, Bestaunen) ungeklärten Gefühls »der Nähe einer übergewaltigen Macht« (Goethe),331 ohne dass kritische Vernunft ihr Beweisziel stringent erreicht hätte. Ihr Beweisziel wäre (allgemein gesprochen) nach Kant: die Rechtfertigung der bejahenden Aussage, dass ein Ding (ein Gegenstand, ein Objekt im weitesten Sinne eines vorgestellten Etwas) sei, und zwar nicht als Erscheinung, sondern eben als Ding an sich selbst (= im Gottesbeweis eben Gott) – also nicht als Phänomen, sondern als Noumenon; und das bedeutet als ein erscheinenden Gegenständen Zugrundeliegendes, das nur gedacht, nur im Denken ,gegeben‘ wird. Diese Art der Beweisführung kann freilich mit »der Nähe« einer übergewaltigen Macht nichts anfangen, da Kants Prämissen nicht zulassen, dass ein die Erscheinung Ermöglichendes und Begründendes mit in Erscheinung tritt, und weiter, dass ein derartiges von sich her Miterscheinendes phänomenologisch-hermeneutisch aufweisbar wäre. Systemimmanent ist Kants Sicht, wonach die Physiko-Theologie das geforderte Beweisziel nicht erreichen kann, völlig zutreffend. Einige Prämissen und Argumente dieser Auffassung seien angeführt. Kant fasst die Physis der Physiko-Theologie nur ontisch, gegenständlich und das Ontische auf die außer- und untermenschli330 I. Kant, KrV, B 655, vgl. B 636 f., 657 f. 331 Vgl. Goethes Werke, Bd. 12: Maximen und Reflexionen, 364 f.: »Den teleologischen Beweis vom Dasein Gottes hat die kritische Vernunft beseitigt; wir lassen es uns gefallen. Was aber nicht als Beweis gilt, soll uns als Gefühl gelten […].«
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che Natur reduziert auf. Die Produkte der Natur werden technomorph begriffen, d.h. in Analogie zu dem, was menschliche Kunst und Technik hervorbringt – ähnlich »Häusern, Schiffen, Uhren«.332 Geschlossen wird ausgehend vom Bekannten (zweckmäßig Erzeugten) auf das große Unbekannte (Erklärungsgrund, Ursache und Urheber der Natur). Ein solcher Analogieschluss kann aber kein sicheres Ergebnis erbringen. Und wenn auch, könnte damit anderes erreicht werden als ein höherer Weltbaumeister, da man sich den großen Unbekannten als obersten Konstrukteur, Hersteller und Macher vorstellt? Zu all dem kommt, dass eine bestimmte, sekundäre, abgeleitete Verhaltens- und Seinsweise des Menschen sein Erkennen und kritisches Urteilen bestimmt. Der Mensch, der physiko-theologisch Gott beweist, verhält sich nur als »das beobachtende Subjekt« zur »beobachteten Weltgröße« und nicht als Selberanwesender, der mit seiner Um- und Mitwelt innig vertraut ist. Als beobachtendes Subjekt kommt er im Beweis nur distanziert und reduziert als Natur-Objekt vor, wenn zum Beispiel auf das physiologische ,Wunder‘ des Baues und der Funktion seiner Sehorgane hingewiesen wird. Was Kants Kritik hier und überhaupt zu Recht gezeigt hat, ist, dass Gottesbeweise bloß gedanklich-ideell vermittels ontisch gefasster Kategorien von Ursache und Wirkung niemals gültig auf ein an sich unsichtbares höchstes Wesen schließen können. Fundamental gewandelt hat sich das Naturverständnis der natürlichen Theologie, wenn ihr ,Natürliches‘ nicht mehr das Weltganze (als Schöpfung) und auch nicht die Wesensnatur Gottes meint, sondern auf ein Erkenntnismittel theologischer Erkenntnis abzielt: die Vernunft. Sie ist bei Kant das übersinnliche Vermögen zur asymptotischen Erkenntnis des Ganzen, sei es spekulativ oder praktisch. Die bisherige natürliche Theologie ist zur vernünftigen oder Rationaltheologie (theologia rationalis) mutiert und wird als solche dem Offenbarungsglauben (theologia revelata) entgegengesetzt. Bei Kant ist natürliche Theologie, systemkonsistent sauber gedacht, überdies nur mehr ein Hauptbereich der Rationaltheologie neben der in Ontotheologie und Kosmotheologie unterteilten transzendentalen Theologie. Trotz der Verlagerung des Schwerpunktes von der Physis auf die Vernunft fällt es auf, dass Kant die natürliche Theologie333 noch insofern ganz im Sinne der Stoa auffasst, als er sie, »durch einen Begriff, den sie aus der Natur (unserer Seele) entlehnt [und mit dem sie ihren Gegenstand bestimmt], als die höchste Intelligenz« denkt. Diese höchste Intelligenz ist ihr entweder »Prinzip aller natürlichen, oder aller sittlichen Ordnung und Vollkommenheit«, und zwar Physikotheologie, in welcher ich, durch 332 I. Kant, KrV, B 654. 333 A.a.O., B 659 f. Zu den verschiedenen Arten der Theologie in Kants KrV vgl. G. B. Sala, Kant und die Frage nach Gott, bes. 344 –349.
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die Kausalität der Natur bestimmt, theoretisch »erkenne, was da ist«, oder sie ist Moraltheologie, in der es um die sittliche Natur (Ordnung), die Kausalität der Freiheit in Selbstbestimmung geht, in der ich praktisch »mir vorstelle, was dasein soll«. Wohl aus der Sicht praktischer Vernunft fallen Kants lobende Worte über den teleologischen Gottesbeweis der Physikotheologie: »Dieser Beweis verdient jederzeit mit Achtung genannt zu werden. Er ist der älteste, kläreste und der [all]gemeinen Menschenvernunft am meisten angemessene«, wenn die Vernunft einen Blick auf »die Wunder der Natur und der Majestät des Weltbaues wirft […], um sich […] bis zum obersten und unbedingten Urheber zu erheben«.334 Anthropologisch gesehen wird die Vernunft sowohl bezüglich der natürlichen (physischen) Ordnung als auch der sittlichen Ordnung nicht im Horizont der gestimmt-vernehmenden Offenheit des Menschen in seinem leibhaftigen Weltaufenthalt im Gegenübersein mit Anderen verstanden, sondern im Horizont des platonischen, anthropologischen Dualismus, welcher die ursprünglich phänomenale Seinserfahrung subjektzentriert aufspaltet: in etwas innerweltlich und vergegenständlicht Erfahrbares, das sinnlich beobachtbar ist, und in die zur Naturausstattung des Denkenden gehörige, übersinnliche und bloß das Erkennen regelnde Idee. Ein Rückgang auf die ursprüngliche, gesamtmenschliche Erfahrung des uns weltweit Widerfahrenden (die immer auch eine emotionale, eine gestimmte ist) kommt für diese Vernunft nicht in Frage. Eine solche Vernunft, die nicht mehr wie die gesamtmenschliche ist, die uns tendenziell noch in der Stoa begegnet, rückt zur kritischen Instanz auf, und zwar unter dem unkritisch, weil ontisch ausgedachten transzendentalen Ideal 335 des höchsten Wesens (ens summum) und Wesens aller Wesen (ens entium).336 Dieses höchste Seiende als Seinsollendes kann nur mehr auf dem Weg praktischer Erfordernisse (postulatorischer Theologie) angenommen werden. Allein schon im Korsett dieser systemkonsistenten Voraussetzungen muss zugegeben werden, dass eine bloß spekulative Beweisbarkeit Gottes, wie die Physiko-Theologie sie annimmt, unmöglich ist. Mit der aprioristischen Fassung des Gottesverständnisses als Vernunftidee ist nun vollends ein neuer anthropozentrischer Typ natürlicher Theologie entstanden, welcher nicht mehr von der ontologischen und religiösen Erfahrung, sondern von dem, was Gotteserkenntnis vermitteln soll oder können sollte, ausgeht, eben von dieser Art von Vernunft. Eine solche Vernunft kann nun dem Offenbarungsglauben kritisch reserviert entgegengesetzt werden, oder es kann umgekehrt im Namen der christlichen Offenbarung und ihres Glaubens die natürliche Theo334 I. Kant, KrV, B 652. 335 A.a.O., B 604; vgl. B 606. 336 Vgl. a.a.O., B 607.
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logie, als der Vernunft im Dienst eines selbstsüchtigen Eigenwillens entsprungen, bekämpft werden. Wenn wir nach diesem holprigen und durch einige Fragmente belegten Weg auf den eingangs (oben 1.2) ausgeführten Versuch einer ursprünglicheren Fassung des Physis-Denkens als Seins-Denken zurückblicken, so kann gesagt werden: Kaum ein Kapitel der Geschichte philosophischer Theologie als das der Physiko-Theologie macht deutlicher, dass die notorische Verkürzung ontologischen Denkens bzw. seine Vernachlässigung, seine Umgehung und sein Schwund zum Schaden der philosophischen Theologie ausschlagen musste.
1.3 Politische Theologie
Um das, was in griechisch-römischer Antike ,politische Theologie‘ genannt wurde, zu klären, muss vorab gefragt werden, was in formaler Hinsicht als diese Theologie gilt und wie sie durch das Adjektiv ,politisch‘ (lat. civilis) bestimmt wird. Politisch (civilis) ist, was eine soziokulturelle Gruppe, die Gemeinschaft der Bürger (Bürger = polites, polthß, civis) einer Politeia betrifft. Politeia (politea, lat. civitas) heißt in den für uns wichtigsten Bedeutungen die Bürgerschaft (Freie, Vollbürger, nicht Frauen, Unfreie, Sklaven), die Öffentlichkeit (res publica), überhaupt das Verfasstsein (nicht so sehr Haben einer Verfassung) und auch die Verwaltung des städtischen Gemeinwesens. Akzentuiert werden kann das leibhaftig-räumliche Miteinanderanwesen (als corpus, ,Körperschaft‘) oder die Herrschaftsform und ihre Ausübung, das Rechtswesen und dessen Vollzug (etwa die communio iuris des römischen Reiches). Civitas als geographisch-territoriales Gebilde (,Ortschaft‘) ist auch das lateinische Äquivalent für die griechische ,Polis‘, die städtische Siedlungsform mit entsprechendem Territorialbesitz, wo es darum ging, eine Stadtgemeinde des guten Lebens zu sein. In Bezug auf die griechische Polis und die römische civitas ist es wichtig, dass zum politischen Aspekt der theologisch-religiöse gehört, insofern sie sich aus der schützenden Anwesenheit ihrer Gottheit (bzw. ihres Gottes und ihrer Götter) verstanden haben, die ihren Bestand verbürgt. Diesem Verständnis entspricht, dass sich die Polis mit einer zwangsbefugten Regierung als Kultgemeinschaft bildete.337 Polis und civitas waren also auch religiös bestimmte Körperschaften. Damit ist ein Vorbegriff politisch modifizierter Theologie gewonnen, deren Grundintentionen aus heutiger Sicht und Problemstellung Gefahr laufen, verkannt zu werden, etwa unter der 337 Vgl. dazu J. Ratzinger, Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre von der Kirche, 255–271.
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Bedingung der modernen Trennung von Staat und Religionen, Öffentlichkeit und Privatsphäre, oder der Glorifizierung des ,Polytheismus‘ angesichts der Bedrohung durch politisch illiberale ,Monotheismen‘. Um die Fixierung und vorschnelle Bewertung eines bestimmten Modells politischer Theologie zu vermeiden, sei vorweg daran erinnert, dass der Ausdruck ,politische Theologie‘ heute mehrdeutig und diffus ist und in einem weiten Sinn für alle möglichen Beziehungen von Politik und Theologie gebraucht wird, wobei unterschiedliche Verständnisweisen der Gottesrede im Zusammenhang mit verschiedenen Arten und Methoden der auf eine oder verschiedene Religionen bezogenen Politik infrage kommen.338 Die Loslösung des Begriffs der politischen Theologie von seiner Herkunft aus hellenistischer Philosophie hat den Vorteil, dass man ihn weltweit in Hochkulturen bis hinein in die gegenwärtige Globalisierung der Kulturen erforschen konnte. Auch versuchte man, die Vielfalt politischer Theologien im viel weiteren Konnex einer (meist harmonischen) Korrespondenz von kosmischer und soziokultureller Ordnung, wie sie kultisch zur Darstellung kommen können, aufzuzeigen – beginnend in archaischen Kulturen verschiedener Erdteile bis in ihre späteren Ausläufer. Die Stoffmasse soll aber hier bewusst eingeschränkt werden. Unter Berücksichtigung des bisher Gesagten lassen sich ganz grob zwei randunscharfe Typen einer Beziehung von Politik und Theologie bzw. Religion unterscheiden, insofern man einerseits von der politischen Theologie der öffentlichen Herrschaft einer Sozietät (des Volkes, der Stadtgemeinde, des Staates usw.) und ihrer Selbstdarstellung ausgeht (1.3.1) und andererseits reflexiv politische Theologie philosophisch und/oder offenbarungstheologisch zu bestimmen sucht (1.3.2). Der zweite Typus kann der Religionsphilosophie bzw. auch der Religionstheologie als Teilbereich zugeordnet werden.
1.3.1 Politische Theologie der öffentlichen Herrschaft Der erste, klassische Typus politischer Theologie (innerhalb des auf die theologia tripartita eingeschränkten Rahmens) meint die Einrichtung und Erhaltung eines öffentlichen Kultes mit oder aufgrund staatlicher Autorität, was über bloße staatliche Registrierung und Verwaltung verschiedener Religionsgemeinschaften als ,Körperschaften öffentlichen Rechts‘ hinausgeht und die staatsrechtliche Regelung 338 Vgl. dazu den historisch gut belegten Artikel »Theologie, politische« von R. Hepp in: HWP, Bd. 10, Sp. 1105–1112, sowie den pointiert problemorientierten Artikel von B. Wacker/J. Manemann, Politische Theologie (aus 2005).
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des öffentlichen Kultes bis hin zu einer Doktrin, welche die Theologie ganz oder teilweise mit Politik identifiziert, umfasst. Augustinus referiert diesbezüglich die klassische politische Theologie (lat. die theologia civilis) des Volkes, wie sie sich im römischen Imperium etabliert hat: Sie »ist die, welche die Bürger in den Städten, vorab die Priester, zu kennen und zu verwalten haben. Zu ihr gehört, welche Götter öffentlich zu verehren sind, welche Riten und Opfer einem jeden zu verrichten angemessen ist.«339 Ausgehend von »der antiken Überzeugung eines kultisch-politischen Tun-Ergehen-Zusammenhangs« definiert Bernd Wacker politische Theologie funktional: Sie »dient der Darstellung und Einweisung in die überlieferte Religion, soweit deren Kenntnis für den rechten Vollzug der öffentlichen Verehrung der Götter und damit um des Staatswohles willen unerlässlich ist«.340 Zur Erhellung des Wesens politischer Theologie ist es unumgänglich, auf die Hauptquelle unseres Wissens von ihr – auf Augustins kritische Auseinandersetzung mit ihr – einzugehen. Jedoch muss auch die etwas verzerrte Optik seiner ablehnenden Rezeption hinterfragt werden. Was Augustinus vernichtend zu treffen sucht, ist die von ,Heiden‘ seiner Zeit im Gegensatz zum Christentum propagierte politische Theologie,341 und zwar hinsichtlich der Restaurationstendenzen eines ,Polytheismus‘, der genauer als ein Götter- und Göttinnen-Pantheon mit einem höchsten Gott (oder Götterpaar) an der Spitze bestimmt hätte werden müssen. Trotz der ebenso verständnisvollen wie toleranten stoischen und auch neuplatonistischen Kritik am ,Polytheismus‘ der Volksreligion war für Augustin jedes Entgegenkommen aus seinem christlich-platonistischen und eschatologistischen Daseinsverständnis untragbar. Das Vorhaben einer radikalen Kritik – es wurde schon im Eingang des Kapitels angeführt – spielt in seine Varro-Rezeption hinein: Er will ihn für seine Erledigung aller politischen Theologie auf seine Seite ziehen, indem er Ähnlichkeiten der von Varro weder offen angegriffenen noch völlig abgelehnten politischen Theologie mit der von Varro unverhüllt als unmoralisch getadelten mythischen Theologie nachzuweisen sucht. Ist die Mythologie Voraussetzung politischer Theologie, dann würde die völlige Ablehnung der Mythologie die politische Theologie implizit mitbetreffen. Der 339 Augustinus, civ., VI, 5; CCL, Bd. 47, 120 –122: Tertium genus est […] quod in urbibus cives, maxime sacerdotes, nosse atque administrare debent. In quo est quos deos publice sacra ac sacrificia colere et facere quemque par sit. 340 B. Wacker/J. Manemann, Politische Theologie, 338. 341 Fokussiert wird nur der öffentliche Staatskult. A. Dihle, Die Theologia tripertita bei Augustin (183, 192 ff.), weist darauf hin, dass die damals sehr verbreiteten traditionellen und orientalischen Mysterienreligionen durchwegs private Einrichtungen waren und in Augustins Polemik fast nicht vorkommen (vgl. Augustinus, civ., VII, 20; CCL 47, 202).
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Verstoß der mythischen Theologie gegen die Wahrheit kann nicht um der gewohnten Überlieferung willen mit Rücksicht auf das Wohl der Polis über die Wahrheit gestellt und gebilligt werden.342 Augustinus übergeht, dass Varro auch einen öffentlichen Kult ohne Mythos kennt. Da aber dessen Kultempfänger rangniedrigere Götter (dei inferiores) sind, fällt dieses Argument weniger ins Gewicht, da solche Götter den Weg zum Göttlichen ohnehin nicht (oder kaum) weisen können.343 Augustinus übergeht auch ihm vermutlich wohlbekannte neuplatonische Interpretationsmöglichkeiten, die fast jeden Mythos und jede Kultpraxis rechtfertigen konnten.344 Er überspielt auch Varros Anliegen, das er nicht annehmen will, da es in eine andere Richtung weist: Nach Varro klaffen die Ziele der spannenden, aber unmoralischen Mythenerzählungen und die der Physis-Philosophen auseinander; die einen haben der Ergötzung wegen (delectationis causa), die anderen des Nutzens (utilitatis causa) wegen geschrieben.345 Mit utilitas ist weniger der moralische als »der in der Wahrheitserkenntnis liegende Nutzen intendiert«.346 Varro ging es um die Verehrung des wahren Wesens der Gottheit der Götter vermittels einer symbolisch-allegorischen Deutung der Mythologie, welche durch die von ihm bevorzugte physische Theologie (interpretatio physiologica) sogar die Götterbildnisse der Kultpraxis einbezogen hat. Er wollte eine gereinigte Form der römischen Staatsreligion seinen Mitbürgern zur Pflege ans Herz legen.347
342 A.a.O., VI, 7. Augustins Auffassung wird von J. Ratzinger, Die Einheit der Nationen. Eine Vision der Kirchenväter, 73–76, im Abschnitt »Die Wahrheitslosigkeit der politischen Religion« wiedergegeben und belegt: »Die politische Religion hat keine Wahrheit. Sie beruht auf einer Kanonisierung der Gewohnheit (consuetudo) gegen die Wahrheit.« Über Varro geht die uns durch Augustinus (civ., VI, 10, CCL 47, 181 ff.) erhaltene ablehnende Stellungnahme Senecas zum Staatskult hinaus. Er war immerhin römischer Senator und empfahl den Weisen, am gesetzlich vorgeschriebenen Kult teilzunehmen und den ganzen unerlauchten Schwarm von Göttern (omnem istam ignobilem deorum turbam) so anzubeten, »dass wir dessen eingedenk bleiben, dass deren Kult mehr zur Sitte als zur Sache gehört (magis ad morem quam ad rem pertinere)« – für Augustinus eine verdammenswerte Betrugssache, heuchelnde Schauspielerei im Tempel. Im Interesse an der Erhaltung der Macht werde die Wahrheit unterdrückt und die falsche Religion aufrechterhalten (a.a.O., IV, 32, CCL 47, 126). Auch hier wird übersehen, dass der stoische Weise eine durchaus angestrebte Kultreform nicht durch Bruch mit der Gewohnheit und den Gesetzen, sondern über die Motivation herbeizuführen suchte. 343 Dazu A. Dihle, Die Theologie tripertita bei Augustin, 186 ff. 344 Vgl. hierzu a.a.O., 189, 200. 345 Augustinus, civ., VI, 6; CCL 47, 174. 346 G. Lieberg, Die ,Theologia tripertita‘ in Forschung und Bezeugung, 92. 347 Vgl. auch a.a.O., bes. 100 f., wo Lieberg hervorhebt, dass und inwiefern Augustins Kritik der komplexen Wirklichkeit römischer Staatsreligion Varros »Intentionen und Vorstellungen nicht gerecht« wird.
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Für die Gebildeten, d.h. gerade für die auf Wahrheit Bedachten, ist nach Varro das genus physicum theologiae verbindlich, das, wie der nach stoischer Auffassung ursprüngliche Kult, bildlos oder – wie man vielleicht heute sagen würde – ,ungegenständlich‘ war und eigentlich auch ohne Götterbilder (simulacra) auskommen könnte. Dennoch haben innerhalb der stoischen Philosophie, die ein divinisiertes Weltverständnis hegt, die überkommenen, vom Volk zu verehrenden Götter eine interpretativ erschließbare zeichenhafte Bedeutung. Was leibhaftig ,wahr-genommen‘ wird, das wird im Herzen als die Weltseele, welche die Welt durch Bewegung und Vernunft leitet348 und in der die Bereiche der Welt versammelt sind, geschaut.349 Die Anwesenheitsbereiche des Göttlichen sind insofern wahre Götter, haben damit einen relativen Wahrheitsgehalt und sind deshalb zu Recht zu verehren. Darüber hinaus gibt es die religionspolitisch pragmatische Überlegung, dass die Nichtverehrung der populären Götter zum Atheismus führen würde und daher der Wahrheit noch ferner ist als ihre derzeit durchaus fragwürdige Verehrung. Auch diese konservative Argumentation steht im Dienst der Wahrheit und kehrt in gegenwärtigen Diskussionen um Reformen petrifizierter Volksfrömmigkeit wieder. Wenn wir noch einen Augenblick von der vernichtenden Kritik Augustins absehen, so ergibt sich Folgendes: Die mythische Theologie verschafft sich Gehör durch die Autorität des dichterischen Wortes, den Logos eingängiger Mythen. Sie unterliegt ihrer eigenen sowie philosophischer Mythenkritik. Die physische Theologie verschafft sich Gehör durch den Rechenschaft gebenden Logos (lgon didnai), durch die Kraft der Argumentation. Die politische Theologie hingegen verschafft sich Gehör durch das Wort (Brauch und Gesetzgebung: nmouß tiϑnai) der Mächtigen, seien es angesehene Staatsbeamte, Priester oder andere für das politisch-theologische Rechtswesen zuständig gehaltene Autoritäten, wobei eine Personalunion ihrer Funktionen möglich ist. Dadurch wird – was zunächst die Aufmerksamkeit fesseln kann – eine beiderseitige, ja sogar zirkuläre Funktionalisierung ermöglicht und begünstigt. Im Interesse einer dem Wohl der Polis bzw. civitas zuträglichen Herrschaftsausübung kann die Theologie religiöser Autoritäten (samt den entsprechenden kultsprachlichen Handlungen und ihrer Ritualisierung) in den Dienst genommen werden. Die Berufung auf Theologie dient dann der Legitimation (Rechtsbegründung) und Legalisierung, der Stabilisierung, Durchsetzung und Mehrung der Staatsgewalt bzw. Herrschaftsausübung. Umgekehrt kann auch die politische Herrschaft von religiösen Autoritäten im Interesse der Religionsausübung und -ausbreitung in den 348 Augustinus, civ., IV, 31, CCL 47, 125 f. 349 A.a.O., VII 5; vgl. auch 6: […] simulacra deorum […] quae cum oculis animadvertissent […] possent animam mundi ac partes eius, id est deos veros, animo videre.
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Dienst genommen werden. Die staatliche Autorität und Gewalt kann zur Legalisierung, Legitimation, Sicherung und Mehrung der jeweiligen Religion (sei sie friedvoll oder missionarisch aggressiv) genutzt werden. Als viel diskutiertes Beispiel für eine gegenseitige Indienstnahme religiöser und staatlicher Autoritäten sei die byzantinische Reichstheologie des Eusebius von Caesarea angeführt, dessen durch Plutarchos von Chaironeia überlieferter Gedanke einer Entsprechung von Monotheismus und staatlicher Monarchie der Religionspolitik des Kaisers Konstantin des Großen entgegenkam, welche ja mit der Begünstigung des Christentums das Ende der Christenverfolgung mit sich brachte.350 Das leitende Interesse einer Regierung bzw. eines Monarchen (und mit ihnen eines Staates oder Volks) an der Unbedingtheit der die Politik verklärenden, ja absolut setzenden Religion zur Friedens-, aber auch Kriegspolitik, kann ein rein pragmatisches sein, um willen irgendeiner Form des Gemeinwohls oder Privatwohls – der Herrscher kann der Willkür und dem Größenwahn verfallen. Es kann aber auch eine menschliche Gruppe, Gesellschaft, Nation u. Ä. von Habgier (Expansionsgier) und Größenwahn (Nationalstolz) beherrscht werden. Ihr Verhalten ist dann im Blick auf Tugend und Laster analog einem menschlichen Individuum einem sittlich-religiösen Verstehen zugänglich. Genau innerhalb dieses Gesichtskreises setzt die augustinische Kritik ein: Die religiös besetzte Selbstbehauptung des Staatswesens ist eine Vergötzung des römischen Imperiums, Selbstauslieferung des Menschen an die Macht der Dämonen, an eine Macht, »die der Mensch zwar zunächst selbst geschaffen hat, die ihm aber längst über den Kopf gewachsen ist und nun Herr ist über ihn«.351 Das heißt, die überkommene politische Theologie ist nichts anderes als paganer Dämonenkult. Augustins kompromisslose Ablehnung jeder politischen Theologie erfolgt aus dem eschatologischen Blickwinkel der einander entgegengesetzten Bürgerschaften, der »Bürgerschaft Gottes« (civitas Dei) und der »Bürgerschaft des Teufels« (civitas diaboli). Beide sind polis-orientierte Kultgemeinschaften in einem metaphorischen Sinn: die ,Städte‘ (Jerusalem/Babylon). Was die beiden civitates unterscheidet, ist die Ausrichtung des inneren Menschen in der strengen Alternative von Gottes- oder Selbstliebe (amor Dei/amor sui). Beide besitzen eine konkrete Greifbarkeit in der irdischen Geschichte: das himmlische Jerusalem sakramental in der Kirche, Babylon in den staatlich verfassten Gesellschaften, insbesondere im römischen Imperium. In350 Zur politischen Theologie des Eusebius vgl. E. Peterson, Der Monotheismus als politisches Problem, 71–82; hier bes. 78 f. sowie 141 ff., Anm. 133. Kritisch dazu C. Schmitt, Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie, 88 – 93. Bei Peterson beachte man den einschränkenden Untertitel: »Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Theologie im Imperium Romanum.« 351 J. Ratzinger, Die Einheit der Nationen, 77, vgl. auch 97.
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sofern und weil die staatlich organisierten Gemeinwesen als Bürgerschaft auf dieser Erde (der civitas terrena) sich für göttlich halten, nichts als ihr eigenes Wohl suchen und behaupten, gehören sie der diabolischen Bürgerschaft des Teufels an, welche die gefallenen Engel und die Masse der für ewig verdammten Menschen umfasst. Sie sind in ihrer Abwendung vom wahren Gott dem höchsten Übel (summum malum) verfallen. Im Gegensatz dazu geht es den Christen in ihrer Hinwendung zu Gott um das höchste Gut, die höchste Glückseligkeit (summum bonum). Als Bürger des Volkes Gottes gehören sie mit den Engeln der »himmlischen Bürgerschaft« (civitas caelestis) an, deren auserwählte Menschen sich teilweise noch »auf Erden in der Fremde« ( peregrinans in terra) befinden und auf dem Weg in das Jenseits, in ihr »himmlisches Vaterland«, sind. Hier im Diesseits sind die beiden civitates bis zum Jüngsten Tag zusammen; ihre Bürger leben noch miteinander vermischt. Die beiden einander entgegengesetzten civitates haben ihre je eigene Geschichte, die mit ewiger Glückseligkeit bzw. Verdammnis endet. Die wahre Mitgliedschaft der Bürger in den beiden civitates zeigt sich erst am Jüngsten Tag. Am äußeren Menschen zeigt sich dies durch die Mitgliedschaft in der rechtgläubigen Kirche, jedoch nicht mit eindeutiger Sicherheit. Die civitas Dei hat als solche mit dem sichtbaren, politischen Gebilde eines ,Staates‘, der irdischen Gemeinschaft von Bürgern, nichts zu tun. Wohl kann (und soll!) man sich da allenfalls um Gerechtigkeit und Moral bemühen, die wahre ,Glückseligkeit‘ eines Menschen hängt jedoch nicht von irgendwelchen Gegebenheiten im Diesseits ab, auch nicht von einem historischen Ereignis wie beispielsweise das Gedeihen oder der Fall von Rom. Allein die vorherbestimmte Zugehörigkeit des einzelnen Menschen zu einer der beiden civitates ist entscheidend und deren Geschichte ist von der politischen Ereignisgeschichte und der mit ihr verbundenen Staatsreligion ganz losgelöst und befreit gedacht. Die christliche Religion wird als Befreiung zur Wahrheit aus dem dämonischen Zwang des gewohnten politischen Kults verstanden.352 Ihre Befreiungstheologie ist eine Erlösung von der paganen politischen Theologie. Ist somit die Geschichte der beiden für die Ewigkeit bestimmten Bürgerschaften von der vergänglichen, säkularen Ereignisgeschichte politischer Einheiten (Staaten) zu trennen, ,macht‘ auch jene politische Theologie für sie keinen Sinn, die wie bei Eusebius u.a. den politischen Sieg des Christentums als heilsgeschichtliches Ereignis deutet. Aber es sind nicht die militärischen oder politischen Erfolge gläubiger Herrscher oder die Aktivitäten frommer Kleriker und Mönche, auf denen die Heilsgeschichte beruht, sondern es ist allein Gottes Gnadenwirken und Prädesti352 Vgl. a.a.O., 75–79.
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nation. Diese Geschichtskonzeption entspricht dem platonisch inspirierten Dualismus vom inneren und äußeren Menschen. Sie ist insofern eine dualistische, als spirituelle und Faktengeschichte im Prinzip getrennt erscheinen. Dem entspricht, dass der politischen und kulturellen Ereignisgeschichte der diesseitigen Welt – des saeculum – nur eine vergängliche, keine eschatologische Bedeutung beigemessen wird. Dennoch ist Augustins kritische Hermeneutik des sittlich-religiösen Verhaltens von Staaten, Völkern oder anderen, sich absolut setzenden Gruppierungen von höchst aktueller Bedeutung, was hier nicht exemplifiziert werden muss. Mithilfe Augustins offenbarungstheologischem Maßstab des höchsten Gutes, der wahren Gerechtigkeit und Glückseligkeit, werden also im Gegensatz zu seinem Begriff politischer Theologie die Aufgaben irdischer Staatswesen entdivinisiert und relativiert. Doch daraus ergibt sich ein Problem: Zwar bejaht Augustinus für das irdische Gemeinwesen die Möglichkeit einer normativ-moralischen Bindung an Gerechtigkeit, Sicherheit, Wohlstand und Frieden. Indem er sie aber an die auf Erden unerreichbaren Ideale des höchsten Gutes und der wahren Gerechtigkeit bindet, d.h. eschatologischer Perspektivierung unterstellt, »erscheint jeder irdische Staat als relativ ungerecht, nämlich von der wahren Gerechtigkeit so weit entfernt, dass er nicht anders als eine [große] Räuberbande aussieht«.353 Wohl kann ein wahrhaft christlicher Regent in der Sorge um die relative Gerechtigkeit zur Verbesserung der politischen Situation bescheiden beitragen. Aber damit kann man nie zufrieden sein, weil vollkommene Gerechtigkeit gar nicht Fundament und Ziel des irdischen Staates sein kann. Die pessimistische Auffassung der Staatlichkeit, die sich in der Tendenz zu ihrer Negativdarstellung vornehmlich aus der Perspektive von Ungerechtigkeit, Gewalt und Krieg zeigt, ist in der Geschichte der antiken Staatsbeschreibung neuartig.354 Dass Gerechtigkeit (ähnlich wie im modernen Rechtspositivismus) in Augustins Staatsdefinition nicht vorkommt, heißt, dass er die Möglichkeit und Aufgabe des Hervorbringens gerechter Verhältnisse für das Gemeinwesen nicht mehr in Entsprechung zur Physis erblickt,355 sondern kurzschlüssig für gottgegeben hält: Der 353 Vgl. hierzu O. Höffe, Positivismus plus Moralismus: zu Augustinus’ eschatologischer Staatstheorie, 275, der zum Ergebnis kommt, dass De civitate Dei »einen strengen staatsdefinierenden Positivismus mit einem bescheidenen staatsnormierenden Moralismus und einem erneut strengen eschatologischen Rechtsmoralismus« verbindet. (275) »Aber wer [wie Augustinus] die Staatsordnung nicht als genuin moralisches Phänomen anerkennt, ist an einer normativen Theorie des Politischen nicht ernsthaft interessiert. Was Augustinus also antizipiert, ist nur oder immerhin die Loslösung des Staatsprinzips von jenen Lebenseinstellungen und Güterkonzeptionen der Bürger, die heilsrelevant sind. Damit greift er der für die Neuzeit kennzeichnenden Privatisierung und Verinnerlichung der Religion und zugleich der weltanschaulichen Neutralisierung des Staates vor.« (286) 354 A.a.O., 279. 355 Augustinus würdigt an Varros Stoizismus, dass dieser mit seiner natürlichen Theologie nahe an
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Schöpfergott ist der Gott der Geschichte, er verteilt die irdischen Reiche. Irdische Macht ist göttliche Gabe, auch wenn sie unmoralischen Personen gegeben wird.356 Man muss sich die ganze Tragweite dieser später so genannten Zwei-Reiche-Lehre vergegenwärtigen: Die Verpflichtung zur Gerechtigkeit (Sozialethik) wird nur vom Einzelnen (Individualethik) her gesehen. Für die strukturelle Gerechtigkeit in den Gesellschaften ist weder der Staat bzw. die Bürgerschaft in ihrem Miteinandersein noch die Pastoral der Kirche mitverantwortlich, welche die vergängliche Welt vor allem als unvermeidliches Durchgangsstadium (Fremde) ansieht. Damit tritt der Auftrag der ,Kirche in der Welt‘ zu sozialer, leidmindernder Gerechtigkeit in den Hintergrund, der heute als eine eigene Weise der Mitarbeit am Kommen des Reiches Gottes verstanden wird. Was Augustinus bei seiner realistischen Bestandsaufnahme des römischen Imperiums am Maß des höchstdenkbaren Guten verdeckt blieb, war der positive Sinn politischer Theologie, worin auch eine Theologie des Politischen und das politische Element der Theologie wurzeln. Eine Würdigung dieses Phänomens hätte davon auszugehen, dass der Mensch gemäß seiner Physis ein politisches Wesen ist. Und der eigentlich politische Mensch wäre der, der sich gemeinsam mit Anderen um die Wesensnähe Gottes, des Göttlichen, und um die Weisen seines Anwesens im Gemeinwesen sorgt. Bestimmt sich aus der Erfahrung der Wesensnähe des Göttlichen die Sorge um die wahre Verehrung und den wahren Kult, der dieser Anwesenheit im Leben Raum zu geben hat, dann schließt das die Gefahr ein, dass dieses Sorgetragen um die Wahrheit herangekommen sei (civ., IV, 31, CCL 47, 125). Er kritisiert die natürliche Theologie aber auch, weil sie ihren Gegenstand (pantheistisch) verfehlt. Sie hält bereits die vernünftige Seele der Welt (Kosmos) für Gott und ihre Teile für wahre Götter (civ., VII, 5 und 4), statt Gott als »Schöpfer und Begründer« der Welt (und somit der Weltseele) zu erkennen. Varros Auslegung politischer Theologie im Sinne der ,Physiologen‘ müsse darum als wahre Theologie unzureichend sein. Ihr gegenüber sagt er: Gott sei seiner ihm eigenen Natur nach Gott und keine Einbildung, aber nicht alle Natur ist mit Gott identisch, da alle Menschen, Tiere, Bäume, Steine, also alle Seienden, eine Natur haben, von denen keine die Natur Gottes sei. Die Art, wie Augustinus hier (civ., VI, 8, CCL 47, 176 ff.) von der Natur redet, legt den ontischen Naturbegriff spätantiker Rezeptionsgestalt nahe. Dieselbe Differenz zwischen Gott und entdivinisierter Natur bleibt auch Vorgegebenheit augustinischer Ethik: Das sittliche Gesetz gründet im gottgegebenen ordo naturalis, wird aber durch das Gesetz der Gnade Gottes überhöht und relativiert. Dazu vgl. auch G. Krieger/R. Wingendorf, Christsein und Gesetz: Augustinus als Theoretiker des Naturrechts. Im Gegensatz zum stoischen Naturdenken rückt jedoch die Ontologie insofern in das Zentrum augustinischen Denkens, als dieses Denken einen zweifelsfreien Rückhalt in der unmittelbaren Selbstgewissheit des eigenen geistigen Seins besitzt und damit den Schwerpunkt vom sinnenhaftleibhaftigen Weltaufenthalt auf die Welt seelischer Innerlichkeit als Ort des Gottesverhältnisses verlegt. Zur Diskussion der »weltlosen Innerlichkeit« vgl. Chr. Horn, Welche Bedeutung hat das Augustinische Cogito? – Auf Augustins Ontologie der Transzendentalien sowie seine dialogische Schöpfungstheologie wird später eingegangen werden. 356 Augustinus, civ., IV, 33, CCL 47, 126: Ipse (= Deus) dat regna terrena et bonis et malis.
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die entsprechende Verehrung sich in eine ich-zentrierte Sorge um die Selbstbehauptung einer Gruppe verkehrt, die in ihrer Hybris (superbia) verschlossen und blind sich selbst für die Gruppe der einzig Wahren, die Gott verehren, hält, während sie verdeckt so das Abwesen des Göttlichen besorgt. Übrigens wären schon aus altgriechischer Sicht die Sorge und das Sorgetragen um die Anwesenheit des Göttlichen und der Götter die höchste Sorge um die griechische Polis (den Stadtstaat, das Gemeinwesen) gewesen.357 Augustin hat trotz seiner naturrechtlichen Orientierung nicht in Erwägung gezogen, dass das Sorgetragen für ein Gemeinwesen von Natur aus religiös-sittlich bestimmt sein könnte und von Natur aus verantwortlich an die Wahrheit gebunden ist. Gewiss kann ein Pragmatiker Wahrheitswidriges mehr oder weniger in Kauf nehmen, solche kultischen Gewohnheiten unangetastet lassen oder auf diplomatisch opportune Kompromisse eingehen. Politische Theologie kann aber (mindestens im Glauben, Gutes zu tun) der Durchsetzung der Wahrheit dienen wollen. Daher gilt (gegenüber ihrem befremdenden Anderssein) zunächst die Unschuldsvermutung, nicht Augustins Betrugsunterstellung. Man kann nämlich meinen, dass das Göttliche und die Götter ihre Anwesenheit und dadurch die Staatssicherheit und das allgemeine Wohl gewähren, indem (und nicht ausschließlich weil) ihnen durch öffentliche Verehrung in Bräuchen und Opfern Raum gegeben wird. Denn Fest und Feier empfangen durch die Anwesenheit des Göttlichen ihren Sinn. Dass es Derartiges gibt, ist der praktische Beweis dafür, dass irdisches Wohlergehen von ihm kommt. Der utilitaristische Gedanke, dass Wohlstand so ,verdient‘ werden könnte und sich bezahlt macht, ist vermutlich sekundär, denn Feiernkönnen und -dürfen kann selbst noch als von oben gegeben und geschenkt erfahren werden. In manchen archaischen Kulturen hielten Herrscher und/oder Priester es für ihre Aufgabe, die göttliche Weltordnung etwa in realsymbolischer Kultdarstellung anwesend werden zu lassen und so allenfalls auch mitverantwortlich an der Ordnung, an der In-Gang-Haltung des lebensweltlichen Kosmos und an der Abwehr des Chaos mitzuwirken. Somit unterlag die Weise, von welchem Gott, von welchen Göttinnen und Göttern und wie von ihnen öffentlich zu reden sei und wie sie zu verehren seien, einer polis-rechtlichen Anordnung, der Pflege und Garantie. Der tiefe 357 Vgl. M. Heidegger, GA, Bd. 55: Heraklit, 11 f.: »Wie, wenn, griechisch gedacht, die Sorge um die Anwesenheit der Götter die höchste Sorge um die pliß [pólis] wäre? So steht es in Wahrheit; denn die pliß ist […] der Pol und die Stätte, um die sich alles Erscheinen des wesenhaft Seienden und damit auch das Unwesen alles Seienden dreht. Steht es so, dann ist […] der Denker [Heraklit] bei seiner Sorge um die Wesensnähe der Götter [kein apolitischer, sondern] der eigentlich ,politische‘ Mensch.« Das Seiende wird hier in seinem Sein aus der wesenhaften Nähe (und Ferne) zum Göttlichen verstanden.
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Gedanke einer (zu feiernden) harmonischen Korrespondenz von Physis-Ordnung im Konnex der politischen Ordnung war längst nicht mehr zugänglich. Überhaupt war für Augustin ein offener Religionsdialog bei seiner exklusivistischen und heils– partikularistischen Mentalität undenkbar. Als sekundär dürfte die Auffassung einzustufen sein, dass Katastrophen zumeist als Zeichen einer Schuld der Bürger oder Herrscher zu deuten seien, ja dass auch die Nichtanerkennung der ,politischen Religion‘ (des offiziell anerkannten Religionswesens) als Gefährdung des Gemeinwesens rechtlich zu verfolgen sei. Die Polis bzw. civitas konnte von außen gefährdet sein; ein kriegerisches Unternehmen gegen die Polis musste die sie schützenden Götter herausfordern oder wurde von beleidigten Göttern zugelassen. Von innen konnte die Polis durch Zerfall des Zusammenhalts bis hin zum Bürgerkrieg gefährdet sein. Schon die Leugnung und bloße Nichtverehrung ihrer Götter wurde als Aufruhr, als Untergrabung des allgemeinen Wohls wie der Autorität des Staates beurteilt, was sie mit dem Entzug ihrer Anwesenheit zu bestrafen drohten. Daher mussten viele Philosophen, wie zum Beispiel Sokrates, und später auch Juden und Christen als staatsgefährdende Atheisten erscheinen. Aus den faktischen Irrtümern und Perversionen politischer Theologie folgt aber nicht, dass es in ihr überhaupt nicht um Wahrheit gehe und sie grundsätzlich keine Wahrheit habe. Augustins bedingungslose Verwerfung politischer Theologie war so nachhaltig, dass man im Mittelalter von da an die Termini ,politische‘ oder ,zivile Theologie‘ vermieden hat. Der Sache nach wandelte sie sich nur, verwiesen sei bloß auf die spannungsvollen Auseinandersetzungen zwischen Papst und Kaiser, christlichem Sacerdotium und christlichem Imperium und auf die Machtkämpfe geistlicher und weltlicher Autoritäten. In der jüngsten Kontroverse um die angeblich endgültige Erledigung politischer Theologie wurde nicht immer deutlich wahrgenommen, dass Augustinus mit seiner philosophisch-offenbarungstheologischen Reflexion über politische Theologie selbst ein Stück politischer Theologie entworfen hat. Diese war, wenn auch vielfach missverstanden, von außerordentlicher geschichtlicher Wirksamkeit für die christliche Staatstheorie – man denke nur an den politischen Augustinismus, der die beiden civitates als geistliche und weltliche Herrschaft interpretierte, wodurch man auch einen politischen Herrschaftsanspruch des Klerus legitimieren konnte. Augustins eigene politische Theologie aufgrund offenbarungstheologischer Reflexion gehört jedoch einem anderen Typus an als die innerhalb der theologia tripartita intendierte, die er verworfen hat.
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1.3.2 Politische Theologie der Philosophen und Offenbarungstheologen
Politische Theologie kann sowohl eine Philosophie (a) als auch eine Offenbarungstheologie (b) kennzeichnen, welche sich auf die Sinnhaftigkeit (Wahrheit), ja überhaupt auf die sittlich-religiös relevanten Zustände der Gesellschaft bzw. der Staatsgebilde, aber auch des Religionswesens bezieht, diese zu deuten und auch positiv zu verändern sucht. Beispielsweise konnte dem antiken staatsoffiziellen Kult mit Gutheißung, kritischer Normierung, läuternden Reformvorschlägen und sogar mit seiner partiellen oder totalen Verwerfung (aus der Perspektive der politischen Theologie Augustins beispielsweise als Volksbetrug) begegnet werden. Aber auch der Missbrauch der Religion zur Abstützung von Herrschafts- und Ordnungsinteressen, um verelendete Massen zu beschwichtigen, steht unter Rechtfertigungsdruck. Philosophie oder Offenbarungstheologie kann daher auch den politischen Interessen verschiedenster Gruppierungen (Religionsgemeinschaften, Nationalitäten, ökonomische Mächte u.a.) gefügig sein, oder in Unkenntnis ihrer eigenen Bedingungen, die Wahrheit niederhaltende oder verzerrende Züge einer Rechtfertigungsideologie annehmen. (a) Verwiesen sei hier nur auf bisher Angesprochenes: Dem Projekt politischer Theologie der Philosophen sind wir schon bei Xenophanes begegnet, dessen kritisches Reformprogramm der Befreiung der Mythologie von allen anthropomorphen und moralischen Anstößigkeiten und Ungereimtheiten auch eine entsprechende Veränderung des öffentlichen Kultwesens zum Ziel hatte. Ein Stück politischer Theologie entwarf Platon, insofern er die ihm eigene philosophisch fundierte Mythologiekritik als Maßstab politischer Verantwortung den staatlichen Organen als Gesetzesvorlage zur Reform und Überwachung der Religionspädagogik empfohlen hat. Vorausgesetzt ist freilich die volle Zuständigkeit der staatlichen Führung, die den Adressaten der zu akzeptierenden Vorschläge bildet, für die Durchsetzung der wahren, staatstragenden Religion. Philosophische Theologie (Ideologie) soll vermittels eines Wächterstaates praktisch werden. Anders die stoische Philosophie, deren Vertreter sich selbst mit einem kosmopolitisch geweiteten Verständnis theologisch einbrachten: Durchdrungen von einer toleranten Akzeptanz gegenüber Volksreligion(en) und staatlichen Kultformen geht es ihnen um eine durch physische Theologie begründete Wiederherstellung des ursprünglichen Daseinsverständnisses. Es ist die allen Menschen gemeinsame Verwandtschaft mit Gott und den Göttern, welche die weltpolitische Daseinsweise trägt. Man könnte von kosmopolitischer statt bloß politischer Theologie reden. Aus ihr folgen der Anspruch
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der Reinigung des faktischen Religionswesens vom ,Aberglauben‘ mit mythenkritischem Schwerpunkt, aber auch Vorschläge zu kultischen Reformen. Aus dem panentheistischen Religionsverständnis (Alles-in-Gott-sein), zumal aus dessen kontemplativer physischer Theologie heraus, pflegten die Stoiker in ethischer Hinsicht eine Frömmigkeit des Denkens und ein Êthos (als zugewiesener Weltaufenthalt), die durchaus staatstragend waren, ja die in Marc Aurel Eingang ins Kaiserhaus erlangten, aber in staatskritischen Auseinandersetzungen auch einige Stoiker als ihre verbannten oder hingerichteten ,Märtyrer‘ kannten.358 (b) Überblicken wir die komplexe Rezeptionsgeschichte antiker Theologie im christlichen Denken, die sich zwischen polemischer Auseinandersetzung und fruchtbarem Gespräch bewegt hat, so fällt auf, dass im Großen und Ganzen nur die physische bzw. natürliche Theologie (platonische und aristotelische, neuplatonische und stoische) assimiliert werden konnte, kaum aber die mythische und keineswegs die ,pagane‘ politische Theologie. Das augustinische Paradigma der Auseinandersetzung mit der theologia tripartita zeigt sehr gut, wie man die Rezeption natürlicher Theologie bevorzugte und diese von mythischer sowie politischer Theologie zu säubern suchte. Man konnte diese beiden Theologien angesichts der sich exklusivistisch behauptenden vera religio für erledigt halten. Die im Hochmittelalter bis zur Neuzeit sich durchsetzende volle Anerkennung einer eigenständigen natürlichen Theologie als Raum des Vorverständnisses jüdischchristlicher Offenbarung hielt sich meist an die Vorgabe dieser Gebietsabtrennung. Das bedeutet aber nicht, dass die echte Fragwürdigkeit politischer Theologie auf Dauer verschwunden wäre, zumal gerade Augustinus die überkommene pagane politische Theologie durch eine umfassende neue ersetzt hat. Es könnte sein, dass schwerwiegende einseitige Bahnungen des in der lateinischen Christenheit wirkungsgeschichtlich reichen Denkens Augustins nach langer Inkubationszeit unter veränderten weltgeschichtlichen Bedingungen eine kritische Antwort bzw. Gegenbewegung und damit einen völlig neuen Typus (Paradigma) politischer Theologie mit provoziert haben. Verwiesen sei nur auf drei defizitär erscheinende Tendenzen: 1. Die beim frühen, neuplatonisch-christlichen Augustinus ihr Haupt erhebende Individualisierung der Frömmigkeit: Der Ich-selbst-Sagende sucht sich selbst und sucht, was für ihn ein Gutes sei (quaerenti memetipsum ac bonum meum).359 Er zieht sich in
358 Vgl. dazu M. Pohlenz, Die Stoa, Bd. 1, 282–290. 359 Augustinus, Soliloquia, lib. 1, 1.
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reine Einsamkeit zurück360 zu einem philosophischen Selbstgespräch (soliloquia), das nichts anderes als »Gott und die Seele« zu wissen verlangt,361 und zwar zunächst abgesehen vom möglichen Nutzen für den sterblichen Leib oder für jemanden, den er liebt.362 Das Wissenwollen geht aber dann doch über die eigene Seele hinaus und umfasst die Seelen der Anderen (geliebter Freunde), diese jedoch nur als seinesgleichen (er) und sonst nichts (Nihil omnino; nihil aliud) vorgestellt.363 Die Gegenwart von Mitmenschen kann zur Weisheitssuche hilfreich sein oder nicht. Das Leben und die Gegenwart selbst der Liebsten werden nicht um ihrer selbst willen gesucht, sondern nur insofern sie für die eigene Erkenntnissuche hilfreich sind. Die Liebe zur Weisheit stiftet dadurch eine Kommunikationsgemeinschaft unter Vereinzelten durch die Gemeinsamkeit und Konkordanz der Seelen in Gott, und so eine ,freundschaftliche‘ Verbundenheit, die auf gegenseitiger Hilfestellung aufbaut und daher eher als Kameradschaft denn als Freundschaft anzusehen ist.364 Auch wird das Selberanwesen Anderer, ihr Mitsein, nicht als wesenhaft zum Selbstsein gehörig verstanden, da ihm die sinnliche Basis entzogen wird, der leibhaftige Weltaufenthalt 365 in einer bestimmten Situation: »Man muss ganz und gar die Sinnenwelt fliehen.« Das ursprüngliche Miteinander-sein-Können und Imstandesein beieinander anzuwesen, die Möglichkeit des leibhaftigen Miteinanderseins in der Teilnahme aneinander entschwinden so dem Blick. Folgerichtig finden wir noch nichts von jener Sorge um willen der Nächsten, der Bedrängten und uns Bedrängenden, die den Bischof Augustinus als Seelsorger bis in das Alleinsein hinein bewegt hat. Da war der Nächste nicht mehr nur meinesgleichen, insofern er gleich wie ich auf Gott ausgerichtet ist, sondern möglicher oder wirklicher Begegnungsort (templum) des Anwesens und Einwohnens der Wahrheit, die Christus und Gott selbst ist.366 2. Augustinus macht die beiden einander ausschließenden Bürgerschaften in ihrem Gesamtverhalten aus der Analogie zum Sichverhalten menschlicher Individuen verständlich. Sie entspringen entweder der Gottes- oder der Selbstliebe (amor Dei/ amor sui) bzw. den Tugenden und Lastern Einzelner. Mit dieser (präzisiv und nicht 360 Ebd.: nam solitudinem meam desiderant. 361 A.a.O., 1, 7. 362 A.a.O., 1, 6: ceterum de salute huius mortalis corporis mei, quamdiu nescio quid mihi ex eo utile sit vel eis quos diligo […]. 363 A.a.O., 1, 7 f. 364 A.a.O., 1, 20 und 22. 365 A.a.O., 1, 24: penitus esse ista sensibilia fugienda […]. 366 Auf Augustins Abkehr von einer dem modernen Subjektivismus nahekommenden Idee des kommunikativen Miteinanderseins, das Gemeinsamkeit im nebeneinander Ausgerichtetsein auf Dritte hin entfaltet, und zu seiner Hinkehr zu einer paulinischen Gemeinschaftstheologie liebenden Zueinanderseins, muss noch näher eingegangen werden (vgl. auch 1.3.2 und 2.1.2).
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exklusiv) durchaus sinnvollen Fokussierung auf die Einzelnen wird das von der freiwilligen Tat zu unterscheidende und durch sie allenfalls generierte strukturelle Übel (gemeinsame Leidenszustände, Unrechtsverhältnisse, Verblendungszusammenhänge, unfrei machende Mächte und repressive Herrschaft, Sachzwänge aus politischen Fehlentscheidungen u. Ä.) in Gesellschaft, Staat sowie in den Kirchen Gottes samt den entsprechenden praktischen Möglichkeiten einer Wendung zum Guten und der Minimierung von Übeln verkürzt gesehen, denn das Gesamtresultat ist immer mehr als die Summe des Sichverhaltens Einzelner. Sozialethik ist nicht zugunsten der Individualethik auszublenden oder aus ihr herzuleiten. Liebe füreinander mit karitativen Konsequenzen ist nicht Liebe miteinander, in der es in sozialen und politischen Dimensionen um Gerechtigkeit geht. Zum Beispiel kann es erst auf dem Grund ursprünglichen Miteinanderseins (im gemeinsamen Weltverhältnis) ein Gegeneinandersein, Rivalität, blinde Eifersucht und Zusammenrottungen zu Gewalttaten oder Friedensschlüsse und sinnvolle Kooperation geben. So kann konkurrierendes Verfangensein vieler Einzelner im Habenwollen als lasterhaftes Sichverhalten in sozialen, ökonomischen, ökologischen, politischen, staatsideologischen, religiösen u.a. Strukturen überindividueller Art seinen Niederschlag finden, wenn es gelingt, auf Kosten anderer immer mehr zu haben (Verfügung über Rohstoffe, Hilfsstoffe, Arbeitsmittel, -kräfte und -produkte, Kapital), Herrschaft über Lohnabhängige zu erringen, diese rechtlich und ideologisch zu sichern und auf diese Weise Reichtum in den Händen weniger erfolgreich zu akkumulieren. Und zwar bei zunehmender Verelendung der meisten, wobei alle miteinander am selbstkreierten Waren- und Goldfetischismus teilnehmen und sich gegenseitig in ihrem individuellen Wunsch nach Haben oder Mehr-Haben anstacheln (sei es illusionär oder tatsächlich), sich bestärkt und belohnt, enttäuscht und betrogen fühlen. 3. Eine selektive Augustinusrezeption kann zur Ansicht gelangen, dass Augustinus »die Last für die Verursachung und die Verantwortung der Übel und der Leiden in der Welt ausschließlich auf die Menschheit und deren im widergöttlichen Nein verwurzelte Schuldgeschichte« schiebt.367 Jedes Übel (malum) ist aus heilsgeschichtlicher (eschatologischer) Sicht entweder Sünde oder etwas Mangelhaftes wie die Todesverfallenheit und hat seine volle Bestimmung in der Strafe (poena peccati) für die Sünde.368 Das eigentliche Übel ist daher die freiwillig verübte (voluntarium) Sündentat gegen Gott.369 Demgegenüber galt Jesu erster Blick »nicht der Sünde der An367 Vgl. dazu J. B. Metz, Theologie als Theodizee?, hier 108. 368 Augustinus, Opera – Werke, zweisprachige Ausgabe, B. Frühe philosophische Schriften, Bd. 9: De libero arbitrio, XII, 23 – Der freie Wille, 122 f. 369 Vgl. a.a.O., XIV, 27, 128 f. Zu den Aporien von Augustins Freiheitslehre und deren Folgen vgl.
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deren, sondern dem Leid der Anderen«.370 »Das Christentum verwandelte sich aus einer Leidensmoral in eine Sündenmoral, aus einem leidempfindlichen Christentum wurde ein sündenempfindliches. Nicht dem Leid der Kreatur galt die primäre Aufmerksamkeit, sondern ihrer Schuld.«371 So gleicht nach Augustinus das Römische Imperium zwar einer einzigen Räuberbande, dennoch kommen die »gekreuzigten Völker« (Jon Sobrino, Ignacio Ellacuría) nicht mit in den Blick. Hinzu kommt die für das himmelschreiende Leid Unschuldiger empfindliche Rückfrage an Gottes Güte, Allmacht und Gerechtigkeit. Sie stellt die größte Herausforderung innerhalb der ,Theodizee‘ dar, wird aber durch eine »leidunempfindliche und sündenüberempfindliche Verkündigung und Theologie« verdrängt.372 Vor dem Hintergrund solcher Problemaufbrüche ist die neue »Politische Theologie« von Johann Baptist Metz zu verstehen, dessen prophetische Stimme für diese Bewegung repräsentativ ist.373 Sie setzt sich von jeder bisherigen politischen Theologie ab und hat mit den Theologisierungen und Sakralisierungen bestehender Staats- und Gesellschaftsformen oder mit weltanschaulichen und politischen Machtansprüchen nichts zu tun, sondern will pointiert fundamentale Theologie christlicher Offenbarung sein. In einer entdivinisierten, entmythisierten, nicht-göttlichen und weltlichen Welt374 nimmt sie ihre Weltverantwortung (etwa zum Stiften von Frieden) die bedenkenswerte Kritik von J. B. Metz, Memoria passionis, 11–17: »Bei Augustinus nun ist die ,Rettung‘ exklusiv als ,Erlösung‘, als Erlösung von Sünde und Schuld gedacht. Nicht im Blickpunkt steht jenes Leid und jene Leidensgeschichten, die alltagsempirisch gerade nicht auf die Schuld bzw. Schuldgeschichte zurückgeführt werden können und die doch den größten Teil der himmelschreienden Leidenserfahrung in der Welt ausmachen.« (15) Diese Kritik kann wohl nicht beanspruchen, Augustins Lehre vom Übel sowie seine Theodizee ausgeschöpft zu haben, denn diesem Sohn eines Alkoholikers kann man sicher nicht undifferenziert Leidensunempfindlichkeit nachsagen. Auch vor und außerhalb seiner christlich-eschatologischen Perspektivierung der Leidensfrage waren für ihn die Leiden dieser Weltzeit von immer neu überkommender Fragwürdigkeit und hielten ihn viele Jahrzehnte lang in Atem. 370 J. B. Metz, Zwischen Erinnern und Vergessen, 28. 371 J. B. Metz, Gotteskrise. Versuch zur »geistigen Situation der Zeit«, 85. 372 A.a.O., 86. 373 J. B. Metz, Memoria passionis, 252–255, 269. 374 Metz denkt schon im Ansatz seiner Theologie der Welt (90 f.) das menschliche Subjekt neuzeitlich im Gegensatz zur Welt als Natur, welche der Mensch ,hominisiert‘ habe. Damals (1968) war der Blick für die ökologische Ungeheuerlichkeit der Unterwerfung (Subjektivierung) der Welt, die als Material im Prozess der Selbstherstellung und -durchsetzung (Autopoiesis) des Menschen (auch gegen den Menschen) ergriffen wird, noch nicht geschärft. Das ontologische Sichverhalten des Menschen zur Welt als geschichtliches Offenständigsein zum offenen Sein der Welt – ein Sichverhalten aus dem Sein zum Sein in seinen universalen zeitlichen Dimensionen! –, das die Möglichkeit von Freiheit (konkretem vernünftigen Seinkönnen) erst verständlich machen könnte und auch christologisch von höchster Bedeutung wäre, fällt aus. Was den Blick verengt, ist das unhinterfragt übernommene naturalisierte und ontische Physisverständnis sowie der Anschluss an das in der ,kritischen Theorie‘ (besonders durch Th. W. Adorno herbeigeführte) groteske Verkennen von Heideggers Freilegung eines verschütteten
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praxisorientiert gesellschaftlich und politisch wahr, vermeidet den individualistischbürgerlichen Trend zum Privaten (»Gott und meine Seele«) und sucht die christliche Botschaft einer von Gott verheißenen absoluten Zukunft nicht nur für sich selbst, sondern für die Welt, und zwar unter den Bedingungen strukturell gewandelter ,Öffentlichkeit‘ des Wirkens der Kirche, zu formulieren. Entgegen dem durch die Aufklärung bewirkten Auseinandertreten von Religion als bloßer ,Privatsache‘ einerseits und säkularer gesellschaftlicher Öffentlichkeit andererseits ist die Theologie fundamental der extremen Privatisierungstendenz zu entreißen, von der die Gottesrede nachscholastischer Theologie durch ihre existenziale, personalistische und transzendentale Verengung der Subjektivität bestimmt war. Christliche Spiritualität als Mystik gilt es aus ihren biblischen Wurzeln (Ijob-Tradition, ,negative Theologie‘, große und kleine Propheten, Weisheit der Apokalypse und radikale Nachfolge) in ihrer Einheit mit der politisch-gesellschaftlichen Dimension zu erneuern. Kirche ist als Institution gesellschaftskritischer Freiheit des Glaubens zu verstehen. Ihrer Theologie kommt im Blick auf die christliche Glaubenspraxis wesenhaft eine gesellschaftskritische Aufgabe zu – etwa im Aufzeigen struktureller Übel. Aber vor allem werden die (im Grunde auf christlich-theologische Motive zurückgehenden) Errungenschaften der Aufklärung zeitgemäß weitergedacht und praktisch motivierend zur Sprache gebracht: Genannt sei erstens Brüderlichkeit (fraternité) – bei Metz mutiert in hass- und gewaltfreie Solidarität. Diese wird theologisch als die mystisch-universelle Solidarität verstanden, welche auch die Toten einbezieht.375 Zweitens das Subjektseinkönnen aller, das Gleichheit (egalité) impliziert, aber nicht im Sinne spätbürgerlicher Gleichwertigkeit der Partner, die unter dem Gesichtspunkt vernünftig kalkulierter Tauschprozesse sich darauf geeinigt haben, gegenseitige Belange (soweit sie Profit und Erfolg versprechen) zu unterstützen. Es geht also nicht um die Etablierung des Besitzbürgers, umsondern das solidarische Subjektsein und -werden aller Menschen.376 Und drittens die Befreiung zur Freiheit (liberté): Das Subjekt ist kein um das Gesellschaftlich-Geschichtliche amputiertes transzendentales Rumpfsubjekt, sondern ein auch für die Leidensgeschichte der Welt offenes Vollsubjekt, das primär prakSeinsverständnisses. Zur Verwandtschaft der Anliegen vgl. demgegenüber H. Mörchen, Macht und Herrschaft im Denken von Heidegger und Adorno, ders., Adorno und Heidegger. Untersuchung einer philosophischen Kommunikationsverweigerung. 375 Vgl. J. B. Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft, 177, 131, 220 –227. 376 A.a.O., besonders »Pyrrhussieg über die Aufklärung – oder: Das heimlich inthronisierte bürgerliche Subjekt in der Theologie«, 41– 44; »Politische Theologie des Subjekts als theologische Kritik der bürgerlichen Religion«, 45–59; »Der Kampf um das Subjekt – oder: Praktische Fundamentaltheologie als politische Theologie des Subjekts«, 73 – 90.
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tisch am Subjektwerden aller Menschen interessiert ist, besonders (parteilich) an der Selbstbefreiung der Leidenden, der sozial Unterdrückten, Unterprivilegierten, Entrechteten; aber diese Befreiung und Freiheit nicht nur als Mündigkeit im Vernunftgebrauch besitzbürgerlicher Eliten verstanden, sondern auch als das (wieder) Praktischwerden der Vernunft im Medium der Leidenserinnerung, die schmerzliche, gefährliche, subversive Einsichten hervorruft, aber auch Freiheitserinnerung ist, welche die vergangene Hoffnung (Verheißung) in die Erinnerung zurückruft.377 Diese Praxis ist als gesellschaftliche Praxis nicht nur sittliche Praxis bereits etablierter mündiger Subjekte, sondern hat auch die Unmündigkeit, Unterdrückung und Ohnmacht der Menschen vor Augen, die nicht selbstverschuldet, sondern gesellschaftlich bedingt ist. Sittliche Praxis ist dem entsprechend in Bezug auf gesellschaftliche Strukturen und Verhältnisse nicht ,unschuldig‘, nicht politisch neutral, sondern für Institutionen und alle Theologie folgenreich. Der Gottesgedanke christlicher Theologie, der konstitutiv für das Subjekt und die Identitätsbildung ist, ist unter den genannten Bedingungen zu denken, weil er selbst in der Nachfolge Christi ein praktischer Gedanke ist. Metanoia, Exodus, Nachfolge und Mystik (Gebet) besitzen daher immer eine gesellschaftlich-politische Struktur, was »politische Theologie« eben zu zeigen sucht. Im Rahmen der Ausfaltung politischer Theologie geht es Metz besonders darum, wie unter dem bleibenden »Kontingenzschock« industriellen Mordens (»nach Auschwitz«378) die fundamentaltheologische Frage nach der Wahrheitsfähigkeit der Gottesrede von jener absoluten Zukunft, die bereits angekommen ist, ernsthaft durchgehalten werden könnte. Die Wahrheitsfähigkeit der Gottesrede ist ja angesichts des himmelschreienden Leids Unschuldiger, durch die Erfahrung des Scheiterns bloß argumentativer und spekulativer Theodizee379 und des »Vermissens Gottes« (der »Gotteskrise als Signatur der Zeit«) radikal in Frage gestellt.380 Politische Theologie ist daher offen für die leidenschaftliche Rückfrage an Gott, die Sprache der Mystik, der »mystischen Unruhe« des »Leidens an Gott«. Diese ist nicht mit einem »Leiden in Gott« (Theo- oder Patripassionismus), einer in Gott hineinprojizierten und verewigten Negativität, zu verwechseln, sondern meint »Armut im Geiste« als »Wurzel allen [biblischen] Trostes«.381 377 Mit der Befreiung zur Freiheit sind Themen, die a.a.O. im zweiten Teil des Buches (93–174) ausführlich behandelt werden, angesprochen. 378 Dazu vgl. J. B. Metz, Theologie als Theodizee?, 111–118; ders., Memoria passionis, 35– 49, 259 f. 379 Vgl. J. B. Metz, Memoria passionis, 11–23. 380 »Zur Zeit der Gotteskrise« vgl. J. B. Metz, Memoria passionis, § 3, 69 –78, 261 f. 381 J. B. Metz, Theologie als Theodizee?, 116; ders, Memoria passionis: zur »Armut im Geiste« und »Leidensmystik«, 66–68, und »Mystik des Leidens an Gott«, 24 –27. Dazu vgl. auch J. Reikerstor-
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Vernunft, die in ihrem die Erkenntnis leitenden Interesse an Freiheit (Emanzipation, Mündigkeit) praktisch und kommunikativ wird, kann dies nur im narrativen Medium der Leidens- und Freiheitsgeschichte sein.382 Theoretisch-argumentativ abgehobene Vernunft macht nicht betroffen, wohl aber erzählte Geschichte, und zwar die Tradierung vergangenen Leidens, auch des Leids der Toten (der tödlich Verstummten und Vergessenen, denen keine innerweltliche Besserung der Freiheitsverhältnisse Gerechtigkeit widerfahren lassen kann), sowie erzählte Geschichte der Freiheit, der erlösenden Freiheit durch Gott im Kreuz Jesu und seines Mitseins mit den Toten. So ist von ihm her das, was Heilung und Rettung verspricht, das gewesene Leid der Gerechten. Aus den Unrechtszuständen sind die Toten dem Vergessen zu entreißen und sollen durch Erinnerung (das »Eingedenken fremden Leids«) und durch Sensibilität für die unschuldig und ungerecht Leidenden zum Kriterium des Dialogs der Religionen und Kulturen zugelassen werden. Unter Bewusstmachung »befristeter Zeit«, die wir zur Änderung der Unrechtszustände haben, könnte es zum Erwachen aus apathischer Mentalität kommen (»Wie lange noch?«). »Nur wenn ein Christentum sich selbst in das Entstehen einer Weltgesellschaft einschaltet, kann es in ihr und für sie sein Verständnis einer hass- und gewaltfreien Solidarität zur Geltung bringen. Doch Feindesliebe, Widerstand gegen Hass und Gewalt dispensieren das Christentum nicht vom Kampf um das Subjektsein aller. Sonst verfehlt es seinen Auftrag: Schon in dieser Welt Heimat einer Hoffnung zu sein – jener Hoffnung auf den Gott der Lebenden und der Toten, der alle Menschen ins Subjektsein vor seinem Angesicht ruft.«383 Als eine Gestalt politischer Theologie christlicher Offenbarung kann man auch die von Metz mit angeregte Befreiungstheologie ansehen, die heute weltweit besonders in den Entwicklungsländern als »Theologie der dritten Welt« lebendig ist.384 Sie entstand durch katholische und evangelische Autoren in den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Lateinamerika. Lebenserfahrungen der Armen und der Menschen, die sich für sie engagieren und dadurch ihr Leben und ihre eigenen Erfahrungen mit ihnen teilen, sind nach wie vor ihre Grundlage. Befreiungstheologie ist jene biblisch fundierte Rede von Gott, die ihre bleibende Grunderfahrung in der ,Option für die Armen‘ hat. Mit diesem Sitz der Theorie in der innovativfer, Die »intelligible« Gottesspur. Trinitätstheologische Analogik und monotheistisches Gottesgedächtnis, hier auch 112, Anm. 16, Entgegensetzung von menschlicher Gottespassion und (innertrinitarisch) pathischem Gott. 382 Dazu vgl. besonders J. B. Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft, 187–191. 383 A.a.O., 227. 384 Zur einführenden Orientierung vgl. den Art. »Theologie der Befreiung; Theologie der Revolution« von G. Hasenhüttl, in: HWP, Bd. 10, 1095–1098, ferner R. Brosse (Hg.), Gesichter einer fremden Theologie. Sprechen von Gott jenseits von Europa (Theologie der dritten Welt, Bd. 34).
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befreienden Lebenspraxis ist sie auch für eine auf dem Naturrecht gründende amtskirchliche und universitär beheimatete Sozialphilosophie eine Herausforderung, die im Gespräch fruchtbar werden kann. Soll Theologie professionell sein und Befreiung konkret verstanden werden, wird sie in ihrer Analyse und Beurteilung bestehender Unrechtsverhältnisse im Licht des Evangeliums dann auch auf die kritische Inanspruchnahme einschlägiger politisch-ökonomischer, psychotherapeutischer und ökologischer Theorien nicht verzichten können. Ist die historisch-gesellschaftliche Verfasstheit jeweiliger Praxis für die theologische Besinnung wesentlich, so ist zu beachten, dass die Erinnerungslage Lateinamerikas eine andere ist als die Deutschlands und Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg: Es sind die grausamen Eroberungszüge, verbunden mit Genozid, Versklavung, Ausbeutung, und die auf Gold-, Silber- und andere Schätze ausgerichteten Raubzüge, welche heute in einer ökonomisch sich rasant verändernden Welt durch das Elend der großen Mehrheit der Bevölkerung sich fortsetzen, wobei sich nunmehr global die Kluft zwischen Armen und Reichen erschreckend vertieft. Global heißt hier, dass in unserer Welt alles in alles reaktiv hineinwirkt, keine Gegend vom Weltgeschehen unbetroffen bleibt. Mit der Zunahme eines über alles gestellten Sicherheitsideals der Wohlhabenden (mit Wettrüsten, Krieg gegen den Terror usw.) steigert sich weltweit die Unsicherheit der Armen durch Hunger, Mangel an medizinischer Versorgung, Ungerechtigkeiten, korrupte Regierungen, Ausbeutung der Rohstoffe (die der armen Bevölkerung nichts bringt). Besonders bedrohlich ist die zunehmende ,soziale Deprivation‘, d.h. ein Denken und Fühlen, das von negativer Erfahrung bestimmt ist; aus der Gesellschaft, insbesondere aus der Arbeitswelt ausgeschlossen zu sein, nicht mehr zu zählen und dazuzugehören, ja grundsätzlich zu kurz zu kommen. Sensibilisiert für die globale Ausweitung der Armut, der repressiven Gewalt in Familie und Gesellschaft, der zunehmenden Sicherheitsbedürfnisse samt ihren ökonomisch-strukturellen Bedingungen, hat sich die Befreiungstheologie weiter differenziert und auch für andere Elendszustände aufgeschlossen, etwa für die Diskriminierung und Entfremdung durch Sexismus, durch Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer Religion und weiter durch Krankheit, Behinderung, Alter, Hautfarbe, Migration usw. Nunmehr tritt auch die ökologische Verelendung infolge zunehmender Verwüstung unserer Erde, Klimakatastrophen, Verschmutzung der Gewässer, Luft u.s.w. in den Blick sowie ein Umdenken im Hinblick auf ressourcenschonende Technologien. Mit der Globalisierung entwickelten sich ähnliche theologische Initiativen wie in Lateinamerika in den USA (gegen Unterdrückung durch Rassismus), in Afrika (»Schwarze Theologie«), auf den Philippinen, in Sri Lanka, Indonesien und Indien. Befreiungstheologie ist heute ein vielfältiges und vielschich-
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tiges Gebilde. Christliche Theologie der Befreiung ist auch der Philosophie (Ethik) der Befreiung (z.B. Enrique Dussel) eng verbunden, die faktisch deren philosophische Implikate bedenkt. Befreiungstheologie ist nicht eine neue offenbarungstheologische Fachdisziplin neben den bestehenden, sondern vielmehr eine Gesamtperspektivierung der überkommenen christlichen Theologie, die fächerübergreifend auch ihre philosophischen Implikationen und insofern die philosophische Theologie mitbetrifft. Als für die gesellschaftliche und politische Dimension offene Theologie steht sie nicht im Gegensatz zur spirituellen Theologie, sondern ist durch und durch spirituelle Theologie, welche die Gabe göttlicher Selbstmitteilung in schweigender Anbetung empfängt und in der Begegnung mit den Armen erfährt. Versucht wird, das (seit dem Spätmittelalter in der lateinischen Christenheit besonders krasse) Auseinanderklaffen von theologischer Doktrin und Spiritualität, geistlicher Erfahrung (Mystik) und für die Gerechtigkeit engagierter Praxis, zu überwinden und die beiden Gegensätze in ihrem völligen Einssein zu verstehen. Auf diese Weise steht die ,Option für die Armen‘ im Zentrum der Spiritualität. Metz erblickt darin die Compassion, Empfindlichkeit für fremdes Leid, als »Schlüsselwort für das Weltprogramm der biblischen Religion im Zeitalter der Globalisierung und ihres konstitutionellen Pluralismus der Religions- und Kulturwelten«.385 Diese mitempfindende Option ist nicht primär sozial oder politisch motiviert, sondern theologisch. Sie weiß sich von Gottes Entgegenkommen (Gnade) getragen. Der jüdisch-christliche Gott hat sich immer schon als ein parteilicher Gott gezeigt, der sich auf die Seite der Armen und Unterdrückten (wie aller Opfer struktureller bzw. institutionalisierter Übel) stellt und zur Wahrhaftigkeit gegenüber der Wirklichkeit und zum Engagement zugunsten der Befreiung der Opfer aufruft. An der Weise, wie die Opfer gesehen werden, beteiligen sich zunehmend auch die Opfer selbst. Befreiung ist Freigabe zur Selbstbefreiung, zur Übernahme von eigener Verantwortung. Nach Aloysius Pieris (aus Sri Lanka) liegt die Einzigartigkeit des Christentums darin, dass sich Gottes unwiderruflicher Bund in Jesus Christus mit den Armen in der Abkehr vom Mammon manifestiert. Das mag einseitig klingen, ist aber, positiv (= präzisiv im Gegensatz zu exklusiv) verstanden als etwas wesentlich und unterscheidend Christliches, kaum zu bestreiten, denn es geht im Christentum um Befreiung (Erlösung) von allen Übeln. Der Kult des Mammons, des Anti-Gottes, meint nicht nur Geld und Gut, Profitmaximierung, Reichtum als Instrument der Versklavung des Menschen, sondern auch »das, was er verheißt und erbringt, wenn ich mich auf 385 J. B. Metz, Memoria passionis, 166, vgl. § 11, 158 ff.
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ihn einlasse: Sicherheit und Erfolg, Macht und Prestige, die alle geistige Aneignungen sind, die mich vor Gott und den Menschen bevorzugt erscheinen lassen«. 386 Dem entgegengesetzt hat der Befreiungsweg seine Mitte in einer christlichen Spiritualität freiwilliger Armut in der Nachfolge Jesu. Hier geht es um das Dasein und Teilen für diejenigen, die in erzwungener Armut darben, um die Solidarität mit den Menschen in aufgezwungener, versklavender Armut. Darum ist ihnen zu dienen, weil Christus in den Armen gegenwärtig und für sie da ist. Gottes Heilshandeln ermächtigt so, örtlich, regional unterschiedlich verankert, die Armen zum Kampf um ihre Befreiung, welche soviel wie Teilnahme am vollen Menschsein in und mit Christus bedeutet. Was nicht unvergessen bleiben soll, ist, dass das Engagement für Befreiungstheologie und -philosophie heftige Reaktionen und Anfeindungen hervorgerufen hat, im Rahmen derer sich Interessen von politischen wie kirchlichen Gruppierungen trafen, und dass dies zu Morden, Pogromen, Verschleppungen, lebensrettenden Emigrationen sowie zu anderen Repressionsmaßnahmen geführt hat. Undifferenzierte Kritiker und Gegner der Befreiungstheologie wissen vermutlich gar nicht, woran sie hier mitschuldig geworden sind, sofern sie als Dialogverweigerer zu Schreibtischtätern wurden.
1.3.3 Wechselseitige Herausforderung philosophischer und politischer Theologie? Aus klassischer, alter wie neuer politischer Theologie ergeben sich besonders durch die »Rückkehr der Theodizeefrage«387 subversive Rückfragen an philosophische Theologie, welche zur Klärung ihrer basalen Aufgaben beitragen, sie aber auch durch eine totale, atheistische Infragestellung zum Einsturz bringen können. Umgekehrt wird zu fragen sein, ob und wie eine sich als politische Theologie verstehende christliche Offenbarungstheologie ohne philosophische Theologie auskommen kann, will sie nicht fideistisch oder supranaturalistisch ihren Anspruch auf Lebens- und Praxisnähe verwirken. Vorausgesetzt ist, um nicht von vornherein an der Theodizeefrage, diesem »Fels des Atheismus«, zu scheitern, dass es so etwas wie die Möglichkeit einer verlässlichen Vergewisserung des Daseins Gottes gibt, über die wir vernünftig Rechenschaft geben können. Erinnert sei daran, dass Leibniz sein Werk über den Ursprung des Übels in Vermeidung einer fideistischen Lösung 386 A. Pieris, Theologie der Befreiung in Asien. Christentum im Kontext der Armut und der Religionen, 31; vgl. besonders 29 ff., 33–37, 59 ff., 214 ff. 387 Dazu vgl. a.a.O.: »Gottesgedächtnis in der Leidensgeschichte unserer Welt«, 4 –27, hier 4.
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verfasst und als »Theodizee« (Lehre von Gottes Gerechtigkeit) verstanden hat.388 Dieser neue Titel für ein uraltes Teilproblem philosophischer Theologie wurde in der Folge oft auch für die gesamte natürliche Theologie verwendet. Offenkundig war die Frage, wie denn überhaupt von Gott zu reden sei angesichts der abgründigen Leidens- und Schuldgeschichte der Welt, wenigstens eine Zeit lang als fundamentale Herausforderung philosophischer Theologie verstanden worden, war aber eher spekulativ als praktisch orientiert. Gewiss hat philosophische Theologie, wenn nicht schon früher, heute ihre politische, gesellschaftlich dimensionierte Unschuld verloren. Das zeigt die intensive Diskussion der politisch brisanten, aber viel zu plakativen Alternative von Polytheismus und Monotheismus. Ist der Monotheismus zwangsläufig Legitimationsquelle politischer Herrschaft, die ein fundamentalistisches Freund-Feind-Denken anheizt, oder ist er »antitotalitär und pluralismusfähig«,389 weil er eine Quelle freilegt, die zu ureigenstem Sein in unausschöpfbarer Pluralität freigibt, wodurch eigenes wie fremdes Leid (ja überhaupt Übel aller Art) erst angemessen wahrgenommen und wir zu befreiender Minimierung des Weltübels konkret, d.h. entsprechend unseren Möglichkeiten und Fähigkeiten, ermutigt werden? Mehrung oder Minderung des Leids steht hier auf dem Spiel. Auf diese Frage politischer Theologie sei kursorisch eingegangen. Zur Weckung der Fragestellung sei von einem Text ausgegangen, den Erik Peterson seinem Buch Monotheismus als politisches Problem vorangestellt und für politische Theologie gehalten hat. Das zwölfte Buch der Metaphysik krönt Aristoteles mit einem bekannten Zitat aus der Ilias: »Das Seiende aber hat nicht den Willen, schlecht verwaltet zu sein. ,Nimmer ist gut eine Vielherrenschaft; nur Einer sei Herrscher‘.«390 Das von Aristoteles nicht weiter kommentierte, den Hörer mitreißende Schlusswort legt heute eine Interpretation nahe, die aus ihm ideologisches Herrschaftsdenken (Monokratie) herausliest. Der Gedankengang wäre dann dieser: Die Theologie des Aristoteles schließt aus faktischen oder erwünschten irdischen Verhältnissen auf überirdische. Sie wäre sozio- bzw. politomorph konzipiert. Wenn sie sich dadurch naiv für legitimiert hält, setzt sie voraus, dass das Verfasstsein der Politeia für ein analoges Abbild göttlicher Herrschaft zu halten ist: ein Gott – ein irdischer Herrscher. Das soziomorphe 388 Wohl im Anklang an Röm 3,5: »Wenn aber unsere Ungerechtigkeit Gottes Gerechtigkeit erweist, was sollen wir dazu sagen?« 389 Dazu auch J. B. Metz, Memoria passionis, »Leidempfindlicher Monotheismus«, 160 –163. 390 Aristoteles, Met., XII 10, 1076 a 3–5 (Homer, Ilias II, 204). t! d nta o boletai „ok 2gaϑn polukoiranh: eß koranoß stw.“ politeesϑai kak ß.
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Modelldenken wird zirkulär durch das theomorphe Modelldenken legitimiert. Dadurch wäre der weltliche Herrscher zur Repräsentanz Gottes in der Welt erhoben und dessen Sakralisierung hätte die Unterordnung der Priesterschaft zur Folge usw. Doch um Aristoteles zu verstehen, müssen wir auf seine Erfahrung der Physis und ihres Ursprungs zurückkommen. Dann erst illustriert der Satz im dichterischen Bild nur, dass ein Pluralismus der Urgründe (noch dazu ontisch vorgestellter) nicht in Frage komme und zwar in Entsprechung (Analogie) zu plausiblen menschlichen Verhältnissen, nämlich, dass es nicht gut, weil widersprüchlich sei, wenn wir zugleich und in derselben Hinsicht zwei oder mehreren Herren dienen wollten, oder kulinarisch-vulgär ausgedrückt: Viele Köche verderben den Brei. Eine Umfunktionierung der philosophisch-theologischen Aussage des Aristoteles für politische Zwecke ist selbstverständlich möglich, doch m.E. impliziert der Text nicht die Absicht, Monokratie für göttlich legitimiert zu halten. Vielmehr ist sachlich gesehen indirekt ein Grundproblem der Philosophie angesprochen, die Frage nach der Vereinbarkeit von Einheit und Vielheit.391 In der gegenwärtigen Diskussion wäre, wie mir scheint, der Zusammenhang zwischen Politik und Theologie von der speziellen Frage nach einer Analogie zwischen der Konzeption des Göttlichen und der Herrschaftsform aus differenzierter zu bedenken. In Analogie zu einer bevorzugten Regierungsform wird eine entsprechende Gottesvorstellung ausgewählt, die dieser Regierungsform Nachdruck verleihen soll. Problematisch ist, dass man sich überhaupt von Gott ein Bild nach dem Modell von Verfasstheiten des innerweltlichen Seienden macht, gleich ob das Göttliche polytheistisch, henotheistisch, panentheistisch, oder im Sinne eines monokratischen, usurpatorischen, absolutistischen oder diesem entgegengesetzten antiideologischen und herrschaftskritischen Monotheismus gedacht wird. Mit eini ger ideologischer Raffinesse und Phantasie lassen sich verschiedenartigste Gottesvorstellungen (selbst eine lokale) für solidarisierende oder entsolidarisierende, für universalistische oder uniformierende politische Ansprüche vereinnahmen. Aber ist das, wovon wir reden, wirklich so durchsichtig, wenn wir zwischen Gott und Herrschaftsform Analogien bilden? Bahnen wir nicht durch Fragen nach Sein, Wesen und Tragweite von Derartigem wie Entsprechung (Analogie) ein zwar poli tisch auch nicht unschuldiges, jedoch nur indirektes Verständnis (Vorverständnis) für wichtige Fragen politischer Theologie an?392 Und muss nicht überhaupt der Kurzschluss eines Aufbaues der Gotteserkenntnis auf innerweltlichen, d.h. ontischen 391 Siehe dazu unten im 2. Kap. den vierten Exkurs (6). 392 Siehe im nachfolgenden Band die kritische Abweisung der Analogie des Seienden durch K. Barth und die Würdigung eines thomasischen Analogieverständnisses.
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Analogiebildungen vermieden werden, insofern er die Abgründigkeit unseres Weltund Seinsverständnisses überspringt und verdeckt? Auch kann und darf philosophische Theologie bei aller ,not-wendigen‘ Leidempfindlichkeit diese nicht monoman einklagen. Dadurch kann wehleidige Überempfindlichkeit gefördert, der Weg zur Leidüberwindung verlegt, Schuldempfindlichkeit und -aufarbeitung untergraben werden. Monomanes dem Leiden Nachhängen am Schreibtisch erweckt den Eindruck, dass sado-masochistische Befriedigungslust aus selbstquälerischem Leidenszwang gezogen wird. Differenzierungen sind hier unerlässlich, schon bloß begriffliche wie etwa folgende: Was ist überhaupt Leid und Leiden? Ist gemeint, was wir wie z.B. Schmerz (als ,subjektives‘ Leiden) erleben, wenn wir eine Not durchmachen und durchstehen? Oder ist ein Leiden die Not selbst (ein ,objektiver‘ Tatbestand), das, was wir durchmachen, sowie das, woran wir leiden? Not ist eine Weise, wie sich das Dasein in Ausweglosigkeit, Verzweiflung, Angst, Bedrängnis u.Ä. bezogen auf Um- und Mitwelt befindet, und daher nicht nur ein subjektiver Gefühlszustand, an dem wir leiden. Not ist aber auch die schlimme Lage dessen, der dringend Hilfe braucht, etwa bei Mangel an Lebenswichtigem (Armut). Meint Not nicht auch die durch etwas oder jemanden verursachte Mühe, mit der wir nochmals anders unsere Not haben? Die Begriffe Not und Leiden decken sich nicht; Not ist umfassender, umgreift letztlich den Verlust eines Zugangs zum Sinn (zum Sichhalten in der Verständlichkeit) des Daseins in der Welt. Noch weiter ist der Begriff des Übels – unerlässlich daher das hartnäckige Nachfragen nach dem Wesen des Übels, ohne das wir eigentlich nicht wissen können, was am Leiden und an der Not eigentlich das Üble ist. Auch der Begriff der Compassio (Sympathie) ist klärungsbedürftig. Als Mitempfinden bzw. Mitgefühl kann er die Teilnahme an Leiden, Schmerz, Not Anderer, aber auch an Freude, Zuversicht, Hoffnung u.a. umfassen. Drängt sich die Bedeutung ,Mitleid‘ für Compassio vor, gerät der Begriff ins Zwielicht. Die Weise offener und nüchterner Anteilnahme an den Leiden Anderer unter Wahrung der eigenen Identität wird meist nicht hinreichend von symbiotischem Verschmelzen mit Leidenden abgegrenzt. Übersensible, narzisstische Selbstbezogenheit macht die Leiden Anderer zu eigenen. Das unter Identifikation übernommene Leiden muss ob seiner Unerträglichkeit für den Helfer beseitigt werden (Helfersyndrom). Tue ich jedoch, ,als ob‘ ich der Andere wäre, werden Liebe und Fürsorge nicht ihm als solchem entgegengebracht. Solche Mitleidenschaft kann bekanntlich reaktiv so weit gehen, dass man sich durch die Unerträglichkeit des Leids Anderer selbst in Krankheit und Tod mithineintreiben lasst, oder umgekehrt, distanziert diese Mitleidenschaft; sie entmündigt und entwürdigt Hilfsbedürftige, so dass man, um das eigene Leiden am
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Anderen zu mildern, Leidende selbst als Leidverursacher schuldig spricht und ihnen diskret nahelegt, dieses ,Übel‘ aus der Welt schaffen zu lassen (Euthanasie). Leidenschaftliche Befürwortung des Mitleids darf auch nicht blind machen für den sozialen Sinn von Leidunempfindlichkeit (Apathie oder Ataraxie), die wir gerade im Dienst der Leidüberwindung Anderen, die wir lieben, schulden. Wenn uns auch alles Leid in der Welt irgendwie etwas angeht, emotional mitnimmt und zu denken geben soll, so dürfen wir uns doch nicht so von ihm betreffen lassen, dass wir uns noch tiefer in es verstricken und es die jeweils immer nur bescheidenen existenziellen Möglichkeiten, Gutes zu tun, lähmt. Subjektives Zulassen von Überforderungen, die großartig erscheinen, können in die Sackgasse existenzieller Unmöglichkeiten führen. Praktisch sind die Verantwortlichkeiten zu differenzieren und nicht aus dem Sinn für das rhetorisch Großartige zu idealisieren und zu universalisieren. Wir haben in Weisheit zu entscheiden, was uns um- und mitweltlich konkret etwas angeht und was uns nichts oder nur nebenher etwas angeht, welches Leid wir konkret mindern und welches wir nicht ändern können. Auch muss gefragt werden, was eine Compassio als unmittelbar das konkrete Seinkönnen erschließende Befindlichkeit unseres In-der-Welt-seins eigentlich ist. Erschließt sie das Selbst- und Miteinandersein, insofern es auf der Flucht vor dem eigentlichen Selbstseinkönnen mit Anderen ist – etwa besessen von der Sucht nach Selbstvergrößerung, die um den Preis der Entmündigung Leidensbeseitigung anbietet? Oder geht es darum, den uns gegebenen Möglichkeiten der Befreiung Anderer dankbar zu entsprechen, sodass diese zunehmend selbst zu ihrem ureigensten Sein auf dem Weg der Selbstbefreiung finden können? Über die Compassio als Empfindlichkeit für das Leid Anderer hinaus bedarf es auch der Empfindlichkeit für alle anderen Weisen des Weltübels, besonders für ihre mögliche Mehrung oder Minderung, nicht nur fixiert auf die Frage angemessener Gewichtung von Leid- und Schuldempfindlichkeit, sondern hellwach für das Unheimliche einer Not, von der man nichts weiß, weil niemand darunter auffällig leidet. So gibt es jenseits von Leid und Schuld zunehmend die öffentliche Verständnislosigkeit für die Not-wendigkeiten eines ursprünglichen ontologischen Fragens. Hier besteht die Not darin, gar keine Not zu erleiden, selbst wenn das, was uns am nächsten geht, der Sinn von Sein, der Aufgang in die Unverborgenheit (Physis, Aletheia), nicht nur fraglos dahindämmert, sondern der Frageversuch auch als Angstmache abgewehrt, lächerlich gemacht und politisch diffamiert wird. Ja sogar jemand, der solcherart Verhangenes selbst zu hinterfragen sucht, muss erfahren, dass er sich immer wieder von seiner Urintention wie von einem unwiderstehlichen Sog abgedrängt oder gar zum Madigmachen des Seinsvertrauens hingezogen fühlt. Führt aber nicht gerade das Ma-
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digmachen des Seinsvertrauens anstelle kritischer Differenzierung zu (unfreiwilliger) Komplizenschaft an der Mehrung von Leiden, Nöten und Übeln der Menschenwelt? Ein Kriterium wäre hier: Können wir noch in die grenzenlose Freude eines kleinen Kindes darüber, lebendig zu sein, ohne verübelndes Wenn und Aber einstimmen? Nach dem Gesagten muss der Frage nach dem rechten Gottesverständnis der Rückgang auf das uns gemeinsam zu eigen gegebene Sein des Seienden vorausgehen, dem der Mensch als politisches und von der Politik bestimmtes Wesen zu entsprechen hat. Den so gewichtigen sozial-ethischen und ökologischen Fragen (,Was sollen wir tun?‘) sind sachlich gesehen Fragen vorgeordnet wie: ,Wer und was können wir sein? Hat es ursprünglich einen (auch ethischen) Sinn, dass wir zu sein haben und uns zu sein gegeben ist? Ist es überhaupt besser, zu sein als nicht zu sein? Ist uns eine optimale Beteiligung am Gutsein unausweichlich aufgegeben? Können wir überhaupt sein, ohne uns angemessen am ontologischen Einssein und Vielessein zu beteiligen? Was heißt Einssein und Vielessein? Worin besteht jenseits von Totalitarismus und Pluralismus ihr Konnex?‘ Entscheidend, aber nachgeordnet sind auch die Fragen, was uns in diese Sorge und zu diesem Sorgetragen um ein solches angemessenes Sein des Gemeinwesens ruft, das der Anwesenheit des Heilen, Heiligen und Göttlichen optimal Raum verschafft – wenn es solches überhaupt gibt. Ist die lautlose Sprache der uns zu einem angemessenen politischen Verhalten ansprechenden existenziellen Seinsmöglichkeiten (im Eins- und Mannigfaltigsein) für uns vernehmbar? Worin gründet diese mitmenschliche Weise des Seinkönnens hinsichtlich sinnvoller Möglichkeiten des Eins- und Vielesseins, des Wahr- und des Gutseins? Gründet sie letztlich in einer verlässlich aufweisbaren Erfahrung der uns gemeinsam ansprechenden und dadurch verbindenden Anwesenheit des Göttlichen, die in ausgezeichneter Weise alle Menschen und Gemeinwesen betrifft? Wie sollte ein friedlicher und fruchtbarer Dialog der Religionen oder überhaupt ein humanes Zusammensein möglich sein, wenn dieses durch unausgegorene Vorstellungen über Einheit und Vielheit, Wahr- und Gutsein behindert wird? Nach Ausarbeitung dieser und ähnlicher Fragen könnte man erst auf eine politische Theologie jüdisch-christlicher Offenbarung zurückkommen. Aber gerade philosophische Theologie ist schon an die elementare Seinserfahrung gehalten, will nicht auch sie in einem versteckten Fideismus oder Supranaturalismus Halt suchen. Umgekehrt muss sich philosophische Theologie den unangenehmen Fragen politischer Theologie stellen. Mit ihnen wächst die Einsicht, dass ein im Grunde irriges Seinsverständnis üble Praxis rechtfertigen oder sein Mangel verheerende dehumanisierende Auswirkungen haben kann. Dem Seinsverständnis können wir aber niemals entgehen, denn irgendwie verstehen wir uns immer und in allem auf
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unser Sein. Dem Seinsverständnis kommt daher eine besonders subversive Gefährlichkeit zu, da die in ihm liegenden Weichenstellungen so unscheinbar, so schwer durchschaubar sind und es den Tendenzen zur totalen Vergegenständlichung so leicht erliegt. Der Ontologe muss lernen, dass die Frage nach dem Sein, nach dem, worin sich die Verständlichkeit des Seins hält, d.h. die ,Frage nach dem Sinn von Sein‘, niemals politisch und sittlich unschuldig ist, sondern ihn in höchste Verantwortlichkeit ruft, zumal ontologisches Denken weit über alles hinaus, was politische Öffentlichkeit ist, reicht. In gewisser Weise hat Platon das im Bild eines Kampfes, der zwischen erdgeborenen Giganten tobt, gefasst, deren Unwesen und Widerstreit selbst noch zu überwinden ist.393 Politische Theologie kann uns bestärken, das Verständnis für den ursprünglich praktischen und ethischen Sinn von Sein im Rückgang auf ein ursprünglicheres Seinsverständnis (unser jeweiliges Seinkönnen) wieder neu zu wecken, zu vertiefen und zu klären.394 Umgekehrt sprechen die Bahnungen ontologischen Denkens in alles, was politische Theologie ist und sagt, indirekt hinein. Es darf daher nicht verwundern, wenn in der vorliegenden philosophische Theologie die ausdrückliche Ausarbeitung der Theodizeeproblematik erst gegen Ende ihren Platz findet. Aber die Größe der Infragestellung unseres Daseins durch die Übel bedarf einer ausführlicheren Vorbereitung, als man gemeinhin annimmt, denn sie geht weit über ein »Leiden an Gott« hinaus – weit über einen ,pathischen Monotheismus‘, der das theistische Gegenstück zu einem ,bekümmerten Atheismus‘ darstellt.
393 Näheres zur Gigantomachie um jenes Seiende, das dem Sinn von Sein genügt, bei M. Heidegger, osaß ist dort eine ParteiGA, Bd. 19, Platon: Sophistes, 463– 486. Die gigantomaca per thß nahme für bestimmte Bereiche, die Anwesenheit repräsentieren: Es sind entweder körperlich widerständige, greifbare Dinge oder unkörperliche, unsichtbare, die nur im denkenden Vernehmen sich zeigen, ohne dass das Anwesen, das Sein beider Bereiche zusammen, angemessen gedacht wird. 394 Siehe unten, das zweite Kapitel, 7: Philosophische Theologie (Metaphysik) und Praktische Philosophie (Ethik).
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2. Philosophische Theologie und jüdisch-christliche Offenbarungstheologie Die Frage nach der systematischen Ortung philosophischer Theologie zwischen den verschiedenen Gattungen griechisch-römischer Theologie führt uns zunächst auf eine Geschichte der Begegnung mit der befreienden Weisheit des Juden- und Christentums, wo sie einerseits von ihr so angeeignet wurde, dass christliche Theologie (scientia theologica bzw. sacra doctrina) überhaupt möglich wurde. Andererseits wurde jedoch in der Neuzeit wieder an einer eigenständigen, substanziell gewandelten philosophischen Theologie im Raum christlichen Denkens festgehalten. Zu dieser philosophischen Eigenständigkeit ist ein Zweifaches zu bemerken: Erstens: Philosophische Theologie ist nicht zu verwechseln mit der durchaus problematischen Eigenständigkeit eines a-trinitarischen Traktates über den einen Gott (De Deo uno) innerhalb der systematischen Offenbarungstheologie, der geschieden von der Trinitätstheologie (De Deo trino) und ihr vorgeordnet erst im Mittelalter (angeblich erst durch die Summa Theologica des Thomas von Aquin) entstanden ist. Der Traktat »Über den einen Gott« bedenkt die Einzigkeit von Gottes Wesen bzw. der göttlichen Natur, die den drei göttlichen Personen gemeinsam ist. Er wird vom Traktat »Über den dreifaltigen Gott« gewissermaßen geschieden und ihm vorgeordnet gedacht, während man heute vielfach wieder deutlicher den ,Vater‘ als den ursprungslosen Ursprung (principium sine principio, inprincipiatum: 2rc 3narcoß) des ganzen Gottseins und der Schöpfung erblickt 1 und daher die allgemeine Gotteslehre wieder in die Trinitätstheologie einbezieht und aus ihr neu zu verstehen sucht. Was heißt beispielsweise Allmacht Gottes, wenn sie vom Vater ausgeht, vom Sohn empfangen und vom Geist weitergegeben werden kann?2 Was besagt abgründige Grundlosigkeit des Uranfangs, wenn der Sohn Sohn ist im Empfang des Urgrundseins und der Geist das anfängliche Urgrundsein zur Teilnahme weitergeben kann? Der offenbarungstheologische Traktat De Deo uno sollte jedenfalls nicht für ein Double jenes philosophischen Weges gehalten werden, der in philosophischer Theologie 1 Die befreiende Bedeutung dieser Grundlosigkeit und damit ihr spiritueller Gehalt wird, soweit ich sehe, überhaupt nicht beachtet. Gott unterliegt in seinem abgründigen Grundsein keiner Herrschaft, sodass er ihren Druck nach außen und unten ausüben müsste. Seine Herrschaft ist, wie einem Allmachtsphantasien weismachen wollen, keine totalitäre oder totalitären Ursprungs, wie sie sich in der Herrschaft von Menschen über Menschen fortsetzen und diese rechtfertigen könnte. 2 Vgl. dazu K. Rahner, Schriften zur Theologie, Bd. 4: Bemerkungen zu De Trinitate, 103–133, hier 110 f., sowie Bd. 8: Bemerkungen zur Gotteslehre in der katholischen Dogmatik, 165–186, hier 169 –174; M. Schulz, Sein und Trinität, 477–480: »Die methodisch [!] sinnvolle Unterscheidung von De Deo Uno und De Deo Trino bei Thomas v. Aquin und Pannenberg.«
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mündet, worunter vorläufig und präzisiv der Versuch verstanden werden soll, ausgehend von uns selber, von unserer Um- und Mitwelt, vom Seienden im Ganzen aus aufzuweisen, dass das Sein, indem es allen Seienden zukommt, selber schon Hinweis, Aufweis, zeigendes Zeichen, Erscheinungsgestalt und Realsymbol für einen letzten Grund darstellt, den bestimmte Religionen ,Gott‘ nennen. Zweitens: Nach dem Ort philosophischer Theologie innerhalb der Philosophie wird noch zu fragen sein. Sollte philosophische Theologie als Teilbereich der Philosophie der Religionen in Frage kommen,3 dann müsste ihr angesichts der Heraufkunft der heutigen Weltsituation mit Rücksicht auf die Pluralität der Religionen und des von ihnen mit zu verantwortenden Religionsverlustes (Atheismus) eine Eigenständigkeit zukommen. Ihre Stellung als eine Art von Hilfswissenschaft innerhalb einer spezifischen Offenbarungstheologie (christlicher Fundamentaltheologie und Dogmatik) wird dem nicht gerecht. Das spannungsreiche Verhältnis zwischen Philosophie und Theologie der Offenbarungsreligionen bzw. dem Denken anderer Religionen ist nicht durch einen angemaßten Alleinverbindlichkeitsanspruch nach einer Seite hin abzuspannen. Die Frage philosophischer Theologie nach dem gemeinsam zugrunde liegenden Sinn und göttlichen Ursprung von Religion in der Pluralität ihrer Erscheinungen muss unterschieden werden von einer christlichen Theologie der Religionen, welche auf eine solche Sinnerhebung zurückgreifen können müsste. Außerdem überkommt uns heute – weit vor allem Fragen, ob diese christliche Konfession oder jene, ob Christentum oder nicht, ob diese Religion oder jene, ja ob überhaupt Religion oder gar keine – die Not der Gleichgültigkeit gegenüber dem Erscheinen oder Nichterscheinen eines uns unbedingt Angehenden, wesenhaft Unergründlichen, Göttlichen oder Gottes, das den Aufgabenbereich philosophischer Theologie eröffnet. Dennoch kann und darf die faktische Entstehungs- und Begegnungsgeschichte heutiger philosophischer Theologie im Raum des Christentums nicht ignoriert werden, mindestens deshalb nicht, weil sie als Paradigma für die Begegnung mit dem Denken anderer, nicht-christlicher Religionen mit in Frage kommt. Auf dieses Paradigma eines interdisziplinären Gespräches zwischen philosophischer Theologie und Theologie jüdisch-christlicher Offenbarung soll hier kursorisch eingegangen werden, um weiter zu klären, worin die Eigenständigkeit philosophischer Theologie besteht, und zwar im Rahmen einer grundsätzlichen Verhältnisbestimmung von Philosophie und christlich-jüdischer Offenbarungstheologie als Wissenschaften (2.2). Das setzt die Bestimmung des Sinnes christlicher Theologie in einer für das Gespräch hinreichenden Annäherung an ihren Ursprung voraus (2.1), 3 Siehe dazu unten 2. Kap., 5.
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um schließlich das Verhältnis von Philosophie und Offenbarungstheologie im Sinne dialogischer Partnerschaft erörtern zu können (2.3).
2.1 Annäherung an den ursprünglichen Sinn jüdisch-christlicher Offenbarungstheologie im Spannungsverhältnis zur philosophischen Theologie
2.1.1 Eine Gefährdung im Zugang Philosophie geht von der In-Anspruch-Nahme durch das Seiende im Ganzen, dem Menschen und seiner Welt aus. Als philosophische Theologie sucht sie aufzuweisen, dass und wie diese Welt (und in ausgezeichneter Weise in ihr jeder Mensch) selbst schon Erscheinung eines letzten Unergründlichen bzw. göttlichen Grundes ist, der sich vom nicht-göttlichen, zum Sein freigegebenen Geschöpf unterscheidet. Aber indem sie dies in der methodisch-systematischen Gestalt der Erkenntnisvermittlung tut, redet sie unvermeidlich von und über Gott in der dritten Person. Sie spricht nicht zu Gott. Sie ruft ihn nicht an. Bestenfalls kommt sie einem preisenden Ausrufen Gottes nahe.4 Das bedeutet stets eine Gefahr, dass hier nicht mehr in schweigender Offenheit auf ,Gott in allen Dingen‘ gehört wird, dass man, menschlich gesprochen, Gott nicht ausreden lässt und ihm ins Wort fällt, dass man sich aus dem lebendigen Bezug herauszudrehen sucht, um einen distanzierten Standpunkt der Kritik außerhalb des Verhältnisses von Gott und seiner Kreatur zu beziehen, der einem ohne ihn und allein von sich aus gestattet, sich über ihn ins Bild zu setzen. Es erscheint mir wichtig, wahrzunehmen, dass dies nicht nur die zentrale Gefährdung philosophischer Theologie, sondern eine noch größere für die Offenbarungstheologie ist. Nietzsches Wort »Je höher von Art, je seltener geräth ein Ding«5 scheint hier zuzutreffen. Es kann, muss aber nicht sein, dass sich in einem bestimmten Betrieb von Theologie Gott dem Wort der Theologen entzogen hat. Man jagte der absoluten Wahrheit nach und verteidigt nun ihren handlich gemachten Besitz, dem die Kreativität entschwunden ist. Die Situation ähnelt dem Entzug menschlicher Nähe 4 Daran ändert auch die literarische Gattung eines Gebetes nichts, beispielsweise das Proslogion Anselms von Canterbury oder die Abhandlung De primo principio des Johannes Duns Scotus. Sie sind nicht Gebete, sondern Beweisführungen in der literarischen Form eines Gebets, welche die Haltung des Gebetes nahelegen soll und die einer solchen Haltung entspringen können. Denn das bloße Bemühen um die schriftliche Gestalt eines Gebetes kann sich mit einem literarisch fingierten »Du« begnügen. Dem entspricht, dass das bloße (Vor-)Lesen eines Gebetes ebenso wie die (wissenschaftliche) Befassung mit Gebetstexten auch ohne jeden existenziellen Gebetsvollzug möglich ist. 5 F. Nietzsche, KGW, Bd. VI/1, 360: Also sprach Zarathustra, IV, 15.
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und Intimität durch ein verdinglichendes Besitzen-Wollen. Weil das so ist, darf ein vernünftiges Maß an Misstrauen (von den Moraltheologen dubium prudens, vernünftiger Zweifel, genannt) gegen Theologie als Wissenschaft durchaus wach bleiben. Ein Ableger davon ist die Abneigung gegenüber ,Gottesbeweisen‘ der Philosophie, die den Eindruck von intellektuellen Überrumpelungsversuchen machen. Nicht, dass sich Theolog/inn/en irren, was auch nicht auszuschließen ist, sondern dass Gott sich ihrem Zugriff zuvor entzieht, da sie mit Gott rechnen, ihn sicherstellen und über ihn verfügen wollen; das ist die größte Gefährdung jeder Theologie – todernst und zugleich clownesk: so wie es misslingt, den zugespielten Ball aufzuheben, der zuvor mit dem Fuß weggestoßen wird. Es kann daher nominell eine christliche Offenbarungstheologie geben, die verkappter Atheismus ist und Gottesfinsternis ausbreitet. Ob das so ist oder nicht, entscheidet sich meist schon in der Art und Weise, wie einer an die Theologie herantritt und sie studieren will: Geht es nur um einen Wissenserwerb, der dem Studierenden bessere Kontingenzbewältigung verspricht, der quälende Glaubenszweifel loswerden will, um endlich etwas zu finden, worauf man zählen kann und womit man sicherheitshalber rechnen muss? Geht es darum, als rechthaberischer Besserwisser und Experte entmündigende Macht auszuüben, eine existenzsichernde Ausbildung zu absolvieren, seine Bildung zu ergänzen, einen Frömmigkeit mimenden Zeitvertreib zu haben usw.? Oder geht es um die Bereitschaft, dem Wort und dem Dasein Gottes aus der eigenen Wesensmitte heraus einen Raum der Anwesenheit und des Verständnisses zu bilden, weil nichts anderes würdiger erscheint, bewundert zu werden? Oft erblickt Offenbarungstheologie die für sie hervorgehobene Gefährdung nur in der philosophischen Theologie, entdeckt man doch den eigenen Schatten leichter, wenn er auf den Anderen geworfen wird. Letztere steht von sich aus als akademische Universitätsphilosophie in der Spannung zwischen dem philosophischen Gottdenken (dem »Gott der Philosophie«) und einer (nicht notwendig explizit nominellen oder gar ausdrücklich als christlich zu thematisierenden) existenziellen Gotteserfahrung als Quellgrund, der dem Philosophierenden zu denken gibt. Möglich ist ein ausgewogenes Verhältnis der Entsprechung zwischen existenziellem Vollzug und Denken, eine vernünftig verantwortete In-Anspruch-Nahme des Daseins. Dieses Verhältnis liegt jenseits der Aufspaltung in einen von uns bloß ausgedachten Gott und einen bloß subjektiv erlebten Gott. Mit dem Erleben hebt man nur den psychologischen Aspekt des Widerfahrnisses, nicht aber das an der durchzumachenden Erfahrung Verstehbare hervor. Spekulativ verfahrene Probleme innerhalb der Philosophie können im Namen der Offenbarungstheologie (wie beispielsweise bei Pascal) zur Denunziation des Gottes der Philosophen anregen. Diese Verwerfung
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philosophischer Theologie vonseiten der Offenbarungstheologie wird uns noch ausführlich zu denken geben. Auch sie kann sich für ihren ,Glauben‘ im Sinne eines Entscheidungs-Irrationalismus auf religiös frei schwebende Gotteserlebnisse oder auf die Ideologie einer marktanteiligen Religionsagentur berufen. Ohne die anmaßende Illusion, die angesprochene Gefährdung je loswerden zu können, nähern wir uns dem Wesen christlicher Offenbarungstheologie an. Dazu scheint mir ein Offenbarungsglaube lehrreich, dem es um eine vernünftige Aufschließung dieser Grunderfahrung religiösen Lebens bzw. christlicher Mystik geht.
2.1.2 Feuer-Theophanie und Wort-Ereignis bei Pascal und Moses
Aufschlussreich ist hier die oft herangezogene Erinnerung Pascals an ein ungeheures Widerfahrnis, in dem ihm der »Gott Jesu Christi« aufgeht, den er ausdrücklich vom Gott »der Philosophen und Gelehrten« absetzt.6 Nach einem Kreuzemblem, das später mit einem Strahlenkranz versehen wurde, und dem Incipit »Im Jahr des Heils (grâce) 1654« ist schon die Urschrift sorgfältig nach dem Tagesheiligen des römischen Martyrologiums datiert. Fortan trug Pascal diesen protokollartigen Text, der später (nicht von Pascal) wohl zu Recht eine Denkschrift, Mémorial, genannt wurde, im Rockfutter seines Anzugs eingenäht mit sich. Man fand sie 1662, als er starb. »Das Mémorial nun gibt Kunde vom Aufleuchten der höchsten existentiellen Ebene in seinem Leben und vom Vollzug des entscheidenden ,Sprunges‘, mit welchem sie gewonnen wurde.«7 Pascals spätere Sicht der »christlichen Religion« ist von diesem 6 G. Büsing, Das Mémorial. Dokument einer fraglichen Gewißheitserfahrung. Eine Pascal-Inter-
pretation aus theologischer Perspektive. Dort auch im Anhang, 108−113, Faksimile und Übertragung der sorgfältig untersuchten »Urschrift« des Mémorials im Unterschied zu der auf Pascal zurückgehenden Abschrift, »Reinschrift« genannt. Zur unter Theologen bevorzugten Rezeption des Mémorials: 9−12. Nachfolgend sei hier Büsings Übersetzung des Hauptteils der Urschrift des Mémorials angeführt: »† Im Jahr der Gnade 1654/ Montag 23 November Tag des Hl. Clemens Papst und Märtyrer und anderer im Martyrologium./ Vigil des Hl. Chyrsogonus Märtyrer und anderer/ Von ungefähr halb elf abend bis ungefähr eine halbe Stunde nach Mitternacht./ Feuer/ Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs./ nicht der Philosophen und der Gelehrten./ Gewissheit, Gewissheit Gefühl Freude Friede [Sentiment Joye paix]/ Gott Jesu Christi/ Deum meum Et Deum Vestrum. [,Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott‘: Joh 20,17]/ Dein Gott wird mein Gott sein [Ruth 1,16] – / Vergessen der Welt und dem Ganzen außer Gott./ Gefunden wird er einzig auf den Wegen, die gelehrt werden im Evangelium/ Größe der menschlichen Seele. Gerechter Vater, die Welt hat dich nicht erkannt, so wie ich dich erkannt habe. [ Joh 17,25]/ Freude Freude Freude Tränen der Freude/ Ich habe mich von ihm getrennt. – / Derelinquerunt me fontem aquae Vivae [,Mich, die lebendige Quelle, verlassen sie‘: Jer 2,13]/ Mein Gott wirst Du mich verlassen – / möge ich ewig von ihm nicht getrennt sein./ […].« 7 R. Guardini, (1991a), Christliches Bewusstsein. Versuche über Pascal: Das Mémorial. Die religi-
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Geschehnis bestimmt. In diesen Zeitraum fällt auch die Notizensammlung seiner »Gedanken« (Pensées). Sie bildet den weiteren Kontext, in dem das Mémorial in mancher Hinsicht ausgelegt werden kann. Pascals Mémorial kommt der Absicht entgegen, mich einen Schritt weit einem ursprünglichen Theologieverständnis christlicher Offenbarung anzunähern, an dem auch das Problematische einer Ablehnung philosophischer Theologie sichtbar wird. Vorweg, um nicht missverstanden zu werden: Ich teile ganz und gar nicht Pascals überzogene, skeptisch beschränkte und negative Sicht der Möglichkeit einer philosophischen Theologie, welche aufgrund pejorativ eingeschätzter Endlichkeit des Menschen die Einsicht zu vermitteln sucht, dass der Mensch in seiner erbsündlichen Verfassung aus der ihm zu eigen gegebenen Kraft natürlicher Vernunft unfähig sei, zu wissen, ob Gott ist, und dass daher nur ein hypothetischer Gottesglaube als philosophisch vernünftigste Option infrage komme. Pascal setzt sich damit von einem Haupttypus philosophischer Theologie seiner Zeit ab. Für diesen war Descartes repräsentativ, und zwar insofern er vermeinte, in der Gottesvorstellung einen unbezweifelbaren Wissensbesitz von absoluter Gewissheit erreicht zu haben, welcher aus der bloßen Idee des Höchstdenkbaren, der Unendlichkeit, schöpfbar sei. Pascals zeitgebundenes Urteil über den ungöttlichen ,Gott der Philosophen‘ ist allein schon deshalb beschränkt und nicht verallgemeinerungsfähig. Übrigens scheint Pascal trotz seiner Abwehrstellung das cartesianische Streben nach Gewissheit seiner selbst sowie für sich selbst in seinen christlichen Glauben übernommen zu haben. Über das gewisse Sichwissen im Verhältnis zur Wirklichkeit entscheidet bei ihm primär nicht das Licht der Vernunft (lumen naturale), sondern die Offenbarung. Eine solche Gewissheit ist eine übernatürliche. Das Mémorial sollte an die wohl denkwürdigste Nacht in Pascals Lebens, an die grundstürzende Daseinserfahrung erinnern, die als Bekehrungs-, Glaubensgewissheits-, Gebets- oder Gnadenerfahrung nur ungenau umschrieben wird. Es lässt seine existenzielle, besonders affektive Ergriffenheit sowie seinen Verständnishorizont (modus receptionis) erkennen. Auch kann es als wichtiges Dokument der Mystik christlicher Theophanien gelten. Eingangs finden wir eine Entgegensetzung: der »Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs, / nicht der [Gott der] Philosophen und Gelehrten (savants)«. Unvermittelt hinzugefügt wird »Gewissheit, Gewissheit Gefühl Freude Friede« (in der Reinschrift statt »Friede« »Einsicht Freude«) sowie wem dieser Gott des Alten Testaments Gott ist: Er ist der »Gott Jesu Christi«.8 Der öse Entscheidung im Leben Pascals, 20−48, hier 23. Diese Beurteilung ist vor dem Hintergrund von Søren Kierkegaards Gedanken von den »Stadien auf dem Lebenswege« erwachsen. 8 In Pascals Reinschrift ist »Jesu Christi« hervorgehoben.
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Schlüssel zum Verständnis liegt in dem, was unmittelbar davor steht: »Von ungefähr halb elf abend bis ungefähr eine halbe Stunde nach Mitternacht«, und dann folgt das wie eine Überschrift über das Folgende in die Mitte gesetzte Wort »Feuer«. Was sagt dieses in der Reinschrift sogar mit Großbuchstaben hervorgehobene Wort »Feuer«? Für dieses FEUER hat Pascal direkt keine Worte. Der bisher skeptisch Umhergeirrte und von Zweifeln Gequälte, der die theoretische Gewissheit über die Existenz Gottes mit Descartes nicht teilen kann, stammelt nun ergriffen: »Gewissheit (certitude)« – was nicht mit ,Sicherheit‘ (sécurité) zu verwechseln ist und auch mit ,Zuversicht‘ übersetzt werden kann.9 Gerhard Büsing 10 und im Anschluss an ihn Thomas Ruster 11 meinen, in einem Fragment der Pensées 12 einen spezifischen Hinweis auf den Sinn des Wortes »Feuer« gefunden zu haben. Dieses Fragment spricht von der quälenden Zerrissenheit eines zwischen Gottlosigkeit und übernatürlicher Gnade hin- und hergerissenen Herzens, von einem Krieg Gottes mit den Menschen, den er zu bringen gekommen ist. Pascal zitiert hier frei nach Mt 10,24 und Lk 12,51: »Ich bin gekommen, den Krieg zu bringen […] und als Werkzeug dieses Krieges bin ich gekommen, Feuer und Schwert zu bringen. Vor ihm [Jesus Christus] lebte die Welt in einem solchen falschen Frieden.« Demnach wäre das Feuer nach Ruster »Werkzeug des Krieges, den Jesus gebracht hat. […] Mitschwingen mag aber die Assoziation an das reinigende Feuer des Gerichts, an Fege- und Höllenfeuer« – gewiss, ein »fremder«, ja befremdender Gott wird uns hier vorgestellt. Es geht daher um den Krieg »zwischen zwei Gottesverständnissen«, eine Unterscheidung von Göttern: dem uns in dieser Hinsicht fremd gewordenen Gott der Bibel, der zum Leben befreit, und dem kritiklos vertraut gewordenen der Philosophen, der Gewissheit verspricht. Pascal fügt sich so als Zeuge in die von Ruster propagierte Entflechtung von Christentum und Religion, Gottesdienst und Götzendienst ein, die er als kämpferische »Apologetik ,gegen die Heiden‘« versteht.13 Die soziokulturell faktisch alles bestimmenden Mächte (heute das globalisierte Interesse am Kapital) sind als Götzen, als Produkte vernunftwidriger Leidenschaften und dämonischen Trugs zu entlarven, von denen wir uns, um des Gottes Jesu Christi willen, wie durch eine Hölle hindurch lösen müssen. Innerhalb dieses Gesichtskreises wird das Mémorial als feierliches Protokoll, als Abschluss eines Entscheidungskampfes gedeutet, der aus der Zerrissenheit des Men9 Vgl. A. Schrimm-Heins, Gewißheit und Sicherheit. Geschichte und Bedeutungswandel der Begriffe certitudo und securitas. 10 G. Büsing, Das Mémorial, 37– 49, 59 – 61. 11 Th. Ruster, Der verwechselbare Gott, 76. 12 B. Pascal, Œuvres complètes, hg. von L. Lafuma, Nr. 924; Pensées, hg. von L. Brunschvicg, Nr. 498. 13 Th. Ruster, Der verwechselbare Gott, 3.
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schen zwischen Größe und Erbärmlichkeit herausgeführt hat. Für die Seinslage der Widersprüchlichkeit soll nun das Wort »Feuer« stehen und infolge einer getroffenen religiösen Wahl zu einer Umkehrung der Empfindungslage, der Trostlosigkeit in Freude und der inneren Zerrissenheit in Frieden, geführt haben. Diese Deutung widerspricht aber der Interpretationsregel, wonach dem unmittelbaren Kontext zur Deutung der Vorzug einzuräumen ist. Das nach der Datierung (in Großbuchstaben) in die Mitte gesetzte Wort »Feuer« ist eindeutig als Überschrift erkennbar und bezieht sich auf die Hochstimmung der Freude und die neu gewonnene zuversichtliche Gewissheit, die sich in ihr hält und offensichtlich gottgegeben erscheint. Von einem vorangegangenen Kampf und einer Entscheidung lässt das Dokument nichts eindeutig durchblicken. Wie sehr ihn diese Gewissheit erfüllt und gleich einem flammenden Feuer überwältigend ergreift, wird noch deutlicher, wenn er abermals stammelt: »Freude Freude Freude Tränen der Freude« – eine Freude, die ihn über das Gottfinden und -erkennen sowie über die »Größe der menschlichen Seele« überkommt. So kann er wünschen, nun von Gottverlassenheit befreit, die Schuld der Trennung von Gott und der Verleugnung Christi hinter sich zu lassen. Zutreffend und weiterführend ist jedoch Rusters Beobachtung, dass diese Art von Gewissheit insofern im Gegensatz zur Gotteserkenntnis Descartes steht, als dieser geradezu verbietet, auf die Modi des Denkens wie ,imagination‘ und ,sentiment‘ zu vertrauen.14 Undiskutiert bleibt, dass dessen Meditationen nicht als philosophischer Ersatz der christlichen Offenbarungstheologie, sondern nur als ihr entgegenkommende Voraussetzung gedacht waren. Im ausschließlichen Ausgang von der christlichen Offenbarung, die sich von philosophischer Theologie absetzt, konnte die Frage ausbleiben, ob Vernunftgewissheit innerhalb der Philosophie (und nicht nur innerhalb der Offenbarungstheologie) nicht durch Einengung auf bloß nicht-affektive argumentative Gewissheit unterbestimmt wird. Einerseits ist Pascal, wie die schroffe Entgegensetzung von Philosophie und Theologie deutlich macht, nicht an einer Integration von Gewissheitsarten interessiert, sondern exklusiv nur an jener Gewissheit, welche die geschenkte Teilhabe an der Gottesbeziehung Jesu erweckt. Andererseits bestimmt er die Vernunftgewissheit als Herzenserkenntnis bemerkenswert neu. Historisch gesehen ist auch der Anklang an die Reformatoren unüberhörbar: Die Autorität der Tradition tritt hinter der Autorität des Wortes Gottes der Heiligen Schrift zurück, 14 Vgl. Th. Ruster, Der verwechselbare Gott, 77; R. Descartes, Meditationen. Dreisprachige Parallelausgabe, III, 1, 96 – 99. Außerhalb des Blickfeldes bleibt, dass der Sinn einer unmittelbaren Erschlossenheit des eigenen Seins in weltbezogener Grundstimmung und Einbildungskraft insofern kritisch aufzuschließen ist, als er entweder in Abkehr vom eigentlichen Selbstverständnis oder in Hinkehr zu ihm aufgeht.
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und in den Vordergrund rückt je meine ganz persönliche, freud- und friedvolle Gewissheit am Mitvollzug des Offenbarungsereignisses, in dem sich Gott mir, diesem sündhaften, schuldverstrickten Menschen, zuwendet und das trennende Abgewandtsein von ihm aufhebt.15 15 Gewissheit ist affektiv (stimmungsmäßig) Beruhigung über den Zweifel, Befreiung aus Ungewiss heit, und erschließt uns im Bezug auf unsere Welt das, worüber wir Gewissheit erhalten oder zu erhalten suchen. Zwischen den Weisen des Zweifels und den Weisen der Gewissheit besteht ein Entsprechungsverhältnis. Der ,große Zweifel‘ am eigenen Sein, der Absturz in die Nichtigkeit, löst sich in die abgründige Grunderfahrung auf: Es gibt Anwesen (Sein)! Anders erscheint die Gewissheit, wenn nicht am Sein und an allem gezweifelt wird, sondern ich nur an etwas zweifle, wenn nur gewisse Erkenntnisse oder ein Bereich der Erkenntnis zweifelhaft werden. Auch ist zu unterscheiden, was uns gewiss ist und wie es uns gewiss ist. Gewissheit ist eine Weise, in der Wahrheit (als Unverborgenheit) zu stehen, sie auszustehen. Sie bezieht sich häufig auf die sachliche Begründetheit oder Unbegründetheit von Aussagen, Urteilen, hinsichtlich des Übereinstimmens mit dem wahren Sachverhalt, wobei der offene Horizont dieser Übereinkunft, die Wahrheit des Seins als das sie Ermöglichende, in den Hintergrund tritt, ja Gewissheit das Wahrsein sogar verstellen kann. Gewissheit bzw. Gewisssein ist keine Eigenheit des Unverborgenseins von Unverborgenem als solchem, sondern eine Eigenheit des gestimmt-erkennenden Offenseins von Existierenden, und zwar nach Maßgabe der Sache, um die es geht. Eine integrativ ausgerichtete Differenzierung von Gewissheitsarten finden wir bei Thomas von Aquin. Er unterscheidet 1. eine Erkenntnisgewissheit, worunter er die Festigkeit des Anhaftens der Erkenntniskraft am Erkennbaren versteht, 2. eine Glaubensgewissheit, durch die wir uns im Inneren von Gott angesprochen wissen, und 3. eine probable (konjekturale) Handlungsgewissheit für die Angemessenheit unserer Praxis und Moral. Für uns wichtig ist die Erkenntnisgewissheit. Diese logische, wissenschaftliche und vor allem philosophische Gewissheit entspringt unserem Bezug zur Natur, zum Sein – Nachklang griechischen Physisdenkens, noch nicht von der egologisch verankerten Selbstvergewisserung her gedacht. Daher ist Gewissheit kein Erkenntnisprinzip, eher eine eigentümliche Zugabe zum Wesen der Erkenntnis. In dieser Gewissheit kreist nicht jemand um sich selbst, sondern vollzieht in Hingabe an das Sein eine Übereinkunft. Wir verhalten uns zum Sein (Natur) mit dem uns (den Erkennenden) mitgegebenen lumen naturale und vollziehen die uns innewohnenden ersten, anfänglichen Prinzipien. Prinzipien sind Denkanfänge, sie umgreifen unser Verhältnis zum Sein, wie beispielsweise das Widerspruchsprinzip, wo es um die Unmöglichkeit von Anwesen und Nichtanwesen geht (zugleich und in derselben Hinsicht). Was Prinzipien zur Sprache bringen, sind nicht primär oberste Grundgesetze des Denkens oder Handlungsanweisungen, sondern umfassende Weisen, wie uns dem Sein entsprechend (naturgemäß, konnatural) zu sein und zu denken gegeben ist und wir daher zu sein und zu denken haben. Die Glaubensgewissheit (bezogen auf den christlichen Offenbarungsglauben) steht dem Rang nach über der Natur, ist also ,übernatürlich‘ und beruht auf geoffenbarten Heilsereignissen. Sie ist auch mit Zuversicht in das Kommende (certitudo spei) verbunden. Wichtig ist, dass Thomas ihre durch das göttliche Licht (lumen infusum) vermittelte Gewissheit die Natur (und die in ihr gründenden Gewissheitsmöglichkeiten) voraussetzt und weiterführt (vollendet). Die Heilsgewissheit wird also ganz und gar nicht vom Adressaten der Offenbarung (den praeambula fidei) völlig losgelöst gedacht. Dieser Versuch einer integralen Zusammenschau der Gewissheitsarten zerfällt jedoch im Spätmittelalter. Überhaupt entschwindet die Verwurzelung der Gewissheit in der ontologischen Wahrheit dem Blick und weicht einem Bedürfnis (Sein als Sichwollen, sich selbst vergewissern wollen), das sich in einzelne Gewissheitsarten verschiedener Wissensbereiche aufsplittert. Diese werden weniger von den Sachen als von der Besorgtheit um die Gewissheit bestimmt. Hier sucht man sich dessen zu vergewissern, was wir gewiss wissen können, und zwar nicht bloß in einem Vor- und Feststellen dessen, womit wir rechnen können, sondern als Bewussthaben eines Wissens, das darin seiner selbst
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Die neue Gewissheit, die Pascal überkommt, kann primär eine affektive (in der augustinischen Tradition stehende) und sekundär eine intellektuelle genannt werden. Dass sie eine affektive ist, sagt der emphatisch beigefügte Ausruf sentiment. Damit ist affektiv ein Gefühl, ein Sichbefinden, eine Grundstimmung, die noetisch ein Erfühlen und Erspüren ist, angesprochen. Unter Heranziehung der Pensées ist sentiment die Sensibilität des Herzens, welche die vom Bezug zu den Emotionen abgeschnittene, argumentative Vernunftgewissheit auf neue Weise, als Herzensgewissheit, zurückzugewinnen sucht. Diese Weise des Daseinsverständnisses weist uns weg vom unmenschlich halbierten, gemütsverarmten Verstandes- und Vernunftgebrauch, mit dem sich Philosophen ihren Gott vorstellen, und verweist uns auf die sowohl ethisch-religiöse als auch noetische Dimension des Herzens. In ihm gibt sich der »Gott Jesu Christi« in Frieden und Freude, ja unter Freudentränen, zu erkennen. Es muss eine besondere Weise intensivster Gewissheit gewesen sein, die Pascal im geistlichen Feuer des Herzens zuteil geworden ist. Anders hat die Angabe der Dauer für ein solches Feuer keinen Sinn. Es waren Stunden ungewöhnlicher Freude und Zuversicht, ja man könnte sogar von der Erweckung eines Vertrauensglaubens des in Liebe entflammten Herzens, der ihn von da an begleiten sollte, reden. Wenn im Text nach FEUER »Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs […] Gott Jesu Christi« ausgerufen wird, versteht Pascal sich selbst mit Jesus Christus in diese Väter-Tradition der Gott-Begegnenden und Mit-Gott-Verbundenen eingefügt. Für die Interpreten des Mémorials war es daher naheliegend, auf die Theophanie aus dem brennenden Dornbusch zu verweisen (Ex 3,6); das heißt, auf jenes Feuer, das niemals erlöschen wird, aus dem sich für Moses Gottes Anwesenheit kundgetan hat und seine Stimme (wie später am Sinai) vernehmbar wurde. Was Pascal damit sagt, ist doch, dass ihm selbst solch Unfassbares widerfuhr. So identifiziert Pascal das ihm widerfahrene Feuer mit dem Feuer jener in der Geschichte Israels erzählten Theophanie, das ihm ganz persönliche Gotteserkenntnis schenkt und ihn mit unsäglicher Freude erfüllt. bewusst ist. In der Gewissheit liegt die eigene Sicherheit, mit der etwas vorgestellt wird, und zwar als Selbstgewissheit dessen, der sich dies vorstellt, des Bewussthabenden. Die auf Gewissheit verlagerte Wahrheit bestimmt nun die Selbstsicherheit, welche übergreifend auf das praktische und herstellende Wirken unter dem Ideal absoluter Gewissheit ständige Steigerung der Sicherungsmöglichkeiten fordert. Schon früh treten natürliche Erkenntnis- und übernatürliche Glaubensgewissheit auseinander, besonders, wenn wie bei Johannes Duns Scotus die Unzulänglichkeit der Vernunft und daher auch die Notwendigkeit übernatürlicher Glaubensgewissheit, welche für die Gewissheit natürlicher Erkenntnis substituierend einspringt, betont wird. Einschlägig dazu vgl. A. Schrimm-Heins, Gewißheit und Sicherheit. Geschichte und Bedeutungswandel der Begriffe certitudo und securitas. Zur noch kaum gewürdigten Vertiefung in seinsgeschichtlicher Hinsicht M. Heidegger, Der Wandel der Wahrheit zur Gewissheit, in: GA, Bd. 6.2: Nietzsche II, 383−391.
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Achten wir auf den Horizont, innerhalb dessen Pascal seine Erfahrung interpretiert hat, so ist es ein durchwegs biblischer,16 der sie auf eine der Feuer-Theophanien des Mose bezieht. Das ist nicht selbstverständlich, man denke nur an völlig andere Verständnismöglichkeiten der Göttlichkeit des Feuers, etwa an das Hausfeuer oder die Feuerheiligtümer des Zoroastrismus oder an die auf Heraklit sich berufende stoische Tradition. Hier waltet im Grunde die Göttlichkeit der Welt als währendes Urfeuer, Aufgang in die Unverborgenheit, dort vergegenwärtigt sich der gute Gott des kosmischen Kampfes zwischen Gut und Böse im verehrungswürdigen Feuer. Aber auch biblisch sind Feuer-Erfahrungen Gottes nicht immer Theophanien, sondern ganz unterschiedliche Erscheinungen Gottes, etwa die Erscheinungen göttlicher Führung (wie die Wolken- und Feuersäule in der Wüste) oder des vernichtenden Gerichtsfeuers oder des verzehrenden, fressenden Feuers des eifersüchtigen Gottes, oder etwas ganz anderes: ein Zeigen himmlischer Herrlichkeit und Geistausgießung, man denke etwa an die ,Sprachen‘, d.h. vom Feuer der Begeisterung getragenen Verständnisweisen (glôssai hosei pürós, glwssai se purß: Apg 2,3) der Pfingstgeschichte, die an die stoische Gleichsetzung von Geist und Feuer erinnern.17 Der Reichtum an Erfahrungsmöglichkeiten der Göttlichkeit des Feuers stützt die Annahme, dass dasselbe Heilige, das Moses angesichts des Feuers widerfuhr, jedem Menschen zuteilwerden kann, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise. So unterscheidet sich näher betrachtet die Feuer-Epiphanie Pascals von seinem Referenztext in Ex 3, was nun herausgearbeitet werden soll. Zunächst darf angenommen werden, dass Pascal als guter Bibelkenner das Wort aus dem brennenden Dornbusch, »[Ich bin der] Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs« (Ex 3,6), im Hinblick auf die jesuanische Deutung der Dornbuscherscheinung zitiert: »Nicht ist er der Gott der Toten, sondern der Lebenden.« (Mt 22,32; Mk 12,27) Jesus zählt die ,Heiligen des Alten Testamentes‘, wie wir heute sagen könnten, zu den Lebenden, den Auferstandenen. Pascal verweist auf Joh 20,17: Jesus selbst ist, als der zum Gott der Väter Auferstandene, zu seinem und unserem Vater, zu seinem und zu unserem Gott aufgestiegen. Dieses zu den Juden gesprochene Wort gilt auch für Nichtjuden. Daher zitiert Pascal ein Wort, das die Moabiterin Ruth (1,16) zu ihrer israelitischen Schwiegermutter gesagt hat: »[Dein Volk ist auch mein Volk, und] dein Gott ist auch mein Gott.« Pascal lässt so in der biblischen Auslegung des ihm zuteilgeworde16 Diese biblische Orientierung wird besonders von Th. Ruster, Der verwechselbare Gott, 69−85, herausgearbeitet. 17 Vgl. auch die von G. Büsing in Das Mémorial zusammengestellten Feuer-Erfahrungen, besonders im Frankreich des 17. Jahrhunderts, 38 ff. Zu ergänzen wäre das Emblem des brennenden Herzens, das der von Gottes Liebe entflammte Augustinus in der Hand hält.
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nen Gnadengeschenks einer Teilnahme an der persönlichen Gottesbeziehung Jesu eine gewisse Begründungslogik erkennen, die ihn selbst mit der Dornbuscherfahrung verbindet. Auffallend ist, dass Pascal die alttestamentliche Erzählung vom brennenden Dornbusch und dem Gespräch Jahwes mit Moses nicht historisierend als verbal inspirierte Mirakelreportage auffasst, sondern annimmt, dass er nun aus eigener Erfahrung weiß, was es heißt, durch ein solches Feuer angerufen zu werden und in seinem heiligen Bereich verweilt zu haben. Doch wie beachtlich sind die Unterschiede! Bei Moses geht es um sein eigenes Volk, also die ihm Nächsten, bei Pascal finden wir keinen Bezug zum Mitmenschen. Sein Interesse ist kein heilsgeschichtliches; er klammert die Initiation des Moses zum befreienden Exodus Israels aus und erfährt nur sich selbst von Offenbarungsgewissheit überwältigt, vom Zweifel und der qualvoll erfahrenen Trennung von Gott befreit. Das Mémorial bekundet also nur die Ergriffenheit im Sinne einer ,Privatoffenbarung‘; sie ist nicht an Andere adressiert, enthält kein Wort von einem Auftrag zur Bezeugung des ihm Widerfahrenen für Andere oder gar von einer Aufgabe als Glied der Kirche, sondern sie mündet in einen privaten praktischen Imperativ: in den guten Vorsatz, sich Jesus Christus und einem uns unbekannten geistlichen Berater (mon directeur) vollkommen zu unterwerfen, sowie in die Zusage, die ihn bewegenden Worte Gottes lebenslang nicht zu vergessen. Die Feuer-Theophanie des Mose ereignet sich unter freiem Himmel auf dem Gottesberg Horeb. Sie ist ein Ereignis in einer Weltgegend. Und mit Himmel und Erde ist Schöpfung gegenwärtig und schwingt noch eine hier ungenannte, andere Gotteserfahrung mit, welche überhaupt erst so etwas wie eine lokale Begegnung mit dem Göttlichen möglich macht. Das alles unterscheidet, ja entfernt diese Theophanie noch weiter von Pascals Gewissheitserfahrung. In ihr ist der zu jedem Existieren notwendig gehörende Weltbezug, das fundamentale Vertrautsein mit der Welt, ohne den es streng genommen kein originäres Schöpfungsverständnis und keinen Gottesbezug geben kann, abwesend: »Vergessen der Welt und aller Dinge nur Gottes nicht«, ruft er aus. Diese Ausblendung der Schöpfung und überhaupt des Ganzen der uns begegnenden Seienden (also nicht nur der ,bösen‘ Menschenwelt) schränkt sein Daseinsverständnis auf Gott (in Jesus Christus) und seine menschliche Seele (ihre »Größe« wird im Schriftbild hervorgehoben) ein. Pascal ist in Fortsetzung der neuplatonisch-christlichen Innerlichkeit der »Soliloquia« des frühen Augustinus zu verstehen. Es wäre zu hart, von der fragwürdigen Mystik eines Welt-Aussteigers zu reden, da indirekt sein eigener christlicher Weg in der Welt – die Wege, die im Evangelium gelehrt werden – von ihm angesprochen wird. Aber trotz des angedeuteten Miterfassens der Leibhaftigkeit seines Gestimmtseins
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(Freudentränen) verschwindet der Weltbezug hinter einer subjektiven und privat bleibenden Befindlichkeit und Glaubenszuversicht. Das Mémorial enthält zwar eine genaue Zeitangabe und Datierung der nächtlichen Erfahrung, aber ihr Ort in der Mit- und Umwelt und damit die leibhaftig situierte Anwesenheit schien ihm unwichtig. Der im Mémorial protokollierten Erfahrung eignet eine eigentümliche Ort- und Weltlosigkeit. Führen wir uns nun im Kontrast zum Mémorial den Referenztext Pascals näher vor Augen, in dem Gott Moses ruft. Dieser antwortet: »Hier bin ich!« Gott eröffnet sich dem Menschen, indem er einen Dialog mit ihm anfängt. In dieser Erscheinung lässt sich Gott weiter hören: »Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs!« (Ex 3,6) Aus der Erfahrung dieser Begegnung entsteht erst die Frage, wer Gott sei, die Gottesfrage. Nichts von einem Gott-setzenden Bewusstsein, keine hypothetische Annahme zur Erklärung der Welt, kein Ausbruchsversuch zur Bewältigung drückender Kontingenz, keine Auflösung quälender Ungewissheit. Der Mensch fragt nach Gott, wenn und weil Gott den Menschen und sein bisheriges Selbstverständnis in Frage stellt, und zwar an einem bestimmten Ort und in einer bestimmten Situation seines Lebens. Nun eröffnet Gott, der »Gott der Väter«, dem Mose die kaum glaubhafte Aussicht auf eine Befreiung des Volkes Israels aus der Knechtschaft in Ägypten. Erst die Beauftragung des Mose, das Volk in die Freiheit zu führen, lässt ihn fragen: Was sage ich den Söhnen Israels, wenn sie mich fragen, wie ist es um den Namen des Gottes der Väter? Der Name, ursprünglich verstanden, ist der Ruf, den jemand hat, weil er in Rufweite offen anwesend ist, sodass diese Offenbarkeit seine Anrufbarkeit begründet. Dem entsprechend ist der Name Gottes das geschichtlich gegenwärtige, geoffenbarte und offenbare (An-)Wesen des Gottes in seinem Ruf, Wort und Ereignis.18 Die Frage des Moses zielt daher nicht zwecks Benennung auf das Lautgebilde irgendeines Eigennamens wie Amun-Re, Isis oder Osiris, die ihm im Pantheon damaliger Götter noch unbekannt gewesen wären. Er weiß ja (ebenso wie die Israeliten), wer es ist, der ihn schickt, eben »der Gott (’elohey) eurer Väter«, der Gott in der Vielfältigkeit seines Gottseins (’elohhiym) und geschichtlichen Anwesens. Moses fragt, sinngemäß interpretiert: Wenn von Dir her solches geschehen soll, wie stehst Du dann zu uns? Wie ist Dein Verhältnis zu uns? Wie wirst Du bei uns sein? Auf die Frage des Moses nach dem Namen Gottes antwortet Gott daher nicht, wie man häufig gemeint hat, mit »Ich bin, der ich bin«, was als Zurückweisung der Frage, 18 Vgl. dazu ausführlich vom Verf. (1997c), Sprachphilosophische Hinführung zu einer Theologie des Namens Gottes, in: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Bd. 2, 159 –217.
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als achselzuckende Verweigerung der Auskunft, als Bekundung der Namenlosigkeit oder gar Abwehr von Zudringlichkeit verstanden werden könnte, sondern ganz im Gegenteil: Er sagt sich seinem Volk zu und enthüllt sich dadurch selbst: »Ich (bin und) werde da sein [als der], der ich (da bin und) da sein werde« (Ex 3,14), nämlich gegenwärtig, da, bei euch, bei meinen Erwählten! Das heißt sinngemäß übersetzt so viel wie: ,Ich bin der Treue, auf den ihr bauen könnt, der euch beistehen wird – kraft meines Seins, meines Anwesens.‘ Und ein solcher Gott ist es, der Moses zu den Seinen schickt. Von der Selbstzusage seines Anwesens her findet sich in diesem Textzusammenhang der Name des Gottes als Jahwe in die Anrufbarkeit erhoben und gedeutet. Nennt man nun einen Gott (unter Göttern) ,Jahwe‘ (als der ,Er-ist-da‘) und hält man die Nominativform für den grammatisch ersten Fall dieses Namens, so ist man vermutlich gedankenlos in eine grammatische Falle geraten. Der erste Fall, in dem ein Name genannt wird, ist wohl der Vokativ. Der Name ,Jahwe‘ ist ursprünglich vokativisch, als Ausruf zu verstehen, und das heißt übersetzt: ,Oh, er ist da [bzw.] er wird da sein!‘ Solche Weisen des Sichereignens Gottes spotten jedem biblizistischen ,Gott sagt es‘ (Deus dixit) und »Es steht geschrieben«. Stellt man sich Offenbarung naiv als direkte und unmittelbare sprachliche Verlautbarung des unsichtbaren Gottes vor und hält sie dazu noch für die einzige Form der Möglichkeit einer Selbstoffenbarung Gottes, dann hat man sich nicht nur den Erfahrungszugang zum Verständnis der religiösen Welt verstellt, sondern beteiligt sich am Unglaubwürdigmachen und Karikieren Heiliger Schriften. Man versteht den Stoßseufzer Raimon Panikkars, wenn er Pascal zwar recht gibt »mit seiner Beobachtung, dass der Gott der Philosophen nicht der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs war«, aber zu der entgegengesetzten Bewertung dieses Topos kommt: »Ist es daher verwunderlich, dass die anderen ,Philosophen‘ und insbesondere die anderen Weisen Schwierigkeiten haben, das Absolute, das sie erfahren haben, in dem Gott der Väter und dem jüdisch-christlichen Glauben zu erkennen?« Panikkar ist hellhörig für die Schwierigkeit eines ausschließlich personalistisch gedachten Gottes, wo »das Wesen der Liebe und der personalen Beziehungen der Dialog ist« und »es dann [doch] nicht möglich ist, mit ihm einen wirklichen Dialog von Person zu Person zu führen«.19 Er verweist demgegenüber auf religiöse Haltungen (im Hinduismus und Buddhismus), die sich nicht auf den Glauben an ein göttliches »Du« und seine Weisungen gründen – also nicht auf einen, der wie ein Jemand, eine Person handelt, die andere Personen in Liebe zu sich ruft –, sondern auf ein ursprüngliches Einssein mit dem Anfang aller Dinge, dem Grund allen Seins, was m.E. eine Ur-Identität 19 R. Panikkar, Trinität, 53 ff. Zur kritischen Würdigung vgl. H. Waldenfels, Die Trinität im interreligiösen Gespräch.
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des Bezugs, der Communio im Einssein genannt zu werden verdient, wie sie aus der Tradition theologischer Philosophie nicht unbekannt ist. Tut man sich mit biblischen Dialogen zwischen Gott und den Menschen schwer, dann wäre zu bedenken: 1., ob nicht der ursprüngliche Bezug des Menschen (als für das Weltsein offenes Wesen) zum Schöpfer der Welt und konkrete, lokal und situativ gebundene Gottesbegegnungen von der Art der Moses-Theophanie einander wenigstens implizit voraussetzen. Als Weltgeschöpfe können wir uns annehmen und verstehen, wenn und weil wir die Erfahrung des Sichgegebenseins aus einem tragenden Grund in der Spannweite der Welt durchgemacht haben. In ihr gibt es erst die Möglichkeit einer darstellbaren innerweltlichen Begegnung mit Gott als Schöpfer und Stifter dieses Begegnungsraumes zwischen ihm und den Menschen. Sie kann noch nicht entdeckt oder in den Hintergrund getreten sein. Oder sie wird gar von der Analogie zu einer ontischen personalen Kommunikation – statt Kommunikation dem Sein nach – verdeckt. Der Gott des Menschen Jesu Christi ist und bleibt vor allem der Schöpfer, und zwar sein und unser Schöpfer. Bei Pascal wird jedoch die religiöse Erfahrung der Geschöpflichkeit (im Weltbezug) und der Solidarität im Geschöpfsein ausgeklammert. 2. Soll der Dialog zwischen Gott und Moses keine poetische Fiktion oder ein privates Stimmenhören wie bei Geistesgestörten sein, dann bringt der ganze Dialog in literarischer Form eines Zwiegesprächs eine durchgemachte Erfahrung zur Sprache, die bis hin zum alles durchdringenden, allem zugrunde liegenden Feuer reicht – einem Feuer, das nichts verbrennt und die Erde im Umkreis heiligt. Erst dies alles heißt Moses im Rückblick ausrufen: »Oh, Er ist da!« Gott enthüllt so überwältigend seine Anwesenheit in lautloser Beredsamkeit, die nicht anders zu verstehen ist, als dass er selbst sich ausspricht und zusichert, immer gegenwärtig, immer als der Befreiende da zu sein. Er offenbart sich als der Treue, als der eigentlich an Israel ,Glaubende‘; er enthüllt einen Raum seiner Anwesenheit, der Menschen erneut ein neues Verhältnis zu ihm und zu sich gewährt, wo sie sich sagen lassen, was durch sie weiterzusagen ist: Gotteswort im Menschenwort, dessen Bedeutsamkeit in weltgeschichtlicher Universalität seine Entfaltung noch vor sich hatte.
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2.1.3 Der Ursprung der Theologie als Gotteswort im Menschenwort
Wird nun solches Wort-Ereignis Gottes in menschliche Sprache gebracht, verwahrt und bedacht, so haben wir es mit einem Stück ,Theologie‘ des Gotteswortes, des TheoLogos, zu tun. Theologie und Theo-Logos sind nicht das Gleiche; denn menschliche Rede von Gott ist nicht Gottes Wort an den Menschen. Leicht verkannt wird, dass jüdisch-christliche Theologie als menschliche Rede von Gott in Gestalt einer Wissenschaft nicht einfach Wissenschaft von Gott ist. Sie hat nicht Gott und sein Wort so zum Gegenstand ihrer Untersuchung wie Biologie die Lebewesen, oder wie Anthropologie eine Wissenschaft (-logie) ist, die das menschliche Phänomen zum Gegenstand hat. Zwar ist eine wissenschaftliche Rede, in der jemand etwas zu sagen hat, ausgehend von dem, was sich zeigt und mitteilt, ein zur Sprache gebrachtes Entsprechen (Analogie) von Denken und Sachverhalt, aber diesen Grundzug ihres Wesens, den Realitätsbezug, teilt die Theologie mit anderen Wissenschaften und auf ihre Weise auch mit der Dichtung. Das Denken der Theologie ist ein Sichsagen-Lassen dessen, was sich zeigt und mitteilt, dessen Eigentümliches darin besteht, dass es nicht objektivierend subjektbezogen ist, und zwar in dem Sinne, dass es Gegebenes (Seiendes, Bereiche des Seienden) nicht als vorhandenes Objekt setzt ϑeou), und vorstellt. Geht es in der Theologie um das ,Wort Gottes‘ ( lgoß to so zeigt der Genitiv ,des Gottes‘ grammatisch das ,Subjekt‘ des Sagens an, das nicht wie innerweltliches Seiendes der wissenschaftlichen Vergegenständlichung zur Verfügung steht. Wird nun Gott nicht mit einem Gegenstandsbereich der Welt oder der Welt selbst identifiziert, kommt er als das konstituierende Formalobjekt oder gar Materialobjekt irgendeiner Wissenschaft (außer in einem analogen Sinn als thematischer Gegenstand) nicht infrage. Das Eigenwesen der Theologie jüdisch-christlicher Offenbarung als Rede (Sage) von Gott hat (auch noch als verwissenschaftlichte Rede) seinen Ursprung in der Selbstaussage und Selbstmitteilung, Selbsterscheinung und Selbstoffenbarung des Gotteswortes dem Menschen gegenüber, wie in der ExodusTheophanie des Mose beispielhaft gezeigt wurde. Dem Gotteswort gegenüber ist das menschliche Entsprechen (Sagen) mehr als ein bloßes Sich-sagen-Lassen dessen, was sich zeigt und zuspricht, offenbart und mitteilt; es ist auch nicht nur ein wesenhaftes Sich-von-ihm-sagen-Lassen dessen, was er offenbart und mitteilt, sondern ein Sich-von-ihm-sagen-Lassen, dass er selbst es ist, der sich selbst offenbart und sich selbst mitteilt. Häufig sind bestimmte Offenbarungsinhalte (Mitteilungen) das Thema, die daher diese Selbst-Offenbarung und Selbst-Mitteilung ins Unthematische zurücktreten lassen, aber ohne sie ihren Sinn verlieren. Auf diese Weise ereignet sich
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Selbst-Offenbarung und Selbst-Mitteilung, die den Menschen in allem Begegnenden und in dem, was er ist, – also indirekt – mit anspricht und in Anspruch nehmen kann. Gott sagt sich selbst den Menschen zu, und das auch noch dann, wenn er etwas zeigt und offenbart, das er selbst nicht ist. Dieses Geschehen wird zu Recht analog zum personalen Sein des Menschen als von jemandem ausgehend verstanden. In der ursprünglichen Begegnung mit Gott zeigt sich kein bloßes Was, kein Etwas, kein Seiendes, sondern – und das sollte man nur mit einem verhaltenen Zögern sagen dürfen – ein Wer, ein Jemand, ein Selbst, ein ,Du‘. Man sagt gewöhnlich zu rasch eine ,Person‘ und versteht dann darunter doch wieder ein Seiendes, wenn auch ein Selbstseiendes, wobei das Selbstsein ausgeblendet bleibt. Das Sein des Selbst in der ursprünglichen Gegebenheitsweise des ,bist‘ und ,bin‘ im lebensweltlichen ,Du bist es‘ und ,Ich bin es‘ und damit die geschöpfliche Konstitution der Person bleibt unbedacht. Das Verhältnis von Gott und Mensch ist nicht ein Verhältnis zwischen Seiendem und Seiendem und in diesem Sinne zwischen Ich und Du, göttlicher Superperson und menschlicher Person. Es bildet keinerlei kategoriale Relation zwischen Etwas und Etwas oder Jemandem und Jemandem. Die erfahrene Zuwendung Gottes zum Menschen und zur Welt, dieses Gewähren seiner Anwesenheit (esse ad), ist an ihm selbst nicht von kategorialer Art, selbst dort, wo es ein ,Aufleuchten seines Antlitzes‘ über uns ist: uns begegnender und ansprechender Blick, der aus dem Verborgenen des Seins entgegen ,west‘, ein Blick, mit dem das Göttliche sich selbst in dieses sich Aufschließende hineingibt und sammelt, ja möglich macht, dass der Erblickte sich innig umfasst und aufgerichtet erfährt. Um diese Zuwendung phänomennah angemessen zur Sprache zu bringen, ist höchste Zurückhaltung im Vergleich mit menschlichen Personen angebracht. Bei der analogen Rede von Gottes Zuwendung im Gegenübersein zu einer menschlichen Person ist die Unähnlichkeit Gottes zu einer sich uns zuwendenden menschlichen Person je immer größer als seine Ähnlichkeit zu ihr. Wobei alle Ähnlichkeit eben dieser unfassbaren Unähnlichkeit entspringt und nicht umgekehrt. Vielleicht möchte man korrigierend von einer personal-dialogischen Du-Du-Beziehung im Unterschied zu einer apersonalen Ich-Es- bzw. Ich-Sie- oder Ich-Er-Beziehung reden. Aber auch hier ist es phänomenal so: Es gibt zu denken, dass wir ein wesenhaftes Einbezogenwerden in je immer unergründlichere Ferne und Unnahbarkeit erfahren, sei es in der privativen Weise des Ferngehaltenwerdens oder im Entspringen vertrautester Nähe, wo es doch dabei bleibt, dass es die Du-Du-Beziehung ereignishaft gibt. Nach dem nur andeutungsweise Gesagten bedeutet Theo-Logie im Sinne jüdisch-christlicher Offenbarung also nicht, dass zuerst der Mensch sich seines Gottes vergewissert, sich ausdenkt, wie er sein könnte, und so über ihn redet – unser Gott-
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Sagen –, sondern dass zuerst Gott selbst zum Menschen spricht. Daher kann Paulus den Christen in Thessaloniki sagen: »[…] wir danken auch dem Gott unaufhörlich dafür, dass ihr das Wort des Gottes, das ihr von uns zu hören bekamt, angenommen habt nicht als Wort von Menschen (o lgon 2nϑrpn), sondern als das, was 20 Theologie als Menschenwort es inWahrheit ist, das Wort Gottes (lgon ϑeou).« hat ihren Ursprung im Theo-Logos, im Wort Gottes. Paulus appelliert hier nicht an Gutgläubige, die bloß vom Hörensagen her an einen Zuspruch Gottes glauben wollen, sondern er redet aus der gemeinsamen Erfahrungsmöglichkeit des Angesprochenwerdens heraus. »Wie sollen sie an den glauben, den sie nicht gehört haben?«, sagt er in Röm 10,14. Das heißt nicht, ,von dem oder über den sie nicht gehört haben‘, sondern ,den sie nicht gehört haben‘, und zwar ihn selbst, sowie ,den sie nicht gehört haben‘, und zwar sie selbst. Indem sie im Evangelium Menschenwort vernehmen, können sie Gott selbst vernehmen und selbst Hörer des Wortes Gottes sein. Das Reden von und über Gott hat seinen Ursprung im Wort Gottes selbst. Dieser Ursprung ist immer noch ungenügend erfasst, wenn man vom Gebet als der Rede des Menschen zu oder vor seinem Gott ausgeht.21 Zwar ist diese Rede ursprünglicher als alles Reden von und über Gott, aber dennoch wird verkannt: Das Gebet »ereignet sich als Antwort«,22 und zwar als Antwort auf den uns widerfahrenden Augenblick, da wir uns in höchster Weise zu uns selbst (in allen Dimensionen des Selbst-, Mit- und In-derWelt-seins!) gerufen erfahren und wir uns darin von Gottes anrufbarer Anwesenheit 20 1 Thess 2,13. Dazu vgl. J. Kremer, Die Bibel beim Wort genommen, dort: »Kein Wort Gottes ohne Menschenwort«, 417–432. Das gilt auch besonders für das Wort der Heiligen Schriften: »,Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig.‘ Methodologische und hermeneutische Erwägungen zu 2 Kor 3,6b«, 265–297. 21 J. B. Metz, Gotteskrise. Versuch zur »geistigen Situation der Zeit«, 79 – 82, geht der Frage nach: »Woher stammt die Gottesrede, worin gründet sie? […] Die Rede von Gott stammt allemal aus der Rede zu Gott, die Theologie aus der Sprache des Gebets.« (79) Metz spricht hier ein kriteriologisches Axiom überlieferter christlicher Theologie an, wonach die »Liturgie als Ort gelebten Glaubens und deshalb als Norm christlicher Wahrheit Quelle theologischer Erkenntnis« ist – auf eine Kurzformel gebracht: Lex orandi à lex credendi, LThK3, Bd. 6, 871 f. Aber dieses offiziell gutgeheißene Gemeinschaftsgebet der Kirche scheint ihm im Hinblick auf Leidensempfindlichkeit, die einer Universalität des Leidens entspricht, sprachlich zu sehr gezähmt. Die Sprache des Gebetes ist universeller, spannender, dramatischer, rebellischer und radikaler als die harmonische, beruhigende, viel getröstetere der zünftigen Theologie. So ist die Gebetssprache nicht die Sprache des Glaubens, weil man in ihr auch sagen kann, was man nicht glaubt. Sie ist Sprache der Klage und des Jubels, »Sprache ohne Sprachverbote«, »praktiziertes Bilderverbot«, »voll schmerzlicher Diskretion«, Geschrei, »oft nichts anderes als ein lautloser Seufzer der Kreatur« und schließlich Verstummen. 22 B. Casper, Das Ereignis des Betens. Grundlinien einer Hermeneutik des religiösen Geschehens, 67–72, hier 70. Eindringlich weist Casper auf dieses hier zutage tretende Fundierungsverhältnis und auf die asymmetrische Fundierungsrichtung hin, welche das Ereignis des Gebetes in der »Grundsituation unseres Uns-zeitigens« bestimmt.
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(d.h. seinem »Namen«) betroffen erkennen. Wie könnte zum Beispiel jemand mit Gott hadern, weil er sich von Gott verlassen, ja verstoßen und verraten fühlt, wenn er nicht in seinem ureigensten Sein zuvor mit Gottes bergendem Anwesen vertraut gewesen wäre? Das Gebet der Not und im Leid setzt also schon ein Wissen um Gott voraus, das sich der Erfahrung seiner lautlosen Anwesenheit, in der wir im Gebet die Angesprochenen sind, verdankt. Auch ist die Vielfältigkeit des responsorischen Sichereignens des Gebets und damit des Verständnisses vom Dasein Gottes nicht ,pathisch‘ zu verkürzen.23 Nur insoweit sich das Geschehen des Gebets »seinem innersten Wesen nach als responsorisch« erweist,24 hat Theologie in ihm ihre Wurzeln. Nach dem Gesagten hat Theologie ihren Ursprung darin, dass Gott zuerst spricht, seine anrufbare, rettende und befreiende Anwesenheit in der Menschheitsgeschichte gewährt und so durch alles in allem den Menschen das Vermögen gibt, auf dieses sein Wort zu antworten, auf die Sprache des Sichereignens zu hören, dieses Wort-Ereignis auf- und anzunehmen, es als zur Sprache gebrachtes Wort zu bewahren, zu erinnern, sich erneut der Erfahrung hinzugeben und neuem Verständnis entgegenzuharren. Das Überbordende der Erfahrung des Heiligen und Rettenden ist antwortend ins Wort zu bringen: Menschliches Sprechen von Gott ist Antwort auf das vom Menschen gehörte und gedeutete Wort Gottes. Kann man deswegen sagen, dass damit das ursprüngliche Wesen der jüdisch-christlichen Theologie schon ausdrücklich thematisiert ist? Das muss verneint werden, denn auf eine nicht unähnliche Ursprünglichkeit des Sichereignens des Göttlichen in der griechisch-römischen Gotteserfahrung, die den Menschen anspricht und dadurch erst die Rede von Gott (als mythische und physische Theologie) begründet, konnte hingewiesen werden. Auch dort war eine strenge Alternative von Gotteswort und bloßem Menschenwort, von Entmythologisierung und Mythisierung, von Christentum und Religion nicht angebracht. Schließlich erschien die physische Theologie der Heiden für Juden und Christen rezipierbar, weil eine tiefe Verwandtschaft mit dem Wort-Gottes-Verständnis erblickt wurde. Religion und Christentum können deswegen auch hier keine strenge Alternative bilden. Es ist daher nach dem eigentümlichen Wesen jüdisch-christlicher Offenbarung weiterzufragen, wobei es hier nicht um das Unterscheidende im Sinne des Trennenden, sondern um jenes Besondere, Einzigartige und Einmalige geht, wodurch Kirchen aus Juden und Heiden entstehen konnten. Wir fragen also weiter nach dem ursprünglichen Sinn des biblisch in so vielen Bedeutungen aufscheinenden Wortes Gottes im Alten und Neuen Testament. 23 Auf den responsorischen Charakter der verschiedenen Gebetsformen hat R. Guardini in seiner »Vorschule des Betens« (Werke, 1986) herausragend aufmerksam gemacht. 24 A.a.O., 70.
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In der Geschichte des Bundes Gottes mit Israel hat sich sein Gott als der Gott der Welt, der sie durch sein Wort geschaffen hat, enthüllt. Mit diesem Gott, der alles in das Dasein gerufen hat und sich geschichtlich dem Menschen im Wort-Ereignis offenbart und zusagt, sind wir in den Herkunftsbereich jüdisch-christlicher Offenbarungstheologie eingetreten: Was es nun heißt, dass der Ursprung dieser Theologie ausschließlich im Wort, das Gott spricht, liegen kann, hat endgültig das Neue Testament dokumentiert.25 So beginnt der Brief an die Hebräer mit den Worten: »Vielfach und vielartig vormals [der] Gott redend zu den Vätern durch die Propheten, redete er am Ende dieser Tage zu uns durch (den) Sohn, den er setzte als Erben von allem, durch den er auch schuf die Aionen [Weltzeitalter], der ist […] Ausdruck seines Wesens, tragend auch alles durch das Wort seiner Kraft.«26 Auf das All sich beziehende Aussagen dieser Art27 sprechen das Wesen des Christentums an und enthüllen durch den Sohn, was Gott eigentlich mitteilt und zu sagen hat, ja wie er sich selbst mitteilt und sein Wesen ausdrückt. Wir müssen uns hier vor einem Missverständnis hüten, das dem neutestamentlichen Logos die griechische Bedeutung von Gedanke unterschiebt, den Gott realisieren würde. Überhaupt ist Logos nicht griechisch gedacht als Sammlung (Lese) oder Ordnung, Kunde, Sage(n), Reden, Denken, Rechnen usw., sondern neutestamentlich von dâbâr, der hebräischen Bibel, her. Da bedeutet Logos nicht nur Sagen und Wort (unter Wörtern), sondern auch Ereignis und auch Ding, wohl weil (von seiner etymologischen Grundbedeutung her) die Rückseite, das Hintergründige im Ereignis und Ding es ist, das nach vorne treibt, (her)vorgebracht wird und (im Aufeinander-folgen-Lassen der Worte) etwas besagt. Zum Beispiel bedeutet »nach diesen Worten« bisweilen so viel wie »nach diesen Ereignissen, Begebenheiten, Geschehnissen« (Gen 22,1). Oder der Diener Abrahams erzählt Isaak all die »Worte«, die er getan hat, d.h. Taten, Handlungen. »Die Worte Salomos« sind in 1 Kön 11,41 die Lebensgeschichte des Salomo. Das Leben der Person ist selbst das ,Wort‘, das sagt, wer und was sie ist. Von da her wird verständlich, dass Wort oder Reden Gottes ein welthaftes Geschehen meint, das als Ereignis den Menschen anspricht.28 25 Hierzu vgl. u.a. H. Schlier, Wort Gottes. Eine neutestamentliche Besinnung. 26 Hebr 1,1–3. Studienübersetzung: Münchner Neues Testament. 27 Auf das Ganze und den Grund des Daseins sich beziehende Aussagen werden hier All-Aussagen genannt und sind nicht mit All-Aussagen der formalisierten Logik zu verwechseln, den mit Hilfe von ,Quantoren‘ zusammengesetzten Aussagen. Deren Symbole sind stets mit Gegenstandsvariablen (sei ihr Anwendungsbereich definit oder nicht) verbunden (Lx = für alle x gilt). Vgl. dazu u.a. die Unterscheidung von numerisch-gegenständlicher und transzendentaler Vieleinheit: Vierter Exkurs 6.2.3 b). 28 Vgl. Th. Boman, Das hebräische Denken im Vergleich mit dem Griechischen, 53: »Im dâbâr gibt […] Jahwe sein Wesen kund, wer Jahwes dâbâr hat, kennt Jahwe; dâbâr ist mehr als ein Teilstück,
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Man verfehlt den ursprünglichen Sinn von »Das Wort (des) Gottes« ( lgoß tou im Neuen Testament, wenn man sich eine Personifizierung, die sich Gott als ϑeo u) redendes Wesen ausmalt, denkt, oder wenn man sich darunter den Inbegriff geoffenbarter Worte vorstellt, die von Gott stammen und in schriftlicher Fixierung als Buchstaben- und Wörterfolgen (Heilige Schriften) vorhanden sind. Gewiss meint »das Wort Gottes« auch Gott, insofern von Gott (dem Vater) her das Wort durch Propheten, Apostel und Lehrer gesagt wird, und zwar auf die Weise, wie sie ihn in ihrer Zeit, Mit- und Umwelt als selbstständige Autoren einzigartig horchend vernommen haben. Dieses Vernehmen des Wortes war gewiss außerordentlich und überdurchschnittlich, hat das Ganze ihres Daseins und In-der-Welt-seins in Anspruch genommen und sie alles in einem neuen Licht sehen lassen; ja es hat sie aus allem bisher Vertrauten herausgerufen, ihm in Zuversicht die Treue zu halten, d.h. zu glauben. Aber dieses Wort, das Gott zunächst durch Propheten und dann durch Apostel, Lehrer, ja durch die Gemeinde (die Kirchen!) sagen lässt, war kein anderes Wort als dieses ein für alle Male ausgesprochene Wort, das Gott (der Vater) in Jesus Christus sagt, ja das Christus selber ist: Er, als der Logos,29 der sterbliches Menschsein angenommen hat und dadurch den Vater auslegt (ihn exegetisiert: Joh 1,18). Spätestens hier wird klar, dass die kaum aufzählbaren und literarisch verschieden geformten ,Worte‘, Mitteilungen und Offenbarungen Gottes der Bibel beider Testamente, die zumeist Gott selbst gar nicht einmal direkt zum Inhalt haben, den semantischen Kernbereich und ursprünglichen Sinn von ,Wort des Gottes‘ nur asymptotisch anzielen. Zu bedenken ist erstens, dass eine Person auch im Sagen von Worten selbst spricht (und von jemandem selbst gehört werden kann), und zweitens, dass sie in dem, was sie sagt, selbst da ist und sich selbst offenbart, und nicht nur etwas enthüllt, das sie direkt anspricht. In solcher personalen Kommunikation ereignet sich Teilnahme aneinander: nicht nur etwas wird mitgeteilt, sondern jemand teilt sich selbst mit und wird (meist unthematisch) mitanwesend. So verstehen wir, dass im Anfang, da »Gott sprach […] und es ward« (Gen 1,3, u.ö.), Jahwe das Wort, das er selbst spricht, sich ereignen, d.h. ins Eigene kommen lässt. Er lässt sein Wesen in all das, was er schöpferisch hervorruft, selbst kommen.30 Wort Gottes in seinem ursprünglichen mehr als eine Emanation oder Hypostase der Gottheit, dâbâr ist eine Erscheinungsform Jahwes und zwar die höchste […].« (53) 29 So kann man im Deutschen den bestimmten Artikel maskulinum () zu Logos umschreiben, um das in ihm anklingende personale Verständnis zu verdeutlichen. 30 Freilich nicht (biblizistisch autoritär und anthropomorph) direkt und unvermittelt, wie W. Pannenberg zu Recht gegen ein gleichsam naives Geltendmachen der Vorstellung göttlicher Selbstoffenbarung als Wort Gottes moniert: Systematische Theologie, Bd. 1, 259 –268. Doch vermeintlich göttliche Bekundungen in Form direkter Mitteilung von Gott her lassen nicht nur, wie
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Sinn ist sich ereignen lassendes Wort und Wort-Ereignis, das unterscheidbare Weisen der Offenbarung Gottes in Worten, Werken und Taten umfasst. Ein vom Dâbâr losgelöster Logos, der Fleisch geworden ist (Joh 1,14), wäre nur ein göttlicher Gedanke, der sich realisiert hat, was an infantile Allmacht der Gedanken oder magische Kraft des Wortes erinnern würde; oder das Wort wäre nur etwas rein Geistiges, das sich materialisiert und verleiblicht hätte, statt dass es Gottes tiefste Menschlichkeit31 in der Geschichte eines Menschen und der Verbundenheit mit ihm erweist. Wie das Wort der Weg ist, vermittels dessen sich jemand selbst einem Anderen persönlich mitteilt, so teilt sich der Vater in seinem Fleisch gewordenen Wort selbst mit. Durch ihn, das Wort, hat er nicht nur etwas gesagt oder über sich sagen lassen, sondern er hat sich uns gegenüber in Jesus Christus selbst ausgesprochen. »Alles Menschliche in Christus ist Offenbarung Gottes und redet von Gott; es gibt in seinem Leben, Wirken, Leiden und Auferstehen nichts, was nicht Ausdruck, 32 Auslegung, Darstellung Gottes in der Sprache des Kreatürlichen wäre.« Dieser mitgeteilte und sich mitteilende Logos ist als singulare tantum daher der Inbegriff christlicher Verkündigung, wenn beispielsweise in Apg 4,4 der Logos absolut, ohne Zusatz, genannt wird: »Viele von denen, die das Wort hörten, kamen zum Glauben […]« oder »während Petrus diese Worte (t! mata tauta) sprach, fiel der Heilige Geist auf alle, die das Wort (tn lgon) hörten«. In den Worten der Verkündigung ist es somit dieses Wort Gottes, das als Wort-Ereignis nicht verkündende Rede ist. Vielmehr ist es gerade das Wort-Ereignis, das zur Rede steht und zu bitten ermöglicht, dass »Gott uns öffne eine Tür für das Wort, um zu reden das Geheimnis des Christos« (Kol 4,2). Dass »das Wort« verkündet wird (Apg 8,4; 11,19; 14,25 u.a.), heißt, dem Ereignis seines Lebens die Anwesenheit einräumen, ihn selbst wie einen Samen (Lk 8,11 f.; Mk 4,14) in sich aufnehmen und in Verbundenheit mit ihm Frucht bringen. Wenn »das Wort ( lgoß) vom Kreuz« in 1 Kor 1,18 »Gottes Kraft« ist, dann kann es nicht eine rhetorisch eindrucksvolle Rede bezeichnen, sondern nur das bezeugte Heilsereignis selbst, das eben zur Rede steht in all seinen Dimensionen. Wort Gottes ist also nicht nur sprachliche Verkündigungsgestalt, Wort unter Worten, Menschenwort im Gegensatz zu Taten der Liebe, die auf ihre Weise sprechen. Das Wort des Gottes ereignet sich als Selbstmitteilung Gottes durch das Mensch gewordene Wort, in Jesus Christus; mit ihm, durch ihn und in ihm hat Pannenberg bemerkt, indirekt (insofern sie nämlich Gott zum Urheber haben) etwas über Gott selbst, über sein Wesen und seine Gottheit erkennen, sondern bekunden auf sehr verschiedene Weisen des geschöpflichen Vermitteltseins dann auch sein Selberanwesen. 31 Gottes Menschenfreundlichkeit (filanϑrwpa) in Tit 3,4 übersetzt die Vulgata mit humanitas, Menschlichkeit. 32 H. U. von Balthasar, Wort, Schrift, Tradition, 21.
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Gott einen Anwesenheitsraum (Kirche und Kirchen) radikalen Füreinanderseins der Menschen gestiftet. Dieses an uns ergangene Wort-Ereignis bedarf nun des aufschließenden und deutenden Wortes als einer Antwort seitens der Menschen (auch und vor allem der die Botschaft verkündigenden Menschen). Dabei darf nie die vorgängige Ereignishaftigkeit des Wortes Gottes übergangen werden. Zu deuten ist ja nicht eine unvermittelt ergangene Rede, die sich unter Umgehung unseres Ins-Dasein-Gerufenseins (Geschaffenseins) direkt an Menschen richtet. Er, der »über allen« ist, bekundet sein Mitanwesen »durch alle [Menschen guten Willens, vor allem aber durch Christus] und in allen [einwohnend durch seinen Geist]«. (Eph 4,6) Dort, wo Gott als Schöpfer einer Mit- und Umwelt des Menschen diesen Anwesenheitsraum seiner Selbstmitteilung schafft, trägt er alles Sein miteinander, alle Nächstenliebe. Diese hat durch den Menschen Jesus Christus – des in die Würde Gottes (»zur Rechten des Vaters«) Erhobenen, der Leben schaffendes Pneuma geworden ist (1 Kor 15,45) – ihren unüberbietbaren geschichtlichen Höhepunkt erreicht. Durch ihn hat Gott sich zum Anwesenheitsraum der Möglichkeit radikaler Zwischenmenschlichkeit gemacht, die, wenn wir Mt 25,31– 46 bedenken, so weit geht, dass in jedem anderen Menschen und ganz besonders in den Notleidenden Christus mindestens anonym (keimhaft) anwesend ist und geliebt wird.33 Das im Menschenwort Ereignis gewordene Wort Gottes wird nur bewahrt, wenn es existenziell vollzogen und getan, aufgeschlossen und weitergegeben wird. Gottes Wort spricht, indem es zum Hören erweckt und im Glauben angenommen wird; und es kann nur gehört und geglaubt werden, wenn es verkündet und verstanden wird. Christliche Theo-Logie kann sich also nur vom Wort, das Gott in Jesus Christus und durch ihn sagt, herleiten. Alle andere menschliche Rede von Gott hat darin nach christlicher Auffassung ihr unhintergehbares Maß, muss aber als Bedingung der Möglichkeit, auf das Wort zu hören, es im Glauben aufzunehmen, das Verständnis vom Sein des Menschen und der Welt sowie von Gott oder Göttlichem immer schon mitbringen. Theologie (in dem engeren und abgeleiteten Sinne des Wortes als wissenschaftliche Rede) dient einzig der vertieften Klärung des Sichverstehens auf das Wort. Zusammenfassend kann nun auf die Frage, was jüdisch-christliche Theologie sei, folgende Antwort (nicht die einzig mögliche! gegeben werden:34) Theologie im Chri33 Zu dem hier Angesprochenen vgl. K. Rahners Erläuterungen zu seinen das Wesen des Christentums erhellenden Kurzformeln des Glaubens, in: Schriften zur Theologie, Bd. 8, 153–164, Bd. 9, 242–256. 34 Schon deshalb nur eine unter anderen möglichen, da hier nur nach dem ursprünglichen Sinn von Theologie im Unterschied zur menschlichen Rede von und über Gott gefragt wurde. Die niemals zu erledigende Aufgabe der Theologie könnte es auch sein, sich erneut auf die Frage nach dem
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stentum ist wissenschaftlich verantwortbares Sprechen von Gott in Jesus Christus, das in seiner Gemeinde (Kirche) und mit ihr Gott in seinem Wort und Ruf bezeugt und bekennt. Da aus dem offenbarenden Wort die Offenbarung des Wortes im Glauben angenommen und für den Glauben bezeugt, praktisch vollzogen und interpretierbar wird, kann Theologie auch abgekürzt ,Wissenschaft vom Glauben‘ genannt werden. Aber der Reichtum des christlichen Glaubensverständnisses, der eine Wandlung der Existenz mit sich bringt, wird meines Erachtens heute von der ungeklärten Vieldeutigkeit und Dürftigkeit dessen, was man alles so ,glaubt‘, was ein Glaube oder Glauben sei, überlagert und bildet heute kaum einen guten Anknüpfungspunkt zur Erhellung eines ursprünglicheren Verständnisses von christlicher Theologie.35 Vielleicht können wir dazu der orthodoxen Theologie einen Wink entnehmen. Orthodoxie (rϑodoxa) bedeutet in ihrer ursprünglichen Intention nicht die richtige Meinung, die man vom christlich verstandenen Gott hat, und auch nicht bloß nur (wie bei den griechischen Kirchenschriftstellern) den rechtmäßigen Glauben im Sinne der wahren Lehre. Theologie ist vielmehr dann und nur dann wahrhaft orthodox, insoweit sie eine Wegweisung des rechten Rühmens Gottes in seinem ausgegossenen Geist ist. Rühmen (dox1zein) ist das hervorhebende ,Auszeichnen‘ einer herausragenden Gestalt, die uns betrifft. Dieses ist umso reiner, je weniger man versucht, mit ihm jemanden günstig zu stimmen und zu beeinflussen. Rühmen und Verherrlichen des trinitarischen Gottes in seiner Doxa (dxa) besagt so viel wie ihn selbst in seiner Göttlichkeit hervortreten lassen. Diese göttliche Doxa ist sein Glanz und Schein, der keine subjektive Ansicht über ihn darstellt, sondern das ihm eigene Ansehen, in dem er steht und in dem er in seiner Herrlichkeit, Würde und in seinem wahren Ruf (Wort!) hervortritt. Orthodoxie ist dann johanneisch verstanden die rechte Kenntnis der Rühmung, der Verherrlichung Gottes, d.h. seines Erscheinen- und Hervortretenlassens, und beruht auf Teilgabe und Teilnehmendürfen an Jesu Verherrlichung des Vaters durch sein den Geist mitteilendes Heilswerk und an der Verherrlichung Jesu durch den Vater.36
Wesen des Christentums durch Freilegung seiner Wesensmitte zu besinnen, und zwar durch Ermittlung der »Hierarchie der Wahrheiten«, sofern sie nicht ein bereits vorhandenes Lehrstück über ihre Rangordnung meinen, sondern durch eine konzentrative Reduktion auf die Sache (res) des christlichen Glaubens die fundamentale Wahrheit von Entfaltungswahrheiten transparent machen. Offenbarungstheologie, wie sie heute systematisch und zum Teil hoch spezialisiert in bestimmte Fächer aufgegliedert gelehrt wird, ist stets in Gefahr, das Fundament des Ganzen, die Verbindung mit der Wesensmitte des Christentums, aus dem Auge zu verlieren. 35 Hierzu vgl. vom Verf. (1983), »Habt den Glauben, der Gottes Glaube ist« (Mk 11,22): Philosophisches und Theologisches zur Vollgestalt des Glaubens. 36 Vgl. dazu W. Thüsing, Die Erhöhung und Verherrlichung Jesu im Johannesevangelium.
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2.2 Zur Positionierung philosophischer Theologie und Offenbarungstheologie als Wissenschaften
Die vorangegangene Überlegung ist dem Ursprung der Theologie im Sinne der christlichen Offenbarung durch das Wort nachgegangen. Sie ist methodisch gesehen keine (bloß) philosophische, sondern eine offenbarungstheologische. Theologische Philosophie, um die es uns jedoch geht, beruht ja nicht auf dieser im Alten und Neuen Testament und von den Kirchen bezeugten Offenbarung. Nicht weil die Philosophierenden die Offenbarung vielfach ignorieren oder gar ablehnen würden, sondern weil sie sich, wie bereits angesprochen, auf eine das Christentum übergreifende Grundvorgabe aller Religionen besinnen, die im Raum christlicher Theologie keinen (nur aus arbeitsteiligen Gründen) methodisch beschränkten Teil der Offenbarungstheologie, sondern eine ihrer Voraussetzungen bzw. Vorgegebenheiten und insofern Bedingungen darstellt. Hier geht es vorläufig nur um eine Ortsangabe sowohl der philosophischen als auch der christlichen Offenbarungstheologie im Aufbau der Wissenschaften. Offen gelassen wird die strittige Frage, ob und inwiefern Philosophie und Theologie überhaupt Wissenschaften sind oder sein können. Vorausgesetzt ist hier ein noch zu erläuternder in sich analoger Wissenschaftsbegriff: Unter Wissenschaft kann vorläufig jenes kollektive Sichverhalten zur Welt bzw. zum Daseinsganzen verstanden werden, das einen Sachbereich in seinem inneren Gefüge systematisch-geordnet und methodisch-kritisch zu erkennen bzw. zu denken sucht. In Erinnerung zu behalten ist auch, dass wir als wissenschaftlich ambitionierte Menschen, wenn wir nach dem positiv Wissbaren und noch nicht Gewussten fragen, dies alles dem Nichtwissbaren verdanken, das ins Unscheinbare zurücktritt. Aber kann überhaupt von einem Wissen um Nichtwissbares, das im Phänomen gegründet und nicht bloß ausgedacht und vermutet ist, sinnvoll die Rede sein? Gehört nicht das, was Phänomene zu verstehen geben können, zum Bereich des irgendwie Wissbaren, über das hinaus es nur Vermutungen geben mag? – Das Paradox eines Wissens des Nichtwissbaren löst sich auf, wenn wir auf das verbal verstandene ,Wesen‘ des Phänomens in einem ursprünglichen Sinn eingehen. Hier gehört das Nichtwissbare stets zum Phänomen des Wissbaren, und zwar als sein Quellgrund. Das Phänomen gründet so im Nichtwissbaren, da dieses phänomenal positiv erscheint und sich zeigt. Phänomenologisch gehört zum Wesen des Phänomens das unscheinbare Mitgegebensein des Woher seines Aufgangs, der Rückverweis auf die Verwurzelung im verborgenen Ort seiner Herkunft, das Miterfahren seines Ursprungs in aller verstandenen Erfahrung. Philosophie und Theologie haben es mit dem, was sich solcher Art der Verständlichkeit entzieht, zu tun, was nicht nur vor dem begreifen
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wollenden Zugriff zurückweicht, sondern positiv aufweisbar ist als das, was gerade im phänomenalen Sichereignen des zum Erscheinen Freigegebenwerdens sich als das Freigebende entzieht und phänomenal aufweisbar als ,Nichts‘ des verborgen bleibenden Ursprungs erscheint. Solcherart Nichtwissbares bekundet sich durchaus als das Abgründige im Phänomen selbst. Es entzieht sich, indem es das Verstehen nach sich zieht – ein Sachverhalt, der eindringlicher Analyse bedarf.37 Mit anderen Worten: Philosophie und Theologie ist gemeinsam, dass sie es mit dem Mysterium des Daseins zu tun haben und schon daher niemals in reiner Wissenschaft aufgehen können. Sie stehen, so gesehen auch der Dichtung, welche Wissenschaft befruchten kann, nahe. Zur Ortsbestimmung des wissenschaftlich Wissbaren der beiden Theologien sei der Grundriss eines Ordnungsgefüges der Wissenschaften aufgezeichnet. Dabei ist nicht zu übersehen, dass wir uns heute in einer Situation befinden, die von einer in das Chaotische reichenden Aufsplitterung menschlicher Wissensformen bestimmt ist. Nicht nur ihre Zusammenhangslosigkeit und Unübersichtlichkeit, der Mangel an Integration, an Zusammenschau und an einem einheitlichen ,Weltbild‘ wird beklagt, vielmehr werden auch wissenschaftliche Rückschläge erlitten, die technischen Anwendungen moderner Wissenschaften angelastet werden und eine Verschlechterung oder gar Zerstörung von Lebensbedingungen zur Folge haben. Wir finden daher unter Wissenschaftlern einerseits eine Wissenschaftsverdrossenheit, die auch Philosophie und Theologie betrifft, andererseits aber auch eine neue Bereitschaft, aufeinander zu hören, und den Versuch, durch interdisziplinäre Kommunikation und Zusammenarbeit aufeinander zuzugehen.38 Im Aufbau (System) der Wissenschaften können Spezialwissenschaften (auch Einzeloder Fachwissenschaften genannt) von Grund- und Universalwissenschaften unterschieden werden. In den Spezialwissenschaften werden spezielle Gegenstandsbereiche der Welt vermittels besonderer Gesichtspunkte hinsichtlich ihrer nächsten ontisch-realen Gründe (Ursachen, Bedingungen) entworfen oder als idealmögliche Gegenstandsbereiche konstituiert. Ihre Perspektive der Erforschung der Welt ist demgemäß jeweils eine partikuläre, spezielle und weiter spezialisierbare, sodass immer mehr über immer weniger gewusst wird. Das Denken der Grund- und Universalwissenschaften geht hingegen auf das Ganze und an die Wurzel unseres Daseins, auf den Sinngrund der Welt. 37 Zur Klärung der Phänomenalität und Vieldeutigkeit des ,Nichts‘ als Voraussetzung einer Philosophia und Theologia negativa vgl. vom Verf. (1997), »Das Nichts als ,Ort‘ der religiösen Erfahrung. Das Phänomen des Nichts und der Aufweis des Daseins Gottes«, in: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Bd. 2, 305–344. 38 Vgl. dazu G. Pöltner (1988), Über die Möglichkeit und Notwendigkeit eines interdisziplinären Gesprächs.
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Ob ein solches Denken, das wie Philosophie alles hinsichtlich des letzten Grundes bedenkt, überhaupt sinnvoll möglich ist, wird noch zu fragen sein. Dazu muss zuerst geklärt sein, was da mit dem Ganzen und dem Grund eigentlich in Frage kommt und wie es in Frage kommen kann. Zur Klärung der Wissenschaftlichkeit einer Wissenschaft und zur Möglichkeit interdisziplinärer Zusammenarbeit ist weiter zu bedenken, dass Erkennen und Denken (auch die Konstitution ideal gültiger Objekte) Weisen unseres Seins (Anwesens) in der Welt sind, sofern sie von sich aus offen und uns eröffnet und zugänglich ist und wir dieser Offenheit teilnehmend zugehören. Wissenschaften wurzeln im vor- und außerwissenschaftlichen Dasein, in unserer Lebenswelt, die hier als deren unüberholbare Basis verstanden wird. Um zu einer Positionierung der beiden Theologien innerhalb der Wissenschaften zu gelangen, sei kurz auf Philosophie (1) und Fachwissenschaft (2), etwas ausführlicher auf die Offenbarungstheologie in ihrem Verhältnis zur Philosophie und zu den Fachwissenschaften eingegangen (3). Allen diesen Wissenschaften ist die eine lebensweltliche Grundlage gemeinsam, auf welche sie unmittelbar bezogen sind (4).
2.2.1 Philosophie Philosophie wurde vorläufig sehr weit, als ausdrückliches Sichverstehen auf das Daseinsganze, verstanden,39 soll hier aber enger, auf ihre mögliche Wissenschaftlichkeit hin als Grund- und Universalwissenschaft in den Blick genommen werden. Als Philosophierende erfahren wir uns von der Offenbarkeit (Wahrheit) des Ganzen des Seienden bzw. des Seienden im Ganzen in Anspruch genommen und entsprechen diesem Ganzen, indem wir es zeitlebens denkend zu vernehmen versuchen, und zwar im Blick auf Letztgründe oder einen letzten Grund und umgekehrt aus der In-Anspruch-Nahme durch solches Gründen oder einen Letztgrund, der dieses Daseinsganze trägt und durchragt. Dabei ist in dieser vagen Angabe absichtlich offengehalten, was unter Grund verstanden werden kann: ein Band, das alles zusammenhält, ein Abgrund oder ein Urgrund, ein selbst gegründeter oder ein nichtiger, grundloser Grund, eine anarchische Vielzahl usw. Von derselben Fragwürdigkeit ist auch das dem Grund entsprechende Ganze (Universum, Welt, Welten oder was immer).
39 Zum Vorbegriff der Philosophie siehe oben die Hinführung.
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Philosophieren besagt nicht nur ,Weltorientierung‘. Denn ein solches Sichorientieren und Orientiertsein in der Welt stellt uns vor die Frage nach dem es ermöglichenden Grund (eben nach dem Sein in der Welt, dem Daseinsganzen). Dabei gewahren wir, dass wir uns selbst aus einem solchen Fragen gar nicht heraushalten können, sondern, insoweit wir zu sein haben und dies uns zu denken gibt, voll involviert sind, und das unausweichlich füreinander. Wie ein solches Fragen uns überhaupt überkommen kann, wird noch zu bedenken sein.40 Hier geht es vorerst nicht um den umstrittenen Anspruch, Philosophie als Wissenschaft zu etablieren, was hier als Möglichkeit vorausgesetzt wird, sondern nur um die Stellung der Philosophie als Wissenschaft. Also gesetzt, Philosophie ist der methodisch-systematische, d.h. wissenschaftliche Selbstvollzug menschlicher Selbstbesinnung, der auf das Ganze (Universum) und den Grund des Daseinsganzen geht, ist es die Frage, welche Stellung der Philosophie als Grund- und Universalwissenschaft innerhalb der Gesamtheit aller Wissenschaften zukommt. Damit ist eine wissenschaftstheoretische, genauer: wissenschaftsphilosophische Problematik angesprochen. Angesichts der Selbstverständlichkeit, mit der sich Philosophie als akademische Wissenschaft gibt, meldet sich eine Unzufriedenheit mit den von ihr selbst ausgearbeiteten Wissensformen, da Philosophie nicht mehr wie im Altertum vorrangig eine Art von existenzieller Lebensform und Lebenspraxis ist. Deren Lebensweisheit hatte sich in eine Art Gesamtwissenschaft ausgefaltet, in der Philosophie und andere Wissenschaften (die meisten?) noch nicht voneinander unterschieden waren oder miteinander einhergingen. Vor aller methodisch-systematischen Anforderung war Wissenschaft schlicht das Sichauskennen in einem Sachgebiet. Die Entdeckung der Vielfalt der Sachgebiete und ihrer Fülle im Einzelnen brachte die Notwendigkeit ihrer Verselbstständigung (Emanzipation) zu Fachwissenschaften mit sich und hat durch Spezialisierung ihre großartigen Ergebnisse erbracht. Die Philosophie selbst verblieb vielfach erfahrungs- und wissenschaftsfremd, teilweise wissenschaftsfeindlich zurück, ja sogar anfällig für erfolgreiche Ideologien und Weltanschauungen aller Art und für Bündnisse mit Spezialwissenschaften, oder sie erforschte zur Kompensation ihres Mangels nach Art einer kritisch-historischen Fachwissenschaft ihre eigene Geschichte oder formalisierte erfolgreich überkommene Gestalten des Denkens (formale Logik, Logistik) und ließ sich vielfach von Fragen umtreiben, die im Allerletzten unwichtig sind. Dennoch erblickte man die Aufgabe einer Rekonstruktion der Bedingungen der Möglichkeit fachwissenschaftlicher Erfahrungswirklichkeit (in der Aprioriforschung der Trans 40 Zur weiterführenden Grundlegung siehe den dritten Exkurs: Einführung in die Ontologie als Einführung in die Philosophie am Leitseil der Frage nach dem Grund, sowie den vierten Exkurs: Zusammengehörigkeit des Einen und Vielen im integrativen Sein (Walten) des Ganzen.
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zendentalphilosophie oder in der meist sprachanalytisch orientierten Wissenschaftstheorie), begnügte sich aber nicht damit, sondern entdeckte erneut die ursprüngliche Fragwürdigkeit der Daseinserfahrung mit Anderen in der Welt, die lebensweltliche Fundierung allen Daseinsverständnisses und aller Wissenschaft (Lebensphilosophie, Existenzphilosophie, Phänomenologie) und darüber hinaus die unersetzliche, weil alle Lebensvollzüge tragende Alltagsbedeutung philosophierender Existenz.
2.2.2 Spezialwissenschaften
Um die Eigenart der Spezialwissenschaften zu charakterisieren, vergegenwärtigen wir uns wichtigste Bereichsentwürfe: Realwissenschaften (Natur-, Kultur-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften) haben ontische Teilbereiche der Erfahrungswelt zum Gegenstand ihrer Forschung. Ideal-, Struktur- bzw. Formalwissenschaften wie Mathematik und formale Logik konstituieren selber ihre Gegenstände unabhängig von der Erfahrung realer Seiender und von ihrer Anwendbarkeit. Ihre idealen Gegenstände oder Gegenstandssachverhalte sind jedoch von der Welt des möglichen und wirklichen Realen nicht getrennt – schon allein deswegen nicht, weil die objektive Gültigkeit der Gegebenheiten ihrer Erkenntnis auf widerspruchsfreien, d.h. letztlich ontologisch innerlich möglichen Sachverhalten beruht. In den Einzel- und Fachwissenschaften hat man es durch Arbeitsteilung und Spezialisierung besonders im technischen Anwendungsbereich zu großartigen Leistungen gebracht, welche die Lebensqualität, ja überhaupt das Antlitz des blauen Planeten, positiv und negativ nachhaltig verändert haben. Die einzelnen Wissenschaftler/innen kennen sich aber nur mehr in einem sehr beschränkten Teilgebiet ihres Faches aus, das sie methodisch beherrschen. Zugleich wird jedoch gerade von den Fachwissenschaftler/innen der verlorene Zusammenhang mit Philosophie, Offenbarungstheologie und vor allem mit der lebenspraktischen Orientierung (besonders der Ethik als Einsicht in die wahren Möglichkeiten sinnvollen und guten Handelns) zunehmend wahrgenommen. Spezialwissenschaftler/innen überschreiten als Menschen ihre Fachwissenschaft schon durch Thematisierung des ihrem Fach eigenen Weltbezugs im Sinne einer philosophischen Fragestellung. Grenzfragen zwischen Fachwissenschaften und erst recht interdisziplinäre Zusammenarbeit von Fachwissenschaftler/innen setzen immer den Blick auf das Ganze voraus, an dem die Wissenschaften eben nur ,teil-nehmen‘. Im Blick auf das Ganze ist jeder Teilbereich ergänzungsbedürftig. Vom Wissenschaftsanspruch eines interdisziplinären Vorgehens her geurteilt, kann man sich nicht mit einer
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intuitiven Vorgabe eines lebensweltlichen Weltverständnisses begnügen oder den Machtansprüchen einer Weltanschauung folgen, sondern die interdisziplinäre Vermittlung der Resultate von Teilbereichen der Forschung zu einem Ganzen bedarf einer sachkundigen, d.h. philosophischen Vermittlung. Dazu fehlt meist das methodische Bewusstsein; aber auch der Eindruck von Anarchie, den philosophische Auffassungen selber machen, trägt zum Vermeidungsverhalten gegenüber der Philosophie bei. Der spezielle Bereichsentwurf der jeweiligen Fachwissenschaft lässt nur thematisch werden, was sich unter seiner eingeschränkten Perspektive aspekthaft zeigen lässt. Andere Perspektiven werden dadurch mit Notwendigkeit ausgeblendet und bleiben dann unbeachtet. Dieser Prozess perspektivischer Reduktion hat Methode und baut auf ihr auf. Die systematische Beschränkung wird methodisch erzielt, insofern sich nur das zeigen kann, was die Methode zulässt. Abgesehen (abstrahiert) wird von dem, was sich dem Zugriff einer Methode entzieht. Systematische Reduktion und methodische Abstraktion gehören zum Wesen der Fachwissenschaften. Sie waren als innere Wissenschaftsdeterminanten Schlüssel ihrer Erfolgsgeschichte, und zwar begünstigt durch Methodenmonismen (z.B. methodische Reduktion auf mathematische Berechenbarkeit), auf irgendwelche Teilbereiche gegründete Einheitswissenschaften (z.B. Physikalismus oder neuro-physiologischer Biologismus) und heute zunehmend durch externe Wissenschaftsdeterminanten (z.B. Ökonomie, militärische Zwecke).
2.2.3 Offenbarungstheologie
Aus der Begegnung von griechisch-römischer Philosophie und Christentum ist die christliche Offenbarungstheologie in Einheit mit der Philosophie erwachsen. Sowohl die methodisch vereinbarte Arbeitsteilung zwischen Philosophie und Offenbarungstheologie (heute noch generell innerhalb der katholisch-theologischen Lehranstalten) als auch die Aufgabe des fragenden Durchdenkens des Daseinsganzen aus der Erfahrung christlichen Glaubens erscheinen heute problematisch. Ohne die Wahrnehmung der Aufgabe einer von der Offenbarung methodisch und logisch unabhängigen Philosophie sowie eines ,Philosophierens‘ in der Theologie geht Philosophie meist ihre eigenen Wege abseits der Offenbarungstheologie, und droht Offenbarungstheologie in den Sog eines konservativistischen und biblizistischen Neofundamentalismus zu geraten. Hier entscheidet nicht mehr wissenschaftliche Argumentation, sondern die Überzeugungskraft der Weltanschauungen, die marktkonform
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konkurrieren. Der wissenschaftstheoretische Ort und der wissenschaftliche Status der Offenbarungstheologie41 stehen damit in Frage. Ist sie eine Grund- und Universalwissenschaft oder eine Spezialwissenschaft, oder ist die Ansetzung dieser Alternative bereits irreführend? Man kann Philosophie und Theologie für Grund- und Universalwissenschaften halten, da es in beiden Wissenschaften um den ersten (anfänglichen) und letzten Grund für das Ganze unseres Daseins geht. In der Offenbarungstheologie geht es um den Gott, der Alpha und Omega, Anfang und Vollendung des Daseins ist. Das spricht dafür, dass sie wie die Philosophie eine Grund- und Universalwissenschaft ist. Aber das kann weder im gleichen Sinn (univok) gemeint sein, noch kann es sinnvoll zwei auseinanderdriftende Grund- und Universalwissenschaften mit doppelter Wahrheit geben. Auch die alternative Entscheidung zwischen der Aufhebung der Philosophie in die christliche Theologie und der Reduktion der christlichen Theologie auf einen philosophischen Glauben erscheint wenig sinnvoll, weil reduktionistisch. Wie kann dann die Eigenständigkeit der Anliegen beider Wissenschaften und daher auch beider Theologien, um die es hier nun geht, gewahrt und im Blick auf ein interdisziplinäres Miteinander fruchtbar bleiben? Zu überprüfen ist, ob und wie Offenbarungstheologie als eigenständige Wissenschaft in Frage kommt, wenn ihr möglicherweise eine Wesensverwandtschaft sowohl mit der Philosophie als der Grund- und Universalwissenschaft als auch mit den Einzelwissenschaften im Sinne der Fach- und Spezialwissenschaften eigen ist. Mindestens lässt sich zwischen Philosophie und Offenbarungstheologie eine analoge Strukturkorrespondenz wahrnehmen, die sich für Letztere auf biblische Allaussagen berufen kann. Erneut diskussionswürdig erscheint mir hier Heideggers Vortrag »Phänomenologie und Theologie« (aus 1927),42 vor allem, weil er ausdrücklich den ontologischen Hintergrund der Wissenschaften und diese als eine Weise des Sichverhaltens zur Welt bedenkt. Befremdlich ist sein Positionierungsvorschlag für die Theologie innerhalb der Wissenschaften: Theologie ist eine »positive Wissenschaft«, die von der Philosophie absolut unterschieden ist, nicht aber von den übrigen Fachwissenschaften, die ja gleichfalls positive Wissenschaften sind. Dem Verständnis dienlich können heterogene Ansätze sein, die damals von positiver Theologie gesprochen haben, auch wenn
41 Man beachte, dass hier nur die für uns als Paradigma geltende jüdisch-christliche Offenbarungstheologie fokussiert wird und die legitime Möglichkeit von ,Theologien‘ anderer Religionen nicht
diskutiert wird. Sie sind dadurch aber keinesfalls von vornherein ausgeschlossen. 42 M. Heidegger, GA, Bd. 9: Wegmarken, 45–78.
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Heidegger nicht ausdrücklich an sie anknüpft.43 Erinnert sei auch an die dadurch ausgelösten Kontroversen und die Heidegger-Rezeption durch Rudolf Bultmann und seine Schule. Hier nur das für unsere Fragestellung Wichtigste: Was versteht Heidegger unter Wissenschaft (a)? Was versteht er unter einer positiven Wissenschaft und inwiefern ist Theologie eine solche (b)? Wie sieht er das Verhältnis der Theologie zur Philosophie und zu den Fachwissenschaften (c)? Wie ist unter kritischer Berücksichtigung von Heideggers Thesen die Theologie innerhalb der Wissenschaften zu positionieren (d)? 2.2.3.1 Heideggers Positionsbestimmung a) Ontologisch bestimmte Wissenschaftsaufgliederung Heidegger geht bei der Definition von Wissenschaft von den Möglichkeiten des wissenschaftlichen Weltverhältnisses aus, das die bereits vertraute und erschlossene Welt weiter enthüllt, entdeckt, und zwar um der Wahrheit (Enthülltheit bzw. Offenbarkeit des Seins im Da) willen: »Wissenschaft ist die begründende Enthüllung eines je in sich geschlossenen Gebietes des Seienden, bzw. des Seins, um der Enthülltheit selbst 43 Vgl. ,positive Theologie‘ im Art. Positiv, Positivität I von J.-G. Blühdorn, in: HWP, Bd. 7, Sp. 1108 ff. Ab dem 17. Jahrhundert hat sich in der katholischen Theologie ein Verständnis von positiver Theologie in verschiedenen Fassungen herausgebildet, welches die Differenz zwischen einer positiven, auf Offenbarungsquellen (Hl. Schrift, Tradition, kirchliches Lehramt) normativ gründenden Theologie und der auf ihr aufbauenden, sie vernünftig und systematisch durchdringenden scholastischen bzw. spekulativen Theologie herausgearbeitet hat. In den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts war diese Differenz neu aufgebrochen mit dem wissenschaftstheoretischen Vorschlag, eine kerygmatische bzw. Verkündigungstheologie sollte für Seelsorge und die (hauptsächlich am Schriftstudium orientierte, engagierte, praxisorientierte und mystagogische) Verkündigung von der bloß wissenschaftlich interessierten Theologie, einer spekulativen Scholastik, abgehoben werden. Doch wurde bald eingesehen, dass der ,kerygmatische‘ Anspruch für alle Theologie gilt. Auch Heidegger bezieht sich auf spekulative Theologie, jedoch innerhalb der Philosophie. Biografisch bedeutsam ist Heideggers Hinweis auf seinen Lehrer, den Dogmatikprofessor Carl Braig, der sein »Interesse an der spekulativen Theologie«, wohl der Tübinger Schule, geweckt hat und von dem er auch »von der Bedeutung Schellings und Hegels für die spekulative Theologie im Unterschied zum Lehrsystem der Scholastik« hörte. Damit trat für Heidegger »die Spannung zwischen Ontologie und spekulativer Theologie als das Baugefüge der Metaphysik in den Gesichtskreis« seines Suchens. (Zur Sache des Denkens, 82) Diese Spannung zwischen phänomenologischer Ontologie und onto-theologischer Spekulation führte zum Bruch mit der theologischen Spekulation, die sich Gott als ins Höchste gesteigerte Seiendheit (entitas) vorstellt: »Das seynsgeschichtliche Denken steht außerhalb jeder Theologie und kennt aber auch keinen Atheismus, i.S. einer ,Weltanschauung‘ oder sonst wie gearteten Lehre.« (GA, Bd. 65: Beiträge zur Philosophie, 439) Die Absetzung von dieser Art des ontotheologischen Gott-Denkens bzw. von der metaphysischen Theologie schließt jedoch die Möglichkeit eines seynsgeschichtlichen Gott-Denkens nicht aus – und gleichfalls (noch zur Zeit des Erscheinens von »Sein und Zeit«) die Sinnhaftigkeit einer eigenständigen Theologie als Wissenschaft des Glaubens. (Phänomenologie und Theologie, in GA, Bd. 9, 55)
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willen.«44 Angesprochen wird hier die Differenz von Sein und Seiendem, woraus sich »notwendig zwei Grundmöglichkeiten von Wissenschaft« ergeben: »Wissenschaften vom Seienden, ontische Wissenschaften – und die Wissenschaft vom Sein, die ontologische Wissenschaft, die Philosophie.«45 Um das Absinken der Sachargumentation auf das vulgäre Niveau unwissenschaftlicher und weltanschaulicher Überzeugungen zu vermeiden, will Heidegger im Rückgang auf die Sache, um die es geht, nicht wie üblich von »einer bestimmten Art der Erfassung« der Sache seinen Ausgang nehmen, sei es Vernunft und/oder Glauben, sondern von der Sache selbst. Ihr wird der Primat zugestanden. Denn erst die Geklärtheit der Sache in ihrer phänomenalen Zugänglichkeit ermöglicht die Bestimmung der Zugangsart.46 Damit sind auch für den Wissenschaftsprozess der logische Aussage- und Systemcharakter sowie die pragmatische Bestimmung (durch brauchbare Resultate) als Primärmaßstab für die Wissenschaftlichkeit außer Leitung gestellt. Verwiesen wird zum Verständnis des Titels »Phänomenologie und Theologie« auf das existenzial-ontologische Verständnis von Phänomenologie in »Sein und Zeit«,47 das hier als universale phänomenologische Ontologie mit »Philosophie« gleichgesetzt wird. Doch fasst Heidegger (mindestens im Blick auf Anthropologie) dieses Verständnis sehr weit: »Jede philosophische, d.h. denkende Lehre vom Wesen des Menschen ist in sich schon Lehre vom Sein des Seienden. Jede Lehre vom Sein ist in sich schon Lehre vom Wesen des Menschen.«48
44 M. Heidegger, Phänomenologie und Theologie, in: GA, Bd. 9, 48. 45 Ebd. 46 A.a.O., 47, 49. 47 M. Heidegger, GA, Bd. 2: Sein und Zeit, § 7, S. 27 ff. 48 M. Heidegger, GA, Bd. 8: Was heißt Denken?, 85. Dass der spätere Heidegger ein besinnlichmeditatives, nicht-wissenschaftliches Denken bevorzugte, insbesondere im Gegenzug zu einem rechnend-berechnenden und vorstellend-vergegenständlichenden Denken, welches das Seiende für das Sein hält und heute von den Institutionen der Wissenschaft immer mehr Besitz ergreift, besagt nicht, dass er das in »Phänomenologie und Theologie« vorgetragene Wissenschaftsverständnis grundsätzlich verlassen hätte. Meist wird übersehen, dass der späte Heidegger (1965) in den Zollikoner Seminaren (162–173) seine wissenschaftstheoretischen Überlegungen mit einer Variation über dasselbe Thema der Wissenschaftsaufgliederung wieder aufgenommen und sich gegen die Vorwürfe der Wissenschafts-, der Gegenstands- und der Begriffsfeindlichkeit verwahrt hat. Für die von ihm begleitete ärztliche bzw. psychotherapeutische Daseinsanalyse hat er eine von der philosophischontologischen Daseinsanalytik in »Sein und Zeit« unterschiedene, doch in ihr gründende und sie in den existenzial-ontologischen Modi des In-der-Welt-seins (etwa durch Liebe, Traum) vervollständigende ärztliche Daseinsanalyse angedacht. Zu ihr gehört auch eine ontische, jedoch daseinsanalytisch geprägte Anthropologie, die in »Normal-Anthropologie und eine darauf bezogene daseinsanalytische Pathologie« gegliedert werden kann. Vgl. F.-W. von Herrmann, Daseinsanalyse und Ereignisdenken. Weiterführendes zu Heideggers reformistischem Wissenschaftsverständnis im Kontext mit den universitären Erneuerungsbestrebungen findet sich bei I. M. Fehér, Schelling – Humboldt. Idealismus und Universität. Mit Ausblicken auf Martin Heidegger und die Hermeneutik.
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b) Offenbarungstheologie: eine positive Spezialwissenschaft Theologie gehört nach Heidegger nur zu den positiven Wissenschaften. Positiv sind »Wissenschaften von einem vorliegenden Seienden, einem Positum«.49 Eine positive Wissenschaft ist begründende Enthüllung eines schon enthüllten, vorliegenden Seienden in einem gewissen Umfang »als mögliches Thema theoretischer Vergegenständlichung und Befragung«. Dieses Positum ist vorfindlich »in einer bestimmten vorwissenschaftlichen Zu- und Umgangsart mit dem Seienden, […] also vor aller theoretischen Erfassung, wenn auch unausdrücklich und ungewusst enthüllt«.50 Was ist nun das Vorliegende (Positum) der Theologie? Theologie ist kein Sichbewusstwerden des Christentums als weltgeschichtlicher Kulturerscheinung, sondern ein »begriffliches Wissen um das, was Christentum allererst zu einem ursprünglich geschichtlichen Ereignis werden läßt«,51 und das ist die »Christlichkeit« des Christentums. Sie ist das Positum für die Theologie. Sie konstituiert sich »in der Thematisierung des Glaubens und des mit ihm Enthüllten, d.h. hier ,Offenbaren‘«.52 Der Glaube ist kein Satzglaube, sondern eine Existenzweise, die am Geglaubten, dem Offenbarungsgeschehen, teilnehmen lässt, nämlich an dem »primär für den Glauben und nur für ihn« Offenbaren. Dieses ist das als Offenbarung »sich allererst zeitigende Seiende«, nämlich »Christus, der gekreuzigte Gott«.53 »Glaube ist gläubig verstehendes Existieren in der mit dem Gekreuzigten offenbaren, d.h. geschehenden [nicht geschehenen!] Geschichte.«54 Theologie hat als Wissenschaft das Geglaubte nicht nur zur Quelle und zum Gegenstand, sondern motiviert zum Glauben. Denn Theologie als »Wissenschaft des Glaubens« vergegenständlicht den Glauben systematisch, wegen des praktischen Ziels, die Gläubigkeit (als glaubendes Verhalten) mitauszubilden. Insofern das gläubig verstehende Existieren an der geschehenden Geschichte der Offenbarung teilnimmt, ist der Glaube eine geschichtliche Seinsweise, und daher ist Theologie nicht nur eine systematische, praktische, sondern »ihrem innersten Kern nach eine historische Wissenschaft« – »jedoch eine historische Wissenschaft eigener Art« »gemäß der im Glauben beschlossenen eigentümlichen Geschichtlichkeit«.55 Damit ist ein Prinzip 49 M. Heidegger, Phänomenologie und Theologie, in: GA, Bd. 9, 48. 50 A.a.O., 50 f. 51 A.a.O., 52. 52 A.a.O., 54. 53 A.a.O., 52. 54 A.a.O., 54. 55 A.a.O., 55 f. Zur damit gegebenen Nähe zu Rudolf Bultmanns Problematik einer Trennung (nicht bloß Unterscheidung!) von Real- und Offenbarungsgeschichte, Christus der Historie und Christus des Glaubens vgl. M. Jung, Das Denken des Seins und der Glaube an Gott, 121–124; P. Brkic, Martin Heidegger und die Theologie, 68. Die Unterscheidung impliziert, dass die datierbare ontische Ermittlung, »wie es eigentlich gewesen ist« (Leopold von Ranke), worauf histo-
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der Aufgliederung in eine systematische und mit Exegese, Kirchen- und Dogmengeschichte historische sowie in eine praktische Disziplin der Theologie vorgezeichnet. Weil primär durch den Glauben begründet, »ist die Theologie eine völlig eigenständige ontische Wissenschaft«56 – keine spekulative Gotteserkenntnis und daher (im Gegensatz zur üblichen Worterklärung) keine Wissenschaft von Gott.57 c) Zur ontologisch mitanleitenden Bedeutung der Philosophie für die Offenbarungstheologie Offenbarungstheologie als eine positive Wissenschaft und Philosophie sind gemäß der Differenz von Seienden und Sein absolut verschiedene Wissenschaften. Das schließt jedoch ein Zusammengehen beider Wissenschaften nicht aus. Es wird unter Wahrung der Verschiedenheit nur als einseitig notwendig bestimmt: Der Glaube »bedarf« keiner Philosophie, anders die ontische Wissenschaft des Glaubens. Sie begründet sich einerseits selbst aus der Christlichkeit ihres Glaubens und bedient sich insofern nicht der Philosophie zur »primären Begründung und Enthüllung ihrer Positivität, ihrer Christlichkeit«. Sie gründet also nicht in der Philosophie (= Ontologie). Andererseits jedoch bedarf die christliche Theologie mit Rücksicht auf ihre Wissenschaftlichkeit sehr wohl der Philosophie.58 Wie ist das näherhin zu verstehen? rische Wissenschaft in der chronologischen Zeit reduziert und fokussiert ist, durch eine methodische Ausblendung der existenzial-ontologisch verstehbaren Zeit möglich wird, in der sie fundiert ist und bleibt. »Historizität […] ist als Seinsart des fragenden Daseins nur möglich, weil es im Grunde seines Seins durch die Geschichtlichkeit bestimmt ist.« (M. Heidegger, GA, Bd. 2: Sein und Zeit, 28) Existenziale Zeit besagt, dass das Dasein entrückt hinaussteht in das Offene der Zeit, die Kommendes, Gewesenes und Anwesendes umfasst. Das in historischer Forschung methodisch Reduzierte kann aber als geschichtlich Geschehenes rückgängig gelesen und so aufgehoben werden. Dann kommt im Gegenwärtigsein das volle Zukünftigsein des Gewesenen jeweils neu in Frage. An der historisch feststellbaren Faktizität ist daher die existenziale und existenzielle Bedeutung geschichtlichen Geschehens nicht unmittelbar ablesbar. Aus diesem in »Sein und Zeit« ausgearbeiteten Zeitverständnis, das mit der Heidegger-Rezeption Bultmanns nicht einfach gleichzusetzen ist, könnte die spezifische Geschichtlichkeit des Offenbarungsgeschehens im Sinne Heideggers eine tiefer gehende Aufklärung finden, von welcher der gegenwärtige Theologiebetrieb aber großteils weit entfernt ist. Hierin liegt auch ein wesentlicher Grund, das ,Positum‘ der Offenbarungstheologie von dem der Spezialwissenschaften – wie etwa der Chemie – abzugrenzen und umfassender zu sehen, worauf Heidegger bald selbst hingewiesen hat: »Meine Fragestellung im Vortrag ist bezüglich der Theologie als Wissenschaft nicht nur zu eng, sondern unhaltbar. Die Positivität der Theologie, die ich zwar glaube getroffen zu haben, ist etwas anderes als die der Wissenschaften. Theologie steht in einer ganz anderen Weise als die Philosophie außerhalb der Wissenschaften.« (R. Bultmann/M. Heidegger, Briefwechsel 1925–1975, 87; Brief an R. Bultmann vom 18. Dezember 1928; vgl. dort auch 233 Anm. 5. 56 M. Heidegger, Phänomenologie und Theologie. Zur Wissenschaftlichkeit der Theologie, in: GA, Bd. 9, 55– 61, hier 61. 57 Vgl. a.a.O., 59 f. Siehe oben 2.1.3. 58 Vgl. a.a.O., 61. Dass nach Heidegger der Philosoph als solcher nichts vom christlichen Glauben eigentlich wissen kann und hier als »Theologe des christlichen Glaubens« spricht, ist kein Wider-
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Glaube ist johanneisch verstanden »Wiedergeburt«, paulinisch »neue Schöpfung«.59 In ihm ist die vorchristliche, »vorgläubige, d.i. ungläubige Existenz des Daseins aufgehoben«. Aufhebung besagt hier, dass das existierende Dasein existenziell-ontisch nicht beseitigt, sondern erhalten, aufbewahrt und existenziell überwunden wird.60 Nun bewegt sich alle ontische Auslegung implizit auf dem Grund einer Ontologie, verweist auf einen »primären geschlossenen Seinszusammenhang«, der in seiner ursprünglichen Ganzheit zu explizieren ist. Was in den Grundbegriffen der Theologie (wie Sünde, Kreuz) ontisch aufgehoben liegt (wie Schuld, Tod), ist zwar existenziell ohnmächtig, birgt aber einen existenzial-ontologisch »bestimmenden vorchristlichen und daher rein rational fassbaren Gehalt. Alle theologischen Begriffe bergen notwendig das Seinsverständnis in sich, welches das menschliche Dasein als solches von sich aus hat, sofern es überhaupt existiert.«61 Die Ontologie fungiert hier nicht direktiv, sondern nur mitanleitend, korrektiv, d.h. die glaubensmäßige Ursprungsenthüllung der theologischen Begriffe freigebend und anweisend. Zusammenfassend: Philosophie ist (nicht für sich selbst, sondern nur von der Theologie her) »das formal anzeigende62 ontologische Korrektiv des ontischen, und zwar vorchristlichen Gehaltes der ontologischen Grundbegriffe«.63 Heideggers Anliegen ist es, eine »Kommunikation« bzw. »mögliche Gemeinschaft von Theologie und Philosophie als Wissenschaften« unter Wahrung ihres Eigenwesens und das heißt, ohne Vermengung (»schwächliche Vermittlungsversuche«) zuzulassen. Er hatte sich damals von einem politisch verfestigten Weltanschauungs-Katholizismus abgewandt und berief sich auf Luther: Ein primär glaubendes Fragen nach einer ursprünglicheren Auslegung des Seins des Menschen zu Gott soll vor der Verdeckung und Verzerrung, vor einem philosophischen Begründungsanspruch und vor unangemessener Begrifflichkeit bewahrt werden. Eine solche, primär glaubend fragende Theologie (womit meines Erachtens Heidegger gar nicht ausdrücklich ausschließt, dass es im Glauben sekundäre Bindungen geben könne, wie kirchlichen Konsens, spruch, wie P. Brkic, Martin Heidegger und die Theologie, 84 ff., meint. Nur in der Personalunion des Philosophen und Theologen kann der Anspruch, ein solches Verhältnis von Theologie zu Philosophie bestimmen zu wollen, erhoben werden. 59 M. Heidegger, Phänomenologie und Theologie, in: GA, Bd. 9, 53. 60 Wir begegnen hier einer bestimmten (harmatiologischen) Auslegung des theologischen Axioms, wonach die Gnade (Offenbarungswirklichkeit) die Natur (Schöpfung) voraussetzt und vollendet (gratia supponit et perficit naturam), die noch zu berücksichtigen sein wird. 61 A.a.O., 63. 62 Mit formaler (begrifflich allgemeiner) Anzeige »kommt zum Ausdruck, dass alle philosophischen Begriffe von bloß hinweisendem und prohibitivem Charakter sind (d.h. die Aufgabe haben, von einem im Verfallen des Daseins gründenden stets möglichen Irrweg fernzuhalten)«. Vgl. H. Vetter, Art. »Anzeige, formale«, in: Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe, 36 f. (dort Lit.). 63 M. Heidegger, Phänomenologie und Theologie, in: GA, Bd. 9, 65.
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Lehramt) ist anderer Art als das der Philosophie eigene »freie Fragen des rein auf sich gestellten Daseins«.64 Wie ich es sehe, geht es aber bei Heidegger gar nicht so sehr um den Gegensatz von freiem, nicht fremdbestimmtem Fragen autonomer Philosophie und unfrei gebundener Gläubigkeit, die er als depravierte versteht, sondern um ein für das Sein und vom Sein her offenes Fragen (,frei‘ im Sinne von offen für das Vernehmen des Seins!) im Gegensatz zu einem sachgerechten Fragen aus dem Glauben der im Dasein gegründeten Existenz. Dem entsprechend definiert er christliche Theologie später als »eine denkend fragende Durcharbeitung der christlich erfahrenen Welt [des In-der-Welt-seins, Daseins], d.h. des Glaubens«.65 Theologie kann aber zur vorstellenden Verwaltung von ontisch Gewusstem herabsinken, ohne fragend auf die ursprüngliche Erfahrung aus dem Glauben und für den Glauben einzugehen, d.h. unter Hintanhaltung der (bleibenden!) Frag-Würdigkeit der Christlichkeit des zu Glaubenden. Dadurch würde dann weder eigentlich geglaubt, noch eigentlich gefragt: »Wem z.B. die Bibel göttliche Offenbarung und Wahrheit ist, der hat vor allem Fragen der Frage: ,Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?‘ schon die Antwort: Das Seiende, soweit es nicht Gott selbst ist, ist durch diesen geschaffen. Gott selbst ,ist‘ als der ungeschaffene Schöpfer. Wer auf dem Boden solchen Glaubens steht [der sich Gott und Welt als Seiende vorstellt], der kann zwar das Fragen unserer Frage in gewisser Weise nach- und mitvollziehen, aber er kann nicht eigentlich fragen, ohne sich selbst als einen [auf diese Weise!] Gläubigen aufzugeben mit allen Folgen dieses Schrittes. Er kann nur tun, als ob …«,66 d.h. man fragt in Wahrheit gar nicht, will es und kann es gar nicht, weil »man eine Antwort auf die Frage bereits besitzt, und zwar eine Antwort, mit der zugleich gesagt wird, dass man gar nicht fragen darf«.67 Sowohl die im bloß ontischen Vorstellen verbleibenden Antworten einer solchen Theologie als auch aus ursprünglicher Glaubenserfahrung geschöpfte haben zur Frage nach dem Sinn von Sein des Seienden keinen Bezug, d.h. zumindest direkt kann das keine Frage des christlichen Glaubens sein. d) Kritische Anfragen an Heideggers Verhältnisbestimmung von Philosophie und Offenbarungstheologie An Heideggers Verhältnisbestimmung von Philosophie und Theologie sind eine Reihe von Anfragen zu richten. Ausgewählt seien hier nur zwei, da sie mir für die 64 Vgl. dazu gut belegt P. Brkic, Martin Heidegger und die Theologie, 78– 63. 65 M. Heidegger, GA, Bd. 40: Einführung in die Metaphysik, 9. 66 A.a.O., 8 f. 67 A.a.O., 151. Siehe dazu auch den dritten Exkurs »Zum Versagen der Gründlichkeit der Frage in der Metaphysik«: 3.2.1 c).
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wissenschaftstheoretische Ortsbestimmung der Theologie wichtig erscheinen. Erstens: Was bedeutet es für eine christliche Theologie, wenn für sie das Christliche des Christentums »Christus, der gekreuzigte Gott«, ist? Zweitens: Spricht dieses Positum nur für eine Verwandtschaft mit Fachwissenschaften oder nicht auch für eine mit der Philosophie? Zur ersten Frage: Ist das wesenhafte Zentrum christlichen Glaubens wirklich nur Jesus Christus? Ist folgerichtig christliche Offenbarungstheologie »ihrem Wesen nach neutestamentliche Theologie«?68 Ist diese Aussage exklusiv oder nicht doch präzisiv offenlassend? Gehört zum Christlichen der Theologie nicht dessen ewig es tragendes Verwurzeltsein im Alten Testament (vgl. Röm 11,17 f.)? Ohne Altes Testament ist das Neue gar nicht verständlich, insofern »das Heil von den Juden kommt« (Joh 4,22). Man denke nur daran, welches Licht erlischt, wenn ,Christus‘ nur mehr als Eigenname und nicht mehr als Übersetzung für das hebräische ,Messias‘, den königlich Gesalbten, verstanden wird und die messianische Erwartung aus dem Christentum verschwindet.69 Christliche Theologie ist Theologie des Juden Jesus, welcher der Messias ist (vgl. z.B. Apg 9,22, Joh 20,31), ist also jüdisch-christliche Theologie. Es ist beispielsweise für Paulus (Röm 1,1–3) das »Evangelium Gottes« jenes Evangelium, das Gott »zuvor verheißen hat durch seine Propheten in den heiligen Schriften, von seinem Sohn […]«. Aus ihnen schöpft er in seiner Verkündigung. Nun wird das von Heidegger zwar gar nicht ausdrücklich bestritten, aber durch die exklusive Zuordnung der Theologie zu den Spezialwissenschaften mit ihrem ontisch partikulären Horizont wird doch eine Art von ,Christozentrik‘ nahegelegt, welche die innere Universalität der Offenbarungstheologie einengt. Was besagt hier christozentrische Einengung des Verständnishorizontes? Im Gegenzug zu Christus als dem ,gekreuzigten Gott‘ tritt der Gott Jesu Christi, um den und um dessen Herrlichkeit (dóxa) es Jesus doch bleibend geht, in den Hintergrund,70 und 68 M. Heidegger, Phänomenologie und Theologie, in: GA, Bd. 9, 75. 69 Gegenläufig dazu vgl. beispielsweise die Herausarbeitung der messianischen Bedeutung des Römerbriefes durch G. Agamben, Die Zeit, die bleibt, bes. 11 f., 26 –29. 70 Prekär erscheint, dass die Christlichkeit des Christentums an einem bloßen Theologumenon festgemacht wird, dem vom ,gekreuzigten Gott‘ (deus crucifixus). Gewiss, es ist sehr alt, schon bei afrikanischen Kirchenvätern nachweisbar, zuerst bei Tertullian († nach 220), dann bei Cyprian († 258) von Karthago. Doch schon Tertullian behauptet, dass keinesfalls Gott Vater gelitten habe, gekreuzigt worden und gestorben sei, da »der Gott, der den Sohn (nur insofern) verließ, als er den Menschen (Jesus) in den Tod gab, selber leidensunfähig sei« (vgl. E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt: Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, 85 f.). Wie Heidegger den Ausdruck »der gekreuzigte Gott« näherhin verstanden hat, muss offen bleiben. Er setzt die Bekanntheit dieses Theologumenons voraus und scheint sich auf Luthers Kreuzestheologie zu beziehen, die für Luther Richtmaß und Ort wahrer Theologie überhaupt war (vgl. J. Wolff, Metapher und Kreuz. Studien zu Luthers Christusbild, § 11: »Das gekreu-
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damit auch, dass das Evangelium, das Jesus verkündet hat: das »Evangelium des Gottes« und das nahe gekommene »Königtum des Gottes« ist (Mk 1,14 f.), zu dem der »Mensch« Jesus Christus sich als »der Weg« (Joh 14,5) und »Mittler zwischen Gott und (den) Menschen« (1 Tim 2,5) erweist. Und am Ende übergibt er dessen Königtum »Gott, dem Vater […], damit Gott herrscht über alles und in allem«. (Vgl. 1 Kor 15,23–28) Auch wenn die ursprüngliche Bedeutung von ,Theo-logie‘ das »Wort des Gottes« ist, das von Gott ausgeht und zu ihm zurückkehrt, ist christliche Theologie doch eine solche, in welcher ,der Gott‘ (ho theós), der Vater Jesu Christi, die thematische Gegenstandsangabe für eine Wissenschaft (-logie) ist. Sprengt aber dann nicht das präzisiv wohl unbestreitbare Positum christlicher Theologie – Jesus, der Messias, den Gott an seine Seite geholt hat (vgl. Apg 2,33a) – nicht jede Fixierung auf einen fachwissenschaftlich und ontisch abschließenden Horizont? Damit kommen wir zur zweiten Anfrage, die den universalen Horizont christlichen Daseinsverständnisses hervorhebt und ein über die Philosophie hinausgehendes Eingehen auf die Abgründigkeit des Seins selbst für möglich und notwendig hält. Um diesen universalen Horizont der christlichen Botschaft zu verdeutlichen, genügt es, kursorisch auf die zu oft vernachlässigten »Allhaftigkeitsaussagen« zigte Miteinander von Gott und Mensch in Jesus Christus«, 408–448). Schon beim jungen Luther (Werke, Bd. 1, 614) taucht der Gegensatz zwischen einer theologia gloriae und seiner theologia crucis auf. Die Verborgenheit der Weisheit Gottes im schmachvoll gekreuzigten Gott wird der Gotteserkenntnis der Heiden und ihrer von der scholastischen Theologie rezipierten Metaphysik entgegengesetzt. Diese kennt angeblich nur den herrlichen Gott (deus gloriosus) in seinen metaphysischen Eigenschaften (Allmacht, höchstes Gut, Ziel des Eros), und kennt sie wiederum nur aufgrund einer sich und die Welt glorifizierenden, also sich aufblähenden und verblendeten ,Weisheit‘. – Man wird Heideggers Verständnis vom gekreuzigten Gott keine entmythologisierende Bedeutung unterstellen können, und zwar im Sinne Bultmanns, der übrigens Mythos nicht von Mythologie (mythologischer Weltanschauung bzw. Weltbild) unterschieden hat. Aber auch ein tragischer, mythologischer, in das Welt- bzw. Seinsgeschehen verstrickter Gott wird nicht behauptet. Auch dass Heidegger die dialektische Lutherrezeption des Todes Gottes bei Hegel als Negation in Gott selbst wohl nicht entgangen ist, führt hier kaum weiter. Ungeklärt bleibt, wie in Christus (Jesus, dem Messias) Gott selbst ein menschliches Schicksal angenommen hat und wie das Wesen (Sein) dieses Geschicks (als heilsgeschichtliches Geschehen) zu denken ist. Fraglich bleibt auch, ob Jesus gerade als gekreuzigter »Gott« (Theós) überwiegend von seinem Tod am Kreuz (Karfreitag) her oder von seiner Vollendung in Auferweckung und Erhöhung (Ostern und Pfingsten) her verstanden wird. Auch scheinen eine Schöpfungstheologie, die sich darauf bezieht, dass Seiendes zu ureigenstem Sein freigegeben wird, und eine (sie begründende) Inkarnationstheologie abwesend zu sein. Rückblickend müsste man vor jeder Erörterung der Frage, wie der Tod Jesu keine bloß menschliche, sondern eine Gottesaussage sein kann, bedenken, dass erstens die wenigen neutestamentlichen Textstellen das Prädikat Théos ohne Artikel von Christus im Hinblick auf seine göttliche Natur aussagen. Und zweitens: Im Unterschied zu diesen Theos-Stellen ohne Artikel bezeichnet Theós mit Artikel im Neuen Testament in allen Fällen den Gott und Vater Jesu Christi bzw. die erste trinitarische Person. Dazu ausführlich K. Rahner, Schriften zur Theologie, Bd. 1: Theos im Neuen Testament, 91–167, hier 145, 153–156.
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im Neuen Testament zu verweisen:71 Im Prolog des Johannes-Evangeliums ist der fleischgewordene Logos auf ,den Gott‘ hin ausgerichtet (prß tn ϑen), d.h. dem Vater Jesu Christi zugewandt, dessen Auslegung (Exegese) er ist (vgl. Joh 1,1b und 18c, 1 Joh 1,1–2a). Dem entspricht, dass er im Glauben als »Gott von Gott« (Deum de Deo) bekannt wurde. Es wurde also nicht der ,eine Gott‘ Mensch, wie eine undifferenziert monopersonalistische oder antiarianische Vulgärtheologie dies provokant missdeutet, und folgerichtig kann auch nicht der ,eine Gott‘ (»der Herrgott«, wie man sagt) gekreuzigt worden sein. Im Christushymnus des Kolosserbriefes (1,15–20)72 ist der Sohn die einzige und legitime menschliche Erscheinungsgestalt Gottes, »die Ikone des unsichtbaren Gottes«, Gottes Offenbarungsbild für die Menschen. Lesen wir das im Kontext paulinischer Theologie:73 Gottes Herrlichkeit erfüllt das All, wird aber von den Sündern mit der falschen Herrlichkeit, mit Falschbildern, vertauscht, denn man verehrt herrliche Geschöpfe schon als göttliche Macht statt als Wink (Numen) seiner Macht und als Gabe des Gottes. Nun ist aber »das All [der Seienden; die Gesamtheit aller sich ereignenden Dinge, das Universum, die Schöpfung: t! p1nta] durch ihn und auf ihn hin geschaffen. Und er ist vor allem. Und das All hat in ihm Bestand.« Christus ist nicht ontisch vor aller Schöpfung, sondern das Worumwillen und der Sinngrund der ganzen Schöpfung. Und so bildet er den Anwesenheitsraum für alles das, was in der Schöpfung ist, geschaffen wurde und sich geschichtlich ereignet. In ihm konzentriert sich die Herrlichkeit Gottes, mit der die Welt erfüllt ist. Er ist »Mittler der Gegenwart Gottes im Kosmos. In Christus ist Gott im Universum zugegen.«74 Dadurch ist er nicht nur der »Erstgeborene aller Schöpfung«, sondern darüber hinaus auch durch seine Friedensstiftung am Kreuz der »Anfang [die 2rc allen Auferstehens], Erstgeborener aus den Toten, damit er werde in allen der Erste [prwtewn]«. Aber dies ist nur möglich, weil es dem Gott »gefiel, in ihm [dem Menschen Jesu] die ganze Fülle [seines lebenspendenden Schöpfergeistes] wohnen zu lassen« und »Frieden stiftend durch das Blut seines Kreuzes« den Missbrauch der Schöpfung durch Idolatrie wieder gutzumachen, d.h. die Idolatrie geschöpflicher Dinge abzuwenden, alles Erschaffene neu auf Christus hin auszurichten und so das All durch ihn und auf ihn hin zu versöhnen. »In seiner Auferstehung ist sie [die Schöpfung] von der Idolatrie erlöst, und für den mit Christus
71 Zum Verständnis der sogenannten biblischen »Allhaftigkeitsaussagen« vgl. R. Guardini (1991b), Das Wesen des Christentums, 55–67. 72 Ich folge hier weitgehend N. Kehls Deutung: Der Christushymnus im Kolosserbrief. 73 Auf die Verwerfung der Weisheit der Welt durch Paulus im 1. Korintherbrief muss später eingegangen werden. 74 N. Kehl, a.a.O., 123.
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auferstandenen Menschen ist sie christustransparent geworden.«75 Leuchtet uns im Herzen die »Herrlichkeit Gottes im Antlitze Jesu Christi« (1 Kor 4,6) auf, so ist die Welt erneut in Christus transparent. Im Grunde ist es also doch der Gott, der Vater Jesu Christi, der so »durch ihn« alle Welt, auch die Menschen untereinander, versöhnt. Wir verdanken demnach das alles dem Vater: Er hat uns »in das Königtum des Sohnes seiner Liebe [der Liebe des Vaters]« versetzt. (Kol 1,12 f.) Im Brief an die Philipper 2,6 wird von der Daseinsweise Jesu Christi in Gott gesprochen, der von seinem Ursprung her ein »Sein [!] gleich dem Gott« hatte. Eine solche Ranggleichheit wird in einigen Allhaftigkeitsaussagen der Apokalypse eindeutig zu erkennen gegeben. Die Allhaftigkeit des ewigen Gottes wird dem Sohn ähnlich zugesprochen, und zwar im Verhältnis zur Zeit, wobei zu bedenken bleibt, was das heißt. – Im Offenbarungswort 1,8 eröffnet ,der Gott‘ selbst, wer er ist: »Ich bin das Alpha und das Omega«, das heißt »der Anfang und das Ende« (21,6; vgl. 1,4), der Ursprung und das Ziel, und weiter auch der Schöpfer und Vollender aller Geschehnisse. Als dieser ist er jener, »[…] der da ist ( n) und der da war und der da kommt, der Allherrscher«. Ähnlich, aber nicht identisch ist die Selbstaussage Jesu 22,13: »Ich [bin] das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende (t tloß).« Das Ende ist Vollendung, Ausgang und Erfüllung für alles Geschaffene. Also doch wieder eine Allheitsaussage, aber unter Einbeziehung des menschlichen Daseins und Geschicks Jesu: Er ist der, der ein Toter war und nun der Lebendige ist (1,17; 2,8). Dies sagt er da von sich aus. Er ist es, der die Geschichte in ihrem wirklichen Geschehen und ursprünglichen Sinn an den Tag treten lässt, da er sie wie ein versiegeltes Buch öffnet. So steht der messianische Sieger am Kreuz nun in Macht und Würde da als das Lamm »gleichwie geschlachtet« (5,6) – der Gekreuzigte, aber nicht als gekreuzigter Gott. Die Selbstaussage des Vaters Jesu Christi bezieht sich in Offb 1,8 auf sein Anwesen in der Zeit. Er ist der, der immer schon da ist ( n), und zwar als der schon gegenwärtig Anwesende in den Dimensionen des Gewesenseins und des Seins, das im Kommen ist. Diese literarisch gefasste Aussage und Selbstzusage der Anwesenheit ist eine aus dem Theophanieverständnis geschöpfte. Die Formulierung greift auf die Septuaginta zurück, die griechische Bibelübersetzung des Alten Testamentes, in der Ex 3,14 mit ego eimi ho ôn (g em n) übersetzt wurde, wortgetreu: »Ich bin der Seiende, der Selberanwesende, der Sich-selbst-Offenbarende«, auf den im Grunde immer gebaut werden kann. Daher erklärt sich auch die Undekliniertheit von ho ôn, das wohl für griechische Ohren wie ein Fremdwort klingen sollte. Diese Selbstzusage wurde für die griechisch sprechenden Juden zum Gottesnamen, der zu 75 A.a.O., 160.
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verehren ist. Wir finden also diesen Gottesnamen in neutestamentliche Allheitsaussagen der Apokalypse eingearbeitet, die Gott, den Allherrscher, im Verhältnis zur Zeit aussagen,76 und zwar nicht zur Zeit, die vergeht, sondern zu der von ihm angefangenen und in ihm vollendeten Zeitlichkeit. Das eröffnet vermutlich die christliche Erfahrung des sich zeitigenden Geschöpfseins, wozu mir heute der Weg des Verständnisses weithin verstellt erscheint. Um der folgenschweren Übersetzung von Jahwe mit ho ôn näherzukommen, muss beachtet werden, dass mit »der Seiende« kein unpersönliches Seiendes (t n), sondern Seiendes ,in Person‘ genannt wird. Damit ist mehr gesagt, als nur, dass da ein ausgezeichnetes Seiendes ist, das von sich aus offenbar wird, sich in seiner Wahrheit zeigt: Es geht hier um das Offenbarwerden von jemandem, der den Bereich seines Vernehmenkönnens von sich aus selbst offenhält und dazu seine namentliche Anrufbarkeit mit »Der Seiende« begründet. Die Übersetzung von Jahwe mit ho ôn sucht so dem situativ gebundenen Gehalt der Theophanie zu entsprechen. Verliert man diesen Zusammenhang, so wird dieser »Der Seiende« zu etwas, das man sich wie Vorhandenes vorstellt. Gegen die Übersetzung von Jahwe mit ho ôn konnte daher zu Recht protestiert werden, insofern man sich darunter einen blutleeren, abstrakten Begriff oder den Namen für ein substanzielles Etwas von unvorstellbarem Ausmaß vorgestellt hat. Jedoch ist gegenüber einer nominalen bzw. substantivischen Lesart von »Der Seiende« die verbale Lesart, die erfahrungsnah vom im ,Da‘ Anwesenden ausgeht, vorzuziehen, besonders wenn ein theophanes Sichereignen von Anwesen wie in Ex 3,14 zur Sprache kommen soll. O n als Gottesname besagt dann, dass es jener sich selbst uns zusagende Gott ist, ,der da ist, der da anwesend ist, der da west‘. Nur dieser Name, insoweit für die Unergründlichkeit seines Ins-Anwesen-Kommens eine unverstellte Empfänglichkeit besteht, nennt etwas von Gottes nicht abstraktem verbalem ,Anwesen‘ oder besser ,Mitanwesen‘ in allem. Das Neue Testament schließt dies weiter auf, da nun auch Jesus Christus in Joh 1,18 der »einzig gezeugte Gott, der Da-Anwesende ( n)« genannt wird. Er wird als der, »der im Schoß des Vaters ist«, erblickt, der den Gott und Vater, den niemand ,gesehen‘ hat, auslegt und offenbart. Nach dem Gesagten scheint mir mit dem griechischen Gottesnamen erstens die Dimension des sich zeitigenden Seins des Seienden in seiner Abgründigkeit sowie die Göttlichkeit seiner Her- und Zukunft angesprochen. Zweitens ist die theologische Auslegung von n als Gottesname nicht auf ein bloß ontisch-partikuläres Verständnis festzulegen; ihr Anspruch ist ein universaler im Verhältnis zum Seienden 76 Vgl. Offb 1,4; 1,8; 4,8; 11,17; 16,5.
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in seinem Sein. – Die gegebenen Hinweise auf die Allhaftigkeitsaussagen dürften genügen, um für die jüdisch-christliche Theologie eine enge Verwandtschaft mit der Philosophie anzunehmen. Und das kann auch gar nicht anders sein, wenn das, worum es im Philosophieren geht (Mensch und Welt bzw. das Seiende in seinem Sein), Adressat der Offenbarung (der Selbstmitteilung des Vaters Jesu Christi und seines Geistes) ist. Den beiden Wissenschaften, der Philosophie und der Theologie christlich-jüdischer Offenbarung, ist dann ein jeweils anderer Bezug zum Ganzen (Universum) und zum Grund gemeinsam, der so etwas wie eine »ihrem Wesen nach offene Partnerschaft«77 begründet. Wie gesagt, erschöpft sich der thematische Gegenstand der jüdisch-christlichen Offenbarungstheologie nicht in einem ontisch-partikulären Positum. Sie hat es nicht nur propädeutisch oder instrumentell mit Philosophie als einer universalen Wissenschaft zu tun, sondern sie kann der Ontologie im Herzen der Offenbarungstheologie gar nicht ausweichen. Sie gehört immer und notwendig zu ihrem Vorverständnis, und zwar nicht nur, weil – wie Heidegger es sieht – ihre Grundbegriffe notwendig ein lebendiges, zusammenhängendes Sichverstehen auf das Daseinsganze mitbringen, d.h. »das Seinsverständnis« bergen, welches »das menschliche Dasein als solches von sich aus hat, sofern es überhaupt existiert«.78 Vielmehr setzt alle Selbstoffenbarung Gottes voraus, dass das menschliche Dasein und seine Welt insgesamt auf Heiliges, Göttliches und Gott hin ansprechbar und auslegbar ist, und zwar dass es nicht nur naturhaft die Möglichkeit und Bereitschaft mitbringt, auf Gottes Wort zu hören, sondern auch sein Gegründetsein im Heiligen oder Göttlichen, in Gott oder Göttern, zu artikulieren. Offenbarungstheologie ist auch hierin auf ein Gespräch mit der Philosophie angewiesen. Im Philosophieren geht es, wie gesagt, um den offenen Bezug von Mensch und Welt, um das Sichverstehen auf das Daseinsganze im Blick auf das Sein. Aber gerade dieser Bezug zum Ganzen des Seienden in seinem Sein bringt die stete Fragwürdigkeit des Seins als ,Grund‘ mit sich. Und hier ist es schon die philosophische Theologie, welche die Abgründigkeit des Seins nicht für nichtig hält, sondern für gegründet, und sie in weiterer Folge als Schöpfung aufzuweisen sucht. Hier begegnen einander Interessen der Philosophie und der Offenbarungstheologie. Doch nach dem modernen Daseins- und Weltverständnis, das einen Pluralismus der Philosophien und Weltanschauungen kennt und weitgehend (wenigstens) methodisch atheistisch ist, ist die aufgezeigte Sicht einer Partnerschaft vielfach in Frage gestellt. Die Theolog/inn/en der Offenbarung sind selber auf ein eigenes Philosophie77 Hierzu vgl. beispielsweise W. Kasper, Die Wissenschaftspraxis der Theologie, 262. 78 M. Heidegger, Phänomenologie und Theologie, in: GA, Bd. 9, 63.
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ren angewiesen oder machen eklektisch von verschiedenen Philosophien Gebrauch. In dieser Situation wird auch die Absetzung von Philosophie verständlich, die als ungläubige Weltweisheit gebrandmarkt wird.79 In gewisser Weise hält Heidegger auch an der theologischen Prämisse fest, dass der Glaube jener »spezifische Existenzübergang« ist, dessen Übergang aus der »vorchristliche[n] Existenz« zur »christliche[n] Existenz« einen Übergang von der »ungläubige[n] Existenz« zur »gläubigen Existenz« besagt.80 Im Glauben ist die »vorgläubige, d.i. ungläubige Existenz des Daseins […] in die neue Schöpfung hinaufgehoben, in ihr erhalten und verwahrt«. Was Heidegger hier nur anspricht, könnte durch das Offenbarungsverständnis seines Freundes, Rudolf Bultmann, erhellt werden. Übergang von vorgläubiger zu gläubiger Existenz will nicht nur oder überhaupt nicht sagen, dass die ,übernatürliche‘ Heilsgnade die menschliche Natur bejaht, aufnimmt, transformiert und vollendet, sondern dass der natürliche Mensch seiner Existenzweise nach, die er selbst verantwortet hat, Sünder ist. Kommt es nun aus der »vorgläubigen«, vor einer Verkündigung stehenden, und aus der »ungläubigen«, die Verkündigung abweisenden, Existenz zur gläubigen Existenz, dann ist die ungläubige Existenzweise nicht einfach verschwunden, sondern die christliche Existenz ist nun eine ungläubige und glaubende zugleich (simul iustus et peccator), und zwar im steten Übergang vom Unglauben zum Glauben, von Sünde zu Rechtfertigung. Ja, nach Bultmann ist »der Unglaube die Grundverfassung des menschlichen Daseins überhaupt«: Ja, er »konstituiert« es.81 Daher kann es auf dieser Basis ohne christlichen Offenbarungsglauben, welcher »die einzig mögliche Zugangsart zu Gott« ist,82 keine natürliche Theologie geben, die vom wirklichen Gott redet. Bultmanns Abweisung einer natürlichen bzw. philosophischen Theologie setzt generalisierend voraus, dass der Grund für die Philosophie, von Gott zu reden, nicht in einer Begegnung mit Gott liegen kann, zumal sie die Existenz Gottes »in dem alten vorkierkegaardschen Sinne versteht«, nämlich als »das reale Vorhandensein«83 und somit als ein weltliches (natürliches) Phänomen. Aber auch alle Religion ist außerhalb des Glaubens, denn sie »steckt im Unglauben, im Götzendienst. Der Glaube weist den Gedanken ab, dass sich überall in den Religionen und in den Frommen Gott offenbare.«84 Ein philosophischer und ebenso ein religiöser Glaube, der noch nicht ein explizit christlicher ist, ihn nur vorbereitet und ihm entgegenkommt oder gar implizit schon ein christlicher ist, wird damit verworfen. 79 Auf die Verwerfung der Philosophie durch Paulus in der Sicht Heideggers ist noch einzugehen. 80 M. Heidegger, Phänomenologie und Theologie, in: GA, Bd. 9, 63 und Anm. 1. 81 R. Bultmann, Das Problem der »Natürlichen Theologie«, 309. 82 A.a.O., 294. 83 R. Bultmann, Zur Frage einer »Philosophischen Theologie«, 105 f. 84 R. Bultmann, Das Problem der »Natürlichen Theologie«, 299.
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Das knapp Referierte kann hier noch nicht ausreichend diskutiert werden. Zu fragen wäre, ob es nicht doch eine leichtfertig moralisierende Anmaßung darstellt, eine nicht ausdrücklich im christlich-neutestamentlichen Glauben stehende Existenz generalisierend als ungläubige und sündige zu bezeichnen. Biblisch – und man müsste hier vor allem auch das alttestamentliche Glaubensverständnis einbeziehen – ist ein solcher Exklusivismus nicht haltbar;85 man denke nur an den Hauptmann Cornelius (vgl. Apg 10), der mit seinem ganzen Haus »fromm und Gott fürchtend« war und nun ohne Abkehr von einem Götzendienst sowie ohne Bekehrung wie Paulus in das christliche Dasein explizit hineinwachsen konnte. Sollte hingegen Gott nur durch die ausdrücklich kirchliche Verkündigung Jesu Christi erfahrbar sein, so wird eine total entgöttlichte Welt vorausgesetzt. Das mag einer untergründig nihilistischen Grundstimmung unserer Zeit entgegenkommen, insofern die Welt als Schöpfung Gottes weitgehend aus dem Daseinsverständnis verschwunden ist. Auch steht kirchliche Theologie in der Gefahr, sich gegenüber allen Philosophien auf einen theologischen Positivismus zurückzuziehen und im fundamentalistischen Biblizismus zu verkommen.86 Dieser theologische Positivismus verengt das geschichtliche Offenbarungsereignis, indem er es nur in seiner gottgegebenen geschichtlichen Positivität, d.h. Tatsächlichkeit und aktualen Ereignishaftigkeit, gelten lässt, und zwar unter Ausklammerung des Weltbezugs bzw. einer die notwendigen Vorgegebenheiten der Theologie bedenkenden eigenständigen Philosophie. Das trifft freilich nicht für Bultmann zu, insoweit auch für ihn »die formalen Strukturen des Daseins, die in der ontologischen Analyse [Heideggers] aufgewiesen werden, ,neutral‘ [sind], d.h. sie gelten für alles Dasein. Sie gelten also auch für das Dasein, an das sich die Verkündigung wendet, für das ungläubige Dasein wie für das gläubige, das nur in ständiger Überwindung des Unglaubens glaubt.«87 Das Gesagte sei kurz zusammengefasst: Philosophie geht vom Sein des Seienden im Ganzen aus. Ihr Horizont (das Formalobjekt) ist das ens sub ratione esse entis, oder genauer das Sein als Sein und somit als Konstituens des Seienden. Dieses ist im Hinblick auf seinen Sinn, seinen letzten Grund, seine Anfänglichkeit und Zukunft auf das Heilige und Göttliche, auf die Gotteserfahrung hin ansprechbar und bildet den Horizont philosophischer Theologie. Christliche Offenbarungstheologie nimmt demgegenüber einen anderen Ausgang. Das philosophisch (besonders in seinem Grund und Ganzen) erschlossene Dasein ist ihr die notwendige Vorgegebenheit (als Vor85 Zur religionsphilosophischen Diskussion um den Exklusivismus siehe unten 2. Kap., 5. 86 Vgl. zum theologischen Offenbarungspositivismus K. Rahner, Schriften zur Theologie, Bd. 8: Philosophie und Philosophieren in der Theologie, 69 –73. 87 R. Bultmann, Das Problem der »Natürlichen Theologie«, 312.
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aussetzung, Adressat des apostolisch-kirchlichen Kerygmas) für die geschichtliche Selbstoffenbarung und Selbstmitteilung (das Wort) Gottes. Es geht in ihr sub ratione Dei revelantis um das innere, uns als Menschen letztlich je immer mehr verborgen bleibende als sich offenbarende Wesen Gottes. Ist der Gott Jesu Christi (durch seine Selbstmitteilung in ihm und seinem Geist) der Urheber und der Vollender des sich zeitigenden Seins (des Gewesenseins, Gegenwärtigseins und Zukünftigseins), so besagt das, dass der ins Sein des Seienden urhebende Schöpfer auch der die Schöpfung durch seine Selbstmitteilung in Jesus Christus und seinem Geist vollendende Erlöser ist. 2.2.4 Lebensweltliche Basis der Wissenschaften Wissenschaften werden vielfach nicht nur als sinnenthüllend und nutzbringend, sondern zugleich auch als nutzlos, lebensfern und -feindlich erfahren, Philosophie und Theologie (bei aller Hochachtung) noch dazu als lebensfremd und illusionär. Sie haben mit lebensweltlicher Erfahrung, mit jeweils meiner und deiner Daseinssorge und Arbeit, mit je meiner und deiner Liebe und je meinem und deinem Leiden und Tod häufig nur wenig zu tun. Sie bleiben im Allgemeinen und letztlich Unverbindlichen. Dennoch wäre heute eine generelle Wissenschaftsfeindlichkeit schon deswegen naiv und im Letzten realitätsfern, weil überall in unserer alltäglichen Gestaltung des Daseins wissenschaftliche Erkenntnis mitspricht – von der Zeugung bis hin zur institutionalisierten Sterbebegleitung. Die faktische wissenschaftliche Durchdringung und Veränderung der Lebenswelt schließt eher ein als aus, dass die Lebenswelt Basis und Quellgrund aller Wissenschaften ist, denn diese gehen nicht nur von ihr aus, sondern beziehen sich auch auf sie wieder zurück. Aber ist diese Grundannahme haltbar? Lässt sie sich phänomenologisch aufweisen oder ist sie eine prinzipiell widerlegbare Hypothese?
2.2.4.1 Vorrang der Wissenschaft gegenüber der Lebenswelt? Einem Primat der Lebenswelt widerspricht heute radikal wie noch nie der Szientismus. Man kann darunter im weitesten Sinn die absolute Autorität der Fachwissenschaften und ihrer Methoden gegenüber der Lebenswelt, aber auch gegenüber der Philosophie und erst recht gegenüber der Theologie verstehen. Im engeren Sinn meint Szientismus, dass es einzig die Naturwissenschaften sind, die angemessene Erklärungen und Beschreibungen der Welt formulieren können. Szientismus genießt heute in gemäßigter Form (d.h. ohne Heilserwartungsmonopol) eine kultur-
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politische Plausibilität. Bestätigt durch die erfolgreichen Veränderungen, welche die Lebenswelt durch wissenschaftliche Praxis erfahren hat, und gepackt von kühnsten und vielversprechenden Zielsetzungen, bestreitet man selbstverständlich nicht so etwas wie eine Lebenswelt, aber die ihr eigene Weltauslegung gilt als das bloß Vorund Außerwissenschaftliche. Aus wissenschaftlicher Sicht wird sie zur bloß subjektiven, d.h. unverbindlichen Erlebniswelt herabgesetzt. Auch wenn sie uns alltäglich als das Wichtigste erscheinen mag, gilt sie doch nur als eine Scheinwelt, der es an ,Objektivität‘ mangelt. Beispielsweise geht für die Erlebniswelt die Sonne auf und unter. Doch die Wissenschaft weiß es längst besser und anders. Aber nicht nur das, sie kann es sogar (etwa durch die Eroberung des Weltraums) tatsächlich visualisieren und ,lebensweltlich‘ erlebbar machen. Durch die Wissenschaften verändert sich weltweit unser Leben und unsere Lebenswelt. Daran führt heute kein Weg vorbei. Der an Variationen und kritischer Potenz nicht arme und äußerst populäre Szientismus kann verkürzt wie folgt umschrieben werden: Die Wissenschaft (als Inbegriff fachwissenschaftlicher Lehre, Forschung und Anwendung) versteht sich stolz als empirische Wissenschaft, da sie direkt aus der Lebenswelt schöpft. Ihre Erfahrung ist bezüglich des Entwurfbereichs eine überschaubar spezielle, die objektive Gewissheit verschafft, intersubjektiver Kontrolle unterliegt und auf die Konstruktion von Wirklichkeitsmodellen und eines maßgebenden Weltbildes hin ausgerichtet ist. Sie verarbeitet die unverlässliche, eben nur subjektive Lebenserfahrung und Erlebniswelt selektiv im Gang der Bestätigung oder Widerlegung ihrer Hypothesen. Sie bestimmt nicht nur darüber, was das Erfahrene eigentlich, d.h. hier vergegenständlicht ist, sondern erarbeitet reiche Möglichkeiten operativer, die Lebenswelt verändernder Eingriffe. Darüber hinaus lassen sich ihre Ergebnisse verallgemeinert zu Synthesen, zu einer Wissenschaftsphilosophie, einem wissenschaftlichen Weltbild (früher auch von ,induktiver Metaphysik‘ beansprucht) verarbeiten oder, anspruchsloser ausgedrückt, durch eine Wissenschaftstheorie überhöhen. Dieser kommt dann die Abklärung der nicht-empirischen Möglichkeitsbedingungen der Forschung zu. Man kann demnach drei Ebenen unterscheiden: 1. die Lebenspraxis (alltägliche Aktivitäten) vor und außerhalb der Wissenschaft; 2. die wissenschaftliche Reflexion über diese Lebenspraxis (als erste Reflexionsstufe); 3. die Reflexion über die Fachwissenschaften (als zweite Reflexionsstufe) als Theorie der Wissenschaften. Während der lebensweltlichen Erfahrung (= 1.) wissenschaftliche Zuverlässigkeit und Kompetenz fehlt, kommt der sie objektivierenden und reflektierenden empirischen
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Forschung (= 2.) der Primat zu, worüber nahezu ein kulturpolitischer Konsens besteht. Die zweite Reflexionsstufe (= 3.) hat unmittelbar mit lebensweltlicher Erfahrung nichts zu tun; sie ist meta-empirisch. Wissenschaftstheorie hat es nicht mehr mit der unmittelbaren Lebenserfahrung und der Verarbeitung der Empirie zu tun. Als Metawissenschaft kommt ihr die größte Erfahrungsdistanz zu. Zudem ist sie für eine wissenschaftliche Weltanschauung anfällig, für monistische Weltbilder und dergleichen.
2.2.4.2 Vorrang lebensweltlicher Subjektivität gegenüber Weltobjektivierung?
Dennoch scheint mir, dass sich trotz eines durch Szientismus bestimmten Bildungsprozesses auch unter Fachwissenschaftlern eine epochal notwendig gewordene Hinwendung zur Lebenswelt abzeichnet, schon deshalb, weil ökologisch bedrohliche und verderbliche Folgen wissenschaftlicher Anwendungen den Sinn für die Verantwortung wecken, die wir gegenüber der Lebenswelt haben. Das legt die Rückfrage nahe, ob nicht nur in verfehlten Anwendungen, sondern auch, ja, dem zuvor, in der degradierenden Bewertung lebensweltlicher Erfahrung als trügerischer Sinnenschein durch Wissenschaft selbst (also nicht im Technischen an sich, sondern in ihrem Weltbild) sich Achtungs- und Schonungslosigkeit im Umgang mit der Umwelt breitmachen. Ein weiteres Zeichen für die Hinwendung zur Lebenswelt findet sich besonders in der Soziologie und in dem über sie 88 wach gewordenen Interesse an der vergangenen und gegenwärtigen Lebenswelt, der in vielen Bereichen (man denke nur an die Soziologie des Wissens!) detaillierte Forschungen gewidmet werden. Wissenschaftliche Forschung vollzieht sich selbst ja in der Vielfalt ihrer Erscheinungsformen in der Lebenswelt (d.h. in lebensweltlichen Bezügen) und ist nur aus ihr verstehbar. Das heißt, sie ist auf unsere Kenntnis des in primärer Selbsterschlossenheit lebensweltlicher Erfahrung Gegebenen angewiesen. Vor und außerhalb aller Wissenschaft sind wir schon in Kenntnis gesetzt, was Mensch- und Selbstsein als Mann oder Frau, als Kind oder Greis, was In-der-Weltsein im Mit- und Füreinandersein, was Lebendigsein von Pflanze und Tier usw. ist. Dass überhaupt Anwesendes (Seiendes) im gegliederten Reichtum seiner Dimensionen, in Geschehen und Bereichen strukturiert zum Vorschein kommt und ins Anwesen (Sein) gelangt, das alles gehört notwendig und bleibend konstitutiv zum Vorverständnis von Wissenschaft. Insofern ist die Lebenswelt (unser Dasein im jeweiligen Weltaufenthalt) stets etwas Vorwissenschaftliches, das heißt, für alle Wissenschaften ist sie die eine, einzige, einigende und unumgängliche Basis. So 88 Genannt seien im Anschluss an Husserl besonders Alfred Schütz und Argon Gurwitsch, vgl. R. Welter, Der Begriff der Lebenswelt. Theorien vortheoretischer Erfahrungswelt.
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großartig und faszinierend die Erforschung der an sich der unmittelbaren Lebenswelt unzugänglichen Makro- und Mikrobereiche in Physik, Geologie und Biologie ist, ohne Rückbindung an unsere Lebenswelt können sie nicht veranschaulicht und verstanden werden. Sie müssen instrumentell indirekt oder direkt (z.B. Weltraumfahrt) aus unserer Lebenswelt und für sie nahegebracht werden, gehören dann zu ihr, erweitern und verwandeln sie nicht unerheblich. Die beklagte Verwissenschaftlichung unserer Lebenswelt hat auch ihre positiven Folgen, wie jeder, dem moderne Medizintechnik geholfen hat, hinreichend weiß. Philosophie (und auch Theologie), der man gerne die Erfahrungsnähe abspricht und im szientistischen Wissenschaftsmodell größte Erfahrungsdistanz zuspricht, lebt unmittelbar aus dem Bezug zur außerwissenschaftlichen Lebenswelt, Lebens praxis, Lebensweisheit, sei es individuelle, gemeinschaftliche, gesellschaftliche, pädagogische oder ökonomische, ökologische, künstlerische, religiöse usw. Sie betrachtet daher die Lebenswelt nicht als ihre zu überwindende Prähistorie, sondern als unüberholbaren Ursprungs- und Quellboden, um den es eigentlich geht. Daher kommt gerade der lebensweltlichen, durch keinen Szientismus getrübten Erfahrungsnähe, wie wir ihr in den archaischen Anfängen der Weltphilosophie begegnet sind,89 eine besonders nachhaltige Denkwürdigkeit für alles spätere Philosophieren zu. Geschichte der Philosophie sollte nicht antiquarisch, sondern als Zeiten überbrückendes und bewahrendes Gespräch über unsere gemeinsame Erfahrungswelt verstanden werden. Das Anliegen lebensweltlicher Philosophie ist der Aufenthalt im Rückgang auf das in primärer Erfahrung von sich selbst her sich erschließende und zum Verständnis kommende phänomenal Gegebene in seiner Selbsterschlossenheit, und das ist zunächst unser Vertraut- und Einssein mit der Welt, wie es vor jeder artifiziellen philosophisch-wissenschaftlichen Theorie eines anthropologischen Dualismus sozusagen ,natürlich‘ zur Erfahrung kommt. Aus der Entgegensetzung von Leib und Seele, von Körper und Geist, von physischem Außen (Welt, Natur) und psychischem Innen (Ich, Seele) kommen wir niemals zurück auf einen, wie Edmund Husserl es noch missverständlich genannt hat, »natürlichen Weltbegriff«, oder besser: zurück auf die ursprünglich verstandene Erfahrung unseres Anwesens in der Welt, die allen diesen Unterscheidungen zugrunde liegt. Das sogenannte Natürliche bzw. die natürliche Einstellung wird hier nicht naturalistisch im Gegensatz zu Geschichte und Kultur verstanden, sondern diese einbegreifend als verwandt mit dem klassischen Physis89 Siehe beispielsweise in diesem Kap. unter 1.2.2, die dort hervorgehobene lebensweltliche Gebundenheit frühgriechischer Physis-Denker (Thales von Milet, Anaximander, Xenophanes von Kolophon).
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Denken. Erstaunlich ist die in diesem spätneuzeitlichen Ursprungsdenken liegende Wiederkehr frühgriechischen Physis-Denkens, die keineswegs beabsichtigt war, die aber den Boden zu seiner Neuentdeckung vorbereitet hat. Innerhalb der Bestrebungen zur Rehabilitierung des lebensweltlichen Erfahrungsbezugs war Phänomenologie vom Beginn an herausragend, auch wenn die Lebenswelt erst um 1930 ausdrücklich in die Mitte von Husserls Denken rückte: »Der [geistig betrachtende] Rückgang auf die Welt der Erfahrung ist Rückgang auf die ,Lebenswelt‘, d.i. die Welt, in der wir immer schon leben, und die den Boden für alle Erkenntnisleistung abgibt und für alle wissenschaftliche Bestimmung.«90 Es ist im Allgemeinen ein Rückgang von prädikativen auf vorprädikative Evidenzen und im Besonderen ein Rückgang im Abbau der idealisierten und mathematisierten Welt der Naturwissenschaften. Als Grundstück von Husserls phänomenologischer Methode gilt die transzendental-phänomenologische Reduktion, d.h. die Rückwendung des untersuchenden Blicks von der natürlichen Einstellung des in die Welt der Dinge und Personen hineinlebenden Menschen auf das »transzendentale« (d.h. im cartesianischen, unbezweifelbaren ego cogito begründete) Bewusstseinsleben sowie auf dessen Bedeutungserlebnisse. In diesen Bedeutungserlebnissen bilden (konstituieren) sich die Objekte (Wesensgegebenheiten, Eidos) als Korrelate für den Akt des intentionalen Bewusstseins von etwas (cogito). Doch damit wird nicht die natürliche Erfahrung, sondern die subjektbezogene Einheit von transzendentalem Ich und Welt als das ursprünglich Gegebene angenommen. Zunächst ist es die Welt für mich, die am Leitfaden der intentionalen Grundstruktur des Ich-erfahre-etwas zur Auslegung kommt. Vom wissenschaftlichen Standort von Husserls Transzendentalphilosophie (egologisch-monadologischer Intersubjektivität) aus wird das als natürlich gekennzeichnete vor- und außerwissenschaftliche Verhalten völlig einseitig als selbstverloren, naiv, ahnungslos, einfältig, befangen, unbekümmert, den Selbstverständlichkeiten verhaftet herabgesetzt, um in ein kunstvoll reflexives übersetzt zu werden, das Husserl für selbstbewusst, unbefangen, bekümmert u.a. hält. Ein wichtiger Grund für diese generalisierende Distanzierung von der natürlichen Lebenswelt liegt wohl darin, dass der Übergang vom natürlichen zum reflexiv-thematisierten Verhalten einen durch radikalen Zweifel ausgelösten Bruch mit der natürlichen Welt, eine Art von Trennungskatastrophe – Weltuntergang –, darstellt, und zwar insoweit ja nichts sicher, nichts gewiss ist und nichts angenommen werden darf, was nicht gewisse und sichere Erkenntnis gewährleistet. Doch dieses Erkenntnisverhalten entspringt dem Willen, sich selbst unbedingt vor dem 90 E. Husserl, Erfahrung und Urteil, § 10, 38.
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beängstigenden ,Nichts‘ eines Erkenntnisverlustes zu behaupten – wohl auch ein vielbegangener Weg des Philosophierens, aber kein verallgemeinerungsfähiger. Und außerdem kommen für das ,Natürliche‘ ebenso gut wie für das ArtifiziellWissenschaftliche Unbefangenheit, Offenheit für alles Nichtselbstverständliche sowie Zweifel an allen Gegebenheiten als Verhaltensmöglichkeiten durchaus infrage. Damit ist eine weitreichende sachliche Problematik angesprochen. Es fragt sich, inwiefern Lebenswelten in ihrer faktischen Unmittelbarkeit und öffentlichen Ausgelegtheit die in ihnen mitgegebene Ursprünglichkeit (Originalität) der BasisErfahrung verdecken und inwiefern der basale Sinn von Lebenswelt gegenüber dieser alltäglichen Faktizität der Lebenswelten erst freizulegen (zu destruieren oder dekonstruieren) ist. Wissenschaft (auch als Philosophie und Theologie) als methodisch-systematische Durcharbeitung der Lebenswelt, um ihrer Enthülltheit (d.h. um ihrer je immer größeren Wahrheit) willen, scheidet sich von der Lebenswelt, wenn sie diese einseitig als harmloses Sich-Umtreiben im fraglos Selbstverständlichen denunziert und auf das alltäglich Gewöhnliche, Übliche, Durchschnittliche beschränkt, zumal sie ohne das in ihr selbst fraglos von selbst verständlich Gewordene sowie das fragend zum Aufbruch Gekommene gar nicht auskommt. Die Lebenswelt selbst gilt es also im Hinblick auf ihre originäre Gegebenheit zu durchdringen. Ist uns alltäglich – und jeder Tag ist ein neuer Tag, der noch nie da gewesen ist – zu sein gegeben, dann gehört zur alltäglichen Daseinsweise nicht nur die Möglichkeit der existenziellen Abwendung, der Flucht vor dem eigenen Selbstsein in die Welt zerstreuender Beschäftigungen, in das Leistungsleben usw., sondern diese selbstverlorene Verfallenstendenz (als Angefochten-, Versuchtsein) übertönt die leise Stimme des Gewissens und der Vernunft, die die eigentlichen Möglichkeiten zu sein bezeugt und die in die Verantwortung für dieses Seinkönnen und zur Übernahme des wahren Seins des Selbst ruft, aus dem wir uns überhaupt erst als gegeben erfahren können. Damit treten die sogenannten eigentlichen und uneigentlichen Seinsmöglichkeiten des Daseins in den Umkreis der phänomenalen Erforschung der Lebenswelt, und nicht nur das: Erst recht gehören die Wissenschaften (einschließlich der Philosophie und Theologie) so sehr in die Lebenswelt, dass sie in verstiegener Abgehobenheit (als rein theoretische oder als rein objektive) doch niemals gänzlich ihre Lebensbedeutsamkeit für das Gute oder das Schlechte verlieren können. Gerade ihr kritisches Selbstverständnis verlangt, sich hier dem Ideologie-Verdacht zu stellen, denn unlösbar scheinende Probleme der Lebenswelt, lebensweltliche Abwegigkeiten und Idealisierungstendenzen usw., können sich in den Wissenschaften auf spezialisierte, einseitige Weise fortsetzen.
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Nach dem Gesagten wird die hier angesprochene Lebenswelt missverstanden, wenn man sie nur von der fachwissenschaftlichen Weltobjektivierung absetzt und der Philosophie die Besinnung auf die subjektive Lebenswelt persönlicher Beziehungen und Kommunikationsprozesse und auf subjektverhaftete Erlebenswelten reserviert. Die bloße Umkehrung des Szientismus zugunsten einer Philosophie der Subjektivität mag zeitgemäß sein. Ein Schritt in die richtige Richtung ist sie nicht. Subjektivität müsste radikaler hinterfragt und umfassender verstanden werden, und zwar erweist sich die zur Objektivierung sich bildende und ihr entsprechende kollektive Subjektivität epochal als äußerst fragwürdige Modifikation des Daseins, in dem aus dem Unergründlichen heraus gegebenen Sichverhaltens zur Um- und Mitwelt.
2.2.4.3 Dasein: Ontologisches Sichverstehen auf die Lebenswelt
Lebenswelt soll hier ontologisch vertieft und erweitert im Sinne von Dasein verstanden werden. Das ,Leben‘ (nicht eingeengt auf das Biologische) ist ja eine Metapher für Sein (unser Leben) – also Sein nicht im Sinne von existieren, der Fall sein, sondern von anwesen, da sein: leben in der Fülle des In-der-Welt-seins. Das Wesen der Lebenswelt als solcher ist nicht nur durch Enumeration von kennzeichnenden Erfahrungen, die wir machen und die wesentlich ihr angehören, wie Arbeit und Muße, Sorge und Liebe, Gebürtigkeit und Tod zu bestimmen, sondern sie ist die »Welt, in der wir immer schon leben« (Husserl) unter Bedachtnahme auf die Einheit der Zeitmodi des ,Immer-schon‘-Daseins, also auf ein Anwesendsein, das sich auf das Gewesensein, Zukünftigsein und Gegenwärtigsein erstreckt. Unter Lebenswelt ist der jeweilige Bereich der Welt zu verstehen, in dem wir uns selbst leibhaftig hier und jetzt aufhalten und für den wir gegenwärtig offen (d.h. zugänglich und ansprechbar) sind für Gewesenes und Kommendes und bei diesem oder jenem anwesend sind, indem wir uns von den Bedeutsamkeiten des uns Widerfahrenden in Anspruch nehmen lassen. Alle Erfahrungen innerhalb der Lebenswelt sind aus dem unmittelbaren Vertrautsein mit der Welt selbst zu bestimmen, mögen in ihm auch privative Momente wie Befremdung, Nicht-mehr-zurecht-Kommen, Leiden an Überfülle oder aus Mangel an Fülle u.a. vorwalten. Zum vollen Verständnis der Lebenswelt gehören die unhintergehbaren ontologischen Grund- und Möglichkeitsbedingungen der Lebensphänomene, die in ihnen als mitgegeben aufweisbar sind; es ist hier somit primär ein fundamentalontologisches Verstehen, als Sichverstehen auf das Dasein, intendiert. Zum besseren Verständnis des vielsagenden, oft gedankenlos gebrauchten und abgenützten Wortes ,Dasein‘ sei an seine lexikalische, und zwar vorterminologische Bedeutungsmannigfaltigkeit er-
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innert. An Hand von Wendungen der deutschen Sprache lassen sich die wichtigsten noch geläufigen Bedeutungen des Zeitwortes »da sein« anführen: 1. »Es muss noch Brot da sein«: vorhanden-, zuhanden, verfügbar sein, existieren. 2. »Von den alten Leuten, die er gekannt hat, waren nicht mehr viele da«: am Leben sein. 3. »Er war nur noch für sie da«: mit und für jemanden existieren. 4. »Langsam wachte sie auf, aber sie war noch nicht ganz da«: wach- und bewusst sein. 5. »Es ist niemand da«: anwesend und zugegen sein. 6. »Ein solcher Fall ist noch nicht da gewesen«: sich ereignen, geschehen. Alle diese verbalen Bedeutungsmomente schwingen in der terminologischen Wortschöpfung »das Da-sein« mit, das Heidegger als unser ,offenständiges Ek-sistieren‘ versteht. Als Menschen haben wir die Aufgabe, dieses Sein im Offenen des ,Da‘, dieses Anwesen im Zeitspielraum der Begegnung mit Seienden, zu denen wir selbst gehören, zu übernehmen. »Da-sein« besagt konkret unser Sein zum Ende, zum Tode, Anwesendsein (als Offensein für lokales Hier- und Dortsein), Voll-da-sein (Erwecktsein zum eigentlichen Selbstsein); Dasein mit Anderen und für Andere, Miteinandersein = Mitsein, Dasein in der Einzigartigkeit seines Sichereignens. Lebenswelt und Dasein besagen also dasselbe, jedoch nicht einfach das Gleiche. Mit der Lebenswelt ist das Dasein in ursprünglicher Konkretion, im Wie seines ontischen Gegebenseins, mit Dasein jedoch die Lebenswelt in ihrer ursprünglichen Fundierung im Sein unserer Welt angesprochen.
2.2.4.4 Zusammenspiel der Wissenschaften auf lebensweltlicher Basis
Wie gesagt, wurde ja zugestanden, dass lebensweltliche Erfahrung nicht unkritisch als Maß und Erstinstanz für alle Erkenntnis reklamiert werden kann, da ihre eigene Wahrheit gewöhnlich unter einem Chaos von Ansichten und Fehlhaltungen verdeckt ist, für welche Fachwissenschaften eine spezialisierte Kompetenz und Kontrollmöglichkeit beanspruchen. Das kann den Zweifel wecken, ob nicht die Berufung auf die primäre bzw. ursprüngliche Lebenserfahrung, Lebenspraxis und Lebensweisheit ins Leere geht, da die Lebenswelt doch nur (oder wenigstens größtenteils) subjektiver Schein ist, Verfallensein an Halbwahrheiten darstellt, während die ,eigentliche Wirklichkeit‘ einzig von Natur- und anderen Spezialwissenschaften erschlossen wird, auch wenn ihnen der Zugang zur Wirklichkeit im unmittelbaren Erleben abgeht und nur indirekt vergegenwärtigt werden kann. In der Folge eines durch Spezialwissenschaften erschlossenen Maßstabs der Erkenntnis würden Philosophie und Theologie (wie oben gezeigt) den Überbau der positiven Wissenschaften ausmachen, indem sie u.a. die Wahrscheinlichkeit von Unwahrscheinlichkeiten
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(von höchsten Denkbarkeiten) zum Gegenstand machen. Zudem ist die Rehabilitierung eines gemäßigten Szientismus konsensfähig und man liegt mit ihr im Trend der Zeit. Das Vergessen der Lebenswelt und der Verlust philosophischer und theologischer Bindung an sie in ihren ontologischen Fundamenten rächt sich heute durch ihre fortschreitende Zerstörung: ein ökologisches Desaster, das in allen Bereichen zu einem Umdenken drängt. Theologische Philosophie ist weithin (insbesondere als Ontotheologie) ein dem Boden ursprünglicher Erfahrung entfremdeter Bereich. Diese Fehlentwicklung dürfte, wie noch ausführlich gezeigt werden soll, ein Hauptgrund für die Verwerfung theologischer Philosophie vonseiten des Atheismus sowie der Offenbarungstheologie sein. Die Frage, ob und wie die Lebenswelt die Möglichkeit einer ursprünglichen Basis-Erfahrung bietet oder nicht, ist daher für unsere philosophische Theologie so wichtig, dass wir bei ihr noch etwas länger verweilen wollen. Es scheint mir, dass die Möglichkeit philosophischer Theologie überhaupt mit der Anerkennung bzw. Nichtanerkennung des Primats der Lebenswelt und ihres ontologischen Verständnisses steht oder fällt. Daher kommt es im Vorfeld schon darauf an, zu sehen, dass kein ernsthafter Grund besteht, die spezialwissenschaftlichen Ausleuchtungen und Vermittlungen vergegenständlichter Lebenswelt als spezielle Beiträge zum Wirklichkeits- und Realitätsverständnis, die sie im Ganzen sind, gegen die Lebenswelt in ihrer primären Selbsterschlossenheit oder gegen deren philosophische und theologische Aufschließung auszuspielen. Es geht vielmehr um die heute unumgänglich gewordene inter- und multidisziplinäre Kooperation aller Wissenschaften, denen sich ein je verschiedener (partikulärer oder universeller) Bezug zur lebensweltlichen BasisErfahrung unseres Miteinanderdaseins als das gemeinsam Verbindliche erweist. Zu beachten ist, dass jede Wissenschaft einen ihr eigenen und direkten Zugang zu jener Lebenswelt hat, um die es uns alltäglich geht. Dadurch können Konkurrenzsituationen und ein ,Streit der Fakultäten‘ vermieden werden, ja es ergibt sich daraus die Notwendigkeit des interdisziplinären Gesprächs, des Aufeinanderhörens, ja der kommunikativen Zusammenarbeit, aber auch der ernsthaften Berücksichtigung anderer, auch außerdisziplinärer Verständnisweisen. Darüber hinaus leuchtet die Möglichkeit einer Synergie der Wissenschaften auf, und zwar in dem Sinn, dass eigenständige Wissenschaften erst im integrativen Bezug aufeinander ihre höchsten Möglichkeiten entfalten und so ganz sie selber sein können. Die gegenseitige Zuordnung und das Zusammenspiel der Wissenschaften im interdisziplinären Dialog und in Kooperation möchte das nachfolgende Schema (Positionierungsdiagramm) festhalten, wobei die Pfeile auf Beziehungsmöglichkeiten und Problemfelder verweisen:
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4. Offenbarungstheologie 2. Philosophie
3. Einzel-, Fachwissenschaften
1. lebensweltliche Basis (Dasein)
a) Erstes Beispiel: Die Welt des Hörens Das Beispiel aus der Wahrnehmungswelt unseres Hörens soll erstens veranschaulichen, wie unterschiedlich sich unsere außer- und vorwissenschaftliche Lebenswelt einerseits für naturwissenschaftliche und andererseits für phänomenologische Forschung (innerhalb der Philosophie und auch der Theologie) darstellt. Zweitens: Spezialwissenschaftliche Fächer können ohne Vorblick auf das Ganze des lebensweltlichen Fundaments weder einander ergänzen noch sich voneinander abgrenzen. Drittens: Über dieses Ganze kann man aber – solange man Wissenschaftlichkeit beansprucht – nicht im Unklaren bleiben. Das Fundament kann niemals durch Erklären erklärt werden, weil es das uns und allem Erklären unmittelbar und ursprünglich Vorgegebene ist. Es muss als solches unmittelbar verstanden, aufgewiesen und in seinem Anwesen geklärt werden können. Das jeder Forschung Vorgegebene, das sie voraussetzen muss, ist unser Sichverstehenkönnen auf das lebensweltliche, in sich reich gegliederte Daseinsganze. Der Philosophie und der Theologie kommt die Aufgabe zu, es in seinem Wesen phänomenologisch-hermeneutisch zu klären. Das heißt methodisch gesehen: »Alles Erklären setzt die Klärung des Wesens dessen voraus, was erklärt werden soll. […] Alles Erklären reicht nur so weit – falls es sachgerecht ist –, wie weit das zu Erklärende zuvor in seinem Wesen geklärt ist.«91 Um die Bedeutung der vorangegangenen Überlegungen am Beispiel des Hörens zu vergegenwärtigen, gehe ich zunächst von den spezialwissenschaftlichen Theorien über den Hörvorgang aus. Deren erklärender Beitrag zur Verbesserung unseres (lebensweltlichen!) Hören-Könnens darf nicht übergangen werden. Danach soll ansatzweise auf das anders geartete lebensweltliche Phänomen des Hörens im Hinblick auf sein zu klärendes konkretes Wesen verwiesen werden, und zwar unter Aufdeckung von (mindestens verbalen) Konfusionen spezialwissenschaftlicher Erklärungsvorgänge und lebensweltlicher Phänomenklärungen. Die naturwissenschaftliche Er klärung des Hörens bezieht sich auf das Zusammenwirken von Vorgängen, die in die 91 M. Heidegger, Zollikoner Seminare, 266, vgl. 98 f., 202.
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Kompetenzen verschiedener Fach- bzw. deren Teilwissenschaften gehören. Extrem vereinfacht geht es um folgende Vorgänge: 1. Ein äußerer Vorgang, der Reiz. Ein Schallereignis geht von einer Schallquelle, dem Schallerzeuger (z.B. einer Stimmgabel), aus und breitet sich durch Schallwellen (Longitudinalschwingen) aus. Sie werden von der Psychoakustik auf das menschliche Hörsystem bezogen und lösen als Sinnesreize in den Sensoren Erregungsprozesse aus. Diese werden einem Hörbereich (Hörerlebnissen) zugeordnet. Ihre Frequenz liegt zwischen 16 und 20 000 Hz, wobei die Hör- und die Schmerzschwelle je nach Schalldruckpegel und Lautstärke verschieden sind und darüber hinaus individuell und kollektiv noch eine Anpassung zulassen. Weniger erforscht ist dabei die Schallortung. Den Forschungsrahmen bildet die physikalische Akustik. 2. Es kommt zu einem Transformationsvorgang in den Sinnesorganen, der zu einer spezifischen Nervenerregung führt. Das Schallfeld erreicht den äußeren Gehörgang, das Trommelfell mit Hammer, Amboss und Steigbügel. Von dort wird der Schall ,gebündelt‘ auf das Innenohr übertragen. Dort gibt es in dem wie eine Schnecke aussehenden Hörorgan (daher Cochlea genannt) tausende Hörsensorenzellen (Haarzellen). Werden diese zum Mitschwingen gebracht, so bilden sie eine Überträgersubstanz, welche die afferenten Nervenfasern der Hörnerven erregen. Die elektrochemischen Impulse werden über den Hörnerv vom inneren Hörorgan (Labyrinth) beider Ohren mit zahlreichen Querverzweigungen über das Kleinhirn zum Nervenzentrum und zum Hörzentrum der Hirnrinde, der Schläfenwindung, weitergeleitet. Dabei arbeiten Neuronen der Hörbahn spezifisch verschieden und immer komplexer zusammen, als ob sie Schallreize auf Schallmuster hin analysieren würden. Auch die enge Verbindung des Labyrinths zum Gleichgewichtsorgan als phylogenetisch ältestem Teil des Innenohrs (das für die Weise, sich im Raum zu befinden, zu orientieren und zu bewegen wichtig ist) sei nicht unerwähnt. Das Forschungsgebiet ist die Neurobiologie (Teilgebiet Neurophysiologie, Unterabteilung: spezielle Sinnesphysiologie). 3. Neurobiologische Hirnphysiologie zusammen mit empirischer Bewusstseinspsychologie erforscht den Zusammenhang des hirnphysiologischen Geschehens mit dem Erleben des Hörens im psychologischen Bereich. Als gesichert kann die Annahme gelten, dass entsprechende neuronale Prozesse faktisch notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen (also keine Wirkursachen!) für das methodisch auf einen Bewusstseinsvorgang reduzierte Hören darstellen.92 Äußerst fragwürdig hingegen sind die gehirnphysio92 Zum Grundsätzlichen vgl. u.a. G. Rager, Das Bewusstsein und seine neurobiologische Erklärung; ders., Bewusstsein und Hirnforschung: Befunde und Theorien.
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logischen Annahmen, dass es zu einem wirkursächlichen ,Überschritt‘ vom neurobiologischen zum psychologischen Geschehen, dem Erlebnis des Hörens, komme, oder dass sogar das eine in das völlig heterogene andere übergehen könnte. 4. Zuletzt seien die im Dienst der Ohrenheilkunde reintegrierenden Anwendungen interdisziplinärer naturwissenschaftlicher Forschungen genannt, mit deren Hilfe man Erkrankungen des Hörsystems klinisch diagnostiziert und behandelt. Viele Menschen verdanken der medizinischen Heilkunst, dass der Vollzug ihres lebensweltlichen Hörvermögens wieder möglich wurde, sich weiter erhalten oder verbessert hat. An sie schließen sich psychotherapeutische und pädagogische Bemühungen um das Horchen und Hören an, die gleichfalls naturwissenschaftliche Erkenntnisse reintegrieren. Auch die hier nicht weiter verfolgte Aufgabe eines gewissermaßen physiognomischen Verstehens der Bedeutsamkeiten physiologischer Strukturen und Prozesse, sofern sie im Weltbezug (hier des Hörens) mitschwingen und auch für die psychosomatische Pathologie unentbehrlich sind, gehört hierher. Dieses Verstehen bildet eine noch zu wenig beachtete Brücke zwischen Philosophie und medizinischer Spezialwissenschaft.93 Auf alle Fälle wird für die physikalisch-physiologisch-psychologische Darstellung des Hörvorgangs die außerwissenschaftliche Erfahrung des Hörens für bekannt gehalten und als bekannt vorausgesetzt. Ohne diese Voraussetzung ist eine interdisziplinäre Kooperation gar nicht möglich, geht es doch in allen diesen Fachgebieten letztlich um dasselbe, um Bedingungsforschung für eine Möglichkeit unseres offenständigen Eksistierens,94 um das Hören des zu Hörenden. Mitberücksichtigt und gefragt wird immer wieder, wenn auch unthematisch, was wir und wie wir etwas zu hören bekommen. Besonders in den Anwendungsbereichen physikalischer Akustik, neuro- und gehirnphysiologischer Bewusstseinsforschung und der Humanmedizin wird der Sachverständige vor die Frage gestellt, ob er den lebensweltlichen Bezug seiner Klient/inn/ en auch wirklich hinreichend exploriert und ausgetestet hat. Wie sollte sonst beispielsweise eine Hörschwelle bestimmt werden oder ein Hörapparat hilfreich sein? Die wissenschaftlichen Annahmen und Erklärungen über unser Hören setzen das uns sich Zeigende, das Phänomen des Hörens, die horchende An- und Hinnahme von Hörbarem stets voraus; sie beziehen sich auf diese phänomenale Welt des Akustischen und haben überhaupt nur durch sie einen Sinn. 93 Als Beispiel sei A. Tomatis hervorgehoben, Der Klang des Lebens. Vorgeburtliche Kommunikation – die Anfänge der seelischen Entwicklung. 94 Mit Eksistenz bzw. Eksistieren ist terminologisch der ursprüngliche, offene Bezug menschlicher Existenz bzw. menschlichen Existierens als ein Hinausstehen in das Offene (= ekstatischer Bezug), als immer schon Außer-sich-Sein in der Welt und als ein Aus- und Durchstehen des Daseins (= ,ekstatisches‘ Anwesen) besonders in seiner Zeitlichkeit angesprochen.
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Spricht man von ,Annehmen‘ und ,Annahme‘, dann darf man die Eksistenzmöglichkeit, die zu Hörendes an- und hinnimmt, und das, was Wissenschaft über das Hören als Annahme entwirft, nicht durcheinanderbringen. Werden hier theoretische Aussagen aus der Beobachterperspektive der dritten Person der Grammatik gemacht, so versteht sich dort jemand selbst auf das Hören; wir, du selbst und ich selbst, sind es, die hören, ja die aufeinander hören und sich miteinander verständigen können. Man muss sich überhaupt vor einer Konfusion in der Bedeutungsvielfalt von ,Annahme‘ hüten.95 Der Bedeutung nach ist dreierlei zu unterscheiden: 1. Eine fachwissenschaftliche Annahme, die ihren Gegenständen unterstellt wird, ist eine Hypothese, lat. suppositio, wörtlich: das Daruntergesetzte, die ,Unterstellung‘ (in einem positiven Sinn). Hier wird theoretisch etwas als Bedingung angesetzt, das selbst phänomenal nicht gegeben oder gebbar ist. Man sagt: ,Gesetzt, dass …‘ oder ,Wenn …, dann …‘. 2. Von der Hypothese, insofern in ihr etwas Inhaltliches angenommen wird, ist die Annahme als Vermutung, Erwartung, Konjektur (lat. coniectura) zu unterscheiden. Ihr phänomengegründeter Anhalt kann variieren. Konjekturelles Wissen gehört zu allen Wissenschaften. 3. Eine völlig andere Bedeutung hat Annahme, wenn wir etwas hinnehmen, für das wir uns offenhalten, oder jemanden annehmen. Dazu gehört auch die Annahme seiner selbst. Angenommen wird das phänomenal Gegebene im hinnehmenden Vernehmen und Annehmen (Akzeptieren). Das Erscheinende (das Phänomen, das sich uns zuspricht und angenommen wird) bedarf insofern keines Beweises, als es sich selbst in unhintergehbarer Selbsterschlossenheit erweist. Aber deswegen ist es nicht ohne Weiteres selbstverständlich, fraglos, entdeckt, offenbar und thematisiert, sondern es bedarf einer phänomenologisch-hermeneutischen Aufschließung. Unmittelbar uns erschlossene Phänomene sind ontische Phänomene, Seiendes, wie der Straßenlärm, den ich wahrnehme, wobei zu thematisieren wäre, dass ich ihn nur hören kann, wenn ich einerseits offen für ihn da bin und es andererseits notwendig ist, dass er sich schon in seinem Anwesen gezeigt und mich zuvor angesprochen haben muss. Das vernehmende Hinnehmen von so etwas wie Anwesen und das eigene Offensein für das Walten des Anwesenden sind das Ontologische im Phänomen, das Sein im Seienden. Das ontologische Phänomen ist im ontischen Phänomen das vorrangige, weil es das ermöglichende und tragende ist; doch ist es zunächst und zumeist verdeckt. Es wird nicht postuliert oder hypothetisch angenommen, sondern es erschließt sich uns selbst: Wir können dessen innewerden. 95 Dazu vgl. M. Heidegger, Zollikoner Seminare, 5 ff., 36.
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Nun ist zu fragen: Was heißt hören? Beruht es auf dem An- und Hinnehmen des zu Hörenden? Wie und was hören wir im Sinne phänomenalen Gegebenseins wirklich? Wie zeigt sich uns das Hören an sich selbst?96 Um die Fragen zu beantworten, ist methodisch gesehen alles, was man sich unter Hören ,vorstellt‘, d.h. an Theorien über das Hören mitbringt, vorläufig beiseitezulassen. Wir konzentrieren uns nur auf diese unsere Eksistenzmöglichkeit. Als solche, die hören, halten wir uns in einem Vernehmen (An- und Hinnehmen) von etwas auf, das sich dem Gehör darbietet. So hören wir zunächst nicht Empfindungselemente. Hörempfindungen sind nicht unwichtig, jedoch nachträgliches Ergebnis einer Analyse der Wahrnehmung (z.B. auf Tonhöhe, -stärke, Klangfarbe hin) und wichtig erst durch das in mannigfaltigen Bedeutsamkeiten konkret Gegebene. Wir hören auch nichts von einer Nervenerregung im Gehirn. Das Hirn, obgleich für das Hören der Sterblichen eine faktische conditio sine qua non, hört überhaupt nicht. Der Reiz- und Erregungsvorgang ist an sich lautlos, arbeitet, ohne Geräusch zu machen. Der Reiz selbst, die Schallwelle von bestimmter Frequenz, Amplitude usf., wird überhaupt nicht ,gehört‘, sondern ist die entsprechende physikalische Vorstellung einer Bedingung des Hörens. Die Rede von einem physikalischen Phänomen ist hier eine in die Irre führende Metapher. Niemals ist aber das Gehörte (zunächst und unmittelbar!) etwas Physikalisches oder Neurophysiologisches. Wir hören auch nicht zunächst Schall, Geräusche, Lautkomplexe (aggregierte Komplexe von Tönen) oder an den Klängen die Ober- und Untertöne. Lautschall ist schon ein abstrahiertes Gebilde, das weder je für sich, noch je zunächst vernommen wird, sondern wir hören den Staubsauger, den Straßenverkehr, das Rauschen der Brandung, Musik oder jemanden, der spricht (sie/ihn selbst!) – mag er verständlich oder, wenn die Sprache uns fremd ist, unverständlich sein. Es bedarf schon einer künstlichen Einstellung und Übung, um ein reines Geräusch, bloßen Lautschall oder Töne aus einem Klang herauszuhören. Im Hören schließt sich das Gehörte auf, auch wenn wir nicht ausfindig machen können, was es ist. Hören ist wesenhaft ein Hören auf das, was ist, oder auf jemanden, der ist. Das Gehörte ist auch nicht etwas bloß Innerpsychisches. Wir hören etwas von dort her, wo es etwas zu hören gibt. Wir können von allen Seiten her etwas zu hören bekommen. Ergreift uns etwas, das es da zu hören gibt, so richten wir uns danach 96 Auf die reiche Phänomenologie des Hörens kann hier nicht ausführlicher eingegangen werden, sondern es soll nur durch einige Hinweise versucht werden, das lebensweltliche Phänomen des Hörens zu vergegenwärtigen. Aus der reichen Literatur sei angeführt: C. F. Gemma, The other side of language. A philosophy of listening; D. M. Levin, The listening self. Personal growth, social change and the closure of metaphysics; G. Pöltner, Was heißt Hören?; G. Wille, Akroasis. Der akustische Sinnesbereich in der griechischen Literatur bis zum Ende der klassischen Zeit.
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und werden beim Gehörten anwesend, und das, weil wir lautlos horchend einen Bereich offenhalten, innerhalb dessen wir anwesend sind und solches vernehmen können. Dabei richten wir uns leibhaftig auf, nehmen Haltung an, wenden uns dem zu Hörenden zu und hören zu. Gesetzt, man nimmt selbstvergessen, ohne Rücksicht auf die primäre Eksistenzmöglichkeit des Hörens, eine biologische Entstehung des psychischen Hörgeschehens ,im Hirn‘ an, so muss zusätzlich die Hypothese einer Projektion vom Körperinneren nach außen, auf den Ort einer Schallquelle angenommen werden. Das Gehirn wäre so der Mittler zwischen der physikalischen Außenwelt und der erscheinenden Welt. Aber nichts spricht phänomenologisch dafür, dass ein inneres Geräusch in einen Außenraum um uns projiziert und so zum äußeren Geräusch würde. Der Schall wird auch nicht im Ohr oder im Hörzentrum erlebt. Vom ersten Augenblick des Hörens an hören wir nämlich raumorientiert: hier in der Tasche mein Handy …, dort den Wasserhahn tropfen …, da oben den Hubschrauber …, in der Ferne Donnergrollen … und hinter uns Schritte … Das gilt auch noch im Fall der quälenden Ohrgeräusche (tinnitus aurium), die man als Sinnestäuschungen einstuft und die einen beim Hören behindern. Damit wir normal hören können, hat Gehörtes im Ohr nichts zu suchen – ausgenommen das Rauschen der Ohrmuschel im Wind, Hörapparate und dergleichen. Können auch die akustischen Organe (und die entsprechenden zerebralen Vorgänge) nicht hören und wir sie nicht hören, so hören wir doch normalerweise nicht ohne sie. Beispielsweise halte ich mir die Ohren zu und höre nichts, beende das Spiel und höre wieder etwas. Wenn wir also etwas hören, dann hören wir doch mit ihnen? Doch hören wir eigentlich nicht mit dem Ohr (und sehen auch nicht mit dem Auge); wohl mit seiner Hilfe, aber das heißt vielmehr, dass wir durch das Gehörorgans hindurch, mittels des Gehörorgans, also durch es vermittelt etwas wahrnehmen. Wir hören zwar Beethovens Musik durch die Ohren, bliebe aber nur dies das Gehörte, was als Schallwelle das Trommelfell beklopft und zu Schallmustern synthetisiert wird, dann könnten wir niemals Beethovens Musik hören. Und überhaupt: Wir sind es, die hören, nicht das Ohr hört; und zwar wir selbst sind es, welche die Musik hören, nicht unsere Ohren. Doch ausgestattet mit unseren Ohren hören wir durch das Ohr (als vermittelndes Sinnesorgan). Ein Mensch kann taub sein, wie der Fall Beethovens zeigt, und gleichwohl noch hören, vielleicht sogar noch mehr und Größeres als zuvor. Ebenso kann ein Blinder ,sehen‘ und wie der Tyrann Ödipus in augenloser Nacht der Wahrheit offenstehen. Ein Mensch kann mit dem Ohr hören, aber dennoch taub, d.h. innerlich stumpf, teilnahmslos sein: Es kann ein kultivierter Mensch »hörend nicht hören noch verstehen« (Mt 13,13), »mit den Ohren hören und (doch) nicht verstehen, und mit den Augen sehen und (doch) nicht erkennen« (Mt 13,14).
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Das funktionstüchtige Gehörorgan ist also nur eine relativ notwendige, aber keinesfalls eine zureichende Bedingung für unser Hören. Es muss nicht unbedingt beteiligt sein, wenn wir in unserer Traumwelt in horchender Offenheit etwas zu hören bekommen. Grundsätzlich gilt, dass die Kenntnis des Bedingten (hier die unmittelbar vollzogene Welt des Hörens) dem Bedingenden gegenüber vorgegeben sein muss und niemals aus Bedingungen (seien es organische, neurophysiologische oder welche immer) ableitbar ist. Bedingungen sind übrigens nicht mit Ursachen zu verwechseln, sondern sind etwas, ohne das (sine qua non) etwas ganz anderes (das Bedingte, ein Geschehen oder Wirken) nicht hervorgebracht (verursacht, erzeugt) werden kann. Der Einfluss von Bedingungen ist (im Gegensatz zu dem der Ursachen) nicht positiv, sondern nur negativ, insofern sie Hindernisse entfernen, welche dem Bedingten, das gänzlich anders geartet sein kann, beim Hervorbringen von etwas im Wege stehen. Gewiss ist unser Hörenkönnen (als Sinn für das Gehör) in seinem Vollzug vielfach bedingt. Das Hörenkönnen selbst aber gehört zu den Seinsmöglichkeiten menschlichen Eksistierens. Beim Hören weilen wir, wie gesagt, nicht nur hier (wo wir leibhaftig so anwesen, dass wir in körperlicher Vorhandenheit feststellbar sind), sondern können auch dort unmittelbar anwesend sein (jedoch nicht als Anwesende!), von wo her uns Klang oder Geräusch aus der Ferne erreichen, und zwar ausgespannt in eine Welt, aus deren Weite und Tiefe (Sein) wir etwas zu hören bekommen. Nicht zu Unrecht zählt man das Ohr (zusammen mit dem Auge) zu den Fernsinnen. Doch Nähe und Ferne müssen in unserer Welt für uns schon eingeräumt sein, damit wir hören können und nachträglich bemerken, der Donner folgt dem Wetterleuchten. Um etwas (ontisch) raumorientiert hören zu können, halten wir uns immer schon in einer bestimmten Mit- und Umwelt auf, sind wir in ringsum horchend-vernehmender Offenheit da. Diese Offenheit, die wir in horchender Anwesenheit austragen, hat keine scharfen Grenzen. Über alles ontisch Hörbare hinaus reicht das Horchen in das Unhörbare: die Stille, den Klang des Lebens, die Anhörung der Welt (Akroasis), ja das Nichts – dieses verstanden als positiv uns ansprechendes Phänomen, nicht als substantivierte sprachlogische Negation. So kann es sein, dass wir lauschend horchen, ob sich da etwas regt – wir halten inne und harren eine Weile aus. Und was hören wir? Nichts. Was uns da lautlos anspricht, das ist ringsherum ,nichts‘. Dieses Nichts kann etwa ein Stuhl nicht hören, weil er überhaupt nicht hören und sich horchend einen Anwesenheitsraum offen halten kann. Im Horchen ,ge-horchen‘ wir einem Anspruch, uns auf- und offenzuhalten. Horchen ist nicht mit Hören zu verwechseln; es ist vielmehr eine für zu Hörendes zugängliche Weise offenständigen Eksistierens in der Welt, das sich wie alles Eksistieren zur Gänze ständig dem Unhörbaren verdankt. Wir gewahren das, wenn
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wir in die Stille selbst hineinhorchen, ohne auf etwas Bestimmtes aus zu sein, das wir hören wollen. Die ursprüngliche Stille, die nicht zu brechen ist, ist eine das Dasein in das Offene einbringende und versammelnde. Das horchende, die Stille gewahrende Dasein ist wie die den Hörraum erst wölbende ursprüngliche Stille ein ontologisches Phänomen, dessen Gewahren sich der Sammlung verdankt.97 Wir können uns vor dem, was unser Gehör erreicht, nicht direkt schützen, indem wir wie beim Sehen wegschauen oder die Augen schließen. Wir können jedoch die Ohren zuhalten und unser Verhalten zum Hörbaren verändern. Auch durchstimmt, stimmt uns um und verstimmt uns die vielfältige Welt des ontisch Hörbaren (viel unmittelbarer als die des Sehbaren), und zwar durch die Art ihres jeweiligen Seins, das uns am unmittelbarsten immer schon in den Leidenschaften, Affekten und Stimmungen erschlossen ist, etwa in der Weise, wie es einem geht, in welcher Verfassung wir anwesend sind, was wir überhaupt von der Welt zu hören vermögen, hören wollen oder nicht wollen, und weiter: durch Erwartungen oder Befürchtungen aus der uns größtenteils verborgenen eigenen Beteiligung (z.B. beim Hin- oder Weghören) unter Mitsprache der bisherigen Lebensgeschichte usw. Der Vollzug des Hörens ist heute weithin unter Anpassung an den erheblich gestiegenen Lärmpegel die Gesundheit bedrohend, gefährdend und beeinträchtigend. Der Umgang mit der Stille, ihre Vertreibung, gemahnt uns, dass Hören in seinem Wesen ein existenzieller Vorgang ist – der bis hin zum Horchen auf die lautlose Stimme des Gewissensrufes reicht. Stufen und Abstufungen des Hörens lassen sich unterscheiden: Auf der Stufe der Dauerberieselung durch Musik oder des halben Hinhörens in Gesprächen hören wir selbst noch nicht eigentlich zu, sondern selbstbefangen weg. Eine weitere Stufe des Hörens ist erreicht, wenn wir (wie Narziss das Echo) nur unsere eigenen Meinungen, Erwartungen oder Befürchtungen bestätigt hören wollen. Wir hören uns dann ständig nur selber zu, da wir vom eigenen Zu- und Anspruch erfüllt sind. Ist unser Weltbezug so selbstbezogen eingeengt, vermeinen wir auf diese Weise (im spontanen Analogieschluss!) Andere zu verstehen. Alles andere wird überhört. Wir vermögen sie in ihrem Eigenen nicht zu hören. Die Befangenheit in solchen Beziehungsmöglichkeiten zeigt sich auch im Überhören sowie im Sichverhören, etwa bei der phantasievoll-entstellenden Weitergabe von Gerüchten und überhaupt in der Psychosomatik von Hörminderungen. Die Phänomene des Weghörens, Überhörens und Sichverhörens zeigen, dass unser Gehörsinn kein bloßer Apparat oder von uns abgesondertes Organsystem ist, sondern dass das Hören eine existenzielle und existenziale Weise unseres Weltbezugs ist. Die Weise, wie wir uns selbst auf das je97 Siehe unten Kap. II, 2.1.7.
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weils eigene Dasein, das immer ein Sein mit Anderen ist, und in ihm verstehen, geht in das Hören ein und als dieses auf. Damit kommen wir zu einer dritten Stufe des Hörens: Dass wir überhaupt hören, weil wir uns selbst immer schon auf das Selbstsein, das ein Miteinanderdasein ist, verstehen. Hören ist seinem Wesen nach ein Horchen, eine Weise offenständigen Eksistierens, ein Horchen auf das, was ist, was sich uns als Seiendes in seinem Sein zuspricht. Wir hören uns selbst dies oder jenes tun, atmen, schlucken, gähnen, gehen usw. Wir hören uns für gewöhnlich auch selbst, wenn wir reden. Wir erfahren auch deswegen uns selbst in der Dimension unseres Seins an das gebunden, was wir sagen und gesagt haben. So verstehen wir auch das von Anderen Gesagte als verbindlich; wir verstehen, was Andere (aus ihrem Anderssein heraus) sagen und wie sie so ihre Welt mit der unsrigen teilen (sich mitteilen). Wir verstehen sie darin, dass und wie sie sich selbst (und nicht nur etwas über sich) uns mitteilen und verstehen. Unsere Überlegung hat uns dahin geführt, wo sich zeigt, dass der ganze Mensch im Hören seinem Sein gemäß da ist, aber auch dies überhören und weghören kann. Wir hören erst wahrhaftig und einander zu nach Maßgabe unserer Anteilnahme an der Welt und am Selbstsein Anderer, d.h., wenn wir einander selbst mitteilen, einander unser Wesen eröffnen und schenken. Ursprünglich hören wir, wenn wir einander zuhören, mit dem Gehörten mitgehen, ihm ,gehorchen‘ und in der Offenheit des Horchens so da und anwesend sind, dass wir ganz Ohr füreinander werden. So verstanden ist das Hören so abgründig wie das menschliche Dasein selbst und kann eine letzte Stufe erreichen: wenn wir uns ins Schweigen gerufen erfahren, um auf das, was ist und sein kann, so zu hören, dass wir uns im horchenden Gewahren vom Nichthörbaren als dem Ursprung des Hörbaren in Anspruch nehmen lassen. Das hier über das Hören Gesagte bedürfte noch wesentlicher Vertiefung.98 Doch soviel wurde deutlich: Hören ist eine ausgezeichnete Weise leibenden Eksistierens. Letztlich können wir hören, nicht weil es die organischen Bedingungen dazu gibt, sondern weil es überhaupt etwas zu hören gibt und wir deshalb auf Hörbares ausgerichtet horchend-offenständig eksistieren können. Zum leibhaftigen Vollzug dieses wesenhaft zum Menschen gehörenden Vermögens haben wir die entsprechenden organismischen Bedingungen. Aber diese sind nicht mit Fähigkeiten zum Hören ausgestattet. Nicht das Organsystem erzeugt die Fähigkeiten, sondern umgekehrt, die menschlichen Fähigkeiten schaffen sich funktionstüchtige Organe und
98 Siehe dazu unten Kap. II, 1.2.
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Organsysteme.99 Diese ,entwachsen‘ den Fähigkeiten, sie bilden sich nicht akzidentell unter aktuellen Bedürfnissen wie Pseudopodien bei Amöben, sondern gehören auf höheren Komplexitätsstufen der Organisation von Lebewesen zu deren genetisch angelegten erblichen Konstitution. Das bedeutet beispielsweise bei Gehörmängeln, die durch entsprechende Hörapparate ausgeglichen werden, dass nicht ein organisch beschädigtes Hörvermögen wieder hergestellt, sondern nur eine gewisse Blockierung dieser sinnenhaften Vollzugsmöglichkeit unseres Daseins aufgehoben wurde. Wir haben also entsprechende leibliche Sinnesorgane, weil wir hören können, und wir können das, weil wir unserem Grundwesen nach auf eine vernehmendhorchende Weise Offenständige sind. Dass hier die philosophische Überlegung von einer theologischen weitergeführt werden könnte, ist leicht ersichtlich: Das in Stille horchen und hören könnende Daseinsganze gehört zum Vorverständnis des Menschen als auf Offenbarung hören Könnendem. Das Verfasstsein des Menschen als Vernehmenkönnen von Offenbarung, d.h. als möglicher Hörer des offenbarenden und sich selbst mitteilenden Wortes Gottes ist damit angebahnt. b) Zweites Beispiel: Die sichtbare und die unsichtbare Sonne An einem etwas schwierigeren Beispiel soll gezeigt werden, dass auf naturwissenschaftlichen Wegen gewonnene Erklärungen lebensweltlicher Phänomene sich lebensweltlichem Sichverstehen auf das Sein des Menschen in der Welt verdanken. Daher besteht kein Grund, sie abseits davon zu einem naturwissenschaftlichen ,Weltbild‘ zu verarbeiten, das die lebensweltliche Erfahrung als Basis-Erfahrung aufzuheben beansprucht. Allein die vorverstandene Lebenswelt kann durch Erklärung aus Bedingungen, die zudem auch noch als solche verstanden werden müssen, nicht wegerklärt werden. Versucht wird, dieser problematischen Entgegensetzung ohne voreilige Parteinahme nachzugehen, wobei sich ihre innere Zusammengehörigkeit etwas klären wird. Das Beispiel geht einerseits aus von der uns auf der Erde vertrauten Sonne, die unser Leben im Tag-Nacht-Rhythmus und im Lauf der Jahreszeiten lebenslang bestimmt, und andererseits von dem aus der Perspektive der Weltraumastronomie erforschten Sonnen-Erde-System. Die beiden Sichtweisen klaffen wie subjektive Scheinwelt und objektive Wirklichkeit auseinander. Diese These sei anhand eines Beispiels aus Descartes’ Meditationen diskutiert. Am Beginn der Neuzeit war Descartes an den entscheidenden Bahnungen, die zur modernen Naturwissenschaft geführt haben, voll beteiligt. Zu seiner Zeit galt er 99 Zur phänomenologischen Aufschließung dieses Gedankens aus der platonisch-aristotelischen Tradition vgl. M. Heidegger, GA, Bd. 29/30, §§ 51–57.
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ebenso als anerkannter und hervorragender Naturwissenschaftler wie als Philosoph. In seinen Meditationen trifft er eine Grundunterscheidung zwischen den Ideen, die wir in uns vorfinden: Er teilt sie ein in die ideae adventitiae, d.h. Vorgestelltes, das auf uns zukommt, an den Dingen Wahrgenommenes, und in ideae innatae, d.h. Vorgestelltes, das dem Wesensbestand des menschlichen Vorstellens schon mitgegeben ist wie z.B. die mathematischen Ideen.100 Dieser Unterscheidung entsprechend findet er, wie er sagt, »zwei verschiedene Ideen der Sonne in mir […], eine, die gleichsam aus den Sinnen geschöpft wurde und die ganz besonders zu den Ideen zu zählen ist, von denen ich glaube, dass sie von außen kommen, durch die mir die Sonne sehr klein erscheint; eine andere dagegen, die aus den Beweisgründen der Astronomie entnommen wurde, das heißt, die abgeleitet wurde aus gewissen mir angeborenen Begriffen oder die auf irgendeine andere Weise von mir hervorgebracht wurde, durch die sie um ein Vielfaches größer als die Erde dargeboten wird; und sicherlich können nicht beide ein und derselben außerhalb von mir existierenden Sonne ähnlich sein und die Vernunft überzeugt mich, dass jene Idee ihr am meisten unähnlich ist, die am unmittelbarsten von ihr herzukommen scheint«.101 Descartes vergleicht zwei Weisen, wie ihm die Sonne zugänglich erscheint, unter der Voraussetzung, dass es sich um unmittelbar vom menschlichen Geist erfasste Ideen handelt,102 und zwar um vorgestellte Gegenstände, die im weltlosen Inneren eines Bewusstseins vorkommen sollen. Unberücksichtigt bleibt die lebensweltlich fundierte Zusammengehörigkeit beider Weisen, die Sonne in ihrer Bedeutsamkeit zu ,sehen‘, da Descartes sein eigenes leibhaftiges Anwesendsein im Weltaufenthalt überspringt bzw., als ausgedehntes Körper-Ding (res extensa) ausgelegt, und folgerichtig für an sich nicht unmittelbar zugänglich hält. Vergegenwärtigt er sich die Sonne, wie sie sich ihm im lebensweltlichen Alltag immer wieder gezeigt hat, dann weiß er, dass es solcherart Wahrgenommenes war, das im Vergleich zur instrumentell vermittelten metrischen Bestimmung der Sonne »am unmittelbarsten von ihr selbst herzukommen scheint«. Doch Descartes bestimmt das Wesen des Dinges (res) als Ausdehnung (Extension) und damit metrischer Berechenbarkeit unterworfen. Was bloß auf dem Weg unmittelbarer Sinneserfahrung erfasst wird, wie die erscheinende Sonne, deren Größe veränderlich ist, die auf- und untergeht und deren Scheinen (Leuchten) unsere Lebenswelt bestimmt, zählt nicht mehr, erweist sich als bloßer Sinnenschein. Ist das Wesen des Dinges die 100 R. Descartes, Meditationen. Dreisprachige Parallelausgabe, III, 7, 107. 101 A.a.O., III, 11, 111 f. Auch Hobbes stimmt in den Einwänden gegen die Meditationen der Schlussfolgerung Descartes’ zu, dass »die Gründe der Astronomie […] lehren, dass die sinnliche Idee [von der Sonne] trügerisch ist« (rationes Astronomiae […] docent potius ideam sensibilem fallacem esse: Œuvres de Descartes, Bd. 7, 184: Med. Obj. III. 102 A.a.O., 181: Med. Resp. III.
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Ausdehnung, dann ist mit der neuen Berechnung der Größe des Sonnendings ihr Wesen bestimmt, und damit ist die Entscheidung für die wahre Sonnenvorstellung gegenüber der Sonne, wie sie uns allen nur zu sein ,scheint‘, gefallen. Das so bedeutsame Scheinen der Sonne wird als (be)trügerischer Sinnenschein bewertet. Bedenken wir, wie lebensweltlich lebendig Descartes zu seiner Wesensbestimmung des Dinges als Extension findet – an Hand des Knetens einer Bienenwachskugel, die er sieht und riecht usw. –, so ist es doch erstaunlich, dass er über den sinnlichen Erscheinungsreichtum des Dings das Nächstliegende nicht wahrnimmt: dass ihm dieses Ding als Anwesendes in einer Vielzahl von Bedeutsamkeiten und vor allem schlicht als zuhandene Bienenwachskugel an- und sich ihm zuspricht. Anstelle dessen, meint er ihr Wesen (die Ausdehnung) aus einer der Möglichkeiten des handgreiflichen Umgangs mit Dingen bestimmen zu müssen. Man könnte hier an einen Zugang zur Realität durch das Vorherrschen haptischer Erfahrung (der Tastwelt) denken, demgegenüber man den Vorrang der Optik (der Welt der geschauten Gestalten) geltend gemacht hat.103 Doch belehren uns die Blinden, nicht den Reichtum der über die Haptik (dem Tasten und Berühren als Nahsinn) vermittelbaren Erfahrungen zu unterschätzen. Es geht bei der cartesianischen Wesensbestimmung des Dings nicht bloß um eine haptische – aus einem tastenden Handeln gewonnene – im Gegensatz zu einer optischen, vielmehr ist die Weise, wie der ganze Mensch in seinem Handeln für das Begegnende offen und bei ihm anwesend ist, maßgebend. Für Descartes ist das Wesen einer Sache fraglos das ontisch Gleichbleibende im Wandel. Was beim Kneten des Wachsdings, solange es besteht, gleich bleibt, ist, dass immer noch eine räumliche Ausdehnung greif- und sichtbar ist. Alles andere erscheint ihm veränderlich und daher unwesentlich, und das, obwohl sich doch beim Kneten die Gestalt und mit ihr die Ausmaße der Ausdehnung verändern. Beachten wir die besondere Weise des von Descartes gewählten Weltbezugs, wie er sich vom ausgedehnten Ding bestimmen lässt: Er lässt sich das Ding im Hinblick auf die Berechenbarkeit der Ausdehnung entgegenstehen. Nicht zufällig hat Descartes die analytische Geometrie begründet, die metrische Größen berechenbar macht. Das räumliche Ausgedehntsein fundiert die Messbarkeit und lässt mit sich rechnen. Das Soundsogroßsein des Dings kann unterteilt oder multipliziert werden. Messen 103 Vgl. H. Friedmann (Die Welt der Formen) suchte den Vorrang des optisch-morphologischen Zu-
gangs zur Realität gegenüber dem haptisch-sinnlichen zu erweisen. Die Haptik sei durch die Sinnlichkeit des Tasterlebnisses charakterisiert; aus ihrer Leibnähe erwachse die mechanisch-materialistische Erfassung der Stofflichkeit. Diesem Zugang wird die Optik gegenübergestellt: Sie integriere die Einzelwahrnehmungen in Formen, welche die Haptik nicht zu erfassen imstande ist, und schreite damit über deren Erkenntnismöglichkeiten hinaus. Hierzu auch W. Nieke, Art. Idealismus, morphologischer, in: HWP, Bd. 4, Sp. 41 f.
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ist ein Vergleichen, das Gleichheitsverhältnisse zwischen dem Maßnehmenden und dem Gemessenen herstellt, und zwar mit Hilfe eines Dritten, eines ideellen Maßes, dem tertium comparationis. Dieses fungiert als Messgrundlage, die der Messende dem zu Messenden als Maßstab vorstreckt und so bestimmt, wie die Ausdehnung zu nehmen ist. Das Ergebnis des Messvergleiches ist als Größenfeststellung das Ergebnis der Messung. Das Gezählte an Einheiten (die Anzahl) wird abgelesen. Zuletzt wird also doch am Maßstab und nicht am Ding, das vermessen worden ist, etwas festgestellt. Das ist besonders dort auffällig, wo man Durchschnittsgrößen berechnet, die de facto gar nicht vorkommen müssen. Dennoch muss die Messbarkeit und damit Berechenbarkeit im Ding ihr Fundament (fundamentum in re) haben, ihm entsprechend aber auch im Weltbezug, der die Möglichkeit des messenden Verhaltens freigibt. Messen und Berechenbarkeit sind also sowohl im Ding als auch im menschlichen Verhalten zur Welt als reale Möglichkeiten fundiert. Die cartesianische Wesensbestimmung des Dings in seiner Dingheit durch räumliche Ausdehnung war revolutionär. Sie macht es möglich, das Ding dem apriorischen Entwurf metrischer Räumlichkeit zu unterstellen und lässt es damit in seiner Berechenbarkeit aufgehen. Der Messvorgang ist als ein Sichverhalten im Bezug zur Welt ein leibhaftiges Tun des Menschen, eine leibhaftige ,Maßnahme‘, nicht nur idealisierender Raumentwurf, ideeller Vergleich und rein geistiger Rechenvorgang (im Zusammenzählen von Maßeinheiten). Dieses Tun geht vor sich unter Zuhilfenahme von Werkzeugen, den Messgeräten. Doch Messinstrumente sind bleibend abkünftig von der Möglichkeit des Sichmessens an den Dingen unserer Lebenswelt und einem leibhaftigen Maßnehmen. Solches Sichmessen ist notwendig, um beispielsweise einen Löffel gemäß seinen Ausmaßen in die Hand nehmen und gezielt zum Mund zu führen. Man erinnere sich an die vor aller Mess- und Vermessungstechnik gebrauchten und heute größtenteils veralteten Maßeinheiten. Diese waren Leibausmaße: Hand- und Fingerbreite, Fuß, Elle (Unterarm bis Kleinfingerspitze), Klafter (die Länge, die ein Erwachsener mit ausgebreiteten Armen greifen kann), Schrittlänge. Beim Messen schreitet man z.B. das Grundstück entlang und zählt die Schritte. Dabei misst man sich leibhaftig an dem, was in seiner Größe auszumessen ist. Dazu müssen wir hier oder dort, jedenfalls bei dem, was zu vermessen ist, anwesend sein. Aber das leibhaftige Anwesendsein (eben das ,Leiben‘) als ein ,Sein bei …‘ wird eigentümlich mitmodifiziert: Quantitatives Messen ist ursprünglich eine eigentümliche Weise des Umgangs mit dem eigenen Leib, ein Vorstrecken körperlicher Maßeinheiten, mit denen wir gleiche Abstände feststellen und zählen können. Dies wird an Messinstrumente so delegiert, dass einem nur das Ablesen und Verarbeiten der Messergebnisse bleibt. Leicht wird übersehen, dass elektronische Messwerkzeuge nur verlängern und vermitteln, dass
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wir uns selbst leibhaftig als Maß dem zu Messenden entlang anlegen und dieses so ,aus(einander)legen‘. Die Möglichkeit des Messens geht also auf ein ,Leibapriori‘ zurück als Möglichkeit lebensweltlichen In-der-Welt-seins. Wir bringen als ganze Menschen im ,Leiben‘ immer schon eine Grundvoraussetzung des Wissens um jenes Offenbare an den Dingen mit, darin wir uns immer schon leibhaftig bewegen und die Dinge leibhaftig erfahren. Es ist hier das im engeren Sinne Mathematische: das Messen und Berechnen des als ausgedehnt entworfenen Dinges. Leib ist hier vom ,Leiben und Leben‘ des Daseins her verstanden, nicht im Gegensatz zur Geistseele, weil menschlicher Geist (als in sich und durch sich selbstständige aktive Seinsmöglichkeit vernehmend-erkennender und entschlossen-wollender Weltoffenheit) sich nur konkret-leibhaftig und sinnlich (durch den Gesichts-, Tast- und Bewegungssinn!) vollziehen kann. Die Möglichkeit des wissenschaftlichen Messens ist zuletzt – wie alle Wissenschaft – als Modifikation des In-der-Welt-seins im leibenden Haben der Welt fundiert. Dieses selbst ist etwas wesenhaft Unmessbares. Das leibhaftige Messenkönnen selbst zeigt sich zudem als eine fundamentale Weise, sich auf das Sein zu verstehen, und zwar im Verhältnis zur Wahrheit unserer Lebenswelt: »Wenn immer ich etwas als etwas zur Kenntnis nehme, dann messe ich mich dem an, was das Ding ist. Dieses Sich-anmessen an das Gegebene ist die Grundstruktur des menschlichen Verhaltens zu den Dingen. […] Üblicherweise wird auch die Wahrheit über ein Ding als die adaequatio intellectus ad rem definiert. Dies ist auch eine Angleichung; ein ständiges sich Messen des Menschen mit dem Ding. Hier aber geht es um ein Messen des Menschen in einem ganz fundamentalen Sinne, in dem alles wissenschaftlich-quantitative Messen erst fundiert ist. Das Verhältnis des Menschen zum Maß wird durch die quantitative Messbarkeit nicht voll erfasst, wird durch sie nicht einmal gefragt. Das Verhältnis des Menschen zu einem Maßgebenden ist eine fundamentale Beziehung zu dem, was ist. Es gehört zum Seinsverständnis selbst.«104 Der Vorblick auf quantitative Größe, Relationalität, Struktur und Prozessualität beim Messvorgang ist hierbei schon eine eingeschränkte Modifikation unseres maßnehmenden und maßgebenden Verhältnisses zu den Dingen, genauer: zur so ausgelegten Dinglichkeit der Dinge. Worauf geblickt wird, sind dann (gemäß dem Seinsverständnis traditioneller Ontologie) nur akzidentelle Bestimmungen von selbstständig Seienden. Kommen wir nach dem Gesagten wieder zu unserem Beispiel von den zwei Vorstellungen, die Descartes von der Sonne hat, zurück. Die zweite Vorstellung kommt nicht (allein) über die Sinne, sondern durch Messinstrumente vermittelt zustande. Wir 104 M. Heidegger, Zollikoner Seminare, 130.
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können jetzt sagen, dass sie nur eine Transformation unseres leibhaftigen Sich-Anmessens an das Ding durch Messwerkzeuge darstellt. Wir vermögen unseren unmittelbaren haptischen Zugang zur Welt mit Hilfe von Geometrie und Mathematik – »eingeborenen Begriffen« – zu instrumentalisieren und dadurch zu verändern und zu erweitern. Andere Auslegungs- und Erfahrungsweisen (z.B. die alltäglichen über den Gesichtssinn) werden als Leitende methodisch ausgeblendet. Dadurch wird es möglich, über die errechnete Entfernung Erde-Sonne und den Winkel, in dem die ,Sonnenscheibe‘ uns als gemessene erscheint (und uns nicht als Sonne scheint!), den Sonnendurchmesser von 1,392 Millionen Kilometern zu berechnen. Die Erkenntnis ist erstaunlich und lässt sich direkt und ohne instrumentale Vermittlung nicht erlangen. Nun zur Problemlösung Descartes: Die Forschungsergebnisse über die Sonnengröße stimmen mit unserer lebensweltlichen Optik (Gesichtswahrnehmung) nicht überein. Widerlegen sie aber deswegen unsere Optik von der Sonne? Hat diese Frage überhaupt einen Sinn, wenn unsere sichtbare Sonne am blauen Himmel uns anders und mehr als nur als ein scheibenförmiges Objekt unserer Gesichtswahrnehmung (,Augenschein‘) erscheint? Direkt in die Sonne zu blicken hält man ohne Hilfsmittel kaum aus, und es wäre überdies nur eine augenblickshafte Möglichkeit, ihr zu begegnen. Vor allem ist die Sonne da im Licht des Tages, wenn alles im strahlenden, schönsten Sonnenschein liegt; und noch hinter Wolken verdeckt, überstrahlt sie uns mit ihrem Licht. Sie wärmt nicht nur Luft, Erde und Wasser, sondern auch uns. Auch Blinde spüren leibhaftig die pralle Sonne im Gesicht. Was die Sonne in unserer menschlichen Welt (der Lebenswelt) vom Aufgang bis zum Untergang Tag für Tag und Jahr für Jahr ist und bedeutet, lässt uns erst verstehen, weswegen die astronomischen Berechnungen der Sonne höchstes Interesse verdienen und wovon ihre Erklärungen handeln. Die Berechnungen beruhen überall auf dem Erscheinen der aufgegangenen Sonne, darauf, dass es hell wird, Tag wird. Der Tag und das Tagen (Hellwerden) zeigt sich lebensweltlich; der Tag ist ein Urphänomen, kein berechenbarer Zeitabschnitt, der von 0 bis 24 Uhr dauert. Ohne die Sonne (oder ein anderes Licht, das uns leuchtet) umhüllt uns Dunkelheit; ohne sie wird es nicht Tag, das heißt hell. Die Helle gewährt offensichtlich jene Durchsicht, die Sichtbares erst wahrnehmen lässt: das Firmament. In der und durch die Helle ist die Sonne unmittelbar da: gegenwärtig. Die Helligkeit lässt uns die Sonne und ihr Bewegtsein vernehmen. In einer »Analyse des Vernehmens der Welt in der Weise des Sehens« bei Aristoteles sagt Heidegger von der Sonne, dass ihre Gegenwart die Helle sei: »Die Helle ist etwas, was zum Sein der Welt selbst gehört. Helle ist Anwesenheit von Sonne. Dieses Anwesendsein hat seinen Seinscharakter darin, daß es durch sich hindurch sehen läßt. Sehenlassen ist die Seinsweise der Sonne. Die
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Vernehmbarkeit der Dinge steht unter der Bedingung eines bestimmten Seins dieser Welt selbst. Bedingung-sein betrifft eine Weise des Seins der Welt selber.«105 Auf die primäre Lebenswelt, das Sehenlassen der Dinge in der Helle, das Tagsein, dieses eigentümliche Dasein des Himmels, bleibt unsere naturwissenschaftliche Erkenntnis überall angewiesen, wenn die Sonne beobachtet, fotografiert, ein Sonnenobservatorium in den Weltraum geschickt wird, wenn über sie gespeicherte Daten mit Augen abgelesen werden usf. Es besteht kein Grund, diesen unmittelbaren ,Augenschein‘ als Sinnestäuschung abzuwerten und gegen astrophysikalische Vorstellungen auszuspielen, die keineswegs die einzige und eigentliche Wirklichkeit der Sonne darstellen, sondern lediglich die sich auf das Physikalische beschränkende. Auch wird der vor- und außerwissenschaftlich für alle Messung verbleibende und vermittelnde Vorrang der Haptik als Nahsinn überbrückt und methodisch ausgeblendet. Diese Sonne als berechenbare physikalische Größe im Sonnensystem, deren Emissionen Sonnenkollektoren absorbieren und deren Strahlungsenergie aus dem Schmelzen von Eismassen abgeleitet wurde, deren Magnetismus (über sichtbar gewordene Flecken erschlossen) Einfluss auf das Klima und dessen sichtbare Manifestation, das Wetter, hat, deren Ultraviolettstrahlung in der Stratosphäre durch Ozon lebenserhaltend für das Leben auf Erden stark gefiltert wird, diese Sonne geht weder strahlend auf noch glutrot unter, sie steht weder hoch im Zenit, noch kümmert sie sich darum, ob wir viel Sonne vertragen – wovon unser Leben abhängen kann. Was aber ist uns die Sonne und was bedeutet sie, wenn wir ein Sonnenbad nehmen? Die Millionen Kilometer Sonnendurchmesser lassen Badende ganz kalt, wenn die Sonne sie nur wärmt. Und als was wird die Sonne in der Dichtung, in der Philosophie Platons, im Mythos und in den Religionen erblickt? Erinnert sei nur an die erste Strophe des mit »Abend« betitelten Gedichtes von Rainer Maria Rilke: Einsam hinterm letzten Haus geht die rote Sonne schlafen, und in ernste Schlußoktaven klingt des Tages Jubel aus.106
Dieses Gedicht ruft das Ganze unseres Daseins an, lässt es stimmungsvoll erklingen, öffnet es für das Einzigartige eines erfüllten Sonnentages: Ausklang im 105 M. Heidegger, GA, Bd. 17: Einführung in die phänomenologische Forschung, 9, vgl. 6 –13. Wenn Helle als Bedingung möglicher Vernehmbarkeit dessen, was sich sehen lässt, und als Seinsweise der Welt verstanden wird, so ist dies in betonter Absetzung von kantischem Bedingtsein alles Wahrnehmbaren durch das Vorstrecken von Formen der Zugänglichkeit durch ein an sich weltloses geistiges Subjekt gesagt. 106 R. M. Rilke, Sämtliche Werke, Bd. 1: Larenopfer 1895, 20.
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Dankesjubel, umgriffen vom unwiderruflichen Ende des Untergangs. In der vom gleißenden Gold zum Abendrot gemilderten Sonnenhelle ist noch ein letzter Ausblick auf das gewährt, was sich heute in bewohnter Gegend bis hin zum fernsten Horizont hinter dem letzten Haus zeigt: ein die Ferne überwölbendes Einssein des Vernehmenden und des Vernommenen in ihrem Licht. Das Gewichtige dieses Ausklangs im Ausgriff versammelnder Schlussoktaven ist der Ernst des Lebens; er kommt von jenseits des uns gemeinsam Bewohnbaren her, vom hintergründigen Ende, Versinken in Einsamkeit, Versinken in den Schlaf – mit seiner Nähe zum Totsein, das den Ernst des Lebens birgt. Alles das ist Sonnenuntergang, überlässt den erfüllten Tag der Nacht und harrt dem diamantglänzenden Aufgang entgegen. Das rührt an das, was uns unsere Tage an der Sonne sind, was sie geben, was wir selbst sind: an das uns eigene wesenhaft ,Sonnenhafte‘, ohne das wir kein Licht erblicken könnten. Das Gesagte hat uns – der Aufgabe der Philosophie gemäß – dazu geführt, auf den Ursprungsboden dieser lebensweltlichen Erfahrung hinzuweisen: Im Licht der Sonne und in ihrer Helligkeit, die von der Morgendämmerung bis in die Abenddämmerung reicht, lichtet sich die Gegend; sie wird zum Anblick frei. Im Dunkel ist sie uns verborgen. Das Seiende, das wir selbst als Dasein inmitten der Seienden sind, ist der Welt so übereignet, dass ihm das Sein in der Welt gelichtet ist, und zwar als aus dem Verborgenen freigegebener Offenständigkeitsbereich (Weltaufenthalt). Das Verhältnis des Menschen zum Maßgebenden, zu dem, was gegeben ist, hat seinen Ursprung und ermöglichenden Boden in seinem seinsvernehmenden Wesen, in dem von ihm offen zu haltenden Erscheinungsraum und nicht in einem anderen Seienden (der Sonne). Welt tritt aus der Verborgenheit heraus in das Unverborgensein und ermöglicht erst die Zugänglichkeit von Gegend im Licht sowie Licht als Quelle und als Helligkeit. Durch dieses Walten (Sein, Anwesen) wird alles Seiende (Gegend, Licht und Helle) erst seiend. Wir sehen zwar die Gegend im Licht der Sonne, die ihr leuchtet und Schatten wirft, jedoch als eine Gegend, in der die Sonne selbst erblickt werden kann. Aber dazu muss dieses Sichlichten, d.h. für ein Erblicken von Seiendem Offen-, Frei- und Zugänglich-sein, der Sonne in ihrem Licht vorausgehen. Innerweltlich begegnendes Seiendes (Anwesendes) tritt in diesem seinem Anwesen hervor und wird durch den Aufgang dieser Welt erst seiend. Wir können daher die Sonne selbst in ihrem eigenen Licht sehen, weil wir im Offenen und Freien, im Zeitspielraum der Welt, die Heidegger »Lichtung« nennt,107 stehen, und zwar als Seiende, die eksistieren, d.h. im 107 Vgl. dazu M. Heidegger, GA, Bd. 15: Seminare (Martin Heidegger – Eugen Fink: Heraklit), 231;
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Aus- und Hinausstehen in diese Offenheit der Welt. Der Reichtum des lebensweltlich uns Begegnenden, das wie die Sonne in ihrem eigenen Licht gesehen werden kann und sich im Dunkel verbirgt, führt uns zurück auf Ursprünglicheres, Fundamentaleres, auf das Offene der Welt, den Zeitspielraum der Lichtung, das Da-sein in seiner Selbsterschlossenheit.
2.3 Zur dialogischen Partnerschaft von Philosophie und Offenbarungs theologie
Denken wir nur an die griechisch-lateinische Patristik des Mittelmeerraumes, die ostkirchlichen Palamiten im byzantinischen Kaiserreich, die Hoch- und Neuscholastik oder die Tübinger Schule, so kann man von der reichen, kaum überschaubaren Geschichte der Auseinandersetzungen und fruchtbaren Begegnungen zwischen sich wandelnder Philosophie und christlicher Theologie sagen: keine große christliche Offenbarungstheologie ohne Philosophie samt ihrer theologischen Philosophie, mindestens nicht ohne für die theologische Arbeit schwerwiegende philosophischtheologische Implikationen. Der Satz ist nicht umkehrbar, gab und gibt es doch große Philosophie außerhalb des Christentums und auch relativ unabhängig von jeder der drei großen Offenbarungsreligionen südwestasiatischen Ursprungs. Warum dieses Zusammengehen der beiden höchst unterschiedlichen Verstehensweisen und ihrer Theologien aus offenbarungstheologischer Sicht in der Christenheit anteilsmäßig überwiegend für unverzichtbar gehalten wird, sachlich möglich und notwendig erscheint, ist kurz darzustellen, wobei an schon Gesagtes angeschlossen werden kann. Noch im II. Vatikanischen Konzil wurde die Philosophie im Studienplan der Theologen und zur Ausbildung der Priester mehrfach eingefordert.108 Mit Nachders., Zollikoner Seminare, 15 f.: »Mit Aufgang der Sonne wird es hell, alles wird sichtbar; die Dinge scheinen. […] Übrigens, wenn das Licht ausgeschaltet wird, wie ist es dann mit der Lichtung? … Offensein heißt Lichtung. Auch im Dunkeln gibt es Lichtung. Lichtung hat nichts zu tun mit Licht, sondern kommt von ,leicht‘. Licht hat mit Wahrnehmung zu tun. Im Dunkeln kann man noch anstoßen. Das braucht kein Licht, aber eine Lichtung. Licht – hell; Lichtung kommt von leicht, frei machen. Eine Waldlichtung ist da, auch wenn es dunkel ist. Licht setzt Lichtung voraus. Helle kann nur da sein, wo gelichtet worden ist, wo etwas frei ist für das Licht. Das Verdunkeln, das Wegnehmen von Licht, tastet die Lichtung nicht an. Lichtung ist Voraussetzung, dass es hell und dunkel werden kann, das Freie, offene.« 108 Vgl. LThK2, Das Zweite Vatikanische Konzil. Dokumente und Kommentare, Bd. 2: Dekret über die Ausbildung der Priester (Decretum de institutione sacerdotali »Optatam totius«, Nr. 15, 340 f.), wo den heranzubildenden Priestern »die philosophischen Disziplinen […] so dargeboten werden [sollen], dass [sie] vor allem zu einem gründlichen und zusammenhängenden Wissen über Mensch, Welt und Gott hingeführt werden«, und zwar unter Berücksichtigung sowohl des stets gültigen Erbes als auch der philosophischen Forschung der neueren Zeit. »Philosophiegeschichte
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druck wurde durch Papst Johannes Paul II schon im Titel der Enzyklika Fides et Ratio die Eigenart der inneren Notwendigkeit (de necessitudinis natura) des Verhältnisses von Glauben (Theologie) und Vernunft (Philosophie) hervorgehoben. Mag einer Enzyklika auch nicht dieselbe lehramtliche Verbindlichkeit wie einer Konzilsaussage zukommen, so ist sie doch eine an die Bischöfe der katholischen Kirche adressierte Äußerung des ordentlichen Lehramtes, aus der zudem die Kompetenz eines ehemaligen Philosophieprofessors an den katholisch-theologischen Fakultäten der Universitäten in Lublin und Krakau spricht. Die Frage ist, welche Bedeutung der Philosophie innerhalb und außerhalb der Offenbarungstheologie zugemessen wird. Diese Bedeutung entspringt der Sorge um Offenbarungstheologie und ihr selbst. Zur Beantwortung der Frage, welches Interesse die Offenbarungstheologie an der Philosophie hat bzw. welche Bedeutung Philosophie innerhalb und außerhalb der Offenbarungstheologie für sie hat, kann auf ein Dreifaches verwiesen werden: Offenbarungstheologie ist interessiert 1. an der Methodik und Systematik der Philosophie als einer Universalwissenschaft (2.3.1), 2. an einer den Offenbarungsglauben vorbereitenden Philosophie innerhalb der Offenbarungstheologie (2.3.2) und 3. an dialogischer Partnerschaft mit einer selbständigen Philosophie. Ist das Interesse ein gegenseitiges, dialogisches und partnerschaftliches, dann wird die Frage auch umgekehrt zu stellen sein: Welche Bedeutung kommt der Offenbarungstheologie für die Philosophie zu und was bedeutet es für diese, im soziokulturellen Umfeld einer solchen Offenbarungstheologie zu denken? (2.3.3) soll so gelehrt werden, dass die Studenten zu den letzten Prinzipien der verschiedenen Systeme vordringen, den Wahrheitsgehalt festhalten, die Irrtümer aber in ihren Wurzeln erkennen und widerlegen können.« Durch die Lehrweise soll auch in den Studierenden die Liebe geweckt werden, mit methodischer Strenge nach »der Wahrheit zu suchen (amor veritatis rigorose quaerendae), in sie einzudringen und sie zu beweisen und gleichzeitig die Grenzen menschlicher Erkenntnis ehrlich anzuerkennen«. Auch ist auf die unzertrennliche Verbindung (necessitudo) von Philosophie mit den wirklichen Lebensproblemen und den die Studierenden innerlich bewegenden Fragen besonders zu achten, was hilfreich wäre, »die Verbindung zu sehen, die zwischen den philosophischen Gedankengängen (argumenta) und den Heilsgeheimnissen besteht, die die Theologie im höheren Licht des Glaubens betrachtet«. Im Dekret über die Missionstätigkeit der Kirche (Decretum de activitate missionali Ecclesiae »Ad Gentes«, Bd. 3, Nr. 16, 46 f.) wird für heranzubildende Priester zusätzlich gefordert, dass sie »in den philosophischen und theologischen Disziplinen […] die Beziehungen verstehen, die zwischen ihrer heimatlichen Überlieferung und Religion und der christlichen Religion bestehen«. Auch die Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute (Constitutio pastoralis de Ecclesia in mundo huius temporis »Gaudium et spes«, Nr. 62, 478 f.) spricht von den die Theologie anregenden (excitare heißt auch aufmuntern, aufscheuchen) neuen Fragen der Philosophie, die sich aus neuen Forschungen und Ergebnissen stellen.
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2.3.1 Methodisch-systematisches Interesse der Offenbarungstheologie an der Philosophie
Die wissenschaftliche Offenbarungstheologie von heute kennzeichnet eine Pluralität von Methoden, welche die Philosophie als eine Universalwissenschaft, aber auch fachwissenschaftliche Methoden, besonders Methoden der Geschichts- und Literaturwissenschaft, nicht nur rezipiert hat, sondern (wie zum Beispiel die Hermeneutik) auch maßgebend mitgefördert hat. Der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, den die Philosophie samt ihrer Theologie in methodisch-systematischer Hinsicht vielseitig entwickelt hat, ist in der Offenbarungstheologie äußerst fruchtbar geworden. Im Folgenden geht es weniger um die Vielfalt methodischer Systembildungen und ihre Rezeptionsgeschichte als um das sie Grundlegende im Sinne einer Phänomenologie ursprünglicher Erfahrung des methodisch-systematischen Wissenschaftsverständnisses. Um von theologischer Philosophie und Offenbarungstheologie als Wissenschaften reden zu können, muss gefragt werden, wie überhaupt das Wissenschaftliche in seinem Verhältnis zur Welt zu charakterisieren ist. Welches ist das uns hier leitende Wissenschaftsverständnis? Kann es überhaupt das Wesen des wissenschaftlichen Vorgehens charakterisieren? Dabei ist zu beachten, dass wir, auch wenn wir das Interesse der Offenbarungstheologie aufgreifen, philosophisch fragen, d.h., wir können uns nicht an irgendeine fertige und brauchbare Wissenschaftstheorie halten, die wie ein Rezept vorschreibt, wie man wissenschaftlich vorzugehen hat. Die Welt der Wissenschaft ist von einer beinahe anarchischen Vielfalt wissenschaftlicher Vorgehensweisen geprägt, die stets fragwürdig, wenn nicht gar hinterfragbar sind. Hier muss es genügen, das wissenschaftliche Vorgehen durch zwei Grundzüge zu kennzeichnen, durch das systematische (2.3.1.1) und das methodische (2.3.1.2) Erkennen von etwas, und zwar im Hinblick auf seinen ursprünglichen Sinn – Sinn verstanden als Verständlichkeit (Intelligibilität), in der sich etwas hält und woraufhin und wovon her es verständlich wird.109 Offenbarungstheologie kann philosophische Methoden nicht einfach übernehmen und auf sich anwenden, nur weil sie brauchbar erscheinen, sondern eine ihr angemessene Modifikation ist im Interesse der ihr eigenen Wahrheit nur möglich, wenn der ursprüngliche Sinn der Methode bzw. des Methodischen verständlich(er) wird.
2.3.1.1 Systematisches Vorgehen
Wissenschaftliches Erkennen geht nicht regellos, sondern geordnet vor sich. Als ein Charakteristikum wissenschaftlichen Erkennens gilt das geordnete, das systemati109 Vgl. M. Heidegger, GA, Bd. 2: Sein und Zeit, 201.
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sche Vorgehen. Man dringt in eine Wissenschaft durch systematisches Studium ein und hat es dabei mit systematisch organisiertem Wissen zu tun, wobei die Wissensgebiete und Sachbereiche selbst noch zu einem verzweigten System der Wissenschaften aufgegliedert werden können. So setzt beispielsweise unsere Frage nach dem Ort der philosophischen Theologie innerhalb der verschiedenen Theologien (in diesem Kapitel 1) sowie nach ihrem Ort innerhalb der Philosophie (unten Kapitel 2) eine unabgeschlossene Systematisierungsmöglichkeit voraus, die zum Verständnis der Aufgabe philosophischer Theologie durch den Horizont, innerhalb dessen sie erblickbar ist, und durch die Bestimmung dessen, was sie nicht ist, wesentlich beiträgt. Was meint hier Systematik? Wie gesagt, geht es bei der Beantwortung dieser Frage nicht um die Anwendung einer fix vorgefassten Idee des Systematischen auf den Wissenschaftsbetrieb, sondern um den ursprünglichen Sinn des Systematischen. Aber lässt sich ein ursprüngliches Verständnis von Systematik überhaupt ausmachen? Ursprüngliches Verständnis bezieht sich auf die in optimaler Phänomennähe durchgemachte und verstandene Erfahrung. Zu entdecken und einzusehen ist, was eigentlich das Systematische im anfänglich Erkannten ist, um das Erkannte in eine Ordnung zu bringen und vorzubringen. Was also ist philosophisch unter systematischem Vorgehen und Systematik zu verstehen? Systema (ssth ma) kommt von syn-ístemi (sun-sth mi), d.h. ich stelle zusammen, ich vereinige. Aber bei der Worterklärung (oder auch Etymologie), die meist hilfreich ist, können wir nicht stehen bleiben; in der Philosophie müssen wir zur Sacherklärung übergehen. Sachlich gesehen meint System ein Ordnungsgefüge. Wissenschaft bildet bzw. ist das Ordnungsgefüge des Wissens, der Erkenntnis eines Sachbereiches. Systematisch ist ein Vorgehen dann, wenn ein Ordnungsgefüge (eine Struktur) gebildet wird. Das wissenschaftliche Vorgehen nennt man systematisch, weil darin für unser Weltverhältnis ein Ordnungsgefüge des Erkennens und der Erkenntnisse gebildet wird. Doch ist das Ordnungsgefüge unterscheidbar in ein äußeres und in ein inneres, das ursprünglicher als das äußere ist. Das Ordnungsgefüge kann uneigentlich und äußerlich gemeint sein: Das Wissen wird organisiert, zusammengestellt, unter den seiner Herkunft nach uneigentlichen Gesichtspunkten und Interessen, die gar nicht unberechtigt sein müssen, wie zum Beispiel die lehrbuchmäßige Darstellung. Ursprünglicher gesehen ist ein wissenschaftliches System keine bloß äußere Zusammenstellung oder Summenbildung von Wissensinhalten, wie Lexikographie bzw. Lexikologie sie zum Gegenstand haben, aber auch kein äußerer Rahmen, wie eine unter didaktischen Gesichtspunkten günstig aufgegliederte Anordnung von Wissenswertem, von modularem Lehrstoff, wie er zur Wissensvermittlung und zur lehr-
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mäßigen Information aufbereitet wird. Ein übersichtlich und zahlenmäßig sorgfältig aufgegliederter Lehrstoff ist kein Garant für die Echtheit und Ursprünglichkeit der Systematik. Gerade in der Philosophie kann manches den Anschein von modularer Systematik erwecken, was aber eigentlich ein Pseudosystem ist. Worauf kommt es dann aber an, wenn Erkenntnis systematisch entwickelt werden soll? Es kommt auf ein Denken an, das mehr ist als ein Wissensbestände anhäufendes Erkennen, welches sich nur mehr vom Erkannt-Haben nährt.110 In ihm wäre der Bezug zur Sache, um die es im Erkennen geht, zum Stillstand gekommen. Im Denken geht es vor allem um das zu Denkende, nämlich die Sache des Denkens selbst. Sie ist in ihrem Gang (dem Weg, auf dem sie sich zeigt) zu erhorchen, und zwar so, dass wir imstande sind, bei ihr anwesend zu werden, zu verweilen, ihr zu folgen, sie zu begleiten, mit ihr mitzugehen und sie mitzuvollziehen. Wenn wir hier fragen, wie wir damit bei der Sache sind, so ist ein vorprädikatives Sein bei ihr, vor ihr und mit ihr angesprochen. Wir kommen dazu, dass wir uns von dem, was da vor sich geht und sich ereignet, in Anspruch nehmen lassen: sei es wie in einem Einzelbereich der Seienden, des Sichzeigenden und uns Begegnenden, oder sei es wie in der Philosophie im Innesein des Ganzen. In ihr lassen wir uns von dem, was da überhaupt ,ist‘, sich ereignet, in seiner ganzen Weite und uneingeschränkten Tiefe bewegen. Damit sind wir zum Ursprung des Systematischen vorgedrungen. ,Systematisch‘ meint jetzt nichts Äußerliches oder auch nur Bereichsbezogenes mehr, sondern eigentlich und ursprünglich ein Denken, dem es gelingt, die Sache des Denkens (das zu Denkende) so zu entwerfen (d.h. aus-ein-anderzuwerfen, auseinanderzulegen, eines aus dem anderen zu ent-wickeln), dass ihr inneres Sinngefüge (die Grundverfassung, Grundstruktur – also ihr inneres Einssein in allem) sichtbar gemacht, enthüllt wird, und zwar um der Enthülltheit, d.h. Wahrheit willen. Ein schöpferischer Entwurf des Denkens erfindet dabei nicht etwas, das nicht auf Wahrheit (Offenbarwerden) und Realität (zu der auch das Möglichsein gehört) beruht. Das in einem solchen Gang des Denkens entwickelte ,System der Erkenntnis‘ ist dann das nachträgliche Ergebnis, das Resultat, und muss an der Ursprünglichkeit der Fügung des Denkens an die Sache selbst gemessen werden. 110 Vgl. dazu auch das griechische Wort für Wissen (eidénai, ednai), das eine Perfektbildung von
Sehen (idein, n) ist. Demnach ist Wissen das Gesehen-Haben, das Angeschaut-Haben. Dem entsprechend ist ein Begriff ein Auf-den-Begriff-gebracht-Haben, das Urteil das Fixiertbleiben auf ein Urteilen, die Begründung ein Begründet-Haben. Statt Begriff, Urteil und Begründung aus der Bewegung des Denkens auszuklammern, sie des Lebens zu berauben, Wissen zum Erkenntnismüll verkommen zu lassen, gilt es im Philosophieren, den Begriff in das Begreifen, das Urteil in den Prozess des Urteilens und die Begründung in die unabschließbare Bewegung des Denkens zu reintegrieren.
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In der philosophischen Erkenntnis geht es um das innere Gefüge, das innere Einssein und die Zusammengehörigkeit in allem und im Ganzen. Alles ist und besteht im Einssein, der Grund im Ganzen, das Ganze im Grund. Der Grund begründet in der ihm gemäßen Weite das Ganze, das auf ihm aufbaut und steht. Philosophie wird hier verstanden als (provisorisch immer offenbleibender) Versuch, das Ganze (Welt, Ding, Selbst- und Mitsein) aus dem Grund und auf den Grund hin zu denken oder als ein dem Ganzen entsprechendes Denken des Grundes. Sie ist in dem Maß systematisch, als es ihr gelingt, das innere Grundgefüge des Ganzen sachgemäß zu erheben. Hierbei ist der Unterschied zwischen dem Ordnungsgefüge (System) der zu denkenden Sache, die im sachgemäßen Denken entworfen wird, und dem sachgemäßen Denken zu beachten, das sich dem inneren Gefüge der Sache entsprechend fügt, der ,Logik‘ der Sache nachgeht, diese entwirft, konstruktiv auseinanderlegt, d.h. aufbauend sichtbar macht, und schließlich im Redegefüge erblicken lässt. Das denkend fragende Aufschließen der jüdisch-christlichen Offenbarung in der Verständlichkeit ihres inneren Sinngefüges (in ihrer Göttlichkeit, Menschlichkeit und Weltlichkeit) konnte und kann nicht an den Ansprüchen systematischer Wissenschaftlichkeit auf die Dauer vorbeigehen, die uns von der Sache selbst her nahegelegt wird. Offenbarungsreligion kann sich nicht auf eine unsystematische Auslegung heiliger Bücher oder gottesdienstlichen Sprechens und Verhaltens beschränken, mag auch deren Fassung in Spruchweisheit, Aphorismen, Oden und Hymnen, Nach- und Neuerzählungen (,narrative Theologie‘), Metaphern, Sammlungen von Aussprüchen, Notizen und kommentierende Anmerkungen u.Ä. auf ihre Weise wissenschaftliche Systematik überragen. 2.3.1.2 Methodisches Vorgehen a) Ursprünglicher Sinn des Methodischen Der zweite Grundzug des wissenschaftlichen Vorgehens ist das Methodische – eine Art des Erkennens, die durch ihr methodisches Vorgehen charakterisiert ist. Was ist damit gemeint? Gehen wir wieder vom Wort aus. Das Wort ,Methode‘, griechisch mϑodoß, setzt sich aus der Präposition met1 und dem Substantiv dß zusammen und meint das Nachgehen, dem Weg entlang, zu etwas hin gehen, der Weg, auf dem wir irgendeiner Sache nachgehen. Sachlich versteht man unter wissenschaftlicher Methode gewöhnlich das geregelte Verfahren, dem man nachzugehen und an das man sich zu halten hat, um das Ziel wissenschaftlicher Erkenntnis zu erreichen, nämlich geordnete, zusammenhängende, begründete, also zum System systematisierte Erkenntnis irgendeiner Sache, einer Gesamtheit von Sachverhalten oder eines Sachbereiches. Wie
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sich eine Sache zeigen kann, ist abhängig von der Art des Vorgehens. Dem Anschein nach bestimmt daher nur die Methode den Gegenstand; sie entwirft formal den Gegenstandsbereich und material, was in ihm vorkommen kann. Dieser Primat der Methode gegenüber und vor der Sache gehört zu den allzu fraglosen Selbstverständlichkeiten des modernen Wissenschaftsbetriebs. Durch methodisch-systematische Beobachtung wird ein Beobachtungssystem konstruiert, wobei der Beobachter zum Teil des Systems, das er beobachtet, wird. In der Tat wird die formale und materiale Vergegenständlichung des Seienden von uns aus entworfen (,erfunden‘) und nicht vorgefunden. So erscheint die Wirklichkeitskonstruktion als höchste Möglichkeit menschlicher Autonomie: als geniales Schöpfertum. Doch ist ein solcher vergegenständlichender Weltbezug im Überschlagen des Gegebenen immer nur möglich durch eine Teilnahme am Anwesen des Anwesenden, und zwar nach Maßgabe einer Teilgabe am Möglich-, Wirklich- und Selbstständigsein innerhalb des vorgegebenen Weltbezugs. Zudem muss es aus dem inneren Reichtum des Seienden her möglich sein, dass es (für ein Subjekt) vielfach vergegenständlicht wird. Der vergegenständlichende Weg bahnt und bewegt sich immer innerhalb des Sichverhaltens des Daseins aus dem Sein zum Sein. Daher wäre es angemessener, auf das die hermeneutische Methode bzw. Rezeptionsästhetik tragende Axiom zurückzugreifen: Was aufgenommen wird, wird nach Art und Weise des Aufnehmenden aufgenommen (quidquid recipitur ad modum recipientis recipitur).111 Dieses Axiom wahrt im Blick auf originäre Phänomene die Differenz von Aufnehmendem und Aufgenommenem. Das geschichtliche Durchhalten und Austragen der Differenz wird im hermeneutischen Zirkel des Erkennens einer Sache, ja des Sichverstehens auf das weltoffene Seinkönnen des Daseins selbst artikuliert, und damit wird das Wie der Begehbarkeit eines Weges zu dem, was Sache ist, als ein geschichtlicher Lernprozess angesprochen. Der modus recipientis (als Apriori, Vorverständnis, Sich-selbst-Verhalten-Können des Daseins) wird hier nicht als subjektzentrierte Rückführung des noch Unerkannten auf das schon Bekannte, als Voraussetzung einer Subsumptionslogik zur Unterwerfung (subiectio) der Erfahrung verstanden, was zu einem geschlossenen statt offenen System führen würde. Alle Verhaltensmöglichkeit, Fassungskraft, Aufnahme- und Lernfähigkeit sind vielmehr als ,Vorgabe‘ von der Sache in ihrer Unergründlichkeit her zu verstehen, der sie die Möglichkeit zu je immer angemesseneren Entsprechungen in je immer größerer Offenbarkeit (Wahrheit) verdanken. Suchen wir im Sinne des Gesagten das Methodische ursprünglicher zu denken, und zwar in Entsprechung zum zu entwerfenden inneren Gefüge der Sache 111 Zu diesem auf den Neuplatonismus zurückgehenden Axiom vgl. Thomas von Aquin, De causis, prop. 10, und Sth I, q. 75, a. 5c: Manifestum est enim quod omne quod recipitur in aliquo, recipitur in eo per modum recipientis.
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selbst, dann verhält es sich umgekehrt: Nicht der Methode kommt der Primat vor der Sache zu, sondern vom ursprünglich Systematischen, der inneren Logik der Sache her, bestimmt sich die Methode. So gesehen gilt der Primat der Sache vor der Methode – oder richtiger: innerhalb des Methodischen. Suchen wir im Denken beim Phänomen zu bleiben, dann nimmt es uns so in Anspruch, dass uns etwas an- und aufgeht, fragwürdig wird und uns doch in seiner vollen Verständlichkeit immer wieder entzogen bleibt; es kommt uns (aus der Ferne) nah und entgeht uns in entschwindende Ferne, es ist uns vertraut und zugleich befremdend. In dieser Situation befinden wir uns, und wir suchen ihr besser zu entsprechen, indem wir nach einer geeigneten Methode suchen: Wir schlagen einen Weg ein, machen uns zu der Sache auf, die uns schon bewegt und mitnimmt. Methode ist daher nicht nur nach dem landläufigen Verständnis bloß das Beschreiten eines bereits vorgebahnten Weges, sondern das Bahnen eines zu begehenden Weges, hier des Denkweges, der zu den Sachen zurückführt. Aber die verborgene und sich verbergende Sache muss schon als solche gefunden worden sein, denn es kann gar keinen Weg zur Sache geben, wenn nicht die Sache selbst auf allen Schritten des Weges gegenwärtig ist und den zu bahnenden Weg vorzeichnet. Um auf den rechten Weg des Denkens zu kommen, müssen wir uns nach der zu denkenden Sache umschauen und uns ihr zuwenden. Erinnert sei an Edmund Husserls Forschungsmaxime (höchste Regel) des Rückgangs »Zu den Sachen selbst«, die zum Leitsatz der phänomenologischen Bewegung wurde.112 Er verlangt, die Sachen »in ihrer Selbstgegebenheit [zu] befragen und alle sachfremden Vorurteile [zu] beseitigen«113 und sie »durch Rückgang auf die Sachen oder Sachverhalte selbst in ursprünglicher Erfahrung und Einsicht«114 auszuweisen. Die Frage ist dann freilich, was in ursprünglicher Erfahrung oder in der Erfahrung des Ursprungs Sache ist und welches Interesse, welche Sorge den Leitsatz »Zu den Sachen selbst« leitet: Geht es bei den Sachen um Phänomene des Bewusstseins und um deren Letztdenkbarkeit im transzendentalen Ego, oder geht es, ursprünglicher gedacht, um unser Miteinanderdasein in der Welt? Geht es letztlich (normativ) um Erkenntnisgewinn und Wissenserwerb im Dienst der Sicherstellung und Herrschaft menschlicher Subjekte und ihrer Kultur (Husserl), oder geht es nicht vielmehr primär um unser 112 E. Husserl, Husserliana, Bd. 19/1: Logische Untersuchungen, 10: »Wir wollen auf die ,Sachen selbst‘ zurückgehen.« 113 A.a.O., Bd. 3/1: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, 42. Angesprochen ist hier die nur methodische und keineswegs skeptische phänomenologische Epoché (poc), eine bloß vorläufige Enthaltung eines Urteils hinsichtlich des vorgegebenen Lehrgehaltes aller Philosophie. (Vgl. 40 ff.) 114 E. Husserl, Husserliana, Bd. 1, 6: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge.
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Da-sein-Können selbst, um das wir ja wohl auch Sorge tragen, wenn wir Möglichkeiten des Besorgens von Erkenntnis ausbilden (Heidegger)?115 Um diese Fragestellung, die dem Ursprünglich-Methodischen nachgeht, besser zu verstehen, ist darauf zu achten, dass im Bilden einer Blickbahn auf irgendeine Sache diese Sache sich uns entgegenkommend, aber auch sich entziehend, sich mehr oder weniger zugänglich, ja entstellt und verstellt zeigen kann. Eine sich dem Blick entziehende oder entstellte Sache gibt sich selbst erst im radikal fragenden, allenfalls dekonstruierenden Rückgang auf sie selbst angemessen zu verstehen. Dem entdeckenden Rückgang geht schon ein Bestimmtsein durch die gesuchte Sache voraus: vor allem, dass sich in allem Zeigen ihr Sichverbergen mitzeigt. Zu beachten ist diese Doppelpoligkeit des Methodischen, wenn es um unser Dasein geht: Es hat seinen Ort einerseits in unserem Sichverhalten zum Sein. Da dieses unser Sichverhalten zum Sein, zur offenbaren Welt der Seienden, immer ermöglicht wird durch unser phänomenal ausweisbares Selbstgegebensein aus dem Sein, liegt andererseits der Ursprung des Methodischen als uns vorgezeichneter und vorgebahnter Weg im Sein selbst. Denn das Offenbar- und Offenkundigwerden ist nicht nur Aufhebung faktischen Verborgenseins und Sichverbergens, sondern Sichmitzeigen des unausschöpfbaren Quells alles Offenbarwerdens, der als verborgenbleibender alles Entbergen birgt und hütet.116 Sehe ich, wie jemand mich erblickt, zeigt er mir nicht nur, wie er sich mir gegenüber verhält – er vertraut sich mir an oder verschließt sich, er spricht mich an oder schweigt usw. Dieses Sichzeigen und -verhalten enthüllt mir das Unbegreifliche seines Andersseins: sein Anwesen in unauslotbarer Abgründigkeit. Und auch ihm selbst bleibt dieser ihm selbst eigene Wesensabgrund in seiner Herkunft und Zukunft phänomenal dunkel. Was wir als Menschen eigentlich sind, kommt erst im Laufe 115 Vgl. dazu F.-W. von Herrmann, Hermeneutik und Reflexion. Der Begriff der Phänomenologie
bei Heidegger und Husserl.
116 Verstehen wir in diesem Kontext unter Geheimnis (Mysterium) die uns ansprechende Offenbarkeit
des immer Verborgenbleibenden (an dem wir alltäglich teilhaben, das uns engagiert und auf das unser Denken zurückgehen kann), dann gehen hier Philosophie mit ihrer Theologie einerseits und Offenbarungstheologie andererseits aus je verschiedener Sicht im Bezug auf das Geheimnis des Seins (in seinem verbalen, geschichtlichen ,Wesen‘) zusammen. Das Mysterium des Seins ist der Weg, der in allem Begegnenden zur Erfahrung kommen kann und Verständnis nach sich zieht. Die Rede vom Mysterium, das Sagen des Unsagbaren, ist kein Reservat einer sogenannten »negativen Theologie«, die sich zudem in eine logische Strategie bloßer Aussagen über Gott verflüchtigt. Ihr Sinn wird ohne die in ihr implizierte ,negative‘ Philosophie bzw. ontologische Phänomenologie unkritisch verfehlt, weil sie nicht auf die ursprüngliche Erfahrung des Anwesens von Abwesendem (Sichentziehendem) zurückgeht. Vor aller Aussagenlogik muss erfahren und bedacht werden, dass Anwesendes in seinem ihm zu eigen gegebenen Anwesen selbst der herausragende Weg (via eminentiae) in den unausschöpfbaren Quellgrund aller Offenbarkeit ist: das offenbare Geheimnis.
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eines langen Erfahrungsweges gemäß dem jeweiligen Lebensalter zum Vor-Schein, und zwar in immer größerer Distanz zu den embryonalen Ersterscheinungen unserer selbst. Aber wissen wir nun, wer wir sind? Obwaltet nicht bei noch so großer Verständlichkeit unseres Wesens je immer größere Verbergung? Zur Erfahrung von Offenbarung, Offenbarwerden und Offenbarkeit lichtet sich nicht nur Unverborgenes, sondern zeigt sich dessen abgründiges Geborgen- und Verborgensein selbst, und zwar phänomenal, mit. ,Es gibt‘ somit gegenüber unserem enthüllenden Sichverhalten ein den Erkenntnisweg vorbahnendes Entgegenkommen vonseiten des Phänomens. Der Erscheinungsweg ist in gewisser Weise uns schon vorweg, und zwar indem er durch die sich zeigende, in die Unverborgenheit hervorkommende Sache (Phänomen, Seiendes) gewiesen wird.117 Methode in einem ursprünglichen Sinn ist dann jener Weg, der schon von der Sache her eröffnet ist, dem wir uns daher anvertrauen und auf dem wir bleiben können. Erst abgeleitet, sekundär, meint Methode jenen Weg, der über die Enthüllung der Sachen zu ihrer Erkenntnis führt, sodass sie systematisch erkannt werden, bzw. das geregelte Verfahren zum Zweck wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns. Als Methode gilt, ganz allgemein verstanden, das Verfahren, das angewandt wird, um irgendein Ziel zu erreichen, zu einem Ergebnis zu kommen, zum Beispiel um ein Verkehrsmittel zu benützen oder eine Speise zuzubereiten. In dem Fall aber, wo die Methode geeignet sein soll, zur systematischen Erkenntnis zu führen, sprechen wir von einer wissenschaftlichen Methode. Ihrer landläufigen Bedeutung nach meint sie ein bahnbrechendes Aufzeigen oder die Anwendung eines Verfahrens auf bereits vorgebahnten Wegen. Geht es um die Enthülltheit der Sache als solcher, so kann von reiner Wissenschaft im Unterschied zu angewandter Wissenschaft gesprochen werden, in der es um die systematische Verwirklichung pragmatischer Ziele geht.118 Methode kann ursprünglich als der sich aus dem Phänomen selbst ergebende und vorausgebahnte Weg verstanden werden, der dem Denken zu vernehmen offensteht. Insofern hat die Sache selbst jeweils ihre wegweisende Logik (Sinn) und ihre ,Methode‘. Diesem Entgegenkommen der Sache entspricht, dass wir sie in der Weise 117 Aristoteles (Met. A 3, 984 a 18 f.) spricht im Hinblick auf frühgriechische Arché-Denker davon,
dass die Sache selbst sie auf den entsprechenden Weg brachte (t pr agma dopohsen atoiß) und zu weiterem Suchen nötigte. Die Sache selbst ist das dem forschenden Weitersuchen vorweg Wegbahnende. 118 Wobei das Vorurteil, dass reine Wissenschaft immer und notwendig lebensfremd und praxisfern sei, zu revidieren ist. Sie kann lebensnäher als angewandte Wissenschaft sein, wenn sie uns beispielsweise lebensnah Motivationen enthüllen oder zeigen kann, warum es im Blick auf das Daseinsganze sinnvoll ist, pragmatische Ziele zu verwirklichen, oder wenn sie zeigen kann, warum es am besten ist, so und nicht anders zu handeln, ja warum es besser ist zu sein, statt nicht zu sein.
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ihres sich unmittelbaren Erschließens in den Grundstimmungen zulassen und ihren Gang in seinem Sich-Fügen und differenzierenden Grundgeben erhorchen und ihm denkend folgen, d.h. die Sache entsprechend ,ent-werfen‘, um sie selbst und von ihr selbst her zu enthüllen und offenbar und so in ihrem Sinn verständlich zu machen. b) Gegenläufigkeit von Erkenntnis- und Sachordnung Die Erörterung des Methodischen (des ursprünglichen Sinns der Methode) hat bisher nur die Entsprechung von sich enthüllender, uns ansprechender Sache, die den Weg des Denkens anweist, sowie den Weg des Denkens zu ihrer Enthüllung herausgearbeitet. Es sind nicht numerisch zwei Wege, die da zusammentreffen, sondern ein und derselbe Weg ist es, der (im Falle einer Universalwissenschaft) dem Denken der zu denkenden Sache die weitreichendsten und tiefsten Möglichkeiten eröffnet. Damit sind wir darauf vorbereitet, eine bereits oben angedachte Überlegung des Aristoteles über das Methodische zu vertiefen. Aristoteles unterscheidet im Hinblick auf den Weg des Denkens, der zur Umgrenzung der Physis führt, das für und das der Physis gemäß unser Denken Erste ( prius quoad nos, prteron prß maß) Erste ( prius natura, prteron t fsei): »Nun ist es aber das natürliche Schicksal unserer Erkenntnis, dass sie auszugehen hat von dem, was für uns das Einsichtigere und Deutlichere ist, und weiterzugehen zu dem, was an ihm selbst das Deutlichere und Einsichtigere wäre.«119 Der physisgemäße Weg menschlichen Erkennens tut sich im Auseinanderliegen des Zusammengehörigen auf, des ,an ihm selbst‘ und des ,für uns‘, also im Bezug auf die Sache und im Bezug auf unser vorläufiges Vertrautsein mit der Sache – mit aller Dramatik, ja mitunter Tragik seiner ,Be-wegung‘. Dieser Gedanke muss vor dem Hinuntergezogenwerden ins Banale, ja Sog zum Missverstehen bewahrt und freigelegt werden. Gemeint ist nicht, dass man vom schon Bekannten ausgehen müsste, um dann das Unbekannte zu knacken; das wäre die Art der Subsumptionslogik oder analogischen Apperzeption (der Vergewaltigung der Erfahrung durch Rückführung des Unbekannten auf das Bekannte, durch Einverleibung des Fremden in das allzu vertraute Eigene). Hier geht es darum, sich von dem, was sich nur für uns als das Vertraute zeigt, loszureißen und sich auf den Weg zu machen zu dem, was (als Anfang, Ursprung, Grund) an sich währt und waltet – ein Sprung von sich weg, ein Absehen von sich, das Wagnis, sich dem phänomenalen Anspruch des Unvertrauten, Fremden, gnwrimwtrwn min dß ka 119 Aristoteles, Physik, A I, 184 a 16 f.: pfke d k t wn
safestrwn p t! safstera t fsei ka gnwrimtera (Übersetzung: H. Wagner, Aristoteles Physikvorlesung, 5). Vgl. auch weitere Textstellen und Lit. im Artikel Quoad se/quoad nos von K. Riesenhuber in: HWP, Bd. 7, Sp. 1841 f.
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Fernabliegenden zu öffnen, wie es in seinem Anderssein von ihm selbst her ist und sich selbst zeigt. Der Kerker der Selbstbezogenheit, der zu seiner Selbstbestätigung nur eine Expansion des selbstgesetzten Horizontes kennt, wenn er von sich aus auf Unbekanntes schließt, ist zu sprengen, zugunsten einer Öffnung und dem Offensein für die Sache, wie sie gerade nicht nur für mich, sondern an ihr selbst, von ihr selbst her und in Bezug auf sich ist. Das bedeutet, sich selbst als Erscheinungsort der Sache, um die es geht, anzunehmen und zu übernehmen. Der aristotelische Satz sagt somit wesentlich mehr als die lerntheoretische Maxime, wonach es sich allgemein bewährt, wenn man im Lernprozess vom Einfacheren zum Schwierigeren fortschreitet, vom Partikulären zum Universellen, und dass man überhaupt von der dem Lernenden vertrauten Situation ausgeht, um ihn dort abzuholen. Es macht nämlich doch einen wesentlichen Unterschied, ob der Horizont des Lernenden bloß aus seiner Sicht, im Bezug auf ihn, erweitert wird, oder ob er sich dazu angehalten erfährt, seinen Horizont zu überschreiten, sich auf andere, andersartige Sichtweisen einzulassen und damit das kennenzulernen, was er jeweils seiner Situation in der Welt verdankt. Der Weg zur Sache ist ontologisch verstanden sich ereignende Unverborgenheit des Seins. Es wird als das Ontologische ontisch unterbestimmt, wenn man es für einen stetig ablaufenden Prozess (Prozedere, Fortschreiten) hält. Sein bei Aristoteles kann daher nicht mit ,Prozess‘ wiedergegeben werden. Der aristotelische Satz hat auch nicht eine Anwendbarkeit auf viele Situationen des Lebens im Auge, wo man induktiv statt deduktiv vorgeht, indem man von bekantwerdenden Einzelfällen ausgeht und auf das Allgemeine (allgemeine Annahmen) statt vom Allgemeinen auf das Besondere schließt. Das hier Angezielte ist nicht das vermittelte Allgemeine (gnoß), sondern das unmittelbare Innesein des Ganzen (kaϑlon) im Sinne der Physis und gemäß der Physis – und diese ist einmalig und einzigartig. Aristoteles spricht hier von Epagoge (ein Herbeiführen, Herbeirufen, Kommen-Lassen der Sache selbst), was häufig mit Induktion verwechselt wird. Die aristotelischen Wegweisung fasst das Situiertsein des philosophisch Erkennenden im Verhältnis zum Ganzen so ursprünglich, dass sie deren verschiedenartigen heuristischen An- und Umwendungen vorhergeht. Halten wir uns noch bei einer formaleren Fassung des aristotelischen Satzes auf: Dort, wo es logisch (und nicht chronologisch) ein Erstes, Vorgeordnetes und Früheres gibt, gibt es notwendig auch ein Zweites, Nachgeordnetes und Späteres. Daraus folgt, dass sowohl dieses Denken der Sache (Wirkung) als auch die Sache selbst (Ursache), die zu denken gibt, unter gegenläufiger Hinsicht ein Erstes und ein Zweites, ein Früheres und ein Nachgeordnetes (prius aut posterius) sein muss: Wie die
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Sache an sich, für sich und in Bezug auf sich ist, das ist unserem Denkweg sachlich vorgeordnet (und bildet die Seinsordnung, ordo essendi). Wie die Sache für uns und in Bezug auf uns ist und erscheint und zugänglich wird, ist der Sache nachgeordnet. Umgekehrt erscheint für unser Denken auf dem Weg zur Sache dieselbe Sache nachgeordnet (Erkenntnisordnung, ordo cognoscendi). Die zu denkende Sache ist aber auch zugleich dem Denken vorgeordnet, weil sie erst das Denken auf den Weg zu sich selbst bringt. Zu unterscheiden ist also, was für uns Sache als vor- und als nachgeordnete ist (prius aut posterius quoad nos) und was die Sache für sich als vor- und als nachgeordnete ist (prius aut posterius natura). Eine formalere Fassung des aristotelischen Satzes, deren Möglichkeiten wir ins Auge gefasst haben, verbessert allenfalls die ontische Eignung zur Anwendung in verschiedenen Bereichen. Aristoteles führt seinen Gedanken in den ersten Sätzen der Physikvorlesung durch Rückanwendung auf deren Methode ein, wo er seinen weiter nicht mehr anwendbaren Ursprungsboden hat. Wir verstehen nach Aristoteles erst dann etwas eigentlich, wenn wir uns mit den ersten Gründen (Anfangsgründen der Erkenntnis) vertraut (bekannt) gemacht haben, weil beim Hineingehen in ein Sachgebiet bzw. bei der Untersuchung der Sachzusammenhänge unser Verstehen und Kennenlernen aus Gründen (Seinsgründen) erwächst. Angedacht werden verschiedene Arten des ursprünglichen Gründens (Anfänge, Veranlassungen, Elemente), die das Ergründen möglich machen. Auf dem Weg zum Verständnis der Physis und mithin unseres Daseins in der Welt wird versucht, die ersten Gründe zur Vertrautheit zu bringen und zu umgrenzen; es ist Grunddenken, 2rc-Forschung, bis hin zum letzten Anfang und Ursprung. Der aristotelische Gedanke wurde gewöhnlich so rezipiert, dass er für eine Situation der Erkenntnis einer Sache aus ihren Ursachen (cognitio rerum ex causis) gilt. Dabei präparierte man aus der Lehre von den vier Ursachen120 die Wirkursache heraus (causa efficiens) und pflegte unter Ursache nur mehr ein Bewirkendes sich vorzustellen, dessen Wirken Effekte und Effizienz erzielt. Unter Erfolgszwang bestätigt sich die Banalisierung selbst, verdunkelt sich der aristotelische Text: Man meint, Aristoteles rede davon, dass man aus der Wirkung auf die Ursache schließen kann. Wenn wir nicht selbst Handelnde (Verursacher) sind, sind die Ursachen das dem Denken notwendig Vorgeordnete und ihr Erfassen ist das der Sache gegenüber Nachgeordnete; umgekehrt ist das Erfassen der Wirkung einer Ursache das im Denken Vorgeordnete, demgegenüber ist das als Ursache Erfasste das Nachgeordnete. So vorgestellt sind Ursache und Wirkung ontische, vorhandene Gegebenheiten. 120 Auf die Vierursachenlehre des Aristoteles wird noch einzugehen sein.
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Fragen wir nach dem ontologischen Sinn eines solchen wirkursächlichen Vorgangs, so ist, was sich einer solchen Ur-Sache verdankt, von der Seinsart des Anwesenden und die Ur-Sache solches, das hervorbringt (her ins Anwesen und vor ins Offene ihres Anwesens). Somit wäre der Wirkung-Ursache-Zusammenhang als Seinsmitteilung ontologisch verstehbar. Weiter zu fragen wäre: Woraus können wir entnehmen, dass etwas die Wirkung einer Ursache ist, d.h. sich dem Wirken einer Ursache verdankt? Hier dachte man daran, dass jedes Seiende seiner eigenen Natur gemäß wirkt, d.h. Sein mitteilt, was im ontologischen Axiom ,Omne agens agit sibi simile‘ zur Sprache gebracht wurde. Dieses ist keine biomorphe Generalisierung, besagt also nicht, dass alle Seienden Gleichartiges oder Ähnliches hervorbringen, wie wir das meist bei Lebewesen feststellen können, sondern dass die Eigenart ihrer Wirkung von der Eigenart ihres Seins im Wirken bestimmt wird. Aristoteles spricht also am Beginn seiner Physikvorlesung eine Methode an, die nicht nur für den Weg des Denkens zur Physis geeignet ist, sondern auch der Physis gemäß ist und sich aus ihr bestimmt. Um die angesprochene Physis nicht von vornherein ontisch-naturalistisch misszuverstehen,121 d.h. als besonderes Gebiet des Seienden statt als das Ganze des Seienden im Aufgang seines Wesens, sind Heideggers ontologisch-phänomenologische Hinweise zu einer angemessenen Auslegung hilfreich und weiterführend:122 Aristoteles überlegt eingangs den Weg, »auf dem Denken dahin gelangt, das von-sich-her-Seiende, t! fsei nta, hinsichtlich seines Sein und dieses Sein als fsiß zu umgrenzen. […] Es gilt, dem Sein des Seienden nachzugehen. Das Sein des von-sich-her-Aufgehenden und -Anwesenden heißt fsiß. […] Der Weg dahin empfängt seinen eigenen Charakter aus der Weise, wie das Sein des Seienden für den erkennenden Menschen offenbar ist. […] Sein zeigt im Vergleich mit dem unmittelbar zugänglichen Seienden den Charakter, an sich zu halten, sich in gewisser Weise zu verbergen. Gemäß diesem Grund des Seins bestimmt sich die Natur des Weges, der zur Bestimmung des Seins des Seienden führen soll.«123 Heidegger übersetzt nun den angeführten Satz erläuternd: »Der Weg (auf das Sein des Seienden) aber ist aus seinem Wesen so geartet und geleitet, daß er von dem uns Vertrauteren, weil nämlich für uns Offenkundigeren aus auf das zuführt, was, weil von ihm selbst her aufgehend, das an ihm selbst Offenkundigere und in solchem Sinne das zuvor schon Zugetraute ist.«124 Das zweimal vorkommende safstera 121 Siehe im 1. Kapitel den ersten Exkurs (1.2.1.2): Ursprüngliches Physisverständnis (Sacherklärung) sowie Aristoteles (1.2.2.5). 122 M. Heidegger, GA, Bd. 10: Der Satz vom Grund, 92– 95, 102 f. 123 A.a.O., 92 f. 124 A.a.O., 93.
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wird mit ,Offenkundigeres‘ übersetzt: »Aristoteles unterscheidet einmal Offenkundigeres, insofern es von uns aus und in Rücksicht auf unser Vernehmen gesehen wird; zum anderen Offenkundigeres, das von solcher Art ist, daß es von sich her sich öffnet und kundgibt.«125 Die Weisen des Offenkundigseins (der Unverborgenheit des Sichentbergens) sind verschieden. Vom von-sich-her Seienden (den physisch Seienden) her könnte es gerade noch angehen, es für das Bekanntere oder Einsichtigere zu halten, keinesfalls ist es selbst (als stünde es unter dem cartesianischen Begriffsideal) etwas Klareres und Deutlicheres. Diese und ähnliche Übersetzungen für safstera passen überhaupt nicht mehr für das von sich her in die Unverborgenheit aufgehende und anwesende Sein: die Physis. Das Sein ist also in Bezug auf sich nichts von sich aus Einsichtigeres, dem begriffliche Klarheit und Deutlichkeit zukäme; es ist das an ihm selbst und »von sich her Offenkundigere. Ohne Rücksicht darauf, ob es von uns eigens erblickt wird oder nicht, scheint es schon; denn es scheint bereits auch dort, wo wir das erfahren, was nur für uns das Offenkundigere ist: das jeweilig Seiende. Solches zeigt sich nur im Licht von Sein.«126 Das Sein ist daher uns gegenüber niemals unmittelbar erblickbar wie ein Seiendes in seiner Gegend, etwa ein ausgedehntes Ding, das in der Eigentlichkeit seines Seins in dem es ermöglichenden Raum (dem durchlässig Offenen) zugänglich wird. Die Schwierigkeit, das Sein zu erblicken, liegt nicht nur an uns, sondern vielmehr darin, dass zum von sich her Offenkundigsein der Physis ein Sichverbergen gehört: »Sein schickt sich uns zu, aber so daß es zugleich schon sich in seinem Wesen entzieht.«127 c) Zur Bedeutung des Methodischen für die Offenbarungstheologie des christlichen Weges Die Bedeutung des philosophischen Weges der Physikvorlesung des Aristoteles für die Offenbarungstheologie liegt nun darin, dass die Physik nicht mit dem Sein als Physis endet, sondern über die Physis hinausführt und in der aristotelischen theologischen Philosophie des ,unbewegten‘ Bewegers ihre ,meta-physische‘ Vollendung findet. Das Letzte für unser Daseinsverständnis ist das Erste in allem, nämlich das uranfängliche ,Sein‘ (ousia), das, insofern es die uns existenziell motivierende ewige Vernunft (nous) ist, »das Göttlichste von allen Phänomenen«128 (nicht Noumenen!) genannt wird. Aristoteles spricht am Beginn seiner Physik die Methode der Philosophie in einem ursprünglichen Sinn an; ihr Grundzug bestimmt sich aus der Natur 125 A.a.O., 94. 126 Ebd. 127 A.a.O., 95. 128 Aristoteles, Met. XII 9, 1074 b 16.
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des Weges: der phänomenalen Offenkundigkeit des uns vertrauten und nächstliegenden Seienden, wie es alltäglich für uns ist und uns auf die Offenkundigkeit des in allem Seienden von sich her waltenden Seins führt – aber auch noch über dieses hinaus zum Phänomen des Göttlichen in seiner Göttlichkeit. Wenn nun Offenbarungstheologie darauf besteht, dass Gott nur durch Gott selbst erkannt, geglaubt und geliebt werden kann, dann gewinnt wissenschaftlich gesehen das Methodische nicht nur eine systematisierende, den ruhigen Gang der Wissenschaft regelnde, sondern auch eine kritische Bedeutung für die Situationen und Ausgangsorte theologischer Erkenntnislehre (Topologie). Zur Entscheidung steht: Kann der Weg von Gottes Selbstoffenbarung in Jesus Christus an seiner Schöpfung vorbeiführen, direkt von oben-außerhalb in sie hinein ergehen? Oder beteiligt Gottes Selbstoffenbarung den Menschen als Geschöpf in seiner Schöpfung an der Erkenntnis seiner gnadenhaften Selbstoffenbarung, aber niemals an all dem vorbei? Werden die Inhalte christlicher Offenbarung gewissermaßen deduktiv auf veränderte Situationen angewandt? Oder werden die vertrauten Situationen von Menschen und Völkern selber zu ,theologischen Orten‘ ihrer Erkenntnis, ihres Mitvollzugs? Versteht sich Offenbarungstheologie mehr deduktiv oder mehr epagogisch? Geht man überwiegend aus von Glaubensartikeln, deren Wahrheit als Prinzipien der Offenbarungstheologie von Gott verbürgt ist? Oder geht man überwiegend aus von der Autorität geschichtlicher Zeugnisse, die hinter den Prinzipien stehen? Die Frage nach dem fundamentalen theologischen Ort aller Theologie wird brisant, wenn man fragt, ob der Ausgangsort des christlichen Weges als des Weges Gottes allein der Glaube der Kirche (als Leib Christi) ist, in der das Wort der Bibel und Tradition weitergegeben wird, oder ob es nicht vielmehr dort oder da jeweils die »Kirche der Armen« ist. Die Frage lässt sich für Theologen klar entscheiden, wenn wir die Topoi, die ,Orte‘ (tpoi), aus denen oder an denen sich theologische Erkenntnis bildet, umfassend beachten: Folgen wir der Topologie des Dominikaners Melchior Cano (1543– 1550).129 Sie stellt eine wesentliche Grundlage theologischer Prinzipien- und Methodenlehre dar und lehnt sich an die antike, besonders auch an die aristotelische Topiklehre an. Nach ihr wäre die »Kirche der Armen« zwar keiner der loci proprii, der eigentlichen Orte, aus denen theologische Erkenntnis sich bildet, wie beispielsweise die Hl. Schrift, jedoch gehört sie zu den loci alieni, den fremden Orten dieser Erkenntnisbildung. Zu ihnen werden die (praktizierende) natürliche Vernunft, die Philosophie und die menschliche Geschichte gezählt. Die Situation himmelschreien129 Vgl. zusammenfassend den Artikel Loci Theologici von M. Seckler in: LThK3, Bd. 6, Sp. 1014 ff.
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der Not kann und muss daher als ein legitimer (zeitlich verstandener) Ausgangsort jeglicher Gotteserkenntnis gewürdigt werden, aber auch die Situation einer Besessenheit vom kapitalistischen Geldfetischismus und bürgerlichen Konsumdenken muss wahrgenommen, ernstgenommen und verstanden werden. Ähnliches gilt für die Pastoral, besonders für die Religionspädagogik, die unbedingt von der Erfahrung der Schülerinnen und Schüler auszugehen und an ihr anzuknüpfen hat, und zwar gerade, um sie in ein neues Verhältnis zu der ihnen vertrauten Eigenerfahrung finden zu lassen und auf dem Weg ins noch Fremde, Unbekannte, Unableitbare und Unvermutete, Abgründige und Unergründliche zu begleiten. Das ursprünglich Methodische der Philosophie kommt dem christlichen Daseinswandel und Weg entgegen, den Gott mit dem Menschen geht – der etwa in Apg 18,26 als der »Weg (dß) des Herrn« bzw. »Gottes« angesprochen wird, den Priskilla und Akylas dem Apollos genauer auseinandersetzten. Philosophie mit philosophischer Theologie und Offenbarungstheologie gehen in ihrem die Wissenschaftlichkeit grundlegenden methodisch-systematischen Anspruch als Wissenschaften zusammen, auch wenn sie für das Besondere ihrer Methoden selbst aufkommen müssen, da sie dem Entgegenkommen der ihnen eigenen Grundphänomene (deren Weg, Gang, Sinn) in ihrer Ursprünglichkeit und Einzigartigkeit verpflichtet sind. d) Kritische Schlussfolgerungen für das partnerschaftliche Verhältnis von Wissen und Glauben, Vernunft und Offenbarung Von dem Gesagten her lassen sich einige motivisch durchaus sinnvolle, aber doch etwas schiefliegende bzw. missleitende Orientierungsformen anführen und im Vorfeld begradigen, die meines Erachtens nach das Verhältnis von menschlichem und christlichem Daseinsweg, von philosophischer Theologie und Offenbarungstheologie in ihrer Durchsicht häufig verzerren: es sind die Gegensatzpaare Wissen und Glaube (1), Vernunft und Offenbarung (2). Erstens: Man unterscheidet traditionell das natürliche Licht der Vernunft (lumen naturale rationis humanae) als Grundlage der Philosophie vom übernatürlichen Licht des Glaubens (lumen supernaturale fidei) als der Grundlage der Offenbarungstheologie.130 Doch die in sich sinnvolle Unterscheidung erscheint mir wenig glücklich, wenn man aus ihr plakativ verkürzt Vernunft (ratio) und Glauben (fides) heraushebt und zur Wissenschaftsbegründung heranzieht: Philosophie und Theologie werden 130 Zum besseren Verständnis wäre zu beachten, dass jedes Licht nur innerhalb eines offenen, freien Bereiches (der ,Lichtung‘) etwas beleuchtet und Orientierung ermöglicht.
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dann zu Wissenschaften, die dem Anschein nach denselben Bereich – Mensch und Welt – zum Thema haben, aber sich in der Weise ihres Zugangs und ihrer Erfassung fundamental unterscheiden. Philosophie erfasst Mensch und Welt aus dem Prinzip der Vernunft. Vernunft wird sehr verschieden verstanden; hier nur vage, offenbleibend als das Ganze des menschlichen Erkenntnisvermögens, das mit dem Ganzen dessen, was ist, korrespondiert und zu begründeter Erkenntnis im Gegensatz zur bloßen Meinung führt. Offenbarungstheologie erfasst Mensch und Welt aus dem Prinzip des Glaubens (einer besonderen, durch Autoritäten abgestützten höheren Stufe des Meinungsglaubens), der letztlich alle philosophische Vernunft übersteigt. Gewöhnlich wird übersehen, dass Glaube und Vernunft, Glaube und Wissen, Glaube und Wissenschaft, jeweils einen Parallelismus der Glieder nur auf gleicher Ebene bilden, und zwar aufgrund innerer Zusammengehörigkeit sowohl lebensweltlich als auch in den Wissenschaften (und in ihnen verschieden in Philosophie und in Theologie). Eine vernünftige Lebenspraxis ohne die vielfältigen Weisen eines ,natürlichen‘, apersonalen und personalen bzw. zwischenmenschlichen Glaubens sowie ohne ,natürliches‘ Selbstvertrauen und vernünftiges Annehmen und Schenken von Vertrauen ist unmöglich. Glaube und Vernunft gehören menschlich gesehen wesenhaft zusammen. Auch könnte gezeigt werden, dass es Philosophie ohne das, was Karl Jaspers mit dem Wort »philosophischer Glaube« angesprochen hat (der auf dem Boden der eigenen Existenz eben existenziell vollzogen wird),131 nicht geben kann. Doch abendländische Philosophie des Glaubens fängt nicht wie Jaspers mit subjektzentrierter »Seinsvergewisserung« an, sondern bei Parmenides mit dem Glauben im Sinne des Seinsvertrauens im Gegensatz zum Meinungsglauben.132 Als parallele Glieder gehören christlicher Offenbarungsglaube und gottgegebene Vernunft (Glaubensverständnis) in christlichem Dasein und christlicher Theologie gleichfalls auf dem Grunde der christlichen Offenbarung zusammen, insoweit diese immer schon die vernünftig, gegründet und begründet Glaubenden und im Glauben Einsichtigen anspricht.133 Und damit verbunden erhebt sie nicht nur deren ,natürli131 Vgl. K. Jaspers, »Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung«, jedoch ohne genügende phänomenologische Durcharbeitung des Glaubens als eines solchen. »Glaube [überhaupt] ist nicht ein Wissen von etwas, das ich habe, sondern die Gewissheit, die mich führt. Durch den Glauben lebe ich aus dem Ursprung, der in gedachten Glaubensinhalten zu mir spricht. […] Glaube ist Grund aller Erkenntnis. Er wird im Erkennen heller, aber nie bewiesen.« (49 f.) 132 Siehe dazu die Skizze einer Phänomenologie des Seins im Glauben im Bd. 2 der Philosophischen Theologie im Umbruch. 133 Besonders im Johannesevangelium spricht sich das Erkennen als gläubiges Sehen und sehender Glaube aus, vgl. dazu F. Mussner, Die johanneische Sehweise, besonders 26 –32. Glaube und Erkennen können als Hendiadyoin dasselbe (nicht das gleiche!) sagen, wenn beispielsweise Petrus zu Christus sagt: »Wir haben geglaubt und erkannt, dass du der Heilige Gottes bist.« (Joh 6,69)
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che‘ vernünftige Möglichkeiten zu sich, sondern auch deren philosophisch unterbelichtete Glaubensmöglichkeiten und vollendet sie in ihrem Sinn. Sowohl Vernunft als auch Glaube(n) bestehen als menschliche Vollzugsmöglichkeiten in innerer Zusammengehörigkeit einmal als allgemeinmenschliche und als elaboriert philosophische, und dann als spezifisch christlich-existenzielle und als spezifisch offenbarungstheologische. Fehlt diese Durchsicht, so bietet der Offenbarungsglaube dem Irrationalismusverdacht eine ungeschützte Breitseite. Aber auch philosophische Vernunft wird nicht in ihren höchsten Möglichkeiten verstanden und gerät in Gefahr oder in den Verdacht, ihre Herkunft aus dem menschlich-vernehmenden Offensein in zwischenmenschlicher und existenziellpraktischer Dimension zu verkennen, sich in sich selbst behauptender Ich-Autonomie aufzuspreizen oder sie konstruktivistisch zu verhängen. Gerade inspiriert durch den Offenbarungsglauben verdient ein Wesenszug der allgemein menschlichen Vernunft hervorgehoben zu werden: Sie ist der elementare Sinn für das, was uns im Ganzen und im Grunde des Daseins anspricht; sie ist das Vermögen der Erkenntnis des Ganzen im Wort; sie ist »Sinn« als »Weg, auf dem etwas in uns eingeht«, und zwar »Sinn für das Wort«, wie Ferdinand Ebner sie nennt,134 das heißt aber auch Sinn für das uns Anwesende im Anwesen Verbindende und so für das Wort, in dem Denken (Vernehmen) und Sein (Anwesen des Anwesenden) zusammengehören. Erst durch eine solche Vernunft kann der Mensch möglicher Hörer des Wortes Gottes sein. Zweitens: Noch missleitender als die plakative Gegenüberstellung von Vernunft und Glaube ist die Gegenüberstellung von menschlicher Vernunft (ratio) und christlicher Offenbarung (revelatio). Denn zunächst ist schon alles Sagen im Wort ein Offenbarmachen, ein Mitsehenlassen von Seiendem, das den Grund seiner Möglichkeit und Notwendigkeit im Offenkundigwerden, in der Offenbarkeit (im ,Wort‘) des Seins selbst, in der Unverborgenheit des Seins hat. Daher beruht Philosophie auf Offenbarung, auf der Offenbarkeit des Seins, und ist ohne In-Anspruch-Nahme durch den Weltlogos unmöglich. Innerhalb dieses Offenbarungsgeschehens (der ursprünglichen ontologischen Wahrheit) gibt es die Religionen als geschichtliche Heilswege, die durch Menschen entstehen, die Göttliches, das sich ihnen enthüllt hat, bezeugen. Sie enthüllen auf verschiedene geschichtliche Weisen die Wahrheit jeweils im Fragment. Dabei ist beispielsweise für die christlichen Offenbarung nicht diakritisch eigentümlich, dass sie sich als eine Offenbarung der Wahrheit (2lϑeia) des Ganzen versteht, sondern dass sich diese Wahrheit geschichtlich in einer bestimmten Person ereignet hat: »Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.« (Joh 24,6) 134 Vgl. dazu vom Verf. (1985), Personales Sein und Wort. Einführung in den Grundgedanken Ferdinand Ebners, 202–209.
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Nach dem Gesagten müssen daher zwei Weisen der Offenbarung (des Offenbarens und der Offenbarkeit) unterschieden werden, eine Seinsoffenbarung und eine göttliche Offenbarung durch Menschen, wobei die hier thematisierte christlich-jüdische Offenbarung in ihrer Offenbarungstheologie eine Einzigartigkeit des darin der Menschheit und der Welt als geoffenbart Anvertrauten beansprucht. Offenbarung also da, wo seinsverstehende Vernunft ist, und Offenbarung dort, wo dem Offenbarer Glaubensverständnis, mitvollziehende Vernunft, verdankt wird. Offenbarung ist somit einmal Unverborgenheit und Wahrheit des Seins (2lϑeia). Ihr korrespondiert im glaubend-vertrauenden Vernehmen (empfangenden An-, Hin- und Aufnehmen) philosophische Vernunft. Und dann ist Offenbarung besondere göttliche Offenbarung durch Menschen. Ihr korrespondiert die gläubige Vernunft, das glaubende Vernehmen des alles geschaffene Sein umgreifenden Offenbarungsereignisses des fleischgewordenen Wortes. Dieses waltet auf eine einzigartige Weise in der Weltgeschichte als Lichtung ins Unverborgene und besitzt seinen eigenen Reichtum an Verständlichkeit (ratio). Die Entsprechung zwischen empfangendem Vernehmen und Angewiesensein auf Sich-Zeigendes, Offenbarkeit und Offenbarung im weitesten Sinne des Wortes (letztlich auf ein Sich-Zusprechen und -Mitteilen Gottes, Communio mit der Gottheit) ist gerade das beiden irreduziblen Weisen des Offenbarens Gemeinsame, jedoch das sie nicht univok, sondern wesenhaft analog Verbindende. Offenbarung als Seinsoffenbarung und göttliche Mitteilung ist jeweils in sich vielfältig und vielfach verstehbar. So ist die Offenbarung als das Selberanwesen der erscheinenden, sich offenbarenden und mitteilenden Gottheit (um die es hier vor allem geht) freilich nicht immer unmittelbar und thematisch dasselbe wie die geoffenbarten Inhalte, Mitteilungen und Aufträge der Offenbarung für ihre Empfänger. Was Offenbarung Gottes ist, geht über den Selbsterweis der Göttlichkeit Gottes für alle Menschen in Geschichte und Religionen weit hinaus und erschöpft sich auch nicht in der Selbstzusage (im Wort) des biblischen Gottes. Können wir um Gottes Offenbarung nur aus seinem Selbsterweis, der Selbstoffenbarung Gottes wissen, so können wir auch außerhalb und vor der innerweltlichen Begegnung mit der biblischen Offenbarung um Gott nur aus seinem Selbsterweis und seiner Selbstoffenbarung wissen. Dabei ist methodisch zu berücksichtigen, dass diese Selbstoffenbarkeit für unser Verstehen und Erkennen keine ontisch direkte und unmittelbar zugängliche Erstgegebenheit sein kann (vgl. oben 2.3.1.2 b), sondern erst mit dem, in dem, aus dem und durch das, was überhaupt ist (aus der Selbstoffenbarkeit des Seienden in seinem Sein), erhebbar wird, weswegen ergehende Offenbarung dieses Sein in seinen vielfältigen Strukturen (des Selbst-, Miteinander- und In-der-Welt-seins) immer schon
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impliziert. Darum hat jüdisch-christliche Offenbarungstheologie als Wissenschaft in sich selbst ein direktes Interesse an dem, was ihrem Glauben (im logischen, nicht chronologischen Sinn) philosophisch und fachwissenschaftlich gesehen notwendig vorausgeht, ihn ermöglicht und vorbereitet (2.3.2), und darüber hinaus ein Interesse an einer von ihr unabhängigen, selbständigen Philosophie, in der es um das für das Sein des Seienden im Ganzen offene Dasein geht, welches aus jüdisch-christlicher Sicht als möglicher Empfänger der Offenbarung vorausgesetzt wird (2.3.3).
2.3.2 Interesse an einer auf Offenbarungsglauben vorbereitenden Philosophie innerhalb der Offenbarungstheologie Zu glauben besagt im Sinn des jüdisch-christlichen Offenbarungsglaubens auch (ohne dass damit das Wesen dieses Glaubens definiert ist), dass wir eine gesamtmenschliche Antwort auf die Offenbarung (letztlich auf den sich selbst Offenbarenden) geben. Zu dieser Antwort gehört, dass sie sich als intellektuell redlich verantwortbar erweisen kann. Dazu müssen bestimmte Grundeinsichten und Verständnisweisen im Philosophieren sowie in fachwissenschaftlicher Forschung schon geklärt sein bzw. weitere Klärung finden. Sie bereiten den unableitbar ,qualitativen Sprung‘ in den Offenbarungsglauben nur vor, berufen sich also noch nicht auf die Glaubwürdigkeit der Offenbarung, und bieten so etwas wie ein mitanleitendes Korrektiv (Heidegger) für die in allen theologischen Fragen implizierten philosophischen Gehalte, Verständnisweisen und Begrifflichkeiten. Die göttliche Weisheit der Glaubensoffenbarung entfaltet sich ja wesenhaft in der Weisheit von Menschen bzw. als menschliche Weisheit, die sie als ihre Vorgegebenheit vollendet, und nicht in einspringender Fürsorge, die entmündigt, oder als abgehobener Überbau. Göttliche Offenbarung ist keine Sache, die ohne die ihr Zugehörigen, denen geoffenbart wurde, denkbar wäre. Entsprechend dem theologischen Axiom, wonach die Gnade (Selbstmitteilung im Wort und Geist) die Natur (Schöpfung) voraussetzt und vollendet, erwächst den Offenbarungsgläubigen ein Interesse (Sorgetragen!) an der Einbeziehung menschlicher Weisheit in ihr Denken, an der Aufnahme der Philosophie in die Offenbarungstheologie, an einem Philosophieren innerhalb der Theologie, das zur wissenschaftlichen Entfaltung und argumentativ-vernünftigen Ausarbeitung der Offenbarung beiträgt.135
135 Vgl. dazu B. Welte, Die Philosophie in der Theologie, in: ders., Auf der Spur des Ewigen, 366 –379, der der Frage nachgeht, ob und warum Philosophie etwas in der Theologie zu suchen hat; vgl. auch K. Rahner, Schriften zur Theologie, Bd. 8: Philosophie und Philosophieren in der Theologie, 66 –87, der die neue Situation einer Pluralität von Philosophien und Theologien reflektiert.
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Aus diesem Interesse folgt auch die Bereitschaft zum rationalen Ablegen von Rechenschaft über die ganze Glaubenshoffnung und über den Sinngrund des Glaubens vor dem ,Forum‘ der allgemeinen und kritischen Vernunft. »Seid stets bereit zur aufweisenden Verantwortung (2pologa) vor jedem, der euch nach einem Sinn (lgoß) der Hoffnung fragt, die in euch ist.« (1 Petr 3,15) Dieses Rede-und-Antwortstehen geschieht im Sichtbarmachen und Mitteilen des vernünftigen Sinngrundes unseres hoffenden Glaubens, der in uns selbst verborgen liegt. Hierbei ist die Vernunft, obwohl immer mehr als berechnendes Denken (Verstand), auch keine vage Letztinstanz, auf die man sich fraglos als Autorität berufen könnte. Vernunft ist konkrete geschichtliche Vernunft, unser Vernünftigsein im persönlichen und gemeinsamen Weltverhältnis. Persönlich oder selber sind wir immer nur da in der Leibhaftigkeit unseres Anwesens. Vernunft ist diese im leibhaftigen Anwesen vernehmende Vernunft. Vernünftigsein gründet im Sichverstehen auf das Dasein: Dasein als ein vernehmendes, sich selbst offen haltendes Verstehen und als im Gestimmtsein sich unmittelbar erschließendes Sein miteinander im gemeinsamen Verhältnis zur Welt. Dieses Offenständigsein hält sich als Bereich (Welt, Ganzes) von Vernehmensmöglichkeiten offen, und zwar offen für das, was uns berührt, anspricht und bewegt: offen für die Bedeutsamkeiten des Anwesenden in seinem Anwesen, aber auch offen für einen Anspruch als Beweggrund (Motiv), offen für das Stehen unter dem Anspruch der Anwesenheit und des Anwesenden. Der Aufund Annahme des Zu- und Anspruchs der Gottesoffenbarung in uns, in das Daseinsganze, entspricht ein neues, gewandeltes Offenständigsein, das sich unter Freilegung der ursprünglichen Erfahrung vernünftig und realitätsnah zu entfalten weiß. Spricht man hier traditionell von Vorgegebenheiten des christlichen Glaubens ( praeambula, antecedentia fidei), so versteht man darunter Erkenntnisse, die nicht eigentlich zur christlichen Offenbarungsbotschaft gehören, jedoch dem Vorhof und Umkreis der Glaubensbotschaft entnommen sind. Aber es kann sich hier nicht nur um das zur Artikulation des jeweiligen Glaubens mitgegebene Medium geschichtlicher Vernunft handeln, sondern letztlich gehört zu diesen Vor- und Mitgegebenheiten die Gesamtheit des menschlichen Sichverstehens auf das Selbst-, Mit- und Inder-Welt-sein: auf ontische und ontologische Einsichten. Zwar verdanken sich diese nicht erst der Annahme der christlichen Offenbarung, denn sie sind logisch von ihr unabhängig und gehen ihr in diesem Sinne als Bedingungen der Möglichkeit voraus. Sie gehören teils (mehr oder weniger notwendig) mitanleitend zu dem, was geglaubt wird und was im Glauben zu bezeugen ist ( fides quae), und zwar als dessen vernünftige und integrative Erhellung (intellectus fidei), teils ermöglichen sie nur den Glaubensvollzug ( fides qua) und gehören als solche Vor- und Mitgegebenheiten bzw. Voraussetzungen nicht in dessen eigentliches Bekenntnis. Ähnliches gilt für historische,
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archäologische und literarische Erkenntnisse bezüglich des Offenbarungsereignisses. Aus den Präambeln des Glaubens seien ausdrücklich hervorgehoben: 1. Im Philosophieren erschlossene Grundeinsichten, die logisch (notwendig) der Wahrheit des Glaubens in Vollzug und Bekenntnis vorausgehen und ihn vorbereitend ermöglichen, wie dass wir überhaupt verlässliche Erkenntnis gewinnen können, dass wir unser Anwesen und Dasein miteinander in der Welt nicht vernünftig bezweifeln können oder dass wir immer schon für christliches Glauben, Hoffen und Lieben ein Vorverständnis (z.B. Grundvertrauen) mitbringen, dessen Angemessenheit für die rechte Auslegung des Offenbarungsereignisses mitanleitend und richtungweisend ist. Auch Antworten auf die Frage nach dem Sinn von Sein wären hier zu nennen. 2. Grundeinsichten der philosophischen Anthropologie, wie zum Beispiel, dass der Mensch mit einer Freiheitsmöglichkeit befreiender Praxis, mit Gewissen und Schuldverständnis begabt als wesenhaft weltoffenes Wesen existiert, d.h., mit anderen Worten: eine geistige Seele hat, und so möglicher Hörer des Wortes Gottes (von Natur aus sowie in Freiheit) ist. Vielfach angeführt wird auch die Unzerstörbarkeit dieser geistigen Seele, d.h. auf Grund ihrer wesenseigenen Weltbezogenheit überdauert sie das Herausfallen des Leichnams aus dem leibhaftigen Existieren. 3. Grundeinsichten der philosophischen Theologie, vor allem, dass wir um Gott, seine untrügliche Wahrhaftigkeit und Güte wissen können, und zwar aus seinem erfahrbaren Dasein in der Welt bzw. aus der Welt als Raum seiner Anwesenheit, aus der Offenbarungsgeschichte in den Religionen, dem Gabecharakter des Daseins und der den Menschen würdigenden Auf-Gabe, selbstverantwortlich Gutes statt Böses zu tun. 4. Der ganze Komplex literarkritischer und historisch-kritischer Fachwissenschaften, aber auch Fachwissenschaften mit Philosophie und Theologie übergreifenden Thematiken wie beispielsweise eine Hermeneutik der Verbindlichkeit vergangener, an die Gegenwart vermittelter Zeugnisse. Mit der Annahme, dass notwendige Vorgegebenheiten christlichen Glaubens philosophisch beantwortet (oder beantwortbar) sind, wird der Offenbarungsglaube vor einer Überfrachtung mit blind zu glaubenden Einsichten geschützt, die seine Autorität aushöhlen würden. Zugleich wird mit Nachdruck eine fundamentalistische Zirkeltheologie in der Gottesfrage vermieden. Dieses an den Nerv des christlichen Offenbarungsglaubens rührende Interesse der Offenbarungstheologie an theologischer
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Philosophie sei hier noch verdeutlicht: Wenn ohne hinreichenden Erfahrungsbezug die bloß vorgestellte ,Existenz‘ Gottes nur für mehr oder weniger wahrscheinlich oder gar für unerkennbar gehalten wird, muss der christliche Glaube als Substitut für die Glaubwürdigkeit dieser Grundwahrheit aufkommen, ohne dass gefragt wird, woher denn der Gott und Vater Jesu Christi in der Glaubensgeschichte längst bekannt ist. Eindringlich hat René Descartes (als sich christlich verstehender Philosoph) darauf hingewiesen, dass der christlichen Offenbarung die Beweislast für Gottes Existenz nicht aufgebürdet werden kann. Mitten im Dreißigjährigen Krieg (1641) sucht er dies im Widmungsschreiben seiner Meditationen über die Erste Philosophie den Dozenten der theologischen Fakultät an der Sorbonne in Paris klarzumachen: »[…] so sehr es auch ganz und gar wahr ist, dass wir an die Existenz Gottes glauben müssen, weil es in den heiligen Schriften gelehrt wird, und umgekehrt, dass wir an die heiligen Schriften glauben müssen, da sie ja von Gott stammen – denn da der Glaube eine Gabe ist, kann natürlich derselbe, der uns die Gnade gibt, an die übrigen Dinge zu glauben, auch die Gnade geben zu glauben, dass er selbst existiert –, so kann doch dieses Argument den Ungläubigen nicht vorgetragen werden, denn sie würden es für einen Zirkel halten.«136 Der falsche Zirkelbeweis (circulus vitiosus), der die Prämisse durch das erst zu Beweisende voraussetzt, lautet: ,Ich glaube, dass Gott existiert, da es geschrieben steht. Ich glaube es deshalb dem Schriftwort, weil es vom existierenden Gott stammt.‘ Ein solcher biblizistischer Glaube beruht auf einer irrationalen Entscheidung und wäre daher tiefenpsychologisch und soziologisch auf die Quellen seines Bedürfnisses hin zu hinterfragen. Was in ihm ausfällt, ist, dass wir uns persönlich auf das verstehen, was im geschriebenen Wort der Hl. Schrift als das von Gott Ausgesagte erfahrbar wird und zur Rede steht. Sich gegenüber jemandem auf Gottes Autorität, Gnade oder die Heiligen Schriften zu berufen, ist, solange vernünftige Zweifel gebieten, (noch) nicht zu glauben, kontraproduktiv. Descartes verweist darauf, dass die katholischen Theologen den Zirkelschluss vermeiden, da sie die natürliche Begründbarkeit der Existenz Gottes annehmen, welche noch dazu biblisch im Römerbrief (1,19a) nahegelegt wird: »Was von Gott bekannt ist, ist in ihnen [den Menschen] offenbar (manifestum est in illis)«.137 136 R. Descartes, Meditationen. Dreisprachige Parallelausgabe: Widmung, 2, 17. 137 Auf Grund der philosophischen Prämisse, dass »Gott leichter und mit größerer Gewissheit erkannt werden kann als die Dinge dieser Welt«, missdeutet jedoch Descartes (a.a.O., 2, 17 f.) den Bibeltext mit der für ihn typischen Wendung, die argumentative Gotteserkenntnis sei nicht anderswo zu suchen als am Ort unseres eigenen Geistes (esprit). Das stimmt aber mit dem Kontext (Röm 1,20) nicht überein, der sich für die Gotteserkenntnis auf die zu gewahrende Offenbarkeit
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Philosophische Gotteserkenntnis, die argumentativ vorgeht, Beweisgründe vorlegt, gilt aber heute bei vielen als obsolet, überholt, wird weitgehend abgelehnt oder einfach ignoriert. Das macht die Not vieler Christen verständlich, die meinen, sie müssten grundsätzlich ohne Philosophie als Quelle intellektuell nachvollziehbarer und existenziell relevanter Gotteserkenntnis auskommen; sie nehmen ihre Zuflucht zur Bibel oder/und zum kirchlichen Lehramt, welches sie aber bezüglich der Erfahrungsbezogenheit der Gotteserkenntnis nicht ausreichend kennen. Man weiß nur, dass man als Christ/in moralisch verpflichtet sei, fest zu glauben und für wahr zu halten, dass ein Gott existiert.
2.3.3 Dialogisch-partnerschaftliches Interesse der Offenbarungstheologie an einer selbständigen Philosophie samt philosophischer Theologie
Jüdisch-christliche Offenbarung ist geschichtliche Offenbarung in der Welt; sie setzt als Adressaten den Menschen und seine Welt voraus, die von Gott zu ihrem Sein freigegeben, d.h. geschaffen wurden. Diesen Menschen, der dadurch Mensch ist, dass ihm Sein eröffnet und zu sein verantwortlich aufgegeben ist, der selbst sein kann und verstanden hat, was es heißt, zu sein, der sich als Mitmensch auf sein Sein (Seinkönnen, Dasein) in der Welt versteht und es auszulegen vermag, diesen Menschen hat Philosophie zum thematischen Gegenstand, wenn es um den möglichen Adressaten und Empfänger der Offenbarung geht. Also nicht die bloße Vernunft oder die Innerlichkeit oder die Subjektivität des Menschen sind der Adressat der Offenbarung, sondern das Offenbarte wird aus göttlichem Ursprung für jemanden so offenbar, dass er in der Leibhaftigkeit seines Weltverhältnisses und aus dem befreienden Sein füreinander den Raum des Empfangens von Offenbarung bildet. In einem solchen Weltverhältnis wird Offenbarung allererst Offenbarung und entfaltet ihr nichtabstraktes, geschichtliches Wesen. Aus dem Blickwinkel der Offenbarungstheologie ist dieser zum Sein freigegebene Mensch samt seiner Welt möglicher Partner des Offenbarers und seiner Offenbarung. Die (praktische) Bedeutung der Offenbarung für das menschliche Leben kann nicht geklärt werden, wenn der jeweilige, in die Begegnung mit der Offenbarung gerufene Partner nicht in der Totalität seines Daseins, in seinem Selbstverständnis und dem entsprechend auch in seinem Philosophieren ernst genommen wird. Dasselbe Gottes an den Schöpfungswerken (de rebus creatis) beruft – das impliziert, wie noch zu zeigen sein wird, dass der spirituelle Weg der cartesianischen Gotteserkenntnis im Ansatz an der leibhaftigen Situiertheit unseres Anwesens in der Welt vorbeiführt.
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tiefer gesehen: Wahre Liebe »sucht nicht ihren Vorteil« (1 Kor 13,5); sie sucht in ihrer Hingabe an Andere auch nicht den Selbstgenuss des Im-Anderen-bei-sich-Seins, sondern dass diese in ihrem Anderssein ganz sie selbst werden. »So sehr hat Gott [der Vater] die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn dahingab […], damit die Welt durch ihn gerettet werde« ( Joh 3,16 f.) und nicht, damit wir von der Weltbühne gerettet werden. Daher die Fragen: Worum geht es in dieser Welt, in diesem unseren jeweiligen Welt-aufenthalt? Was ist das überhaupt – diese meine, deine, unsere Welt? Solches Weltverständnis des Menschen und seiner Welt auf wissenschaftlichem Niveau zu suchen, und zwar im Philosophieren außerhalb der Offenbarungstheologie, ist deswegen gerade für den Offenbarungstheologen unerlässlich, Zeichen seines Berufsethos und nicht bloß aus taktischen Gründen, zur logischen Schulung, um über ein klares und deutliches Begriffsmaterial zu verfügen oder zur Widerlegung von Ideologien notwendig. Philosophie ist kein Steinbruch für den spekulativen Kirchenbau der Theologen und darf keiner sein. Im Gegenteil, jüdisch-christliche Offenbarungstheologie weckt ein Interesse an einer ihr gegenüber relativ autonomen Philosophie, die logisch (und nicht notwendig hinsichtlich ihres soziokulturellen und psychologischen Umfeldes) von ihr unabhängig ist. Denn in der Offenbarungstheologie geht es um den eigen-, selbstständigen und mündigen Adressaten der jüdisch-christlichen Offenbarung. Die Schöpfung als Gabe an den Menschen ist Adressat der Selbstoffenbarung Gottes, und zwar ist sie gewissermaßen als ,transzendentale‘ Bedingung der Möglichkeit ihres Ergehens der von Gott sich selbst vorgegebene Zeit-Spielraum seiner Selbsterscheinung für den Menschen (die Menschheit). Damit ist der Grund genannt, warum Offenbarungstheologie, wenn sie die ergangene Offenbarung von ihr her denkt, sich mit der Philosophie partnerschaftlich verbinden muss, anstatt, weil sie auch Grund- und Universalwissenschaft ist, mit ihr zu konkurrieren. Offenbarungstheologie hat also das im Blick, worum es in einem selbständigen Philosophieren geht: die kreatürliche Ermöglichungsbedingung des Ergehens der Selbstoffenbarung Gottes. Diese offenbarungstheologische Sicht bzw. Rezeptionsweise der Philosophie bestätigt also nur die logische Unabhängigkeit und Selbständigkeit des Philosophierens gegenüber der Offenbarungstheologie als einer Grund- und Universalwissenschaft. Sie impliziert auch die volle Anerkennung der die christliche Offenbarungstheologie übergreifenden philosophischen Theologie in ihrer Eigenständigkeit innerhalb der Philosophie. Sie wird auch innerhalb der Offenbarungstheologie für notwendig gehalten und durch sie. Anstatt dass sie ersetzt oder absorbiert wird, was noch zu diskutieren ist, geht es, wie Max Seckler hervorhebt, »um Außenbeziehungen zu den Formen und Inhalten fremdgewachsener Kul-
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tur […, um] die Bejahung fremdgewachsener Wahrheit oder Weisheit als Modus der Realisation von [weltoffener] Katholizität«.138 Das philosophische Interesse am Menschen und seiner Welt wird indes durch die Offenbarungstheologie gesteigert, insofern es aus der Erfahrung liebender Bejahung und Annahme des Menschen durch Gott in Jesus Christus kommt. In einer ,Offenbarungstheologie der Philosophie‘ (in Umkehrung zu einer ,Philosophie der Offenbarung‘) zeigt sich Philosophie auf Gottes Selbstoffenbarung bezogen, und zwar als etwas in ihr und ihr Verborgenes, unthematisch Impliziertes und immer schon Mitgemeintes, was sich im partnerschaftlichen Dialog enthüllen kann; und das sich ausdrücklich zu einem Interesse der Philosophinnen und Philosophen an der Offenbarungstheologie auswachsen kann. Wir können nämlich nur philosophieren, weil wir als Menschen jene einzigartige Wesensauszeichnung haben, dass wir grundsätzlich für alles, was immer ist und west, offen sind. Im Da unseres Aufenthaltsortes spricht sich uns alles Seiende zu, versammelt sich alles Sein in der Offenheit des Da. Auch wenn der Mensch (noch) nicht ausdrücklich der Offenbarung begegnet ist (sei es biografisch-faktisch oder in ihrer Glaubwürdigkeit), bezieht er sich in seinem Dasein, in seiner Erfahrung und seinem Denken immer schon auf alles und den letzten Grund, damit aber auch auf das Noch-nicht-Gewusste, ihm noch nicht Offenbare, Unvorstellbare, auf das Unnennbare und Namenlose als das unergründliche Geheimnis seines Daseins (mysterium stricte dictum). Er steht in der durch keinen Horizont abschließbaren Offenheit des Seienden im Ganzen; nichts kann er von vornherein ausschließen, von nichts darf er absehen. Sein Denken meint das Ganze in seiner Unerschöpflichkeit und unauslotbaren Abgründigkeit; er erfasst das Ganze nur im Fragment, niemals zur Gänze, auch nicht in stetiger, asymptotischer Annäherung, die das Unendliche zwar nie erreicht, aber doch im Prinzip schon erfasst zu haben glaubt, denn bei noch so großer Nähe zum Sein wachsen Distanz und Ferne in gleicher und nicht in umgekehrter Proportion. Das ist ein phänomenologisches Axiom, das sich epagogisch in jeder menschlichen Begegnung bestätigt. Aus dem Gesagten folgt, dass es der Mensch unweigerlich und im Voraus zu einer expliziten und institutionell verfassten christlichen Offenbarung anonym (keimhaft) mit dem sich in seiner Menschlichkeit mitteilenden Gott zu tun hat. Die konkrete Welt der Philosophierenden ist immer schon allem ihrem Denken zuvor die durch Gottes Selbstmitteilung (universellen Heilswillen) begnadigte und versöhnte. Kommt diese Selbstmitteilung auch nur anonym zur Erfahrung, so ist der Mensch doch schon 138 M. Seckler, »Philosophia ancilla theologiae«. Über die Ursprünge und den Sinn einer anstößig gewordenen Formel, 183.
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antwortend zu einer Stellungnahme herausgefordert. Selbstmitteilung Gottes ist so implizit und unausdrücklich im Dasein anwesend und der freien Annahme oder schuldhaften Verwerfung vorgegeben. Das heißt also, philosophisches Denken impliziert immer schon, wenngleich (zumeist?) nur anonym (keimhaft), die Offenbarung, auch dort, wo diese schuldhaft zurückgewiesen wird. Aus dem Blickwinkel der Offenbarung kann es daher einen vom »Licht, das jeden Menschen erleuchtet« (Joh 1,9), nicht angestrahlten reinen Philosophen und eine reine Philosophie gar nicht geben. Das würde dem Wesen selbständigen Philosophierens in unabschließbarer Offenheit zuwiderlaufen. Wenn es nun angeblich keine absolut reine Philosophie geben kann, ist damit nicht doch die Möglichkeit ihrer Selbständigkeit bestritten? Kann dann Philosophie noch eigenständig, ja selbständig sein? Wie steht es mit einem Christen, der Philosoph wird, oder mit einem Philosophen, der Christ wird, dem also die Selbstmitteilung Gottes ausdrücklich im Glauben der jüdisch-christlichen Offenbarung aufgegangen ist? Absorbiert dann nicht Offenbarungstheologie alle Philosophie? Doch wie schon gezeigt, kann, darf und soll der christliche Philosoph gerade aus offenbarungstheologischer Sicht im Sinne einer ihm methodisch möglichen Arbeitsteilung von dieser geschichtlichen Erscheinung der Selbstmitteilung Gottes, von deren Annahme im Glauben und deren wissenschaftlicher Thematisierung (in Offenbarungstheologie) absehen, d.h., er thematisiert noch nicht reduplikativ Welt als zur Selbstmitteilung in Wort und Geist erschaffenen Erscheinungsraum. Insofern er im Philosophieren methodisch von der Offenbarung als seiner genuinen Erkenntnisquelle absieht, bleibt seine Philosophie von ihr logisch unabhängig, bleiben Philosophieren und Philosophie legitim eine eigen- und selbständige Größe; und nur so kann sie zudem innerhalb des Horizontes der Offenbarung anders verstanden, in das Denken der Offenbarung positiv aufgenommen und integriert werden. Aber liegt darin nicht doch ein Widerspruch? Kann es zwei Philosophien geben, eine selbständige und eine in den Dienst der Offenbarung gestellte, ihr dienstbare? Gerät die Philosophie nicht in die Mühle einer Herr-Knecht-Dialektik – hier in diejenige einer Magd (der Philosophie) und ihrer Herrin (der Theologie) oder umgekehrt – mit ungewissem Ausgang? Blicken wir in die Geschichte des Verhältnisses von Philosophie und Offenbarungstheologie zurück und greifen wir das anstößige Motiv »Philosophie als Magd der Theologie« (philosophia ancilla theologiae) auf. Es begegnet uns schon im Altertum bei jüdisch-hellenistischen und dann bei christlichen Autoren bis hinein in die Neuscholastik des 19. Jahrhunderts.139 Für Philon von 139 Vgl. hierzu und zum Folgenden die Nachweise bei M. Seckler, a.a.O.
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Alexandrien († 45/50 nC) verhalten sich die propädeutischen Disziplinen des Elementarunterrichts wie eine Magd (dolh) zur höheren Weisheit der Philosophie. Mittelalterliche Scholastik kannte das Motiv, nicht jedoch die geläufige Formel. Zwei unterschiedliche Traditionen vom behaupteten Primat der ,Theologie‘ haben beim ancilla-Motiv mitgespielt, eine wissenschaftstheoretische und eine religiöse: Wissenschaftstheoretisch ist bei Aristoteles die ,Erste Philosophie‘, zu deren Gegenstand ja die theologische Philosophie gehört, ihrem Rang der Ehrwürdigkeit nach die »Würdigste«, »Führendste«, »Gebietendste« und »Göttlichste«. Als einzig freie und unabhängige Wissenschaft hat die Erste Philosophie die anderen Wissenschaften »gewissermaßen zu Mägden«, die ihr nicht zu widersprechen haben. Diese ihre Würdetitel konnte man auf die sacra doctrina, die Glaubenswissenschaft, übertragen. Das entsprach einer religiös und glaubensmäßig begründeten Überzeugung und besiegelte den Primat der sacra doctrina. Im universitären Bereich kam es erst im 13. Jahrhundert neben der theologischen Fakultät innerhalb des Grundstudiums in der Artistenfakultät zu einer Behandlung der Thematik philosophischer Theologie, und zwar im Zuge der umstrittenen Aufnahme aristotelischer Metaphysik und ihrer arabischen Kommentatoren. Obwohl philosophische Theologie noch keine eigenständige Disziplin war wie an späteren philosophischen Fakultäten, war damit potentiell eine Konkurrenzsituation beider Theologien entstanden. Nun erhebt sich die Frage: Wurde Philosophie nicht offensichtlich zu einer Dienerin der Offenbarungstheologie und damit zu einer Art Hilfswissenschaft degradiert? Oder ging es nur darum, dass sie selbst Herrin im eigenen Haus sein wollte? Aber was heißt hier jeweils ancilla? Ist die Philosophie eine Sklavin? Oder eine Dienstmagd für alles? Oder eine Hure, die gegenüber jedem, der sich ihrer bedienen will, die Beine aufspreizt? Oder eine Gouvernante? Oder mehr oder weniger eine morganatische Gattin (d.h. eingeheiratete Dienerin), deren allzu selbständiges Gebaren erfolgreich zur Scheidung (absoluten Autonomie der Philosophie) von der Theologie geführt hat? Mindestens wäre, wenn man den Spruch gelten lässt, mit Kant zu fragen, ob diese Dienstmagd »ihrer gnädigen Frau die Fackel vorträgt oder die Schleppe nachträgt«.140 Aber ist die Frage nach einer Rangordnung im Sinne einer Über- oder Unterordnung nicht längst obsolet? Entspricht sie den integralen Möglichkeiten menschlichen Denkens? Könnte nicht Philosophie, selbst wenn sie ihren Ort auch in der Theologie hat, zugleich Herrin und Magd sein? Doch ist ihre Stellung überhaupt die einer Magd oder nicht eher die einer Schwester, einer 140 Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 7: Der Streit der Fakultäten, 28, dazu G. Söhngen, Die Theologie im »Streit der Fakultäten«.
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hilfreichen Freundin, einer fruchtbaren Lebensgefährtin oder wahren Partnerin der Theologie? Zumindest kennt die christliche Tradition im Altertum auch diese Möglichkeit.141 Allgemein gilt: Eine in sich selbständige Wissenschaft kann durchaus als Hilfswissenschaft in den Dienst einer anderen Wissenschaft genommen werden, ohne deswegen ihre angestammte Selbständigkeit zu verlieren. Ja im Gegenteil, vielleicht gilt für sie: Je selbständiger, desto hilfreicher. Aus größerer Selbständigkeit erwachsen zusätzlich höhere Möglichkeiten zu interdisziplinärer Hilfestellung und Zusammenarbeit. In diesem Sinne kann Philosophie auch als Hilfswissenschaft innerhalb der Theologie eine relativ selbständige Wissenschaft bleiben und muss sie erst recht ihr gegenüber sein, sodass das Verhältnis von Philosophie und Theologie oder richtiger von Philosoph/inn/en und Theolog/inn/en als freundschaftliche Partnerschaft qualifizierbar ist. Erst auf dieser Ebene kann ein interdisziplinärer Dialog versucht werden, können Partner einander verstehen, voneinander lernen, auch einander kritische Beurteilungskompetenz zugestehen, über die sich miteinander reden lässt. Solche Kompetenz ist einander zuzugestehen, nicht um übereinander zu herrschen, sondern um so der einen Wahrheit zu dienen (ministrare). An dieser Dienlichkeit um der Wahrheit (Weisheit) willen bemisst sich jede Arbeit für andere. Damit sind mindestens einander widersprechende Positionen ausgeschlossen: Eine Aufhebung der Philosophie (mit ihrer Theologie) in die Offenbarungstheologie ist ebenso auszuschließen wie die Aufhebung der Offenbarungstheologie in eine Philosophie, etwa eine Kulturphilosophie der Religionen. Und dies insbesondere dann, wenn man Religion subsumptionslogisch lediglich als eine unter anderen Kulturerscheinungen zu begreifen oder gar als etwas bloß Funktionales (z.B. als Mittel zur Kontingenzbewältigung) zu destruieren sucht. Die relative Autonomie der Philosophie gegenüber der Offenbarungstheologie wird nicht notwendig dadurch aufgehoben, dass Philosophierende sich als Christ/ inn/en bekennen und kulturell, wissenssoziologisch und psychologisch von ihrer Religionsgemeinschaft geprägt sind. Die soziokulturelle Situation, die persönliche Eigenart, Erfahrung und Interessensrichtung einzelner Philosoph/inn/en können im Hinblick auf die global einander durchdringenden Religionsgemeinschaften sowie auf den beachtenswerten Religionsverlust außerordentlich unterschiedlich 141 M. Seckler, »Philosophia ancilla theologiae«. »Während in der östlichen Theologie die Magdmetapher vorwiegend positiv ausgelegt wurde, so daß die Motive der Dienlichkeit und Nützlichkeit, ja der Partnerschaft das Bild beherrschen, ging im Westen die Entwicklung in eine andere Richtung. Hier schoben sich die Herrschaftsansprüche der Herrin und die Momente der Dienstbarkeit in den Vordergrund.« (176)
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sein. Zwar kann in vielen Teilen der Welt niemand mehr ernsthaft philosophieren, ohne zur jüdisch-christlichen Offenbarung Stellung zu nehmen, aber Ähnliches gilt für Angehörige anderer Weltreligionen. Die Offenheit Philosophierender schließt nicht aus, sondern ein, dass sie sich aus einem besonderen Interesse, das sie zum Philosophieren bringt, unter den zahlreichen philosophischen Richtungen einer bestimmten Philosophie zuwenden und dass sie auch philosophische Fragestellungen bestimmter Religionen bevorzugen und einen wichtigen kritischen Beitrag zur Läuterung des Religionswesens erbringen. Dem entsprechend unterscheidet man die Geschichte der jüdischen, christlichen, islamischen, buddhistischen, taoistischen u.a. Philosophien, deren Schattenseiten, die heute Atheismen und Religionsverlust provozieren, nicht übersehen werden sollten. In einer globalisierten Welt ist entsprechend der Makroökumene der Religionen, ihrer Angehörigen sowie ihrer Kontrahenten, der partnerschaftliche Dialog mit den auf Offenbarungstheologie hörenden Philosoph/inn/en das Gebot der Stunde. Wenn hier nun etwas ausführlicher bloß auf die dialogische Partnerschaft zwischen Philosophie und Theologie innerhalb des Christentums eingegangen wurde, so sollte an diesem Paradigma nur erhellt werden, was ähnlich, freilich unter anderen Bedingungen, auch für das philosophische Denken innerhalb anderer Religionsgemeinschaften zutrifft. Das Paradigma ist zu benennen: Es kann unter Vorbehalten ,Christliche Philosophie‘ genannt werden.142 Darunter ist zu verstehen, dass der philosophische Gesprächspartner auf die jüdisch-christliche Offenbarung Rücksicht nimmt und ihr gegenüber ausdrücklich offenbleibt. Wenngleich christliches Philosophieren faktisch philosophische Implikate christlicher Offenbarungstheologie mitbedenkt, ist Christliche Philosophie nicht mit Philosophie in der christlichen Theologie zu verwechseln. Christliche Philosophie ist daher auch keine ,Philosophie des Christentums‘, aber mehr als nur faktisches Vorkommen von Philosophie in einem soziokulturell vom Christentum geprägten Geschichtsraum, weil in ihm die und der Philosophierende existenziell auf das Wesen des Christentums, auf dessen »Christlichkeit« (Heidegger), bezogen ist. Aber darf deswegen eine Philosophie schon ,christlich‘ genannt werden? Was die Christlichkeit dieser Philosophie angeht, so gibt die Zuwendung zum Christentum (wie übrigens auch die Abwendung von ihm) den Philosophierenden in ihrem ureigensten Bereich schwerwiegende Fragen auf, die ihnen ohne diese Religion und ihre 142 Zur außerordentlichen Vieldeutigkeit und Dehnbarkeit dieses Titels in der Geschichte der Philosophie und christlichen Offenbarungstheologie vgl. H. M. Schmidinger, Zur Geschichte des Begriffs »christliche Philosophie«, in: E. Coreth u.a. (Hg.), Christliche Philosophie im katholischen Denken des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 1, 29 – 45.
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Geschichte nicht so klar oder gar nicht kommen würden. Dadurch kann Philosophie nicht nur zur philosophischen Explikation religiöser und theologischer Implikate und zur Klärung dessen, was die Annahme einer Religion an Vorgegebenheiten voraussetzt, beitragen, sondern sie ist in ihrem eigenen Feld herausgefordert, sich neuen Fragen zu stellen, die an sich logisch von den Quellen der Offenbarung unabhängig sind, doch im Gespräch und in der Auseinandersetzung mit ihr Beantwortung finden können. Dadurch ist echtes, ursprüngliches Philosophieren nicht behindert, sondern im Gegenteil herausgefordert und oft reich beschenkt.143 Angeführt sei ein Beispiel für eine genuin philosophische Frage, die im Umkreis jüdischer und christlicher Theologie sowie frühchristlicher Dogmengeschichte auftauchte und dort nicht allein beantwortbar war, die gläubige Christen, aber auch Juden bewegt hat und noch unter Abwendung vom Christentum leidenschaftlich thematisiert wurde: die Ausarbeitung der unterschiedlichen Sinnrichtungen der Wer- und der Was-Frage. Ohne auf die Vieldeutigkeit der beiden Fragen näher eingehen zu können, sei nur Folgendes referiert: Das Jemandsein, Selbstsein bzw. Personsein eines menschlichen Individuums wurde von dem, was ein Mensch ist – seinem Wassein, Wesen bzw. seiner Wesensnatur, wodurch er ein singuläres Individuum ist –, unterschieden. Die griechische Philosophie wurde hinsichtlich des Menschen durch die Was-Frage in Atem gehalten. Erst im jüdischen und christlichen Denken erhalten die/der Einzelne vor Gott und den Menschen und damit die Wer-Frage ein außerordentliches Gewicht. Beispielsweise wird bei Mk 4,41c gefragt: »Wer ist nur dieser, dass ihm Wind und See gehorchen?« Wer ist Er, dieser einzigartige Mensch, den man zu kennen vermeinte, aber eigentlich doch nicht kannte? Im Gang des christlichen Denkens (der Trinitätslehre und Christologie) wurde die der Wer- und Was-Frage entsprechende Differenz zwischen Person und Wesen (Natur) allgemein geläufig. Als Beleg dafür sei ein altes Schulbuch angeführt, die »Quelle der Erkenntnis« (Pegê gnoseos, Phg gnsewß) des Johannes von Damaskos († vor 754),144 welche das klassische Dogmatiklehrbuch der griechischen und slawisch-orthodoxen Kirche während des Mittelalters und teilweise bis hinein in die Neuzeit war. Dort wird im philosophischen Teil (der Dialektik) auf die Frage »Wer ist dieser? Tís estin hutos (tß stin otoß)?« mit »Pétros«, einem namentlich Genannten, geantwortet. Das Wer bezeichnet die Hypostase, die Person (auch konkret Anwesendes). Hingegen 143 Vgl. dazu C. Tresmontant, Die Vernunft des Glaubens. Die Herausforderung der Metaphysik durch die kirchliche Lehrverkündigung. Auf die umgekehrte Herausforderung der christlichen Glaubenswissenschaft durch kritische Philosophie, insbesondere den modernen Atheismus, wird noch einzugehen sein. 144 Johannes ,Damascenus‘, Die Schriften des Johannes von Damaskos. Bd. 1: Institutio elementaris. Capita philosophica (Dialectica), 86 f.
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beantwortet man die Frage »Was ist Petrus? Tí esti Petros (t sti Ptroß)?« mit »ein Mensch«. Die Frage zielt auf die kategoriale Was-Aussage, das Wesen, wie es jedem Menschen zukommt. In der Folge konnten im atheistischen Denken, das aus christlichem Denken schöpfte, die beiden Fragen auseinandertreten: Nach Ludwig Feuerbach145 ist das Was das gemeinsame Wesen bzw. Gattungswesen, das menschliche Personen als Mitmenschen verbindet. Im Widerspruch dazu erblickte Max Stirner146 im Wer, in der Einzigartigkeit des Ichs, das Trennende, unvergleichlich Einmalige, dem kein Wesen eignet, sodass es kein Was, kein allgemeines Wesen, ,nichts‘ als sich selbst (und sein Eigentum) zu vollziehen hat. Hier findet sich also christlich-philosophisches Gedankengut, ausgewandert in ,säkularisiertes‘ Denken. Auf die Frage ,Wer ist es?‘ antworten wir mit den Pronomina ,Ich‘, ,Du‘ oder in der Form eines Berichtes mit ,Sie; Er‘ oder wir sprechen jemanden mit Namen an oder nennen andere mit Namen. Lang hat es gedauert, bis nicht nur der moralische Status der Person (ihre Würde) und ihre Einzigartigkeit (konkrete Individualität), sondern vor allem das Wesenhafte ihrer Relationalität in der Philosophie herausgearbeitet wurde. Eine Sternstunde dialogischer Partnerschaft von Philosophie und Theologie ereignete sich gegen Ende des Ersten Weltkriegs im großen Aufbruch personal-dialogischen Denkens, zunächst mit vorwiegend theologischem Charakter, und zwar in Rückbesinnung auf das Alte und Neue Testament durch Juden wie Eugen Rosenstock-Huessy, Franz Rosenzweig, Martin Buber, Rudolf und Hans Ehrenberg und durch Christen wie Ferdinand Ebner und Gabriel Marcel. Jahre später löste eine vorwiegend philosophische Strömung die theologische ab. Genannt seien Denker wie Ludwig Binswanger, Karl Löwith, Karl Jaspers, Ludwig Grisebach, Fridolin Wiplinger. Die breite interkonfessionelle Rezeption dialogischen Denkens – also innerhalb der jüdisch-christlichen Offenbarungstheologie und über sie hinaus – dauert (wohl sehr abgeschwächt, anonym) noch an. 145 Eine ausführliche Würdigung Feuerbachs ist dem nachfolgenden Band vorbehalten. 146 Pseudonym für Johann Caspar Schmidt (1806 –1856). In seinem Hauptwerk »Der Einzige und sein Eigentum« fasst er abschließend zusammen: »Das [allgemeine] Ideal ,der Mensch‘ ist realisiert, wenn die christliche Anschauung umschlägt in den Satz: ,Ich, dieser Einzige, bin der Mensch‘. Die Begriffsfrage [Feuerbachs]: ,was ist der Mensch?‘ – hat sich dann in die persönliche umgesetzt: ,wer ist der Mensch?‘ Bei ,was‘ suchte man den Begriff [die allgemeine Wesensbestimmung], um ihn zu realisieren; bei ,wer‘ ist’s überhaupt keine Frage mehr, sondern die Antwort im Fragen gleich persönlich vorhanden: die Frage beantwortet sich von selbst […,] kein Begriff drückt Mich aus, nichts, was man als mein Wesen angibt, erschöpft Mich.« (369) Ich selbst bin nicht mein Wesen. Feuerbachs am Gattungswesen orientierte Wesensbestimmung des Christentums hält Stirner für dessen »theologische Ansicht« (43), d.h. »die christliche Anschauung«, die er zurückweist.
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Der systematische Ort philosophischer Theologie innerhalb verschiedener Theologien
Kehren wir abschließend zur Ausgangsfrage dieses Kapitels zurück, zur Stellung der philosophischen Theologie innerhalb der verschiedenen Theologien, so bezeugt das Beispiel, wie facettenreich die Herausforderung der Philosophie, insbesondere des theologischen Philosophierens, durch zwei monotheistische Religionen und ihre Theologien sein kann. Das Beispiel steht hier nur stellvertretend für die Herausforderung der Philosophie durch die Pluralität gewachsener und/oder sich Stiftern verdankender Religionen: die Herausforderung der Philosophie durch die unausweichlich gewordene große Ökumene der Religionen. Damit taucht die Frage nach dem heutigen und zukünftigen Verhältnis der philosophischen Theologie zur Religionsphilosophie und zu den Religionswissenschaften auf. Doch diese Sachthematik ist zunächst eine innerphilosophische; sie ist im Rahmen der philosophie-immanenten Ortsbestimmung unseres theologischen Philosophierens weiter zu bedenken. Doch dazu sollen erst in die Philosophie einführende Überlegungen vorausgeschickt werden, da philosophische Theologie in ihrer Möglichkeit von der Tragfähigkeit und Tragweite dieses Fundamentes abhängig ist.
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Zweites Kapitel:
Sachprobleme systematischer Ortsbestimmung philosophischer Theologie innerhalb der Philosophie
1. Vorschau auf die Methode
1.1 Hermeneutische Phänomenologie ursprünglicher Erfahrung
Die Frage nach der wissenschaftlichen Positionierung philosophischer Theologie innerhalb anderer Theologien hat bereits zu wichtigen methodischen Einsichten geführt: Hervorgehoben sei der Rückgang auf die lebensweltliche Selbsterschlossenheit des Daseins als Ausgangsort wissenschaftlicher Systematik und Methodik. Diese methodischen Überlegungen werden hier wieder aufgenommen, da zur weiteren Darlegung der philosophischen Theologie als einer theologischen Philosophie eine Vorschau auf ihre Gangart notwendig erscheint. Die hier vorgestellte Methode ist keine andere als der Denkweg desjenigen Philosophierens, das innerhalb der Methodenvielfalt Phänomennähe lebensweltlich optimal gewährt, und zwar durch den Rückgang (reductio, resolutio) auf die ursprüngliche Erfahrung unseres Daseins, in der sich seine Grundstrukturen und das ihm Eigene enthüllen. Diesem Anliegen hat vor allem Husserls Neuansatz der Phänomenologie zum Durchbruch verholfen. Er hat erstens eine Bewegung ausgelöst, in der es um die Freilegung des sich selbst originär Zeigenden geht (traditionell: das per se notum, das aus sich Offenkundigsein). Husserl und seine Schüler nehmen damit nicht weniger als die alte Thematik der Rettung und Befreiung der Phänomene in ihrer Ursprünglichkeit auf. Das mag übertrieben feierlich klingen, ist aber dennoch sachgerecht gesagt, ja gehört zur Aufgabe jeder Philosophie und stellt für ihre Durchführung ein Maß dar, an der ihre Größe gemessen werden kann. Tiefer gesehen, heißt Beteiligung an der Rettung und Bewahrung der Phänomene so viel, wie selber als Gerettete und Befreite
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im Austrag unserer Lebensmöglichkeiten für den Aufgang in die Unverborgenheit – die Wahrheit des Seins – da zu sein.1 In einer solchen Bewegung, die global nach wie vor an der Zeit ist, liegt auch die Chance der Vertiefung des Methodischen zur Verbindung der Denkwege, die andere Denkwege nicht ausschließt, vielmehr von ihnen lernt und so ihnen hilft, ihr Eigenes besser zu verstehen. Phänomenologie ist zweitens im (immer noch lehrreichen) Anschluss an Husserl eine Methode lebendigen Philosophierens. Über sie gibt es weitreichende Auffassungsunterschiede. Uneinigkeit besteht in der Frage, wovor, als was und worin die Phänomene gerettet werden sollen. Die Divergenzen enthüllen die Fruchtbarkeit der Methode, bringen aber die Gefahr der Festlegung auf Einengungen mit sich. Statt das Methodische entsprechend dem Entgegenkommen der Sache in ihren inneren Fügungen so zu entwerfen, wie sie von sich her, d.h. ursprünglich, zur Gegebenheit kommt, versandet Phänomenologie leicht in einem Phänomenalismus deskriptiver Beliebigkeiten oder reduziert (schon bei Husserl ) das Erscheinende unter Einklammerung der Existenz auf seinen bloßen Wesensgehalt (Eidos) und unterstellt die Sache aus einem Sicherheitsbedürfnis heraus dem methodischen Vorhaben – etwa der transzendental-egologischen Begründungsform. Ohne auf diese Differenzen weiter eingehen zu können, ist nun zu klären, was hermeneutische Phänomenologie mit Rücksicht auf ursprüngliche Erfahrung besagt.2 1 Zur Geschichte des Motivs der Errettung des Erscheinenden vgl. Th. Rehbock, Art. Rettung der Phänomene, in: HWP, Bd. 8, Sp. 941– 944; J. Mittelstrass, »Die Rettung der Phänomene. Ursprung und Geschichte eines antiken Forschungsprinzips«, erblickt darin historisch-kritisch gut belegt nur ein Thema antiker Astronomie, das in der Neuzeit zum methodischen Programm einer Erklärung der Natur mittels mathematischer Gesetzeshypothesen wurde. Zur Wendung dieses Motivs zugunsten der Rettung der besonderen, konkreten, nicht wiederholbaren Phänomene vor der Unangemessenheit durch Unterstellungen (Hypothesen, Ideen, abstrakte Begriffe) vgl. jedoch den Artikel »Rettung« von R. Tiedemann, in: HWP, Bd. 8, Sp. 939–941, hier 940 f. M. Heideg ger erblickt im Retten des Erscheinenden ein platonisches Sachmotiv, das für griechische Denker besagt: »das Sichzeigende als das Sichzeigende und wie es sich zeigt behalten und bewahren in der Unverborgenheit, nämlich vor dem Entgehen in die Verbergung und Verstellung. Wer dergestalt das Erscheinende in das Unverborgene rettet (bewahrt und behält), ist selbst ein für das Unverborgene Geretteter, dafür Bewahrter.« (GA, Bd. 54, 178, auch 186 –193.) Zur Unverborgenheit als geschichtlichem Geschehen ständiger Befreiung als Schicksal des Philosophierenden: ders., GA, Bd. 34: Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlengleichnis und Theätet, 87–94. 2 Einen ausgewogenen Überblick über die Richtungsmannigfaltigkeit der Phänomenologie gibt H. Vetter, in: Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe (2004), 410–425. Zur Phänomenologie ursprünglicher Erfahrung vgl. besonders F. Wiplingers methodischen Ansatz und Entwurf einer »Philosophie als Phänomenologie der ursprünglichen Erfahrung«, in: Der personal verstandene Tod. Todeserfahrung als Selbsterfahrung (12–24); R. Kijowski, Ursprüngliche Erfahrung als Grund der Philosophie. Eine Auseinandersetzung mit Fridolin Wiplingers Philosophieren. Vgl. auch H. Helting, Einführung in die philosophischen Dimensionen der psychotherapeutischen Daseinsanalyse, 32–57; G. Pöltner (2008), Philosophische Ästhetik, 214–225. Auf mir wichtige Grundzüge einer ,Phänomenologie ursprünglicher Erfahrung‘ soll im dritten Band dieser philosophischen Theo-
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1.1.1 Zum Phänomenverständnis der Phänomenologie
Das Phänomenverständnis der Phänomenologie reicht in die Welt der griechischen Philosophie zurück, in deren Alltag das phänomenale Sein volles Gewicht besaß. Es ist die den Menschen in seiner Welt bewegende (und nicht distanziert eine ,das Denken‘ angehende) Sache. Diese wurde vorterminologisch – und das heißt mit Bezug auf die Lebenswelt – das »Phänomen« genannt. Tò phainómenon (t fainmenon) ist das Partizip Präsens von phainesthai (fanesϑai); dieses Zeitwort versammelt im Modus infinitivus von passiv phainesthai und aktiv phainein (fanein) die Bedeutungsmannigfaltigkeit finiter Formen3 in einem außerordentlichen Reichtum an Abschattungen. Hinter dem Wort vom Stamm fa- steht das Wort f1oß, Licht, Helligkeit, Helle, von dem auch das Verb gebildet wurde. Die übliche Übersetzung von phainestai und phainein mit erscheinen und erscheinen lassen (einer Erscheinung) gibt das mit Phänomen Gemeinte nicht prägnant wieder. In ihm geht es vielmehr erstens um das Leuchtenlassen (passiv) und Leuchten (aktiv), um das An-das-Licht-Kommen und -Bringen, das An-den-Tag-Kommen, -Legen und -Bringen – der Tag als Helligkeit verstanden, nicht als Zeitabschnitt. Das Tagsein ist eine Weise der Anwesenheit von Daseienden, ein zum Vorschein Kommen, und gehört zum Sein der Welt.4 Zweitens geht es um das Offenbarwerden, Offenkundigsein und Offenbarmachen, um das Sichtbarwerden und Sichtbarmachen und vor allem um das Sichzeigen und Zeigen von Daseiendem. Das sich (selbst) Zeigende ist unmittelbar selbst als ein Zeigen da und lässt sich so dem entsprechend selbst sehen und erkennen. Dieses Zeigen meint kein Hinzeigen oder Hinweisen auf etwas, kein Vorzeigen oder Begreiflichmachen von etwas, wofür das griechische Wort deiknymi (deknumi) steht. Das phänomenale Zeigen ist vom deiktischen Zeigen zu unterscheiden, das ein nachträgliches Zeigen (Aufzeigen) des sich von sich her Zeigenden ist. Drittens seien aus der Bedeutungsvielfalt noch das Geborenwerden, Entstehen, Ins-Sein-Treten und das Geborenwerdenlassen (eines Kindes), aber auch das Scheinen (als Möglichkeit der Täuschung) und das Bloß-den-Anschein-Haben angeführt. logie im Zusammenhang mit der Phänomenologie religiöser Erfahrung näher eingegangen werden. Zur ontologischen Grundlegung der Phänomenologie vgl. M. Heidegger, besonders GA, Bd. 2: Sein und Zeit; ders., GA, Bd. 24: Die Grundprobleme der Phänomenologie, 26 –32; ders., GA, Bd. 17: Einführung in die phänomenologische Forschung. 3 Zur Sachproblematik des Verhältnisses der finiten Form (bin, bist) zur infiniten Form des Zeitworts ,sein‘ siehe vom Verf. (1985), Personales Sein und Wort, 236 ff. 4 Vgl. »Fainmenon als ausgezeichnete Weise der Anwesenheit von Seiendem: Dasein im Tag« bei M. Heidegger, GA, Bd. 17: Einführung in die phänomenologische Forschung, 6 –9.
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Eine frühgriechische Bestimmung des Phänomens findet man bei Anaxagoras: »Sicht des Nichtoffenbaren: die Phänomene. ópsis adélon tà phainómena.«5 (en)dêlos und delóein heißt offenbar, offenkundig, klar, sichtbar sowie klarmachen, klären, offenbaren, und zwar das ádêlon, das Verdeckte, Unsichtbare, Verborgene und Dunkle. Dieses ádêlon ist das Verborgene als Ursprung des Entborgenen, des (én) dêlon. Opsis ist das im jeweiligen Sehen Vernehmbare als solches. Diese Sicht ist im Blick auf das, was uns das Phänomen gibt, eine Sicht des an sich Unsichtbaren. Das Phänomen ist also nicht (wenigstens nicht primär) etwas bereits sichtbar Gewordenes, das sich dem Betrachter (unter verschiedenen Hinsichten) nachträglich entdeckt, keine sichtbar gewordene Gestalt des Anwesenden (Seienden), die einen Anblick (eîdos) und ein Aussehen (idéa) darbietet. Was Anaxagoras hervorhebt, ist, dass die Phänomene Sichtweisen »nämlich« (gár) des Unsichtbaren, des Verdeckten und Verborgenen sind – und nicht, wozu Gesichtetes für uns gut ist. Daher behauptet er nicht, dass die sichtbaren Dinge als Grundlage der Erklärung der Erkenntnis des Unsichtbaren dienen.6 Eine Vorwegnahme des Methodenideals der Naturwissenschaften kommt hier nicht infrage. Das durch den göttlichen noûs (die Weltvernunft) ermöglichte Geschehen des Heraustretens des Verborgenen in die Unverborgenheit gewährt eine Sicht, gibt Einsichten frei, indem etwas zum Licht kommend sich aus dem Bereich des Verborgenen zeigt. Das Phänomen ist bei Anaxagoras primär kein noetisches, sondern ein ontologisches Prinzip, ein Denkanfang, der einer Seinsweise von Daseiendem entspricht. Terminologisch wird das Phänomen der Phänomenologie als das Grundelement der Methode gefasst: als das Sichzeigende im Bezug auf sich und zugleich auf den Menschen, der auf es hinweisen kann. Phänomen ist jede Sache (Seiendes; etwas, das ,ist‘, anwest, weilt, währt usw.), insofern und insonah sie sich selbst zeigt, d.h. zum Sein kommt. Sich selbst zeigen besagt primär so viel wie: sich an sich selbst, von sich selbst her und in Bezug auf sich zeigen. Das schließt nicht aus, dass das Phänomen sich sekundär für Andere und im Bezug auf anderes zeigt oder nur etwas ist, das sich begleitend von anderen Phänomenen her zeigt: das Epiphänomen. Ist das phänomenale Sichzeigen ein Sichentbergen von Verborgenem, so ist damit das ursprüngliche Verständnis der Alêtheia, der Wahrheit, angesprochen. Phänomenologie ist so verstanden Alethiologie, was nur unzureichend mit Wahrheitslehre übersetzt wird.7 . 5 DKV, Bd. 2, 43: Anaxagoras, Fr. B 21 a: 6 So W. Capelle, Die Vorsokratiker, 280. 7 Ob ein Phänomen, insofern es sich jemandem augenscheinlich zeigt und sichtbar wird, nicht einseitig oder unterbestimmt ist, muss zunächst als Frage offenbleiben.
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1.1.2 Zum Logos der Phänomenologie
Der Wortteil ,-logie‘ in Phänomenologie besagt ein legein ta phainomena (lgein t! fainmena), d.h. ein Sammeln und Ansprechen der Phänomene, ein Reden, welches das zur Rede stehende Phänomen offenbar macht und Anderen ermöglicht, es mit zu sehen. Schließlich bezeichnet ,-logie‘ in Phänomenologie ein wissenschaftliches Vorgehen: die systematische Aufweisung von Seienden, welche die in Frage kommenden Phänomene, wie sie sich von sich selbst her zeigen, an ihnen selbst sehen lässt, auf- und ausweist. Die hier entscheidende Frage ist aber, wie das Sichzeigende in seinem Sichzeigen zugelassen wird. Realwissenschaftliche Bereichsentwürfe haben es mit dem, was sich zeigt, zu tun und verstehen sich gewöhnlich phänomenorientiert. Sie bestimmen methodisch über die Begegnisart, das Wie des Hinnehmens von Sichzeigendem. Begegnet uns Sichzeigendes in den Wissenschaften in verschiedenen speziellen Hinsichten bzw. Bereichsentwürfen (biologisch, geschichtlich, wirtschaftswissenschaftlich usw.), so fügt Philosophie keine neue, partikuläre Hinsicht hinzu. Sie steht quer zu allen anderen Wissenschaften und ihren speziellen Hinsichten, insoweit sich ihre Hinsicht für das Vernehmen des Sichzeigenden als das Sichzeigende offenhält. Das Sichzeigende, das sich im Philosophieren als solches (ut sic) erhellt, kann als Logos angesprochen werden, den der Mensch hat, d.h. zu dem er sich verhält – Logos besagt hier die Sinnfülle des Seins (der Physis). Der Mensch ist in einer nicht ausschöpfbaren Weise das Wesen, das den Logos hat, dem der Logos zukommt, das vom Sinn für die Gegenwart des Ganzen und des Grundes in Anspruch genommen da ist. Die Übersetzung mit animal rationale, dem vernünftigen Sinneswesen, verkürzt das. Die primäre Bestimmung des Menschen ist nicht seine Vernunft als Vermögen oder Vorentwurf (Idee) des zu erkennenden Ganzen, sondern das, woraus alle Vernunft schöpft. Sie erfährt unverkürzt ihre volle Aufgabe aus der gegenwärtigen Versammeltheit des Seinsganzen in dem Anwesenheitsbereich, den unser Dasein bildet. In der Gesammeltheit unseres Daseins entsprechen wir dieser Versammeltheit des Ganzen, dem Weltlogos, dem sich offenbarenden Sein des Seienden im Ganzen. Aus der Phänomenalität dieses Logos gewinnt der Logos der Phänomenologie noch den weiteren Sinn: Er ist aufweisendes Auslegen des Daseins. Der Logos ist methodisch ein hermeneutischer. Hermeneutik ist hier nicht für die Kunst der Interpretation von Botschaften und Texten reserviert, sondern sie wird als Auslegung des ontologischen Sinnes der Phänomene verstanden. Einen Hinweis auf den hermeneutischen Sinn von Logos in Phänomeno-logie bringt die
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Etymologie. Logos kommt von griech. lgein, dessen verbaler Sinn zu denken gibt: Légein hieß ursprünglich so viel wie lesen (wie in Traubenlese, Ährenlese: etwas sorgfältig einzeln von etwas abnehmen oder aufnehmen, in die Hand nehmen und Schlechtes dabei absondern), d.h. also sammeln: ein Sammeln des Verstreuten und zur Sammlung Versammeln, das Vollbringen einer Bewegung des Ausholens und Zusammenbringens des Zusammengehörigen. Übertragen auf das Phänomen wird dieses ausgelegt, und zwar im Vorblick auf eine uns in es hineinziehende GrundErfahrung sowie geleitet durch ein Vorverständnis (eine Auslegungsperspektive) seiner inneren Wesensfügungen. Auslegen heißt hier: aus der Zugehörigkeit zum gesammelten Offen- und Freisein für das Offene heraus so ,aus-ein-ander-legen‘, dass ein Sinnmoment aus dem anderen heraus entfaltet wird und diese Sinnmomente – gemäß ihrer Zusammengehörigkeit – zusammengefügt werden. Das der Sache innewohnende Sinngefüge wird dadurch aufgeschlossen, in den ihm zugehörigen Sinnmomenten offengelegt und auf deren Zusammengehörigkeit hin versammelt. Auf diesem Weg wird es in seinem Sinngrund aufgeschlossen, verständlich gemacht und zu verstehen gegeben. Viel spricht dafür, dass Heideggers Übersetzung von Heraklits »Logos« mit Sammlung zutreffend und weiterführend ist.8 Von der Sammlung her lässt sich das ursprüngliche Verhältnis des Menschen zum Weltlogos bestimmen: Der Logos ist als das ,Alles vereinende Eins‘ der Ursprung und die das ,Alles‘ im Ursprung einbehaltende »Ver-sammlung«. Er ist so das Wesentliche des Seins des ,Alles‘ (des Seins des Seienden im Ganzen), insofern er dasselbe ist wie das Aufgehen der Physis in die Unverborgenheit, die in der Verbergung gründet. Treten wir ins Unverborgene, so sammelt dieses uns auf es hin und gibt das Sichsammeln auf die ursprüngliche Versammlung (den Logos) frei. Zur Versammlung des Unverborgenen gehört also unser Sichsammeln in dieses als ein Bergen in die Unverborgenheit (in vielen Gestalten des Sagens). Der Weg (der ursprüngliche Methodos) ist dann das Gegenwärtig-werden-Lassen der ursprünglichen Versammlung aus dem Sichsammeln und auf diese hin, d.h. auf das Sein – ein in seinem Selbst GesammeltBleiben, das freilich immer nur begrenzt in die Unverborgenheit zu bringen vermag. Der Mensch wäre demnach zur Sammlung auf das Wesen des Seins bestimmt, von dem er die Möglichkeiten seiner selbst empfängt. Das Methodische beruht daher auf der Weise, wie der Mensch sich zum Logos verhält, ihm zugehörig ,ek-sistiert‘, d.h. ihn im Innestehen des Logos gesammelt aufnimmt. 8 Zum Folgenden vgl. M. Heidegger, GA, Bd. 55: Heraklit, besonders »Heraklits Lehre vom Logos«, § 6 –8.
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Das hermeneutische Verstehen, das sich als ein sammelndes Bergen in die Unverborgenheit auslegt, ist primär nicht intentional, objektgerichtet gemeint, sondern insofern wir zum Phänomen Gehörige sind, ist es die Weise, sich selbst auf das Dasein in der Weite der Welt zu verstehen, d.h., es in seinem Seinkönnen, seinen Möglichkeiten und seinem Vermögen zu enthüllen. Das Durchmachen und Durcharbeiten der Erfahrung geht vor sich als Auslegung in seinem jeweiligen Seinssinn. Das geschieht, indem aus Fragen, die einen überkommen, das Erfahrene auf seine Ursprünglichkeit hin, auf das in ihm eigentlich Erfahrene (Erscheinende, Sichzeigende) hin, befragt wird, und zwar so, dass die schrittweise Freilegung des Phänomens im Vorblick auf seine Ursprünglichkeit das eigentlich Erfahrene allererst sehen und füreinander erscheinen lässt. – Im Auslegungsvorgang wird das Einzelne aus dem Versammeltsein des Ganzen und das Ganze aus dem Versammeln des Einzelnen verstanden. Gewisse Bestimmtheiten des Seinssinnes werden vorweg angenommen (nicht einfach voraus-gesetzt!) und einer vollständigeren Bestimmung zugeführt. Dadurch wird kein logischer Fehler (circulus vitiosus) begangen, sondern eine hermeneutische Denknotwendigkeit befolgt. Der hermeneutische Zirkel als methodische Anweisung zum Sammeln und gesammelten Aussprechen der Phänomene entspricht der totalen In-Anspruch-Nahme des Daseins, das sich stets aus dem Sein (Phänomen) zum Sein (Phänomen) zu verhalten hat. Phänomenologie der ursprünglichen Erfahrung ist in sich hermeneutisch und anders nicht verstehbar. Aus dem Gesagten ergibt sich das folgende methodische Axiom: Phänomene können in ihrer Ursprünglichkeit nur verstanden und angemessen ausgelegt werden, wenn man sie in der jeweils erreichbaren höchsten und tiefsten, vollsten und weitesten Erscheinungspotenz aufsucht. Das Wort Erscheinung bzw. Erscheinen sei hier präzisiert: Es meint das Phänomen im Sinne des sich selbst von sich her Zeigenden. Doch kann es auch anders verstanden werden: Zum Beispiel kann das Kranksein von jemandem sich in Unwohlsein, Fieberhaben und Gesichtsröte melden. Das Erscheinen (Melden am Fieberthermometer) des Krankseins wird zwar durch das Kranksein mit ermöglicht, doch das Kranksein selbst und als solches zeigt sich dadurch nicht. Das macht Diagnosen oft so schwierig. Das Kranksein zeigt sich nur durch anderes an, das sich als eigene Erscheinung (das Meldende selbst) bekundet. Selbsterscheinung bzw. erscheinendes Erscheinen (das Phänomen) ist von der bereits erschienenen Erscheinung, die etwas anzeigt bzw. auf etwas anderes hinweist, zu unterscheiden. Da waltet ein seiender Verweisungsbezug. Hierher gehören Symptom, Syndrom, Indikation, Vertretungssymbol (im Gegensatz zum Realsymbol), die Bezugnahme verweisender Darstellung auf eine Sache u.a. Weitere Bedeutungen von Erscheinen bzw. Erscheinung im Sinne der ,bloßen
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Erscheinung‘, des ,Den-Anschein-Habens‘ und des ,bloßen Scheins‘ ergeben sich, wenn ein eigentliches ,Sein‘ von der erschienenen Erscheinung verdeckt, verstellt, entstellt wird oder wesenhaft so verhüllt ist, dass es durch ihre Ausstrahlung dieses als nicht Offenbares gedachte Sein verhüllt oder privativ abgewandelt bloßer Schein ist oder überhaupt nichts dahinter ist. So kann sich unter einem bestimmten Licht Gesichtsröte zeigen, die irrtümlich (ob ihres Anscheins) für ein Anzeichen von Fieber und dieses für ein Sichmelden einer Erkrankung gehalten wird.9
1.1.3 Ontische und ontologische Dimension des Phänomens
Die methodische Frage nach dem Wie des Sichzeigens der Phänomene ,als das Sichzeigende‘ führt vor die Frage, als was und worin das Sichzeigende der Phänomene näherhin aufzuweisen ist. Dieses Was und Worin ist, wenn wir es möglichst unvoreingenommen im Hinblick auf die ursprüngliche Erfahrung befragen, in seinem von ihm her sich enthüllenden Wesen (als Sichereignen) verstanden: das Seiende in seinem Sein. Notwendiges Thema einer ausdrücklichen Aufweisung ist demnach, wie Heidegger in »Sein und Zeit« ausgeführt hat, »solches, was sich zunächst und zumeist gerade nicht zeigt, was gegenüber dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, verborgen ist, aber zugleich etwas ist, was wesenhaft zu dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, gehört, so zwar, dass es seinen Sinn und Grund ausmacht«.10 Was als Sinn und Grund, als Anfang und Ursprung zum Offenbarwerden wesenhaft gehört, durchragt grundgebend das offenbar Gewordene; es ermöglicht sinnstiftend Verständlichkeit und ist das, womit etwas zu sein anfängt: das Entspringenlassende. Es ist so aufzuweisen, dass (und wie) es sich mitzeigt und wie wir es eigens füreinander mitsehen lassen können. Mag es als solches sich sogar verbergen und an sich verborgen bleiben, mag es weitgehend verdeckt, verschüttet und vergessen sein, worauf es hier ankommt, ist, dass wir aus dem Phänomen selbst den Anspruch gewahren, dass Sinn und Grund, Anfang und Ursprung selbst Phänomen werden – ontologisches Phänomen, versteht sich, nicht bloß ontisches! Interessiert uns zum Beispiel das Fenster, das wir dort erblicken, dann nehmen wir es dort wahr, wo es jetzt ist, und zwar als ein Anwesendes, das dort vorhan9 Zur Entwirrung des Phänomen- und Erscheinungsbegriffs vgl. M. Heidegger, GA, Bd. 2: Sein und Zeit, 38 –42, und ders., GA, Bd. 23: Geschichte der Philosophie von Thomas von Aquin bis Kant, 38 f. 10 M. Heidegger, GA, Bd. 2: Sein und Zeit, 47.
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den ist. Seiendes, das sich in seinem Anwesen zeigt, ist ein ontisches Phänomen. Das Sichzeigen dieses Fensters in seinem Anwesen uns gegenüber ist offenkundig, wenngleich sein bloßes Anwesen unscheinbar ist – es ist selbst nichts Wahrnehmbares. Anders ist uns aber das Fenster nicht als Anwesendes gegeben. Nur als ein anwesendes Fenster ist es unmittelbar wahrnehmbar. Dieses Anwesen (des Fensters) ist dem gemäß kein Anwesendes (kein Fenster); Sein (das ontologische Phänomen) ist kein Seiendes (ontisches Phänomen). Ebenso ,ist‘ unser eigenes Anwesen, während wir aufmerksam dort beim Fenster verweilen, kein Seiendes, denn als leibhaftig Anwesende sind wir gar nicht dort, sondern sind wir hier. Ringsum anwesend sein zu können, ist eine offenkundig gewordene Möglichkeit unseres ,Da-seins‘. Das ontologische Phänomen des Fensters bekundet sich selbst in einem nicht ausschöpfbaren Reichtum des Seins dieses Seienden: in seinem kategorialen Wassein, Eines-unteranderensein, Diesessein, Möglich- und Wirklichsein, Zu-etwas-gutsein usw. Weil wir als Menschen die sind, die Sein verstehen und in der Offenheit von Sein stehen, bringen wir ein Verständnis dafür auf. Ohne dieses Seinsverständnis könnten wir das Fenster als ein solches überhaupt nicht wahrnehmen. Sehen wir genauer hin, so zeigt sich: »Die nicht-wahrnehmbaren, ontologischen Phänomene haben sich allen wahrnehmbaren Phänomenen immer schon, notwendigerweise zuvor für diese gezeigt.«11 Hingegen dem gegenüber, was sich uns vor allem, »zunächst und zumeist« zeigt (das Seiende), bedarf es eines eigenen Verfahrens der Freilegung des verborgenen Phänomens (des Seins), da sich dieses »zunächst und zumeist« nicht zeigt. Damit stellt sich die Frage, wie, d.h. auf welchem Weg, wir vom ontischen auf das ontologische Phänomen zurückkommen können.
1.1.4 Zum phänomenologischen Verständnis ursprünglicher Erfahrung
Lebensweltlich Dasein heißt notwendig, erfahrend in der Welt sein können. Der Weg zum ontologischen Phänomen ist, dem Lebensweg entsprechend, ein Weg der Erfahrung. Er fängt mit der Sammlung an,12 die uns für Sichzeigendes öffnet und auf es vorbereitet. Ohne sie können wir uns nicht auf das Ursprüngliche im uns Widerfahrenden einlassen. Das Ursprüngliche ist jeweils das im gewöhnlichen Sichzeigen zunächst Verborgene, das ursprünglicher ist als das uns Offenbare, weil es dieses entspringen lässt bzw. als Entsprungenes entlässt. Ursprüngliche Erfahrung ist fundiert im Zeitspielraum, den das uns Widerfahrende braucht, um auf11 M. Heidegger, Zollikoner Seminare, 7, vgl. 281. 12 Siehe oben den zweiten Exkurs über Sammlung.
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genommen, durchgemacht, aufgeschlossen und verstanden zu werden. Dazu muss das, worum es im Widerfahrenden geht, aus den alltäglichen und theoretischen Verdeckungen und Verdrängungen so herausgearbeitet und so freigelegt werden, dass es in höchstmöglicher Ursprünglichkeit selbst zu einer neuen Weise des Sichverstehens auf das Dasein und zur entsprechenden Ausgelegtheit dieses Daseins kommen kann. Ursprüngliche Erfahrung ist damit präzisiv erläuternd und nicht exklusiv bestimmt. Eine philosophische Methode ist von ihrem Wesen her nur so lange lebendig, wie im Gegenzug zur Ausbildung ihrer eigenen Systematik die Frage nach der Ursprünglichkeit des Methodischen selbst wachbleibt. Die Methode selbst, ein Verfahrensentwurf unseres Denkens, soll geeignet sein, das Leben systematisch in seinem Gang zu enthüllen. Sie schöpft aus der Lebenserfahrung im weitesten und tiefsten Sinne des Wortes,13 in der wir es jederzeit mit dem unteilbaren und doch strukturierten Daseinsganzen zu tun haben, ja uns unausweichlich im geschehenden Erfahren selbst vorfinden und befinden. Das Sichselbstvorfinden und -befinden im geschehenden Erfahren ist eine Daseinsnotwendigkeit, zu der es kein konträres oder kontradiktorisches Gegenteil gibt.14 Im Rückgang auf das jeweils eigene Erfahren als Daseinsgeschehen sind wir uns selbst ursprünglicher gegeben als in der Selbstgewissheit und Selbstoffenbarkeit des ,Ich denke‘ bzw. des Selbstbewusstseins. Ein Vernehmenkönnen der Anwesenheit (und in ihr des Abwesens) des Sichzeigenden ist immer nur im offenständigen Sein (Anwesen) des menschlichen Da-seins möglich. Mag ein Denken des Denkens (ein reflexives cogito) auch unbestreitbar sein, es wäre ein seinsvergessenes Denken, wenn ich darin davon absehe, dass ich jeweils der Denkende selbst als ganzer Mensch und Mitmensch bin, selber da und für mein Anwesen in der Welt in einzigartiger Offenheit ansprechbar bin. Ein von mir vorausgesetztes transzendentales ,Ich denke‘ (reflexives cogito) kann daher nur willkürlich als Prinzip der Philosophie angesetzt werden, denn die primäre Bestimmung des Menschen (seine Menschlichkeit) kann nicht im Denken bzw. der Vernunft liegen, sondern nur in dem, woraus auch diese ihre primäre Bestimmung zur Gänze ,er-fährt‘: aus den Möglichkeiten des Vernünftigseins eines Menschen im ,Da-sein‘ füreinander, und zwar jeweils eines gestimmt-vernehmenden Anwesens in der Offenheit des Bezugs zur Welt.
13 Einen Gesamtüberblick über Erfahrung gibt G. Haeffner, Erfahrung – Lebenserfahrung – religiöse Erfahrung. Versuch einer Begriffsklärung. 14 Geschehende Erfahrung ist nicht geschehene Erfahrung, die wir einmal durchgemacht haben: Deren Anwesen kann dem Offenheitsbereich meines Eksistierens entfallen und vergessen werden oder mir wieder ,einfallen‘ und erinnert werden.
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Was immer wir vom Menschen (uns selbst!) und seiner Welt, vom Sein oder Nichtsein denken, ob wir dem Denken großer Denker wie Platon oder Aristoteles, Thomas oder Kant, Hegel oder Marx nachdenken, dieses unser leibhaftiges Anwesen (nicht Vorhandensein!) miteinander in der Welt ist immer und notwendig ursprünglicher als das, was wir davon denken können. Im Rückgang auf das Daseinsgeschehen werden wir selbst frei, die eigene Erfahrung jeweils neu, im Blick auf ihren Ursprung verstehen zu können, und von da erst offen dafür, das Denken der Großen, in dem, was ihnen zu denken gab, mitzuvollziehen. Fragen wir, wie wir Derartiges denken können, dann zeigt sich, dass der retorsive Rückgang dieses Denkens ein transzendentaler ist. Transzendental aber nicht in dem Sinne, dass er dem nachfragt, was ein ,das Ich‘ für sich notwendig voraussetzen muss, um so etwas zu denken, sondern weil das Dasein selbst wesenhaft transzendierend ist, d.h. es überschreitet sich auf das Sein hin, ohne dass dazu ein Gegenteil möglich wäre. Der erkennende Rückgang ist ein Sichverhalten zum Sein des menschlichen Daseins, auf dem das Sichtranszendieren dieses Daseins beruht, das sich selbst phänomenal aus diesem Sein gegeben erfährt und versteht. Daher kann es eine Sache hinsichtlich ihres Soseins (ihrer Wesenszüge und Wesensbestimmung) im Durchmachen ursprünglicher Erfahrung auf ihren Ursprung hin befragen, etwa fragen, wodurch sie in sich möglich ist, welches die ,Natur der Sache‘ oder die Grundbeschaffenheit einer sich zeigenden Gegebenheit des Daseins ist, und weiter, worin dieser Ermöglichungsgrund für das Sosein der Sache, worin ihre versammelten Grundund Wesenszüge gründen, wie die Ursprünglichkeit des Anwesendseins des Menschen im Offenen und Freien der Welt erschließbar ist usw. Phänomenologie der ursprünglichen Erfahrung empfiehlt sich daher nicht als eine neue methodische Spezialität, sondern durch die Bemühung der Freilegung des das philosophische Denken in seiner Ursprünglichkeit Bewegenden, in Gang Bringenden. Sie rührt an den Ursprung der Erfahrung selbst. Zum Eigentümlichen dieses phänomenologischen Erfahrungsverständnisses sei noch kurz bemerkt: Geht es im Dasein um das geschehende Erfahren, so ist diese Erfahrung, die vor aller Aufspaltung in Theorie und Praxis liegt, nicht spekulativ aufhebbar, einhol- oder überholbar, weil es in ihr nicht um geschehene Erfahrung, sondern um ein zeitliches Sich-selbst-Verstehen auf das Daseins selbst geht. Und weiter: ,Da-sein‘ ist jeder möglichen Erhärtung irgendwelcher Hypothesen als Bedingung der Möglichkeit (jeder partikulären Verifizier- bzw. Falsifizierbarkeit) schon vorgegeben. Besondere Erfahrungs- oder Verfahrensweisen (z.B. sogenannte ,empirische‘) bzw. spezifische Erfahrungsbegriffe können daher für das, was Erfahrung eigentlich und im Ursprung ist, prinzipiell keine kritischen Maßstäbe
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liefern, da sich ihre Maßstäbe selbst erst der Hinterfragung und Ausweisung durch ursprüngliche Erfahrung stellen müssten. Es geht in der Methode um das Freilegen und Ausleuchten menschlichen Daseins in der Unverborgenheit seines Weltaufenthalts, das in das Verborgene hineingestellt ist und sich aus diesem Ursprung versteht. Die Frage nach dem in der Erfahrung ursprünglich Gegebenen weitet sich deswegen zur Frage nach dem Ursprung der Erfahrung: insofern und insoweit dessen Woher (der Anfang als Eröffnung des Ganzen) und dessen Wohin (im Sein zum Tode) zu denken geben. Zu denken gibt, was uns überhaupt widerfährt, sich zeigt und zu erfahren gibt und motiviert und was unserer Sorge um die Wahrheit, die rettet und befreit, anvertraut ist. Dazu gibt es keinen anderen Erstzugang als das Phänomen (im weitesten Sinne des Wortes) selbst – nichts als das Phänomen, nichts daneben an ihm vorbei, nichts darüber hinaus spekuliert, nichts darunter unterstellt oder hineingeheimnisst, ja sogar nichts dahinter vermutet. In diesem Sinne ist Phänomenologie hier allgemein als menschliche, existenziell relevante Möglichkeit angesprochen, welche die Verantwortung auf sich nimmt, auf dem Weg des Denkens dem, was überhaupt zu denken gibt, der Sache des Denkens – dem Phänomen –, optimal zu entsprechen. Das phänomenologische Anliegen »Zu den Sachen selbst« verbindet wohl global alle großen Denktraditionen ab den Anfängen der Philosophie. Keine unserer bekannten philosophischen Methoden konnte, wie mir scheint, völlig ohne die phänomenologische Maxime »Zu den Sachen selbst« auskommen, obgleich hinsichtlich der Sache selbst größte Divergenzen bestehen. Menschliche Endlichkeit und Unzulänglichkeit verbieten jedoch eine Methodensynthese. Obwohl die Supermethode eine Unmöglichkeit darstellt, ist nicht auf methodisches Vorgehen zu verzichten, denn Unsystematik kann sich nicht einmal das Eintreten für eine Anarchie der Methoden leisten. So bleibt dem Philosophierenden in der sich bescheidenden Einfügung in das eigene Lebensgeschick und gemäß den nur ihm eigenen Fragen sowie den besonderen Interessen an der Methode doch die kommunikative Anteilnahme an der Vielfalt der Methoden offen, die zu seiner Orientierung beitragen. Aber gerade in dieser Situation der Zersplitterung der Erfahrungswege, blinder pluralistischer Stagnation, der Unübersichtlichkeit und Orientierungslosigkeit sowie des konsenslüsternen Marktes und der durch Moden bestimmten ,Lehren‘ scheint mir heute jenseits der Aufspaltung in ein medial (virtuell) vermitteltes Allgemeinwissen einerseits und in eine körperlichlokale Eigenerfahrung andererseits der Rückgang in die je eigene ursprüngliche Erfahrung leibhaftig gesammelten Anwesens im Offenen unserer Welt eine unumgängliche Notwendigkeit zu sein.
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Ursprüngliche Erfahrung ist jeweils nur meine und jeweils nur deine Erfahrung. Dadurch ist sie nicht objektiv im Sinne von unpersönlicher Allgemeinverbindlichkeit und gegenständlicher Distanziertheit. Sie ist aber auch nicht unverbindlich-subjektiv, kein bloß unmittelbares Erlebnis, sondern eine selber um der Enthülltheit (Wahrheit) willen durchzumachende und am Ende verstandene Erfahrung des sich uns gemeinsam Zusprechenden und Mitteilenden. Je mehr wir auf das Einzigartige und Einmalige des jeweils nur mir und jeweils nur dir Widerfahrenen einzugehen vermögen, desto ursprünglicher können wir einander zeigen, was sich uns gemeinsam zeigt und zu denken gibt. Wir können einander mitteilen, was uns gemeinsam in Anspruch nimmt. Die so verstandene Eigenerfahrung ist der unverbindlichen Subjektivität entrissen. Eine ihr entsprechende Phänomenologie der ursprünglichen Erfahrung scheint mir noch immer ebenso ,unzeitgemäß‘15 wie epochal ,not-wendig‘ zu sein und kommt sachgemäß dem Anliegen der philosophischen Theologie entgegen.
1.2 Erweiterung zu einer akroamatischen Phänomenologie? 16
Phänomenologie lässt sich in ihrem methodischen Auslegen, Offenbarmachen und Mit-teilen dessen, was ist, von dem her bestimmen, was sich zeigt und sehen lässt: vom (wörtlich verstandenen) phainomenon. Doch ist diese Bestimmung nicht zu eng, zu exklusiv? Bedarf sie nicht einer Erweiterung durch Nicht-Phänomenales, durch solches, das sich zwar nicht sehen lässt, das aber dennoch, wenn auch nur unscheinbar, uns zugänglich ist? Ja müsste nicht stets fragwürdig bleiben, was Phänomenologie ist, wenn anders ein ursprüngliches Fragen niemals abschließend beantwortbar ist und uns immer erneut überkommen kann? Ich beschränke mich hier auf eine mir besonders dringlich erscheinende Anfrage: Orientieren wir uns im Sichzeigenlassen nicht nur an einer möglichen Weise unseres Weltverhältnisses, nämlich am Sehen? Waltet dagegen alles, was ist, nicht vielmehr ,sprachlich‘? Es spricht uns an, es sagt sich uns (an sich) geräusch- und lautlos zu und es nimmt 15 Zum kritischen Verständnis der Unzeitgemäßheit vgl. den Artikel »Unzeitgemäß« von H. Schalk in: HWP , Bd. 11, Sp. 349 f. 16 Zum Folgenden vgl. besonders M. Riedel, Hören auf die Sprache. Die akroamatische Dimension der Hermeneutik. Riedel geht in seinen materialreichen Studien »dem Phänomen des Hörens im hermeneutischen Verstehen« nach, und zwar als einem »Hintergrundphänomen der Sprache, das den Sinnanspruch der Worte im Ganzen eines Textes wie der von ihm angesprochenen Phänomene [in ihrer Bedeutsamkeit] betrifft«. (8) Die von mir verfolgte Fragestellung verlagert sich aber vom Hören auf die Sprache der Phänomene auf die Sprache der Phänomene selbst als dem ursprünglichen ,Wesen‘ der Sprache.
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uns in Anspruch, ihm zu entsprechen. Dieses (beim Wort genommene) ,Entsprechen‘ würde sich dann aus einem horchenden Vernehmen des zu Hörenden verstehen. Vermögen wir uns in ein gesammeltes Schweigen zu bringen, d.h. in ein für das Vernehmen offenes Anwesen, dann können wir uns in der weiten Tiefe von dem angehen und etwas sagen lassen, worum es im Dasein überhaupt geht, und haben daher selbst Entsprechendes zu sagen (d.h. wir antworten aus einem vom Geschehen der Sprache bestimmten Bezug). Zu untersuchen wäre, wie verschieden und doch gemeinsam uns in unserem Weltverhältnis das zu Sehende und/oder das zu Hörende aufgeht (1.2.1). Kommt für unser philosophierendes Weltverhältnis der Gesichtswahrnehmung ein Vorrang zu oder gibt es Gründe für einen Vorrang der Gehörswahrnehmung? Oder gehören beide in gleicher Ursprünglichkeit zusammen (1.2.2)? Zur Phänomenologie gehört das kritische Hinterfragen der Ursprünglichkeit von Wissensintentionen, was an der Diskussion über die ,theoretische Neugier‘ exemplifiziert werden soll (1.2.3). Vorterminologisch ist das Phänomen als das Sichzeigende, als Erscheinung und Schein vor allem etwas Sichtbares, hingegen ist das Akroama (t 2kra) etwas Gehörtes oder zu Hörendes (uns Ansprechendes), gewöhnlich ein Vortrag, eine Vorlesung oder etwas, das sich hören lässt; besonders aber (musikalische) Unterhaltung für das Ohr (während der Mahlzeit: ein ,Ohrenschmaus‘). Akroama kommt von akroáomai (2kro1ai), d.h. hören, anhören, zuhören, auf jemanden oder etwas hören im Sinne von ,achten‘, gehorchen. Dem Akroama entspricht die Akroasis (2krasiß), das Zuhören, die Anhörung. Im terminologischen Sprachgebrauch der pythagoräischen Tradition ist Akroasis die Anhörung bzw. das Erhorchen der Harmonie der Welt. Der Weg zu ihr beginnt mit dem händischen Anschlagen des Monochords, wo die Bekundung sichtbarer Proportionen (Oktav, Quint, Quart usw.) und der Klänge in Zahlenverhältnisse gefasst werden, die qualitativ bedeutsam erscheinen: Da hören wir, was wir sehen und greifen, und da sehen wir, was wir hören und greifen.17 Die aus der Welt uns begegnenden Gestalten (wie pflanzliche Verzweigungen oder Tempelproportionen) werden in ihrem Klang gehört und Erklingendes wird wohlproportioniert geschaut. Dieses ,synästhetische‘ Weltverhältnis lässt uns des Nomos (nmoß), in dem die Welt in ihren Seinsgestalten ins Unverborgene aufgeht, innewerden: Es bringt uns in Einklang mit ihrem schaubar-hörbar-stimmigen Gefüge und letztlich in Übereinstimmung mit dem Logos der Physis. 17 Zur allgemeinen Schulbildung für die Söhne der Freien gehörte in der griechischen Grundschule der Unterricht in Kithara und in der Oberstufe die Kenntnis dieser Art musischer ,Mathematik‘. Vgl. den Artikel »Enkyklios Paidaia« von H. Koller, in: HWP, Bd. 2, Sp. 503.
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1.2.1 Verschiedenheit und Gemeinsamkeit von Sehen und Hören im weltbezogenen Sichverhalten
Zum besseren Verständnis sei kurz vergegenwärtigt, wie verschieden Sehen und Hören sind. Wie zeigt sich uns das Sehen? Ob wir wachen oder träumen, breitet sich vor uns eine Gegend aus, haben wir eine umgrenzte Aussicht (Horizont). Das uns umwölbende Offene des Sehraums ist uns immer gegenüber, räumlich ,gegenwärtig‘:18 diese vielgestaltig farbig und simultan gegliederte Welt der begegnenden Anwesenden (Seienden), auf die wir uns richten, ausgerichtet sind oder für die wir einfach offen da sind (adesse). Das gegenwärtig Anwesende breitet sich immer nur unter Abstandwahrung aus, räumt einen jeweils anderen Anblick und Einblick ein, je nachdem, wie wir uns dazu verhalten; anders im Hantieren und Handeln, anders im Beobachten, das feststellen will, oder versunken in ruhig verweilendes Schauen usw. Der Sehraum wölbt sich nicht nur in der Helligkeit des natürlichen oder künstlichen Lichts, sondern auch das Dunkel gibt eine Möglichkeit frei, etwas zu sehen – Sterne, Leuchtkäfer, Straßenbeleuchtung usw.19 Eine herausragende innerweltliche Möglichkeit hat unser Sehen im Miteinanderanwesen, wo wir einander mit sprechendem Blick von Angesicht zu Angesicht begegnen. Im Phänomen des Gesehen- und Erblicktwerdens können wir nun sehen, wie wir selbst gesehen (anerkannt, geliebt oder abweisend vergegenständlicht, übersehen usw.) werden, das heißt, im Sehen verstanden werden. Auch im bloßen Sehen vernehmen wir Sprache: von den Gebärden (der sogenannten Körpersprache), mit denen jemand spricht, bis hin zum stummen Lesen. Anders das Hören:20 Hier gewahren wir uns nicht nach vorne auf ein Gegenüber ausgerichtet, sondern sind nach allen Seiten für zu Hörendes offen. Wir können von hinten angesprochen werden, drehen uns dann um, um den Sprechenden zu sehen. Wir hören gerichtet, was aus dieser oder jener Gegend kommt. Zu hören gibt es etwas erst, wenn wir horchend offen sind und einen Anwesenheitsraum für das Vernehmen des zu Hörenden darbieten. Das Hörbare, auch wenn es uns von der Ferne nahe kommt, wie Donner oder Verkehrslärm, hat ganz anders als das Sehbare eine eigentümliche Eindringlichkeit und Distanzlosigkeit. Es trifft uns schutzloser als solches, vor dem wir die Augen verschließen oder von dem wir 18 Zum Unterschied von räumlicher und zeitlicher Gegenwart vgl. G. Haeffner, In der Gegenwart leben, 12–15, 90. 19 Zum »Fainmenon [Phainomenon] als jedes an ihm selbst Sichzeigende in der Helle oder Dunkelheit« vgl. M. Heidegger, GA, Bd, 17: Einführung in die phänomenologische Forschung, 10–13. 20 Zur lebensweltlichen Erfahrung des Hörens und Horchens siehe oben 1. Kap. 2.2.4.4 a).
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uns abwenden und wegsehen können. Wir können zwar weghören oder uns an den Lärm gewöhnen, sind aber dennoch in horchender Offenheit für zu Hörendes ständig zugänglich da. Meist verschwindet diese umfassende Offenheit aus der Beachtetheit. Hören wir nun irgendetwas (Geräusch, Klang, Laute, Musik oder Reden), da durchdringt es uns unmittelbar in unsichtbarer Gegenwärtigkeit. Wir hören nicht Geräuschempfindungen, sondern Seiendes, beispielsweise das Handy, das verdeckt läutet, ohne dass es sich deswegen schon zeigt. Streng genommen ist Gehörtes an ihm selbst nicht etwas, das sich einem zeigt; doch kann sich allenfalls im Gehörten dem Hörenden etwas mitzeigen und anschaulich zu verstehen geben. Hören ist an sich kein Sichzeigenlassen, das ein augenscheinliches Zugleich einräumt, Bewegungsabfolgen fixiert, indem wir dem Bewegten mit Augen oder Körperdrehungen folgen, sondern es geschieht so, dass es sein Sein nur im Vorübergang hat. Seine Gegenwart ist eine zutiefst zeitliche. Haben wir etwas gehört, können wir nicht nochmals genauer hinhören, so wie wir oft wiederholt genauer hin- und nachschauen können (wodurch wir auch befugte Augenzeugen werden), denn soeben Gehörtes ist schon wieder vorüber. Das Gehörte zeitigt sich, gibt sich uns als zeitlich Anwesendes. Zur ringsum horchenden Offenheit gehört das Schweigen und Hören auf das, was sich uns zuspricht. In seiner höchsten Möglichkeit verstanden, ist Schweigen nicht nur ein Hören auf jemanden, auf das Wort der Sprache, sondern vielmehr ein Hören auf das zu Sagende, das sich uns im Gespräch lautlos gemeinsam zuspricht, und ein teilnahmsvolles Hören auf jemanden selbst, ja hörend-horchende Eksistenz im Gespräch.21 Wir hören im Gespräch nicht nur voneinander, sondern wir können einander selbst hören – in einer Welt, welche diese Unmittelbarkeit des Selbstseins medial auszuklammern vermag. Wir haben Sehen und Hören einander gegenübergestellt, sie isoliert und getrennt betrachtet. Insofern blieb unberücksichtigt, dass Sehen und Hören Vollzüge des einen und ganzen Menschen sind und mitmenschlich ihre höchste Erfüllung finden, wenn wir uns im Gespräch einander zugewandt ,sehen‘: Ich höre dich selbst und sehe, wie du mich selbst (und nicht bloß etwas) hörst und verstehst. In diesem ,Sehen‘ geben wir einander frei und einander selbst zu verstehen. So ereignet sich Selbstmitteilung. Im konkreten Erfahrungsvollzug spielen Hören und Sehen normalerweise miteinander, zueinander und ineinander, was man auch intersensorische Koordination nennt: Ringsum, in horchender Offenheit, sind wir da und hören, worauf wir uns richten können, und sehen nach, was es zu hören gibt. Sagt uns, was 21 Das hier über das Sehen und Hören Ausgeführte müsste im Zusammenhang des personalen Mitseins weiter bedacht werden, vgl. dazu vom Verf. (1985), Personales Sein und Wort, 184–202.
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sich dem Auge zeigt, Bedeutungsvolles, so lässt uns, was das Ohr anspricht, (ein-) sehen, sodass in beiden ein Verstehen waltet. Im Hören und Wort der Sprache können wir einander sehen lassen und in eine Welt des zu Sehenden versetzen, die uns anspricht. Auf dem leibhaftigen Erfahrungsweg des Lebens entfaltet sich dieses Mit-, Zu- und Ineinander in Zusammenhängen von immer bedeutsamer werdender Bewandtnis, etwa vom ersten ,Begreifen‘ und Verkosten eines erblickten Apfels bis hin zum Begriff des Apfels oder gar der Pomologie, der Lehre von den Obstsorten, als Teilgebiet der Welt der Botanik. Das lehrt uns auch, dass unsere philosophischen Begriffe nur im Rückgang auf alles das, was uns zu begreifen heißt, die volle Lebendigkeit ihres Wesens wiedergewinnen können. Sollte man in diesem Beispiel das Horchen und Hören vermissen, so sei nur an die eigentümliche Stille erinnert, die über pflanzlichem Dasein so eindringlich waltet und in die getaucht sich beispielsweise ein sommerlicher Obstgarten zeigt. Rückblickend auf das Gesagte muss nun ein grundsätzlicher Vorrang eines der beiden Weltbezüge des Sehens (Schauens) und des Hörens (Horchens) als nicht phänomengerecht fallen gelassen werden. Das jeweils steigerungsfähige Eigene der beiden Weltbezüge scheint so unvergleichlich anders zu sein, dass sie gerade im Zusammenspiel und Ineinandergehen einander gegenseitig so unvergleichlich überragen, dass kein Vorrang des einen der beiden Sinne über dem anderen begründet werden kann.22 Für die Methode ist es eine offene Frage, ob sehendes Vernehmen und schweigendes Vernehmen (d.h. sich ansprechen lassendes Vernehmen) nicht echte gegensätzliche Weisen, sich auf das Dasein zu verstehen, darstellen, sodass sie sinnverschiedene, aber gleich ursprüngliche Glieder eines polaren Gegensatzes bilden, die notwendig einander so ergänzen, dass wir im Hören immer auch etwas zu sehen bekommen und dass Erblicktes uns immer irgendwie anspricht. Systematisches Vorgehen muss sich immer erneut offenhalten und vor monomaner Logik der Konsequenz hüten, die in ihrer Voreingenommenheit das Phänomen opfert. Fraglich ist auch, was uns überhaupt berechtigt, unter allen Sinnen das Sehen und Hören so hervorzuheben: Wohl nur, dass beide Sinne Fern-Sinne sind, d.h. sie reichen in die Ferne, von wo aus uns zu Sehendes oder zu Hörendes (auf verschie22 Dass Sehen und Hören in ihrem Eigensein einander überragen, könnte noch deutlicher werden, wenn wir in der Phylogenese die Umwandlung des Schädels auf der frühen Primatenstufe bei Lemuren betrachten, deren Augen gegenüber dem archaischen Eutherientypus vergrößert und nach vorne gerichtet sind. Sind hingegen beide Organe am Schädel seitlich angebracht, dann sieht und hört das Lebewesen zumeist fast richtungsgleich. Der Differenzierungsschritt mit dem Blick nach vorne macht ein neues, jeweils eigenes Zusammenspiel des Richtungshörens und Richtungssehens notwendig und bereitet die typisch menschliche Begegnungsmöglichkeit von Angesicht zu Angesicht vor.
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dene Weise!) nahe kommen kann, und zwar so, dass die eigenen Organe, Auge und Ohr, im Aufenthalt bei Gesehenem und Gehörtem, aus der Beachtetheit verschwinden (wie gänzlich anders bei einem Anfall von Wetterfühligkeit!). Spüren wir unsere Augen (ihre Bewegung oder bei Schmerz) oder unsere Ohren, so hat das selten mit dem Erblickten oder Erhorchten etwas zu tun. Das ist wiederum anders bei der Hand: Was sie greift, muss in Reichweite, in der Nähe sein. Wir spüren, wie wir selbst im Greifen in unmittelbarer Berührung mit dem Ergriffenen da sind. Das gilt vor allem für alles Tasten, das man deshalb einen Nah-Sinn nennt. Wir haben Optik (den Fernsinn) und Haptik (den Nahsinn) einander gegenübergestellt,23 doch auch Fern- und Nahsinne werden nicht voneinander isoliert verständlich. Nehmen wir beispielsweise einen Apfel in die Hand, den wir sehen und zu verspeisen beginnen, so erfahren wir, dass es ein und derselbe Apfel ist, den wir auf diese Weise sehen, berühren und dann kauend hören – ontologisch ein Phänomen von Identität. Aus dem Weltoffenheitsbereich, den wir als Menschen jeweils austragen, sind wir angesprochen durch die Anwesenheit von einzelnen Anwesenden in ihrer Bedeutsamkeitsfülle. Aus dem Bezug auf ein und dasselbe Seiende können wir Sinneswahrnehmungen aus verschiedenen Modalitäten (sehen, tasten, schmecken, hören usw.) ganzheitlich überkreuzt-koordiniert erfahren. Deshalb spricht die neuere Forschung von kreuzmodaler Wahrnehmung,24 deren Entwicklungs- und Lernprozesse im Sinne eines hermeneutischen Zirkels verstehbar werden. Dabei ist hervorzuheben, dass wir es jeweils selbst sind, die sich für das Vernehmen-Können von Begegnendem in sinnenhaft-wahrnehmbarer Gegenwärtigkeit offenhalten: innerhalb des und für den Anwesenheitsmodus von Seienden in unmittelbar sinnenhafter Gegenwart. In besonders wachen Augenblicken können wir uns gesammelt mit allen Sinnen gegenwärtig erfahren, und zwar eins mit dem Anwesen des unmittelbar Gegenwärtigen. Da geht uns am deutlichsten auf, dass und wie die vielen Sinne nur eine Sinnlichkeit, einen sinnlichen Lebensvollzug, ein Versammeltsein, eine Weise des leibhaftigen Selbst-, Mit- und In-der-Welt-seins bilden. Diese gibt ihrer Einzelentfaltung den Grund. Man hat diesen Grund ,Gemeinsinn‘ (sensus communis) genannt. Der Gemeinsinn ist Quelle und Vermögen ursprünglicher Erfahrung und Einsichten; er ,ent-spricht‘ vor allem dem, was als Offenkundiges schlicht hinzunehmen ist, sich selbst ausweist, durch Hinweisen uns gemeinsam wird, sodass es keines Beweises bedarf (was die Notwendigkeit eines phänomenologischen Hin- und 23 Siehe oben 1. Kap., 2.2.4.4 b). 24 Vgl. u.a. M. Dornes, Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen, 43– 48.
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Aufweises nicht ausschließt). Zum Gemeinsinn gehört, dass wir uns im Gebenlassen des sinnlich Vernehmbaren nicht nur passiv-rezeptiv, sondern auch aktiv-spontan verhalten, indem wir das Entgegenkommende unseren Verhaltensmöglichkeiten entsprechend aufnehmen, erinnernd behalten, phantasievoll erbilden, verbinden, vorstellen, einschätzen, aber auch übergehen usw. Man könnte hier von einem Integrationsgeschehen differenzierender Einigung der Sinne reden. Dieses lässt sich paradigmatisch gut am Zentralorgan unseres Handelns, der Hand, enthüllen. Man könnte meinen, dass die Hände als Greiforgane vom Auge überwacht werden, da das Sehen weiter als das Greifen reicht. Aber was uns hier besonders interessiert, ist, dass wir im Dunkeln durch Tasten auch dem Sehen nachhelfen können. Die Hand ist also dem Auge oder dem Ohr keineswegs (immer) untergeordnet. Doch kommt ihr deswegen auch kein Vorrang vor dem Auge oder vor dem Ohr zu. Nicht nur Sehen und Hören überragen durch ihr Eigenes das Greifen, sondern auch das Unvergleichliche der Hand überragt den Gesichts- und Gehörsinn – ist sie doch in ihrer höchsten Möglichkeit ein Handlungsorgan, mit der wir sogar (allenfalls lautlos) sprechen, zeigen und offenbar machen und zu verstehen geben können. Bernhard Welte hat im Blick auf die sich vollziehende Integration der Sinnlichkeit der Hand gesagt, sie sei »ebenso Organ des Handelns, wie sie Organ des Fühlens und Empfindens ist. Die Versammlung der Sinnlichkeit zu einem Ganzen lebt gerade in der Hand als lebendige Einheit und Versammlung von Rezeptivität und Spontaneität, von Wahrnehmen und Handeln. Diese scheinbare Doppelheit 25 ist in Wirklichkeit ein einziges Leben.« Und gerade diese in ihr versammelte Sinnlichkeit lebt in ihr nicht für sich, sondern in ihr sind wir eben mit allen Sinnen selber da. Geben wir beispielsweise einander die Hand, so bewerkstelligen wir nicht, dass Körperteile einander berühren als Zeichen für etwas Seelisch-Geistiges, sondern wir selbst sind es, die mehr oder weniger wach, herzlich oder gedankenlos, fest oder lässig, ehrlich oder falsch usw. im Händedruck einander begegnen und da sind – also sind wieder Ontisches und Ontologisches untrennbar eins. Sinnlichkeit unseres offenständigen Daseins als eine Weise des unmittelbar gegenwärtigen Anwesens von Anwesenden tragen wir nur beschränkt aus. Sie gewinnt jedoch als Bereich des Vernehmen-Könnens der Bedeutungsfülle des Anwesenden in seinem Anwesen zunehmend an Bewandtnis für das Daseinsganze, worauf hingewiesen wurde. Sinnlichkeit bildet sich immer mehr aus zu einer Vernehmensweise, in der wir selbst leibhaftig und persönlich da sein und ganz wir selbst werden kön25 B. Welte (1982), Der Verlust der integralen Sinneserfahrung als Quelle des Verlustes der religiösen Dimension, in: Zwischen Zeit und Ewigkeit, 176 –191, hier 179.
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nen. Wir kommen gegenwärtig unausweichlich auf uns sinnenhaft Widerfahrenes zurück, das einmal gegenwärtig war und wir behalten haben. Während wir augenblicklich Gewesensein und Zukünftigsein in eine Gegenwart versammeln, nehmen wir es in unsere Zukunft hinein – anders könnten wir diese Zeilen gar nicht lesen. Daher kann ursprüngliche Erfahrung keine bloß unmittelbare sein; vielmehr brauchen Ereignisse ihre Zeit des Austrags, um verstanden zu werden. Wir verstehen hinsichtlich der ursprünglichen Erfahrung uns selbst so, dass wir uns sinnlich wahrnehmend in unserer Welt gegenwärtig aufhalten, und zwar vor aller Trennung in Sinnlichkeit und Geist, in Wahrnehmung und Denken. Alle Erkenntnis nimmt daher ihren Anfang (principium) mit den Sinnen. Das heißt nicht, dass sie mit den Sinnen als Materiallieferanten des von ihnen loslösbaren Intelligiblen bzw. Ideellen beginnt. Sinneserkenntnis ist nicht Anlassfall oder Ankurbelung geistigen Geschehens, sondern sie ist der in das Kommende ausholende und so bleibende Anfang allen wesenhaften Gewahrens des Anwesenden (Begegnenden) in seinem Anwesen (seiner Wahrheit). Der Versuch einer Entsinnlichung statt eines integrativen Entfaltens der Wahrnehmung im Raum des Erkennens würde ein Sichabschneiden von der Lebenswelt bedeuten. Zur Erkenntnis gehört der Rückgang in die Lebenswelt, nicht nur in ihrem flüchtigen Vorübergehen, sondern im Bleibenden (memoria) des Anwesens in der Welt des Begegnenden, das ohne Sinne gar nicht statthaben kann. Wir können also in leibhaftiger Anwesenheit mit allen Sinnen ganz da sein (was sich jede Multimediashow zunutze macht). Sind wir so zugleich ganz Auge und ganz Ohr, so heißt das viel mehr als nur, sich für einen Entwurfsbereich aus Bedeutsamkeiten des sinnenhaft Vernehmbaren, des Gesehenen und Gehörten, offen halten. Wir sind als wahrnehmende Menschen mit allem gegenwärtig Wahrnehmbaren, den sinnenhaften Gegebenheiten unserer Um- und Mitwelt, in lebendiger Vollzugseinheit eins; und dieses Wahrgenommene ist Seiendes im sehend-schauenden und hörend-horchenden Verstehen seines Seins in der Zeit. Das Gesamtverhalten in sinnenhaft leibhaftiger Offenheit gibt die Möglichkeit frei, ja zwingt in die Notwendigkeit, sich selbst inmitten aller Anwesenden aus dem Sein zum Sein zu verhalten. Ein solches sich zeitigendes Verhalten lässt zahlreiche Modifikationen zu. Beispielsweise die Möglichkeit, sich erkennend auf jeweils einen der Sinne zu verlegen, weiter: sie im Verhältnis zueinander und in ihrem integralen Zusammenspiel zu vollziehen und zu betrachten – wohl nicht unwichtige Möglichkeiten unseres Umgangs mit den Sinnen. Wir können nicht nur betrachtend, sondern alltäglich unser Weltverhältnis in die durch einzelne Sinne zugänglichen Bereiche verlegen und uns aus anderen zurückziehen, diese bevorzugen und
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andere vernachlässigen. Integrations- und Desintegrationsvorgänge in unserem Verhalten zu den Sinnen können deshalb das Verhältnis zur Wahrheit und das entsprechende methodische Vorgehen tragen, aber auch beirren.
1.2.2 Ergänzung der Phänomenauslegung durch die akroamatische Dimension
Mit dem Gesagten kommen wir auf das Problematische einer Prädominanz des Zeigens und Sehenlassens in der Phänomenologie zurück. Wäre das Seinsverständnis der Phänomenologie vom Sehen und Wissen als einem Gesehenhaben bestimmt, dann würden ihr möglicherweise unnötig verdeckende Grenzen auferlegt sein, die, von der die Phänomenologen bewegenden Unvoreingenommenheit gegenüber ihrer Sache her, gar nicht bestehen. Diese Grenzen müssten sich aus der der Phänomenologie eigenen Tendenz, die auf je größere Ursprünglichkeit ihres Sachbezugs geht, ,transphänomenologisch‘ in Frage stellen lassen. Gewiss können die Weisen unseres Sichverhaltens, wie wir unser Weltverhältnis leibhaftig, mit allen Sinnen (durch den Gemeinsinn vermittelt) austragen, sehr verschieden sein: bedingt durch Typus, Begabung, Berufsausübung (z.B. Musiker oder Maler), vom Bereich des jeweiligen Weltaufenthalts abverlangt, im Wachen, Schlafen und Träumen verschieden, von Blind- oder Taubheit beeinträchtigt, aber auch verfeinert usw.; aber ein Sichverstehen auf das Dasein, das sich vorrangig und im Wesentlichen auf ein auf Sehen und Schauen gestimmtes Weltverhältnis verlegt oder umgekehrt auf ein auf Hören und Horchen gestimmtes Weltverhältnis, macht in der Frage nach der Methode einen Unterschied in der Weltorientierung aus, der nicht zu vernachlässigen ist. Man kann das überprüfen, indem man sich mit verbundenen Augen oder mit Geräuschschutz in seiner Umgebung zu orientieren versucht. Da verschwinden vertraute Weisen des Weltverhältnisses und unvertraute treten hervor. Die uns hier angehende Frage ist nicht, ob wir faktisch dem einen oder anderen Sinnesgebrauch mehr zugeneigt sind oder ihn vorziehen, sondern eine grundsätzliche. Vorweg sei daran erinnert, dass wir, indem wir diese Frage stellen, uns daseinsgemäß zu verstehen haben, d.h. als einen Weltbereich von Vernehmensmöglichkeiten einräumend und zeitigend. Auf diesem Boden erst wird fraglich, ob die Vernehmensmöglichkeiten vorrangig und vorgängig Erblickbarkeiten oder Ansprechbarkeiten sind. Die Frage läuft darauf hinaus: Wie ist das Sein des Seienden erstlich zu vernehmen – als verbergend-entbergendes Sichzeigen oder als Sprache des An- und Abwesenden, des Sagens und Sichversagens? Oder ist diese Alternative falsch, da Erblickbarkeiten und Ansprechbarkeiten dasselbe, wenn auch
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nicht auf gleiche Weise, jedoch gleich ursprünglich in einer einander durchdringenden Gegensatzspannung, besagen? Nachdem die phänomenologische Vergegenwärtigung des Sehens und Hörens (in 1.2.1) schon in die Richtung der die Differenz entfaltenden Selbigkeit der beiden gleich ursprünglichen Vollzugsweisen des Sinneslebens wies, ist nun noch zu fragen, was sich daraus für den Ansatz der hier dargelegten Methode des Philosophierens ergibt. Fraglich ist, ob Phänomenologie als Wissenschaft vom Phänomen (im strengsten Sinne des Wortes) zu verstehen ist, sodass das Seiende als solches (in seinem Sein) das Phänomen in reinster Ausprägung ist, d.h. als das Sichzeigende, das in seinem Sichzeigen (Sein) erscheint und vernommen werden kann. Antwortet phänomenologische Forschung auf das Sichzeigen des Sichzeigenden im Lichtbereich (oder Dunkel), indem sie es angemessen erblickt, klärt, sichtbar macht, aufweist und das sich aus dem Grund erhebende Dastehende in seiner ,Be-deutsamkeit‘, seinem Aussehen (Wesenseidos) und Anblick (Idee) zu vernehmen und auszulegen sucht? Wissen gilt ja als Erblickt- und Gesehenhaben einer Sache und als begründete Einsicht (Evidenz). Oder antwortet phänomenologische Forschung allererst auf ein Angesprochenwerden durch im Weltbereich bedeutsam Begegnendes, auf Seiendes, das seinem Sein nach sich uns zuzusprechen und uns in Anspruch zu nehmen vermag? Dem ,ent-spräche‘ dann ein gesamtmenschliches Erhorchen und Hören auf das sich uns Zusprechende, das sich mitteilt, kommuniziert. Kurz: Geht es letztlich in Philosophie um philosophische Weltschau (ja wissenschaftliche Weltanschauung) oder um Weltanhörung (Akroasis)? Oder ist mit typologischen Ausprägungen zu rechnen, die einander wenigstens minimal implizieren, weil unsere Orientierungsfunktionen des Sehens (Schauens) und Hörens (Horchens) gleich ursprünglich sind und in unserer ,Weltorientierung‘ untrennbar zusammengehören und ineinander übergehen? Man kann diese Fragestellung nicht mit dem Hinweis abtun, es gehe ja beim Wissen um etwas Geistiges und nicht mit Sinnen Wahrgenommenes. Die sinnliche Metaphorik unserer Wissenschaftssprache sei daher irrelevant für das Seinsund Methodenverständnis, bloß eine Façon de parler. Gerade phänomenologische Anthropologie konnte zeigen, »dass es faktisch keine einzige Erscheinung des menschlichen Existierens gibt, die unleiblich wäre«, sei sie erinnert, phantasiert oder ,abstrakt‘ gedacht.26 Was immer ist, nimmt uns ganz, mit ,Leib und Seele‘, in unserem leibhaftig situierten Weltaufenthalt in Anspruch, und zwar vor aller zertrennenden Analyse in psychische Fähigkeiten. Gerade wenn es 26 Vgl. beispielsweise M. Boss, Grundriss der Medizin, 271–285, hier: 274.
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um das geht, was uns letztlich und unbedingt von sich her angeht, kann die Frage nach der Ursprünglichkeit unseres Gewahrens des Wie dieses Angangs und nach der von uns bevorzugten Weise des Zugangs (der Offenheit) von ausschlaggebender Bedeutung sein. Schon die methodische Intention, das Sichzeigende (das Phänomen) sich in seinem Vollsinn geben zu lassen – also die Öffnung für die Ursprünglichkeit des uns Widerfahrenden –, zielt darauf, sich vom Seienden in seiner Bedeutungsfülle in Anspruch nehmen und sich lautlos (schweigend) ansprechen zu lassen. Mit der Freilegung der originären Sprachlichkeit des ,Phänomens‘ selbst, das uns in seiner Bedeutungsfülle etwas sagt und Stimmungen anklingen lässt, geht die Phänomenologie über sich hinaus und gewinnt (terminologisch gesprochen) eine Dimension, welche die Phänomenauslegung wesentlich erweitert und ergänzt: die akroamatische Dimension des sich Entbergenden. ,Phänomen‘ unter Anführungszeichen steht hier nicht mehr nur für das Sichzeigende in seinem Sichzeigen, sondern auch für das sich Zusprechen von Anwesendem in seinem Anwesen. Dieser erweiterte Sprachgebrauch war schon im Griechischen möglich, wo phainesthai (fanesϑai) auch hörbar machen, ertönen lassen und etwas aussprechen bedeutet. Umgekehrt ,spricht‘ sich uns in jedem Sichzeigen ein Sichentbergen von Verborgenem zu. Zu unterscheiden sind daher: 1. das Phänomen (Zeigen) im engeren (philologisch strengeren) Sinne. Was sich zeigt, sagt uns Bedeutungsvolles und ist ein Sagen, d.h. hier ein stimmlich nicht verlautendes, gestimmtes Sagen. Dieses gehört zwar mit in den Bereich der Akroasis, umfasst ihn aber nicht. 2. das Phänomen in einem weiteren Sinne, das die akroamatische Dimension des Daseins umfasst. Jedes Phänomen ist ursprünglich gesehen akroamatisch. Zu den Intentionen der Phänomenologie als einer -logie gehört die Akroasis des Weltlogos. Phänomenologie verstehe ich als Wissenschaft von der methodischen Erschließung des Phänomens im zweiten, erweiterten Sinn ihres Logos. Im Rückgang auf die ursprüngliche phänomenale Erfahrung ist Phänomenauslegung (Hermeneutik) als ein ,Lesen‘ der Phänomene (légein tà phainómena) notwendig auch ein horchendvernehmendes Eingehen auf den Sachlogos, und ist Phänomeno-Logie nicht kurzsichtig auf das Phänomenale im engeren Wortsinn zu reduzieren oder gar als Wesensschau zu stilisieren. Gerade wenn sich etwas in dem, was es ist, zeigt und enthüllt, sagt es uns Bedeutungsvolles und ist dieses Zeigen selbst ein Sagen, ein uns Ansprechen. Zugleich gehört zum Zeigen selbst und in das Zeigen sol-
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ches, das sich nicht (im engeren Wortsinn von zeigen) zeigt bzw. mitzeigt. Dieses spricht uns unterschiedlich an, sei es als ontisch Wahrnehmbares, das wir, auch ohne es zu sehen, als solches hören, greifen, schmecken usw. können, oder sei es überhaupt die ontologische Dimension der sich verbergenden Herkunft alles Unverborgenen. Im Rückblick auf diese Herkunft wissen wir aus Erfahrung um diesen Verborgenheitsbereich, der im Verhältnis zur Offenbarkeit alles unverborgen Seienden immer sein Übergewicht hat, immer das Vermögendere ist. In den Anfängen abendländischen Denkens finden wir dies bei Heraklit im Fragment 54 angesprochen: »Unscheinbare Fügung (Harmonie) vermag mehr als erscheinende.«27 Dem Erscheinenden ist nicht das »Unsichtbare«, wie Diels/Kranz aphanês übersetzen, entgegengesetzt, sondern das »Unscheinbare«: Dieses soll nun ,stärker‘ (Diels/Kranz) als alle vordergründige Fügung sein. Das Unscheinbare ist das Stärkere im Sinne des Großartigeren und Vorzüglicheren, das irgendwie reicher, vermögender ist als das Erscheinende. Es erscheint nicht als Phänomen (Gesichtetes im engeren Wortsinn), und doch ist es in allem, was nicht augenfällig in Erscheinung tritt, unscheinbar da. Das Unscheinbare ist daher nicht zu verwechseln mit einem unansehnlichen Aussehen oder Anblick. Auch lässt das Wort ,Harmonie‘ einen zu rasch abgleiten in die Idee eines zwar erhabenen, aber unhörbaren Zusammenklangs der Weltsphären, in kosmische Sphärenmusik. Aber Harmonia bedeutet im Griechischen zunächst doch so viel wie Verbindung, Fuge, Fügung. Eines ist so in ein anderes eingepasst, eingefügt, dass Verbindung, Zusammenhalt, Fügung sich ereignet. In der Weise von Fügung, Verbindung und Fuge waltet die Physis. Das ,Unscheinbare‘ ist das in allem zum Vorschein Kommende der Physis, die im reinen Aufgang ins Offene, zu dem der Rückgang ins Verborgene gehört, da ist. Die Physis ist in ihrem ereignishaften Wesen nichts Unsichtbares, aber auch nicht ein eigens erblicktes Erscheinendes unter Erscheinenden. Der Bereich des Erscheinenden und Scheinenden ist in den Bereich des Unscheinbaren einbehalten, nämlich der Physis, die allem Erscheinen das gelichtete Offene gewährt – ja reicher ist und mehr vermag als das Erscheinende, dem sie im gelichteten Offenen Raum und Zeit eröffnet. Die Physis ist (bei Heraklit) hörbar in ihrem Logos; sie spricht uns an im Aufgang ihrer Sinnfügungen. Ihr entspricht eine schweigend-horchende Grundhaltung, die auch das Erblickte in seiner Anfänglichkeit vernehmen lässt und alle Sichtweisen zu ihrer Anfänglichkeit freigibt. Das im Hinhören Erhorchte der Physis ist, wie früher schon gesagt, keine sinnliche Gehörsempfindung, kein kettw). Zur 27 DKV, Bd. 1, 162: Harmoniê aphanês phanerês kreitton ( Interpretation und Übersetzung vgl. auch M. Heidegger, GA, Bd.55 Heraklit, 141–144.
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Hörerlebnis, sondern ein Sich-Sagen-lassen, ein ,ge-horchender‘, d.h. betroffen Anteil nehmender Erfahrungsbezug zu allem Begegnenden im Walten ihres Aufgangs. Die Fügung der Physis in ihrem Walten als Aufgang ins Offene ist das Unscheinbare, das als lautloser Zu- und Anspruch sich bekundet. Sie bahnt so den Weg (Zugang) zu ihrem Vernehmen und begründet so die methodische Möglichkeit, ihr angemessen zu entsprechen. Das entsprechende Sichverhalten zur Physis (zum Sein des Seienden) liegt in der Offenheit eines achtsam horchenden Vernehmens. Physis ist also nicht nur das, was von sich aus aufgehend sich zeigt und gesichtet wird, sondern umfassender zu verstehen als das, was im Horchen auf ihr Walten sich uns zuspricht. Phänomenologie ist also Phänomeno-Logie. Zu ihr gehört die gestimmte Ernstnahme der in allen Dingen liegenden Sagbarkeit des Wortes, das schweigendhorchende Eingehen auf den Wortcharakter (Sachlogos) sich zeigender Dinge, ja überhaupt das (unausweichliche) ringsum In-Anspruch-genommen-Sein durch die Welt: die Akroasis des Welt-Logos.
1.2.3 Zur kritischen Hinterfragung der Wissensintentionen
Zu den Grundelementen der phänomenologischen Methode gehört ein eigenes kritisch-hinterfragendes Vorgehen. Dieses entlarvt nicht nur wie Ideologiekritik samt ihrer genetisch-reduktiven Variante ein falsches Bewusstsein (Ideen, Idole), sondern es sucht im Rückgang auf das ontologische Vorverständnis die ursprünglich motivgebende Vollzugssituation von überkommenen Begriffen, Urteilen und Argumentationszusammenhängen freizulegen. Redet man mit Heidegger von phänomenologischer Destruktion (von lat. destruere, niederreißen), so nennt der Terminus nur die negative Seite der Kritik: den Abbau der Verdeckungen. Da mit den konstruktiven (hermeneutisch ,auseinander-legenden‘, aufbauenden) Möglichkeiten der Phänomenologie verschüttete Quellen der Erfahrung in ihrer Ursprünglichkeit freizulegen sind, könnte man auch von phänomenologischer Rekonstruktion des ursprünglichen Vollzugssinns reden, wobei kriminaltechnische und archäologische Reminiszenzen erlaubt sind. Die angebahnte Relativierung des Vorrangs des zu Sehenden vor dem zu Hörenden hat uns in folgende rekonstruktive Fragestellungen versetzt: Warum konnte überhaupt ein solcher Vorrang behauptet werden? Warum orientiert sich Philosophie bevorzugt am Sehen als primärer Zugangsart zum Seienden und Sein? Sind die Fragen überhaupt zureichend gestellt? Zu ihrer Klärung soll auf den wir-
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kungsgeschichtlich wichtigsten Beleg, den viel kommentierten Beginn der aristotelischen Metaphysik, eingegangen werden: »Alle Menschen streben von Natur nach Wissen.« Damit wird eine alltägliche Selbstverständlichkeit angesprochen. Man will verschiedene Sachen kennenlernen, um sich im Umgang mit ihnen bei ihnen auszukennen. Wissen ist überhaupt als solches das den Menschen Wesensgemäße. »Dies beweist die Liebe zu den Sinneswahrnehmungen; denn auch ohne den Nutzen werden sie an sich geliebt und vor allen anderen die Wahrnehmungen mittels der Augen. Nicht nämlich nur zum Zweck des Handelns, sondern auch, wenn wir nicht zu handeln beabsichtigen, ziehen wir das Sehen so gut wie allen anderen [Sinnen] vor. Ursache davon ist, dass dieser Sinn uns am meisten 28 Erkenntnis gibt und viele Unterschiede aufdeckt.« Aufgezeigt soll werden, dass das in der (menschlichen) Physis wurzelnde Streben nach wissendem Verstehen, welches das Menschsein mit ausmacht, sich vor allem im Verlangen nach einem Leben im ,Sehen‘ ausdrückt. Das geschieht unter Berufung auf etwas, das uns unmittelbar angeht, und zwar durch einen nicht näher ausgeführten Vergleich der Sinneswahrnehmungen. Alle Menschen hängen an ihnen und gehen ihnen nach. Und so sind sie daran schuld, dass wir etwas kennenlernen und Erkenntnis gewinnen. Im Vergleich zeigt sich, was für den Platonschüler Aristoteles offenkundig ist: dass unter den verschiedenen Weisen des Kennenlernens das offenbar- und klarmachende Sehen (und Gesehenhaben) den Vorzug hat. Diesem von Aristoteles im Eingang der Metaphysik aufgezeigten Sachverhalt des Wissensstrebens, wie er allen Menschen zu eigen ist, ist besondere Aufmerksamkeit zu widmen, da er mit Bedacht die erste dieser Sammlung von Abhandlungen eröffnet.29 Zudem verspricht er uns Klärung über die Verwurzelung und Intention des Erwerbs von Wissen. Beachten wir den Satzbau: »Allen Menschen ist es eigen, dass sie nach Wissen verlangen«, und mit Nachdruck wird am Satzende nachgesetzt: »von Natur aus« (fsei). Das wissende Verstehen geschieht also gemäß der Physis, der Weise, wie Seiendes (das eigene und das uns umgreifende) von sich her in seinem Sein waltet und aufgeht. Der Satz gibt eine Antwort auf die in ihm implizierte Frage, worauf es »allen Menschen […] im Sein und Leben« – eben physei – ankommt. Was das wissende Verstehen der Menschen mit ausmacht, ist, 28 Aristoteles, Met. A 1, 980 a 21. 29 Mittelalterliche Manuskripte, die ähnlich wie die nachträglich ,Metaphysik‘ genannte Sammlung von Arbeitspapieren des Aristoteles wegen der mündlichen Unterweisung meist keinen Titel haben, wurden oft nach ihren Eröffnungsworten, dem incipit benannt. Am Beginn steht ein Schlüsselsatz, der mit Bedacht das Anliegen der Schrift und die Tradition, an die sie anschließt, anklingen lässt und daher kaum überschätzt werden kann. Aristotelisch geurteilt, ist hier ein weithin anerkannter Ausgangsort (Topos,tpoß) der Beweisführung vorgegeben.
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dass es ihnen nicht nur um das Sehen im Leben, sondern um ein Leben im Sehen, ja Aufgehen im Sehbaren geht. Dieses Worumwillen ist nicht wie am Beginn der Nikomachischen Ethik das Gutsein in der Praxis, sondern das freie Wissen. Wie dieses Wissen das Sein des Menschen mit ausmacht, gibt das Wort eidénai zu verstehen. Als Perfektbildung vom Stamm vid, der ,sehen‘ bedeutet, ist in ihm diese Bedeutung noch lebendig. Wörtlich übersetzt ist dieses Wissen ein GesehenHaben, ein Wissensbesitz. Er bezeichnet das nachhaltige Ergebnis (Resultat) eines Seh-Aktes. »Wenn jemand sehr viel gesehen hat und dies Gesehene besitzt, hat er Wissen. Wissen gehört also in den Bereich der Sicht und ist als resultierender Zustand ein Verfügen über Sichten.«30 Es gründet im Wahrnehmen, vorzüglich im Sehen. Mit dem eidénai als einem Erkannt-Haben mag schon hier der ganze Reichtum des Lebens im Sehen, des theoretischen Lebens, angesprochen sein. Der Mensch ist von seiner Physis her zum Schauen berufen. Dieses ist dann nicht »das Erkannthaben als Haben, sondern [als] schauende daseiende Einsicht, insofern ein Sein als höchstes Leben in Wahrheit, im Offenen«31 – der Unverborgenheit des Seins des Seienden. Das verstehende Wissen ist als eidénai ein Sehen, Erblicken, ja Schauen (horân), wie es dem Anblick der zu Gesicht kommenden Seinsgestalten (eîdos) entspricht. Zum Erkannt-Haben kommt es dadurch, dass wir nach einer Erfüllung verlangen, sie anstreben, auf sie aus sind. Orexis (rexiß) ist bei Aristoteles menschliches Streben als eine Weise des Daseins, und zwar der Selbstbewegung eines beseelten Wesens. Dieses Streben ist grundlegend ein »Aus-sein-auf […] Erschließung von Welt, Selbst und Bezug zum Göttlichen«.32 Unter Bezugnahme auf den Anfang der aristotelischen Metaphysik umschreibt Karl Kerényi das »griechische Phänomen« des eidénai mit »schauendem Wissen«, in dem die griechische Religion für den festlich gestimmten Menschen ihre Erfüllung findet: »Man kann griechisch das Ereignis des schauenden Wissens auch so fassen: Es ist Gott, wenn solches geschieht.«33 Mit dem Gesagten wurde die im Beginn der Metaphysik aufgegriffene Wissensweise im Blick auf weitere, ursprünglichere Verstehens- und Seinsmöglichkeiten bei Aristoteles angesprochen. Das ist in einer an der Sache des Denkers interessierten Interpretationsweise, die ihm entgegenkommt, durchaus gerechtfertigt. Doch soll jeder Anlass zu einer nostalgischen Überzeichnung des ,Griechentums‘ 30 31 32 33
W. Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, 163 (ednai: 162 f.). M. Riedenauer, Orexis und Eupraxia, 301. A.a.O., 326. K. Kerényi, Antike Religion, 80.
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vermieden werden. Aristoteles leitet seine Metaphysik unter Berufung auf eine eigentümliche Seinstendenz des Menschen ein, die alltäglich wesenhaft (physei) in der Sorge um das Sehen liegt. Dieses Sehen ist ein anschauliches Vernehmen, ein Gesehenhaben, welchem die Möglichkeit zur (augenscheinlichen) Anschauung (Betrachtung, Theorie) eigen ist, die eine differenzierte Entdeckung von Seienden in ihrem Sein gestattet. Aristoteles holt seine gebildeten Leser jedoch bei dem ab, was sich allgemeiner Bekanntheit und Zustimmung erfreut. Mit der Berufung auf das, was jedem zugänglich ist und bei jedem Zustimmung findet, weckt er in uns die Frage: Spricht er hier nicht doch nur eine bestimmte Weise des sich auskennenden Umgangs mit ursprünglich wissendem Sichverstehenkönnen (und nicht dieses als solches) an, und zwar wie es erstens aus der positiven Verfassung des Daseins (physei), zu der die alltäglichen Wissensweisen gehören, geschöpft werden kann, und zweitens wie wir es auch aus dem durchschnittlich entfremdeten Miteinander- und Selbstsein kennen? Alltäglich kennt man vieles. Das heißt nicht, dass man es ausdrücklich kennen gelernt und erkannt hat. Mit dem gegenwärtigen Auslangen nach Wissbarem, um gewusst zu haben, ist eine Weise zu sein angesprochen, die das Menschsein mit ausmacht: die »seinshafte Zeitigungsweise«.34 Die Weise, im Wissen in der Zeit zu sein, scheint mir für die Aristoteles-Interpretation in zwei Richtungen deutbar: Verhalten wir uns zu gegenwärtig Sehbarem, indem wir ihm in einem echten Verstehen den zukünftigen Status des Verstandenen einräumen, wobei wir unser Gewesensein (das geschichtlich gewordene ,Apriori‘) in das Zukünftige einbringen, d.h. Kennenlernende sind? Kommen wir nicht darin auf die eigensten Seinsmöglichkeiten unseres Daseins zurück? Oder geht es darum, so im Sehbaren aufzugehen, dass es uns um ein Nur-Sehen geht, also nur darum, dieses als solches zu vernehmen (zu konsumieren), das man auch gesehen hat, ja gesehen haben muss? Kommen wir (nur?) auf unser Dasein aus einem Besorgen zurück, das rundum darauf aus ist, immer nur Neues zu gewärtigen? Das Streben als Aussein auf Sehbares ist nach Aristoteles ein liebendes Verlangen (agápêsis, 2g1phsiß), wie wir es vorzüglich kennen, wenn wir nichts mehr vorhaben, wenn nicht etwas zu nutzen, zu verrichten oder zu leisten ist. Da suchen wir nach Möglichkeiten, ausruhend zu verweilen, der Hektik zu entgehen, haben Entspannung, eine Kaffee- oder Zigarettenpause u.Ä. nötig. Wir wollen informiert sein über das, was es so alles gibt, nicht nur sicherheitshalber, sondern um 34 M. Heidegger, GA, Bd. 62: Phänomenologische Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles zur Ontologie und Logik, 17.
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etwas zu erleben, um sich zu amüsieren, um uns die Zeit, die sich als gähnende Leere der Gegenwart hinzieht, ,zu vertreiben‘, ,vom Hals zu halten‘, oder um sich bei irgendetwas über das bekümmerte Dasein zu beruhigen. Der Befriedigung solcher Tendenze kommen – heute hochspezialisiert – die öffentlichen Verhältnisse (Medien, Unterhaltungsindustrie) entgegen. Bezüglich des Wissensstrebens verweist Aristoteles darauf hin, dass uns das Gernhaben des Wahrzunehmenden unter Bevorzugung des zu Sehenden bewegt (motiviert), weil dieses uns »am meisten Erkenntnis (gnorízein, gnwrzein) gibt und viele Differenzen aufdeckt«.35 Beim Kennenlernen sehen wir uns etwas an oder bei etwas um oder bei etwas nach oder dahinter. Aber ist es nicht ein Gerne-Haben des Wahrnehmens von Wahrnehmbarem, das gierig auf das Neue aus ist? Man sagt: Sehen und dabei gewesen sein ist alles! Oder geht es im Vollzug der Wahrnehmungen, die jemand machen kann, um das Wahrgenommensein von Wahrgenommenem? Anders gewendet: Werden also die augenscheinlichen Differenzen entdeckt, um die Zerstreuung zu genießen, um sich zu entspannen bzw. von sich selbst wegzukommen und sich von sich selbst zu erholen? Oder geht es um ein dem Aufgedecktsein der erstaunlichen Mannigfaltigkeit entsprechendes gesammeltes Selberanwesen, um das Ereignis ursprünglich schauenden Wissens? Was nun dieses in der Daseinsverfassung verwurzelte Streben nach dem Gewusst-Haben meint, muss m.E. für die Interpretation des Eingangs in die aristotelische Metaphysik (und nur für diesen!) offenbleiben. Und hier gilt rezeptionsgeschichtlich für die Metaphysik: Eine Verwirrung in ihrem Beginn hinsichtlich der Wissensintentionen, die nicht bereinigt wird, kann schlimme Folgen haben. Wo im Mittelalter die aristotelische Metaphysik universitär rezipiert wurde, wie beispielsweise von Thomas von Aquin, wurde die Naturgemäßheit theoretischen Wissensstrebens positiv herausgestellt. Allen Menschen ist ein natürliches Verlangen zu wissen innewohnend.36 Darin strebt der Mensch über das Nützliche hinaus nach Vollkommenheit, nach dem ihm Eigenen, nach der glückhaften Erfüllung jenes intellektuellen Offenseins, wodurch er Mensch ist, und zwar insbesondere, indem er den Dingen auf den Grund geht. Daraus ergibt sich, dass alles Vertrautsein mit einer Sache, alle Kenntnis und alles Verstehen, alles gründliche Wissen und alle gründliche Wissenschaft gut ist (omnis scientia bona est).37 Thomas 35 Aristoteles, Met. A 1, 980 a 27. 36 Thomas von Aquin, In I Metaph., lib. 1, lect. 1, nr. 1: […] omnibus hominibus naturaliter desiderium inest ad sciendum. Zur Begründung dieses Grundsatzes vgl. nr. 2–4. Dem widerspricht nicht, dass keineswegs alle diese ihnen eigene Möglichkeit aus verschiedensten Gründen ausschöpfen (scientiae studium impendunt). 37 Thomas von Aquin, In De anima, lib. 1, lect. 1, nr. 3.
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hält mit Aristoteles auch am Vorzug des für das Wissen behilflichen Gesichtssinnes fest, da dieser von allen Sinnen der am wenigsten materieverhaftete und daher der spirituellste ist, dem allein sich die Himmelskörper zeigen und der überhaupt größte Sachnähe vermittelt.38 Eine die grundsätzliche Bonität des Erkenntnisstrebens äußerst beschränkende Gegenthese zum ersten Satz der aristotelischen Metaphysik, die ihn auf seine sittlich-religiöse Intention hinterfragt, hat Augustinus entwickelt.39 Er unterstreicht zwar auch den Primat des Gesichtssinnes (primatum oculi), aber er findet diesen von einer krankhaften Gier (morbo cupiditas) geleitet: der Neugier bzw. der (beim Wort genommenen) ,Wissbegier‘ (curiositas). »Sie ist es, die [u.a.] dazu verleitet, das Verborgene der Natur, die außer uns ist, zu erforschen, das zu wissen für nichts gut [ist] und der Mensch eben nur zu wissen begierig ist.«40 Das Verlangen nach solchem Wissen wird nicht für natürlich gehalten, sondern wird theologisch als Ausdruck der Begierlichkeit (concupiscentia) angesehen, die Augustinus nicht nur als Folge des von der ursprünglichen Natur abgefallenen Menschen, sondern material als Erbsünde ausgelegt hat. Der Mensch strebt im status defectus nach einem perversen Wissen (perversa scientia) und hat darum eine Hinneigung und Vorliebe für die Sinnesvermögen, insbesondere für das Sehen bzw. den Anblick (visus). Die Neugier ist innerhalb der augustinischen Lasterlehre systematisch zu bestimmen.41 Deren innere Logik ist relativ unabhängig von der neuplatonischen Abwertung der Sinnlichkeit sowie dem anthropologischen Dualismus von Leib und Seele, der sich besonders im Dualismus von Außenwelt (Natur) und Innenwelt (memoria) artikuliert. Der Mensch, der sich von Gott, seinem Schöpfer, abwendet, stürzt ins Grundlose einer zum Nichts laufenden Existenz. In seinem Hochmut (superbia) übernimmt er sich, verdeckt er seine wahre Lage, sucht er unter niemandes Gewalt zu sein und sich selbst zu genügen: In der Gier, seine Eigenmacht zu verkosten und zu spüren (cupiditate vero experiendae potestatis suae), wirft er sich in seinem Inneren auf sich selbst, als wäre er die Mitte der Welt (ad se ipsum tamquam ad medium). Das 38 Vgl. Thomas von Aquin, In I Metaph., lib. 1, lect. 1, nr. 5– 8. 39 Augustinus, conf., besonders lib. 10, c. 55. Zur Interpretation vgl. auch H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Kap. 6: »Aufnahme der Neugierde in den Lasterkatalog« (358–376) – vermeintlich erst bei Augustinus. 40 Augustinus, conf., lib. 10, c. 35, 55: Hinc perscrutanda naturae, quae scire nihil prodest et nihil aliud quam scire homines cupiunt. (574) 41 Vgl. dazu R. Schneider, Welt und Kirche bei Augustin. Ein Beitrag zur Frage des christlichen Existentialismus, 24–41. Die biblische Quelle für Augustins Dreilasterlehre in 1 Joh 2,16, wo Welt durch drei verwerfliche Strebungen – Fleisches-, Augenlust, Prahlsucht (nicht ,Hoffart des Lebens‘!) – konstituiert wird, stellt dort nur eine Illustration, keine strenge Systematik im Sinne einer Lasterlehre dar.
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Ich (ich bin, denke und will) kommt im Versuch, Mittelpunkt der Welt sein zu wollen (suae medietatis experimentum),42 sich selbst (und seine Welt) nur auf sich zu gründen, unter den kompensatorischen Zwang, sich fort und fort selbst dahin vermitteln zu müssen, um auf diese Weise seiner Nichtigkeit zu entgehen und glücklich zu leben. Aber in seiner Überheblichkeit stürzt der Mensch nun erst recht aus der selbst gesetzten und erfundenen Mitte ab (ab ipsa sui medietate); sein Leben nimmt um dieser Zentriertheit willen Suchtcharakter an: Er ist versucht, sich auf aktuelle Lustbefriedigung in Vergnügungen (»Fleischeslust«) zu verlegen und ist hierbei unersättlich und ständig unbefriedigt; daher sucht er in dem, was immer erneut aussteht, im Besorgen des Allerneuesten Befriedigung (»Augenlust«); interessiert sich dabei in Erfahrung und Erkenntnis für das, was ihn nichts angeht usw. Die dabei konstituierte Erkenntnis-Welt, in die sich der Mensch verstrickt hat, ist die durch menschliche Konkupiszenz organisierte Welt, nicht die Welt der Schöpfung Gottes, die zum Erkennen offensteht. Man könnte daher annehmen, dass nach Augustinus die Schöpfungswelt um ihrer selbst willen zum Kennenlernen einlädt. Doch Augustinus sieht das anders. Sehen wir von seiner relativ einfachen Konstruktion der Drei-Laster-Lehre (etwa im Vergleich zum Niveau der klassischen Acht-Laster-Lehre des Euagrios Pontikos und seiner Schüler)43 ab, so setzt Augustins Lasterlehre eine instrumentale Verhältnisbestimmung des Menschen zur Schöpfung voraus, die Widerspruch hervorrufen musste: »Wir genießen (frui) etwas [eine res], durch das wir Freude (voluptatem) empfangen, und wir gebrauchen (utimur) etwas, das wir in Beziehung setzen zu dem, wodurch die Freude zu empfangen ist. Alle menschliche Verkehrtheit (humana perversio) jedoch, die auch als Laster (vitium) zu bezeichnen ist, leitet sich von da her, des Genusses wegen gebrauchen zu wollen und des Gebrauches wegen zu genießen. Alle Ordnung hingegen, die als Tugend zu bezeichnen ist, verlangt, man solle des Genusses wegen genießen (fruendis frui) und des Gebrauches wegen gebrauchen (utendi uti). Genießen aber soll man das Gute (honestis), gebrauchen das Nützliche.«44 Nun ist im eigentlichen Sinne nur Gott gut (honestum) und allein er darf von uns genossen werden; alles andere ist für uns nur zum Gebrauch da und ist nicht als etwas 42 Augustinus, De Trinitate, lib. XII, cap. 11, CCL, Bd. 50, 370 f. 43 Vgl. dazu vom Verf. Maskierte Depression und ,Trägheit‘ in der klassischen Achtlasterlehre, in Befreiung und Gotteserkenntnis, 71–101. Hier werden Neugier (curiositas) und Gerede (verbositas) u.a. als Symptome der Akedia (der bekümmerten Sorglosigkeit, ,Trägheit‘), d.h. der NichtAnnahme seiner selbst verstanden und anthropologisch dem mutartigen Seelenteil mit den im Herzen wurzelnden Gemütsbewegungen zugeordnet. 44 Augustinus, Dreiundachtzig verschiedene Fragen, q. 30: »Ist alles zum Nutzen des Menschen erschaffen worden?« Utrum omnia in utilitatem hominis creata sint.
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in sich Genusswürdiges geschaffen worden, das um seiner selbst willen (propter se) geliebt werden dürfte. Daher darf man weder den Mitmenschen direkt um seiner selbst willen noch sich selbst um seiner selbst willen lieben, und daher darf sich auch niemand direkt an Anderen oder sich an sich selbst freuen.45 Diese Auffassung wird etwas entschärft: Nur insofern der Mensch zu Gott in Beziehung steht, in Hinwendung zu Gott und in seiner Anwesenheit lebt, also um Gottes willen, darf er sich selbst lieben und sollen Mitmenschen geliebt werden und dürfen wir uns dankbar freuen. Aus heutiger Sicht kann man theologisch darin dennoch ein schwer gestörtes Verhältnis zur Schöpfung erkennen, das sich nichts von dem, was in eigener Würde sich als es selbst (als bonum honestum) gegeben ist, anzuerkennen traut und sich vom Schöpfer ein Bild macht, in dem er unfähig erscheint, die Dinge liebend zu sich selbst, zu ureigenstem Sein freizugeben. Dass alles Geschaffene unmittelbar nur zum Gebrauch des Menschen erschaffen ist,46 kann übrigens auch aus ökologischer Sicht als Freibrief für die Ausbeutung der Natur Ärgernis erregen. Das Gesagte bedeutet für die Legitimität der Welterkenntnis, dass sie nur zuzulassen ist, insofern sie Gott anerkennt und die Weltdinge in ihrer Dienlichkeit zur Gotteserkenntnis erschließt. Hier verhält sie sich zur übrigen Forschung ausbeuterisch und in der Zulassung der Erkenntnisbereiche je nach Brauchbarkeit flexibel, wenn es beispielsweise um die Überzeugungsarbeit an gebildeten Nichtchristen geht. Das Kriterium für die Zulassung von Erkenntnis, die Nützlichkeit für die Gotteserkenntnis, ist zugleich das Ausschlusskriterium für die curiositas als verkehrte Wissensweise. So engt sich der Horizont auf die religiöse Beziehung von ,Gott und die Seele‘ ein. Kann der instrumentale Mittelscharakter, dem der Mitmensch unterworfen wird, humanistischen Protest und atheistische Selbstbehauptung des Menschen provozieren, so enthält Augustins These dennoch eine durchaus haltbare religionskritische Aussage, die sich von einer Religion der Bedürfniserfüllung, welche ihre Nützlichkeit zum Kriterium macht, distanziert: Der Mensch darf in seiner Gottesbeziehung Gott nicht zu etwas Nützlichem instrumentalisieren, d.h. zum bloßen Mittel herabsetzen; und insofern darf er sich nicht (in hochmütiger Nachahmung des Schöpfers) genießen. Die bedeutendste Auseinandersetzung mit Augustins einflussreicher Kritik an den Intentionen theoretischen Wissens und Forschens findet sich im groß angelegten Werk von Hans Blumenberg über »Die Legitimität der Neuzeit«. Sein Anliegen im Kapitel über den »Prozeß der theoretischen Neugierde« ist die 45 Augustinus, De doctrina christiana, lib. 1, 20 f., CCL, Bd. 32, 16 f. 46 Augustinus, Dreiundachtzig verschiedene Fragen, q. 30: Omnia ergo quae facta sunt, in usum hominis facta sunt […].
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Darstellung der Herkunfts- und Befreiungsgeschichte des die Neuzeit charakterisierenden entgrenzten Wissenwollens vom Diskriminierungsdruck jener theologischen Relevanzkontrolleure, deren Funktion es war, weltflüchtig-gnostizierend im Namen der allmächtigen »Transzendenz« Wissensgebiete und -inhalte zu tabuisieren. Das so sorgfältig und einfühlsam durchgeführte Forschungswerk Blumenbergs leidet an einer terminologischen Konfusion, sofern Wissensweisen, die als Ausfluss des Lasters der Neugier nach Blumenberg zu Unrecht diskriminiert wurden, unterschiedslos mit nicht-diskriminierten oder zu Recht diskriminierbaren Weisen des Wissenwollens unter dem vormals eher pejorativ besetzten Titel »theoretische Neugier« zusammengebracht und nun unterschiedslos positiv bewertet werden47 – eine wohl unbeabsichtigte Immunisierungsstrategie. Durch diese Umwertung wird die Frage nach dem Sinn, nach Hintergründen und fragwürdigen Einstellungen zu wissenschaftlicher Theorie in bestimmter Hinsicht der möglichen Kritik entzogen. Es wird somit wesensgemäßes Wissenwollen – jene Haltung allseitig interessierter Offenheit für solches, das zu denken gibt und der Frage würdig ist – einfach mit »theoretischer Neugier« identifiziert. Doch damit fängt die Konfusion an: ,Gier‘, beim Wort genommen, artikuliert eine Sucht. Sie wird als eine Sorge erfahren, die von einem Besitz ergreift. Was uns solcherart ,hat‘ und belastet, kränkt bzw. verletzt durch seinen Zwangscharakter und stellt eine eingeengte Weise des Existierens – das heißt ein Laster – dar. Neugier als Sucht wäre demnach eine unfreie, einengende Verhaltensweise. Insoweit sie drangartiger Natur ist, blendet sie das Gewesensein aus und wirft sich auf Zukünftiges. Die Sucht findet die sie befriedigende Entschädigung in dem, worauf sie aus ist, hier: im Reiz des immer Neuen. Demnach wäre ein Süchtigsein nach Neuem auf dem Niveau der Theorie wie die mit ihm verwandte Arbeitssucht des Workaholic – unabhängig von ihrer theoretischen Ausbeute und (wirtschaftlichen) Effizienz – die symptomatische Kehrseite einer gewissen Unmöglichkeit der freien und offenen Annahme seiner selbst. Eine solche Annahme seiner selbst würde die volle Annahme der Andersheit des Mitmenschen und schließlich die volle Aufgeschlossenheit für das Unergründliche des Daseins implizieren, aus dem wir uns im Selbst- und Miteinanderdasein freigegeben erfahren. Wir finden bei Blumenberg leider keinerlei positive Würdigung von Augustins kritischem Anliegen, sich vor einer Verführung durch Philosophie zu hüten. Philosophie bezeichnet an sich »eine bedeutende und von ganzem Herzen erstre47 Das Missverständnis zieht sich heute bis in die Ethologie hinein, wo das Orientierungs-, Erkundungs- und Sicherungsverhalten der Tiere mit einem menschlicher Alltäglichkeit analogen Neugierverhalten verwechselt wird.
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benswerte Sache« (rem magnam totoque animo appetendam). Verboten ist nur, neubzw. wissbegierig zu sein (curiosi esse prohibemur), was im Blick auf das philosophische Wissenwollen »eine große Aufgabe der Mäßigung (temperantia) ist«. Es gibt jedoch Menschen, die ohne entsprechende sittliche Haltung und in Unkenntnis über Gott und seine Erhabenheit »etwas Großes zu leisten meinen«, wenn sie die Welt »höchst wissbegierig und aufmerksam (curiosissime48 intentissimeque) erforschen«, wobei sie diese für nichts anderes als für eine körperliche Masse halten oder sich Unkörperliches in körperlichen Bildern vorstellen. »Dadurch wird sogar ein so großer Hochmut (superbia) erzeugt, dass es ihnen erscheint, als wohnten sie schon in dem Himmel, über den sie oft disputieren. Die Seele möge sich also in der Begierde nach einer solchen eitlen Erkenntnis (vanae cogitationis cupiditate) zurückhalten, wenn sie beschlossen hat, sich für Gott keusch zu bewahren.«49 Wahre Philosophie, die Liebe und Eifer für die Weisheit ist, geht also aus der Haltung der Mäßigung hervor, die vor Neugierde bewahrt. Zu unterscheiden wäre zwischen dem zu Unrecht madig gemachten Forschen bzw. dem Forschungsbereich (z.B. der gestirnte Himmel) und den gegeißelten Intentionen des Forschers als eines Menschen, dessen Forschungswerk die Neugierde mit vorantreiben, aber auch verzerren und verkehren kann. Augustins Anliegen ist der Ab- und Ausstieg aus der ganz alltäglichen Verstiegenheit im Größenwahn, die ja den Wissensbetrieb mitbestimmt. Wohl zu Recht ist Demut (Mut zum sinnvollen Dienen) einem Forscher nahezulegen, der überheblich und arrogant ist, d.h. der sich überlegen von oben herab gebärdet, andere missachtet, rechthaberisch und eifersüchtig öffentliche Geltung (und Gelder) beansprucht und zugleich an mangelnder Selbstwahrnehmung leidet, der für den Gabecharakter des eigenen Selbst und ebenso für die eigene Abgründigkeit und das Mysterium seines Daseins in der Welt verschlossen ist. Dem Forscher (auch als Spezialwissenschaftler) sollte doch als Menschen die tiefste Bedeutung seiner Einsichten nicht völlig verborgen bleiben. Im freien Anschluss an die augustinische Lasterlehre hat Heidegger an die Metaphysik die kritische Frage gestellt: Geht es im Kennenlernenwollen um ursprüngliche und echte Wahrheit, der wir grundlegend ein Unterrichtet- und Orientiertsein verdanken? Oder geht es darum, nur etwas Neues und Anderes als das Gewohnte kennenzulernen? Heidegger hat diese »Tendenz zum Nur-Vernehmen«, die man verkürzt als konsumistisch bezeichnen könnte, mit Neugier (curiositas) identifi48 H. Blumenberg, a.a.O., 367, übersetzt curiosissime »mit äußerster Neugier«; es könne aber auch die Bedeutung »mit größter Sorgfalt« mitschwingen. 49 Augustinus, Opera – Werke, Bd. 25: De moribus ecclesiae catholicae et de moribus manichaeorum – Die Lebensführung der katholischen Kirche und die Lebensführung der Manichäer, 1, 38.
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ziert.50 Sie ist eine Weise des Verfallenseins (und immer schon Abgefallenseins) an die ,Welt‘; darunter versteht er eine existenzial-ontologische Weise des Nicht-esselbst-Seins, des (süchtigen) Aufgehens in die Welt des Miteinanderseins als positive Möglichkeit des Seienden, das jemand in der Uneigentlichkeit des Man selbst ist. Darin liegt zwar die Aufgabe der Befreiung, des Freiwerdens für das jeweils eigenste Selbstseinkönnen in der raumzeitlichen Spannweite der Welt; doch kann sich das Dasein in seinem Wahrnehmungs- und Erkenntnisstreben in das Besorgen der Möglichkeiten des Sehenkönnens verlieren und ständig entwurzeln. Das ist dann Neugier. Sie wird weiter charakterisiert als »spezifisches Unverweilen beim Nächsten«.51 Sie sucht die Zerstreuung statt der Sammlung (des verweilenden Anwesens). Die Neugier sucht »das Neue nur, um von ihm erneut zu Neuem abzuspringen. Nicht um zu erfassen und um wissend in der Wahrheit zu sein, geht es der Sorge dieses Sehens, sondern um die Möglichkeiten des [flüchtigen] Sichüberlassens an die Welt.«52 Unter dem Anschein äußerster Interessiertheit kann dann die Flucht vor dem eigensten Selbstsein verdeckt und erfolgreich kompensiert werden. Indem man glaubt, sich überlegen in Schwebe halten zu müssen (heute oft mit Wahrheitsrelativismus verwechselt), entscheidet man sich ernsthaft für keine Möglichkeit, interessiert sich für »solches, was erlaubt, im nächsten Augenblick schon gleichgültig zu sein und durch anderes abgelöst zu werden, was einen dann ebenso wenig angeht wie das Vorige«.53 Was man heute unter Interesse versteht, ist meistens Neugier. Dagegen hieße »Inter-esse« eigentlich: »unter und zwischen den Sachen sein, mitten in einer Sache stehen und bei ihr bleiben. Allein für das heutige Interesse gilt nur das Interessante. […] Man meint heute oft, etwas dadurch besonders zu würdigen, dass man es interessant findet. In Wahrheit hat man durch dieses Urteil das Interessante bereits in das Gleichgültige und alsbald Langweilige abgeschoben.«54 Neugier ist so ein uneigentliches Interesse. Die Aktualität der Neugieranalyse liegt auf der Hand, wo ein institutionalisierter Kulturbetrieb (dem die philosophische Forschung angehört) sich als anregend und interessant 50 Vgl. M. Heidegger, GA, Bd. 2: Sein und Zeit, § 36: »Die Neugier«, 226 –230 und 458 f. 51 A.a.O., 229. Gemeint ist das der Sache nach Nahegehende, nicht explizit der Mitmensch. 52 Ebd. 53 M. Heidegger, GA, Bd. 8: Was heißt Denken?, 6. 54 A.a.O., 6 f. Monographisches zur Herkunft der Unterscheidung von Interesse in der Bedeutung von ,Zwischensein‘ (inter-esse) und ,Interessiertheit‘ als Gegenwärtig-, Angelegt- oder Hingeneigtsein (vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zur Diskussion in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts) vgl. H. M. Schmidinger, Das Problem des Interesses und die Philosophie Sören Kierkegaards.
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zu präsentieren hat, stets nach der Zufuhr des Neuesten schreit und im ständigen Besorgen von Möglichkeiten der »Zerstreuung« besteht. Die Neugier verkehrt das zum Wesen des Menschen gehörige unüberholbare Offensein für Kommendes. Sie reißt es vom Überkommenen los und nimmt diesem damit die Zukunft weg. Doch der Mensch gehört dem Kommenden so an, dass er in sich zukünftig ist, stets zur Gänze vom Sein der Zukunft in seinen Möglichkeiten (mit)bestimmt wird, die aus dem Gewesenen heraus im Augenblick offen sind. Man sagt zu Recht: »Jeder Tag – ein neuer Tag.« Die Offenheit für alles Neue, für das verborgene ,Noch-nicht‘ realer Möglichkeiten gehört zu den Notwendigkeiten unseres Wesens. Die Verheißung, die über allem und in allem liegt, gibt alltäglichen Erwartungen und letzten Hoffnungen Grund. Dazu gehört, dass der Mensch immer erneut auf sein Sein im ,Da‘, und d.h. auch, sich auf sein Selbstseinkönnen versteht, somit nach einem Modus des Erkennens strebt, der es verdient, bei ihm zu verweilen. Im Rahmen seiner phänomenologischen Neugier-Analyse hat Heidegger im Anschluss an Augustinus darauf hingewiesen, dass wir ,Sehen‘ auch für die anderen Sinne gebrauchen:55 Wir sehen, was jemand sagt, wie etwas klingt, wie etwas duftet usw. Dagegen sagt niemand, er höre, wie etwas riecht, er höre, wie etwas leuchtet, aussieht oder sich anfühlt usw. Wie kommt es zur Auslegung des als solchem nicht Sichtbaren durch das Sehen? Wieso also dieser Vorrang des schauenden, sehenden und beobachtenden Zugangs zur Wirklichkeit, der bereits alltäglich unser Erkenntnisleben durchdringt? Wichtig ist hier, dass wir klar ,sehen‘: Die Seinstendenz der Alltäglichkeit zum Sehen, die Neugier genannt wurde, ist, wie Heidegger schon erkannte, »charakteristischerweise nicht auf das Sehen eingeschränkt«, sondern drückt eine »Tendenz zu einem eigentümlichen vernehmenden Begegnenlassen der Welt« aus.56 Sie hat ein Gegenstück im Gerede (verbositas); dieses »regiert die Wege der Neugier, es sagt, was man gelesen und gesehen haben muß. […] Die Neugier, der nichts verschlossen, das Gerede, dem nichts unverstanden bleibt, geben sich […] die Bürgschaft eines vermeintlich echten ,lebendigen Lebens‘.«57 Es kommt zu einer öffentlichen Ausgelegtheit des Miteinanderseins, wo alles zweideutig wird, da »bald nicht mehr entscheidbar [ist], was in echtem Verstehen erschlossen ist und was nicht«.58 Der dem Sehen zugeschriebene Vorrang, sofern er auf Neugierde beruhen soll, gehört also nicht zum Wesen des Gesichtssinns. Er kann sich in gleicher oder vor55 M. Heidegger, GA, Bd. 2: Sein und Zeit, 231 f. (Augustinus, conf., lib. 10, c. 35, 54). 56 M. Heidegger, GA, Bd. 2: Sein und Zeit, 226. 57 A.a.O., 229. 58 A.a.O., § 37: »Die Zweideutigkeit«, 230.
Vorschau auf die Methode
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rangiger Weise auf den Gehörsinn verlagern. Im Gerede kann jeder über jedes alles sagen und gibt uns so das Allerneueste zu verstehen bzw. zu sehen. Wenn die Arbeit ruht, ergreift man alle Möglichkeiten, die beängstigende Stille zu vertreiben. Alte Wörter dafür sind ,Ohrenkitzel‘ oder ,Ohrenschmaus‘, da essen wir gewissermaßen mit den Ohren. Dasselbe sagen wir ja auch von den Augen. Das »gefräßige Auge«59 verschlingt alles, es ist unersättlich. Im Hören können sich also wie im Sehen die Obsession gierigen Habenwollens, die Konkupiszenz oder krankhafte Begierde als Hunger und Durst nach dem Sein melden, um die innere Leere auszufüllen. Die Welt, von der wir uns mit allen Sinnen ansprechen lassen und die uns im vernehmenden Begegnen etwas sagt, kann dann die philosophierende Existenz irritieren und in Zweideutigkeit des Verstehens geraten. Die rechte Methode gebietet daher die Läuterung der Grundeinstellung zur absichtslosen Freigabe der Phänomene zu sich selbst. Die eingangs gestellte Frage, wieso man einen Vorrang des Sehens oder Hörens annehmen konnte, hat damit eine erste, aber keine abschließende Antwort gefunden. Sie konnte zur Klärung der Wissensintentionen beitragen und bleibt bedenkenswert. Zur philosophischen Methode gehört das Hinterfragen der sie leitenden Interessen und Wissensintentionen. Durch es werden bestimmte Vorlieben in Frage gestellt, beispielsweise das eurozentristische Vorurteil eines vermeintlich philosophisch begründbaren Vorrangs des Sehens im abendländischen Denken. Denn anders als in der Welt des griechischen (hellenistischen) Denkens finden wir in der althebräischen einen Vorrang des Hörens,60 nicht nur des Hörens auf die menschliche Stimme: also keine Zentrierung auf das Offenbarmachen durch die Verlautbarung im Wort, keinen Phono- und keinen Logozentrismus, sondern vielmehr ein Hören und Horchen auf das, was da ist (wobei allenfalls auch die in der Stimme sich bekundende Stimmung am unmittelbarsten unser Sein in der Welt erschließt). So hat das begegnende Ding zwar Gestalt und Aussehen, aber zunächst sagt es etwas, es ist Wort (dâbâr), die Sprache des Ereignisses, die in einem gestimmten Vernehmen erhorcht wird. Wir hören, was wir sehen, nicht hören wir, um bloß zu sehen, was wir hören. Nun wurde im Vorangegangenen nicht anstelle eines Vorrangs des Sehens für einen Vorrang des Hörens plädiert, sondern für eine methodische Offenheit, die keinen der menschlichen Sinne ausschließt 59 Vgl. dazu G. Mattenklott, Der übersinnliche Leib. Beiträge zur Metaphysik des Körpers, dort 78 –102: »Das gefräßige Auge oder: Ikonophagie«. 60 Vgl. Th. Boman, Das hebräische Denken im Vergleich mit dem Griechischen, der zusammenfassend feststellt, »daß der für das Erleben der Wirklichkeit wichtigste Sinn für die Hebräer das Gehör (und die verschiedenen Arten von Empfindungen), für die Griechen das Gesicht werden mußte«. (181)
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und die auf die uns zumeist verdeckten, ausgeschlossenen Intentionen unseres Daseinsverständnisses achtet. Abschließend noch ein Wort zu einer Grundintention auf dem Weg des Denkens:61 Im Denken geht es um das zu Denkende. Alles Denken verdankt sich dem zu Denkenden. Sichverdanken heißt nicht nur, dass es auf dem zu Denkenden beruht, es in seine Obhut übernimmt und daher auf es zurückführbar ist – ,re-duzierbar‘ im Vollsinn des Wortes. Vielmehr ist darauf zu achten, dass das zu Denkende zu denken gibt, indem es sich den Denkenden mitteilt und zu eigen gibt. Ohne dieses Geben gibt es auch die Begabung des Denkens nicht. Das Denken selbst ist die Gabe, die das zu Denkende verschenkt. Daher bleibt dem Denken eines Denkenden, der nicht dankbar ist, Wesenhaftes verschlossen. Zwar bleibt im Undank das Denken noch ein Denken, aber der wesenhafte Sinn dieser Seinsmodalität, des Gabecharakters aller Dinge, geht ihm ab und beirrt den Denkweg, den die Methode zu bahnen hat. Insgesamt verhält es sich hier ähnlich wie bei einem Musikstück: Fehlende oder unbeachtete Versetzungszeichen in einer Partitur können zu einer Kakophonie führen. Lebendiges Philosophieren kann sich zwar nicht ohne ,Vorzeichen‘, methodische Vorgaben, aber auch nicht mit fix vorgegebenen begnügen. Zur philosophischen Methode gehört auch die Besinnung auf den Ursprung des Philosophierens und auf die ihm entsprechende Haltung. Wissensintentionen und -motivationen bedürfen daher stets selbstkritischer Hinterfragung.
61 Vgl. dazu M. Heidegger, GA, Bd. 8: Was heißt Denken?, 44 – 47.
2. Zweiter Exkurs Zur Einübung in die Philosophie: philosophische Propädeutik
2.1 Sammlung als Aufgabe einer philosophischen Propädeutik von heute
Propädeutik ist die Vorbildung, die wir zur Ausbildung sowie Ausübung einer Fertigkeit schon mitbringen müssen. Die Frage, ob und welche schulischen Vorbereitungen oder Vorübungen für ein lebendiges Philosophieren notwendig sind, war und ist eine vielerörterte Frage.62 Hier bezieht sie sich nicht auf das Philosophikum, die propädeutische Funktion der Philosophiekurse für (katholische) Theolog/inn/en, andere Studienrichtungen, Lehramtskandidat/inn/en usw., oder auf die allgemeine Vorbildung für ein akademisches Philosophiestudium. Es geht nur um Propädeutik als Einübung in die Philosophie. Eine solche kann als erste Hinführung zur Philosophie ihren Herzschlag erhorchen lassen, aber auch vom Wesentlichen fernhalten, Um- und Abwegen die Bahn öffnen. Nimmt Philosophie mit Propädeutik ihren Anfang, dann hängt alle weitere Methodik und Entfaltung ihrer Systematik von deren Eigenart ab, denn diese bahnt und bereitet die besondere Weise ihrer Grundlegung vor. Der Anspruch einer Propädeutik kann daher kaum hoch genug eingeschätzt werden. Als Zeugen für eine anspruchsvolle Auffassung philosophischer Propädeutik zitiere ich Kant mit seiner Unterscheidung von Philosophie als Propädeutik einer Wissenschaft und als Wissenschaft: Philosophie als »Erkenntnis aus reiner Vernunft« ist »entweder Propädeutik (Vorübung), welche das Vermögen der Vernunft in Ansehung aller reinen Erkenntnis a priori untersucht, und heißt Kritik, oder zweitens das System der reinen Vernunft (Wissenschaft), die ganze (wahre sowohl als scheinbare) philosophische Erkenntnis aus reiner Vernunft im systematischen Zusammenhange, und
Als Kant fragte, wie Metaphysik als Wissenschaft möglich sei,64 konnte er noch einen Konsens bezüglich des philosophischen Verständnisses von Metaphysik fraglos voraussetzen, zu der man selbstverständlich die philosophische Theologie (als theo62 Vgl. dazu den Artikel »Propädeutik, philosophische« von C. Günzler in: HWP, Bd. 7, Sp. 1468 –1471. 63 Kant, KrV, B 869. 64 Vgl. Kant, KrV, Vorrede, B XV.
Zweiter Exkurs
heißt Metaphysik«.63 Ein Werk vom Rang der ,Kritik der reinen Vernunft‘ sieht Kant also als »Vorübung« in die Philosophie an. Wenn Philosophie »Erkenntnis aus reiner Vernunft« ist, ist diese Lösung systemimmanent verständlich. Was eine Propädeutik ist, bestimmt sich von dem her, wofür sie es ist.
Zweiter Exkurs
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Sachprobleme systematischer Ortsbestimmung philosophischer Theologie
logia rationalis) zählte. Die Eingangsfrage stellt sich aber heute anders: Wie kommen wir überhaupt in ein Philosophieverständnis, das allenfalls (auch) als Wissenschaft möglich ist? Welche wären angemessene Vorübungen (propaidea) zu solcher philosophischen Erkenntnis? Es gibt ja zahlreiche Vorschläge zur Propädeutik der Philosophie. Gehen sie auf die gegenwärtige Situation und die Weise, wie sich der Mensch in ihr vorfindet, überhaupt ernsthaft ein? Traditionsgemäß kommt als Propädeutik der Philosophie vor allem philosophische Logik infrage. Sie wird heute meist durch formalisierte Logik (Logistik) ersetzt, deren Einsatz in der Philosophie schon ein nicht-formalisiertes Philosophieund Logikverständnis voraussetzt. Dasselbe ist von Wissenschaftstheorie und Sprachphilosophie zu sagen. Eine Einführung in die Geschichte der Philosophie und ihre Grundprobleme überschreitet in gewisser Hinsicht Niveau und Umgang einer Propädeutik. Sie häuft Wissensstoff an und müsste heute eine interkulturelle Weltgeschichte der Philosophie sein, was einem ersten, lebendigen und lebensnahen Philosophieren nicht förderlich ist. Ähnliches gilt für den Vorschlag, sich auf Ethik (meist als Ersatz für das Unterrichtsfach ,Religion‘) oder auf philosophische Anthropologie ontologielos zu beschränken, obwohl hier in gewisser Weise Lebensnähe und Lebensernst erreichbar wären. Die aufgezählten Vorschläge divergieren bei der Auswahl der Unterrichtsinhalte. Auch besteht die Gefahr, die Inhalte für die eigene Weltanschauung propagandistisch zu missbrauchen oder in musealer Beliebigkeit verkommen zu lassen. Zur Überbrückung all dieser Schwierigkeiten werden meist mehr oder weniger gelungene Kompromisse geschlossen. Selbstverständlich gibt es die Bemühungen, philosophisches Grundwissen geschickt vereinfacht, ja jugend- und sogar kindgemäß darzustellen. Sie gehen davon aus, dass philosophisches Verständnis schon früh wach ist, brachliegt und geweckt werden sollte. Doch ist darauf zu achten, dass nicht im Bildungsbetrieb von heute die Menschen durch zunehmende Intellektualisierung (,Kopflastigkeit‘) und versteckte weltanschauliche Indoktrinierung Schaden erleiden. Philosophische Propädeutik darf unter keinen Umständen jene Aufspaltung (,Ausschaltung‘) des Menschseins fördern, die bei Zunahme des Allgemeinwissens und der berechnenden Verstandesausbildung zu einer Abnahme leibhaftiger Eigenerfahrung im Weltbezug führt. Diesem Problem schizoider Daseinsführung kann eine (im akademischen Bereich letztlich nicht umgehbare) materiale Bildung etwa durch einen Einführungskurs in die Philosophiegeschichte oder eine formale Schulung in Logistik keinesfalls abhelfen. Die angesprochene Spaltung wird heute besonders augenscheinlich durch den leibhaftigen Austritt (wie durch ein Futteral) aus der unmittelbaren Weltanwesenheit in virtuelle Scheinwelten gefördert. Das Sein im Computernetz setzt Umweltbezug
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65 Im Vollsinn (performativ) kann ich selbst ,Ich‘ nur zu jemandem sagen, der mich (verbal oder nonverbal) anspricht. Als personale Existenzialbehauptung auf die Frage, wer da sei, ist diese Selbst- und Seinsaussage eine Antwort, und zwar ein Kürzel für ,Ich bin es selbst‘ – nämlich dir oder euch gegenüber leibhaftig anwesend in der Welt da. Die Substantivierung des ,Ich‘ erscheint so sprachwidrig. Ich bin also zunächst nicht ein ,das Ich‘. 66 Über Ideologiebildungen unter vergegenständlichender Grundeinstellung bei einem schizoid gestörten Selbstverhältnis auf Grund eines defizitären Mitseins vgl. vom Verf. (22003), Miteinandersein als Zugang zum Leib-Seele-Problem: Ein Beitrag zur Kritik anthropologischer Ideologien, in: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Bd. 1, 137 –156. 67 Zur Frage nach Sinn und Zeitgemäßheit der Spaltung vgl. A. Längle/A. Holzhey-Kunz, Existenzanalyse und Daseinsanalyse, 249 –298, hier 296.
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und Erfahrungsreichtum leibhaftiger Selbstpräsenz außer Kraft. Die in ihren Formen phänomenologisch zu wenig beachtete Spaltung ist näherhin betrachtet kein Bruch zwischen Leib und Seele (Ich), Körper und Geist, Außen- und Innenwelt, Sinneswahrnehmung und Intelligenz, Objekt und Subjekt o. Ä., da diese Art leibhaftig vollzogener Entrückung oder Selbstabschnürung den gekonnten Gebrauch bestimmter Sinne voraussetzt, beispielsweise im Blickkontakt mit dem Bildschirm und in manuellen Verhaltensweisen wie Tastaturbeherrschung, also völlig unleiblich gar nicht möglich ist. Überhaupt ist ein rein geistiger Selbstbezug bzw. eine rein geistige Abwendung von der jeweiligen Leibhaftigkeit eines Daseins unvollziehbar, weil Ich-Sagende primär jeweils sie selbst sind, indem sie leibhaftig als mitanwesende Mitmenschen in einer Vielheit von Bezügen aufgehen und leben.65 Immer nur kann sich der ganze Mensch (in diesem oder jenem) zu sich verhalten oder von sich abwenden.66 Die Gespaltenheit ist gewöhnlich eine komplexe, weil das überbeanspruchte Dasein als Miteinandersein in divergierenden Weisen der Zersplitterung existiert, an ein solches unentwirrbares Vielerlei ausgeliefert oder hingegeben ist. Man sucht selbstverloren die Zerstreuung oder Verzettelung. In ihr scheint sich ein und derselbe Mensch zugleich und in derselben Hinsicht vielfach widersprüchlich zu verhalten. So hält er sich flüchtig anderswo auf, als er gegenwärtig körperlich vorfindlich ist. Ja er verfällt diesem anderswo sich Zusprechenden mehr oder weniger unfrei (gierig, widerstandslos oder dagegen ankämpfend oder genötigt) und sucht in ihm aufzugehen und von sich wegzukommen. Der räumlichen Zersplitterung entspricht die zeitliche. Alice Holzhey-Kunz hat sie herausgearbeitet: Die Spaltung »lässt eine reine, von Vergangenheit und Zukunft abgeschnittene Gegenwart entstehen, […] bewirkt also ein Leben im ,Hier und Jetzt‘ und entpuppt sich unversehens als Ermöglichung eines heute viel gepriesenen Lebensideals, das Befreiung von den Belastungen und Einschränkungen verspricht, die sowohl die Vergangenheit wie die Zukunft der jeweiligen Gegenwart auferlegen«.67 In der kapitalistischen Umwelt ist es zeitgemäß, dass einen nicht mehr so sehr Verdrängung, sondern Spaltung entlastet, weil
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nicht mehr kohärente Ich-Identität, sondern Flexibilität, konfliktfreie Anpassung an beliebige und sich verändernde Bedingungen, erforderlich ist. Grundstörungen, unter denen Persönlichkeiten leiden, sind »innere Leere, die sich durch die bloße Aneinanderreihung von Aktivitäten nicht füllen, sondern immer nur für den Moment betäuben lässt, was oft zu einem suchtartigen Erlebnishunger führt«.68 Der Mensch entgeht dadurch zunehmend seiner Möglichkeit des Verweilens, des leibhaftigen Selberanwesens im friedvollen Einssein mit seiner Mit- und bei seiner Umwelt, die nun verdeckt, verstellt oder abgedrängt erscheint. Entgegen diesem Sog zur Zersplitterung, der uns alltäglich von uns selbst abzuziehen droht, wird philosophische Propädeutik von den wenigstens blitzartig auftauchenden und bekannten Möglichkeiten des (selbst noch alle Zerspaltenheiten tragenden) Selbstvollzugs unseres Ganzseins auszugehen haben, also vom Menschen, wie er (unter Wahrung der Verschiedenheit seiner Lebensbezüge) möglichst ungeteilt ,leibt und lebt‘. Eine Propädeutik in die Philosophie müsste deshalb heute so geartet sein, dasss sie nicht als Wissensvermittlung von der Selbsterfahrung ablenkt und sie zudeckt, keine gefällige Zerstreuung im Bereich des Allgemeinwissens bietet, sondern überhaupt der Zersplitterung des Daseins entgegenwirkt. Es ist die schlichte Übung der Sammlung, welche aus dem Sichverstehen auf das Dasein schöpft und so die rechte Intention und Bereitschaft zum Philosophieren zu wecken vermag. Wie schon gesagt, meint Sammlung wörtlich zusammenbringen, und zwar Zersplittertes, Verstreutes, Auseinanderliegendes vereinigen, ein ,Lesen‘ wie in ,Weinlese‘. Sammlung nennt ein Sich-Zusammenbringen als menschlichen Grundvollzug, ein Geschehen im Sinne des Anwesendwerdens. In dieses führt uns weniger eine Anleitung zum Handeln als eine Vollzugsanweisung zum Sein, aus der sich erst ein Handeln ergeben kann: Wir horchen auf, werden ganz still und ruhig, offen und wach, ganz gegenwärtig und eins mit uns selbst, mit unserer Mit- und Umwelt. In all dem geht es nur darum, unser Anwesen zu gewahren, selbst ganz anwesend zu werden und es währen zu lassen in seinem verbal verstandenen ,Wesen‘ (als Geschehen). Werden wir ganz ruhig, suchen wir ganz gegenwärtig und anwesend zu werden. Halten wir eine Weile inne, dann gewahren wir, wie der Atem geht und kommt, wie alles Bewegtsein zur Ruhe kommt, in Berührung mit dem Boden, tragendem Grund, kommt … Wir ruhen geerdet im Augenblick – vom unbewegten Ursprung getragen und bewegt. »Die […] Kunst der Sammlung besteht […] gerade darin, in diese einfachen, aber wesentlichen Vollzüge zurückzufinden und in ihnen zu verweilen.« 69 68 A.a.O., 297. 69 K. Baier, Phänomenologie der Sammlung, 38.
Zur Einübung in die Philosophie: philosophische Propädeutik
2.2 Zur ,Not-wendigkeit‘ der Sammlung
Das Sichsammeln ist kein beliebiger Akt der Selbstsetzung, der vernachlässigt werden könnte, sondern als antwortendes Sichverhalten ein wesenhafter Grundvollzug des Daseins, der Raum und Zeit frei gibt, um sein zu lassen, was ist und worum es jederzeit geht. Die unumgängliche Notwendigkeit des Sichsammelns kann auch hergeleitet werden aus dem Anspruch, der Seinsmannigfaltigkeit in ihrer Zusammengehörigkeit angemessener zu entsprechen. Sie lässt sich für uns, wie so oft, aus ihrem Fehlen leichter verständlich machen. Das Anwesendsein in der Sammlung ist ja nicht selbstverständlich, denn im alltäglichen Durchschnitt sind wir gar nicht eigentlich da, sondern abwesend, woanders, zerstreut und zersplittert, auf der Flucht vor dem eigentlichen Daseinkönnen und von Betriebsamkeit, Hunger nach Erlebnissen und Genuss bestimmt. Treten Pausen ein, macht sich ein inneres Lasten und Brüten bemerkbar, dem Unterhaltung, die ,Augenlust‘ des Fernsehens etwa, abhelfen soll. Die innere Leere, Öde, Langeweile (und damit die ,Zeit‘, um wirklich selbst da zu sein), will vertrieben werden. Ich bin eher anderswo als da, etwa dort, wo ich besorgt bin, nicht zu kurz zu kommen, oder wo ich fürchte, dass ich keinen Erfolg haben werde, oder wo mir gerade etwas einfällt, was mir nachhängt, oder wo ich das, was gerade an der Zeit wäre, überfliege. Eine innere Unrast treibt einen vom Ort weg, auf den es ankommt, wo standgehalten werden muss. Da besteht eine Not, die zu wenden ist und die noch größer wird, wenn man verblendet unter dem Eindruck der Notlosigkeit steht. Sichsammeln ist eine existenzielle ,Not-wendigkeit‘ und heißt uns, immer wieder zu versuchen, sich aus der Zerstreuung und Zersplitterung in die Anwesenheit zurückzuholen, und zwar in eine solche, welche das unbefangene Offensein für die Mannigfaltigkeit allen Daseins nicht ausschließt. Gesammelt zu sein ist uns lebenslang aufgegeben, wobei wir erfahren, dass uns Abneigung und Widerstand dagegen begleiten. Wir müssen uns daher immer wieder eigens in die Sammlung zurückrufen lassen, weil wir dieser Grundweise der Selbstbegegnung mit dem Sein (Anwesen) eher auszuweichen suchen als sie zuzulassen. Es erscheint mir wichtig, die Widerstände gegen die Übernahme des eigenen Daseins in der Sammlung kennen zu lernen. Eine vollständige Phänomenologie der Sammlung müsste einerseits zeigen, woraus sich die/der Sichsammelnde zurückzuholen hat, und andererseits, woraus (etwa zur Befreiung aus Überforderungen) nicht. Sie müsste auch zeigen, welche die Zerstreutheiten und Zersplitterungen sind, in die wir verwickelt oder verstrickt sind, so dass wir dabei den Vollzug unserer Grundfreiheit in der Offenständigkeit des Eksistierens einschränken bzw. versäumen, und schließlich, welches die verschiedenen Formen des Widerstandes gegen die Sammlung sind.
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Zweiter Exkurs
Um den Phänomenkreis der Ungesammeltheit kennenzulernen, sind die Lasterlehren des frühchristlichen Mönchtums hilfreich. Ich denke da an Euagrios Pontikos (346–399) und Johannes Cassianus (um 360 – 430/435). Sie behandeln etwas, das in der Yoga-Philosophie und im Buddhismus unter die Analyse der kleshas fällt: »Die Laster bzw. kleshas könnte man insgesamt auslegen als die den Menschen beherrschenden Mächte der Zerstreuung. Es sind Weisen des Gefesseltseins an eine ungesammelte Verfassung des Daseins.«70 Hervorheben möchte ich das Laster der akedía. Es wird missverständlich mit »Trägheit« übersetzt, meint jedoch eine chronische, sorglose und missmutige Oberflächlichkeit, die mit einer zumeist versteckten, aber gelegentlich hervorbrechenden Art von Depressivität verbunden ist. Diese Traurigkeit ist selbst Symptom der Hoffnungslosigkeit, des Verzweifeltseins als ,Zwiespalt‘: der Uneinigkeit mit sich selbst und des Ausweichens vor der Übernahme des gesammelten Selbstseins. Anstatt sich dieser missmutigen Niedergeschlagenheit zu stellen und sie durchzuarbeiten, übertüncht man sie in der akedía durch verschiedene, symptomatisch auffällige Verhaltensweisen. Als solche Symptombildungen der Unfähigkeit des Verweilenkönnens in der Sammlung kennen die Lasterlehren innere Unruhe, hyperaktive Geschäftigkeit, zerstreuten Zeitvertreib, ein Schwanken in Bezug auf den uns zugewiesenen Aufenthaltsort sowie Instabilität der Entschlüsse, Langeweile, Neugier, Gerede und andere Phänomene. Sie sind der neueren Philosophie zum Teil aus Heideggers Analytik der Alltäglichkeit vertraut.71 In der augustinischen Tradition haben die Laster ihre Wurzel in jener Selbstliebe, die in der Gegenwart psychotherapeutisch in Anlehnung an den Mythos des Narkissos vielfältig durchforscht wurde.72 Der frustriert in Selbstverliebtheit Befangene verweigert die Annahme seiner selbst in den Möglichkeiten seines offenständigen Eksistierens. Für die Annahme seiner selbst als Mitmensch ist Sammlung vonnöten. In der Ungesammeltheit wird die Selbstbezogenheit existenziell und theoretisch als primär angesetzt, wobei ihre Herkunft aus dem Miteinandersein verdeckt wird. Diese Hinweise auf eine anthropologische Begründung der Notwendigkeit der Sammlung setzen jedoch voraus, dass wir schon möglichst unvoreingenommen mit dem Phänomen der Sammlung vertraut sind.
70 A.a.O., 42. 71 Siehe oben 2. Kap., 1.2.3, Anm. 43. 72 Vgl. dazu vom Verf. (22003), Schwierigkeiten mit der narzisstischen Selbstliebe in Freuds Metapsychologie, in: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Bd. 1, 269–305.
Zur Einübung in die Philosophie: philosophische Propädeutik
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2.3 Zur Bedeutung einer Phänomenologie der Sammlung für die philosophische Propädeutik
73 Verwiesen sei zunächst auf K. Baier (Phänomenologie der Sammlung), der hier vom Ausgangsort der Sammlung her einen zusammenfassenden Ausblick auf mein Philosophieren gibt und in selbstständiger Weise diesen Grundgedanken meiner Philosophie so zutreffend und durchdacht herausgearbeitet hat, dass ich aus dieser Arbeit vieles bis in wörtliche Formulierungen hinein übernommen und nur markantere Textstellen ausdrücklich angeführt habe. Grundlegend für diese Thematik ist gleichfalls die monographische und sachkritische Aufarbeitung der Sammlungs-Thematik bei K. Baier, Meditation und Moderne, Bd. 2, bes. Kap. 10: »Die Schule der Sammlung«, 707–812. 74 K. Baier, Phänomenologie der Sammlung, 40. 75 Ebd. 76 Also nicht nur fraglich, sondern der Frage würdig ist! Siehe dazu den nachfolgenden (dritten) Exkurs zur »Einführung in die Ontologie: Einführung in die Philosophie«.
Zweiter Exkurs
Dem Vorhaben, zur philosophischen Propädeutik von der Übung der Sammlung auszugehen, soll durch eine »Phänomenologie der Sammlung«73 entsprochen werden. Das Anwesendwerden ist ein Geschehen von solcher Ursprünglichkeit, dass es ohne Erfahrung in der Übung der Sammlung nicht recht verstanden werden kann. »Besinnung auf ein gelegentlich eingetretenes Erwachen der Gesammeltheit reicht dazu nicht ganz aus.«74 Da es zur praktischen Übung der Sammlung heute zahlreiche Anleitungen gibt, werde ich auf sie nicht näher eingehen. Sie geben wertvolle Handlungs- und Haltungsanleitungen, suchen vor allem den Vollzug des Sichsammelns zu beschreiben und sprechen von einfachen Phänomenen, die »prinzipiell jederzeit für jede bzw. jeden zugänglich sind«.75 Weil sie jedoch so naheliegend sind, werden ihr Reichtum und ihre Reichweite leicht verkannt. Eine Phänomenologie der Sammlung hat das Wesen der Sammlung aus der Erfahrung ihrer Übung zu schöpfen, weil es dort optimal zugänglich ist. Mit ihr kommen wir zum Ausgangsort eines Philosophierens, das ich als Denken des Ganzen und des Grundes verstehe und das sich daraus ergibt, dass uns unser Dasein in grenzenloser Weite und abgründig-unergründlicher Tiefe fragwürdig wird.76 Sammlung und ihre Übung scheinen mir ein in den philosophischen Schulen der Antike wohlvertrautes Thema gewesen zu sein, wo Philosophie als praktische Lebensform verstanden wurde. Dieses Thema ist aus der Philosophie in die christliche Meditationspraxis abgewandert. Ein »Denken aus der Sammlung […] an der Universität […] hat im Forschungs- und Lehrbetrieb bei Theologen und Philosophen seit langem keinen Platz mehr. Es impliziert ein Wahrheitsverständnis, das man monastisch genannt hat, weil es wissenssoziologisch nicht nur, aber vor allem in mönchischen Lebensformen und den ihnen entsprechenden Lehr- und
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Lernweisen beheimatet war und ist. Gerade seit dem Siegeszug der Universitäten im 13. Jahrhundert, als die Klöster endgültig aufgehört hatten, die maßgebenden Bildungsstätten zu sein, wurde in Westeuropa der durch die Übung der Sammlung gestiftete Wahrheitsbezug aus der gesellschaftlichen Organisation des Wissens verdrängt. Die Abkoppelung der Theorie von der existenziellen Praxis, die daraus folgte, erwies sich vor allem für die Philosophie und Theologie als problematisch.«77 Eine Rehabilitierung der Sammlung auch im Rahmen akademischer Bildung erscheint mir darum dringend notwendig.
Zweiter Exkurs
2.4 Unterschiedliche Bedeutungen des Wortes »Sammlung«
Ich versuche nun zur Weckung des Vorverständnisses verschiedene Bedeutungen des Wortes »Sammlung« schrittweise zu klären und hebe sie danach von einigen Missverständnissen ab. Dabei gehe ich von dem für uns Naheliegenden aus, von dem, worauf wir uns sammeln, vom schlichten Anwesendwerden, und nicht von dem, womit man der Sache nach den Anfang machen müsste: nämlich von dem, was uns überhaupt in den Vollzug der Sammlung einzutreten ruft: dem lautlosen Anruf, zu sich selbst zu kommen, versammelt zu sein, und zwar gesammelt auf das Anwesen in unserer Bestimmung (d.h. dem Geschick, aus dem wir unser Selbstsein empfangen). Unser Sammlungsvollzug ,entspräche‘ dann etwa dem alles durchwaltenden Logos des Heraklit, den Heidegger mit »Sammlung«, ursprünglicher »Versammlung« und »Lese« des Seins übersetzt und zu verstehen gegeben hat.78 Hier in der philosophischen Propädeutik steht jedoch das Wort »Sammlung« nur für eine menschliche Haltung und eine Weise des Sichverhaltens. Und da kann es »dreierlei bedeuten: Sichsammeln, Gesammeltsein und Sammlung als Übungsweg. Sammlung meint zunächst einmal das Sichsammeln, Sich-in-die-Sammlung-bringen, zum anderen dann das Gesammeltsein, die Seinsmöglichkeit, auf die hin der Sichsammelnde sich zusammennimmt und die im Sichsammeln her-vor-kommt.«79 Der Ruf, sich zu sammeln, kann uns spontan überkommen, wenn z. B. eine Schicksalswende oder Neuorientierung ansteht. Alles, unser Verständnis von Mensch, Welt und Sein, kann fragwürdig werden und muss neu entschieden werden. Dazu können bewegende Erfahrungen führen wie der Beginn einer großen Liebe, die vorgeburtliche Erwartung eines Kindes, die Trennung der Liebenden durch den 77 K. Baier, Phänomenologie der Sammlung, 39. 78 M. Heidegger, GA, Bd. 55: Heraklit, hier besonders 261–317. 79 K. Baier, Phänomenologie der Sammlung, 40.
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80 Ebd. 81 Eine Sonderstellung kommt hier der Daseinsanalyse als einer psychotherapeutischen Richtung zu, denn sie versteht ihr therapeutisches Bemühen ausdrücklich philosophisch, und zwar als Entfaltung phänomenologischen Seinsdenkens, das besonders im Anschluss an Heidegger Leidenden zugutekommen soll.
Zweiter Exkurs
Tod, aber auch eine Psychotherapie. Da reichen wir mit- und füreinander in das Gewesene hinein, und zwar in Hinblick auf die sich eröffnende gemeinsame oder abgebrochen erscheinende Zukunft. Aber auch mitten im Alltag können es unscheinbare Augenblicke sein, die uns in die Sammlung rufen und in denen wir dann eigens in Sorge genommen werden, wenn wir uns z.B. vor einer wichtigen Aufgabe ,zusammennehmen‘. Wer immer ein Gefühl für das Wichtige und Bedeutsame hat, löst sich, bevor er es anfasst, aus der Zerstreuung und nimmt sich zusammen, er kehrt in sich ein, wird ganz wach und präsent. Mit einem Wort: Sie oder er sammelt sich. Im Gesammeltsein sind wir dann offen für wesenseigene Möglichkeiten, zu sein. »Wenn dieses Sorgetragen für das Gesammeltsein in vorgenommener Regelmäßigkeit und auf strukturierte Weise geschieht, wird das Sichsammeln und das Verweilen in Gesammeltheit zu einem Übungsweg.«80 Die Formen, die die Sammlung als Übungsweg annehmen kann, sind alte und neue Praktiken der Meditation, zu denen auch verschiedene Formen der Psychotherapie zählen. Ich halte Letztere für einen bewährten Ausgleich des Mangels an therapeutischer Weisheit der akademischen Philosophie, die seit dem Spätmittelalter einseitig theoretisiert wurde und nun praktische Ergänzung von therapeutischer Seite bekommt.81 Nun zu einigen Missverständnissen in Bezug auf das Thema Sammlung: Sie ist nicht mit besonderem Erleben, verändertem Bewusstseinszustand, selektiver Konzentration oder Aufmerksamkeit zu verwechseln. Unter Konzentration und Aufmerksamkeit versteht man eher auf etwas gerichtete, partikularisierende Vollzüge. Sie sind beispielsweise notwendig, um Beobachtungsfehler zu vermeiden, sind aber auch für spezialisierte Höchstleistungen in Bereichen wie Sport, Technik u.a. erforderlich. Das Sichsammeln ist jedoch ein Grundvollzug jenseits des Gegensatzes von Beobachter und Beobachtetem. Jemand kann hochgradig konzentriert bei etwas sein, muss deshalb aber noch lange nicht gesammelt sein. Konzentration kann sogar Sammlung ausschließen, wenn sie im Dienst der Zerstreuung, des Ausweichens vor dem Selberanwesen, aber auch spezieller Handlungs- und Leistungsziele steht. Achtsamkeit hingegen kann zum Übungsweg der Kunst des Verweilens im gegenwärtigen Augenblick werden. Sie führt dann dazu, ganz gegenwärtig, ganz gesammelt da zu sein, und gehört insofern zum Sichsammeln und folgt aus ihm. »Auch die Bestimmung der Sammlung als veränderter Bewusstseinszustand bzw.
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besondere, etwa mystische Weise des Erlebens greift zu kurz, weil das Bewusstsein, seine Zustände und Erlebnisweisen, sekundäre Phänomene sind, die unterlaufen werden von der vorgängigen Erschlossenheit sowohl des gesammelten, als auch des zerstreuten Daseins. Am gesammeltsten sind wird da, wenn wir uns unserer Gesammeltheit gar nicht weiter bewusst sind.«82 Die angeführten Missverständnisse liegen nahe, weil Sammlung Erleben und Bewusstsein sowie besondere Arten von Aufmerksamkeit, die im Gegensatz zu achtlosem und unkonzentriertem Verhalten stehen, nicht ausschließt. Doch das Sichsammeln als voll und ganz Anwesendwerden und das Gesammeltsein als Anwesendsein in offener Weite gibt als Grundvollzug des Daseins überhaupt erst die Basis für alle wirklich menschlichen Vollzüge ab. Es liegt dem Bewusstsein ebenso zugrunde wie allem praktischen, poietischen, theoretischen Verhalten. Insbesondere gibt das Gesammeltsein dem Dasein erst den Zeitspielraum zum künstlerischen, sittlichen, religiösen oder philosophischen Vollzug frei.
Zweiter Exkurs
2.5 Unspezifische Vorbedingung oder Grundvollzug des Philosophierens?
Nun könnte eingewendet werden: Wenn Sammlung nicht nur zur Vorbereitung auf Philosophie, sondern auch für andere, ja sogar alltägliche außerphilosophische Verhaltensweisen geeignet und unverzichtbar erscheint, kommt sie als spezifisch philosophische Propädeutik gar nicht infrage. Und überhaupt: Ist nicht philosophisches Denken selbst als Erwachen zum wahren Bewusstsein etwas Elitäres oder mindestens so Außergewöhnliches, dass es uns vom alltäglichen Leben abhebt, weil es gerade mit der natürlichen, naiven und unreflektierten Einstellung bricht (Husserl)? Ist es nicht naiv, eine allgemein als natürlich einzuschätzende und die Reflexion hintanhaltende Verhaltensbedingung für philosophisch relevant zu erklären? Dazu ist zu sagen: Gewiss erfahren wir den Sog zur Zerstreuung, den Widerstand oder Widerwillen gegen das Anwesendwerden als etwas ,Natürliches‘ im Sinne des Gewöhnlichen, was es schon im alltäglichen Leben zu überwinden gilt. Übung und Phänomenologie der Sammlung sind alles andere als naiv und unüberlegt, wenn sie hier anknüpfen. Sie fassen im Rückgang auf das Selberanwesendsein ,Reflexion‘ radikaler und kritischer als jede freilegende Selbstanalyse des Bewusstseins im Blick auf seine apriorischen Verständnis- und Erkenntnishorizonte sowie die gegenstandskonstituierenden Bewusstseinsakte. Im Gefolge des spätmittelalterlichen Skotismus hat sich 82 K. Baier, Phänomenologie der Sammlung, 41.
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83 Vgl. G. Marcel, Geheimnis des Seins, I. Buch: Reflexion und Mysterium, VII. Vorlesung: Das Sein in der Situation (L’être en situation); Siehe dazu auch unten Dritter Exkurs (3.3.3), Anm. 94. 84 Dazu vgl. auch K. Baier (2009), Meditation und Moderne, Gabriel Marcel, 718 –721.
Zweiter Exkurs
eingebürgert, dass Philosophie mit dem Faktischen zu brechen habe, insofern sie auf die transzendentalen, alles Faktische ermöglichenden Wesensbedingungen einzugehen hat. Doch im Sichsammeln auf das Währen unseres Anwesens klammern wir uns weder an das Faktische, noch klammern wir es aus, vielmehr enthüllt sich von da aus das Existieren des Faktischen phänomenal als eine Modifikation des Anwesens von Anwesenden – setzen doch Existenzfeststellungen immer die Zugänglichkeit zum Anwesenden im Offenen unseres leibhaftig situierten welthaften Selberanwesens voraus. Gerade die Sammlung gibt dem Denken diese ungebrochene Weite zurück, die den transzendentalen Egologien abgeht. Sammlung als Sichsammeln, Gesammeltsein sowie Sammlung als Übung sind aus dem Bezugszusammenhang der Lebensvollzüge, durch den (als ihrem Worumwillen) sie qualifiziert werden, zu verstehen – beispielsweise anders im Musizieren, anders im Gebet. Für das philosophische Denken ist Sammlung dem entsprechend nicht eine bloße vor- oder außerphilosophische Bedingung, da jeder Denkvollzug von ihr durchdrungen sein muss, ja Philosophie nur so lange lebt, als sie aus dem, was unser Gesammeltsein gibt, denkt. Einen Schritt in diese Richtung ist Gabriel Marcel gegangen, der das ursprüngliche Denken der Philosophie als einen spezifischen, »metaproblematischen« Akt der Sammlung (recueillement) auf das »ontologische Geheimnis« hin bestimmt hat, und zwar in Abhebung von der wissenschaftlichen Reflexion, die Subjekt (in mir) und Objekt (außer mir) trennt.83 Er gesteht damit der Philosophie eine ihr wesenhaft eigene Art der Sammlung ausdrücklich zu.84 Sind nicht die verschiedenen Weisen, in der Sammlung zu sein, aus ihr zu leben und zu schöpfen – primär die gesammelte Gestaltung des Alltagslebens –, Quellbereich der Philosophie? Im Sichsammeln und Gesammeltsein legt sich im steten Rückgang in die Lebenswelt der Quellgrund der Philosophie frei. Was vom Standort der Sammlung aus betrachtet zu Recht als außerphilosophisch erscheinen mag, gehört philosophisch betrachtet mindestens als Propädeutik (Vorschule) bleibend in die Philosophie, weil die Sammlung ihr ebenso wie auch dem Alltagsleben erst Grund frei legt und gibt. Doch ist hier nachzufragen: Ist das zutreffend? Gibt Sammlung solches frei? Worum geht es genauerhin in der Sammlung?
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Zweiter Exkurs
Sachprobleme systematischer Ortsbestimmung philosophischer Theologie
2.6 Worum es in der Sammlung geht
Sammlung ist wegbahnende Möglichkeit und Weise der Selbstbegegnung des Daseins, das zu sich selbst erwacht. Sich sammeln heißt wecken und wachwerden, im Augenblick ganz da, ganz gegenwärtig und überhaupt anwesend werden, d.h. in das unscheinbare einfache ,Da-sein‘ gelangen und dessen jeweils innewerden. Was das Sichsammeln als Innewerden des Daseins erweckt, ist das Gesammeltsein des ,Daseins‘. Sammlung meint zunächst unser Anwesen, Weilen, Verweilen im Sein des ,Da‘. Das ,Da‘ ist nicht lokal als vorhandene Stelle im Raum zu verstehen – nicht Hiersein im Gegensatz zu Dortsein –, sondern bezeichnet das Offene als Weltganzes, an dessen Anwesen wir als Seiende teilnehmen, indem wir in ihm anwesend sind und dieses Anwesen in seinem Sichereignen gewähren lassen, wie es sich eben gibt. Wird das Anwesendsein unseres Da-seins wach, so werden wir für unser Anwesen offen, können es sein lassen, annehmen und übernehmen. Zur Ursprünglichkeit des Sichsammelns gehört das ortsgebundene, leibhaftige Anwesendwerden, und zwar in dieser Situation, hier im Bezug zu dort, zur Umgebung. Das besagt dasselbe, wie ganz persönlich, und zwar selbst und in Person, anwesend zu werden. Niemand kann uns darin vertreten und uns dieses unser Selberanwesen abnehmen. Dieses Selbstsein ist von eigentümlicher Weite, spannt sich weltweit aus. In ihm geben wir unseren mitanwesenden Mitmenschen sowie allem anderen, was uns sonst noch betrifft, Lebendem und Unbelebtem, Raum und Zeit, d.h. wir lassen sie sein (walten). Darin treten wir niemals wie isolierte Akteure auf, sondern übernehmen in der Sammlung das jeweils dir (mir, uns, einander) gewährte weltoffene Sein, versammeln es im Selbstvollzug. Die Sammlung erweckt das Selbstsein zum Ergreifen des Freiseins für das eigenste Seinkönnen miteinander in der Offenheit des Seienden im Ganzen (der Welt). Das Sichsammeln ist dem entsprechend ein Freiwerden, eine Befreiung. Und Sammlung ist gleichbedeutend mit dem Vollzug der fundamentalen Freiheit, dem Freisein des (verbalen!) Wesens des Menschen. »In der Sammlung wird das jeweilige Dasein frei für sich selbst, für die gerade ihm gegebene ursprüngliche Erfahrung.«85 Im Sichsammeln zum Gesammeltsein geht uns die ganze Weite unseres Daseins auf. Dieser Vollzug des Innestehens im Ganzen geht vom augenblicklichen Sichzurückholen auf das leibhaftige Anwesen an einem Ort aus, wo wir gewahren können, wie wir leibhaftig eins werden mit uns selbst und (schrittweise) eins werden ringsum mit allem. Mit uns selbst können wir nur in dem Maß eins werden, als wir 85 K. Baier, Phänomenologie der Sammlung, 42.
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gewahren, dass und wie wir uns selbst stets gegeben sind und es uns alltäglich aufgegeben ist, dieses Anwesen unserer selbst verantwortlich zu übernehmen. Diese besonders im Vorfeld philosophischer Theologie wichtige Grunderfahrung des Einswerdens und Einsseins muss im Ansatz von einem Missverständnis freigehalten werden. Einssein meint nicht ein Verschmelzen dem Bestand nach (Bestandsidentität), sondern es ist im Sinne aristotelischer Identität des Vollzugs (kat’energeian: energetische Identität) ein Verbundensein von Differentem in der Selbigkeit des Sichereignens, so wie wir beispielsweise unser Einssein als Wahrnehmende mit dem Wahrzunehmenden vollziehen: Wir schauen hin und sind dort anwesend (nicht dort Anwesende!). Dass der Mensch in gewisser Weise, nämlich in der Dimension ,offener Weite‘ (oder ,ausgedehnter Leere‘), in seinem Anwesen das Ganze des Anwesenden ist, wird aus dem Vollzug der Sammlung zu verstehen sein und ist sonst – streng genommen – unvorstellbar oder eine spekulative Verirrung. Auf die Bedeutung dieses Sammlungsvollzugs für ein ursprünglicheres Verstehen der transzendentalen Eigenheiten des Seins (Anwesens) muss später eingegangen werden. Das hier als Sammlung Angesprochene bildet auch eine Brücke zu einem ursprünglicheren Verständnis außereuropäischer Philosophien und hat ein Gegenstück mindestens in der advaita-Philosophie, in der gerade aus leibhaftiger Sammlungserfahrung geschöpften Lehre von der Nicht-Zweiheit. Von da aus ist es nur ein kleiner Schritt, das Einssein unseres Daseins in der Welt mit und in ihrem abgründigen Ursprung zu erblicken, Atman (Selbst, Seele, auch Person) und Brahman (Urgrund, ,Gottheit‘) unvermischt und ungetrennt als dasselbe, »eines ohne ein zweites« (als Nicht-Dualität, advaita), zu verstehen. Das sei vorweg angedeutet. Diese Betonung des Aufgangs der Weltweite im Sichsammeln – der Weite des je eigenen Selbstseins im Selberanwesen – schließt daher nicht aus, sondern im Gegenteil ein, dass Sammlung so viel wie Selbstbegegnung, Einkehr bei sich selbst, In-sich-Gehen, Verinnerlichung ist. Jedoch ist diese Innerlichkeit ein der Weltoffenheit Innewerden, Insein und Innestehen, eben kein narzisstisches sich Abschließen, bei dem man körperlich zwar vorhanden bleibt, sich aber aus dem Sinnesleben zurückzieht und versucht, sich gegen die Wege der Sinne und das, was sie erschließen, abzukapseln. Das Sichsammeln ist kein Wegtreten, kein Aussteigen in rein geistige oder gar überweltliche Sphären, sondern es ist ein geerdetes Sichoffenhalten des Menschen, ein leibhaftiges Verwurzeltsein im tragenden Boden, ringsum horchend offen, durch die Atmung der Umgebung eingeborgen: Sichsammeln ist »vermutlich der leiblichste aller Vollzüge des Menschen«.86 Die 86 Ebd.
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Zur Einübung in die Philosophie: philosophische Propädeutik
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hier angesprochene Sammlung meint also kein entmenschlichendes, schizoides Sichverhalten, das die Welt der Sinne und Leidenschaften auszuschalten sucht und sich auf ein abstraktes Leben des Intellekts, des Geistes, zurückzieht, vorbei an der leiblich durchwohnten Welt und an der Geschichtlichkeit mitmenschlichen Daseins. Keineswegs geht es in der Übung der Sammlung als Propädeutik der Philosophie um die Abkehr von der sinnenhaften Leibhaftigkeit, wie sie innerhalb der platonistischen Tradition empfohlen wurde. Als wirkungsgeschichtlich folgenschweres Beispiel für sie sei der Meditationsvorschlag Descartes’ angeführt: »Ich werde nun meine Augen schließen, meine Ohren verstopfen, alle [meine] Sinne abberufen, ich werde auch alle Bilder von körperlichen Dingen […] aus meinem Denken tilgen […]; und indem ich mit mir allein spreche (meque solum alloquendo) und tiefer in mich hineinblicke, werde ich mich bemühen, mich mir selbst nach und nach bekannter und vertrauter zu machen.«87 Zur Gewissheit, eine »denkende Sache« zu sein, einer solchen Innenwelt selbst gewiss zu sein, gehören die Sinnesempfindungen und Einbildungen als Modi meines Denkens in mir. Das Verschließen der Sinne gilt den von außen kommenden Ideen (Sinnesbildern), von denen zweifelhaft ist, ob sie existierenden Dingen der Außenwelt ähnlich sind. Mit sich allein, in dieser Ich-Einsamkeit, sucht Descartes eine Idee, deren Ursache er nicht selbst ist, sondern die ihn (und alle Dinge) verursacht. Und er findet jene Idee, die so beschaffen ist, dass sie ihm den existierenden Gott repräsentiert. Descartes’ Vergewisserung der Existenz des Gottes der christlichen Religion unter Abscheidung von der äußeren Welt setzt eine lange meditative und primär religiös ausgerichtete Tradition fort. Wir sind ihr in den Soliloquia des zum christlichen Neuplatonismus bekehrten frühen Augustinus begeg net, der ganz und gar nichts anderes (nihil omnino) als Gott und die Seele zu wissen begehrte und folgerichtig glaubte, dies originär nur an seinem ,äußeren‘ Menschen (homo exterior) und damit auch am Mitmenschen vorbei vollziehen zu können.88 Das griechische Paradigma für diese Art der Sammlung findet sich in Platons Phaidon. Ihre Übung wird ausdrücklich für das Philosophieren – also propädeutisch – für notwendig gehalten, setzt aber, was mehr Beachtung finden sollte, die ewige Dauer der vom Leib abtrennbaren Geistseele, welche die Ideen schaut, voraus. Die Seele ist dadurch insofern geschichtsfremd, als sie durch ihre Wiederverkörperung, d.h. durch Zeugung, Geburt und Tod, nicht wirklich in ihrem Wesen berührt wird: »Es erkennen nämlich die Lernbegierigen ( filomaϑeß), dass die Philosophie ihre Seele […] milde tröstet und zu lösen versucht, indem sie zeigt, dass alle 87 R. Descartes, Meditationen. Dreisprachige Parallelausgabe, Beginn der dritten Meditation, 97. 88 Siehe oben 1. Kap., 1.3.2.
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Betrachtung durch die Augen voll Trug ist, voll Trug auch die durch die Ohren und die übrigen Sinne; und sie darum zu überreden sucht, sich von diesen zurückzuziehen (acwren), soweit es nicht notwendig ist, sie zu gebrauchen; und sie auffordert, sich in sich selbst zu sammeln (xullgesϑai) und hereinzuholen und keinem Anderen zu glauben, als eben sich selbst, (nämlich dem,) was sie [die Seele] rein für sich selbst an ntwn, hier: die Ideen] erkennt.«89 Auf den Dingen als das an sich selbst Seiende [t wn die rechte Weise zu philosophieren heißt, die Gemeinschaft mit dem Körperlichen zu fliehen, sich zu reinigen, indem man sich vom Leib absondert, und sich (so weit als möglich) daran zu gewöhnen, auf diese Weise übersinnlich in sich (im Denken des Vernünftigen, Unsterblichen und Göttlichen) gesammelt zu bleiben.90 Hier fragt sich nicht nur, wie ohne positives Verhältnis zum Leibsein unsere geschichtliche, durch alle Lebensalter gehende Anwesenheit in der Welt und damit auch die mitmenschliche Offenheit im personal-dialogischen Gegenübersein möglich sein soll, sondern auch, ob diese Horizontverengung nicht zu einer den Sinn der Seienden verkürzenden Sicht führen muss. Im Gegensatz zur platonischen Propädeutik der Philosophie, die immerhin der Sache nach eine solche für notwendig hält, hat sich die uns heute aufgegebene Sammlung auf jenen ihr optimal möglichen Gesamtvollzug des menschlichen Daseins einzulassen, der in den Wurzelboden, in die Ursprünge hinabreicht. Von da aus könnte die provokante daseinsanalytische These verständlich werden: Es gibt keine Vollzüge des Menschseins, die nicht leiblich sind. Erste, anfängliche Philosophie als ein Denken, das auf das Ganze und den Grund geht, ist in ihrem Grundvollzug das Denken des durch und durch leiblich situierten Menschen, ist leibhaftiger Austrag seiner Weltoffenheit, seines jeweiligen Weltaufenthaltes, geerdetes Sichtragenlassen und so Vertrauen in den Grund dieses Anwesens im ,Da‘.
Hervorgehoben seien zwei Wesenszüge von Sammlung: die mitmenschliche Offenheit (a) und die raum-zeitliche Leibhaftigkeit des Daseins im gelassenen Atemrhythmus (b), die im Sammlungsverständnis der platonistischen Tradition ausgeschlossen erscheinen. 89 Platon, Phaidon, 83 a (Übersetzung: R. Guardini, 1987, Der Tod des Sokrates, 204). 90 Vgl. Platon, Phaidon, 80 e, 81 a, 82 c–83 b.
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2.7 Konkretisierung einiger Wesenszüge der Sammlung im Rückgang auf das eigene ,Da-sein‘ als leibhaftiges Sein mit Anderen
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a) Eine der größten Versuchungen ist es, die Mitanwesenheit Anderer für die Sammlung zu ignorieren. Wir können uns gemeinsam schweigend mit Anderen sammeln. Dann sind wir in der Sammlung aufeinander bezogen da. Das Bezogensein ist besonders deutlich, wenn wir einander nicht zu stören suchen. Ziehen wir uns von Anderen zurück, um uns von Anderen unbehelligt zu sammeln, so bleiben wir dennoch die auf Andere Bezogenen. Als Mitmenschen existieren wir immer schon im Raum der Anwesenheit Anderer: der uns Nahe- und Fernstehenden, der gegenwärtig An- und Abwesenden, der Lebenden und als ,Hinterbliebene‘ sogar der Verstorbenen. Wenn die Anderen gerade lokal abwesend und wir allein sind, bleiben wir und sie immer Mitanwesende. Auch im Gedränge uns fremder Menschen können wir allein sein, d. h. wir treffen auf sie als uns Fernstehende; Nahestehende gehen uns ab. Dieses Alleinsein ist daher nicht mit einem faktischen Nichtdasein Anderer zu verwechseln. Wer in einem soziologischen Sinn gerade faktisch allein, ohne Andere da ist, eksistiert notwendig und wesensmäßig immer auf Andere bezogen und im Anwesenheitsraum Anderer. Auch ohne der Anderen bedürftig zu sein, oder verlassen von Anderen, vereinzelt, isoliert oder vereinsamt, bin ich immer noch auf Andere bezogen, ebenso wenn ich mich und das störungsfreie Alleinsein genieße und mich gegen den Bezug Anderer zu mir abzuschirmen versuche, Andere losgeworden bin, an niemanden mehr außer an mich denken will, oder wenn ich am Mangel kommunikativer Bindung leide. Immer sind die Anderen mit da, wenn auch unauffällig als irgendwie Mitanwesend-Abwesende. Was wir entdecken, wenn wir gründlich genug in uns gehen, ist, dass unsere Sorge um Andere erwacht. Aber in der Sorge um sie erschließen auch sie sich in ihrem Sorgetragen oder ihrer Sorglosigkeit uns gegenüber, ja erschließt sich, dass der Bezug Anderer zu uns, denen wir unser eigenes Dasein bis hinein in das Alleinseinkönnen (mit)verdanken, unserem Selbstbezug vorgängig ist und ihn mitträgt. Der Bezug des Daseins Anderer zu uns (ihr Mitanwesen) ist für uns konstitutiv und ursprünglicher als jede Selbstbezogenheit. Aus dem Gesagten wird deutlich, dass jede echte Sammlung eine Weise des Miteinanderseins ist: die Öffnung des Raums personalen Miteinanderseins, in dem wir einander unser Selbstsein mit-teilen, d.h. miteinander teilen. Aber nicht jedes Miteinandersein ist ein gesammeltes, im Gegenteil. In Abkehr vom mitmenschlichen Bezug, im Sichverlieren an die ,Ich-Einsamkeit‘ haben wir keine Möglichkeit, uns im Anwesenheitsbereich unserer primären Bezugspersonen zu sammeln. IchEinsamkeit schließt freilich nicht ein faktisches Beisammensein, ein Komplizentum in der Zerstreuung und im Zeitvertreib aus. Es ist für die Ungesammeltheit bzw. Pseudogesammeltheit charakteristisch, dass in ihr die Selbstbezogenheit existenziell und theoretisch als primär angesetzt wird und sich die Herkunft des Selbstseins (nicht des Selbstseienden!) aus dem Schoß des Mit- und Füreinanderseins entzieht.
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b) Eine Beschreibung des Sichsammelns sollte immer bei der Leiberfahrung ansetzen und auf sie zurückkommen.91 Zunächst geht es überhaupt nur darum, erst einmal anzukommen und einen uns ansprechenden Ort zuzulassen, an dem wir leibhaftig eine gewisse Zeitspanne lang verweilen können.92 Er wird ausgewählt, weil er zur Sammlung geeignet erscheint, tiefer gesehen, weil von ihm so etwas wie eine Anziehung, ein lautloser ,Ruf ‘ ausgeht: Hier könnte es sein, nun halte hier stand! Dies ist nun der Ort deines Aufenthaltes in der Welt, der sich im Sichsammeln weiter zu öffnen vermag. Es muss nicht wiederholt werden, dass dieses leibhaftige Selberanwesendwerden in der Sammlung unausweichlich mit Rücksicht auf Andere geschieht, gleich ob sie an- oder abwesend sind, ob wir sie wahrnehmen oder nicht, an sie denken oder nicht. Sie sind durchaus da, nah oder fern, gewesen oder im Kommen. Dass wir nun da sind, verspüren wir primär am eigenen Leib und so ist das Wachwerden der Leiblichkeit für das Anwesendwerden im gesammelten ,Dasein‘, wörtlich verstanden, ,grund-legend‘. In einer elementaren Selbstbesinnung spüren wir beispielsweise, wie wir uns hier niedergelassen haben, an einem Ort sitzen, mit unserem Gewicht am Sitzplatz 91 Hierzu vgl. K. Baier, Die Relevanz einer Phänomenologie des Leiblichseins für die Spiritualität und ihre Abgrenzung vom psychosomatischen Denken, in: K. Baier, Sitzen. Zur Phänomenologie einer spirituellen Grundübung, 245–260. 92 Es könnte auch ein bestimmter Weg oder eine Weise sich zu bewegen sein.
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Der Ursprung der Sammlung ist als personales Beziehungsgeschehen zu denken: Wir können uns selbst sammeln, weil und insonah wir im Raum der Sammlung Anderer, im Offenheitsbereich ihrer Zuwendung, in unserem Ganzsein zugelassen worden sind und diese Möglichkeit zu sein selbst übernehmen. Wir haben im Raum ihrer Sammlung uns selbst zu sammeln angefangen, oder wir haben in der zerstreuten Ortlosigkeit an uns vorbeilebender Anderer angefangen, die Möglichkeit zum Vollzug des gesammelten Selbstseins zu verlieren. Das zum geeinten Selbstvollzug Freigegebensein im gesammelten Anwesen Anderer ist und bleibt konstitutiv für das Sichselbstsammeln. Im Raum der personalen Begegnung, in dem Offenen, das die Mitteilung des personalen Selbstseins ermöglicht, verdanken wir einander die Sammlung und bringen wir einander zur Sammlung. Für die Übung der Sammlung bedeutet das, dass sie nicht als individualistische Privat- oder Fluchtpraxis missverstanden werden darf. Das Sichsammeln ist also (auch wenn wir faktisch ohne Andere allein da sind) wesentlich ein Miteinanderanwesen. Es geschieht mit den Anderen, durch die Anderen und für sie. Die Sammlung bringt uns zueinander. Sie stiftet eigentliches personales Miteinandersein. Das Gesagte wird noch verständlicher, wenn wir von unserer Leiberfahrung ausgehen.
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aufruhen. Indem wir immer wieder innehalten, gewahren wir, wie wir mit dem Untergrund eins sind und wie er uns aushält, stabil, nicht schwankend, aus dem Unergründlichen heraus trägt und Grund gibt, der uns nach oben, bis in den Kopf, durchragt. Wir sitzen aufrecht, spüren unseren Leib, den Kopf zwischen unseren Ohren, unser Gesicht …, unsre Hände …, die Füße …, da und dort die Verspannungen, die wir lösen können … Wir halten ringsum einen Bereich horchender Anwesenheit offen … oder richtiger: Wir werden dessen inne, dass uns eine solche ,Um-gebung‘ zu halten scheint. Würde es nun ganz still und versuchten wir völlig ruhig zu werden, so fänden wir uns dennoch rhythmisch bewegt vor: Wir sind uns als Atmende gegeben. Wenn uns die Ruhe überkommt, verlangsamt sich die Atmung. Wir folgen regungslos dem Ruf in ein Unbewegtsein, das keine Erstarrung ist, das der unbewegt tragende Untergrund frei gibt. Wir tauchen in ein unbewegtes Bewegtsein ein und halten uns im Gleichgewicht bewegter Unbeweglichkeit auf. Finden wir uns so gesammelt in die alles verbindende Mitte unseres erdverbundenen, in die Tiefe gehenden Wesens vor und lassen wir zugleich die Anziehung, die aus dem Oben kommt, zu, so kann dieses Ausgespanntsein zwischen Himmel und Erde geradezu als kosmisches Ereignis erfahren werden. So oder ähnlich kann eine Übung der Sammlung in aller Kürze beschrieben werden. Um Missverständnisse zu vermeiden, betrachten wir näher, wie das Gesagte gemeint ist: Das Sichsammeln als leibhaftiges Anwesendwerden, um einfach da zu sein, meint nicht, sich bewusst zu machen, dass man in einem von Empfindungen erfüllten Körper vorhanden ist. Eine solche Vorstellung, die wir uns von uns machen, verstellt uns die sich uns erschließende Eigenerfahrung. Dies lässt sich besonders am unverstellten Phänomen der Atmung gut zeigen93 – vorausgesetzt, dass man sich Atmung nicht physiologisch verkürzt als Gasaustausch zum Zweck der Energieproduktion vorstellt oder mechanisch, wie einen Blasebalg, der Luft einzieht und wieder hinauspresst. Achtet man stattdessen auf die Atmung als jeweils meine gesamtmenschliche Weise, anwesend zu sein, dann kann man entdecken, dass der Atem in besonderer Weise darauf angelegt ist, das gesamte Geschehen der Sammlung leibhaftig werden zu lassen. Aus diesem Grund wird überall in den verschiedenen Meditationskulturen die Übung des Atmens als Weg der Einweisung in die Sammlung praktiziert. Mit der Atmung geschieht mir etwas Unfassbares, das aus mir und über mich kommt, und zwar vor aller Möglichkeit, den Atemfluss durch Techniken aktiv zu verändern. Ich kann dieses mein Atmen auch einfach nur geschehen lassen. Meinen Atem mache ich 93 Zur Phänomenologie atmenden Daseins vgl. K. Baier, Sitzen. Zur Phänomenologie einer spirituellen Grundübung, 257–260.
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nicht. Werde ich nicht viel mehr geatmet (,inspiriert‘)? Ich erfahre in der Atmung unmittelbar, wie ich mir zur Übernahme meiner selbst gegeben werde und bin. Wichtig ist auch, die sich zwischen uns und unsere eigene Erfahrung schiebende physiologische Vorstellung einer Lungenatmung beiseitezulassen. Der in der Atmung Geübte atmet als ganzer Mensch und erfährt sich im Ein- und Ausströmen des Atems in die Umwelt eingebunden. Dem entspricht übrigens physiologisch die Hautatmung. Anhand der Atemerfahrung kann die Grundbewegung, in der wir im Sichsammeln unser Dasein zulassen, expliziert werden. Haben wir tief ausgeatmet, dann können wir den Atem (Es) kommen lassen. Wir atmen ein und aus, der Atem kommt und geht, geht auf und ab. Das ist ein nach oben aufgehendes Sichöffnen, Sichgebenlassen, Sichweiten, ein Sein im Bezug zum Offenen; dann das Ausatmen: ein Sichloslassen, Sichhergeben, Sichniederlassen und auf den Grund kommen und mit ihm eins werden. Die Erfahrung der Atmenden ist dieses Einbehaltendürfen und Freiwerden, Sichweiten und Tiefwerden, Sichöffnen und Einswerden. Das Sichsammeln in der Atmung ist also nicht die Beobachtung eines an unserem Körper ablaufenden Vorgangs, sondern ein Gewahrwerden unserer selbst in der Atmosphäre des Raumes unserer Anwesenheit. In diesem Offenen des Luftraumes vollziehen wir die Atmung. Wir lassen uns auf unser Anwesen in der Welt im gelassen atmenden Bezug zur Weite des Seienden im Ganzen und zur Tiefe des Grundes ein. Das gesammelte Dasein ist das aktiv und leibhaftig gelassene. Das Seinlassen der Atmung bringt eine Umstimmung: Der gelassen Atmende wird ruhig und still, findet hinein in eine horchende Haltung. Wir haben sie als methodischen Grundzug einer Phänomenologie ursprünglicher Erfahrung schon angesprochen. Zur Sammlung gehört das Stillwerden und Schweigen.94 Erst im Schweigen geht uns das Anwesen (Sein) im Da auf, spricht es sich uns zu. Schweigen und Stillsein verlangt mehr von uns, als nichts zu reden bzw. kein Geräusch von sich zu geben. Stillwerden ist ein Stillwerden des ganzen Menschen und geschieht im Horchen. Horchen heißt, uns den Bereich des hörenden Vernehmens um willen des sich uns Zusprechenden offen zu halten. Das gesammelte Horchen ist ein Sichhinausspannen in die Stille, die den Hörraum der Welt bildet, ein Eingehen in die Stille, welche die Offenheit für alles Hören von etwas oder jemandem bildet, ein Entsprechen gegenüber dem lautlosen Zuspruch jeglichen Anwesens von Anwesenden. Nur in einer horchend-vernehmenden Haltung haben wir etwas zu sagen. Das sagende Verlauten unterbricht dann das Schweigen nicht. 94 Siehe dazu auch oben 1. Kap., 2.2.4.4 a); vgl. hierzu auch den informativen Artikel »Schweigen, Stille« von G. Wohlfart/H. Kreuzer, in: HWP, Bd. 8, Sp. 1423–1495.
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Die Stille ist nicht nichts, nicht Abwesenheit von Lärm, nicht Freisein von Beschallung, sondern die lautlose Sprache des Unaussprechlichen, das uns sprechen lässt. Sie wird häufig als beängstigende und belastende Leere erfahren. Man reagiert heute auf sie epochal und global mit »Vertreibung der Stille«95, mit dramatischer Zunahme des Lärmpegels und entsprechender Anpassung durch Lärmtoleranz. Diese bringt, abgesehen von gesundheitlichen Schädigungen, eine Not sonderlicher Art hervor: ein Geübtsein im Weghören. Vielleicht ist dieses aufgenötigte Training des Weghörens im Vorfeld möglicher Erfahrung des Göttlichen einer der wichtigsten Gründe, welche für das Angesprochenwerden durch Göttliches oder Numinoses unzugänglich machen. Im gesammelten Vollzug des gelassenen Atems wandelt sich der Bezug zur Räumlichkeit des Daseins, die wir als das vom Sammlungsort her rundum Offene des Seins in der Welt schon angesprochen haben: »Der Raum der Sammlung, der sich dann auf tut, ist gekennzeichnet durch ein Verbundenheitsgefühl mit der Umgebung, das nach allen Richtungen des uns umschließenden Raums geht. In dem rundum Offensein, in das uns die Sammlung bringt, tritt der Raum als Medium trennender Abstände zurück. Er zeigt sich als ein Offenes, […] in dem wir inständig sind, mit dem wir atmend kommunizieren und das wir durchspüren, mit unserer leiblichen Präsenz bewohnen. Das atmende Verbundensein mit der von sich aus nahe kommenden Ferne verbindet uns mit allem.«96 Auch der Bezug zur Zeitlichkeit des Daseins wandelt sich: »In der Sammlung lässt sich das Dasein im gelassenen atmenden Rhythmus Zeit. Es lässt sich die Zeit, die ihm gegeben ist und wird zur sich zeitigenden Ganzheit versammelt.«97 Der sich Sammelnde verweilt in der Gleichzeitigkeit von Gewesensein und Zukünftigsein im Augenblick der Gegenwart. Was wir hier gewahren können, ist entscheidend: Dass nicht primär wir es sind, die sich im gegenwärtigen Augenblick zum Anwesendsein und zum Abwesendsein (dem Gewesensein und dem Zukünftigsein) verhalten, als wären das die Subjektivität expandierende Entwürfe, sondern vielmehr verhält sich die Zeit zu uns. Wir haben uns Zeit genommen, anwesend zu werden, und gewahren, wie die Zeit zu sein uns zufließt und gegeben ist.98 Wir erfahren ständig, ,Es gibt uns Zeit, um zu sein‘. Spüren wir dem nach, wie das ist: Wir halten einen Augenblick aufmerksam inne. Was gewahren wir dann? Dass wir noch immer da und uns selbst 95 R. Liedtke, Die Vertreibung der Stille. 96 K. Baier, Phänomenologie der Sammlung, 44. 97 A.a.O., 45. 98 Zeit wird hier als befreiende verstanden, nicht nur als negative Herrschaft der chronologischen Zeit (wie bei M. Theunissen, Negative Theologie der Zeit, 41, 55), in der ein Jetzt das andere jagt und nichtig erscheinen lässt, missverstanden.
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gegeben sind, immer neu und erneut. Eigentlich ist das erstaunlich: die Einmaligkeit des Augenblicks tritt hervor; die Zeit verliert ihre Selbstverständlichkeit und wird kostbar. Unser Dasein ereignet sich einzigartig und einmalig aus einem unergründlichen ,Es gibt‘. Zeit als Versammlung von Zukunft und Gewesenheit in eine Gegenwart ist sich ereignendes Anwesen, an dem wir teilnehmen, das den abgründigen Ursprung allen Anwesens mitbekundet. Durch solche Raum- und Zeiterfahrung in der Sammlung wird die Zerstückelung des Daseins aufgehoben, die wir in der sich überstürzenden Hektik der durch die Uhr gemessenen Jetzt-Folge, an der wir uns alltäglich orientieren, sowie in räumlichen Abständen erleiden. Wir vollziehen ja unser Anwesen, indem wir selbst ganz da sind, also als Ganze, wodurch der in die Akte des Wahrnehmens, Erinnerns, Erkennens, Fühlens, Handelns u.a. aufgespaltene Selbstvollzug auf seine ursprüngliche Einheit zurückgeführt wird. »Der Vollzug der Sammlung verwischt dabei nicht die Unterschiede, aber er lässt trennende Scheidewände fallen, dies sowohl in Bezug auf das Zusammenspiel unserer verschiedenen Vermögen, wie auch in unserem Bezug auf das Seiende im Ganzen, der mittels ihrer vollzogen wird.« 99 Wir nehmen uns zurück in die reine Anwesenheit, in der alles ungeschieden liegt und zugänglich ist, und treten ein in ein Erfahren des alles umgreifenden und tragenden Geheimnisses des Seins. Da ist jede Subjekt-Objekt-Spaltung, jede Zweiheit im Gegenüber zurückgenommen in die Nicht-Zweiheit, die durchaus alles und jedes in jenes Eigene frei gibt, was es von seinem Ursprung her ist. Das Anwesen in seiner offenen Weite ist nicht dies und das, nicht jenes und anderes, es ist überhaupt kein Seiendes, sondern so gesehen nichts von allem, und zwar phänomenal positiv ein ,Nichts‘ in allem. Die Frage, inwiefern Nichts und Sein (Anwesen) dasselbe sein können, wird sich daher stellen. Indem Anwesen sich uns aus verborgener, in ihrer Verborgenheit widerfahrender Quelle ereignet, versetzt uns die Sammlung an den Ort, von dem her wir jeweils selbst und überhaupt alle Seienden in die Unverborgenheit des Anwesens, des Seins, treten: »Sie ist ein Wohnen im ortlosen Ort des Ursprungs.«100 Aller Ursprung ist insofern ortlos, als er kein Ort unter anderen Orten ist, zumal jeder Raum gewährende Ort seine Ursprünglichkeit besitzt. Gemeint ist die Erfahrung, dass der jeweilige Zeitspielraum des Aufgangs in die Unverborgenheit sich dem ständigen Geben einer einzigen Verborgenheit verdankt, die uns vertraut ist und ständig begleitet, in der wir uns selbst immer schon mitverborgen sind: einem Quellgrund, aus dem und von dem her wir Zeit zu sein haben und uns in unserem Anwesen verstehen können. 99 K. Baier, Phänomenologie der Sammlung, 45. 100 A.a.O., 45.
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In der Sammlung gewahren wir das, worum es in der Philosophie geht: uns selbst miteinander in der Weite und Tiefe der Welt. Sie ist eine einzigartige Weise, das in die Unmittelbarkeit ankommen zu lassen, worum es im Dasein geht. Methodisch hat Phänomenologie von der optimalen Gegebenheit ihrer Phänomene auszugehen. Das menschliche Phänomen ist sich selbst erst in voller Leibhaftigkeit des gesammelten Daseins zugänglich. Sammlung ist, wie wir gesehen haben, als propädeutischer Zugang zur Philosophie und ihrer philosophischen Theologie nicht bloß ihr anregender Beginn oder gar nur eine äußerliche Vorbedingung, sondern sie ist eine innere Notwendigkeit des Philosophierens selbst, in die sie immer wieder zurückkehren muss. Gegen das Gesagte ließe sich der Einwand erheben, dass seit alters her das Fragen als der maßgebende Zug des philosophischen Denkens gilt. Bewährt sich Sammlung, wenn sie ernsthaft und radikal mit dem, was als Anfang und Aufbruch des Philosophierens gilt, konfrontiert wird, nämlich mit dem Fragen? Beruhigt und beschwichtigt Sammlung nicht die leidenschaftliche Suchbewegung unseres Fragens? Ist sie nicht eher als ein illusionäres Quietiv denn als ein Beweggrund ursprünglichen Philosophierens zu bewerten? Oder bringt uns Sammlung – solange sie in ihrer Spannkraft durchgehalten wird – in ein Vorfragliches zurück, zu einem Entsprechen, Innesein und Einklang mit dem, was im Grunde ist und was in bleibender und darüber hinaus noch zunehmender Fragwürdigkeit zu denken gibt ?
3. Dritter Exkurs
Zur Einführung in die Philosophie: Einführung in die Ontologie Wie immer wir Philosophie verstehen, in sie hinein gelangen wir nur durch ein wahrhaftes, ursprüngliches, echtes und ernsthaftes Fragen – erst recht dann, wenn wir fragen müssen, von woher, wodurch und wie wir in das Fragen kommen und ob unser Fragen sich dem der Frage Würdigsten verdankt. Wir werden uns zunächst der Fraglichkeit als der Eigenart philosophisch bedeutsamen Fragens zuwenden (3.2), und zwar im Hinblick auf jene Frage, mit der wir methodisch-systematisch nicht nur beginnen wollen, sondern mit welcher der Anfang des Denkens der Philosophie (und damit der philosophischen Theologie) zu machen ist: auf die ontologische WarumFrage nach dem Seienden im Ganzen sowie dem Sein als Grund. Fragwürdig und problematisch ist, ob und wie diese Frage ein ursprüngliches Philosophieren eröffnen oder verbauen kann, und weiter, wie es um ihre Eigenart und Beantwortbarkeit steht (3.2). Daraus wird sich die Notwendigkeit einer vorläufigen Klärung des Verständnisses von Seiendem, Sein und Nichts ergeben (3.3). Im Rückblick rechtfertigen es diese Überlegungen, von einer phänomenologischen Einführung in den Anfang der Ontologie zu reden, die zugleich in die Philosophie (und mit ihr in die philosophische Theologie) einführt. Daraus ist auch ein gewisser Vorrang der Ontologie innerhalb der philosophischen Sachgebiete ersichtlich, insofern in ihnen irgendein Seinsverständnis unausweichlich impliziert ist und mitspricht.
3.1 Zur Fraglichkeit philosophischen Fragens 1 3.1.1 Das Fragen nach der Frage
1 Verwiesen sei nur auf die zum ganzen Folgenden wichtigen Werke von G. Pöltner (1972b), Zu einer Phänomenologie des Fragens; ders. (1978), Erfahrung radikaler Fraglichkeit als Grundlage einer Philosophischen Theologie; F. Wiplinger (1962), Warum das Warum?; ders. (1968), Das Fragen als Anfang der Philosophie; ders. (1970), Der personal verstandene Tod; ders. (1976), Metaphysik: Grundfragen ihres Ursprungs und ihrer Vollendung; R. Kijowski, Ursprüngliche Erfahrung als Grund der Philosophie. Eine Auseinandersetzung mit Fridolin Wiplingers Philosophieren, 112–132; neuerdings T. Eilebrechts Monographie »Durch Fragen ins Offene« über das radikale Fragen in Heideggers Werk, sofern es seine Denkwege charakterisiert. Bemerkenswerte Begriffsklärungen auch aus sprachanalytischer Sicht bei J. Walther, Logik der Fragen.
Dritter Exkurs
Zur Frage steht, wie und mit welcher Frage wir über ein von alltäglichen Sorgen und Interessen geleitetes Fragen hinaus überhaupt in ein Fragen kommen, das entdeckt, was mit Philosophie gemeint sein kann. Wollten wir die Vielzahl der
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Definitionsvorschläge von Philosophie sichten, so wäre ja die Frage zu stellen, von woher und woraufhin wir sie überprüfen sollten. Wir könnten von den sie leitenden Fragen ausgehen, setzten aber dabei fraglos unkritisch voraus, dass wir über das philosophische Fragen schon orientiert sind. Wir könnten sogleich nach dem Vorverständnis unseres eigenen Philosophierens weiterfragen, denn ein solches bringen wir mit unserer Frage nach dem Anfang philosophischen Denkens ja eingestandenermaßen schon mit. Doch halten wir diese Überlegung zurück und suchen vorerst, die Frage als Frage in ihrer Fraglichkeit wenigstens kursorisch zu vernehmen, um einen besseren Einblick in das Wesen unseres Fragens zu erhalten. Sehen wir uns um, wie wir fragen, wenn wir fragen. Was ist das, das Fragen als Fragen? Was heißt uns fragen? Warum fragen wir überhaupt? Wir werden uns immer wieder zu fragen haben, ob wir jeweils wahrhaft, eigentlich, echt, ernst und überhaupt ursprünglich genug fragen. Fragen sind primär auf Antworten ausgerichtet. Fragebezogen können aber auch Erwiderungen sein, die streng genommen die Frage nicht beantworten, Klärungen der Frage verlangen oder sogar behaupten, sie sei unbeantwortbar. Es wäre dann die Frage, ob und wie das begründet werden kann. Weil echte Antworten, die auf Fragen gebbar sind, seien sie ausgesprochen oder nicht, Fragen beantworten, können diese Fragen nachträglich als Implikate aus ihnen herausgeholt werden. Eine Behauptung (und ebenso die Erwiderung) kann eigentlich nur verstanden werden, wenn sie diejenige Frage, die zu ihr geführt hat, sei sie ausgesprochen oder nicht, beantwortet.2 Die Frage kann in der gegebenen Antwort auch umgangen werden oder unbeantwortet bleiben, dann antwortet die Antwort zwar immer noch auf eine Frage, aber der ,Fragepunkt‘ wurde unter der Hand geändert (was man in der Logik mutatio elenchi nannte). Dann liegen uneigentliche Antworten, Scheinantworten, vor, die eigentlich gar keine Antworten darstellen, aber von Erwiderungen auf Fragen zu unterscheiden sind, welche die Antwort ausdrücklich verweigern, sich außerstande sehen, sie zu beantworten, ihre Legitimität bestreiten, mit Rück- oder Gegenfragen entgegnen usw. Jede eigentliche und echte Antwort, in der etwas begriffen, behauptet, begründet usw. wird, kann nicht nur formalisiert oder grammatisch auf bestimmte Fragen zurückgeführt werden (beispielsweise die Fragen: Was ist das? Ist es? Warum ist es?), sondern auch sachlich auf bestimmte Fragen, die den Phänomenbereich des hier und jetzt Fraglichen aufschließen. Zwar bleiben im Alltag gestellte Fragen oft unbeantwortet, von Scheinantworten zugedeckt oder brüsk zurückgewiesen, 2 Dass jede Aussage Antwort auf eine Frage sei und »nur so verstanden werden kann«, bezeichnet H.-G. Gadamer sogar als »hermeneutisches Urphänomen«, in: Die Universalität des hermeneutischen Problems (1966), in: Gesammelte Werke, Bd. 2, 219 –231, hier 226.
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ja nicht einmal erwidert, diskret übergangen oder wie auch immer – doch für ein sachgemäßes Denken ist die optimale Entsprechung von Frage und Antwort ,normativ‘, weil sie ihren ursprünglichen ,Sitz im Leben‘ in dem hat, was uns in einer mitmenschlichen Gesprächssituation, im Bezug zum Gegenüber angeht. Dieses einander Angehende steht eigentlich zur Frage. Das wahrhaft und eigentlich Zur-Frage-Stehende muss keineswegs in Fragesätzen artikuliert sein, ja nicht einmal durch ein ,fragendes‘ Sichbetragen (Gebärde, Mimik, Gestik) offenbar werden. Es bestimmt sich von dem her, was jemandem fraglich oder fragwürdig geworden ist. Versuchen wir, über das Wesen des Fragens etwas sachgemäß zu sagen, dann ist das nur vom Zur-Frage-Stehenden her möglich, wenn das Fragen selbst, das Fragen nach der Frage, einem fragwürdig geworden ist. Was Fragen ist, zeigt sich nur als Fragen. Nur von sich her im Phänomen des Fragens wird das Fragen selbst verständlich und auslegbar, und zwar in dem Ausmaß, als es jeweils mein Fragen ist und wir uns selbst unverkürzt auf das Fragen verstehen. Berücksichtigen wir, dass es immer jemand ist, der fragt, weil ihm etwas in einer bestimmten Situation (im Offenen der Welt mit Anderen) aus einer bestimmten Stimmung, Haltung, Interessenslage heraus als fraglich oder fragwürdig aufgeht und zur Frage steht, dann lässt sich jenes Missverständnis der Verdinglichung des Fragens und Antwortens vermeiden, das Fragen und Antworten wie Allgemeindinge, ideale Objekte, mit Relationen behaftete Seiende oder dergleichen behandelt. Echtes und ernsthaftes Fragen und Antworten kommt phänomenal so niemals vor. Dem situativen Bezug zum Fraglich- oder Fragwürdiggewordenen sind Grad und Gewicht der Ernsthaftigkeit des Fragens zu entnehmen gegenüber Unernst, Scherz, Leichtfertigkeit, Unzeitigkeit usw. Als Übungsbeispiel im Sprachunterricht ist ,Sein oder Nichtsein‘ nicht die Frage, die im Ernst gefragt wird, und zwar gerade dann, wenn die Unterrichtssituation ernst genommen wird. Fragen sind aber nicht deswegen von vornherein nicht ganz ernst oder unernst, weil sie an sich weder wahr noch falsch sein können (was syntaktische oder semantische Fehler nicht ausschließt). Dagegen sind Antworten, sofern sie etwas aussagen, entweder wahr oder falsch bzw. werden als wahr oder falsch in Bezug auf das aufgefasst, was sie als Urteilsbehauptungen entschieden ausdrücken. Aber als Fragende, denen es wie immer um die Entbergung von Verborgenem, um das Eksistieren in der Wahrheit geht, sind wir notwendig auf Wahrheit bezogen. An diesem Bezug bemisst sich, ob und inwiefern das Fragen ein wahrhaftes ist, denn Fragen, obgleich sie keine Aussagen sind, teilen mit diesen den Bezug auf befragte Sachverhalte bzw. fraglos Vorfragliches. Fragen können als Scheinfragesätze klar und verständlich sein,
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ohne einen Sachverhalt zu bezeichnen, zum Beispiel: ,Wann wurde Karl Marx ermordet?‘3 Die Zusammengehörigkeit von Frage und Antwort ist keine linguistische oder ontische Banalität. Das erweist sich durch jede wahrhafte und echte Frage, die mindestens als ausgesprochene, um zu einer Antwort zu führen, schon in einem ursprünglicheren Sinne ein ,Ant-worten‘ – das ,Ent-sprechen‘ eines offenständig Eksistierenden und Sichverhaltenden zu dem, was ist und sich zeigt – sein muss, insoweit wir im fragenden Sichverhalten uns auf das Fraglichgewordensein von Vorfraglichem offen einlassen. In einem echten Gespräch lassen wir uns auf die Erfahrung von solchem ein, das uns gemeinsam in seiner Fraglichkeit angeht, sich ,mit-teilt‘ und zu denken gibt. Dieses Aufbrechen der Erfahrung der Fraglichkeit (und die ihr entsprechende gemeinsame Offenheit) liegt ursprünglich dem Vollzug des Fragens zugrunde. In einem ursprünglichen Sinn kann daher nur gefragt werden, weil uns (jeweils mir und dir, auf meine und deine Weise) etwas fraglich geworden ist, und nicht, weil ich etwas von mir aus in Frage stelle und mir vorstellig mache. Was uns gemeinsam fragwürdig werden kann, muss nicht etwas außer uns sein, sondern unser personales Sein selbst in der Welt, die wir miteinander teilen, kann fragwürdig geworden sein. So kann sich eine Beziehung gegen alle Erwartung als in Frage gestellt erweisen. Um phänomenologisch einen Zugang zur ursprünglichen Frageerfahrung zu gewinnen, suchen wir in das Fragen selbst zu gelangen und betrachten wir das Fragen nicht verdinglichend, wie äußerlich vorhandene Gegebenheiten. Bildet man (entsprechend den Regeln der Grammatik) einen Fragesatz und sprechen wir die Frage aus, so ist das deswegen noch keine echt und ernsthaft gefragte Frage. Ebenso ist das (psychologisch erforschbare) Erleben, dass in uns ein Fragesatz abläuft oder dass Fragen unerledigte Aufgaben bilden, an die man sich gewöhnlich besser als an bereits erledigte erinnert, kein eigentliches Fragen. Gewiss kann in grammatischer und linguistischer Sprachanalyse, in Psychologie und Verhaltensforschung, in formalisierter interrogativer Logik sowie anderen Fachwissenschaften das Phänomen des Fragens vielseitig erforscht werden. Doch setzen diese Fachwissenschaften für ihre Fragen fraglos voraus, dass es das Fragen ,gibt‘. Sie befragen innerhalb eines vorgefassten Entwurfs (dem ihren Gegenstandsbereich konstituierenden Fragehorizont) das, was Fragen und Frage ist. Das Fragen ist ihnen auf diese Weise methodisch nur abkünftig, niemals in seiner Ursprünglichkeit zugänglich. Ihr 3 J. Walther, Logik der Fragen, 27, 35: »Der Fragesatz hat Sinn und drückt eine Frage aus, aber die entsprechende problematische Sachlage besteht nicht.«
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Zugang zur Frage ist nicht ein phänomenologisches Verstehen der Frage selbst von ihrem Wesen her und schon gar nicht ein Sichverstehen auf die Fraglichkeit des Daseins, sondern sie erklären die Frage jeweils von etwas anderem her, das fraglos außerhalb des Fragens als einem solchen liegt, sodass das Fragen als Funktion oder Wirkung von fraglos außerhalb des Fragens gegebenen Phänomenen erscheinen muss (Fragesatz, Erlebnis, Aufgabe, Informationsbedürfnis, Such-, Erkundungsoder Neugierverhalten usw.). Doch das eigentliche und mithin ursprüngliche Fragen der Frage ,gibt‘ es nur im eigenen Fragen selbst, sofern sich jemand wahrhaft durch die Fragwürdigkeit dessen, wonach in seinem Fragen konkret gefragt wird, bestimmen lässt. 3.1.2 Unechtes Fragen und problematische Fragehaltungen
Nach dem bisher Gesagten ist es besonders wichtig, dass wir eine Umkehr vollziehen, indem wir besonders die linguistische Orientierung am Fragesatz zugunsten der Sache, die in Frage kommt und zur Frage steht, aufgeben, und zwar gerade um eines ursprünglicheren Verständnisses von Fragesätzen willen. Dazu wenden wir uns wieder dem Fragesatz zu und prüfen, was geschieht, wenn wir einen Fragesatz wiederholt aussprechen, beispielsweise den nach dem Anfang des Philosophierens. Komme ich dadurch in das Fragen oder gar Philosophieren? Gewiss nicht. Das wiederholte Aus- oder Nachsprechen des Fragesatzes macht den Satz nicht fragender, im Gegenteil: Dem Fragenden verflüchtigt sich der konkrete Fragesinn der Frage. Auch verliert die Frage das Schwergewicht des existenziellen Ernstes. Ihr mangelt die echte Bestimmungskraft dessen, wonach gefragt wird: des in der Frage Gefragten. Die im Wonach der Frage zugelassene Fraglichkeit des Befragten, nicht aber ein Fragesatz, lassen uns fragen. Von woher sollte denn ein Fragesatz als solcher verstanden werden, wenn korrekt artikulierte Fragesätze kein eindeutiges Zeichen ernsthaften, echten und sinnvollen Fragens wären oder es ein Fragen gäbe, das überhaupt nur dem Anschein nach in der grammatischen Satzform des Fragens auftritt, es aber im eigentlichen Sinne überhaupt nicht ist, sondern ein ,Scheinfragesatz‘? Soll man im angemessenen Ernst und nicht leichthin in spielerischer Beliebigkeit fragen, kann einem leicht der Geduldsfaden reißen, weil man doch das (im Gefragten liegende und angezielte) Erfragte nun endlich in Erfahrung bringen und in das Wissen erheben möchte. Doch der verdeckte Unwille der/des Fragenden wandelt das Fragen allzu leicht in eine Art von Suche nach einer Antwort um, die eigentlich ein Fordern, ein aktives, ja mitunter anmaßendes Herausfordern
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ist. Es gibt ein Fragen, in dem eine versteckte Drohung oder ein Wünschen unüberhörbar sind. Jemand bekommt Ärger und schreit ihn Umgebende an: ,Was gibt es da zum Lachen?!‘ Das heißt, es ist eben keine Frage mehr, dass es hier etwas zu lachen gibt. Das Lachen soll hier nicht in Frage kommen. Ähnlich steht es mit der doppeldeutigen Aufforderung: ,Bitte, kannst du nicht endlich mit dem Blödsinn aufhören?!‘ Sie fordert dazu auf, unverzüglich einem als sinnlos abgewerteten Tun ein Ende zu machen. Der fordernde Ausruf ist weder eine echte Frage noch eine ehrliche Bitte, sondern ein halbversteckter Imperativ, der allenfalls das Tun des Angesprochenen in das ,Fragliche‘ herabzieht. Nun kann man echte Fragen meist leicht von unechten unterscheiden, die durch Fragesätze verdeckt werden, wie Aufforderungen, Einladungen, Befehle, Wünsche, Bitten oder erstaunte Ausrufe, die zu nichts auffordern oder nichts wünschen und keine Antwort anzielen (,Was für ein wunderbarer Tag?!‘). Der alltägliche Umgang mit Fragen ist lehrreich für ein ursprüngliches Philosophieren und echtes Fragen. Hier gilt es auch, hellhörig für ein verdecktes Sichbetragen zu werden, dem es um Herrschaftsausübung geht: für das fordernde, postulatorische Stellen von Fragen (etwa nach Möglichkeitsbedingungen im Sinne von ,Voraus-Setzungen‘), in denen zwar ein Sinn mit Nachdruck gesucht und unterstellt wird, weil ohne ihn am Ende alles in ein Nichts der Ohnmacht und Absurdität abzustürzen droht, aber man sich nicht hinreichend klarmacht, dass man deswegen sucht, weil man die Quelle dieser Sinn- und Grundsuche schon auf irgendeine Weise (als das im Fragen Befragte) ,vor-gefunden‘ hat. Fragen können auch herabsetzende Kritik, Einwände, Anklagen, Vorwürfe enthalten oder Geständnisse erzwingen wollen. Achten wir beispielsweise auf eine im Tonfall des Vorwurfes lautstark vorgebrachte Frage: ,Warum tust du das schon wieder?!‘ Genau genommen wird in diesem Vorwurf etwas behauptet, nämlich, dass für dieses Tun ein Grund weder in Frage kommt noch besteht. Eine Antwort, welche die Warum-Frage begründet, wird nicht erwartet, allenfalls nicht völlig ausgeschlossen. Eine echte Frage liegt jedenfalls nicht vor.4 Es zeigt sich also, dass Satzarten ineinander übergehen können. Mit einer Frage kann man einen tadelnden Ausruf oder eine Forderung tarnen, zum Beispiel: ,Man wird ja wohl noch fragen dürfen, oder?!‘ Bis zu einem gewissen Grad lässt sich das Fragen willkürlich vom Zaun brechen. Ohne ernsthaft zu fragen, lassen sich Fragen dadurch (er)stellen, dass man konstatierende Aussagen (formal) in Fragesätze umwandelt. Wünscht man eine 4 Vgl. dazu B. Bettelheim, Ein Leben für Kinder, 92–102: Die Frage »Warum?«.
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bereits vorgefasste Meinung beim Gesprächspartner zur Anerkennung zu bringen oder sein Interesse zu wecken, ohne eine Antwort zu provozieren, so fragt man ,rhetorisch‘. Was Grammatik irreführend als ,rhetorische‘ Frage bezeichnet, bedarf meist keiner ausdrücklichen Beantwortung und dient dazu, den Gesprächspartner zur Anerkennung einer Behauptung, die ein Urteil enthält, zu bewegen.5 Im akademischen Betrieb fragt man oft nur, weil das methodisch geordnete Fragestellen, das Darlegen der Problematik von Streitfragen (Problemen) und Lösen der Probleme etwa durch In-Erfahrung-Bringen nun einmal fraglos zum Wissenschaftsbetrieb gehören. Die Problementwürfe (Fragestellungen, die ein Informationsvorhaben hinsichtlich eines Sachverhaltes aussagen) erscheinen dann als echte Fragen. Ja Kinder, denen das Fragen im aufbrechenden Fragesturm nicht als Dummheit verboten wurde, lernen es rasch, sich mit dem Stellen uneigentlicher (nebensächlicher, unwichtiger) Fragen wichtig zu machen, wenn sie bemerken, dass sie dadurch bewundert werden. Auch kann man durch geschicktes Fragen, das hinsichtlich der Teilnahme nicht ehrlich und ernst sein muss, eine Konversation in Gang bringen. Was nach dem bisher Gesagten das Fragen als solches im eigentlichen Sinne problematisch oder gar zur Scheinfrage macht (die semantisch durchaus sinnvoll sein kann), erkennen wir, wenn wir die Fragehaltung mitberücksichtigen. Insofern wir wahrhaft, eigentlich, ernsthaft und ursprünglich Fragende sind, können wir uns selbst nicht distanziert aus dem Fragen heraushalten und außerhalb des Fragens aufhalten, und zwar schon deswegen nicht, weil das uns eigene Verhalten und Verhältnis zum Gefragten sowie zu dem, was wir befragen, zum Befragten, also zur befragten und gefragten Wahrheit, die Eigentlichkeit, Ernsthaftigkeit und Ursprünglichkeit des Fragens gehören. Zum Gefüge des Fragens einer Frage gehört nicht nur das Befragte, Gefragte und Erfragte, sondern das Fragen als eine Weise, wie wir anwesend sein können (Seinsweise), wenn wir uns aus bestimmten Interessen, Grundhaltungen und -stimmungen zu dem verhalten, was in Frage kommen soll oder mag. Solches Sichverhalten, das sich durchaus nicht aus dem Fragen heraushält, kann unangemessen oder nicht sein, ja es kann das rechte Fragen und damit das Verhältnis zur Wahrheit beirren. Das Fragen gilt als Suchverhalten nach Verständnis, Erkenntnis und Wissen. Im fragenden Suchen geht es dem Dasein um es selbst, d.h. es waltet eine bestimmte Sorge um das Dasein als Umsicht und Vor(aus)sicht mit der Absicht, im Erkennen Erkanntes zu erschließen, nämlich ein konkretes Feld des Seins, der Sachverhalte in der Welt. Im Fragen – und sei es noch so nebensächlich – ist das Dasein seinem Sein 5 J. Walther, Logik der Fragen, 27, 51.
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(Anwesen) nach immer mitbeteiligt. Das Fragen ist so eine Möglichkeit, sich selbst (und das heißt auch frei und verantwortlich) aus dem Sein zum Sein zu verhalten. Wie sich diese Sorge um wahre Erkenntnis und Wahrheit des Seins vollzieht, kann verschieden und mitunter völlig entwurzelt sein. So ist man im neugierigen Fragen von »der Sorge um erkannte Erkenntnis« umgetrieben.6 Solche Neugierde gibt sich den Anschein, jedes und alles erkennen zu können, und ist als ungezügeltes, gieriges Verlangen nach Befriedigung ein Suchtverhalten. Ein Suchtverhalten ist der Versuch, das eigene Selbst im anderen und über das andere seiner selbst expansiv zu konstituieren. Die Neugierde bestimmt die mediale Welt ,unterhaltender‘ Wissensvermittlung ebenso wie diese von jener ,unterhalten‘ und gefesselt ist. Die neugierige Fragehaltung ist nicht vom ,Inter-esse‘ bestimmt, insofern dieses uns heißt, »unter und zwischen den Sachen sein, mitten in einer Sache stehen und bei ihr bleiben«.7 So gesehen (!) ist die Neugierde, wie schon gezeigt wurde,8 insofern nicht unproblematisch als ,theoretische Neugier‘ rehabilitierbar, als sie dem Ausweichen des Daseins vor der Annahme des eigenen Seinkönnens entspringt. Sie kann als Erscheinungsweise und Symptom des Mangels an Sorgetragen um den wesenhaften Bezug zur Wahrheit des eigenen Selbst verstanden werden. In ihr verflüchtigt sich der Mut, ursprünglichem und ernsthaftem Fragen standzuhalten. Für die Vorbahnung der philosophischen Anfangsfrage ist es wichtig, die Eigenart des inquisitorischen sowie des zweifelnden Fragens besonders im Hinblick auf die Fragehaltung zu verdeutlichen, um einer Verwechslung mit dem ursprünglich existenziellen Fragen (3.1.3) vorzubeugen. Das (nach Art eines strengen Untersuchungsrichters) untersuchende und inquisitorische Fragen erzwingt seine Antwort im Kontrollrahmen des bisherigen Selbstverständnisses oder will seine Annahme, die es der Wirklichkeit (als Hypothese) unterstellt, empirisch bestätigt oder falsifiziert wissen. Fragen heißt dann festlegen, dass und was wir in Erfahrung bringen und wissen wollen. Mag dieses (provisorische) Sicherstellenwollen von Wissensentwürfen und Sichbemächtigenwollen von ,Wirklichkeit‘ noch mit Hilfe eines eigentlichen und echten Fragens vor sich gehen – ein ursprüngliches Fragen ist es nicht, weil es von vornherein das in der Selbst-, Mitseins- und Welterfahrung uns ursprünglich Widerfahrende bloß vom forschenden Subjekt her und auf dessen Entwurf hin fraglos festlegt, um selbstsicher über ein bestimmtes Wissen zu verfügen, und weiter: weil die Primärerfahrung, sich selbst vorgegeben zu sein (mitsamt allen Möglichkeiten des Vernehmens, der Vernunft) niedergehalten wird, kann die 6 Vgl. hierzu M. Heidegger, GA, Bd. 17: Einführung in die phänomenologische Forschung, 126 f. 7 M. Heidegger, GA, Bd. 8: Was heißt Denken?, 6 f. 8 Siehe oben 1. Kap. 1.2.3.
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endgültige Unüberholbarkeit der Fragwürdigkeit des Wissensentwurfs mitsamt dem entwerfenden und fragenkönnenden Subjekt nicht mehr selbst in Frage kommen. Verwandt mit dem untersuchenden Fragen ist das von der Suche nach zweifelsfreier Gewissheit (für mich selbst sowie meiner selbst) geleitete bezweifelnde Fragen, das eher ein vorsichtiges Schwanken zwischen Sein und Nichts, Wahr- und Falschsein, Wissen und Nichtwissen ist, und zwar solange keine klare, deutliche, entschiedene und beständige Scheidung Gewissheit möglich macht. Hier wird Fraglichkeit fälschlich mit Ungewissheit und Fraglosigkeit mit Gewissheit gleichgesetzt, als ob Ungewissheit nicht fraglos lähmend, verunsichernd oder Fragen erst weckend und Gewissheit nicht echt erstaunlich und fragwürdig sein könnte. Das angebliche Fragen besagt hier ein In-Zweifel-Ziehen des unmittelbar als selbstverständlich Gegebenen, und zwar als Sprachhandlung des Subjekts, das in Frage stellt, das heißt, sich selbst als das maßgebende Woher (radix) der Fraglichkeit setzt. Eine solche angeblich radikale Fragehaltung lässt nichts unbefragt stehen, kann nirgends haltmachen, löst alle Voraussetzungen auf, kommt naturgemäß in keiner Antwort zur Ruhe, ja muss sich in Frage stellen, ohne allerdings je das ideale Ziel absoluter Voraussetzungslosigkeit erreichen zu können. Ohne Aussicht auf Erfüllung dieses Postulats der Voraussetzungslosigkeit muss sich dieses ,Frageverhalten‘ schließlich mit der im Zweifel (an sich selbst) entdeckbaren Gewissheit, dass alles in Schwebe bleibt, begnügen. Alles kann dann ,in Frage gestellt‘ werden und fraglos im Zweifel als unhaltbar und ungewiss versinken. Das Fragen dient hier dem Zweifel, aber ein solches Bezweifeln ist kein Fragen, zumindest kein echtes, eigentliches und wahrhaftes. Ein solcherart angeblich radikales (richtiger: radikalistisches) Fragen verwechselt Wahrheit mit Fraglosigkeit. Es kann keine Antwort als unabschließbaren, weiteren Fragens würdigen Durchgang und Wegweiser zu je immer größerer Wahrheit verstehen; es verdeckt sich aus der Haltung des Habenwollens von Gewissheit die ursprünglich und bleibende Fraglichkeit allen Daseins; es kann nicht in Offenheit für das Gegebene dieses als ,Vor-gegebenes‘ bereitwillig hin- und in Empfang nehmen; es kann sich nicht der Unergründlichkeit des Vorfraglichen, das allein zu denken gibt und uns nach ihm fragen lässt, verdanken. Mit dem Gesagten soll die Sinnhaftigkeit und Berechtigung eines vernünftigen Zweifels (dubium prudens) nicht bestritten werden. Eine Phänomenologie ursprünglicher Erfahrung wird methodisch auf den Zweifel nicht verzichten können, wenn es um die Suspendierung, das vorläufige Außer-Leitung-Stellen, Einklammern und Hinterfragen von fraglos und selbstverständlich gewordenen Vormeinungen, Vorurteilen oder Theorien geht, und zwar um der Zurückführung auf das an ihm
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selbst sich als wesenhaft Zeigende willen und um der Selbstzusage der Sache selbst ,ent-sprechend‘ Raum zu geben. Die so genannte skeptische Epoché (als methodischer Schritt auf dem Wege zur ,phänomenologischen Reduktion‘ auf die Sache selbst) meint nur eine solche Übung der zweifelnd-fragenden Zurückhaltung gegenüber vorgefassten Urteilen, Werturteilen, Idealen, Voreingenommenheiten, ja auch Grundhaltungen, Vorlieben und Vorzugsstimmungen, denn diese Weisen eines geschichtlich gewordenen Vorverständnisses (der zum Erkenntnisapriori aufgerückte modus receptionis) sollen ja nicht beseitigt werden. Nicht sollen kompetente Autoritäten pietätlos gestürzt werden, sondern im Gegenteil, der Boden soll erst vorbereitet werden, um solche kritisch, im Sinne des unterscheidenden Hervorhebens und Auszeichnens in ihrem Sachbezug, als diejenigen Gesprächspartner zu ermitteln, denen es um dieselbe Sache zu tun ist. Es wäre ein unhaltbares Vorurteil, das einem paranoiden Selbst- und Weltuntergangsszenarium nahekäme, wollte man von einem voraussetzungslosen Anfang des Denkens, das mit allem Tabula rasa gemacht hat, von einem Nullpunkt an Verständnis ausgehen. Der philosophischen Tradition sowie unserer Erfahrung und Einsicht soll ja als einem Gewesenen nicht undankbar die läuternde, vernünftig klärende Zukunft verweigert werden, sondern nur ihrer fraglosen Fixierung (als ob es eine ungeschichtliche, zukunftslose Voraus-Setzung wäre) wird die Zustimmung vorenthalten (die »Seinsthesis«, wie Husserl sagt); vielmehr soll das bereits Verstandene mitsamt den fertig abgeschlossenen Antworten in ein lebendiges Verstehen zurückgenommen werden, in ein Sichverhalten, das nichts und nicht voraussetzt, weil es von vornherein im (unergründlich-abgründigen) Offenen des auf uns Zukommenden sich aufhält, offen dafür, dass uns die bleibende Fragwürdigkeit im Verständnis unseres Selbst-, Mit- und In-der-Welt-seins angesichts des uns (je neu von ihm selbst her) Widerfahrenden aufgeht. Was immer von ihm selbst her sich ,gibt‘, ist nicht mehr durch zweifelndes Fragen abzuschirmen, sondern aus der zu erringenden Grundhaltung der Gelassenheit (aktiv) sein zu lassen und als solches der Frage würdig. Das Gesagte entwertet aber nicht die Fragehaltung des In-Frage-Stellens und fragenden Sichvorstelligmachens. Diese schränkt zwar (methodisch) das Phänomen der Fraglichkeit ein, weil sie sich über die ursprüngliche Erfahrung und Erfahrbarkeit stellt, das Sichgebenlassen des Anwesenden in seinem Anwesen verkürzt und so das unüberholbar Neue im Phänomen verstellt; es ist dadurch abkünftig und nicht ursprünglich. Doch mindert das nicht seine relative Berechtigung und Fruchtbarkeit für den Bereich des Seienden (insbesondere in der wissenschaftlichen Forschung). Auch dem Weg ,radikaler‘ Infragestellung durch den Zweifel im Falle vernünftigen Zweifels ist die relative Berechtigung nicht abzusprechen, wenn er auch im
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Sinne einer Vergewisserung des Daseinsganzen in seiner Brüchigkeit und Zwielichtigkeit nicht gangbar ist. Letztere erhebt sich (in Ermangelung ursprünglichen Fragens) fraglos aus der Verhaftung an die Grundstimmung des Misstrauens, eines enttäuschten Vertrauens, das verfehlte Erwartungen der Vertrautheit nicht abstreifen konnte, das sich einem Grund-Vertrauen (man denke an das, was Erik Erikson mit basic trust gemeint hat) verschließt – einem Grundvertrauen nicht im Sinne einer irrational vertrauensseligen und leichtgläubigen Voraussetzung eines Grundes, sondern im Sinne von Antwort auf das grundgebende Phänomen der Fragwürdigkeit von Vorfraglichem. Der Zweifelnde kann in einem ursprünglichen Sinn gar nicht mehr ,radikal‘ fragen: ,Warum zweifle ich, will ich zweifeln? Und warum kann und muss ich an allem Seienden zweifeln?‘ Diese Fragen würden ihm neu aufgehen, in einer anders gestimmten Weise des Fragens, könnte er über das ihm unverfügbar widerfahrende Möglichsein des Zweifelns erstaunt sein.9
3.1.3 Das Vorfragliche und das ursprünglich-existenzielle Fragen
9 Vgl. F. Wiplinger (1962), Warum das Warum?, 353. Mit dieser Unterminierung des Zweifels durch das Staunen ist das Zweifeln nicht bagatellisiert. Den radikal Zweifelnden kann sein Zweifeln so sehr fesseln, dass ihn seine leidenschaftliche Glut in eine Verzweiflung treibt, welche die Tradition des Zenbuddhismus den »großen Zweifel« nennt. In ihm zerbricht jedes sichere Fundament. Der Zweifelnde wird selbst so radikal in Frage gestellt, dass er selbst zum »großen Zweifel« wird. Er stürzt in die Erfahrung bodenloser Nichtigkeit und des Todes, wo alles Zweifeln aufhört. Die durch den »großen Zweifel« entstehende Leere und Weite ist dann der Ort der völligen Umkehr, der Preisgabe der Selbstbehauptung, der Öffnung und Befreiung in radikaler Offenheit für das untergegangene und ihn neu überkommende Universum, das ihm in einem neuen Licht aufgeht. Vgl. hierzu H. Waldenfels, Absolutes Nichts, 87– 91. Auf eine Umkehr in der Fragehaltung, die der im »großen Zweifel« sich ereignenden verwandt ist, wird im Folgenden eingegangen werden.
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Die Totalisierung des untersuchenden und zweifelnden Fragens verdeckt, dass die eigentliche Gebärde des hier nötigen Denkens nicht unbesehen ein Aufgreifen von Fragen sein kann – auch nicht der brennenden Gegenwartsfragen – und schon gar nicht ein (beliebiges) Stellen von Fragen, sondern das Vernehmen dessen ist, was überhaupt in Frage kommen soll, worüber wir nicht verfügen können. Dieses Vernehmen ist ein gesamtmenschliches, denkendes Hören auf die Zusage des zu Denkenden, innerhalb dessen erst Fragen aufkommen oder gestellt werden können. Es muss sich uns irgendwie, allem Fragen zuvor, etwas zugesprochen haben, das uns fragen lässt und auf diese Weise zu denken gibt: ein Vorfragliches, das uns in Anspruch nimmt. Daraus ergibt sich für die Zusammengehörigkeit von Frage und Antwort: Um sachgerecht zu fragen, muss jemand die befragte Sache schon irgendwie kennen
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und sich mit ihr auskennen. Diese Kenntnis des Befragten besagt jedoch nicht, dass das Gefragte schon hinreichend erkannt wäre oder dass es gar im Sinne thematischen Erfasst- und Bestimmthabens bereits so abschließend erkannt wäre, dass zukünftig keine Frage mehr bliebe. Das Vorfragliche geht sachlich und, wie wir aus der kindlichen Entwicklungsgeschichte wissen, auch zeitlich als fragloses Zugänglich- und Erschlossensein sowie als Befragbares und der Frage Würdiges dem Fragen voraus. Unser eigenes Anwesen in der Welt ist keine ,Voraus-setzung‘, die wir machen müssten und in Zweifel ziehen könnten, sondern ein vorgängiges Offenbar- und Erschlossensein, eine Vorgegebenheit nicht bloß vorläufiger Art, sondern eine bleibend aufgegebene. Alles Fragen, auch das radikalste, ja gerade dieses, ist vom Anspruch durch solches betroffen, das fraglos nicht mehr so, sondern anders, ganz anders als erwartet ist, das wir als Unergründliches, Unerkanntes, Unverständliches und Befremdendes usw. kennen, das sich entzieht oder verborgen erscheint: das vorfraglich Gegebene, welches überhaupt das Fraglich- und Fragwürdigsein ermöglicht. Zum Gefüge der Frage gehört das Vorfragliche, insofern es das Befragte ist, denn ein Fragen, das in einer bestimmten Fragehaltung vom Gefragten und Erfragten in Anspruch genommen wird, ist immer von einem Befragten, einem vorfraglich Vorgegebenen, getragen. Machen wir nicht in Wahrheit mit einem Vorfraglichen notwendig den Anfang unseres fragwürdigen Seins und fragenden Denkens? Diese Frage muss mit der Einschränkung bejaht werden, dass dieser Anfang uns nur in der konkreten Fraglichkeit, in der er uns aufgeht und überkommt, als etwas befragbar wird. In dieser Hinsicht kommt weder dem Vorfraglichen noch seiner Fraglichkeit ein Vorrang zu und sie erscheinen uns in gleicher Weise konstitutiv für alles Fragen. Am Anfang unseres denkenden Entwurfs steht daher jedenfalls nicht die Frage, auch nicht die Frage nach der Frage oder nach einem Anfang der Metaphysik oder der Philosophie überhaupt, sondern die Erfahrung dessen, was sich uns von sich her als das ,schlichthin‘ Fragwürdige (das am meisten Fragwürdige) zuspricht und unser Dasein und Denken beansprucht. Wir entsprechen diesem Zuspruch eher in einem horchenden und vernehmenden Denken als in einem (leidenschaftlich, sehnsüchtig) nach Wissen jagenden. Auf diese Erfahrung des Anspruchs der Fragwürdigkeit und auf den Versuch, diesem Zuspruch dankbar zu entsprechen (zu antworten), ist immer wieder zurückzukommen. Sie sind das, wodurch unser Denken dem Vorfraglichen als Ursprung des Fragens entspricht, indem es in das Fragen kommt, ja (gelegentlich) fragender zu werden vermag. Unser Fragen wird umso ursprünglicher und sinnvoller sein, je mehr ihm aufgeht, dass es sich dem der Frage Würdigen verdankt. Wenn von etwas der Frage
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,Würdigem‘ gesprochen wird, so als etwas, das auch außerhalb des Fragens oder anders als durch Fragen zugänglich ist, das eben als ein vor dem Fragen zu Würdigendes erscheint. Das Vorfragliche erschöpft sich nämlich nicht darin, Grund der Fraglichkeit und des Vernehmens von Fraglichkeit zu sein. Das Fragen ist nicht der einzige Zugang zu dem, was phänomenal in seiner Bedeutungsmannigfaltigkeit als Sein oder als Nichts erscheint. Das kann besonders anhand von negativen Beispielen überzeugend gezeigt werden: Erfahrungen von Absurdität oder Widersinnigkeit, dass es mit allem nichts ist, Grauenerregendes, das die Abwehr und den Bemächtigungswillen mobilisiert, oder der hinhaltende Sog unendlicher Langeweile, niederdrückende Depression oder den Weltbezug beengende Angst, Absturz in lähmende Verzweiflung gehören zu den Grunderfahrungen mit Vorfraglichem, in denen einem das Fragen eher vergeht, als dass es aufkommt. Sie entziehen sich so sehr jedem Verständnis, dass einem ein Fragen, das verstehend zu Neuem aufbricht, wegbleibt. Ihre angebliche ,Fraglichkeit‘ oder ,Fragwürdigkeit‘ hat mit der ursprünglichen Erfahrung, dass etwas der Frage Würdiges in Frage kommt, nichts zu tun, sondern hält sich im Bedeutungsumkreis von Brüchigkeit, Zwielichtigkeit, dem Verdacht der Nichtigkeit ausgesetzt, auf, spricht also damit Wertungen, nicht Fragen aus. Die Fraglosigkeit, in der solche negativen Erfahrungen einen überkommen, mindert aber keineswegs ihre alltägliche und philosophische Frag-Würdigkeit (etwa hinsichtlich der unmittelbar seinserschließenden Bedeutung dieser Befindlichkeiten), sondern sie kann auch – statt sie zu beklagen oder anzuklagen und alles ins sogenannte ,Fragliche‘ im Sinne des Brüchigen und Nichtigen hinabzuziehen – therapeutische Bemühungen wecken. Solcherart gibt es auch die alles Unglück und Übel unterminierenden, die beglückenden Erfahrungen wie die Bewährung in Freundschaft und Liebe, uneigennützige Hilfe, erfüllte Hoffnung, das bestrickende Lächeln eines Kindes und den blühenden Kirschbaum …, überhaupt alles der Bewunderung Würdige. Auch hier ist nicht das Fragen das Erste, sondern das fraglos Vor-Gegebene, von dem es sich als einem (im Sichgeben) Gegebenen fragt, ob wir es nicht erst dann angemessen hinnehmen, wenn wir es als Gabe, mit der wir beschenkt werden, verstehen. Alle diese Erfahrungen haben das Eigentümliche, dass sie als einzelne (vor aller abstrakt vergleichenden Verallgemeinerung) das Bedeutungsganze der Welt fraglos verwandeln können, die nun in ein neues Licht oder in undurchdringliche Finsternis getaucht erscheinen kann. Das gibt die Frage auf, ob Gut und Böse, Wahrheit und Betrug, das Schöne und das Grauenhafte nicht gegeneinander aufrechenbar oder gar miteinander versöhnbar sind. Oder stehen sie so lange in einem
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unentschiedenen Gleichgewicht wie wir vergessen, dass wir uns in eigentümlicher Weise mit dem Vermögen begabt und gewürdigt erfahren dürfen, (soweit es an uns liegt) das Gute zu mehren, Sinn zu stiften und das Böse und Schlechte in unserer Menschenwelt zurückzudrängen? Es könnte dann mit Günther Pöltner gesagt werden: »Dass es gut ist zu sein – und nicht nicht zu sein –, dies ist kein Trug, sondern die Wahrheit. Die Wahrheit […], weil sie vor aller Fraglichkeit liegt.«10 Dem Vorfraglichen sind wir also schon am Beginn unserer Überlegungen begegnet, insofern es sich in der Übung der Sammlung als Anwesendes in seinem Anwesen (fraglos im Sinne des Vorfraglichen) erschließt. Und wird es nicht am Ende um das fraglos (am meisten) der Verehrung Würdige (timitatwn) gehen, das deswegen als das der Frage Würdigste in Frage kommt? Es ist hier noch nicht beabsichtigt, auf die bedrängendsten unter den praktischen Fragen philosophischer Theologie (der sogenannten ,Theodizee‘) näher einzugehen. Nur so viel will gesagt sein, dass der primäre und einzige sowie ursprüngliche Zugang zum Vorfraglichen, was immer dieses Vorgegebene in seiner Vorgegebenheit auch sei, nicht das verfügenwollende In-Frage-Stellen sein kann, dessen Position es sich als ,Unverfügbares‘ entziehen muss. Wenn schon ein ursprüngliches Fragen, dann überkommt es mich und geht es mir auf, weil ich mich unter dem überbordenden Anspruch des mir Widerfahrenden nicht mehr mit mir, den Anderen und meiner Welt auskenne, weil mir alles das unverständlich, rätselhaft oder fremd geworden ist. Dafür kann es verschiedenste Anlässe geben, beispielsweise extreme Erfahrungen wie schwere Schuld, Wahnsinn, Leid und Tod oder die Erfahrung einer großen Liebe, eines ungeahnten Glücks, die Geburt dieses Mädchens oder dieses Buben. Da wird mir anders, ich bin wie verwandelt, außer mir (etwa vor Freude), kenne mich überhaupt nicht mehr in meiner Welt aus oder weiß nicht mehr recht, wer ich bin und wer du bist – bis hin zu Erfahrungen äußerster Entfremdung und Depersonalisation. Und auch, wenn wir nicht ins Extrem gehen: Werde ich jemals abschließend und fraglos wissen, wer du bist und wer ich bin? Da brechen die ohne abschließende Antwort bleibenden Fragen auf, die ich in einem untechnischen Sinne die ,philosophischen‘ nennen möchte: Warum bin ich, wie ich bin? Warum bin ich gerade diese/r hier und heute, statt anderswo und zu einer anderen Zeit zu sein? Warum bin ich nicht ein Anderer oder eine Andere? Warum bin ich überhaupt, statt nicht zu sein? Die Frage, ,warum ich Ich bin, ja überhaupt bin, statt nicht zu sein‘, mag sich in alle Höhen, Tiefen und Breiten des Daseins fortsetzen, aber eine Antwort auf 10 G. Pöltner (1972a), Schönheit, 194.
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diese Frage gibt es aus meinem unmittelbaren Sein nicht, auch nicht durch meine Eltern, denn dieselbe Frage trifft auch sie; und aus dem Werden des Kosmos kommt erst recht keine Antwort, zumal das Bedeutungsganze der Welt selbst in das ,Warum‘ stürzen kann. Aber auch du selbst kannst mir zur Frage werden: Ist es nicht erstaunlich und absolut unbegreiflich, dass du überhaupt bist und dass du du selbst bist, statt nicht zu sein? Oder anders – wohl dieselbe Warum-Frage, wenn mich ein schweres Unglück trifft: Warum gerade mich? Wäre ich nicht, träfe es mich nicht! Warum muss ich überhaupt sein, statt nicht zu sein? Stelle da ich die Frage und bestimme da ich, was das zu Erfragende ist, oder kommt mir das Fragen, weil ich am Ende selbst im Ganzen meines Menschseins und meiner Welt in Frage gestellt bin? Das klassische Beispiel für diese das Daseinsganze umfassende Frageerfahrung findet sich in Augustins ,Confessiones‘, die ja überdies ein einzigartiges Dokument fragenden Denkens sind. Was Augustin anlässlich der Erfahrung des frühen Todes seines liebsten Jugendfreundes durchgemacht hat, berichtet er Jahre danach: »Vom Schmerz darüber ward es finster in meinem Herzen, und was ich ansah, war alles nur Tod […]. Alles, was ich gemeinsam mit ihm erlebt hatte, war ohne ihn verkehrt zu grenzenloser Pein. Überall suchten ihn meine Augen, und er zeigte sich nicht. Und ich haßte alles [die ganze Welt], weil es ihn nicht barg und nichts von allem mir noch sagen konnte: ,Sieh, bald kommt er‘, so wie es ehemals gewesen, wenn er eine Weile nicht zugegen war. Ich war mir selbst zur großen Frage geworden ( factus eram ipse mihi magna quaestio), und ich nahm meine Seele ins Verhör, warum sie traurig sei und mich so sehr verstöre, und sie wußte mir nichts zu sagen.«11 Augustinus begegnet dem Tod als endgültiger Trennung von dem, den wir lieben. Dieser Tod eines Nahestehenden, der geradezu symbiotisch geliebt wurde (»eine Seele in zwei Leibern«12 ), veranlasst zwar ein ,Vorlaufen‘ zum eigenen Tod (diesen cursus ad mortem der Sterblichen13 ), unterscheidet sich aber von der (vorweggenommenen) Eigentoderfahrung, der man den Fremdtod entgegenstellt, der einen existenziell kaum betrifft. Eigentoderfahrungen haben nicht dieselbe Ursprünglichkeit wie die Todeserfahrung von einander Liebenden. Sie mag sich in der bangen Frage ,Wer von uns geht zuerst?‘ ankündigen oder wie hier bei Augustinus plötzlich mit aller Härte hereinbrechen. Im Todesereignis ist dann die im Füreinanderdasein gemeinsam gelebte Welt mitten entzweigerissen. Die mit dem Freund geteilte Welt, wie sie in einem selbst (im Herzen) und in ihm ist, ist es, die untergeht und in den Tod 11 Augustinus, conf., lib. 4, c. 4, 9. 12 A.a.O., c. 6, 11. 13 Augustinus, civ., lib. 13, c. 10.
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hineingerissen wird; daher bleibt dem Hinterbliebenen nichts als Schmerz, Bitterkeit und Trauer, überall nur unerträglich sich aufdrängende und auf alles ausbreitende Anwesenheit seiner unwiederbringlichen Abwesenheit. Der Aufschrei verzweifelter Gegenwehr und maßloser Aufruhr, die nicht wahrhaben wollen, was ist und was nicht ist, weil dieser Tod doch ganz und gar nicht sein dürfte, verkehren ihm die Welt in eine verhasste. Gegensätzlichste Affekte, Überdruss am Leben, weil er ohne seinen Freund ist, und Angst vor dem alles verschlingenden Tod belasten ihn. Dass die eigene Welt im Einander-Sichverstehen einem fremd, vernichtet und zur Todes-Welt wird, das kann doch nicht sein und ist völlig unfasslich. Wie ist dieser Widerspruch, diese Unmöglichkeit möglich, dieser Einsturz der Lebenswelt in die Todeswelt und dieser Einbruch der Todeswelt in die Lebenswelt? Augustinus spricht nicht nur von Fragen, die er hat, sondern er ist sich selbst völlig fraglos und ungefragt zur »großen Frage« geworden und damit in einen Wirrwarr von neuen Fragen gestürzt, die ihn umtreiben. In der ersten Unmittelbarkeit zum Tod, der wie ein Blitz aus heiterem Himmel einschlägt, gibt es keine Antwort etwa auf die Frage, warum er so traurig und verstört sei. Was Augustinus da gegensätzlich widerfährt, erfasst er als ihm Auferlegtes, das er durchzumachen und auszutragen hat. So steht er unter dem Anspruch, eine verlorene Welt zu ,rekonstruieren‘, sie menschlich durchzustehen und umfassend zu verstehen. Ursprüngliche Fragen brauchen ihre Zeit, um ausgetragen, ausgestanden und verstanden zu werden. Aus dem Verwundertsein, dieser Gestalt des Staunens eines in seinem Selbstund Weltverhältnis zutiefst Verwundeten und in seiner Erwartung völlig Enttäuschten, erwächst angesichts der fragwürdig gewordenen Lebenswelt die Frage, warum überhaupt Leben und warum nicht eher nichts, nichts als nur Tod? »Ich wunderte mich (mirabar), daß die übrigen Sterblichen noch lebten, da doch er, den ich geliebt hatte, als könnte er nie sterben, gestorben war, und mehr noch wunderte ich mich, daß ich selbst, da ich doch ein zweiter Er gewesen (quia ille alter eram), noch lebte, nun, da er tot war.«14 Und so erfährt er das eigene Menschsein, ja die mit dem Anderen untergehende gemeinsame Welt des Sichverstehens auf Sein und Nichtsein, in Frage gestellt. Das ist kein akademisches oder wissenschaftliches InFrage-Stellen mehr, sondern erlaubt nur ein existenzielles Weiterfragen. Dieses ,Sich-selbst-zur-Frage-geworden-sein‘ im Hinblick auf Leben und Tod, Sein und Nichtsein, ist nicht zu verwechseln mit der Frage von William Shakespeares Hamlet: To be or not to be. That is the question! Diese ist hier zwar eine Frage auf Leben und Tod, aber die Frage gewöhnlich nur, wo es um Leben oder Tod, um 14 Augustinus, conf., lib. 4, c. 6, 11.
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15 M. Heidegger, GA, Bd. 55: Heraklit, 276: Die Metaphysik fragt, wie es mit dem Seienden hinsichtlich seines Seins steht, aber nicht nach dem Wesen des Seins, nach dem Walten seiner Wahrheit in Abhebung gegen das Nichtsein und das Nichts: »Die Frage nach dem Sein selbst und nach dem Nichts reicht allerdings unendlich tiefer, d.h. in wesensmäßig andere Bereiche, als die Frage nach ,Sein oder Nichtsein‘ […] aus Shakespeares Hamlet […].«
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»Fortbestand oder Vernichtung des menschlichen Lebens« geht,15 also um das nackte Überleben des unmittelbar vom Tod bedrohten Menschen, wobei in unangefochtener Fraglosigkeit vorausgesetzt wird, dass es besser ist zu sein (und daher sich selbst zu behaupten) als nicht zu sein. Fragen wie ,Warum bin ich Ich selbst und warum nicht nur Nicht-Ich, warum bist du Du selbst und warum nicht Nicht-Du‘ sind keine ontischen kategorialen oder kausalen, die wir auf unsere ontische Vorgeschichte zurückführen könnten. Stellen wir sie jedoch radikal, dann wird unsere gesamte Mit- und Umwelt samt ihrer Vorgeschichte in sie einbezogen und sie weitet sich aus zur Grundfrage, ,warum überhaupt Seiendes ist und nicht nichts‘. Doch ist im Namen eines radikalen Personalismus ein anfängliches Fragen, das mindestens den Anschein erweckt, von einem bloß Es-haften Seienden ,ohne Antlitz‘ oder neutralen Sein auszugehen, als inhumaner und apersonaler Denkansatz denunzierbar. Unterbiete ich mit einem anonymen Sein nicht von vornherein deine und meine Fragwürdigkeit? Würde ein solches Denken, das sich im Horizont der Mitteilbarkeit an Personen vor möglichen ,Hörern des Wortes‘ – hier sind es Leser – entfaltet, nicht seiner dialogischen Ursituation widersprechen: ein Widerspruch zwischen Ausgesagtem (anonymem Sein) und Vollzug (dialogischem Sein)? Diese Überlegung ist von höchster Brisanz, weil sie darüber entscheidet, ob mit der Frage nach dem Menschen bzw. dem Denken des personalen Anderen statt wie meist traditionell mit dem Seinsverständnis (fundamentaler Ontologie) der Anfang in der Philosophie gemacht werden darf und auch soll. Seiendes jedoch, das bist auch du selbst und das bin ich selbst. Seiende sind wir alle. Die Frage ,Warum überhaupt Seiendes …‘ ist nur die auf alles Seiende, sei es personales oder apersonales Sein, ausgeweitete existenzielle und persönliche Frage, um deren Seinsverständnis es in der Ontologie geht. Personales Sein kann doch nicht seiner Fragwürdigkeit entzogenes Sein darstellen. Mit dieser Frage ist daher kein von vornherein inhuman-apersonaler Anfang gemacht, weil sie das ,personale Sein‘ zur Gänze mit einschließt: mich und dich, also den Seienden oder die Seiende, und zwar als die weit ausholend füreinander und für die Begegnung mit jeglichem Seienden im Offenen seines Anwesens selber Fragenden. An die Ontologie muss jedoch kritisch die Frage gestellt werden, ob nicht ihr Seinsverständnis (ganz im Widerspruch zu dieser Beteuerung) noch von abstrakt nivellierender Art ist, oder
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ob es auch (als fundamentale Ontologie) dieses Ausmaß an offener Weite und leibhaftiger Konkretion besitzt, die das personale Sein als Mit- und Füreinandersein unverkürzt (integer) sein lässt.
3.2 Die Grundfrage der Ontologie 16
Dritter Exkurs
Miteinander in der Welt zu sein, statt nicht zu sein, versetzt dich selbst (aus deiner Welt mir gegenüber), mich selbst (aus meiner Welt dir gegenüber) und uns (in Teilhabe an derselben Welt füreinander) in eine Nichtselbstverständlichkeit und Unverständlichkeit unseres Weltaufenthaltes, in der uns alles zur ,großen Frage‘ wird. Diese gibt uns nicht nur Was-Fragen auf, wie ,Was ist das so Unbegreifliche, ja bei noch so großer Vertrautheit je immer mehr Befremdliche, das da geschieht?‘ oder Dass-Fragen wie ,Dass es so etwas gibt, grenzt das nicht ans Unglaubliche!?‘. Fragen dieser Art können noch weithin unbedacht und unbeantwortet sein und schon in den Strudel der radikaleren Warum-Fragen gezogen werden oder aus ihm auftauchen: Es ist nicht einzusehen, warum ich gerade ich selbst und warum du gerade du selbst sein musst oder sein darfst? Warum sind nicht Andere an unserer Stelle? Und warum sind wir nicht nicht? Durch diese Fragen belästigt oder in staunender Empfänglichkeit entrückt, oder wie auch immer, können sie sich, wie wir schon gesehen haben, universell ausweiten und ziehen dann die ganze Welt (alles, was ist: das Seiende im Ganzen als solches) mit hinein: Warum ist und gibt es überhaupt etwas und warum ist nicht nichts, gar nichts, nicht etwas? Das ist die Frage. Und mit ihr ist die Fragwürdigkeit des Daseinsganzen auf das Höchste gesteigert, weil im Dasein ausdrücklich zum Durchbruch gekommen. Dem niemals zur Gänze ausschöpfbaren Reichtum an Fraglichkeit des Daseinsganzen verdanken wir geschichtlich verschiedene Fassungen und stimmungsmäßig miterschlossene Verständnisweisen der Frage. Mit einigen unter ihnen sei das Gespräch aufgenommen. Leibniz hat diese Frage in der Form »Warum gibt es eher (plustôt) irgendeine Sache als nichts?« nur beiläufig und erst spät, zwei Jahre vor seinem Tod, gestellt, und zwar als Ableitung aus dem ,großen Prinzip‘ (Grand Principe) seiner Metaphysik vom hinreichenden Grund, das sein Denken von Anfang an bewegt 16 Zum ganzen Folgenden richtungsweisend M. Heidegger, GA, Bd. 9: Wegmarken, Was ist Metaphysik?, 103–122, Zur Seinsfrage, 417 ff.; ders., GA, Bd. 40: Einführung in die Metaphysik, 1–39: »Die Grundfrage der Metaphysik«; ders., Bd. 66: Besinnung, »XXI. Die metaphysische Warumfrage (Übergangsfrage)«, 265–277; vgl. ferner K. Jaspers, Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, 406–414 (Leibniz, Kant, Schelling).
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17 Vgl. G. W. Leibniz in: Philosophische Schriften, Bd. 1: Kleine Schriften zur Metaphysik, die Notizen aus 1676: »Nihil est sine causa, quia nihil est sine omnibus ad existendum requisitis« (6), sowie die 1714 verfasste Einführung in sein System: Les principes de la nature et de la grâce fondés en raison. Hier die Frage: Pourquoy il y a plustôt quelque chose que rien? (nr. 7, 426 f.) 18 Ebd. 19 A.a.O., Bd. 3/2: Nouveaux Essais sur l’Entendement humain, lib. IV, c. 10, § 3, 430 f. 20 Vgl. a.a.O., § 1. 21 A.a.O., in Bd. 1: Kleine Schriften zur Metaphysik, Les principes de la nature et de la grâce, nr. 7, 426 f.; vgl. auch Monadologie, nr. 32, 452 f.: Es kann sich »keine Tatsache als wahr oder existierend, keine Aussage als wahr herausstellen […], ohne dass es einen zureichenden Grund (raison suffisante) dafür gäbe, warum es sich so und nicht anders verhält«. 22 Vgl. a.a.O., Les principes de la nature et de la grâce, nr. 8, 426 f.
Dritter Exkurs
hat.17 Jedes Seiende hat seinen Grund, wobei Grund (raison) sowohl Ursache als auch rationale (sinnvolle) Begründbarkeit bezeichnet. Wenn daher »nichts ohne hinreichenden Grund geschieht«, dann ist dieses »Nichts (le rien) einfacher und leichter [zu denken?] als irgendeine Sache (chose)«,18 denn ein absolutes Nichts ist ohne Grund und entzieht sich jeder Begründung und aus ihm kann nichts werden: »Kraft einer Erkenntnis durch einfache Anschauung wissen wir auch, dass das reine Nichts (le pur neant) ein wirkliches Wesen (un Estre reel) nicht erzeugen kann. Woraus mit mathematischer Evidenz folgt, dass von aller Ewigkeit her etwas (quelque chose) existiert hat, weil alles, was einen Anfang hat, von etwas anderem erzeugt worden sein muss.«19 So einfach und leichtverständlich erscheint Leibniz diese durch die Vernunft zu beweisende Wahrheit.20 Wenn nun irgendeine Sache (res) ist, dann ist es unmöglich, dass absolut nichts ist, dann muss Seiendes (Sein) sein, und zwar ist es mit (ihm eigener?) Notwendigkeit. Das Sein schließt das Nichts mit Notwendigkeit aus. »Angenommen, die Dinge müssen existieren, so muss man darüber hinaus den Grund angeben können, warum sie so existieren müssen, [und warum] nicht anders.« 21 Das Prinzip vom hinreichenden Grund ist es erst, das Leibniz ausdrücklich auf die weitere Frage bringt, warum es eher (plustôt) irgendeine Sache gibt als nichts. Warum existiert vielmehr (lieber) etwas und nicht nichts? Aber warum die kontingenten Dinge nicht nicht sind, die eher so oder anders da sind, als dass sie nicht sind, die eher überhaupt existieren und so existieren, wie sie existieren, als dass sie überhaupt nicht sind, das erfordert notwendigerweise einen »zureichenden Grund, der keines anderen Grundes mehr bedarf«.22 Dieser findet sich außerhalb (hors) der Reihe kontingenter Gründe und ist eine sich selbst verursachende Substanz bzw. ein notwendiges Seiendes (Etre necessaire), das der Grund seiner Existenz ist. Dieses begründet die Welt als die vollkommenste und beste aller tatsächlich schaffbaren Welten.
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Leibniz legt das Prinzip vom zureichenden Grund, das ihn auf die Grundfrage führt (oder diese in apodiktischer Form vorwegnimmt), als metaphysische Voraussetzung jedes Gottesbeweises frei. Das Prinzip, »ohne das man nicht zum Beweis des Daseins Gottes gelangen könnte«,23 gehört so in den Zusammenhang seiner Gottesbeweise, dass wir, wenn wir überhaupt einen Gottesbeweis führen wollen, ohne dieses Prinzip nicht auskommen können. Im Anschluss an Leibniz findet dann bei Christian Wolff das Prinzip vom hinreichenden Grund (nunmehr als durch die Grundfrage erfragtes Prinzip) Eingang in seine weit verbreitete systematische Ontologie: »Nichts ist ohne hinreichenden Grund, warum es eher sei, als nicht sei.«24 Was es denn phänomenal heißt, dass etwas von sich selbst her eher (= vielmehr, lieber: potius) ist, als dass es nicht ist, müsste geklärt sein, um überhaupt nach so etwas wie nach einem Grund fragen zu können. Dass es ihm im Überschwang seiner Fülle um es selbst geht, ist in einem positiven Sinn etwas ungeheuer Abgründiges, das uns noch zu denken geben wird. Auch Schelling ist in seiner Spätphilosophie auf die bekannte Grundfrage zurückgekommen, aber sein Zugang zu ihr ist ein anderer, ein vorphilosophischexistenzieller: Bei aller vergeblichen Mühe und Arbeit erscheint sich der Mensch »selbst das Unbegreiflichste« in der Welt zu sein, was ihn voller Verzweiflung zur »letzten« und »allgemeinsten« Frage treibt: »warum ist überhaupt etwas? warum ist nicht nichts?«25 Ohne jede Bevorzugung des in Frage Gestellten und des allein fragen könnenden Menschen wird die Frage nach dem Seienden als solchem ausdrücklich als Doppelfrage gefragt, die freilich auf den Menschen zurückfällt. Es droht hier alles in einer großen Verzweiflung in den »Abgrund eines bodenlosen Nichts« zu versinken, aus dem die Frage einen Ausweg suchen soll, denn sie stellt die Grundforderung, das Seiende als Gegründetes (in der Mächtigkeit unbedingter Potenzialität) zu begreifen. Die Grundfrage entzündet sich nicht am vorgefassten Leitfaden eines ontologischen Prinzips, am Satz vom Grund, sondern sie enthüllt sich als die Wesensbestimmung der Philosophie. Philosophie (als Philosophie der Offenbarung) ist vernünftige Ausarbeitung der Grundfrage, weil sie ihre ,letzte‘ und ,allgemeinste‘ sowie ihre erste und sie eröffnende, anfängliche Frage ist. 23 G. W. Leibniz, Die philosophischen Schriften, Bd. 7, 419, Leibniz’ fünftes Schreiben an Clarke: »J’ose dire que sans ce grand Principe [celuy du besoin d’une Raison suffisante], on ne sauroit venir à la preuve de l’existence de Dieu […].« 24 Chr. Wolff, Gesammelte Werke, Abt. 2, Bd. 3: Philosophia prima sive ontologia, §§ 70–71: Nihil est sine ratione sufficiente, cur potius sit, quam non sit. 25 Schellings Werke, Ergänzungsbd. 6: Philosophie der Offenbarung, 7 f., vgl. 242. Vgl. zur kritischen Erörterung der Grundfrage bei Schelling auch G. Pöltner (1983), Der Gottesbegriff beim späten Schelling.
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Wieder in eine völlig andere, vom ,Leben‘ bewegte Richtung weist Henri Bergson. Unser Dasein kann im Erstaunen als Wunder und als »Sieg über das Nichtsein« erscheinen. »Eigentlich, so sage ich mir, könnte, ja müsste überhaupt nichts da sein, und staune nun, dass etwas ist«, als wäre das leere Nichts »der Ursprung des ganzen Wunders«.26 Nach Bergson rührt die Unruhe der Frage daher, dass wir das Nichtsein wie ein Gebiet ansehen, auf dem das Sein erst nachträglich seine Eroberungen macht, etwa wie eine Unterlage oder Leinwand, der das Dasein eingestickt wird. Man meint irrtümlich, zuerst könnte, ja müsste nichts sein, und wundert sich dann, dass etwas da ist und nicht statt seiner das Nichts, Leere, die Abwesenheit von allem schlechthin. Zu Recht hält Bergson diesen Begriff des absoluten Nichtseins, wonach überhaupt nichts existiert, für einen spekulativen Pseudobegriff, der sich aus der Verdinglichung eines im gewohnten Handeln gespürten Mangels, dass etwas noch nicht existiere, sowie aus einer dem Handeln entsprechenden negativen Begriffsbildung herleitet. Noch dazu sei ein weiterhin existierendes Subjekt, dessen Gegenstand das ,absolute Nichts‘ ist, undenkbar. Damit erübrige sich für ihn die Grundfrage. Vollziehbar sei, dass etwas ist, nicht aber, dass absolut nichts ist. Aber ein durch Verneinung der Allheit des Seienden gewonnenes imaginäres Nichts ist kein Argument gegen die Grunderfahrung des Nichts, die Bergson angesprochen hat. Doch insofern sich im Phänomen des Nichts das Sein zu erfahren gibt, erfährt der Mensch mit Heidegger auf der Spur Bergsons »das Wunder aller Wunder: dass Seiendes ist«.27 Die Grundfrage lässt sich nicht abschieben, sie kann »in einem Jubel des Herzens« wieder auftauchen, »weil hier alle Dinge verwandelt und wie erstmalig um uns sind, gleich als könnten wir eher fassen, dass sie nicht sind, als dass sie sind«.28 Hier wird das Sichbefinden des Menschen im Ganzen des Seienden (= »alle Dinge«) in einzigartiger Weise unmittelbar eröffnet und damit das Fragen der Grundfrage möglich. Dasselbe kann auch in der Freude am Anwesen eines geliebten Menschen geschehen: »Eine andere Möglichkeit solcher Offenbarung [des Seienden im Ganzen] birgt die Freude an der Gegenwart des Daseins – nicht der bloßen Person [als ein seiendes Aktzentrums] – eines geliebten
26 H. Bergson, Schöpferische Entwicklung, 277–297, hier 278. 27 M. Heidegger, GA, Bd. 9: Wegmarken, »Nachwort zu: ,Was ist Metaphysik?‘«, 307. 28 M. Heidegger, GA, Bd. 40: Einführung in die Metaphysik (1929), 3. Vgl. dazu auch M. Scheler, Gesammelte Werke, Bd. 5: Vom Ewigen im Menschen (11920, 21922), 92–99, der die »eminente Positivität des Inhalts der Einsicht, dass überhaupt Etwas ist und nicht lieber Nichts«, als Erste in der »Ordnung der fundamentalsten Evidenzen« sowie als »Gegenstand der intensivsten und letzten philosophischen Verwunderung« hervorgehoben hat. (93) 29 M. Heidegger, GA, Bd. 9: Wegmarken, »Was ist Metaphysik?«, 110.
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Menschen.«29 In der Liebe (und übrigens auf seine Weise auch in der therapeuti-
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schen Heilkunst) versammelt sich im Dasein das Ganze, das Gewesensein wie das Zukünftigsein, und vermag in die Fragwürdigkeit aufzubrechen. Anders als im Staunen und Jubel oder in Verzweiflung und Daseinsangst (Hineingehaltensein in das Nichts der Todeserfahrung) kann nach Heidegger die Grundfrage auch in der tiefen Langeweile, in der ,es einem langweilig ist‘, auftauchen. In ihr dehnt sich die leere, nicht durch Ereignisse gefüllte Zeit. Ausgeliefert an das Offene der »Zeithorizonte« und auf diese Weise an das Ganze des Seienden, wo alles gleich viel und gleich wenig gilt, findet sich das Dasein hingehalten und leer gelassen.30 Wo »die hartnäckige Gewöhnlichkeit des Seienden eine Öde ausbreitet«, mag sich die Frage erheben: ,Gleichgültig, ob das Seiende ist oder nicht ist, warum dann eigentlich, warum dann überhaupt …?‘ Heidegger ist dieser Frage, die er für die Grundfrage der Metaphysik hält, erstmals ausführlicher nachgegangen. Jedoch erblickte er in ihr eine »Übergangsfrage«, eine Frage im Übergang zur in ihr mitgefragten Seinsfrage.31 Diese lautet nun: »Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?«32 Hier ist mit Bedacht »Nichts« großgeschrieben. Gegenüber Leibniz und Schelling, die »nach der obersten Ursache aller seienden Sachen«33 als »der ersten seienden Ursache für alles Seiende«34 fragen, hat sich bei Heidegger die Frage gewandelt. Nicht mehr ,Warum ist vielmehr (eher, lieber) Seiendes denn nichts?‘ ist die Frage, sondern ihr Schwergewicht hat sich auf ,Warum ist nicht vielmehr Nichts?‘ verlagert. »Gefragt ist jetzt: woran liegt es, dass überall nur das Seiende den Vorrang hat, dass nicht eher das Nicht des Seienden, ,dieses Nichts‘, d.h. das Sein hinsichtlich seines [zeitwörtlich verstandenen] Wesens bedacht wird?«35
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3.2.1 Erörterung der Grundfrage Als Grundfrage, welche in die Metaphysik im Übergang zum Denken des Seins einführen soll, wird die Grundfrage von Heidegger als die rangmäßig erste aller Fragen aufgewiesen. Sie ist das nicht in der Ordnung der zeitlichen Aufeinanderfolge 30 M. Heidegger, GA, Bd. 29/30: Die Grundbegriffe der Metaphysik, 199–249. 31 M. Heidegger, GA, Bd. 66: Besinnung, »XXI. Die metaphysische Warumfrage (Übergangsfrage)«, 265–277. 32 Vgl. zum ganzen Folgenden M. Heidegger, GA, Bd. 9: Wegmarken, Was ist Metaphysik?, 103– 122; Nachwort zu ,Was ist Metaphysik?‘ 303–312; Einleitung zu ,Was ist Metaphysik?‘, 365–383, und vor allem ders., GA, Bd. 40: Einführung in die Metaphysik, 1–39. 33 M. Heidegger, GA, Bd. 9: Wegmarken, Einleitung zu ,Was ist Metaphysik?‘, 382. 34 A.a.O., Zur Seinsfrage, 420. 35 Ebd.
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der Fragen, sei es im Aufbrechen des kindlichen Fragesturms, wo die Warum-Frage später kommt als die Was-Frage, oder innerhalb der Geschichte der Philosophie, wo es den Anschein hat, dass diese Frage erst gestellt werden konnte, nachdem ihr die biblische Lehre von der Schöpfung aus dem Nichts vorausgegangen war.36 Auch wenn nur wenige diese Grundfrage ausdrücklich (explizit) zustande bringen und eigens fragen, geht diese Frage jede und jeden einmal an: etwa durch sie flüchtig gestreift oder hart belästigt, kaum erfasst (implizit) oder auch verdrängt, abgewehrt oder als Scheinfrage oder Scheinproblem tabuisiert. Mir scheint, dass uns diese Frage ganz alltäglich bewegt, etwa wenn wir nicht nur gewohnheitsmäßig, sondern teilnahmsvoll fragen: ,Wie geht es dir?‘ Das heißt ,Wie befindest du dich bei dir selbst, mit den Anderen, bei den Dingen? Wie findest du dich stimmungsmäßig vor, d.h. wie bist du dir unmittelbar offenbar als dasjenige Seiende, das du selbst bist in deinem Sein?‘ Das besagt unausgesprochen, es muss ja nicht so gehen, wie es geht, es könnte anders, ja ganz anders gehen, schlechter oder auch besser, ja es könnte gar nicht mehr gehen – geht es uns auf diese Weise doch untergründig um unser Sein zum Tode, um das sich die Sorge bewegt. Man kann unangenehme Stimmungen, die solches hochkommen lassen, verleugnen und darauf empfindlich reagieren. Oder die Erkundigung wird abgeblockt, wir wollen nicht daran erinnert werden und versichern lautstark, es gehe uns gut, alles sei in Ordnung. Mindestens kann in diesem Fragwürdigwerden menschlicher Existenz ein Anlass zu ausdrücklicherem Fragen liegen.
Die Grundfrage erweist sich als die erste Frage dem Range nach vor allem deswegen, weil sie die weiteste und die tiefste ist. Die Frage ist die weiteste, weil sie am weitesten ausgreift und alles, was überhaupt ist, umgreift.37 Dabei ist nicht zu vergessen: Wir sind im Zuge der Ausweitung der uns als Menschen existenziell betreffenden Grundfrage auf diese Frage nach dem Ganzen gekommen, weil wir uns in der Zugehörigkeit zum Ganzen oder durch dieses in Frage gestellt erfahren. Wir befragen also nicht (mehr) eigens dieses oder jenes da und auch nicht der Reihe nach alles Seiende, indem wir etwa die Bereiche ihrer Entstehung nach durchgehen (Kosmogenese, Geogenese, Biogenese, Anthropogenese, Noogenese), sondern was uns in seiner Fragwürdigkeit überkommt, ist von vornherein überhaupt alles Seiende. Wir fragen nach allem in einem, und mit allem Seienden ist jedes einzelne 36 Dazu kritisch A. Zimmermann, Die »Grundfrage« in der Metaphysik des Mittelalters, 141 ff. 37 M. Heidegger, GA, Bd. 9: Wegmarken, Was ist Metaphysik?, 4.
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a) Die Frage nach dem Ganzen und dem Grund als rangmäßig erste Frage
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Dritter Exkurs
Seiende mit in die Fragwürdigkeit gezogen. Aber Seiendes begegnet uns immer nur aus dem Ganzen (in der Welt), damit ist in jedem Seienden das Ganze fragwürdig und erst recht das Seiende im Ganzen als solches. Nicht nur das Ganze der Seienden in ihrer Mannigfaltigkeit zusammengenommen, sondern das Seiende im Ganzen, insoweit es seiend bzw. Seiendes ist, kommt in Frage. Fragen wir nach Grenzen dieses weitest ausholenden Fragens, so ist nichts von dem, was überhaupt ist, auszulassen. Das Ganze des Seienden schließt alles ein, was immer ist, nicht nur Gegenwärtiges, sondern auch vormals Gewesenes und zukünftig Seiendes. Die Grundfrage ist von so unüberholbarer Weite, dass alles, was nur nicht nicht ist, in ihren Bereich fällt. Somit hat sie an dem, was schlechthin nicht oder nie ein Seiendes ist, an diesem ,Nichts‘, ihre Grenze. Heidegger geht hier noch weiter: Am Ende fällt sogar das Nichts selbst in die Frage, »nicht deshalb, weil es Etwas, ein Seiendes, ist, da wir doch von ihm reden, sondern weil es das Nichts ,ist‘«.38 Fragen wir doch, »warum nicht Nichts ist«. Keineswegs steht das hinsichtlich seines ,Warum‘ (als Woraufhin der Frage) befragte Seiende im Ganzen zunächst einmal als ein Vorfragliches unbefragt fest, und dann wird ihm die Grundfrage äußerlich hinzugefügt. Vielmehr wandelt sich das Verständnis für das Ganze aus den verschiedenen Erfahrungen seines Gründens und Begründetseins. Das Befragte rückt voll und ganz in den Bezug zum Grund. Sein Verständnis muss für den Rückstoß der Antwort auf das Wesenhafte dieser Frage, das heißt, auf das wie auch immer verstandene Grundhafte, offen bleiben.39 Gefragt wird: Warum ist überhaupt Seiendes …? Warum, das heißt, welches ist der Grund?, und zwar in dreifacher Hinsicht gefragt: Aus welchem Grund kommt das Seiende (Herkunft, Hervorgang, Anfang, Ursprung)? Auf welchem Grund steht und geht das Seiende (Tragendes, Bauendes, Haltendes, Umgreifendes)? Zu welchem Grund geht das Seiende (Zukunft, Ausgang, Vollendung, Erreichtes, Untergang)? Inwiefern ist das Grundhafte eröffnet – jenes Grundhafte, das ,west‘, indem es schon gründet, d.h. Seiendes als solches sein lässt? Die Grundfrage fragt nicht partikulär nach diesem oder jenem Grund bei Seienden an, sondern universell nach dem Grund. Der am weitesten ausgreifenden Frage kann nur der tiefste Grund entsprechen. Wird das nicht beachtet, dann kann es zu fatalen Verwechslungen des universellen Grundes mit einem partikulären Grund (Bereichsgrund) kommen. Im Fragen nach dem Grund eröffnet sich 38 M. Heidegger, GA, Bd. 40: Einführung in die Metaphysik, 4. 39 Als Beispiel sei verwiesen auf die verschiedenen Möglichkeiten der Auslegung des Seienden im Ganzen bzw. des All-Einen (n p1nta) bei Heraklit, vgl. M. Heidegger, GA, Bd. 55: Heraklit, 242–266.
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der Bezug zum Seienden im Ganzen und damit zu allem und jeglichem Seienden. Grund und Ganzes gehören zusammen. Im Grund ist der Bezug zum Ganzen des Seienden eröffnet. Wir verstehen nur das, wofür wir den Grund kennen, und in dem Maß, als wir ihn kennenlernen und um ihn wissen. Das Ganze ist nur aus dem Äußersten seiner Grundhaftigkeit, der Grund nur im Begründen des Ganzen zu verstehen, das er sein lässt, durchragt, das in ihm ,ent-halten‘, gewahrt und entfaltet ist. Zwischen dem Ganzen und seinem Grund besteht ein Entsprechungsverhältnis: Je tiefer das Fundament, desto tragfähiger; je höher der Berg, desto aussichtsreicher. Je tiefer der Grund, desto umfassender das begründete Ganze. Das Ganze des Seienden ist überhaupt erst vom letzten Grund her ,wahr-zu-nehmen‘, der selber nicht mehr (iterativ) zu begründen ist.40 Das Fragen nach dem Grund kann sich als Suchen, Fordern, Voraussetzen verstehen; überkommt einen hingegen die Fragwürdigkeit des Ganzen, so entspricht dem ein Eingehen auf das Kommen des Grundgebenden, ein Sich-geben-Lassen und Übernehmen des Grundes: ein Sichgründen. Die dem Grund entsprechende denkende Entgegennahme des Grundes heißt Ergründen. Sie bringt das Ganze auf den Grund und baut auf ihn, das heißt sie begründet. Aber gerade hier steht alles auf dem Spiel, denn wie es um den Grund steht (mit dem Grundhaften des Grundes) und wie es mit ihm geht, das bleibt dem Fragen offen. Entspricht die Idee des Grundes einer Vorstellung, die sich aus einem höheren Bedürfnis herleitet, das mit der Gewissheit rechnen will, ein letztes, unzerstörbares Fundament zu haben? Dieses metaphysische Bedürfnis kompensiert die Unsicherheit und Unheimlichkeit der Erfahrung von Grund- und Bodenlosigkeit des eigenen Daseins. Analog zur ontotheologischen Idee des Höchstdenkbaren kann der Gedanke an einen Grund durch Idealisierung mühelos im Superlativ als Letztgrund angesetzt werden. Es kann daher keinesfalls von vornherein als ausgemacht gelten, dass der Grund ein wahrhaft gründender ist, ein Gegründetes hervorbringender Urgrund. Die ,Idee‘ eines Grundes samt ihrer ideologiekritischen Aufklärung muss auf den Boden unhintergehbarer Phänomenalität zurückgebracht werden. Diese Erscheinungsmannigfaltigkeit ist nun zu sichten. Erweckt der Grund einen beirrenden Anschein von Gründung und ist er so ein Ungrund? Enthüllt sich in diesem Grund nicht der Abgrund der Grundlosigkeit (im Sinne eines Mangels oder bodenloser Leere, Absurdität) – ein Misston für den gesunden Menschenverstand? Oder versagt der Abgrund nur die übereilte Gründung, insofern er sich dem suchenden Fragen entzieht, weil er Grund ist, 40 Vgl. L. Gabriel (1953), Einführung in indisches Denken, XI ff.
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der immer wieder in die Tiefe zurückweicht, die doch Grund (innige Weite) hat? Oder ist der Urgrund ,Ur-grund‘, weil er wahrhaft gründender Grund ist, und ,Urgrund‘, weil er selbst grundlos ist – grundlos aber nicht im Sinne eines Mangels oder Ausbleibens von Gegründetheit, sondern in abgründiger Gegründetheit die Überfülle des in sich Gegründetseins gewährend, die erfüllte Tiefe seines Grundseins unerschöpflich bergend, offenbarend und mitteilend? Die WarumFrage geht nur dann, wenn in ihr nach dem Grund von allem gefragt wird, in eine letzte Tiefe. Woher, woraus, wodurch, woraufhin ist das Ganze des Seienden und warum nicht nicht? Radikal nach dem Ganzen fragen heißt, der Wurzel des Ganzen nachgehen, ihm an die radix, die Wurzel, gehen. Doch weder die Wurzel (in der Einzahl) noch ein Rhizom (Wurzelwerk) wird gesucht, sondern das Verwurzeltsein im Wurzelgrund. Und hier gilt: Die Grundfrage ist nur »als die weiteste […] zugleich unter den tiefsten Fragen die tiefste«.41
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b) Die Grundfrage eröffnet der Philosophie den Anfang Unsere vorläufige Auskunft über Philosophie und ihre Grundfrage hat Philosophie bestimmt als den Versuch einer Besinnung auf das Ganze des Seienden im Bezug zum ersten, tiefsten und letzten Grund eben dieses Ganzen. Mit Heidegger ist hier noch ein Schritt weiter zu gehen, der sagt: »Das Fragen dieser Frage ist das Philosophieren.«42 In der Grundfrage fragen wir nach dem Ganzen und dem Grund. Das ist vermutlich die Frage, die der Philosophie ihren Anfang freigibt, d.h. sie im Ganzen eröffnet und auf ihren tragenden Boden bringt, aber nicht die Frage nach ihrem Beginn. Im Unterschied dazu bezeichnet der Beginn des Philosophierens nur verschiedene Weisen, wie philosophische Themen angeschnitten werden. Zu fragen ist also, ob die Grundfrage die Frage ist, welche solcherart das Philosophieren eröffnet. Womit soll die Philosophie anfangen? Diese Frage ist schon eine Frage der Philosophie, denn wir können nicht nach dem Anfang der Philosophie fragen, wenn wir nicht schon um Philosophie wissen und philosophisch fragen. Allein, vollziehen wir, was das Philosophieren anfangen heißt, zutiefst bewegt, von Fragen überwältigt? Oder ist uns das schon selbstverständlich geworden, sodass wir nur für sachlich später kommende Fragen etwas übrig haben, etwa nach dem methodischen Beginn oder nach dem Anfang der Philosophie als Wissenschaft? Die rangmäßig erste Frage kann nicht voraussetzen, was Philosophie (Erste Philosophie, Metaphysik, 41 M. Heidegger, GA, Bd. 40: Einführung in die Metaphysik, 5. 42 A.a.O., 14.
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Ontologie usw.) ist, und lauten: »Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich?« Nach Kant ist Metaphysik einfach »als gegeben anzusehen«, und zwar »als Naturanlage (metaphysica naturalis) wirklich«.43 Doch wie sollte nach der Bedingung der Möglichkeit ihrer Erkenntnis gefragt werden, wenn über die Art ihrer Erkenntnis bzw. ihres Gegenstandsbereiches, der bei Kant noch dazu als übersinnlich, dem reinen Vernunftvermögen entwachsen, vorausgesetzt wird, zu Recht kein Konsens mehr besteht? Müssen wir nicht im schlichten Rückgang auf das leibhaftige Anwesen in der Mit- und Umwelt (die unverkürzte »Naturanlage«) dieses selbstverständlich Gewordene als ,Selbst-Verständnis‘ erst erwecken? Das heißt, Philosophie muss in ihrem phänomenal gegebenen Anfang selber erst jeweils neu entdeckt werden. Wie aber entdeckt sie sich selber? Ist, um dies zu erfahren, nicht zu fragen, welche Frage zu ihr führt? Muss sie nicht mit der weitesten unter den weiten und der tiefsten unter den tiefen Fragen anfangen? Und ist dies nicht die Grundfrage: Warum ist überhaupt Seiendes? Und warum ist nicht nichts? Philosophie entdeckt sich in diesem Fragen als Philosophie. Kommen wir in diesem Fragen zur Philosophie und fängt die Philosophie also mit dem Seienden im Ganzen und dem Grund (Sinn von Sein) an,44 dann ist vermutlich die Grundfrage der Philosophie und die Grundfrage der Ontologie als der Ersten Philosophie dieselbe. Dass im Beginn der Ontologie sich das Wesen der Philosophie selbst enthüllt, weist uns darauf hin, dass in der Ontologie zu Recht der systematische Anfang der Philosophie als Erster Philosophie (prima philosophia) liegt. Doch stehen dem aus der philosophischen Theologie kommende Bedenken entgegen. Wurde von einer Zusammengehörigkeit von Grund und Ganzem gesprochen, so fragt sich, aus welcher Weise des Sichverhaltens wir für sie zugänglich sind. Hier ist zu vermeiden, dass im Gang zum Grund die Wege alternativ, widersprüchlich werden, wenn entweder von der Welt der Sinneserfahrung oder von der übersinnlichen Welt (der Vernunft bzw. transzendentalen Egologie) ausgegangen wird – zwei nachträglich isolierte Konstrukte. Auch ein schlechter Kompromiss führt hier nicht recht weiter. Was den Horizont des Ganzen in der ihm zugehörigen Tiefe unverkürzt freizugeben
differenzierte Bewährung durch eine Auseinandersetzung oder Einbeziehung anderer partikulärer Anliegen des Philosophierens steht hier aus, wie beispielsweise Liebe zur Weisheit statt Streben nach ihr, Einübung in den Tod, Lebens- und Existenzphilosophie, Wissen um ein gutes Leben und die glückliche Lebensführung, Begründung der Erfahrungswelt, Transzendentalphilosophie, Wissenschaftswissenschaft, Ideologiekritik, Motivanalyse der Diskurse mit Wahrheitsanspruch, Dekonstruktion der Metaphysikruinen oder besser: anfängliches Fragen nach ihren Anfangsgründen.
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43 Kant, KrV, Einleitung, B 21 f. 44 Dass hier nur ein grober Vorbegriff von Philosophie geboten wird, versteht sich von selbst. Seine
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vermag, ist – wie schon in der Propädeutik der Philosophie phänomenologisch herausgearbeitet wurde – der Rückgang in die leibhaftige, gesammelte Weise unseres Anwesens als Mitmenschen im Horizont der offenen Weite der Welt und ihrer Tiefe.
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c) Zum Versagen der Gründlichkeit der Grundfrage in der Metaphysik Das Versagen der Gründlichkeit meint nicht nur einen Mangel an Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit im Denken. Gründlich ist ein Fragen, das, indem es auf den Grund geht, das Fragen nicht vorschnell oder kurzschlüssig für beantwortet hält und abbricht, sondern den Grund in seiner vollen Fragwürdigkeit hervortreten lässt. Gefragt wird in der Grundfrage weder nach seienden Ursachen noch nach Bereichsgründen für das Seiende im Ganzen. Die Grundfrage (als Frage nach dem Seienden im Ganzen als einem solchen) kann selbst nicht wieder durch eine Ursache (oder Ursachen) beantwortet werden, die von der gleichen Art ist und auf der gleichen Ebene liegt wie die anderen Seienden. Ähnliches gilt für einen bestimmten Bereich innerhalb des Seienden im Ganzen.45 Schon gar nicht ist eine erste und letzte Wirkursache in der zeitlichen Reihe der Ursachen gesucht, da ja jedes mögliche Ganze des Zusammenhanges von Ursache und Wirkung (sei es endlich oder endlos vorgestellt) selber noch in der Frage ,Warum ist nicht überhaupt nichts?‘ steht. Die Grundfrage konnte und kann, ausgehend von seienden Wirkursachen, zu Recht als ein Scheinproblem erwiesen werden bzw. als unsachgemäße Frage erscheinen. Zwar ist jede seiende Ursache ein Grund, aber das gilt umgekehrt nicht in gleicher Weise, denn nicht jeder Grund ist eine Ursache und zudem ist nicht jede Ursache eine Wirkursache. Das gilt sogar im Bereich des Ontischen, beispielsweise verursacht die Fläche nicht die Farbe, aber sie gibt ihr Grund. Nach Heidegger 46 ist die Grundfrage auch nicht eigentlich gefragt, wenn man die Frage unter Berufung auf Sätze der biblischen Offenbarung (d. h. doch: an der Erfahrung der biblischen Offenbarung vorbei im Sinne eines bloßen Satzoder Buchstabenglaubens!) beantwortet ,glaubt‘: »Das Seiende, soweit es nicht Gott selbst ist, ist durch diesen geschaffen. Gott selbst ,ist‘ als der ungeschaffene Schöpfer.« Der fraglos als vorhanden vorgestellte Schöpfer im Sinne des höchsten Seienden hat also alles andere Seiende geschaffen, und darum ist es. Als in christlicher Theologie und Philosophie ,geglaubter‘ Satz stammt er bereits aus einer Übernahme der (einer?) griechischen Metaphysiktradition, die das Seiende 45 Auf die Abwegigkeit der Rückführung des Ganzen des Seienden als solchem auf bestimmte Bereichsbestimmungen (Materie, Leben, Geist, Idee, Wille usw.) und auf die ideologiekritische Bedeutung der Ontologie ist hier noch nicht einzugehen. Siehe unten 3.3.5. 46 M. Heidegger, GA, Bd. 40: Einführung in die Metaphysik, 8 f.
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als Seiendes im Allgemeinen und als Höchstes sich bloß vorstellt, aber »von der Erfahrung des Seins durch ihr eigenes Wesen ausgeschlossen« ist. Der geglaubte Satz (»Buchstabe«, der tötet) als Antwort »kann überhaupt keine Antwort auf unsere [Grund-]Frage darstellen, weil er auf diese Frage keinen Bezug hat. Er hat keinen Bezug darauf, weil er einen solchen darauf gar nicht nehmen kann.« Eine solche Philosophie wäre aus der Erfahrung des ursprünglich christlichen Glaubens heraus nach 1 Kor 1,20 eine Torheit, weil sie nichts als verschlagene ,Weisheit‘ (bzw. Ideologie) ist, wie sie der widergöttlichen Menschenwelt entspricht. Wenn Heidegger lapidar erklärt, was in der Grundfrage »eigentlich gefragt wird, ist für den Glauben eine Torheit«, so geht daraus nicht hervor, ob er nicht etwa meint, was in der Grundfrage der Metaphysik (und ihrer philosophischen Theologie) als bloß vorgestellter und postulierter Grund gesucht wird, stelle sich für eine theologische Theologie zu Recht als Torheit heraus. Das könnte dann nicht mehr für ein eigentliches Verstehen der Grundfrage als Übergangsfrage zum Seinsverständnis gesagt werden.47 Wie dem auch sei, ob und wie die monotheistischen Religionen in ihren Theologien die Grundfrage abweisen oder vielmehr von ihr als einer allgemein menschlichen Möglichkeit des Fragens mit in Atem gehalten werden, können sie nur selbst entscheiden. Hier steht jedoch diese Möglichkeit des Fragens als das ihnen eigene philosophische Vorverständnis (zu dem sie sehr wohl einen Bezug nehmen müssten) und nicht der Schöpfungsglaube als religiöser Glaube zur Diskussion. Mittelalterliche Denker haben die Grundfrage, die nur selten wörtlich gestellt wurde, überwiegend für eine Scheinfrage gehalten.48 Dieses Ergebnis war kaum eine Folge ihres christlichen Glaubensverständnisses, sondern vielmehr ihres abstrakten Verständnisses des Seienden. Umfasst das Seiende als solches und im Ganzen gemeinsam das endliche (geschaffene) und das unendliche (ungeschaffene) Seiende, also Gott und die Welt, dann ist es unlogisch und widerspruchsvoll, nach einem Grund (principium) oder nach Ursachen dieses Ganzen zu fragen, die ja selbst wiederum nur Seiende und im bereits vorgefassten Ganzen enthalten wären. Für die geschaffenen Seienden hingegen hielt man die Grundfrage durch die Annahme der Grund- bzw. Ursachelosigkeit Gottes für abschließend beantwortet, wenn nicht dem Nichtwissen um Gott das Übergewicht zugestanden wurde. Beispielsweise sagt der einflussreiche Siger von Brabant: »Wenn man die Gesamtheit alles Seienden zum Gegenstand der Frage macht, warum es in ihr überhaupt etwas gibt 47 Auf Heideggers Problematisierung des Schöpfungsverständnisses soll im Nachfolgeband eingegangen werden. 48 Vgl. A. Zimmermann, Die »Grundfrage« in der Metaphysik des Mittelalters.
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und nicht vielmehr nichts, so kann man keine Ursache dafür angeben; denn diese Frage ist mit der Frage identisch, warum überhaupt Gott und nicht vielmehr nichts ist. Für Gottes Dasein aber gibt es keine Ursache. […] Demgemäß hat also nicht jede Frage ein Erfragtes und nicht jedes Seiende eine Ursache.«49 Die Grundfrage ist also gegenstandslos, weil Gott ohne Ursache ist. Ein Zeugnis eines philosophischen Plädoyers aus der neueren philosophischen Theologie für die abschließende Beantwortbarkeit der Grundfrage durch das Schöpfungsprinzip formuliert Caspar Nink in gewohnter Klarheit: »Beim kontingent Daseienden geht […] das Nichtdasein dem Dasein voraus, und bei ihm ist zu fragen: Warum existiert es?, während es auch nicht existieren könnte. Bei Gott dagegen lässt sich nicht sinnvoll fragen: Warum existiert er und nicht vielmehr nichts? Die Existenz ist ihm wesensnotwendig und deshalb nicht von ihm trennbar. Daher ist das völlige oder absolute Nichts innerlich unmöglich. Das Warum ist mit dem Begriff des Seienden gegeben, das absolute Nichts hat weder einen Grund, noch kann es Seinsgrund sein.«50 Gewiss kann ein absolutes Nichts weder Grund noch Seinsgrund sein, denn aus diesem als absolut vorgestellten Nichts kann nichts entstehen und nichts entstanden sein. Man kann mit Thomas von Aquin sagen: »Wenn [einmal] nichts Seiendes war, dann war es auch unmöglich, dass etwas zu sein anfing, und auf diese Weise wäre [immer nur] nichts, was offenbar falsch ist.«51 Oder man versteht hier den bekannten Grundsatz »Aus nichts wird nichts« als Abwandlung des Prinzips vom zureichenden Grund und damit auch als Entfaltung der Grundfrage. Gewiss ist auch die WarumFrage mit dem Seienden aufgeworfen, wodurch erst fragwürdig wird: Wenn Seiendes mit (einer gewissen) Notwendigkeit ist, warum dann nicht überhaupt nichts? Aber abgesehen davon, dass es problematisch ist, die Alternative ,kontingentes oder notwendiges Sein‘ einfach auf Geschöpf und Schöpfer zu übertragen,52 bleibt jede Art von subjektbezogen-entworfener göttlicher Notwendigkeit stets fragwürdig: Warum und wie ist Gott die Existenz so wesensnotwendig, dass ihm ein absolutes Nichts innerlich unmöglich ist? Der erstaunliche (zur Frage motivierende) Quell 49 Siger von Brabant, Quaestiones in Metaphysicam, IV, ed. A. Graiff, Philosophes Médiévaux, Bd. 1, Löwen 1948, 185: Si vero quaeratur de tota universitate entium, quare magis est in eis aliquid quam nihil, non contingit dare causam, quia idem est quaerere hoc et quaerere quare magis est deus quam non est, et hoc non habet causam. […] Unde non omnis quaestio habet causam nec etiam omne ens. (Text und Übersetzung nach A. Zimmermann, a.a.O., 148). 50 C. Nink, Philosophische Gotteslehre, 167 f. 51 Thomas von Aquin, Sth I, q. 2, a. 3. Dazu vgl. die Reflexion zur legitimen Denkbarkeit des »absoluten Nichts« bei J. Schmidt, Philosophische Theologie, 132–138. 52 Vgl. dazu vom Verf. (1997c), Der dritte Weg des Thomas von Aquin – ein Kontingenzbeweis?, in: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Bd. 2, 279–303.
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der (seiner) Notwendigkeit ist niemals etwas ins Wissen Aufhebbares, keine endgültig beantwortete Frage, solange wir ihn aus dem Grundgeschehen des Daseins selbst schöpfen dürfen, um mystagogisch auf ihn zu verweisen, statt ihn aus einer vorher gefassten Gottesidee zu rekonstruieren. Kant hat bekanntlich die spekulative Beantwortbarkeit der radikalen WarumFrage, die sich eines absolut notwendigen Seienden versichern will, problematisiert. Dagegen ist für ihn der Satz vom Grund ohne Ausnahme in Geltung, und zwar als Erkenntnisbedingung eingeschränkt auf die Erfahrung der Dinge in der linearen Abfolge der Zeitmomente, aber keineswegs für Gott als Ding an sich.53 Darüber hinaus anerkennt er einen bloß spekulativ, d.h. ohne Sinneserfahrung gefassten Vernunftbegriff von Gott als die Idee vom All der ,Realität‘ (im Sinne von Sachgehalt, nicht Wirklichkeit!), dessen Existenznotwendigkeit er jedoch auf dem Weg der theoretischen Vernunft, die nicht auf die menschliche Praxis eingeht, für nicht erweisbar hält. Könnte man sie beweisen, so hätte man zu allem Warum das Darum. Weil überhaupt etwas ist und nicht nichts, muss etwas vorhanden sein, dessen Nichtsein absolut unmöglich ist, und das nicht (wiederum) durch irgendetwas bedingt ist, also ein absolut notwendiges Seiendes: »Die unbedingte Notwendigkeit, die wir, als den letzten Träger aller Dinge, so unentbehrlich bedürfen, ist der wahre Abgrund für die menschliche Vernunft. Selbst die Ewigkeit, so schauderhaft erhaben sie auch ein Haller schildern mag, macht lange den schwindelichten Eindruck nicht auf das Gemüt; denn sie mißt nur die Dauer der Dinge, aber trägt sie nicht. Man kann sich des Gedankens nicht erwehren, man kann ihn auch nicht ertragen: daß ein Wesen [d.h. vorhandenes Seiendes], welches wir uns auch als das höchste unter allen möglichen vorstellen, gleichsam zu sich selbst sage: Ich bin von Ewigkeit zu Ewigkeit, außer mir ist nichts, ohne das, was bloß durch meinen Willen etwas ist; aber woher bin ich denn? Hier sinkt alles unter uns, und die größte Vollkommenheit, wie die kleinste, schwebt ohne Haltung bloß vor der spekulativen Vernunft, der es nichts kostet, die eine [Vollkommenheit] so wie die andere ohne die mindeste Hindernis verschwinden zu lassen.«54 Mit dem Begriff des absolut notwendigen Wesens (ens necessarium) tut sich der Vernunft der unendliche Abgrund des absoluten Nichts auf. Auf die ,billigste‘ Weise lässt man alles, was ist, Gott und die Welt, durch einen bloßen Gedanken in das absolute Nichts verschwinden. Dieser »wahre Abgrund« ist ärger als eine Ewigkeitsdarstellung, die Schaudern statt Scheu, Schwindel statt erhabene Festigkeit hervorruft. Wäre der 53 Kant, KrV, B 246, sowie in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 8: 213, Anm. 54 Kant, KrV, B 641.
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Satz vom Grund und mit ihm die Grundfrage radikal stellbar, dann müsste man – Kant tut es nur fiktiv – Gott unterstellen, dass er sich selbst diese Frage stellt, was im Sinne einer reductio ad absurdum die Sinnlosigkeit dieses Vorgehens erweist. In Absetzung von Kant suchte der späte Schelling durch die Grundfrage dem ,Abgrund eines bodenlosen Nichts‘ zu entgehen und hat schon früh ihre Beantwortung durch die Notwendigkeit des Seins (als Existieren!) geltend gemacht. Das »Erste in der Philosophie ist die Idee des Absoluten«, in dem Wissender (Bejahendes) und Gewusstes (Bejahtes) dasselbe sind; durch sie »erkennen wir, dass nicht nichts ist, sondern dass nothwendig und ewig das All ist«.55 Die Idee Gottes ist Selbstbejahung Gottes durch sich selbst, die wir als Licht unserer Vernunft begreifen: »Jenes absolute Licht, die Idee Gottes, schlägt gleichsam ein in die Vernunft, und leuchtet in ihr fort als eine ewige Affirmation von Erkenntniß. Kraft dieser Affirmation, die das Wesen unserer Seele ist, erkennen wir, dass das Nichtseyn ewig unmöglich und niemals zu erkennen noch zu begreifen ist, und jene letzte Frage des am Abgrund der Unendlichkeit schwindelnden Verstandes, die Frage: warum ist nicht nichts, warum ist etwas überhaupt? – diese Frage ist auf ewig verdrungen durch die Erkenntniß, dass das Seyn nothwendig ist, d.h. durch jene absolute Affirmation des Seyns in der Erkenntniß. Die absolute Position der Idee Gottes ist in der That nichts anderes als die absolute Negation des Nichts, und so gewiß die Vernunft ewig das Nichts negirt, und das Nichts nichts ist, so gewiß affirmiert sie das All, und so ewig ist Gott.«56 Wir haben also in einer Art Vorgriff auf die Idee des Absoluten als Ermöglichungsbedingung unserer Erkenntnis eine abschließende Antwort auf die Grundfrage. Diese wird zurückgestoßen (bzw. der Fragepunkt verschoben: mutatio elenchi) durch die Erkenntnis, dass, wenn nicht nichts ist, Nichtsein unmöglich und Sein (von sich selbst her) notwendig ist: »Auf die Frage, die der am Abgrund der Unendlichkeit schwindelnde Verstand aufwirft: Warum ist nicht nichts, warum ist überhaupt etwas? ist nicht das Etwas, sondern nur das All oder Gott die vollgültige Antwort. Das All ist dasjenige, dem es schlechthin unmöglich ist nicht zu seyn, wie das Nichts, dem es schlechthin unmöglich ist zu seyn.«57 Das Fragen der Grundfrage wird durch die vorweggenommene Antwort, dass das Seiende im Ganzen geschaffen ist bzw. dass Sein mit Notwendigkeit das Nichtsein ausschließt, nicht erledigt, abgesehen davon, dass es problematisch ist, Gott in der gewohnten Weise als Seiendes, »das höchste unter allen möglichen« (Kant), und zwar in Analogie zum innerweltlichen Seienden und von daher zu einer inner55 Schellings Werke, Ergänzungsbd. 2: System der gesamten Philosophie, 85 (= SW VI 155). 56 Ebd. 57 Schellings Werke, Bd. 4: Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie, 108 (= SW VII 174).
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weltlichen Ursache universalisiert, zu denken. In der vorweggenommenen Antwort kehrt erst recht hartnäckig und geheimnisvoll die Grundfrage wieder: Wie steht es mit der Grundhaftigkeit Gottes? Warum ist er? Und warum kann er nicht nicht sein? Oder könnte er es? Ist noch ein Grund außerhalb seiner oder ist er sich selber Grund (a nullo)? Wie ist er grundloser Grund (principium sine principio, ϑeß 2narcß): ,grundlos‘, ohne Anfang? Abgründig, aber abgründig in sich gegründet? Ist nicht die Grundlosigkeit Gottes das, was die Grundfrage uns zuletzt oder, umgekehrt, was uns zuletzt die Grundfrage aufgibt? Oder ist es Anmaßung, so zu fragen? Mag auch die Schöpfungstheologie der Offenbarungsreligionen ohne (unmittelbaren und direkten) Bezug auf die Grundfrage sein, so wird doch die philosophische Theologie voll und zur Gänze in die Fraglichkeit dieser Frage einbezogen werden müssen: »Und was ,die‘ philosophische Frage nach dem Warum von Seiendem überhaupt betrifft, so bekommt sie doch erst, durch Offenbarung und Glauben weniger beschwichtigt als vielmehr entfacht, ihre äußerste Schärfe und Dringlichkeit angesichts des ganz und gar ,grundlosen‘ göttlichen Seins.«58 Wenn überhaupt – und das ist ja erst die Frage, ob und wie von Gott gesprochen werden kann –, ist uns die Grundlosigkeit der Göttlichkeit Gottes aber nur in ihrer Unergründlichkeit 59 und als diese eröffnet.60 d) Die Grundfrage ist die Frage aller Fragen 61
58 J. Pieper, Verteidigungsrede für die Philosophie, in: Werke in acht Bänden, Bd. 3, 151, vgl. 149 ff. 59 Dazu vgl. auch S. L. Frank, Das Unergründliche, 60–69. 60 Angesprochen ist hier ein Wissen um das absolute Geheimnis (Mysterium) als Erscheinung des unergründlich Bleibenden. Geheimnis ist nicht ein ,Unvermögen‘ oder eine ,Fehlform‘ menschlicher Erkenntnis, sondern dasjenige, das sich von sich aus, von seinem tragenden Fundament her, in seinem Erscheinen als je immer mehr und anders, als wir je von ihm erfahren und wissen können, erweist. Die Grundfrage ist demnach niemals abschließbar zu beantworten, sondern angesichts des Geheimnischarakters dessen, was ist, nimmt die Fragwürdigkeit bei noch so großer Einsicht eher zu als ab. 61 Vgl. dazu M. Heidegger, GA, Bd. 40: Einführung in die Metaphysik, 5–8.
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In der Frage nach dem Seienden im Ganzen überschreitet sich der Fragende selbst, er ist sich als partikuläres Seiendes, das da oder dort vorkommt, nicht mehr wichtig und bevorzugt im Fragen der Grundfrage keines der Seienden. Er überschreitet sich selbst seinem seienden Bestand nach und tritt in das Offene und Freie des Bezugs zum Ganzen und zum Grund. Er vermag dieses Sichüberschreiten faktisch, weil sein Dasein die Seienden in ihrer Ganzheit immer schon überschritten hat, ja in diesem Geschehen am Offenbaren, Offenen, Unverborgenen teilnimmt bzw. ihm
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teilgegeben ist. Das sich aus dem Sein zum Sein Verhalten ist ein Teilnehmen und Teilgeben. »Der Mensch übersteigt um ein Unendliches den Menschen«, sagt Blaise Pascal.62 Darin besteht sein Menschsein. Er entfaltet sich also nicht selbstgenügsam aus einer in sich geschlossenen Anlage; auch verhält er sich nicht nur gelegentlich transzendierend zum Ganzen und zum Grund, wenn er danach fragt, sondern umgekehrt: Alle Weisen des Sichverhaltens wurzeln in diesem Überstieg – auch die Vielfalt der Fragen und das Fragen im Einzelnen. Transzendenz als ein Geschehen des Sichüberschreitens und immer schon Überschrittenhabens ist »die auszeichnende Wesensverfassung« des menschlichen Daseins.63 In der Sorge um sich selbst in seinem Miteinandersein in der Welt geht es dem Menschen als Transzendenz (als Sichüberschreitendes) um sein Sein, um dieses als möglichen oder ermöglichenden Grund. Beruht das Fragen auf dieser menschlichen Möglichkeit, sich überschreitend in der Zeit zu sein, so geht es im Vielerlei der Einzelfragen um das Überschrittene in seiner Mannigfaltigkeit (oder auch Zersplitterung), letztlich aber um dieses ,Daseinsganze‘ selbst, dessen fragwürdige Möglichkeit in der Grundfrage aufbricht. Das Warum der Grundfrage hat hierin sein Warum. Insofern im Fragen Ganzes und möglicher Grund für ein Vernehmen in Frage kommen, eröffnet sich dem Menschen dieses Ganze in Richtung des möglichen Grundes und wird es im Fragen offen gehalten. Dabei enthüllt sich eine durch Einzigartigkeit ausgezeichnete Beziehung unter allen Seienden. Aber der Mensch ist hier nicht auf der einen Seite ein Vernehmen-Könnender, ein offenständig ansprechbares Wesen, und auf der anderen Seite gibt es auch noch das Seiende im Ganzen, das möglicherweise einen Grund hat, sondern sein transzendierendes Offensein für das Ganze ineins mit seinem möglichen Grund ist das fragend Eröffnete. Die Grundfrage ist ja keine andere als die Frage, in der ein Mensch sich selbst zur großen Frage wird, aber nun in ihrer äußersten Weite und Tiefe, in der ihm die ihm eigene Weite und Tiefe seines Wesens zukommt. Im Fragen der Grundfrage eröffnet sich ihm das ihm eigene Verhältnis zur Frage als die Weise seines transzendierenden Offenseins und Vernehmens. Sein ihm eigenes Verhältnis zum Ganzen ist im Bezug auf sein Sichverhalten zum möglichen Grund in Frage gestellt. Der Warum-Fragende fragt nicht mehr ,akademisch‘ nach der Frage, er ist nun sich selbst als Fragender zur Frage geworden. Mit dem Gesagten hat das Fragen der Grundfrage erneut angefangen, insofern es auf den Fragenden zurückgestoßen ist. Gefragt wird damit: Warum geht diesem 62 Pensées, Fragment 434: l’homme passe infiniment l’homme, in: 531. Pascal, Pensées (L. Brunschvicg), 199. 63 M. Heidegger, GA, Bd. 9: Wegmarken, Vom Wesen des Grundes, 140.
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Fragen und gerade uns selbst im Fragen der Bezug zum Ganzen des Seienden und zu seinem möglichen Grund auf? Warum, ,aus welchem Grund‘, das Fragen? Warum das Warum? Warum überhaupt dieses Fragen? Was ermöglicht das Fragen überhaupt? Ermöglicht das nicht erneut ein ursprünglicheres Fragen? Ist das erst die Frage (oder das Fragen) nach der Frage, wie sie in der Grundfrage noch enthalten ist, oder ein Hinweis darauf, dass die erste aller Fragen noch in eine rangmäßig höhere übergehen wird? Vielleicht heißt philosophieren demgemäß, die Anfangsfrage immer anfänglicher zu denken. Dass wir im Verhältnis zum Seienden im Ganzen in der Grundfrage auf uns selbst zurückkommen, ist als Daseinsmöglichkeit ein herausragendes Geschehen, nicht weil das Fragen der Grundfrage alles andere als eine alltägliche Selbstverständlichkeit ist, sondern weil wir im Fragen nach der Frage aus der gewohnten Zuflucht, welche die alltägliche Verlorenheit und Zerstreutheit bietet, herausgerissen werden in den Spielraum des Wagnisses überhaupt: selbst sein zu können (im offenen Bezug zum Ganzen des Seienden und zu seinem möglichen Grund zu sein). Im Horizont solchen ,In-Frage-gestellt-seins‘ unseres Daseins bildet sich ein Zugang zum Phänomen der Freiheit. Wir erfahren jeden Augenblick an uns selbst, dass wir frei sind im üblichen Sinne des Wortes, weil wir die Möglichkeit des Anfangenkönnens, der Wahl- und Entscheidungsfreiheit, der Selbstbestimmung und des befreienden EinanderSein-Lassens im Mitsein besitzen. Aber das diese Freiheit in einem ursprünglichen Sinne erst Ermöglichende kann nicht das Verhaftetsein an eine artspezifische Umwelt, sondern nur das weltweite Offen- und Freisein hinsichtlich des Seienden im Ganzen und des möglichen Grundes sein, aus dem wir uns und zu dem wir uns selbst zu verhalten haben. Weil uns das Ganze unseres Seinkönnens und Verhaltens zur großen Frage werden kann, in der es um uns selbst (unser Seinkönnen) geht, können wir uns selbst verhalten, erfahren wir uns gehalten, können wir uns aus dem Grund (Warum?) zu diesem Grund (Warum?) verhalten – ein Sichverhalten, zu dem es alltäglich, wo immer das Daseinsganze mehr oder weniger auf dem Spiel steht, kein Gegenteil gibt. Weil uns im Fragen der Grundfrage unser Verhältnis zum Ganzen hinsichtlich des möglichen Grundes als wesenhafte Daseinsmöglichkeit eröffnet ist, sind wir alltäglich gehalten, nicht nur dieses unser Gesamtverhalten mitzuentscheiden und mitzubestimmen, sondern auch die Grundfrage mitzufragen. Gehen wir dem alltäglichen Fragen nach, so wird das besonders dort deutlich, wo wir uns zu entscheiden haben, dann fragen wir: Warum so und nicht anders? Warum dieses und nicht jenes? Warum dieses tun oder gar nichts tun? Diese Fragen sind jeweils im Blick auf
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das Vorfragliche fragbar, wenn bereits das Wassein, Wiesein, Wosein, Wannsein, Woraufhinsein usw. vorverstanden ist. Das verweist darauf, dass das Warum-Fragen seine letzte Begründung (»erst-letzte Urantwort«) im Seinsverständnis oder Sein findet.64 Doch vorerst kann nur so viel gesagt werden: Kein einziges Problem, keine einzige Frage erhebt sich aus dem, was sich von selbst versteht, oder aus dem, wo nichts zu verstehen ist. Wo wirklich gefragt wird, wo wir nicht in der Dumpfheit des Fraglosen verstummen oder uns neugierig den Anschein lebhafter Interessiertheit geben, dort wird notwendig die Grundfrage mitgefragt. »Unsere Frage ist die Frage aller wahrhaften, d.h. sich auf sich stellenden Fragen, und sie wird, ob wissentlich oder nicht, in jeder Frage notwendig mitgefragt.«65 Die Grundfrage ist daher die Frage aller Fragen nicht im Vergleich mit anderen Fragen, sondern weil alles Fragen auf ihr basiert oder sie mitfragt. Um irgendetwas daseinsmäßig zu fragen, muss zuvor das Ganze in seinem Bezug zu seinem möglichen Grund uns aufgegangen sein und sind wir gehalten, uns in diesem Bezug zu bewegen. Das geschieht freilich ausdrücklich und thematisch selten genug und noch seltener so, dass es uns zum Philosophieren, zum fragenden Durchdenken der Grundfrage motiviert.
3.2.2 Zur Entfaltung des Fragens der Grundfrage
Dritter Exkurs
Der aufgeschriebene oder mündlich verlautete Fragesatz ,Warum ist überhaupt Seiendes und nicht nichts?‘ ist an sich, wahrhaft und ernsthaft keine Frage, wenn das Fragen die Frage konstituiert; er dokumentiert nur eine Frage oder spricht sie aus. Was eine Frage ist, ist nur im Vollzug des Fragens lebendig, das ein Wonach des Fragens offenhält. Über der verdinglichenden Redeweise von der Frage, deren formalisierte (syntaktische, semantische, logische u.a.) Gesetzlichkeiten und allgemeine Beziehungen erfolgreich in elektronischen Datenverarbeitungsanlagen Verwendung finden können, darf das, was uns, also jemanden wahrhaft, eigentlich und ursprünglich zu fragen heißt und lässt, nicht vergessen werden. Also nicht, was fragen heißt im gewöhnlichen Sinn von bedeuten und benannt sein, sondern was uns zu fragen heißt, zu fragen aufgibt, daraufhin anspricht, dass wir fragen, führt uns in die Ursprungsdimension des Fragens.66 Was uns fragen heißt, ist die Fraglichkeit des Befragten im Vernehmen dessen, was uns fragen lässt: das 64 A.a.O., 169. 65 M. Heidegger, GA, Bd. 40: Einführung in die Metaphysik, 8. 66 Vgl. M. Heidegger, GA, Bd. 8: Was heißt Denken?: »Heißen meint: zurufend in ein Ankommen und Anwesen gelangen lassen; zusprechend daraufhin ansprechen.« (122) Weil Heißendes in ein Anwesen ruft, besagt und heißt dann das Geheißene auch selber etwas.
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Vorfragliche – und das immer, wie schon gesagt, aus einer so und so gestimmten Fragehaltung, fragenden Einstellung, aus fragender Gesinnung heraus. Im Fragen der Grundfrage geht es ja nicht um irgendeine Frage, ja nicht einmal um die großen Fragen und Probleme der Philosophie, sondern um die Frage aller Fragen, diese aber verstanden als ein einzigartiges Fragegeschehen, von dem wir, wenn es aufbricht, erfahren, dass wir es im Grunde selbst sind – also um ein »Grundgeschehen« (Heidegger) unseres Daseins. So wird die Fragehaltung selbst in die Fraglichkeit dieses Grundgeschehens gezogen, ob und inwiefern sie diesem zu entsprechen vermag. Das hat sich in der Rückwendung der Frage auf sich selbst, die fragt, Warum das Warum?, gezeigt. Damit nun das Fragen der Grundfrage ein wahrhaftes, eigentliches und ernsthaftes Fragen wird, ist auf die entsprechende Fragehaltung näher einzugehen, die uns die Grundfrage fragen lässt. Auch wenn wir zunächst nur mitfragen, geht es darum, selbst zu fragen, selbst zu denken, aus fragender Gesinnung selber zur Besinnung auf das der Frage Würdige eines möglichen Grundes zu kommen. Aber wie, auf welche Weise, in welcher Einstellung, Haltung, Gesinnung, Gestimmtheit sollen, können oder dürfen wir fragen? Bedarf es nicht immer wieder neuer Vorbereitung – der Sammlung – auf das ursprüngliche Fragen der Grundfrage? Wäre nicht alles fordernde WissenWollen von Grund oder Gründen, das zur Sicherstellung des Daseins im Verein mit Wissenschaft, Technik und Politik vorzustrecken ist, um der beängstigenden Bodenlosigkeit unseres Lebens Einhalt zu gebieten, hier Anmaßung, die, weil unangemessen, verlassen werden müsste? Wie sollten wir sonst dem Zuspruch des Fragwürdigsten anders als in einem horchenden Vernehmen ,ent-sprechen‘, wenn wir nicht das Fordern loslassen, zu dem verhohlene Angst oder verborgene Verzweiflung antreiben? Ist nicht eine Umkehr, ein Umdenken und anderes Denken notwendig, das Wahrheit nicht im Dienst von Sicherheit und partikulärer Gewissheit instrumentalisiert? Gehören nicht zur fragenden Gesinnung die Preisgabe der Sicherheit, die ein radikal zweifelndes Denken fordert, die aufgeschlossene Hingabe und ,ent-schlossene‘ Offenheit für das ,uralte‘ Neue, weil Anfängliche, und in diesem Sinne ein Noch-Lernen-Können, der Mut, den Schritt in das Dunkel, die Nachtseite des Daseins, zu tun, die Weckung des Sinns für das noch nicht Verstandene und Gewusste, Unbegreifliche, Unergründliche des Ursprungs, für das Wunderbare und Erstaunliche, das metaproblematische Geheimnis und ihm gegenüber Pietät, ausdauernde Dankbarkeit (ein Denken, das nicht nur etymologisch mit Danken zusammenhängt)? Soll sich ein solches Fragen nicht dem Verdacht purer Seinsromantik aussetzen, die sich ein stimmungsvolles Bad im Irrationalen erträumt, so müsste die Grundfrage gegenüber dem bewährt
Dritter Exkurs
Zur Einführung in die Philosophie: Einführung in die Ontologie
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werden, was (oben unter 3.2.1 b) als problematische Fragehaltungen kritisiert wurde. Ich beschränke mich hier auf den Versuch, das Fragen der Grundfrage postulatorisch (a) und im Gegensatz dazu responsorisch (b) zu verstehen.
Dritter Exkurs
a) Die Grundfrage als postulatorische Frage Die Frage ist, ob der Fragesatz der Grundfrage überhaupt korrekt formuliert ist. Er scheint zweigliedrig gebaut, aus zwei Fragesätzen zu bestehen: ,Warum ist überhaupt etwas? Warum ist nicht nichts?‘ Der erste Fragesatz enthält alles, was unbedingt zu einer gültigen Fragestellung gehört: erstens die bestimmte Angabe dessen, was in die Frage gestellt, was befragt wird (das Vorfragliche, das Befragte, ein bekannter Sachverhalt); zweitens die Angabe dessen, worauf hin das Befragte befragt wird, wonach gefragt ist (das Gefragte, ein noch unbekannter Sachverhalt). – Das Befragte ist das Seiende, das Gefragte ist das Warum, d.h. der Grund. Der zweite Fragesatz, ,Warum ist nicht nichts?‘, erscheint als sinnlose Rede, denn das Nichts, das nur die sprachlogische Negation von etwas meint, ist einfach nichts und kann weder in Frage gestellt noch auf einen Grund hin befragt werden. Es handelt sich also um eine Scheinfrage, eine syntaktisch sinnlose Frage. Der logische Junktor der Negation (¬) besagt ,es ist nicht der Fall, dass …‘. Er ist ein Ausdruck, der einen anderen Ausdruck oder Teilausdruck bestimmt, eine Prädikaten-Variable (x). Den bestimmten Ausdruck nennt man das Argument. In der Frage ,Warum ist nicht nichts bzw. nicht vielmehr Nichts‘ – abgesehen davon, dass es kein ,Vielmehr‘, kein Mehr oder Weniger an Verneinung (¬) geben kann – tritt aber ,Nichts‘ (¬) als Argument auf, d.h. ,Es ist nicht der Fall, dass es nicht der Fall ist‘ = ¬¬. Das ist offenkundig syntaktischer Unsinn. Daraus ergibt sich: Der zweite Fragesatz (?[x] ¬¬) ist eine unsinnige Leerformel. Vielleicht wollte der Philosoph doch etwas Sinnvolles sagen: ,Nicht für jedes x ist es der Fall, dass es dieses x hier und jetzt gibt‘ oder dergleichen, aber wir wissen das nicht. Man kann aber noch weiter versuchen, die Fragestellung vor dem Verdikt des syntaktischen Unsinns zu retten. Die Frage lautet doch: ,Warum nicht nichts?‘; ,nicht – nichts‘ (non – nihil) ist also ein Ausdruck für die doppelte Negation des Seienden, die einer einfachen Bejahung (Position) gleichkommt: non-nihil meint non-non-ens = ens = aliquid; wenn nihil eben non ens meint, dann gilt: x = ¬¬x. Der Philosoph hat nur die Angabe des Arguments (x) vergessen und wollte fragen, ,Warum ist nicht nicht etwas?‘ Dann lautet die Frage: ?L(x) à ? ¬¬L(x). Daraus folgt: ?L(x) ist äquivalent ?L(x) und das ist gleich ?L(x). Der zweite Fragesatz sagt also das Gleiche wie der erste aus, er ist tautologisch, sagt das Gleiche nur in der Form der doppelten
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Verneinung: ,Es ist nicht der Fall, dass es nicht der Fall ist, dass es ein x gibt.‘ Auf diese umständliche Ausdrucksweise können wir verzichten. Der zweite Fragesatz wiederholt also nur den ersten und ist daher eine überflüssige Redewendung. Es kommt somit nur auf den ersten Fragesatz an, der für sich genommen eindeutig und entschieden genug fragt: Warum ist das Seiende? Was ist sein Grund?! Nun ist zu prüfen, wie man gewöhnlich die halbiert übrig gebliebene Grundfrage zumeist unausgesprochen versteht. Wonach richtet sich der nunmehr richtig gestellte Fragesatz?
Achten wir auf den Tonfall der gesprochenen Frage, beispielsweise wenn man ein Kind lautstark anherrscht: ,Warum machst du das schon wieder?!‘ Die in diesem Tonfall ausgesprochene Frage will entgegen ihrem Wortlaut als Forderung, ja als versteckte Drohung verstanden werden. Man setzt dann nicht nur das Fragezeichen, sondern auch das Ausrufezeichen an das Ende des geschriebenen Satzes. Ein fordernder Ausruf ist eben keine echte und ursprüngliche Frage, sondern ein Imperativ. Was sich hier den Anschein einer Frage gibt, ist oft zweideutig: ,Warum ist das
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1. wird ein Grund gefordert (postuliert), fraglos angenommen und hypothetisch vorgestreckt, und es wird im Voraus gesetzt, dass ein solcher vorhanden sein müsse; der Fragende beansprucht im Namen des Seienden und seiner Selbstbehauptung einen Grund – sonst versinkt alles in den ,Abgrund eines bodenlosen Nichts‘. 2. wird nach einem anderen, höheren, ja ,seiendsten‘ Seienden gefragt und demzufolge werden Grund und (seiende!) Ursache einander gleichgestellt. 3. wird nicht nach dem Seienden im Ganzen als einem solchen (Welt), sondern nach diesem wird wie nach irgendeinem unter anderen bereits vorgegebenen Seienden gefragt. Das Seiende im Ganzen wird meist als summatives Ganzes, als die Gesamtheit dessen, was der Fall ist, als die Menge aller Seienden (L[x]) vorgestellt. Wird in diesem Sinne das Ganze auf der Basis innerweltlicher Seiender vorgestellt, so entspricht dem ein Grund, der wiederum nur als seiender vorstellbar wird. 4. hat schon Siger von Brabant darauf aufmerksam gemacht, dass es widersprüchlich wäre, wenn wir für das All der Seienden (das Gott und die Welt umfasst) noch einen seienden Grund einfordern wollten. Außerhalb der Gesamtheit aller Seienden kann es kein einziges Seiendes als Grund geben, das nicht zu diesem Ganzen gehört, weil sonst die Gesamtheit nicht die Gesamtheit wäre. Außer allem Seienden kann nur nichts sein, kein Seiendes unter allen anderen, eben nichts (nihil) und das ist ohne Grund (nihil est sine ratione), grundlos, bodenlos, ausweglos … Die Frage ist hier gar nicht am Platz; sie ist als nicht fragbar abzuweisen.
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Seiende? Was ist sein Grund?‘ Das kann, muss aber gar keine echte Frage sein, sondern kann Ausdruck einer Sehnsucht, eines Wunsches, eines ,metaphysischen Bedürfnisses‘ oder einer Forderung nach Selbstsicherung sein: Was ist der Grund! Ich will wissen, was der Grund ist! Ich will etwas haben, womit ich sicher rechnen kann, das Halt, Bestand und Grund gibt. Ich will mich behaupten: gefestigt sein! Ich stelle mir daher einen Grund vor, der ausreicht, das Sein sicherzustellen. Aber verdecken wir damit nicht nur notdürftig Angst und Verzweiflung, in die uns die Grundlosigkeit stürzt? Indem der sich vordrängend-fordernde Wille zum Grund an sich festhält, sich an sich selber orientiert, seinen Mangel aufheben und so sich selbst will, ist der Auslegung des Seins als Wille (Wille zum Willen als Grund) die Bahn gebrochen. Sein wird auslegbar als geistige Selbstsetzung, Wille zur Macht oder Wille des Es (Triebbedürfnis), Energie usw. Demgegenüber kann bei Ausfall eines metaphysischen Bedürfnisses auf die postulatorisch vorgehende Grundfrage ersatzlos verzichtet werden. Erscheint im metaphysischen Bedürfnis kein hinreichender Grund, die radikale Warum-Frage zu stellen, so verfällt sie ideologiekritischer Dekonstruktion. Auch der erste Fragesatz der Grundfrage wäre dann überflüssig. b) Die Grundfrage als responsorische Frage
Dritter Exkurs
Wir verlassen die Einstellung des fordernden Fragens, wenn wir uns sammeln und uns zurückrufen lassen in das erstaunliche Urphänomen, dass wir da sind, anwesend sind und nicht nicht sind, weil wir zu sein haben und uns zu sein gegeben ist (und zwar in jener prekären Zeit, die längst ihr Ende hätte haben können). Wenn wir darauf eingehen, dass wir uns selbst je und je gegeben sind, wandelt sich unser Verhältnis zum Grund. Aus dieser neu gewonnenen Einstellung ergibt sich, dass das zweite Glied der Grundfrage nicht als eigener Fragesatz zu isolieren, sondern im Zuge des Fragens der einen Grundfrage anders zu verstehen ist. Das zweite Glied der Grundfrage wehrt die oben unter 1 bis 4 angedeuteten Missverständnisse ab: 1. Der Grund ist nicht hypothetisch vorzustellen und zu fordern, um sich des Seienden zu versichern und seiner zu bemächtigen, sondern gefragt ist: Warum ist überhaupt Seiendes der Möglichkeit des Nichtseins entrissen? Warum fällt es nicht ohne Weiteres und ständig dahin zurück? Oder warum ist Anwesendes zum Anwesen freigegeben? Diesem sich ereignenden Freigegebenwerden denken wir nach. Das ist es, was zur Frage steht. 2. Wir fragen nicht auf der Ebene des Seienden (also ontisch) nach irgendeinem seienden Grund oder Gründen, nach seienden Ursachen oder Bedingungen ontischer Art, sondern nach dem Grund, warum überhaupt Seiendes ist und nicht
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vielmehr Nichts ist. Gerade das ist der Frage würdig: Dass Seiendes ist, weil es am Sein partizipiert, teilhat, teilnimmt, ihm teilgegeben ist. So fragen wir im Grunde nach dem Sein, nach dem Sein des Seienden, nach dem Sein, das Grund ist, das dem Seienden Grund gibt, aber letztlich selbst grundlos und abgründig erscheint. 3. Dass das Seiende als das, was es ist und wie es ist, auch nicht sein könnte, dass es der Möglichkeit des Nichtseins widerstanden und diese doch nie überholt und überwunden hat, belässt es in seiner Fragwürdigkeit. Das erstaunliche Wunder, dass Seiendes sein muss, sein kann, ja sein darf, geht uns in der Frage nach dem Grund auf. Das Seiende wird nicht von uns aus in Frage gestellt und Forderungen unterstellt, sondern umgekehrt: Wir sind in die Offenheit seiner Fragwürdigkeit im Bezug auf das Sein gestellt. Daher antworten wir schon immer, wenn wir wirklich fragen und auf den verborgenen ,Zu-spruch‘ und ,Anspruch‘ des Seins selbst horchen. Insofern kann die Grundfrage eine responsorische, ja ,dialogische‘ Frage genannt werden: Wir ,ent-sprechen‘ mit ihr der Abgründigkeit des Seins selbst. 4. Der zweite Fragesatz der einen Frage, ,Warum nicht vielmehr Nichts‘, hat nicht die durch Verneinung leichtfertig weggedachte Allheit zum Gegenstand – ein absolutes Nichts als spekulativ verdinglichtes Nicht-Etwas –, sondern geht dem Nichts nach, insofern es in der Mannigfaltigkeit seiner Bedeutungen phänomenologisch zum Thema eines ausdrücklichen Ausweises gemacht werden kann, und zwar insofern es uns als positives Phänomen gegeben und daher aufweisbar ist.67 Wir haben uns vor allem dem zunächst und zumeist verborgenen oder (durch die vorhergehende postulatorische Warum-Frage) verdeckten ,Abgrund eines bodenlosen Nichts‘ zu stellen, wovor man in einer Art Flucht oder Angst vor der ,Leere‘ (horror vel fuga vacui) für gewöhnlich zurückschreckt.
67 Vgl. dazu B. Welte, Gott und das Nichts. Entdeckungen an den Grenzen des Denkens, sowie vom Verf. (1997c), Das Nichts als ,Ort‘ der religiösen Erfahrung. Das Phänomen des Nichts und der Aufweis des Daseins Gottes, in: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Bd. 2, 305–344. 68 Vgl. vom Verf. (1998), »Das Denken ist ein Sprechen und dieses ein Hören«. Ein nachgelassenes Wort von Kant.
Dritter Exkurs
Im Fragen der Ontologie selbst waltet von Anfang an (wie übrigens in allem Denken68) ein antwortendes, ein dialogisches ,Ent-sprechen‘, wenn wir uns auf den Zu- und Anspruch des sich in allem selbst mitteilenden Seins in seiner Abgründigkeit einlassen. Wir scheuen uns zu Recht, dieses antwortende Entsprechen (schon) als personal-dialogisch zu verstehen; und doch sollten wir den Mut haben, uns einzugestehen, dass wir es möglicherweise schon im ersten
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Fragen der Grundfrage mit Göttlichem oder dem Gott (der Philosophie?) zu tun haben, freilich noch in verschwommener Anonymität und auf der Hut vor jeder Übereilung und Erschleichung. Hier ist es angemessen, sich schweigend, d.h. in der Stille horchenden Vernehmens zurückzuhalten, um der Erfahrung des sich uns Zusprechenden Schritt für Schritt besser Raum zu geben und die aufgetauchte Spur im Auge zu behalten. c) Zur Beantwortbarkeit der Grundfrage
Dritter Exkurs
»Warum ist überhaupt Seiendes und nicht nichts?« Kann diese erste aller Fragen nicht beantwortet werden, »so sinkt alles andere für mich in den Abgrund eines bodenlosen Nichts«, sagte Schelling. Er hielt die Frage für glatt beantwortbar: Gott (allerdings »weder seyend noch nicht seyend […] an sich selbst das Ueberseyende«) ist die überseiende Ursache alles geschaffenen Seienden.69 »Die Schöpfung ist keine Begebenheit, sondern eine [bewusste und sittlich freie] That.«70 Diese Tat Gottes ist »durch seinen bloßen Willen die ruhende Ursache«,71 d.h. nicht durch das Wollen des Urwillens in das Andere seiner selbst verstrickt. Gott agiert streng genommen auch nicht wie eine ontische Wirkursache, er ist »nicht durch seinen besonderen Willen, sondern durch sein bloßes Wesen Ursache des Anderen« oder »wesentliche« »Ur-Sache« der Schöpfung.72 Aber wir haben gesehen, dass damit die Warum-Frage nicht beschwichtigt, nicht beantwortet ist, sondern die so faszinierende theologische Antwort weicht der Frage aus, geht sie doch der Abgründigkeit des Seins von Seienden aus dem Weg. Doch kann sich dann überhaupt jemand anmaßen, die Grundfrage zu beantworten? Ist die Frage unbeantwortbar, weil wir mit ihr an die unergründlichen Grenzen unseres Denkens stoßen oder weil sie vielleicht doch falsch gestellt, eine Scheinfrage ist? Stellt nicht eine Frage, von der wir wissen, dass es auf sie keine sinnvolle Antwort gibt, ein Scheinproblem dar? Oder ist die Alternative ,Entweder ist die Frage sinnvoll, weil beantwortbar, oder sie ist sinnlos, weil unbeantwortbar‘, angesichts der Grundfrage ein Scheinproblem? Gewiss gehört die durch ihre Bezogenheit auf das Befragte vorgebahnte Möglichkeit der Antwort zum Wesen der Frage. Eine Antwort ist gegeben, wenn sie jemand weiß, auch wenn er sie nicht äußert. Eine wahre (zutreffende oder 69 Schellings Werke, Bd. 4: Die Weltalter, 632 ff. (= SW VIII 256 ff.). 70 A.a.O., Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, 288 (= VII 396). 71 A.a.O., Die Weltalter, 633 (= SW VIII 257). 72 A.a.O., 634 (= SW VIII 258): »Gott ist die Ur-Sache jenes Anderen, nicht die bewirkende, sondern die stille, die wesentliche, es bedarf nichts als jenes ins Wesen verschlungenen Seyns, damit das Andere sey.«
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73 Formallogisch lautet die korrekte und einfache Grundform einer solchen Entscheidungsfrage: »Ist es der Fall, dass p, oder ist es der Fall, dass non-p?, wobei p für eine beliebige Aussage steht.« Vgl. J. Walther, Logik der Fragen, 88. Alternativfragen können dagegen mehr als zwei Antwortmöglichkeiten enthalten, die überdies nicht in kontradiktorischem Gegensatz zueinander stehen müssen.
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nicht zutreffende) Antwort im engeren Wortsinn kann man hier unterscheiden von fragebezogenen Entgegnungen wie der Gegen- oder Rückfrage (,Können Sie die Frage wiederholen? Hat Ihre Frage einen Sinn?‘), von der Erklärung der Unfähigkeit zu einer wahren Antwort, wenn man die Antwort nicht weiß, und von der fragebezogenen Erwiderung, welche eine Antwort ausdrücklich verweigert. Interrogative Logik konzentriert sich gewöhnlich auf abschließend beantwortbare Fragen im engeren Wortsinn, die wie passende Deckel auf den Topf passen. So sind zur Entscheidung gestellte oder in Alternativen vorgelegte bloß ontische Sachverhalte mit affirmativen oder negativen Aussagen zu beantworten.73 ,Intensionale‘ Fragen (mit Wer, Wie, Was, Wo, Wann, Wie viel, Warum usw. eingeleitete ,which-Fragen‘) enthalten Bedingungen ihrer Beantwortbarkeit, wenn sie wahr oder falsch beantwortbar sind und es mindestens einen Gegenstand oder Sachverhalt gibt, auf den das Prädikat der Frage zutrifft. Fragen so zu entwerfen, dass sie möglichst beantwortbar sind, ist ökonomisch, erschöpft aber nicht das Phänomen der Fragwürdigkeit des Daseins. Zu den philosophischen Fragen, welche die eine Grundfrage entfalten, gehört die ,Entgegnung‘, die Rückfrage nach ihrem Sinn, und es ist für sie kein Mangel, dass sie in einem gewusst durchlaufenen Nichtwissen niemals abschließend beantwortet werden können. Könnte uns nicht eine Frage in ein Erstaunliches, noch nicht Verstandenes, ja niemals zur Gänze Verstehbares führen, vor dem wir (zunächst) sprachlos, ohne Antwort bleiben, in ein schweigend-horchendes Sichaufschließen geschickt, aus dem sich der Erfahrungsraum weitet und wir einander tiefer verstehen? Wie, wenn vermeintlich Vertrautes in seinem Anderssein unverstanden, befremdend, uns vorenthalten und entzogen erscheint – aber gerade aus diesem Bereich heraus sich zu verstehen gibt? Verweisen wir einander auf den Sinn von Sein oder verschließen wir ihn? Dürfen wir nicht hoffen, dass sich nach und nach die Antwort reicher erschließt, weil wir schon im ,Vor-schein‘ eines noch zu Denkenden, eines noch Ungesagten stehen? Durch die Geschichte der Menschheit hindurch ist es ein und dieselbe Sache in ihrem unausschöpfbaren Reichtum, welche uns in ihrer Weite und Tiefe als das stets der Frage Würdige und Unergründliche in Anspruch nimmt. An diesem uns gemeinsam Angehenden und uns Umgreifenden beteiligen wir uns im epochen- und erdteileübergreifenden Gespräch der Philosophierenden.
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Nur woran wir hier miteinander Anteil haben, können wir einander ,mit-teilen‘. Die Worte, Begründungszusammenhänge und Systeme der Philosophen in ihrer Stimmenvielfalt sind dabei schon je für sich die Antworten, die immer provisorisch bleibenden Versuche, die eine Quelle zu fassen. Dieses wechselvolle Gespräch der sogenannten Denker miteinander, wie es vor allem seit der Achsenzeit mit ihren pluralen Ansätzen in Europa und Asien im ersten vorchristlichen Jahrtausend bis hin zum globalen Polylog der Weltphilosophie im Gang ist, erfüllt seine Aufgabe, indem es immer erneut auf dasselbe und gemeinsam sich uns Mitteilende verweist. Dieses Gespräch kann daher durch keine Philosophie jemals abgeschlossen werden. Endlichkeit der ,Systeme‘ besagt hier keinen Mangel, sondern kommunikative Offenheit, insonah sie nur der Sache selbst und nicht bloß Texten und Kontexten verpflichtet ist. Eröffnet die Grundfrage solches Philosophieren, dann kann es auf sie gar keine Antwort geben, durch welche sie fraglos und endgültig erledigt wäre. Würden wir einander durch eine vermeintliche Beantwortbarkeit oder Nichtbeantwortbarkeit der Grundfrage nicht trotzdem zur großen Frage werden? Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die Grundfrage wohl beantwortbar sein könnte; nur insofern sie abschließend und endgültig nicht beantwortet werden kann, ist sie unbeantwortbar. Die Aufgabe ihrer wahrhaften und ursprünglichen Beantwortung kann daher niemals in einer Fraglosigkeit versanden, wo wir bezüglich des Ganzen und des Grundes einander nichts mehr zu sagen haben.
Dritter Exkurs
d) Die vorläufige Antwort und ihr Status Warum ist das Seiende im Ganzen, und warum ist nicht vielmehr Nichts? Geht uns diese Frage wahrhaft und ursprünglich nicht erst im Zuspruch der Fragwürdigkeit des Seienden als eines solchen und im Ganzen auf? Und ist uns nicht das Seiende im Ganzen fragwürdig, weil es die Gabe des Grundes ist, weil sich ihm Sein als Grund mitteilt, weil Seiendes ja immer schon in der Mitgeteiltheit von Sein gründet? Seiendes gründet – im Sein, weil es Sein gibt. Ist das nicht eine der vorläufig gebbaren Antworten? Aber geht dieser Antwort nicht geschichtlich voraus, was Parmenides aus tiefer Verwunderung im feierlichen ,Gesang‘ als sich ihm Zusagendes ausruft – sti g!r enai – ? »Es ist nämlich Sein« oder, stärker übersetzt, »Anwest nämlich Anwesen«.74 Und die Frage wird sein, ob Heidegger zu Recht sagt: »In diesem Wort verbirgt sich das anfängliche Geheimnis für alles [ursprüngliche] Denken.«75 74 Übersetzung M. Heidegger, GA, Bd. 9: Wegmarken, Kants These über das Sein, 479. 75 M. Heidegger, GA, Bd. 9: Wegmarken, Brief über den ,Humanismus‘, 334.
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76 Dazu zusammenfassend: H. Padrutt, Und sie bewegt sich doch nicht. Parmenides im epochalen Winter, 711 f.; vgl. 121, 697. t’ n mmenai: sti g!r enai […]. 77 DKV, Bd. 1, 232: 28. Parmenides, B. 6: cr t lgein te no e in
78 W. Röd, Geschichte der Philosophie, Bd. 1: Die Philosophie der Antike, Bd. 1, 116. 79 A.a.O., 109. 80 Ebd. 81 A.a.O., 118.
Dritter Exkurs
Verweilen wir kurz bei diesem Wort. Seine philologische, philosophiehistori sche und philosophische Deutung ist strittig.76 Sucht man in sti g!r e nai eine grammatisch korrekte Urteilsbehauptung, so bietet sich als Satzsubjekt ,das Sein‘ an: »Nötig ist zu sagen und zu denken, dass nur das Seiende ist, denn Sein ist, ein Nichts dagegen ist nicht; das heiße ich dich wohl zu beherzigen!«77 Doch ein substantivierter und als Subjekt gesetzter Infinitiv ist für die Zeit des Parmenides äußerst unwahrscheinlich. Lassen wir diesen Anachronismus beiseite, dann bieten sich andere, philosophisch interessante Lösungen an. Die eine berücksichtigt, dass sti ,es ist möglich‘ (d.h. ,es kann sein‘) heißt und dass der Infinitiv ,sein‘ sich auf etwas bereits Genanntes, was eben zu sagen und zu denken ist, bezieht. Damit wird syntaktischer Unsinn vermieden. Wir haben es nach Wolfgang Röd also mit einer »Feststellung, man müsse sagen und denken, dass das Seiende ist, denn es [das bereits Genannte] könnte sein«, zu tun.78 Das Seiende, so darf hier ergänzt werden, meint wohl Seiendes überhaupt, mithin die Gesamtheit aller Seienden, also jegliches, von dem wir uns vorstellen können, dass es sei: Nur es kann sein. In diesem Sinn kann nicht nur, sondern (nach anderen Übersetzungen) muss das Seiende sein, ja es hat zu sein. Wir bewegen uns hier dem Anschein nach im Reich des denkbar Möglichen, das für alle Welten gilt. Parmenides sucht eine Methode apriorischer, d.h. erfahrungsunabhängiger Erkenntnis, die über die Sinneswelt (die Physis), in die wir gestellt sind, hinausgeht, also ,metaphysisch‘ ist und absolute Wahrheit beansprucht. Er findet sie in tautologischen, d.h. mit Bezug auf ihren Tatsachengehalt (oder die Erweiterung unserer Erkenntnis durch eine begründende Erklärung) nichts sagenden, aber apriori wahren Sätzen wie »Das Seiende ist« oder »Das Nicht-Seiende ist nicht«.79 Es wird ihm unterstellt, »implicite zwischen empirischer und Vernunfterkenntnis« zu unterscheiden. Mit ihm fange in der Philosophiegeschichte jene Meta-Physik an, die eine von der empirischen Erkenntnis, wie sie »durch Beobachtung vermittels der Sinne« zustande kommt, prinzipiell »erfahrungsunabhängige« Vernunfterkenntnis annimmt.80 Dabei hält er »die Beschäftigung mit dem Wesen der Wirklichkeit für wertvoller […] als die Bemühungen der Erfahrungswissenschaften, deren Ziel die Erklärung von Beobachtungstatsachen ist«.81
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Sachprobleme systematischer Ortsbestimmung philosophischer Theologie
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Unter dieser Voraussetzung erscheint es nun »konsequent, aus der Denkbarkeit des Seins auf seine Wirklichkeit zu schließen«.82 Von da aus gelangt Röd zu einer bemerkenswerten neuen Lösung des Übersetzungsproblems, wo das ,Sein‘ (e nai) sich nicht auf etwas bereits Genanntes bezieht, sondern wörtlich als Zeitwort in seiner nicht näher bestimmten Form, d.h. als Infinitiv, zu lesen ist: »Es ist nämlich möglich zu sein«. Er übernimmt sie von Karl Bormann, der im Kontext folgendermaßen übersetzt: »Notwendig ist, was zu sagen und zu denken möglich ist, seiend; es ist nämlich möglich zu sein.«83 In diesem Satz erblickt Röd »die knappste Formulierung des so genannten ontologischen Arguments«. Damit macht er Parmenides zum »Wegbereiter« dieses Gottesbeweises, der »in der Geschichte der Philosophie von Anselm von Canterbury über Descartes, Spinoza, Leibniz und andere rationalistische Philosophen bis zu Hegel und schließlich zu Sartre eine beachtliche Rolle gespielt hat. Die Grundvoraussetzung dieses Arguments, dass der Inhalt des (begrifflichen) Denkens etwas Wirkliches sei«, was nach Röd irrig ist, findet sich also schon bei Parmenides.84 Röd setzt mit dem Gesagten völlig unbeabsichtigt für Parmenides die implizite Selbsterfahrung voraus, dass sich der Mensch schizoid (,ungesammelt‘) in zwei Welten bewegt, der Sinneswelt (der Gesamtheit beobachtbarer Tatsachen) und der das Vorhandene übersteigenden, nur vorgestellten und so übersinnlichen Welt des denkbar Möglichen. Durch diese Zweiheit einer meta-physischen Welt und ihres Gegenspielers, eines Weltzugangs, dessen Erfahrungsverständnis bloß auf Beobachtbares eingeschränkt ist, kommt das ursprüngliche Gewahren des leibhaftigen Anwesens des Menschen in der Welt nicht mehr in Frage und können dem entsprechend Sein (Anwesen) und Seiendes (Anwesendes) nicht gedacht und folglich nicht unterschieden werden. Schief liegt auch der Titel »Lehrgedicht« des Parmenides. Das feierliche Sagen dieses Gedichtes (wie ein orphischer Gesang?), das zu denken und zu sagen gibt, passt nicht zu einer in ein Gedicht verpackten Lehre. Eine Lehre ist nicht schon ein Weg. Der gangbare Weg des ,es ist‘ und der ungangbare des ,es ist nicht‘85 ist zudem keine metaphysische ,Lehre‘, sondern Wegweisung, die eher als grundlegendes Ethos einer Lebensführung zu verstehen ist, was der Sorge um das Ganzsein (Heile) des Daseins entgegenkommt und in späterer Zeit zum ethisch orientierten 82 A.a.O., 116. 83 K. Bormann, Parmenides, 37. 84 Vgl. W. Röd, Der Gott der reinen Vernunft. Die Auseinandersetzung um den ontologischen Gottesbeweis von Anselm bis Hegel, dort Parmenides, 39 ff. 85 Vgl. die Kurzformel in Fragment 8.16 in DKV, Bd. 1, 236: 28. Parmenides, B.
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86 Vgl. dazu a.a.O., 230, Fragment 1.28 ff. Die Göttin ist das göttliche Geschehen des Aufgangs in die Unverborgenheit. 87 M. Heidegger, GA, Bd. 15: Seminare (Seminar in Zähringen 1973), 397 f. (Übersetzung hier zusammengezogen). 88 Vgl. a.a.O., 134, und M. Heidegger, GA, Bd. 9: Wegmarken, Kants These über das Sein, 479. 89 M. Heidegger, Zur Sache des Denkens, 8. 90 M. Heidegger, GA, Bd. 9: Wegmarken, Kants These über das Sein, 479.
Dritter Exkurs
Philosophieverständnis im Sinne einer praktischen Lebensform werden konnte. Der in einem Urteil behauptete Sachverhalt, dass Seiendes ist oder irgendetwas existiert = $(x), oder auch die erklärende Begründung, weil zu sein denkbar (und real möglich) sei, existiere Seiendes und sei Sein wirklich, dürfte doch wohl kaum der für die Sterblichen ungewöhnliche, schwierig zu denkende Weg sein, den erst eine Göttin weisen muss (wie ihn Parmenides uns nahelegt). Die umstrittene Gestalt der Göttin meint keine fiktive Personifikation, der Parmenides seine ,Lehre‘ in den Mund legt, sondern sie ist im Sagen (als mythische Rede verstanden) dasselbe wie das, was sie kündet und offenbart: das nichtzitternd-ruhige Herz der Wahrheit im Sinne von Unverborgenheit (’A lϑeia), nämlich des Anwesens des Anwesens und des Anwesens des Abwesens.86 In diese Richtung scheint mir am besten der Übersetzungsversuch des späten Heideggers zu weisen: »Nötig ist das Sagen (das Sich-zeigen-lassen) und das Vernehmen (das sich mit ihm vollzieht): Anwesend Anwesen selbst – anwest nämlich Anwesen selbst.« 87 Gewiss wird hier dasselbe gesagt, aber es wird nicht Gleiches wiederholt, sondern das Selbe (,anwesen‘) wird als solches (ut sic), als es selbst (,anwesend‘), genannt. Wie wenig hier eine leere, nichts sagende Tautologie vorliegt, sondern vielmehr eine vollkommene, die alles für das Denken anfänglich und zukünftig Maßgebende sagt,88 wird deutlich, wenn wir auf in diesem Wort »Ungesagtes, Ungedachtes, Ungefragtes« achten. Damit ist die Fragwürdigkeit im Sagen desselben gesteigert: Was heißt das aus dem betonten ,es ist‘ (sti) heraushörbare »Es vermag«? – Sein als das Vermögende! Es »blieb der Sinn dieses Vermögens damals [im frühgriechischen Denken] und späterhin ebenso ungedacht wie das ,Es‘, das Sein vermag. Sein vermögen heißt: Sein ergeben und geben. In dem sti verbirgt sich das Es gibt [Sein und Zeit, zu sein].«89 Ob das philoso phiegeschichtlich völlig zutreffend ist, ist hier nicht zu erörtern. Wenn aber »im nai, Anwesen, eigentlich die ’A lϑeia spricht, das Entbergen, dann sagt das sti im betont vom nai gesagten Anwesen: das Anwesenlassen. Sein – eigentlich: das Anwesenheit Gewährende.«90 Es gibt (überhaupt nur als Eröffnen des Anwesenden im Ganzen) das abgründige Sein als (allem Seienden) Anwesenheit gewährend.
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Sachprobleme systematischer Ortsbestimmung philosophischer Theologie
Auf die mit »Es ist nämlich Sein« vorläufig beantwortete Grundfrage wurde nun keinerlei abschließende Antwort in Aussicht gestellt, doch sind wir auf das denkend-dichterische Wort des Parmenides gestoßen, welches das anfängliche Geheimnis für alles im Denken zu Sagende nennt. Dieses ist »weder Urteil, noch Beweis, noch begründete Erklärung«,91 sondern ein Denkanfang, der anfänglicherem Denken aufgegeben ist. Zum besseren Verständnis sei an Worte, die Anfängliches im Gespräch nennen, erinnert. Man denke nur an die Selbstaussage ,Ich bin es (da, hier anwesend)‘, mit der wir uns bei jemandem melden, die im Ernstfall nicht bestreitbar, weil nicht sinnvoll verneinbar ist. Ich kann mich auch nicht im Ernst jemandem zuwenden und behaupten ,Du bist nicht (da)‘; und umgekehrt kann niemand solches im Ernst zu mir sagen. Im Gegensatz zu gewöhnlichen präsentischen Urteilsbehauptungen sind für ,Ich bin (es) da‘ und ,Du bist (es) da‘ verneinende Aussagen sinnvoll nicht möglich. Zum Dasein im Sinne von (persönlich-leibhaftigem) Anwesen sowie Anwesen des Abwesenden (des Gewesenen und Kommenden) gibt es eben kein Gegenteil. Sie bringen Grundlegendes ans Licht. Und ähnlich (nicht ohne innere Zusammengehörigkeit zwischen dem Sein und unserer Teilhabe an ihm, der Selbst- und der Seinserfahrung) können wir das Wort ,Es ist nämlich Sein‘ nicht sinnvoll verneinen. Das Wort nennt einen Anfang, der das zu Denkende versammelt, das ,Prinzip‘ oder fundamentale ,Axiom‘ aller später kommenden Ontologie; wobei das, was hier Prinzip, Axiom oder Denkanfang (nicht bloß Grundsatz!) nennt, von einem Denken her, das dem Sein entspricht, fragwürdig wird und zu verstehen ist. Wichtig zur Beurteilung des Verhältnisses der Grundfrage zu ihrer möglichen Beantwortbarkeit ist hier der Status, der dem Sein ,wissenschaftstheoretisch‘ oder als die Sache des Denkens zugebilligt werden muss, ob mit ihm ein Rätsel aufgegeben, ein Problem gestellt, eine Aporie formuliert oder an ein zu denkendes Geheimnis gerührt wird. Das Rätsel umschreibt eine zu erratende Denkaufgabe und in diesem Sinne etwas zunächst Unbegreifliches (,Dunkles‘), hinter das man zu kommen trachtet oder das man für ewig unlösbar hält. Als Rätsel statuiert, gehört Sein nicht zu den ,Welträtseln‘, denn jedes Rätsel hat sein ,Sein‘, das selbst nicht zu enträtseln ist. Ein Problem ist in der begriffsgeschichtlichen Tradition »eine bereits elaborierte, in einem wissenschaftlichen Kontext gestellte Aufgabe mit einem gewissen Schwierigkeitsgrad«.92 Dieser Problem-Begriff wird heute durch den ausufernden Gebrauch des Wortes ,Problem‘ nivelliert und bezeichnet »eine belie91 M. Heidegger, GA, Bd. 15: Seminare, 399. 92 Vgl. den Artikel »Problem« von H. Holzhey in: HWP, Bd. 7, Sp. 1397.
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93 Ebd. 94 G. Marcel hat die meta-problematische Teilhabe am Seinsmysterium im Gegensatz zum Problem herausgearbeitet. Zu dieser Unterscheidung vgl. P. Kampits, Gabriel Marcels Philosophie der zweiten Person, besonders 61–69. Nach Marcels »Entwurf einer Phänomenologie des Habens« (in: Werkauswahl, Bd. 2: Metaphysisches Tagebuch 1915–1943, Sein und Haben 1928–1933, 153–256; hier die Eintragung vom 23. Dezember 1932, 228 f.) ist ein Problem etwas, »auf das ich stoße, das
Dritter Exkurs
bige Schwierigkeit, Aufgabe oder Frage […], die es zu lösen bzw. zu beantworten gilt«.93 Wenn es zum Beispiel an seelischer Gesundheit fehlt, geht man zum Psychotherapeuten. Man redet euphemistisch von den eigenen Problemen und erhofft (für seine Konflikte und schicksalhaften Verstrickungen) eine problemlösungsorientierte Hilfestellung. Oder für manchen Politiker ist es ,keine Frage, die Gastarbeiter sind das Problem!‘. Mit ,Wir haben zu viele Gastarbeiter in unserem Lande‘ wird ein Sachverhalt behauptet, der an sich kein Problem darstellt, doch ist es die Frage (die weder wahr noch falsch ist), ob diese eines Beweises bedürftige Behauptung zutreffend ist oder nicht. Zur Problemstellung gehört die Frage (beispielsweise die scholastische quaestio als Lehr- und Darstellungsform), aber diese reicht als Grundbewegung des Denkens weiter als das Problem. Wird die vollständig disjunktive Entweder-oderFrage durch einen Beweis entschieden, so gilt das Problem als gelöst. Eine Aporie dagegen kann ein Problem sein, bei dem nicht durchzukommen ist, weil die vernünftige Auflösung nicht gelingt; wir geraten gegenüber einer Unmöglichkeit in ausweglose Verlegenheit, Zweifel, Not, wobei die allenfalls verkehrte, falsche Fragestellung, die zum Problem gehört und mit der man Probleme vernichtet, nachzuweisen ist. So kann der ,Seinsbegriff‘ zum Problembegriff werden, wenn sich aus ihm im indirekten Beweis Scheinprobleme ergeben oder an ihm selbst ein sachlicher, semantischer oder syntaktischer Mangel erscheint. Aporetik wird so zur Problemwissenschaft. Als Aporie kann auch die meta-problematische Weglosigkeit, die aufgedeckte Not des Denkens (im Unterschied zur Not der vermeintlichen Notlosigkeit), bezeichnet werden, wo allenfalls, wenn es zulässig ist, im Wissen um das Nichtwissen erst Wege zu bahnen sind. Sie ist dann dem echten Geheimnis zuzuordnen. Das echte Geheimnis meint nichts Geheimgehaltenes, das preisgegeben oder verraten werden kann; es steht auch jenseits des Aberglaubens, der es vor dem Denken tabuisieren will und für etwas Irrationales hält, wobei sich mit seiner vernünftigen Aufklärung der Obskurantismus auflöst. Doch ein zu denkendes Geheimnis besagt, dass bei noch so großer ausweisbarer Offenbarkeit einer Sache sich deren je immer größer bleibende Verborgenheit als aktueller Grund eben dieser Offenbarkeit erweist. Die Entbergung und Offenbarkeit des Seins (die Wahrheit in einem ursprünglichen Sinn) verdankt sich immer seiner bleibenden Verborgenheit. Mit Gabriel Marcel sei hier vom Mystère de l’être gesprochen.94 Sein zeigt sich als ein Ge-
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heimnis und nicht als Problem, da seine Verborgenheit und seine Offenbarkeit in gleicher und nicht umgekehrter Proportion zunehmen. Zunehmende Offenbarkeit besagt daher nicht Schwund an Verborgenheit. Vielmehr macht gerade das nicht auszulotende Geheimnis eine Überfülle von Antworten möglich, die niemals abschließende, immer nur provisorische Antworten zulassen, die jenseits der abschließenden Beantwortbarkeit von Rätseln oder Problemen liegen. Nach dem Gesagten kann die Antwort auf die Grundfrage nicht wie die Auflösung eines Rätsels oder Problems ausfallen, welche das Fragen beendet oder sich aus der Fragwürdigkeit der eigenen Existenz heraushält. Nur so lange ist unsere Antwort eine wahrhafte, als sie die Grundfrage mit- und weiterfragt. Warum ist Seiendes und nicht eher das, was Seiendes nicht ist, das ganz Andere zum Seienden, nämlich das Sein? Was heißt Seiendes, was heißt (uns) Sein und was ,es gibt Sein‘? Entfaltet sich nicht die Antwort als Entfaltung der Grundfrage wie ein unabschließbares Gespräch? Bleiben wir nicht nur so lange im echten Philosophieren, als wir auf das Fragen der Grundfrage eingehen? Die Frage lässt sich nicht mit einer Behauptung (These) abtun, vielmehr beantwortet die ganze Ontologie (und nicht nur sie allein) die Frage nach dem Sein und dem Sinn von Sein, insofern und insonah es sich dem Seienden mitteilt, aber nur solange die Frage nach dem Grund und der Abgründigkeit des Seins wach bleibt. In dieser Situation des Grundverständnisses gilt es zu beherzigen, was Thomas von Aquin im Anschluss an Aristoteles vorsichtig komparativisch formulierte: »Das Geringste an Erkenntnis, das einer über die erhabensten Dinge zu gewinnen vermir gegenübersteht und das ich gerade deswegen umfassen und mir unterwerfen kann – während ein Mysterium etwas ist, bei dem ich selbst engagiert bin und das folglich nur als eine Sphäre denkbar ist, in der die Unterscheidung des In-mir [als einem Subjekt] und des Vor-mir [als einem intendierten Objekt] ihre Bedeutung und ihren Hauptwert verliert«. Die Unterscheidung von Problem und Mysterium ist eine von objektivierender Dar- und Vorstellung (exposition) und offenbarender Enthüllung (révelation): »Was wir haben, legen wir dar; was wir sind, enthüllen wir (teilweise, wohlverstanden).« (A.a.O., 242: Eintragung vom 27. Februar 1933 = Être et Avoir, 246 f.; vgl. auch: Werkauswahl, Bd. 1: Entwurf einer Phänomenologie des Habens, 87–103, hier 92; dazu a.a.O.: Das ontologische Geheimnis – Fragestellung und konkrete Zugänge, 59–86, hier 66; Position et Approches concrètes du Mystère ontologique, 56): Sein als sich offenbarendes Mysterium ist kein im bejahenden Urteil behauptetes Sein (être affirmé), sondern ein sich bejahendes, sich bekräftigendes, sich behauptendes Sein (être s’affirmant). Sein ist also niemals als vor mich (als Subjekt) hingestelltes und vorhandenes Objekt zu erkennen, als ein zu lösendes Problem, aus dem ich mich heraushalten könnte, indem ich es objektivierend vor mich bringe, sondern es ist als das anzuerkennen, woran ich persönlich ,partizipiere‘, d.h. engagiert beteiligt bin und in Hoffnung vertrauensvoll teilnehme – insbesondere an der Liebe. Das anzuerkennende Mysterium des Seins wird durch Problematisierung verkannt, veruntreut und verraten. Was als Grundvollzug existenziell-engagierten Denkens, das aus der Subjekt-Objekt-Beziehung und Aufsplitterung meines Seins (in mir/außer mir) zur Einheit meines persönlichen Innestehens und Aufenthalts im Mysterium führt, ist die Sammlung, die als Anwesendwerden im Sinne des zweiten Exkurses verstanden werden kann. Vgl. G. Marcel, Geheimnis des Seins. Siebente Vorlesung: Das Sein in der Situation, 173–200, hier besonders 175, 177 f., 181 ff.
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mag, ist ersehnenswerter als das sicherste Wissen von den niedrigeren Dingen.«95 Denn »das, was gemäß seiner Natur sicher (zuverlässig) ist, kann uns weniger sicher erscheinen, wegen der Unzulänglichkeit unseres Intellektes, der, wie Aristoteles sagt, ,sich zu den offenbarsten (greifbarsten) Dingen (der Natur) verhält wie das Auge der Nachteule zum Licht der Sonne‘«.96 Dinge, die von sich her fest stehen, zuverlässig gegründet und sicher sind, müssen nicht für uns in gleicher Weise sicher sein. Ein Maximum an Erkenntnissicherheit und -gewissheit ist in sich erstrebenswert, kann uns jedoch bezüglich der Sache des Denkens dort nicht leiten, wo es um Erkenntnis der erhabensten Dinge geht, die den sicher und gewiss erkennbaren Dingen vorzuziehen sind. Ein Zuviel an Licht kann uns als Erkennende in ein Dunkel versetzen, das phänomenal als Nichts erscheint, jedoch wegen der Bedeutsamkeit der Sache, um die es geht, wichtiger ist, als das, was man klar und deutlich demonstrieren kann.
3.3 Seiendes, Sein und Nichts als Hauptthemen der Ontologie
3.3.1 Zum Wissenschaftscharakter der Ontologie in Abhebung vom Gegenstandsbereich moderner Fachwissenschaften
95 Thomas von Aquin, STh I, q. 1, a. 5, ad 1: minimum quod potest haberi de cognitione rerum altissimarum, desiderabilius est quam certissima cognitio quae habetur de minimis rebus. Vgl. Aristoteles, De partibus animalium, lib. 1, cap. 5, 644 b 31–33. 96 Thomas von Aquin, a.a.O.: id quod est certius secundum naturam, esse quoad nos minus certum, propter debilitatem intellectus nostri, qui ,se habet ad manifestissima naturae sicut oculis noctuae ad lumen solis‘. Vgl. Aristoteles, Met. 1, A l, c. 1, 993 b 9–11. 97 Aristoteles, Met. 1, 1003a 21 f.: ϑ ϑ’
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Im Folgenden sei kurz erläutert, was Seiendes, Sein und Nichts nennt. Die erstmalige Angabe dessen, was dem Denken aufgegeben ist, um eine ,Wissenschaft‘ vom Seienden (Sein) zu entfalten, soll hier im Kontrast zu einem spezialwissenschaftlich bewährten Wissenschaftsbegriff erläutert werden. Dabei leitet mich der Gedanke, dass der Wesenscharakter der Wissenschaftlichkeit sich aus dem Verständnis der Eigentümlichkeit dieser Denkaufgabe bestimmt. Aristoteles ist es, der frühes mediterranes und südwestasiatisches Denken auf einen Gipfel führt, wenn er die Idee einer Wissenschaft, die man später Ontologie genannt hat, in elementarer Ursprünglichkeit entwirft: »Es gibt eine Wissenschaft (ein sachkundiges Sichauskennen), die das Seiende als Seiendes betrachtet (erschaut) und das, was ihm an ihm selbst zukommt.«97 Mit dem Seienden als Sei endes (seiend), dem ens qua ens, konstituiert sich die Ontologie als erste, anfängli-
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che Philosophie durch die Angabe eines einheitlichen thematischen Gegenstandes.98 Diese ist nicht in einer Reihenfolge von Sachgebieten die erste, sondern als Anfang aller Philosophie das dem ganzen Philosophieren erst den Grund legende Denken, welches alle Seienden, die Gesamtheit der Seienden, »die Seienden als Seiende« (t! nta nta),99 also das Seiende im Ganzen und nicht ein spezielles Gebiet (Gattung, Art oder Seinsregion) umfasst. Das Seiende ist insoweit ,als‘ Seiendes zu verstehen, als es ,seiend‘ ist, weil ,seiend‘ zu sein ihm zuteil wird und es in Bezug auf sich selbst (kaϑ’ at) durchwaltet, ja es von seinem Grund ausgehend durchherrscht (p1rcein). Was drückt nun das ,als‘ (griech. , lat. qua) aus? Zunächst ist das, was hier im Horizont des ,als‘ angesprochen wird und in diesem Ansprechen ,als Seiendes‘ offenbar gemacht wird, das Seiende im Ganzen. Dieses wird in seiner Mannigfaltigkeit und Ganzheit als überhaupt seiend, und zwar insonah und insofern es ist oder, besser gesagt im Hinblick auf sein Sein, angesprochen. Das wird zwar noch nicht explizit gesagt, kann aber als gegenwärtiges Anwesen thematisiert werden: also das Seiende in seinem gegenwärtigen Anwesen. Wir können vom Seienden gar nichts aussagen, ohne zuvor auf sein Sein, sein Anwesen, Währen und Gewähren des Seiende zu blicken, wodurch Seiendes uns gegeben und zugänglich ist. Die Bezugnahme auf diesen Seinsgrund des Anwesenden und jeweils Währenden umreißt der Ontologie ihren thematischen ,Gegenstand‘. Um die erste, d.h. die fundamentale Philosophie in ihrem Wissenschaftscharakter zwischen Weisheit (Dichtung) und geläufiger Wissenschaft angemessen zu bestimmen, muss sie von Spezial- und Fachwissenschaften abgegrenzt werden. Was eine (moderne) Fachwissenschaft begründet, ist die Vergegenständlichung des Seienden auf eine bestimmte Art und Weise: An ihm selbst ist Seiendes kein Gegenstand für ein Subjekt. Das Seiende wird vergegenständlicht, indem es als Forschungsbereich für die methodisch-systematische Beherrschung durch ein Subjekt, das sich dem Vorhaben entsprechend als kollektives konstituiert, entworfen wird. Dass Seiendes nun als ein dem forschenden Subjekt Entgegenstehendes erfasst wird, konstituiert es als Gegenstand. Die Gegenständlichkeit (Objekthaftigkeit) dieses Entgegenstehens ist näher zu erklären. Dabei kann eine in der scholastischen Philosophie allgemein anerkannte Unterscheidung hilfreich sein, nämlich die von Formal- und Materialobjekt. Das in den Fachwissenschaften Befragte ist das Seiende. Was in die Frage gestellt wird, das Befragte, wird dabei unthematisch-fraglos als gegeben (anwesend in seinem Anwesen) hingenommen. Es wird hier weder als solches (als Seiendes) 98 Thematischer Gegenstand meint alles das, wovon und worüber die Rede sein kann (,was angebbares Thema ist‘). 99 A.a.O., u.a. G 1, 1003b 15 f.; E 1, 1025b 3 f.
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Sterne, Wirtschaft oder sonst irgendeiner ist.100 Seiendes kommt erst auf Grund des Entwurfs (der Vorstellung des Bereiches, der Idee des Fachgebietes) für die spezialisierte Forschung in Frage bzw. gestattet, Nichtdazugehöriges auszuscheiden. Beispielsweise konnte dadurch Schritt für Schritt entschieden werden, ob Korallen in den Fachbereich der Mineralien, der Pflanzen oder Tiere fallen. Das, was auf Grund des Bereichsentwurfes erforscht wird, eine bestimmte Vielzahl von Seienden, ist ebenfalls Gegenstand der Wissenschaft, aber in einem bereits durch das Formalobjekt begründeten Sinn, also nur als sekundärer Gegenstand (obiectum per accidens), als Folgegegenstand, gewissermaßen als das ,Material‘, womit es die Wissenschaft faktisch zu tun hat, um das es geht (materia circa quam) – nicht zu verwechseln mit der (physikalischen) Materie, aus der etwas entsteht (materia ex qua). Das, was unter einer bestimmten Hinsicht 100 Darauf, dass solches wissenschaftliches Sichverhalten hier jeweils eine Haltung (habitus) generiert, die gesellschaftlich kollektive Bindungskräfte freisetzt, ist hier nicht einzugehen.
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noch uneingeschränkt in seinem Sein, sondern nur in einer bestimmten, eingeschränkten Hinsicht befragt. Mit dieser Hinsicht ist angegeben, worauf hin das Befragte befragt wird. Wonach gefragt ist, ist das Gefragte: die Fragehinsicht. Diese ist zu unterscheiden von dem, was unter dieser Fragehinsicht schließlich erfragt und erkundet werden konnte, das Erfragte. Mit diesem Unterschied von Gefragtem und Erfragtem ist die alte Unterscheidung von Formal- und Materialobjekt schon vorweggenommen und auf ihre Verwurzelung im fragenden Denken zurückgeführt. Nun besteht der primäre Gegenstand einer Fachwissenschaft im Entwurf eines Bereiches der Forschung bzw. einer zu erlangenden Erkenntnis, und zwar vermittels einer bestimmten Fragehinsicht. Man nennt die (gründende) Hinsicht, unter der etwas (so und genau so bestimmt) gesehen wird, unter der nach etwas gefragt wird, den formalen Gegenstand, terminologisch das Formalobjekt. Dieses ist nicht etwas bloß Formales (leere Äußerlichkeit), sondern gewissermaßen die wesenhafte ,Form‘, unter der etwas erblickt wird. Sie gibt an, als was etwas in Frage kommt. Unter Formalobjekt versteht man die vor- und vorausgreifende Hinsicht (die Ziel- und Systemidee, den allgemeinen Aspekt, Gesichtskreis, Gesichtspunkt, Bereichsentwurf usf.), unter der Seiendes als Gegenstand der Erfahrung und systematischen Erkenntnis in Frage kommen soll. Die jeweilige Fachwissenschaft wird durch diesen Grundakt der Vergegenständlichung konstituiert, der die Schaffung ihres Bereiches ermöglicht und im Voraus darüber entscheidet, welcher Bereich der Seienden für sie in Frage kommt, ob es nun der der Tiere, Pflanzen, Mineralien,
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dann auch (wirklich) erblickt und erfragt wird, nennt man Materialobjekt. Dieses hat man gewöhnlich im Auge, wenn man vom Gegenstand einer Wissenschaft spricht. An den vielen konkreten Seienden, die das Materialobjekt bilden, wird das Formalobjekt (obiectum per se) nur implizit miterfasst. Die für Wissenschaften konstitutive vergegenständlichende Repräsentation des Seienden wird daher oft übersehen. Seiendes ist aber von ihm selbst her niemals materiales Objekt berechnender Verfügbarkeit, sondern erst auf Grund des die Wissenschaft konstituierenden Formalobjekts. Im strengen Sinne des Wortes hat Philosophie (und das gilt umso mehr für die Ontologie als fundamentale Philosophie) kein spezielles oder partikuläres Formalobjekt, durch das ihr Gegenstandsbereich umgrenzt wäre und andere Bereiche ausgrenzen könnte. Sofern es in der Philosophie um das Seiende im Ganzen hinsichtlich seines Seins geht (Ontologie), hat sie streng genommen auch kein universell gemeinsames Formalobjekt, welches das Seiende (Anwesende) auf Vergegenständlichung hin anblickt, sondern sie sucht vor aller möglichen Vergegenständlichung das Anwesende in der es ermöglichenden Anwesenheit zu erfassen und methodischgeordnet aufzuweisen. Die Sorge des Philosophen kann nur sein, dass nicht etwa etwas von der ,Wirklichkeit‘ (vom Seienden im Ganzen und im Grunde) ausgelassen, übersehen, verschwiegen, vergessen, zugedeckt, entstellt oder verkehrt wiedergegeben wird. Philosophie ist daher auch Ideologiekritik, de- und rekonstruierend. Philosophieren heißt radikal im offenen Horizont denken, befremdet durch das Nichtgewusste, immer Wissen um das Nichtwissen (docta ignorantia) bleibend, niemals aus dem Staunen herauskommend, dass überhaupt Seiendes ist und dass nicht nichts ist. Das sachkundige (wissenschaftliche) Vorgehen der Philosophie kann ihr aufgrund ihrer prekären Stellung nicht von außen, niemals durch eine andere, spezielle Wissenschaft diktiert werden. Sie hat für Sinn und Charakter ihrer Wissenschaftlichkeit selber aufzukommen. Insofern sich Philosophie ihren thematischen Gegenstand, das Seiende als Seiendes, vor aller Vergegenständlichung geben lässt, ist sie im strengen Wortsinn gegenstandslos, aber das ist für sie kein Mangel, sondern darin besteht ihr Vorzug. Ihr phänomenologisches Aufweisungsverfahren ist daher nicht an anderen, auch nicht an den sogenannten exakten Wissenschaften zu messen, deren Wissenschaftler/innen (als Menschen) notwendig an der lebensweltlichen Kenntnis des Seienden hinsichtlich seines Seins teilnehmen, denen aber (als Fachleuten) gemäß der ,Natur‘ ihrer Wissenschaften das Seiende nur innerhalb ihres jeweiligen partikulären Horizontes unter methodischer Vergegenständlichung zugänglich ist. Überdies gilt auch für sie das Aristoteles-Wort: »Es ist Sache der Bildung, von je-
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dem Vorliegenden nur die Genauigkeit (Akribie) zu verlangen, die der Natur des Vorliegenden angemessen ist.«101
3.3.2 Das Seiende als das sich in seinem Sein Zeigende
101 Aristoteles, NE, I, 1, 1094 b 3–25. 102 Ein ursprüngliches Verständnis der Methode als Enthüllung der Sachen selbst, dessen Gang wir in seinem Sich-Fügen, differenzierenden Grundgeben denkend folgen, um so die Sache entsprechend zu ,ent-werfen‘, d.h. auseinanderzulegen, zu enthüllen und offenbar zu machen, lässt sich durch die Sache selbst leiten, die auf Grund ihrer Vernehmensmöglichkeiten den Erkenntnisweg im Voraus anbahnt und so durch ihr Zeigen hindurch den Weg vorausweist. Erst davon abgeleitet meint Methode das Aufzeigen des Denkverfahrens auf dem bereits vorgebahnten Weg, das angewandt wird, um zu einem Ergebnis zu kommen. Siehe oben 1. Kap., 2.3.1.2. 103 Goethes Werke, Bd. 12: Maximen und Reflexionen, 432.
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Um der Sache, mit der die Ontologie anfängt, näherzukommen, gehen wir von der Frage aus: Was ist das, das Seiende? Gemäß der phänomenologischen Zugangsweise ist Seiendes ein Phänomen im Sinne des Sichzeigenden, d.h. dasjenige, das sich selbst und von sich her zeigt, enthüllt und ins Unverborgene aufgeht. Man könnte auch sagen, Phänomenologie ist die Methode, die vom Verständnis des Seienden (der Sache selbst) her sich bestimmt. Dabei ist das, wofür wir von uns aus zugänglich sind, zu unterscheiden von der dem Phänomen eigenen Zugänglichkeit. Jedes Phänomen bahnt im Wie des Sichzeigens den Weg zu dem, als ,Was‘ es sich auf Grund seines Seins offenbart, und dies ereignet sich aus einer bestimmten Verbergung entspringend, wie aus einer Quelle. Die Vernehmbarkeit des Phänomens, der wir mit den aus unserem Sein geschöpften Vernehmensmöglichkeiten entsprechen, nimmt im Phänomen ihren Anfang.102 Seiendes ist keine Leitidee oder Arbeitshypothese, sondern ein ,Urphänomen‘, das nur in einem Verhalten, das sich für sein Vernehmen offenhält, hingenommen, aber weder ableitend bewiesen noch weitergehend erklärt werden kann. Denn das, wovon ein Beweis letztlich ausgeht, verstehen wir aus dem im Hinnehmen vernommenen Seienden, und was wir dem Seienden unterstellen, um es zu erklären, ist nachträglich, da es mit dem bereits vorgegebenen Seienden rechnet. Besonders für das Seinsverständnis, in dem wir Seiendes als ,seiend‘ verstehen, gilt, was Goethe im Blick auf die Urphänomene sagt: »Man suche nur nichts hinter [neben, unter oder über] den Phänomenen: sie selbst sind die Lehre.«103 Die Lehre ist zunächst das still (vor aller Oralität oder Textualität) uns Ansprechende. Das Urphänomen ist nicht hintergeh- und hinterfragbar, indes in dem, was es zeigt, fragwürdig; es bedarf ob seiner unscheinbaren Offenkundigkeit für das Hinnehmen keines Beweises, jedoch des Aufweises, der es methodisch mitsehen lässt.
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Stellen wir uns Seiendes bloß vor, statt es zur phänomenalen Begegnung von ihm selbst her zuzulassen, dann zeigt es sich (direkt) nicht selbst und von ihm selbst her. Hingegen ist das sich-selbst-zeigende Seiende, das sich von sich her als solches, d.h. gleichsam von Angesicht zu Angesicht, ,seiend‘ zeigen kann, so zugänglich, wie es als Seiendes ist und unmittelbar anwesend zu sein vermag. Seiendes als bloß vermittels einer Vorstellung (eines Begriffs) gedachte ,Entität‘, als zwischen mich (trotz aller weltoffenen Leibhaftigkeit meines Seins) und meine Erfahrung geschobene Vorstellung, stellt durch Vergegenwärtigung ein ,Schattenbild‘ von dem dar, was ist. Dadurch kann das, was ist, sich nicht ursprünglich von ihm selbst her geben. Die Weise seines Sichzeigen- und Begegnenlassens wäre dann nur eine abgeleitete, mittelbare, vermittels einer ,Re-präsentation‘ und damit von einem anderen her konstituierte. Von sich her ist Seiendes nichts anderes als selbst das in seinem Sein Seiende, das heißt, anwesend in seinem mitvollziehbaren Sichzeigen, Sichoffenbaren, Sichmitteilen, Sichgeben in aller Sprachlichkeit seiner Phänomenalität, denn Seiendes kann weder sein noch ist mitvollziehend denkbar, dass es ist, ohne dass es uns etwas sagt und bedeutet. Wir lassen also Seiendes in seinem Sein (Anwesen) zu, insofern und insonah es Seiendes ist: Du selbst bist es, ich selbst bin es oder dort das Fenster ist es usw.104 Vielleicht zeigt sich Seiendes gerade als selber Seiendes oder gar als ,Selbstseiendes‘ auf Grund seines personalen Seins in dem Maß, als es von sich selbst weg ein Zeigendes ist; und dadurch ist es gerade mit, durch und in Bezug auf Andere und aus diesen mehr es selbst als ohne sie. Das kann hier offenbleiben. Jedenfalls bildet Seiendes im Sichzeigen eine Mannigfaltigkeit von Mannigfaltigem, die auf vielerlei Weisen ihres Anwesens (in der Mannigfaltigkeit ihrer Seinsweisen) zugänglich ist. Seiendes wird hier als von ihm her und an ihm selbst sich Zeigendes verstanden. Als sich selbst Zeigendes zeigt es sich in Bezug auf sich, d.h. in der Weise des ihm eigenen Anwesens. Gerade wenn es sich im Bezug auf mich und für mich (uns) zeigt, zeigt es sich in seinem Anwesen selbst. Als erstlich Sichselbstzeigendes lässt es sich mindestens daraufhin freilegen. Das nehmen wir auch wahr, wenn es sich für Andere und für uns gemeinsam mit ihnen zeigt oder Andere es für uns mitsehen lassen. Wie anders sollte es sich sonst von ihm her und an ihm selbst zeigen, waltet doch in allem Von-sich-weg-Zeigen der Urbezug zum Sichzeigenden. Das Zeigen ist hier ein Sichenthüllen und Sichmitteilen und so Vernehmbarwerden 104 In abgeleiteter Hinsicht meint Phänomen die Erscheinung eines bereits Erschienenen. Diese erschienene Erscheinung vermeldet ein Dahinter oder lässt im Ungewissen, ob nicht nichts dahinter steckt. Auf diese Weise ist sie bloßer Schein im Gegensatz zum Sein. Im ursprünglichen Sinne ist das Phänomen die erscheinende Erscheinung, d.h. ihr Ins-Sein-Treten, Auftreten und Hervorkommen, ihr Aufgang in das Anwesen überhaupt.
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von Anwesendem in seinem Anwesen. Damit ist ausgeschlossen, dass das Seiende in seinem Sein ausschließlich aus dem subjektverhafteten Bezug des Fürmichseins missdeutet wird, beispielsweise als das, was ich anlässlich einer Erfahrung erlebe (nichts als meine Erlebniswelt), oder als die von mir vorgestreckte Rezeptionsweise bzw. die von mir erfundene Wirklichkeit (Konstrukt). Das von sich her sich selbst zeigende Seiende ist ursprünglich an ihm selbst sich Zeigendes und nicht bloß an (einem) anderen. Beispielsweise sind die uns aus der Philosophiegeschichte als Kategorien- oder auch Klassifikationssysteme bekannten Aussageweisen (Prädikamente) solche, durch welche wir Seiendes von etwas anderem her und auf dieses hin bzw. als an anderem Sichzeigendes durch den Vergleich begrifflich bestimmen, enthüllen, erklären u.Ä. Wir bringen es in unseren Gesichtskreis und sprechen es auf etwas hin an, das es mit anderem (mehr oder weniger abstrakt) gemeinsam hat, das heißt, wir bestimmen es begrifflich allgemein und definieren es (den Begriff entfaltend); wir bilden eingeschränkte Bereiche oder Sphären von Seienden, die einander ein- und ausgrenzen. Dazu ist auszublenden, dass alles so und so bestimmte und von anderen abgegrenzte Seiende immer nur als Seiendes (Anwesendes) ,seiend‘ (anwesend) sein kann. Was immer man als Seiendes begrifflich und definitorisch als Gattung, Art, spezifische Differenz bestimmt, ist in der Vielzahl der Bedeutsamkeiten des uns begegnenden Seienden vom Sein durchwaltet. Sein geht durch alle kategorialen Bereiche und Scheidungen hindurch und über sie hinaus, insofern wird es transzendental genannt.105 Beim kategorialen Bestimmen blicken wir auf solches, das sich nicht nur durch sich und von sich her, sondern in gleicher Weise auch an anderen Seienden zeigt: Als Seiendes bist du beispielsweise ein Mensch, und als dieser Mensch im ,Da‘ deines Weltaufenthaltes anwesend. Dieses Menschsein zeigt sich hinsichtlich seines Wasseins auch an anderen Seienden, die es unter der Unzahl von Seienden gibt, und die eben menschliche Individuen sind. Noch allgemeiner begriffen bist du als Lebewesen dem Tierreich angehörig, wobei hier vom Menschsein abstrahiert wird. Begrifflich noch weiter gefasst sind Lebewesen Weltkörper, selbstständige Seiende, zu denen du gehörst. Diese selbstständigen Seienden unterscheiden sich von dem, was jeweils nur mit dazugeraten oder ihnen mitgegeben ist und was nur an einem Selbstständigen vorkommt. Man hat diese Modifikationen der Seienden in ihrem Sein in selbstständige und in mitgegebene unselbstständige Seinsweisen bekanntlich Substanzen im
105 Der Sinn von Sein soll im zweiten Band dieser Philosophischen Theologie im Umbruch über das hinaus, was unter Sein unmittelbar zu verstehen ist, im Blick auf die ontologischen Transzendentalien traditioneller Ontologie weiter aufgeschlossen werden.
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Unterschied zu Akzidenzien genannt.106 Doch sind auch Akzidenzien, mitanwesende Seinscharaktere, an sich selbst wiederum eigenständige (aber nicht selbstständige!) Seiende, obgleich sie an und in einem Seienden ihr Sein haben, wie etwa dein schwarzer Haarwuchs, dein Gewicht, die Beziehungen, in denen du stehst, oder dein räumlich-zeitliches Situiertsein, Notwendiges und Zufälliges, ohne das du nicht sein kannst. Wenn wir Seiendes in seinem Sein zulassen, zeigt es sich selbst von ihm her und an ihm selbst; unter begrifflichen Hinsichten gefasst, ist es hingegen mehr oder weniger Allgemeines und im umgekehrten Verhältnis zum Abstraktionsgrad inhaltsleer. Das, wovon abstrahiert wurde (das Konkrete), ist, aber auch das abstrahierte Abstrakte ist auf seine Weise. Das in unausschöpfbarer Mannigfaltigkeit von Bedeutsamkeiten sich Zeigende enthüllt sich in einer Mannigfaltigkeit von Weisen seines Anwesens. Seiendes besagt in seinem Sein konkrete Fülle, niemals bloße Leere und Abstraktheit. Fragen wir, was das Seiende als Seiendes ist, dann fragen wir nicht, was dieses oder jenes Seiende oder Ereignis (ein Kristall, eine Orchidee, eine Schwalbe, ein Handy, ein Geldtransfer) ist; wir fragen auch nicht nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten oder danach, welche Bereiche (Welten) das Seiende im Ganzen ausmachen oder welche aufeinander nicht zurückführbaren höchsten Gattungsbegriffe (Kategorien, Prädikamente) es gibt. Wird nach den mannigfaltigen Weisen, wie man Seiendes kategorial differenziert begreifen kann, gefragt, so sieht man davon ab, dass kategoriale Ausdifferenzierungen und Ordnungen eine Mehrfaltigkeit von speziellen Seinsweisen des Seienden darstellen, aber den transzendentalen Sinn von Sein nicht erschließen. Fragen wir, was das Seiende als Seiendes ist, dann fragen wir nach allen und jedem Seienden, wie heterogen sie auch sein mögen und mannigfaltig in ihren Seinsweisen und Bedeutungen, wir fragen nach dem Seienden im Ganzen im Hinblick auf sein Sein. Das Ganze ist nicht die Summe aller Seienden (Tatsachen) plus ihren Wechselwirkungen. Welt ist nicht (analog zu innerweltlichen Seienden) als Megaseiendes vorzustellen, ist sie doch selbst kein Seiendes mehr, sondern ontologisch als die Offenheit des Seins alles Seienden der konkrete Offenheitsbereich der uns jeweils phänomenal zugänglichen Seienden.
106 Zur Substanzmetaphysik siehe den Exkurs gleichfalls im folgenden Bd. 2 der Philosophischen Theologie im Umbruch.
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3.3.3 Möglichkeit eines verbalen und nominalen Verstehens des Seienden und des Seins
Um besser zu verstehen, was ,das Seiende‘ (griech. t n, lat. ens) nennt, ist zu beachten, dass dieses Wort ein Participium praesens des Zeitwortes ,sein‘ (griech. t nai, lat. esse) ist. Ein Partizip ist ein Wort, das durch Teilhabe ausgezeichnet ist; es nimmt teil sowohl an der Wortart des Nomens bzw. Substantivs als auch an der Wortart des Verbums. Darüber hinaus stellt das Partizip eine Abwandlung des modus infinitivus des Zeitwortes dar. So bedeutet das ,Duftende‘ einmal das, was duftet, zum Beispiel die Rose, aber auch das Duften selbst, den Rosenduft, oder das ,Leuchtende‘ bedeutet einmal das, was leuchtet, zum Beispiel das Feuer, oder aber das Leuchten selbst, den Feuerschein. Wir können also das Wort ,Seiendes‘ sowohl substantivisch als auch verbal verstehen und fragen, was es ist, da es ja etwas ist und nicht nichts ist, oder wie es ist, d.h. hervorkommt und sich zeigt, sich gibt und sich zu eigen gibt, d.h. sich ereignet. Gewöhnlich denkt man das Seiende in substantivischer bzw. in nominaler Bedeutung, und zwar bevorzugt als etwas Vorhandenes, und konnte daher im substanziellen Seienden das Paradigma für Seiendes überhaupt erblicken. So konnte sich teilweise die Meinung durchsetzen, dass der Hauptgegenstand der Metaphysik die Substanz sei. Oder vom Seienden wird als allumfassender Vernunftidee gesprochen, da in ihr davon abgesehen wird, ob Seiendes wirklich ist oder nur sein könnte (ens ut nomen). Ursprüngliches Denken verhält sich zurückhaltend und kritisch zur grammatischen Substantivierung und ontischen Substanzialisierung, aber auch zu einer im reinen Denken begrifflich gefassten Seinsidee des Existierenkönnenden. Es achtet auf das Ereignishafte des Seienden, das im Vollzug seines Seins zustande kommt (ens ut participium). Trotzdem schließt es die substantivische oder nominale Bedeutung keineswegs von vornherein aus, zieht aber die verbale, zeitwörtliche, als die der Sache entsprechende ursprünglichere Bedeutung vor. Darauf, dass das verbale Verständnis des Seienden ein partizipiales Seinsverständnis ist, muss noch näher eingegangen werden. ,Sein‘ sagen wir im modus finitus (der gegenüber dem modus infinitus sprachgeschichtlich älteren Aussageform) aus: im verbalen ,ist‘-Sagen, verborgener auch im ,bin‘- und ,bist‘-Sagen, ja in jedem Zeitwort. Der ,In-finitiv‘ ist eine Aussageweise, die das Gedachte und noch zu Denkende im Unbegrenzten und Ganzen belässt. Durch Substantivierung wird der Infinitiv ,sein‘ zum gebeugten, deklinierbaren Infinitiv ,das Sein‘ (lat. [gelegentlich mit griech. Artikel tò] esse), dem Gerundium, das für das lat. Verb angibt, was ausgeführt werden, geschehen muss; es ist ebenso doppeldeutig wie das Partizip ,Seiendes‘.
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Ähnlich wie ,das Seiende‘ kann ,das Sein‘ verbal, aber auch nominal verstanden werden. Nach der Grammatik wird ,das Sein‘ als ein Verbalsubstantiv bestimmt. Ein Geschehen, das gewöhnlich durch ein Verbum (Zeitwort) ausgesagt wird, kann auch durch ein Substantiv ausgedrückt werden. Wenn zum Beispiel ,der Nachbar schläft‘, kann man vom ,Schlaf des Nachbarn‘ reden. Weil das Verbalsubstantiv ,Schlaf‘ ein Geschehen aussagt, spricht man hier auch von einem Nomen actionis. In diesem Sinne ist ,das Sein‘ vom Infinitiv des Zeitworts ,sein‘ her zu verstehen. Im und als Vollzug (actus) des Seienden ist es verbal zu verstehen. Das ,Sein‘, vom Infinitiv ,sein‘ her verbal verstanden, besagt dann: sich vollziehen und tätigen, andauern; sich ereignen, anwesen; währen und gewähren; sich mitteilen, sich geben und schenken; weilen und verweilen. Das ist im Sinne eines nominal-substantivischen Verständnisses nichts greifbar Vorhandenes, nichts Existierendes. Es kann aber statt des Geschehens das durch das Geschehen erreichte Ergebnis (das Getane = lat. actum) bezeichnen. Das Verbalsubstantiv dieser Art heißt Nomen acti. Statt mit der Geschehensbezeichnung hat man es hier mit einer Sachbezeichnung zu tun. Verdinglichend gebraucht kann ,ein Sein‘ auch irgendetwas, ein Ding, ein Subjekt, eine Substanz, ein Seiendes usw., bezeichnen. Spricht man dann das Seiende auf sein Sein hin an, dann kann man Sein auch in nominaler Bedeutung verstehen und lässig von einem vorhandenen ,Sein‘ reden. Sein und Seiendes werden austauschbar und durcheinandergebracht.107
107 Aus den bloßen grammatischen Feststellungen über den nominalen und verbalen Sinn von Sein wird hier nichts abgeleitet und bewiesen; sie stehen im Dienst der Verwahrung des Seinsdenkens und verdeutlichen, wie Sein zur Sprache kommen kann. Damit erübrigt sich der sprachrelativistische Einwand, Ontologie sei bloß sprachlich bedingt, weil in den indo-europäischen Sprachen verwurzelt. Um Sein oder Nichtsein geht es auch den Menschen, deren Sprache das indogermanische Zeitwort ,Sein‘ nicht kennt und die unser verbal verstandenes Sein, das nicht etwas Seiendes ist und als ,Nichts‘ erscheint, auf andere Weisen aussagen. Auf die Erörterung der interkulturellen Übersetzungsprobleme, die den Sinn für das Gesagte schärfen würden, muss hier verzichtet werden. Selbstverständlich kann aus der Grammatik der philosophisch-kritisch zu erhebende Sinn von Sein, die Bevorzugung der verbalen Bedeutung, niemals abgeleitet werden. Von der Sache des Denkens her bewegt, muss Philosophie gegen ihre eigene Sprache sprachkritische Bedenken anmelden. Das ist im Seinsdenken der Fall, wenn gegenüber der grammatischen Bestimmung von Haupt- und Zeitwort, wie K. Hemmerle sagt, »Das neue Hauptwort: das Verb« ist: Thesen zu einer trinitarischen Ontologie, 39. Eine »Phänomenologie der Liebe als Phänomenologie des Seins« müsste beim »Sich-geben«, »beim Geschehen, beim Vollzug« ansetzen. »Das Denken ist nicht Rückgang hinter den Vorgang, um ihn von einem isolierten Ursprungspunkt aus zu konstruieren. Vielmehr findet sich das Denken je schon bzw. allererst im Vorgang selbst. Das Hauptwort eines solchen Denkens ist nicht mehr das Substantiv, sondern das Verb. Vom Mitgang mit dem Vorgang aus eröffnet sich, was vorgeht, wer vorgeht, woher und wohin das Vorgehen geht.« (93 f.)
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3.3.4 Konstruktion und Problematik des nominalen Verständnisses des Seienden in seinem Sein
Worauf kommen wir, wenn wir in nominaler Bedeutung eine Antwort auf die Frage ,Was ist das Seiende?‘ suchen? Was ist dann das, worin und wodurch etwas ,seiend‘ ist? Was kann dann als das Sein dieses Seienden ausgemacht werden? Das Seiende, so wird substituiert, meint die Seienden in ihrem Sein, in dem, was sie als Seiende verbindet, was ihnen allen und jedem einzelnen Seienden gemeinsam zukommt: das Allgemeine, das Generelle oder Abstrakteste aller konkreten Wesen, ihre Wesenheit; und das ist die ,Seiendheit‘ des Seienden (die entitas entis). Dieses Kunstwort mit der Wortendung -heit ist ähnlich wie viele uns geläufige Wörter gebildet, beispielsweise wie Freiheit, die das nennt, was das Freie (das freien Menschen Eigene) ist und was es als solches auszeichnet, oder wie die Wesenheit, durch die man den Wasgehalt konkreter Wesen (Anwesender) im Allgemeinen hervorhebt. Fragen wir beispielsweise nach dem, was ein Volkswagen vom Typ ,VW-Käfer‘ ist, so ist das, was allen diesen Fahrzeugen gemeinsam ist, die VWKäferheit zu nennen. Allein diese bestand bereits vor aller Herstellung als zu Papier gebrachte Konstruktion, und sie überdauert jedes Fahrzeug dieses Typs, das anders als die Konstruktionsidee Treibstoff verbraucht, einen Parkplatz besetzt und am Ende verschrottet wird. Die VW-Käferheit ist also nicht nur das, worin alle einzelnen Fahrzeuge dieser Art vergleichbar übereinstimmen, sondern auch das sie Ermöglichende, das als Wertschöpfung jedes einzelne Fahrzeug an Wert übertrifft. Sie ist gewissermaßen das ,Sein‘ der Fahrzeuge dieser Art. In Anlehnung an dieses Gedankenmodell kann man sich das Sein des Seienden als Seiendheit verständlich machen. Die Seiendheit wird ausgehend vom Seienden (re)konstruiert, nicht von seinem Sein aus (durch Teilnahme an ihm) verstanden. Man denkt das Sein des Seienden durch Verallgemeinerung, konzentriert sich darauf, wie es gedacht wird, denkt aber nicht, was Sein selbst bedeutet, worum es da geht, wie es um seinen Sinn steht. Das Sein des Seienden wird zu einer Art ,Wesenheit‘ überhaupt verbegrifflicht. Was allen Seienden zukommt, das begrifflich allgemeinste Sein, ist gerade noch vorstellbar als etwas, das nicht nichts ist. Das ,gemeinsame‘ Sein (esse commune) ist unter dieser Voraussetzung nicht die grenzenlose Fülle des Seins, an der die Seienden teilhaben, kein Währen und Gewährtsein, das Seiendes im Ganzen ereignishaft ermöglicht, sondern es verbindet die Seienden als das Abstrakt-Allgemeinste, das man sich überhaupt vorstellen kann; es wird als der allen Dingen gemeinsame Charakter verstanden, der sie gerade noch nominal als Etwas-,seiend‘ verstehen lässt.
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Für diese gedankliche Konstruktion der Seiendheit wird ein für selbstverständlich gehaltener Vorrang des Seienden vorausgesetzt. Man kann sich doch nur auf das verlassen, was irgendwie fest steht, festzumachen, festlegbar und zu befestigen ist, was in seiner Existenz affirmierbar, bekräftigt, bestätigt und ponierbar, was als Tatsache vorhanden oder als Ressource verfügbar ist? Man weiß im Alltag flüchtig um das Sein wie um die Luft, die wir momentan atmen, aber als Boden und Grund gebraucht und verbraucht, bietet es keine verlässlich dienende Stütze. Auf diesen Boden, der ständig nachgibt, ist kein Verlass. Gerade das zeitwörtlich verstandene Sein versagt als Grund eine sichere Gründung, es erweist sich überallhin als nichtig, als der ,Ab-grund‘, in den alles wieder fällt und darin verschwindet. Wenn überhaupt etwas Halt, Zuflucht und Verlass bieten soll, so können es doch nur Verhältnisse sein, in denen Seiendes sicher- und festgestellt werden kann. So ruft alles nach der Vorherrschaft des Seienden. Und damit bleibt die Gabe der Zeit, die uns zu sein gegeben und daher verfügbar ist, das sich im ,bin‘ und ,bist‘ zeitigende Sein, verdeckt. Aber gerade Sein bleibt »im alltäglichen Verhalten nicht nur das Verläßliche, sondern es ist vordem schon jenes, was uns das Seiende überhaupt innewerden läßt und verstattet, daß wir inmitten des Seienden selbst Seiende sind«.108 Wird das Sein vom Seienden her und um willen des Seienden verstanden, dann verschafft man sich mit der Auslegung der Seienden (unter Einebnung ihrer Mannigfaltigkeit) als Seiendheit nur nachträglich ihr Allgemeinstes unter Ausblendung alles Konkreten. Die Seiendheit ist so der »Nachtrag und deshalb das ,Aprori‘«.109 Dass es unter dem Gesichtspunkt des Begriffs gedacht und ausgelegt wird, besagt: Das Seiende wird vom Denken aus zu dessen Gegenstand (das Objekt als Entwurf und Vorwurf) gemacht. Das Seiende (als Materialobjekt) wird als Seiendes im Begriffsgefüge eines Formalobjektes einer Wissenschaft ausgelegt, und zwar als der erste dem Denken angemessene Gegenstand, genauer: als die Gegenständlichkeit des Gegenstandes, das unüberbietbare Formalobjekt aller Materialobjekte. Wird nun Sein als Seiendheit in jeglichem Seienden angetroffen, dann hat jedes Seiende am anderen Seienden seinesgleichen: das Gleiche seiner selbst. Die unübersehbare Mannigfaltigkeit der Seienden wird in ihrer Heterogenität, Gleichursprünglichkeit ebenso wie in ihren Stufen, Rängen und Auszeichnungen ausgeklammert. Sie ist nicht gemeint, wenn das ,ist‘ durchgängig das allen Seienden Gemeinsame (esse bzw. ens commune) bezeichnen soll. Durch diesen Maßstab des immer Gleichen und Unterschiedslosen versinkt, was immer ist, sei es Mineral oder 108 M. Heidegger, GA, Bd. 51: Grundbegriffe, 66, vgl. § 12, 62 f.: »Das Sein ist das Verläßlichste und
zugleich der Abgrund.« 109 M. Heidegger, GA, Bd. 65: Beiträge, 174, 63 f., 183.
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Baum, Tier oder Mensch, Welt oder Gott, in eine nichtssagende Gleichförmigkeit. Das logische Instrument dieser Nivellierung des Seins ist der allgemeinste Begriff (communissimum simpliciter bei Johannes Duns Scotus). Sein ist der ausnahmslos allem und jedem gemeinsame, der allerallgemeinste Begriff, der kein Allgemeineres mehr zu seiner Bestimmung zulässt.110 Er umgreift daher die Totalität der Seienden. Als der all-umfassende Begriff ist Sein der inhaltsleerste, denn nach den Regeln der Logik gilt, dass ein Begriff, je umfassender er seinem Umfang nach ist, desto unbestimmter und leerer ist er seinem Inhalt (Sachgehalt) nach. Das verbegrifflichte Sein erweist sich gemäß dem Wesen des Begriffs als Gegenstandsbestimmung durch seine Bedeutung (seinen Inhalt). Diese, als Seinsbegriff verstanden, enthält einen Minimalinhalt, die völlige Unbestimmtheit als höchste, nicht mehr überschreitbare, hintergehbare und unaufklärbare Bestimmtheit. Der Seinsbegriff besitzt inhaltlich nur ein einziges Merkmal, das ,Ist‘, die ,Istheit‘ oder Seiendheit, und sonst ist von allem konkreten Inhalt abgesehen. Unter der Voraussetzung, dass Sein ein im Begriff zu Begreifendes ist, ist er der abstrakteste und leerste Begriff. Von dieser begrifflichen Auffassung des Seins her sind dann verschiedene, ja entgegengesetzte Deutungen möglich geworden.
3.3.5 Ideologiekritische Dekonstruktion des begrifflichen Seinsverständnisses
Dass dieser begriffslogische Ansatz der Ersten Philosophie obsolet werden musste, ist trotz des großartigen Rettungsversuches durch Hegel, auf den später einzugehen sein wird, verständlich. Fatal ist die verallgemeinernde Identifizierung des begrifflichen Seinsverständnisses mit dem metaphysischen Denken, das sich demnach eingestandenermaßen in abstraktesten und definitorisch unaufklärbaren Letzt- oder Grundbegriffen bewegt. Diese konnten aus neopositivistischer Sicht für bloße »Leerformeln« (Ernst Topitsch) gehalten werden, die so formal sind, dass sie mit jeglichem Inhalt gefüllt werden können. Ihre Leerheit provoziert geradezu eine ideologische Auffüllung, die jeweils Herrschenden dienstbar gemacht werden kann. ,Sein‘ ist die formalste und inhaltsloseste Leerformel der Metaphysik, eine nichts sagende Unbestimmtheit. Demgemäß ist Ontologie ein Sammelname für die leersten Scheinprobleme.111 Die ideologiekritische Bedeutung dieser Problematisierung des nominalen Seinsverständnisses ist nicht zu unterschätzen, denn tatsächlich kann das Seiende 110 Vgl. a.a.O., Bd. 51: Grundbegriffe, Frankfurt/M. 1981, 46, vgl. 45 f., 49 f., 69 f. 111 Vgl. O. Marquard (1980), Artikel »Leerformeln«, in: HWP, Bd. 5, Sp. 159 f.
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im Ganzen vom Sein irgendeines Gegenstandsbereiches her reduktionistisch erfasst und ausgelegt werden. Aus dem Begriff eines Sonderbereichs wird, wie Leo Gabriel in seiner Integralen Logik gezeigt hat, durch einseitige Verabsolutierung ein exklusives System der Welt bereitet: »Alles ist Materie« (Physikalismus), »Alles ist Leben« (Biologismus), »Alles ist Geist« (Idealismus) usw. Aber gerade nicht das Seinsdenken, sondern das ungezügelte Begriffsdenken führt zu einer verkehrten Ideologie, zu einem ,-Ismus‘.112 Als herausragend sei auf Nietzsches ideologiekritisches Potenzial verwiesen, der trotz seiner Nähe zum Biologismus ein bloß nominales Seinsverständnis in seiner Nichtigkeit dekonstruiert hat. Er beantwortet die leitende Grund-Frage der Metaphysik, was das Seiende (im Ganzen seinem Sein nach) sei, durch die Pluralität von Seienden, der Werdenden, die ihrem ,Sein‘ nach fließendes Leben, Kraftquanten, Aktion, Mehrwerdenwollen, die Willen zur Macht sind. Er verabsolutiert die sein Denken leitende Grund-Erfahrung des Lebens und denunziert von da aus das im Gegensatz zum Werden bestimmte Sein als etwas Erstarrtes, das aus dem Denken der Begriffslogik nur zum Gleichsetzen, Festmachen taugt. Dieses verfestigte Leben als Zurechtgemachtes, Verengtes, Einseitiges, Vereinfachtes ist nur scheinbar ,das Wahre‘, in Wirklichkeit jedoch Täuschung und Irrtum. Die eigentliche und einzige Realität ist vielmehr Leben als Scheinen, und zwar Schein als die Weise, wie das Seiende tätig ist. Nietzsche legt das Sein des Seienden nicht von ihm selbst her, sondern aus dem Gegensatz (zum ,Platonismus‘) von etwas anderem her, einem Grund-Begriff, aus, durch den man das Allgemeine eines Sonderbereichs bestimmt und somit begrifflich vereinfacht und verengt auslegt.113 In Entgegensetzung zu seinem Grundbegriff des konkreten Lebens karikiert Nietzsche dennoch äußerst treffsicher die ,höchsten Begriffe‘ der Metaphysik wie das Sein als »letzten Rauch der verdunstenden Realität«, die daher nicht »a l s Anfang [Grund]« zu nehmen seien.114 Das begrifflich-nominal gefasste Sein (im Sinne der Seiendheit des Seienden) ist hier ein unwirklicher Dunst, eine den Sinnen entschwindende übersinnliche Leere, ein Irrtum, der nichts Wirkliches, nichts leibhaftig Greifbares und Reales bedeutet.
112 Vgl. L. Gabriel (1956), Integrale Logik, 285 f, 291–296. 113 Vgl. vom Verf. (1996), Grundgedanken bei Freud und Nietzsche im Blick auf die Sachproblematik der Metaphysik des Willens. 114 Nietzsche, KGW, Bd. VI/3: Götzendämmerung, 70; vgl. dazu M. Heidegger, GA, Bd. 40: Einführung in die Metaphysik, 39; GA, Bd. 48: Nietzsche, 316; GA, Bd. 51: Grundbegriffe, 34, u.ö.
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3.3.6 Vorrang des verbalen Seinsverständnisses
Verstehen wir Sein verbal (zeitwörtlich), dann ist die Entgegensetzung von Sein und Werden, von Wahrem und Scheinbarem, von Statik und Dynamik, von Welt der ewigen Ideen und Welt im zeitlichen Wandel, von Sinnlichem und Übersinnlichem (wie im vulgären Platonismus) ein Missverständnis. Das Sein ist kein Etwas, kein Seiendes, auch nicht das Seiendste oder Höchste unter den Seienden oder das Seiende im Ganzen; als dieses Nicht-Seiende ist es auch kein vorgestelltes Nichts (das All der Seienden weggedacht), keine Abstraktion, die man beiseitelassen könnte, denn es erscheint (mindestens in der Todesangst) als Nichts, wo es sich entzieht und zu entschwinden scheint, und zwar als die Abgründigkeit des Seienden, aus der Seiendes entsteht und in die hinein es wieder vergeht. Wollen wir das Sein daran messen, ob es ein Seiendes ist oder nicht, versagt es sich und muss als Nichts erscheinen, da es ja kein Seiendes ist. Das Sein meint auch nicht die Seiendheit des Seienden (entitas entis), das abstrakt gesteigerte Wesensallgemeine der Seienden (analog zur Pferdheit, Baumheit, VW-Käferheit), sondern Sein nennt das Konstitutivum (das innerlich Begründende) jedes und alles Seienden, ohne sich darin zu erschöpfen. Denn das, wodurch überhaupt etwas – nämlich Seiendes – ist und nicht vielmehr Nichts ist, bleibt stets fragwürdig. Wir fragen nach dem Sein als Grund des Seienden, ja darüber hinaus nach dem Sein selbst und nicht nur nach der Bedeutungsmannigfaltigkeit und Wesensbestimmung des Seienden. Der Sinn des Seienden erfüllt sich vielmehr darin, dass es sich in seinem Sein zeigt, und insofern ist es das, was es selbst, um willen des Seins ist: Enthüllung und Mitteilung von Sein. Sein ist nicht ein abstrakter Charakter (die Seiendheit) oder eine allgemeine Eigenschaft (Qualität oder Zustand), den oder die Seiendes auch hat, etwa bloß ein auratisches Anwesendsein als eine Art sich verflüchtigender Dunstkreis (dust), also nur mehr eine Begleiterscheinung des Seienden, ein Epiphänomen, kein originäres Phänomen des Ins-Sein-Tretens von Seiendem. Das wird deutlicher, wenn wir uns erneut in das Phänomen vertiefen. Seiende sind uns in sinnenhafter Wahrnehmbarkeit gegeben. Wir gewahren sie beispielsweise wie die Fenster dort …, indem wir bei ihnen anwesend werden und sie in und aus ihrem Anwesen als seiende, d.h. ontische Phänomene hinnehmen. Aber weder unser für Fenster zugängliches Selberanwesen noch die sich in ihrem Sein (Anwesen) zeigenden Fenster sind als solche ontische Phänomene. Das Sein ist nicht, irgendwann und irgendwo als schon Anwesendes antreffbar oder als Vorhandenes vorstellbar, es ist überhaupt nichts Anwesendes, denn dann müsste dieses wiederum anwesen und so fort ins Endlose (im Sinne eines regressus ad infinitum), vielmehr werden wir nur dessen inne, d.h. wir
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nehmen es wahr und gewahren, erinnern und gewärtigen es in seinem Walten als das, wodurch Seiendes währt, uns gewährt wird und in die Unverborgenheit aufgeht. Das ontische Phänomen erweist sich damit als ontologisch fundiertes Phänomen. Dabei gilt es auf den verbalen Sinn von Sein zu achten, auf das Sichzeitigen unseres Daseins, auf unser Anwesen im Gewahren des Anwesens von Anwesenden. Wir verstehen hier Zeit nicht als chronometrische Zeit, wie man sie als Abfolge des Nacheinander misst. Gewiss, auch diese Zeit ist, jedoch nur, indem sie vergeht. Diese am Jetzt-Sagen gemessene Zeit vergeht ständig; kaum sage ich ,jetzt‘, ist dieses Jetzt nicht mehr, und bevor ich ,jetzt‘ sagte, war es noch nicht. Sie ist von einer eigentümlichen Nichtigkeit. Dagegen ist hier Zeit in ihrem verbalen (An-)Wesen verstanden, von der Zeit her, die wir zu sein haben, weil uns Zeit gegeben ist, jemand selbst zu sein. Sein ist daher zeitwörtlich Gabe des Anwesens, Seinsgeschehnis, auf das wir uns selbst verstehen dürfen. Aus diesem verbalen Seinsverständnis lässt sich phänomenal die Weite des Seins, die alles bloß jetzt gegenwärtige Seiende und Sein überschreitet und an der Seiendes teilnimmt, verständlich machen. Anders als anwesend ist Seiendes für uns als Seiende nicht zugänglich. Doch was die Anwesenheit hier und jetzt (gegenwärtig) steigert und weitet, ist die Anwesenheit von Abwesen – und daher auch das Abwesen alles Abwesenden einschließlich des Gewesenen, das wir in seinem Weltbezug behalten haben, sowie des auf uns zukommenden Künftigen, in das hinein wir uns immer schon entrückt erfahren. Aber auch gegenwärtig weit Entferntes kann eben als Entferntes anwesend werden und uns so nahe gehen wie das Schicksal eines Weltraumfahrers den Angehörigen, die – über den Bildschirm ,hier‘ – ,dort‘ bei ihm anwesend sind. Diese Weise phänomenalen Gegebenseins besagt nicht bloß Vertretenwerden durch eine (innerpsychische) Abbildung oder Vorstellung. Wir sind im Vergegenwärtigen der räumlich Entfernten wie beispielsweise der nicht leibhaftig vorhandenen Astronauten wirklich selbst bei ihnen, und zwar dort, wo sie leibhaftig sind (also nicht bilokal Anwesende!). Ebenso haben wir von dem, was gewesen ist, primär kein gedankliches Bild, keine Vorstellung, die uns, was war, nur mittelbar repräsentiert, sondern wir sind des Gewesenen unmittelbar inne als einem Gewesenen (gestern, damals …). Bleiben wir beim Phänomen, dann verstehen wir uns selbst auf das Sein als Anwesen, welches sowohl das gegenwärtige Anwesen (des Seienden) als auch das abwesende Anwesen (des Seienden) umfasst, so ungleichmäßig unser Aufenthalt im Gewesenen, Gegenwärtigen und Zukünftigen auch sein mag. Das Anwesen könnte gar nicht walten, wenn es sich nicht von ihm selbst her ins Offene und Freie bringen könnte. Dieses Walten und Währen des Anwesens (von Anwesenden) ist auf diese Weise ein im weitesten Sinn raum-zeitliches; es bildet
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115 M. Heidegger, GA, Bd. 51: Grundbegriffe, 71. 116 Man kann die Begrifflichkeit des Seins in einem abstrakt-eindeutigen (univoce) Sinn durch eine analoge Begrifflichkeit (conceptus analogus) retten wollen. Der Versuch, sich zwischen eindeutigem Sinn (Univozität) und verwirrender Vieldeutigkeit (Äquivozität) durch Analogie des Seins bzw. Seienden
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die Spannweite unseres jeweiligen Weltaufenthaltes. Doch das Sein (der Seienden) erschöpft sich nicht in ihm, sondern Welt (der aufgehende Aufgang und das Offene des Seins) hat in ihm jeweils seine phänomenale Zugänglichkeit. Mit dem Sein nennen wir etwas, das nicht seinesgleichen hat, das unvergleichlich, einzigartig, aber nicht einförmig ist. Das Sein ist ohne Plural; es gibt es nicht ein zweites Mal wie einen Doppelgänger. Es ist immer ein und dasselbe Ganze, das in den unterschiedlichsten Seinsweisen und Seienden waltet. »Es gibt unterschiedene Weisen des selben Seins, aber es gibt nicht verschiedenes Sein in dem Sinne, daß das Sein in das Mehrmalige und Vielmalige auseinander fallen könnte.«115 Gemeint ist mit der Einzigkeit des Seins nicht die Einheit des jeweiligen Seienden, sein Zusammengehören in einer Mannigfaltigkeit im Verhältnis zu anderen. Die ontischen Erscheinungsgestalten gründen im ,Eins-sein‘, nicht in einer abstrakten Einheit, indem sie in völlig unterschiedlicher Weise am selben Sein teilnehmen. In ihm ist alles miteinander verbunden, aber nicht einerlei. Daher ist das Sein allen Seienden gemeinsam, esse commune oder das communissimum, das (All-)Gemeinsamste, Universalste, worin alle Seienden kommunizieren; aber diese Gemeinsamkeit (communio) ist nicht die begrifflich-abstrakte Allgemeinheit des Generellen, der obersten Gattungsbegriffe oder der allen Seienden gemeinsamen Seiendheit, sondern Sein kommt als Dasselbe in seiner Einzigartigkeit den Seienden gemeinsam zu. In allen Aussageweisen, in denen Seiendes zur Rede steht, ob sie nun Haupt-, Bei- oder Zeitworte nennen, spricht sich der Bezug zum Sein in der Mannigfaltigkeit der Weisen seines Anwesens und Währens mit aus. Auch wenn wir uns schweigend zum Seienden verhalten, entscheiden, ob etwas sei oder nicht sei, so sei oder anders sei, wird das Sein ,gesagt‘. Selbst wenn wir weder etwas reden noch tun, sondern wach verweilen und anwesend sind, verhalten wir uns (ohne die Möglichkeit eines Gegenteils) zum Sein und lassen uns vom Sein auf diese Weise in Anspruch nehmen. Auch dieses bloße Anwesen sagt uns ,etwas‘, aber dieses Thematisierbare ist im Vergleich mit allem begrifflich Begreifbaren wesenhaft Vorbegriffliches. Das Sein ist unvergleichbar Einmaliges und Einzigartiges und als ein solches entzieht es sich der Möglichkeit, begriffen zu werden. Da es kein Fall eines Allgemeinen ist, kann es auch nicht durch einen Begriff für Singuläres bestimmt werden. Sein ist überhaupt nicht als Begriff auszusagen, auch nicht als transzendentaler Begriff (conceptus transcendentalis), der über alle kategorialen Bestimmungen, die ab- und ausgrenzen, hinausgeht.116
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Sachprobleme systematischer Ortsbestimmung philosophischer Theologie
Dritter Exkurs
Das Sein nennen wir. Als Urwort der philosophischen Sprache ist ,Sein‘ ein nennender Name.117 Im Nennen lassen wir Einmaliges und Einzigartiges zu Wort kommen, indem wir es in das Wort rufen. Nennen ist ein ,Her-vor-Rufen‘ der Sache selbst in ihrer Einmaligkeit und Einzigkeit, die von sich her im Ruf steht und uns in Anspruch nimmt. Aber genannt wird mit Sein nicht dieses oder jenes Nennbare, sondern das Gemeinsame aller Seienden, die an ihm Anteil nehmen, indem sie von ihm Anteil empfangen. So ist Sein unter den transzendentalen Namen (nomina transcendentalia), wie mannigfaltiges Einssein, Wahrsein, Gutsein, Schönsein, das Erstzunennende. Auf das primär im Nennen namentlich Gewordene können wir uns immer nur nachträglich durch Vollzüge des Ordnung stiftenden Begreifens, Beurteilens sowie begründenden Aufweisens und Mitsehenlassens beziehen. Überall ist dem Denken das namentlich Nennbare vorgegeben, das zu denken gibt. Zur unterschiedlichen Weise des Zugangs zu Name und Begriff kommt noch die unterschiedliche Weise des Sichverhaltens im Nennen und Begreifen: Um das Sein zu Wort kommen zu lassen, muss ihm im vernehmenden Vollzug des Daseins schweigend-horchend Raum gegeben werden, d.h. das Sein muss als Sein zugelassen werden. Diese Verhaltensweise ist dem Begreifen entgegengesetzt: »Im Be-greifen liegt nämlich die Verhaltensweise eines Inbesitznehmens«,118 welche der Wahrheit als geordnetem Besitz selbstgewisser Erkenntnis der Sache Herr zu werden sucht. Jedoch gehen wir im Nennen des Seins zurück auf die unvordenkliche Erstgegebenheit und den Anfang unseres ,Da-seins‘ und Denkens, was auch eine Grundlegung philosophischer Logik hinsichtlich des diskursiven Denkens zu berücksichtigen hätte.
hindurchzulavieren, ist zum Scheitern verurteilt. Gewiss besagt Analogie abgestufte Ähnlichkeit, Verwandtschaft in zusammenhängenden Bedeutungen, und kann solcherart Seiendes in seinem Sein zur Sprache bringen. Aber durch ihre begriffliche Fassung, die zum einen Teil die gemeinsamen gleichen und zum anderen Teil die ungleichen unterschiedlichen Bedeutungselemente des Seienden bezeichnet, wird ihre ontologische Sachintention einer differenzierenden Darstellung des sich ereignenden Seins im Seienden wieder rückgängig gemacht. 117 Vgl. dazu vom Verf. (1997c) die sprachphilosophische Untersuchung über das Wesen des Namens und das namentliche Sprechen: Sprachphilosophische Einführung zu einer Theologie des Namens Gottes, in: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Bd. 2, 159–217. Vgl. auch G. Pöltner (1972a), Schönheit. Eine Untersuchung zum Ursprung des Denkens bei Thomas von Aquin, 51, 78, 104, 124. 118 M. Heidegger, GA, Bd. 15: Seminare (Seminar in Zähringen, 1973), 399; vgl. den bedenkenswerten Hinweis von H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, wonach das Denken vermöge des Allgemeinbegriffs zur Herrschaft über die besonderen Fälle gelangt (152 ff.), wobei es zwei Arten von Herrschaft, eine repressive und eine befreiende, gibt (247). Es erscheint mir jedoch fraglich, dass vermöge einer einzig dem Begriff verhafteten Dialektik und Logik es zu einem befreienden, seinlassenden und so sachentsprechenden Denken kommen könnte.
Zur Einführung in die Philosophie: Einführung in die Ontologie
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3.3.7 Ein Paradigma verbalen Seinsverständnisses: Thomas von Aquin
119 R. Schönberger, Die Transformation des klassischen Seinsverständnisses, 61–73. Insbesondere muss hier auf die neuplatonische Tradition verwiesen werden und deren reiche Entfaltung des Gedankens der Ausstrahlung und des Ausfließens aus dem Ureinen, die nicht im Sinne eines »Emanationspantheismus« auszulegen ist, dazu: K. Kremer, Die neuplatonische Seinsphilosophie und ihre Wirkung auf Thomas von Aquin, 2–7, 321–323. 120 R. Schönberger, Die Transformation des klassischen Seinsverständnisses, 65.
Dritter Exkurs
Als Indikator für ein verbales Seinsverständnis in der Geschichte europäischer Philosophie kann Rolf Schönbergers Nachweis gelten, dass in der neuplatonischen und mittelalterlichen Tradition ,Sein‘ nicht selten durch erstaunlich häufig verbreitete Bildworte (»Metaphern«) oder sacherhellende Grundworte aus den Bereichen des Lichtes, des Fließens und personalen Gebens verstanden wurde. So ist das Sein gewährend, weil selbst Gewährtes, als Gabe – ja Geschenk und Gnade – gegeben, mitgeteilt, kommuniziert, und weiter: Das Sein teilt sich selbst mit (esse communicat), lässt Seiendes am Sein partizipieren und ,gibt‘ ihm wesenhaft teil. Das Sein ist Fließen (fluere) und Fluss (fluxus, effluxio) des Geschehens, geradezu als Sichereignendes und nicht als bloße Dauer eines Ablaufs verstanden; es ist Ausfluss (emanatio), Hervorgang (processus, productio), Ausgießen (diffundere, effundere), SichVerströmen (diffusivum sui). Schönberger spricht hier von Strukturelementen mittelalterlicher Ontologie. Spätere Philosophiehistoriker haben diese »Metaphern des Seins« weitgehend nicht beachtet, was eine bemerkenswerte Transformation des Seinsverständnisses anzeigt.119 Stattdessen stellt sich für das verbegrifflichte (zurecht als ,essenzialistisch‘ denunzierte) Seinsdenken (und zwar als Gegenbegriff zum Wesen der essentia) der anschauliche Gedanke des Setzens, der Position der Existenz bis hin zur bedeutungsfreien Faktizität (Tatsache) ein. Dazu kommt es, indem durch eine abstrakte Isolierung des Gegebenen (datum) vom Geber (dator) die Schlüsselerfahrung des Gebens (dare) übergangen wird. Darauf wird noch ausführlich einzugehen sein. Die Dinge sind dann nur »das ,Gegebene‘ (Sinnesdata), sie sind, was ,es gibt‘. Diese Fügung wird zum Inbegriff objektiver Vorhandenheit und deshalb theologisch und anthropologisch unbrauchbar.«120 Als Zeuge für ein Seinsdenken, das sich aus einem ausdrücklich als verbal dargestellten Seinsdenken entfaltet und in dem die radikalste Durchführung des Partizipationsgedankens gründet, wird im Folgenden Thomas von Aquin etwas ausführlicher behandelt. Die Beschränkung auf diesen einen unter den herausragenden Denkern will keinem Thomismus das Wort reden. Sie will eine bloß historische Auflistung ähnlich bedeutender Denker durch die hier gebotene geraffte Darstellung vermeiden und kann sich zudem auf eine breitere Forschung als die, die anderen
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Denkern zuteil wurde, stützen. Innerhalb der neuscholastischen Bewegung kam es gegen Mitte des vergangenen Jahrhunderts durch eine verständnisvollere Relektüre der thomanischen Ontologie zur Überwindung des bis in die Neuscholastik hinein tradierten, vielfach verzerrten Thomasverständnisses.121 Nur einige in diese Richtung weisende Denker seien hervorgehoben: der spätere Cornelio Fabro,122 Johannes B. Lotz,123 Albert Keller,124 Bernhard Welte,125 Gustav Siewerth,126 Ferdinand Ulrich,127 Josef Stallmach,128 Günther Pöltner 129 und Rolf Schönberger 130 und neuerdings Rupert Johannes Mayer 131.
Dritter Exkurs
a) Thomas hat ausdrücklich eine Diversität zwischen Seienden und Sein hervorgehoben. Er beruft sich dabei auf die kurze Schrift ,De hebdomadibus‘ des Boethius:132 »Verschieden ist das Sein (esse) und das, was ist (id quod est)«,133 nämlich das Seiende, und zwar – eine wichtige Klärung – das jeweils am Sein partizipiert.134 Das heißt, »zwischen dem Akt des Seins und demjenigen, dem dieser Akt zukommt [dem Seienden], ist zu unterscheiden«.135 Der Unterschied – er besagt eine Diversität, 121 Die neue Würdigung ontologischer Texte des Thomas von Aquin, deren zeitwörtliches Verständnis des Seins dem epochalen Vergessen entrissen wurde, verdankt ihre Möglichkeit weitgehend dem Denken Heideggers, dessen eigene Thomas-Interpretation diesen hierin jedoch völlig verkennt. Vgl. vom Verf. (1999), Zu Heideggers Verständnis des Seins bei Johannes Duns Scotus und im Skotismus sowie im Thomismus und bei Thomas von Aquin. 122 A. Pieretti, Cornelio Fabro. 123 Vgl. die zahlreichen Arbeiten über die thomanische Ontologie in: »Bibliographie P. Johannes B. Lotz S.J. (1903–1992)« von J. De Vries/M. Nachleba. 124 A. Keller, Sein oder Existenz? Die Auslegung des Seins bei Thomas von Aquin in der heutigen Scholastik. 125 Vgl. u.a. die Beiträge von B. Welte über Thomas von Aquin in den Sammelbänden Auf der Spur des Ewigen (1965), hier besonders »Zum Seinsbegriff des Thomas von Aquin«, 185–196, sowie ders., Zeit und Geheimnis (1975), hier besonders »Thomas von Aquin und Heideggers Gedanke von der Seinsgeschichte«, 203–218. 126 U.a. von G. Siewerth besonders wichtig: Das Schicksal der Metaphysik von Thomas zu Heidegger. 127 F. Ulrich, Homo abyssus. Das Wagnis der Seins-Frage. 128 J. Stallmach, Seinsdenken bei Thomas von Aquin und Heidegger; ders., Der »actus essendi« bei Thomas von Aquin und das Denken der »ontologischen Differenz«. 129 G. Pöltner (1972a), Schönheit. Eine Untersuchung zum Ursprung des Denkens bei Thomas von Aquin. 130 R. Schönberger, Die Transformation des klassischen Seinsverständnisses. 131 R. J. Mayer, De veritate: quid est? Vom Wesen der Wahrheit. Ein Gespräch mit Thomas von Aquin. 132 Thomas von Aquin, Opuscula theologica, Bd. 2: In librum Boethii de hebdomadibus expositio, lect. 2, n. 27 f. 133 Thomas von Aquin, De ver., q. 1, a. 1, ad 3. 134 A. M. S. Boethius, De hebdomadibus, 10. Zur Textkritik und Sachinterpretation vgl. R. Huka, Das Seinsverständnis des Boethius in »De Hebdomadibus«. Ein Beitrag zur Geschichte der ontologischen Differenz. 135 Thomas von Aquin, De ver., q.1, a.1, ad 3: distinguitur actus essendi ab eo cui actus ille convenit.
Zur Einführung in die Philosophie: Einführung in die Ontologie
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ein Abweichen voneinander – ist kein ontischer, d.h. zwischen Seienden, sondern ein ontologischer, ein Vorläufer dessen, was Heidegger terminologisch »ontologische Differenz« genannt hat.136 Jedoch ist hier nicht der Unterschied der ontologischen Differenz im Seins- und Ereignisdenken Heideggers gegenüber Thomas hervorzuheben, nämlich dass Heidegger diese Differenz ausdrücklich terminologisch als Austrag (von lat. differre) denkt,137 und zwar als geschichtlichen Austrag, den der Mensch in der Offenbarkeit des Seins, das Grund dieser Offenbarkeit ist, zu vollziehen vermag. Es geht nur darum, zu zeigen, dass Heideggers elementare Charakteristik der terminologisch gefassten ontologischen Differenz sich mit der des Thomas berührt: nämlich insofern als Seiendes von Sein unterschieden ist.138 Sein ist »das, was Seiendes als Seiendes bestimmt«,139 und Sein geht über jedes Seiende hinaus: »ist das transcendens schlechthin«.140 Denkt Heidegger das Sein so, dass es erst Sein und Seiendes austrägt und auseinandersetzt, so denkt Thomas diese Auseinandersetzung auf Grund des Seins als Partizipation. Der Unterschied von Sein und Seiendem stellt sich als wechselseitiger Austrag dar: als Seinsmitteilung an das Seiende, wodurch dieses sich überhaupt erst in Wirklichkeit vollziehen kann, und umgekehrt: Seiendes hat nun seinerseits Sein, weil es am Sein teilnimmt und in ihm seinen Grund hat.
136 M. Heidegger, GA, Bd. 9: Wegmarken, Vom Wesen des Grundes, 134. Vgl. dazu und zum Folgenden J. B. Lotz, Das Sein selbst und das subsistierende Sein nach Thomas von Aquin, 180 –194; ders., Martin Heidegger und Thomas von Aquin, 41–58. 137 Vgl. M. Heidegger, Identität und Differenz, 63: »Die Differenz von Sein und Seiendem ist als der Unter-Schied von Überkommnis und Ankunft der entbergend-bergende Austrag beider.« Aus dem Ereignisdenken über die ontologische Differenz hinausdenkend vgl. ders., Zur Sache des Denkens, 40 f., 45. 138 Vgl. M. Heidegger, GA, Bd. 2: Sein und Zeit, 230. 139 A.a.O., 6. 140 A.a.O., 54. Dort allerdings laut Anm. a) nicht griechisch-platonisch und in diesem Sinne scholastisch, sondern von der »Wahrheit des Seyns«, dem Ereignis, her gedacht. 141 Thomas von Aquin, De pot., q. 7, a. 2, ad 9: hoc quod dico esse […]. 142 Vgl. J. B. Lotz, Das Sein selbst und das subsistierende Sein nach Thomas von Aquin, 187, 190.
Dritter Exkurs
b) Wichtig für das Seinsverständnis des Thomas ist der Vorrang des Seins vor dem Seienden. An einer für sein Seinsverständnis entscheidenden Stelle hebt er gleich dreimal betont hervor: »Das, was ich ,sein‘ nenne, […].« 141 Die Wendung macht deutlich, dass er sehr wohl um sein ihm eigenes, von anderen Denkern abweichendes Seinsverständnis wusste. Thomas hat von seinem Frühwerk Über das Seiende und das Wesen weg über das eine große Kommentarwerk Von den göttlichen Namen des Pseudo-Dionysios bis zu dem anderen, dem arabischen Liber de causis, einen gewissen Wandel im Denken vollzogen: vom Akt des Wesens oder der Seiendheit (actus essentiae) zum Sein als Akt (actus essendi), ja zum Sein selbst (ipsum esse):142 Das (nicht
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Sachprobleme systematischer Ortsbestimmung philosophischer Theologie
substantivierte, zeitwörtlich verstandene) ,sein‘ ist unter allem das Vollendetste, es ist die Vollendung aller Vollkommenheiten.143 Um seine Auffassung, die vom Neuplatonismus stark bestimmt ist, verständlich zu machen, geht Thomas gewöhnlich vom Seienden aus. c) Das Seiende ist für uns zunächst das, was ist:144 Das konkrete selbstständige Seiende, wie es uns als Wirkliches in der Erfahrung begegnet. Seine Selbstständigkeit ist vom Sein, jeweils seinem Sein her zu verstehen, denn es ist ein in seiner Selbstständigkeit Erstelltes, Aufgestelltes, das sich in sich zum Stehen bringt (subsistiert), und zwar auf Grund seines eigenen Seins: subsistens in suo esse.145 Es hat im Sein selbst das, wodurch es subsistiert,146 also den Grund seiner Selbst- und Eigenständigkeit so in sich, dass es in sich selbst (in se) und so durch sich selbst (per se) ist. Dieses von sich aus aufgehende Seiende wird das substanzielle genannt. Die Substanz hat ihren Sinn in der Selbstständigkeit147 und diese beruht auf dem Selbstständigsein. Das Seiende ist Insich- und Durch-sich-Seiendes, weil es im Sein gründet.
Dritter Exkurs
d) Das substanzielle Seiende kann zwar als ontische Kategorie substantivisch-nominal, muss aber primär dennoch verbal verstanden werden, und zwar erstens vom wiederum verbal zu verstehenden Sein her und zweitens (zusammen mit allem anderen) auf dieses Sein hin. Das Seiende ist also zunächst weder etwas Denkmögliches, das existieren kann, die Washeit, Wesenheit (res) oder Seiendheit (entitas rei148), noch eine aus der Denkmöglichkeit herausgetretene Wirklichkeit oder ein aktuell in die Existenz Gesetztes, sondern es konstituiert sich auf Grund des verbal zu verstehenden Vollzugs des Seins (actus essendi). Der Name ,Seiendes‘ leitet sich vom Vollzug (actus) des Seins ab.149 Das ist nicht bloß philologisch, sondern sachlich gemeint, insofern der Name die Sache selbst ins Wort ruft und nennt. Das Seiende ist also vom ,Akt‘ des Seins her und nicht umgekehrt ist Sein vom Seienden her oder als Hinzukommendes (Existenz) zu verstehen. Das Seiende subsistiert im Sein, es kommt ihm zu, sein Sein selbst zu vollziehen. Doch ist das agere dieses actus (primär jedenfalls) kein kategorial verdünntes Tun, Agieren, Wirken, 143 Thomas von Aquin, De pot., q. 7, a. 2, ad 9: […] esse est inter omnia perfectissimum […] hoc est perfectio omnium perfectionum. 144 Thomas von Aquin, In Boethii de hebd., lect. II, nr. 23: ens sive id quod est. 145 Thomas von Aquin, Sth I, q. 45, a 4. 146 Thomas von Aquin, De ver., q. 21, a. 1: esse i p s u m quo aliquid aliud subsistit […]. 147 Thomas von Aquin, Spir. creat., q. un., a. 5: Est autem de ratione substantiae quod per se subsistat. 148 Thomas von Aquin, Sth I, q. 48, a. 2 , ad 2. 149 Thomas von Aquin, De ver, q. 1, a. 1c: ens sumitur ab actu essendi, und dort ad 3: […] nomen autem entis ab actu essendi sumitur, non ab eo cui convenit actus essendi. Vgl. In I Sent., dis. 25, q. 1, a. 4: Nomen entis sumitur ab esse rei.
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Herstellen, Machen als Kraftäußerung eines Wirkenden, auch kein Bewirken (efficere) einer ontischen Ursache, sondern ein Sichmitteilen (communicare), Sicherschließen und Hervorgehen. Die Natur des Aktes ist Selbstmitteilung gemäß seiner Möglichkeit.150 »Esse (agere, sub-sistere) besagt für das Seiende: Hervorkommen, Ek-sistieren, Sichgeben und so da sein.«151 Das ursprünglich gedachte Wesen des agere ist für Thomas »Freisetzen, Lösen, Entbinden, Sein-lassen«,152 sodass sich das Sein vergibt, verschenkt und Seiendes um willen der Mitteilung seiner selbst ist und in seinem Sein Gemeinschaft (als esse commune) communio stiftet. Das ,ens‘ Genannte ist demnach aus dem actus essendi als »kommunikativer Selbstvollzug« zu verstehen.153 Aus zahlreichen Texten und Beispielen wird deutlich, dass Thomas Seiendes und Sein verbal, ja geradezu ereignishaft versteht, wenn man unter Sichereignen versteht, dass etwas in sein Eigenes geschickt wird, ein Hervorkommen- und Verweilenlassen im eigenen Wesen, ein ins Offene Gelangenlassen des Anwesens (Seins), das wie das griechische Zeitwort 2lhϑeein ein nichtsubstantiviertes ,wahrheiten‘ (in die Unverborgenheit aufgehen lassen) mitbesagt. Der actus essendi ist demnach Hervor- und Aufgang des Seins selbst: Ereignung des Seienden.154 Einige wichtige Beispiele seien hier angeführt: »Das Sein selbst ist das, wodurch das Seiende ist, so wie das Laufen das ist, wodurch etwas läuft [ein Mensch, ein Hase oder sonst ein Lebewesen].«155 Gegen den gemeinen Hausverstand, der annimmt, dass ein Läufer jemand sei, der laufen kann bzw. die Fähigkeit besitzt, diese Tätigkeit, nämlich das Laufen, auszuüben, wird hier der Läufer phänomenologisch konkreter vom Lauf her verstanden, d.h. ein Läufer ist jemand selbst nur auf Grund seines Laufens als Laufender. Der Lauf (das konkrete Laufen) ist das eigentliche Sein des Laufenden, und zwar läuft der Läufer, insofern er sich dem Lauf unterzieht und an ihm selbst teilnimmt.156 Was ihn besonders bei einer sportlichen Veranstaltung, wenn er mit dabei ist, mit anderen Laufenden verbindet, ist das Laufen selbst. Es ist also nicht ein Etwas oder Jemand vorhanden (ein Lebewesen, ein Läufer), das oder 150 Thomas von Aquin, De pot., q. 2, a. 1: Natura cuiuslibet actus est, quod seipsum communicet quantum
possibile est. […] Agere vero nihil aliud est quam communicare illud per quod agens est actu […].
des Seins wird bei Thomas zwar an den entscheidenden Stellen seines Werkes ausdrücklich betont, bildet jedoch aufs ganze gesehen eher den unthematischen Hintergrund seines Denkens.« (122) 155 Thomas von Aquin, Quaest. disp. de an., 6c: Ipsum esse est quo aliquid est, sicut cursus est quo aliquis currit; vgl. ders., In Boethii de hebd., lect. II, nr. 22 f. Siehe dazu ausführlicher G. Pöltner (1972a), Schönheit, 37– 42. 156 Thomas von Aquin, In Boethii de hebd., lect. II, nr. 23: possumus dicere de eo quod currit, sive de currente, quod currat, inquantum subiicitur cursui et participat ipsum.
Dritter Exkurs
151 G. Pöltner (1972a), Schönheit, 43. 152 A.a.O., 128. 153 Vgl. dazu a.a.O., 43 f., 52. 154 Hierzu einschlägig G. Pöltner (2001c), Vorläufer des Ereignisdenkens: »Der Ereignischarakter
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Dritter Exkurs
der als Subjekt für eine Vielzahl von Bewegungen (Aktionen) angesehen wird, sodass dieses Subjekt die vorgegebene Hauptsache wäre, der gegenüber die Bewegungen bloß akzidentell, Nebensache, wären. Damit wäre bloß an eine Bewegungsmannigfaltigkeit im ontisch-kategorialen Bereich gedacht. Doch gerade das wie auch immer sich ontisch bewegende Seiende ist es, das, indem es überhaupt erst als solches zustande kommt, in einem ontologischen Sinn Bewegung ist, und zwar in seinem InErscheinung-Treten, sodass es ist und nicht nicht ist. Dass jemand läuft, dieser von ihm vollzogene Lauf, ist der Grund, weshalb jemand ein Läufer ist; er vollzieht sich selbst, vollbringt darin sein gegenwärtiges Anwesen als Sportler, er tritt darin aus sich heraus und in seinem Anwesen als Läufer hervor; dadurch kann er das und hat infolgedessen für sein (ihm eigenes) Können sein Maß – allenfalls für die Teilnahme am Wettbewerb ein einzigartiges. Das Beispiel vom Laufen veranschaulicht, dass es beim Sein anders ist, als man erwartet: Nicht wie man vom Laufenden sagt, er laufe, sagt man vom Seienden, es sei, sondern umgekehrt, Läufer ist er, weil er läuft, Seiendes ist es, weil es am Sein teilnimmt.157 Das Sein selbst ist es, wodurch Seiendes ist, d.h. überhaupt erst als es selbst anwesend ,ist‘ oder (wie man mit einem veralteten Wort sagen könnte) als Anwesendes ,west‘.158 Im Wodurch ist der Grund angesprochen. Das Sein als 157 Es wären hier noch andere Beispiele anzuführen: »Das Sein des Dings ist der Vollzug des Seienden, der sich aus den Gründen des Dings ergibt, wie das Leuchten der Vollzug des Leuchtenden ist: esse in re est actus entis resultans ex principiis rei, sicut lucere est actus lucentis.« (Sent. III, dis. 6, q. 2, a. 2) Nach dem gesunden Hausverstand machen wir vermittels eines Beleuchtungskörpers, der vorhanden sein muss, ,Licht‘, d.h. wir bringen ihn zum Leuchten – wir können das Licht auf- oder abdrehen, oder ist ein Lebewesen dasjenige, an dem Lebenserscheinungen erfassbar sind (Wachstum, Ernährung, Fortpflanzung), oder ein Auto ist fahrbereit, das sich in Bewegung setzen kann. Hier spricht sich der alltägliche Vorrang des Seienden vor dem, was vom Sein geblieben ist, aus: ein Akzidenz, Zusatz, Nachtrag, eine Funktionsmöglichkeit oder gar nur ein Schatten des Seiendsten, welches das Leerste ist, das man sich vorstellen kann. Aber der Beleuchtungskörper hat sein Sein nur in dem, weswegen er ist, im manifestierenden Licht, das er gibt. Eine Lampe kann defekt sein, dann gibt sie kein Licht. Aber eine ,Lampe‘, die nicht zum Leuchten da ist und auch nicht leuchten kann, mag eine Attrappe sein, doch eine Lampe ist sie eigentlich nicht. »Das Licht (lumen) ist der Akt des Leuchtenden [Sonne, Beleuchtungskörper]; nicht als ob das Leuchtende (lucidum) etwas für sich wäre ohne das Licht, sondern weil das Leuchtende durch das Licht leuchtend ist.« Dem entsprechend ist die Seele der Seinsakt des Körpers (Sth I, q. 76, a. 4, ad 1; vgl. III Sent., d. 6, q. 2, a. 2, resp.); oder: »Das Leben ist das Sein des Lebenden selbst (vivere est ipsum esse viventis, sicut dicit philosophus: vivere viventibus est esse).« (I Sent., d. 8, q. 5, a. 3, ad 3.) Mensch ist nicht je mand als lebender Körper mit typisch menschlichen Funktionsmöglichkeiten (Denken, Wettlaufen usw.), sondern seine Leiblichkeit bestimmt sich von seinem Sein her, aus seinen Bezugs- und Verhaltensmöglichkeiten in weltweiter Offenständigkeit zum Seienden in seinem Sein. Weitere, immer wiederkehrende, aus dem Neuplatonismus stammende Beispiele sind das ,Weißsein‘ oder das ,Warmsein‘, die sich wie das esse receptum bzw. participatum zum ens als dieser weiße oder dieser warme Körper verhalten: vgl. etwa De divinis nominibus, c. 5, lect. 1, nr. 629; Sth I, q. 3, 4c. 158 Das mittelhochdeutsche Wort ,west‘ für ,ist‘ (est) soll das Missverständnis, bloß Vorhandenes werde
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Grund ( principium) ist ja das, wodurch etwas ist (quo est), und von dem, was ist (quod est), zu unterscheiden.159 »Sein […] west anfänglich und wie ein Grund für [alles] andere [in ihm Gründende, Sein Empfangende], alles in sich voraushabend.« 160 Aber das Sein als Grund entlässt nicht das Seiende wie eine Wirkursache, die in ein Gewirktes übergeht, sondern gibt sich zum Vollzug dem Seienden als Grund zu eigen. Weil das Sein das ist, wodurch das Seiende selbstständig west, und so dem Seienden selbst Grund bietet, vermag das Seiende tragenden Grund im Sein zu nehmen. Seiendes west so grundnehmend im Sein und das Sein west grundgebend als Sein selbst im Seienden. In allem ist (inest) das Sein das Innerste und zugleich das Tiefste, ja Abgründigste.161 Erst aus dieser Tiefendimension des Seins selbst als Grund erschließt sich das Zentrum der Ontologie des Thomas, die ihm eigene Fassung des klassischen Gedankens der Partizipation, einem näheren Verständnis.
festgestellt, ausschließen. Thomas selbst sucht dieses Missverständnis für das Ist-Sagen vom Sein auszuschließen: »Wie wir nicht sagen können, dass das Laufen selbst (ipsum currere) läuft, ebenso können wir nicht sagen, dass das Sein (ipsum esse) sei« (In Boethii de hebd., lect. 2, nr. 23), sondern ,sein‘ ist eben Vollzug des Seienden, so wie der Laufende das Laufen vollzieht: Er läuft. Laufen ist das Sein des Läufers. 159 Thomas von Aquin, Quaest. disp. de an., 6c. 160 Thomas von Aquin, I Sent., d. 8, q. 1, a. 1: Esse […] primum est et quasi principium aliorum, praehabens in se omnia. 161 Thomas von Aquin, Sth I, q. 8, a. 1: Esse autem est illud, quod est magis intimum cuilibet et quod profundius omnibus inest. 162 Thomas von Aquin, Sth I, q. 7, a. 1, sagt vom Sein, es sei esse receptum in aliquo [sc. etwas Seiendem]. ,Rezeption‘ besagt nicht nur ein einfaches Empfangen (capere), sondern ein aufnehmendes Annehmen und Übernehmen des Empfangenen. Das Seiende empfängt das, wodurch es subsistiert. Indem es Sein übernimmt und wesen lässt, ist es anwesendes Seiendes. 163 Thomas von Aquin, Sth I, q. 3, a. 4: Illud quod habet esse […], est ens per participationem. 164 A.a.O., Sth I/II, q. 26, a. 4: ens simpliciter est quod habet esse.
Dritter Exkurs
e) Das Sein west als das, woran partizipiert wird (= das participatum), während das Seiende daran Anteil hat (= participans ist; die Seienden sind participantia). Seiendes ist überhaupt etwas und nicht nichts, weil und insofern ihm ereignishaft Sein zukommt (actus essendi […] convenit). Allein, ausschließlich und nur deswegen ist Seiendes; es empfängt ,sein‘,162 nimmt teil am ,sein‘ und hat daher an ihm Anteil (habet esse), indem es sein Selbstständigsein vollzieht. Was (zu) sein hat, partizipiert am Sein, ist ein Seiendes durch Partizipation.163 Die Übersetzung von participatio mit Teilhabe ist richtig, insofern das Seiende am Sein teilhat,164 d.h es ihm zu eigen gegeben ist, selbst zu sein; und zwar kommt ihm ,sein‘ auf eine eigentliche Weise zu, so dass ,Sein-haben‘ heißt, in seinem Sein subsistieren, eigen- und selbstständig zu sein,
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Dritter Exkurs
das Sein wahren und bewahren.165 Dennoch legt der Terminus ,Teilhabe‘ ein zweifaches Missverständnis nahe: Einmal, es handle sich um ein ontisches Haben von Teilen, die wie Tortenstücke zusammen ein Ganzes bilden, und weiter, dem Zukommen von Sein gehe ein empfangendes Subjekt voraus. Dabei dachte man beispielsweise an eine zu vervielfältigende Idee oder an begrenzte Wesensformen (ein esse essentiae), die dann durch ein hinzutretendes Sein im Sinne von Vorhandensein (esse existentiae) verwirklicht würden. Zunächst bringt participatio durch die Endsilbe -atio in das substantivierte Stammwort eine Beunruhigung, Verlebendigung und besagt eine Bewegung. Thomas findet in dem Wort das Begründungsgeschehen des partem capere:166 Übersetzt mit Teilhabe deutet man damit nur auf das Ergebnis eines Begründungsgeschehens hin, auf Besitz und Eigentum, über die verfügt werden kann.167 Doch gehen dadurch viele Bedeutungsnuancen des capere verloren, die hier zu berücksichtigen wären, wie empfangen und nehmen, bekommen und annehmen, fassen und übernehmen (recipere), (ja das, was reif ist,) pflücken. Das Seiende partizipiert am infiniten ,sein‘; dies heißt, es besteht in der selbst vollzogenen Mitgeteiltheit des sich mitteilenden, kommunizierenden Seins. Durch Partizipation sein (und so anwesen als Anwesendes), heißt erstens selbst- und eigenständige Teilnahme am Ganzen, zweitens das Ganze nicht auf die Weise des Ganzen (non totaliter),168 sondern nur teilweise (partialiter) sein169 und daher auch repräsentieren. Drittens lässt sich sagen: Das Seiende ist das Sein, an dem es teilnimmt, aber eben teilweise ( particulariter). Ähnlich wie die vielen Teilnehmer an einem einzigen Theaterstück die Aufführung als solche nicht vervielfachen, so wird das, woran vielfältig teilgehabt wird, nämlich das Sein selbst, nicht zerteilt, denn das Sein, woran teilgehabt wird, darf man sich nicht wie ein Seiendes vorstellen. Die ontologische Differenz ist eben keine ontische zwischen Seienden, sondern eine ontologische, zwischen dem einen Sein und der Vielheit der Seienden, zwischen dem Grundgebenden (principium aliorum) und dem Grundnehmenden.170 Das Sein ist nur eines, in ihm kommen alle Dinge überein: Es west als das allen Seienden gemeinsame Sein (esse commune),171 und zwar als das ihnen Innewohnende 165 A.a.O., Sth I, q. 45, a. 4: illi enim proprie convenit esse, quod habet esse; et hoc est subsistens in suo esse. 166 Thomas von Aquin, De hebd. II, nr. 24: Est autem participare quasi partem capere. 167 Thomas von Aquin, De pot. q. 2, a. 1, ad 2: recipere terminetur ad habere, sicut ad finem. 168 Thomas von Aquin, In I Metaph., lectio 10, nr. 154: Quod enim totaliter est aliquid, non participat illud, sed est per essentiam idem illi; quod vero non totaliter est aliquid, habens aliquid aliud adiunctum, proprie participare dicitur. 169 Thomas von Aquin, SG lib. I, c. 32, nr. 288: quod participatur […] partialiter habetur et non secundum omnem perfectionis modum. 170 Siehe oben Anm. 160. 171 Thomas von Aquin, Sth I, q. 4, a. 3: Ipsum esse est commune omnibus.
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(intimum), das ihnen näher ist als sie sich (in ihrer fragwürdigen Innerlichkeit) selbst. Nicht durch das Seinhaben unterscheiden sich die Dinge,172 sondern durch die Verschiedenheit ihrer Naturen, »durch die das Sein auf verschiedene Weise erlangt wird«.173 Insofern könnte man sagen, dass jedes Ding sein ihm eigenes Sein hat, und von einer ,Seinsmannigfaltigkeit‘ reden, welche alle Modifikationen des Seins umfasst. Das Sein selbst ist für alles der unhintergehbar letzte kommunizierbare Akt, insofern es selbst an nichts anderem mehr teilhat.174 Es ist im Hinblick auf das, was geschaffen wurde, so allumfassend (universalissimum),175 dass ihm nichts hinzugefügt werden kann, das ihm äußerlich wäre.176 Das Seiende empfängt alles aus dem Sein, dem nichts von außen hinzukommt – auch nicht das Wesen. Das Sein ist nicht wie ein knetbarer, durch Akte bestimmbarer Urbrei vorzustellen. Das Seiende verhält sich vielmehr in seiner Wesensbegrenzung zum Sein nur als Empfänglichkeit: Dieses Verhältnis ist dem von Potenz als Empfänglichkeit und Akt als Vollzugswirklichkeit des Seins vergleichbar.177 Das Sein enthält so in sich alle Vollkommenheiten auf die Weise des Grundes.
172 Thomas von Aquin, SG I, c. 26: Res ad invicem non distinguuntur, secundum quod esse habent, quia in hoc omnia conveniunt. 173 A.a.O.: Res propter hoc differant, quod habent diversas naturas, quibus acquiritur esse diversimodo. 174 Thomas von Aquin, Q. de anima, a. 6, ad 2: Ipsum esse est actus ultimus, qui participabilis est ab omnibus; ipsum autem nihil participat. 175 Thomas von Aquin, Sth I, q. 45, a. 5: Inter omnes autem effectus, universalissimum est ipsum esse. 176 Thomas von Aquin, De pot., q. 7, a. 2, ad 9: nihil autem potest addi ad esse quod sit extraneum ab ipso […]. 177 Thomas von Aquin, Sth I, q. 54, a. 3, ad 1: Comparatur ad ipsum ut potentia ad actum; SG lib. I, c. 38: Id quod est participare aliquid potest, ipsum autem esse nihil: quod enim participat potentia est, esse autem actus est. 178 Dazu vgl. zusammenfassend J. B. Lotz, Das Sein selbst und das subsistierende Sein nach Thomas von Aquin, 188 f. 179 Vgl. oben Anm. 143, 160, 176. 180 Thomas von Aquin, De pot., q. 7, a. 2, ad 9: Hoc quod habet esse efficitur actu existens.
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f) Thomas denkt das esse nicht nur in Differenz zum Seienden, sondern auch allen Seienden vorweg als es selbst (esse ipsum).178 Es enthält und umfasst, virtuell sich vorweg, wie ein Grund (Anfang und Ursprung) schon im Voraus alles in sich. Es ,west‘ als das »Vollkommenste«.179 Der Superlativ meint keine vorstellbar höchste Steigerungsstufe zu einer erfahrbaren Grundstufe, sondern das erfahrbar Grundgebende, dem alles andere, weniger Vollkommene, sich verdankt. Daher ist ,sein‘ nicht mit feststellbarer Existenz oder dessen verbalem Existieren von Seiendem gleichzusetzen, zumal Seiendes erst durch das Sein zum aktuellen ,Ek-sistieren‘ kommt, d.h. in die Wirklichkeit heraus- und hervortritt.180 Die Seienden als Existenzen sind aus dem Sein selbst Herkünftige. Denken wir Sein nicht streng als Sein, so müssen wir
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uns das Sein erst recht wie ein Seiendes, wie eine selbständige Größe vorstellen. Das allen gemeinsame Sein ist nicht etwas außerhalb des Auftretens der Dinge.181 Das Sein schlichthin verstanden (simpliciter acceptum) west allem Seienden vorweg (nicht zeitlich, sondern indem es Grund gibt, teilnehmbar ist und teilnehmen lässt) als die grenzenlose Fülle und Vollendung, als das alle Vollkommenheiten (auch die der Wesensformen und Potenzen!) in sich Versammelnde (ineins mit dem Reichtum der Transzendenzien, die es als allgemeine Seinsweisen des Seienden an ihm selbst noch je anders explizieren!).182 Dem Sein selbst als dem im Grundgeben Erfahrbaren verdankt sich alles andere, weniger Vollkommene; dieses wird von ihm umfasst (includit). Als das alles Umfassende überragt ,sein‘ alle in Teilhabe stehenden Vollkommenheiten, denen es der Sache nach vorhergeht. Seiendes, dem immer nur teilweise Sein zukommt, muss und kann daher nie die ganze Fülle, die das Sein in sich vereinigt, aufnehmen.183 Gegenüber dem Überfluss und dem Hoffnungspotential des Seins bleibt also die Vollkommenheit jeder einzelnen Kreatur zurück. Diese Erfahrung schließt sich für Thomas im Verhältnis von Denken und Sein auf, und zwar als Vorrang des Seins vor dem Denken: »Es ist nicht wahr, dass das Denken vorzügli cher als das Sein ist, aber es wird vom Sein bestimmt, ja vielmehr: Sein ist ihm das Vorzüglichere.«184 Dass und wie das Sein dem Menschen nach Thomas zu denken gibt, lässt uns klärend zurückblicken auf sein Seinsverständnis. g) In unserer Erfahrung begegnet uns Anwesendes in seinem Anwesen: dieses oder jenes Seiende, dieses oder jenes in seiner Bedeutsamkeit (Wesensfülle). Aber das ist möglich, weil wir immer schon unter dem Anspruch der Anwesenheit von jeglichem Seienden stehen und für Seiendes überhaupt (die nicht-numerische Identität
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mit allen Seienden: das ens ,uni-versale‘)185 zugänglich und offen sind: für das Seiende 181 Thomas von Aquin, SG I, c. 26: Multo igitur minus et ipsum esse commune est aliquid praeter omnes res existentes nisi in intellectu solum. 182 Thomas von Aquin, Sth I/II, q. 2, a. 5, ad 2: Esse simpliciter acceptum, secundum quod includit in se omnem perfectionem essendi, praeeminet vitae et omnibus perfectionibus subsequentibus; sic igitur ipsum esse praehabet in se omnia bona subsequentia. 183 Thomas von Aquin, Sth I, q. 2, ad 3: Non oportet, quod illlud, quod participat esse, participet ipsum secundum omnem modum essendi. Vgl. dazu die bemerkenswerte Übereinstimmung von M. Heidegger, GA, Bd. 51: Grundbegriffe, 49 f., 69 f., mit Thomas ohne jede Abhängigkeit: Das Sein ist »der Überfluß für alles Seiende, hinter dem jegliches Seiende jedesmal unendlich zurückbleibt« und »beschenkt wird mit der jeweiligen Wesensart seines Seins«. In allem, was ist (Seiendem), spricht sich ein Reichtum an Bedeutsamkeit, an Sinnfülle, eben an ,Sein‘ aus. 184 Thomas von Aquin, De ver., q. 22, a. 6, ad 1: non est verum quod intelligere sit nobilius quam esse; sed determinatur ab esse, immo sic esse eo est nobilius. 185 Thomas von Aquin, Sth I, q. 105, a. 4: intellectus […] movetur ab obiecto […] intellectus objectum est ens
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universale. Objekt ist hier nicht der dem denkenden Subjekt entgegenstehende Gegenstand, sondern das dem vernehmenden Denken ,Entgegengeworfene‘ (Objizierte) und so das im Vorliegen Vorgegebene. 186 A.a.O., q. 5, a. 2: ens est proprium obiectum intellectus. Das Objekt ist hier nicht neuzeitlich als Gegenstand eines Subjekts vor(sich)gestellt, als ein Etwas, das zum Gegenstand gemacht ist. 187 Ebd., q. 5, a. 2. 188 Vgl. M. Heidegger, GA, Bd. 51: Grundbegriffe, »Die Zwiespältigkeit des Seins und das Wesen des Menschen: Zuwurf und Verwerfung«, 78–84, 88–92.
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in seiner Mannigfaltigkeit, das Seiende im Ganzen, das Seiende in eins gekehrt (unum vertere), der Einzigartigkeit des Seins zugekehrt. Thomas sieht Seiendes auf Grund seines Seins immer nur zur Gesamtheit der Seienden gehörig. In diesem Sinne ist das Seiende im Allgemeinen und Ganzen der dem menschlichen Denken zugeordnete Bereich (man möchte sagen, seine Welt), der das Denken allererst zum Denken macht und ohne den es nicht wäre. Was dem Menschen in seinem Denken als das ihm Eigentümliche vorgegeben ist, ist das Seiende als solches.186 Dieses obiectum ist dem Denken gegenüber sich ,er-eignender‘ Gegen- und Zuwurf, also nicht umgekehrt: der von einem ,Ich denke‘ aus vorgestellte Gegenstand. Das Seiende als solches ist daher das primum intelligibile.187 Als das Erste im Sinne des Anfänglichen eröffnet es dem hinnehmenden Denken (wie es dem vorausgreifenden Anfang entspricht) das Ganze des Denkbaren. Es gibt gar nichts anderes zu denken als Seiendes, das sich uns zugeworfen hat, in seinem Sein. Das heißt nicht, dass wir solches gewöhnlich ausdrücklich und reflex denken und nicht erst der ,Verwerfung‘, Verdeckung und Vergessenheit entreißen müssten.188 Das Seiende in seinem Sein ist das vom Anfang an und einzig zu Denkende, das sich zu vernehmen Gebende, das, was immerdar das Denken als denkendes Vernehmen, d.h. Vernunft, ermöglicht und fundiert; es gibt der Sache (nicht der zeitlichen Abfolge) nach zu denken und ist insofern das von Anfang an dem Denken Zugängliche, denn nichts kann dem Denken erschlossen sein ohne das Seiende in seinem Sein. Gedachtes wird wahrhaft nur aus der Denkbarkeit des zu Denkenden verständlich im Rückgang (resolutio) auf das Anwesende in seinem Anwesen. Das Denken als Vernunft ist hier aus seinem Ursprung gedacht, und zwar phänomennäher als die Vorstellung von einer seienden, autonomen, als Erkenntnisvermögen verdinglichten Vernunft, auf deren Vernünftigkeit man sich nur unter Vorbehalten als Kriterium der Erkenntnis berufen kann. Thomas geht von der Erfahrung des Vollzugs unseres Denkens (vom intelligere) aus und zeigt phänomennah (manifestum est), dass dieser einzelne Mensch (in leibhaftiger Anwesenheit!) denkt (hic homo intelligit), wahrnimmt, fühlt, entdeckt, lernt, usw., und zwar zusammen mit
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Anderen. So ist es ein und dasselbe, was von mir und von dir, wenn auch nicht auf die gleiche Weise, verstanden wird.189 Den Rückgang des Denkens auf seinen Ursprung hat Thomas ausdrücklich in De veritate, q. 1, a. 1, vollzogen: »Was die (menschliche) Vernunft zuerst als das gewissermaßen Bekannteste vernimmt und wohinein sie alle ihre Begriffe auflöst, ist das Seiende,«190 das verbal verstandene Seiende in seinem Anwesen, Walten, Währen und im Gewährtsein des Seienden. Das Bekannteste und Selbstverständlichste (notissimum) ist das in die Unverborgenheit Aufgehende, uns Offenbare und Ansprechende, eben das Seiende und erst recht das Seiende in seinem Sein; es muss keineswegs das am besten Erkannte sein und ist schon gar nichts neben anderem Erkennbares; es kann vielmehr das wegen seiner Nähe am meisten Übersehene oder vielleicht nur noch ,flüchtig‘ Zugängliche, das nichts-sagende Fade und Abgewohnte sein. Das Seiende kann als solches verdeckt und niedergehalten werden, d.h. das Nächste alles Nahen und Urvertrauten, das Anwesen dieses Anwesenden, wird vergessen. Deshalb bedarf es erst ausdrücklicher Thematisierung des Entschwundenen, eben einer methodischen Rückführung des Blicks auf das Seiende in seinem Anwesen. Es geht hier, wie Günther Pöltner pointiert formuliert hat,191 um den »Seinsbezug der menschlichen Vernunft. Sein ist nicht das Erst-Begriffene, sondern das ErstVernommene (quod primo intellectus concipitur).192 Das ,primo‘ meint nicht das zeitlich, sondern das sachlich Erste. Sein ist das ursprünglich Vernommene der Vernunft, d.h. die Vernunft ist nichts anderes als Seinsvernehmen. Nicht ist zuerst die Vernunft und gelangt dann noch irgendwie in den Seinsbezug, vielmehr macht dieser Bezug die Vernunft selbst aus.« Die Vernunft ist semper agens und vernimmt als intellectus agens stets nichts anderes als Sein; sie ist »seinsvernehmende Vernunft […], ein vernehmendes Empfangen (concipere), also keine Setzung«. Besteht das Wesen des Seins im Mitteilen, in der Seinsmitteilung (communicare esse), dann ist das Vernommene nicht überinterpretiert, wenn es als das sich der Vernunft Zusagende, Zusprechende, als das vor allem und in allem uns in Anspruch Nehmende bezeichnet wird. Damit sei verdeutlicht: »Nicht ergeht die Seinsmitteilung an eine schon seien189 Vgl. dazu die konkrete Sicht des Thomas von Aquin, De unitate intellectus, besonders nr. 216 und 257: unum quod intelligitur et a me et a te, sed alio intelligitur a me et alio a te. 190 Illud autem quod primo intellectus concipit quasi notissimum et in quo omnes conceptiones resolvit est ens. 191 G. Pöltner (2001c), Vorläufer des Ereignisdenkens, 114; vgl. ders. (1972a), Schönheit, 25–28. 192 Bei Thomas nimmt das Denken seinen Anfang nicht mit einem begrifflich-diskursiven Erkenntnisakt, auch nicht mit einem analogen Seinsbegriff wie im Thomismus, sondern alles diskursive und begriffliche Denken entspringt einem vorgängigen intuitiven Vernehmen der per se, d.h. von sich her (wie Samen), bekannten Prinzipien, Anfänge. Vgl. R. Schönberger, Die Transformation des klassischen Seinsverständnisses, 103.
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de Vernunft, vielmehr wird das Vernehmen des Seins in der Seinsmitteilung selbst allererst gestiftet. Die Vernunft verdankt sich als Vernunft dem Vernommenen, der Seinsmitteilung.«193 Der Mensch ist in seiner Leibhaftigkeit durch seine seinsverstehende Vernunft von seinem Wesen (der anima humana, der Geistseele) her offen für das Sein des Seienden, ja er ist gewissermaßen alles, das Seiende im Ganzen,194 und es ist ihm aufgegeben, mit dem Seienden vielfältig übereinzukommen (natum […] convenire cum omni ente), oder, wie wir auch sagen, seine Welt-Offenheit (als Übereinkunft: convenientia) zu vollbringen.
3.4 Abgründigkeit des Seins
193 G. Pöltner (2001c), Vorläufer des Ereignisdenkens, 114. 194 Vgl. Thomas von Aquin, De ver., q. 1, a. 1; De anima, lib. III, lect. 13, nr. 790: anima data est homini […], ut sit homo quodammodo totum ens, inquantum secundum animam est quodammodo omnia, prout eius anima est receptiva omnium formarum. Dieser auf Aristoteles (De anima, G 8; 431 b 21) zurückgehende Gedanke, dass der Mensch durch seine Seele (durch Fassungskraft und im Vollzug des Erkennens, Wahrnehmens, Strebens und Liebens) das Ganze des Seienden ist, kehrt bei Thomas öfters wieder, etwa a.a.O., nr. 787–789, oder lib. II, lect. 5, nr. 284. 195 Thomas von Aquin, Sth I, q. 44, a. 1, prol.: de processione (bzw. productione) creaturarum a Deo.
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Das Sein ist bei Thomas als das Abgründigste in allem Seienden (profundius omnibus inest) das Intimste (magis intimum). Abgründigkeit des Seins besagt nicht Bodenlosigkeit, sondern Unergründlichkeit, der eine endgültige Gründung und erst recht eine übereilte versagt ist, eine geheimnisvolle Dimension unermesslicher Tiefe und unvorstellbarer Weite. Es ist aber dennoch keine selbstständige Größe, kein Megaseiendes, keine Allsubstanz, die alles andere Subsistierende aufsaugt. Die vertraute Erfahrung, dass ein und dasselbe Sein jederzeit und überall anwest, sich in Existenzen ausbreitet und auseinanderlegt, dieses alles verbindende ,In-sein‘ (inesse) des Seinsgrundes könnte einen dazu verleiten, es zu substantialisieren und für den göttlichen Urgrund zu halten. Jedoch sollte die Abgründigkeit des Seins verhüten, es vorschnell mit Gott zu identifizieren. Der verbal-ereignishafte Begründungsmodus, der Seiendes partizipieren lässt, gibt uns ,sein‘ zu verstehen als das sich im ,Sichmit-teilen‘ (communicare) in die Selbstständigkeit (Subsistenz) des Seienden HineinGebende und das darin, ohne sich zu erschöpfen, Aufgehende. Das dem Seienden sich selbst auf das Innigste zu eigen gebende Sein enthüllt sich in diesem Sich-zusein-Geben als Hervorgang (processio)195 aus der Tiefe, als zu eigen gebende Gabe, als sich ereignende Mitteilung, die sich nicht anders verstehen lässt als aus einem Ursprung hervorgehend, dem selber nicht mehr zukommt zu sein und der auch
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nicht mit dem Sein selbst (esse ipsum), das den Seienden zukommt, identisch ist. Das Sein erweist sich als die diesem göttlichen Ursprung eigentümliche Wirkung196 und ist das Erste (das die Schöpfung im Ganzen eröffnende Anfängliche) von allem Geschaffenen.197 Warum das Sein selbst (esse ipsum, esse commune) nicht Gott ist, begründet Thomas ausführlich damit, dass Gott nicht als Substanz, die sich in Akzidenzien entfaltet, zu verstehen ist, also nach dem Modell eines innerweltlichen Seienden.198 Auch ist es unmöglich, dass Gott dasjenige Sein ist, durch das jedes Ding wie durch seine Form bzw. sein Wassein ist,199 denn durch die jeweilige Washeit unterscheiden sich die Dinge, die im Sein übereinkommen. Er ist daher nicht das allen gemeinsame Sein oder Wassein, das den Dingen zukommt.200 Anders wäre ein Monismus oder Pantheismus unvermeidlich.201 Wäre das Sein Gottes die Form und Washeit aller Dinge, so müsste Gott einfachhin eins und eines sein (simpliciter esse unum). Diese Einheit, die man als totalitäre charakterisieren müsste, würde die Verschiedenheit in den Weisen, das Sein zu erlangen, verunmöglichen. Zudem wäre Gott als das Sein aller Dinge nicht über (super) allem, sondern nur innerhalb (inter) von allem und damit ein bloßes Etwas von allem.202 Das Sein ist das sich dem Seienden zur Eigen- und Selbstständigkeit Gebende, Nicht-Subsistierendes (non subsistens), das den Seienden auf mannigfaltigste Weise zu eigen gegeben wird. Modern ausgedrückt: Das sich ereignende Sein ist ,das Zwischen‘ (inter) von allem Auseinanderliegenden. Gott wäre als das Sein selbst oder das gemeinsame Sein ein ungöttlicher Gott. Er ist nicht etwas im Sichereignen von ontologischer Differenz, sondern ihr Ursprung.
196 A.a.O., q. 8, a. 1: quod esse creatum sit proprius effectus eius; vgl. q. 45, a. 5. 197 Thomas von Aquin (In lib. de causis, prop. 4, lect. 4, 37) rezipiert hier auf seine Weise die viel zitierte, von Proklos inspirierte Kapitelüberschrift aus dem von einem arabischen Anonymus verfassten Liber de causis (siehe A. Fidora/A. Niederberger, Von Bagdad nach Toledo. Das »Buch der Ursachen« und seine Rezeption im Mittelalter, 46 f.): Prima rerum creatarum est esse et non est ante ipsum creatum aliud. »Das erste der geschaffenen Dinge ist das Sein, u nd vo r ihm ist nichts ande re s g e schaffe n .« Auf diese Metaphysik der Schöpfung wird am Ende des zweiten Bandes ausführlich eingegangen werden. Vgl. Sth I, q. 45, a. 4, ad 1. 198 Vgl. Thomas von Aquin, SG, I, c. 25: Quod Deus non est esse formale omnium. 199 A.a.O., c. 26: Impossibile est igitur Deum esse illud esse quo formaliter unaquaeque res est. 200 A.a.O.: Non est igitur Deus ipsum esse commune omnium bzw. das esse formale omnium. 201 Vgl. dazu vom Verf. (2009) in: Befreiung und Gotteserkenntnis, 223–234, Thomas von Aquin und die Überwindung pantheistischer (monistischer) Tendenzen. 202 Thomas von Aquin, SG, I, c. 26: Si igitur esse divinum esset formale esse omnium, oporteret omnia simpliciter esse unum […] Nam si divinitas est omnium esse formale, non erit super omnia, sed inter omnia, immo aliquid omnium. Wird hier nicht Heideggers Wort vorweggenommen: »Das ,Sein‘ – das ist nicht Gott […]«? In: GA, Bd. 9: Wegmarken, Brief über den »Humanismus«, 331.
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3.5 Übergang zur Seinsgeschichte
Wie lebensnah und konkret Thomas von Aquin das Verhältnis von Mensch und Sein denkt, zeigt eine beiläufige Überlegung: Eine vom Sein (der Realität) losgelöste Vernunft kann sich vorstellen, dass wir nicht sind (ähnlich wie wir sinnvoll denken können, dass wir einmal nicht gewesen sind). Dem steht die Ernsthaftigkeit des existenziellen Denkens entgegen, für das das eigene Nichtsein undenkbar ist, denn in dem, was es denkt, und das heißt so viel wie offen vernimmt (percipit), denkt es das eigene Sein.203 Und so kommt auch hier wieder der Vorrang des Seins vor dem Denken zum Vorschein. In der Ungebrochenheit seines Seinsdenkens hat Thomas die latente ,Dramatik‘ dieses Gedankens noch nicht wahrgenommen, wobei die Problematik der Verneinung und des Nichtseins vorläufig ausgeklammert sei. Achten wir nur darauf, dass wir uns aus dem Sein, wie es uns jeweils zu sein gegeben ist, zum Sein verhalten, ja zu verhalten haben – und dass wir gar nicht anders können. Ob wir nun an das Sein denken oder nicht, ja überhaupt denken oder nicht – zum Sein, aus dem wir uns zu verhalten haben, können wir uns überhaupt nicht nicht verhalten. Darum können wir im Ernst weder denken noch sagen ,wir sind nicht‘ bzw. ,ich bin nicht‘ oder ,du bist nicht‘. Aber dieses Geschehnis der Zugehörigkeit zum Sein aus dem Sein hat seine Geschichte, die als Wesen des Seins in einem ereignishaft-verbalen Sinn von ,wesen‘ sich enthüllt. Dieses Wesen meint also keine abstrakte Wesenheit, kein allgemeines Wesen des Seins, was es auch aufgrund seiner Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit gar nicht geben könnte, sondern das konkrete Anwesen, wie wir es selbst als Selbst-Anwesende kennen und vermögen. Der Bezug zum Sein, das wir (zu sein) ,haben‘, der uns (ver)braucht, indem er sich uns in die Verfügung gibt, ist unserer Sorge anvertraut und geschichtlich modifizierbar. Das heißt nicht, dass wir uns anmaßen könnten, über das Wesen des Seins zu verfügen, doch kommt gerade aus dem Sein das Vermögen, sich zu diesem Sein (das immer auch mit das Sein unseres eigenen Selbst ist!) offen verhalten zu können oder das Seiende so zu bevorzugen, dass wir uns (unfrei) an es verlieren. Diese geschichtliche und existenzielle Modifikation in Richtung Verdeckung, Vergessenheit, ja Verlust des Seins ist aber immer noch eine Weise des geschichtlichen Wesens des Seins, denn indem der Mensch am Sein partizipiert, gehört er ihm so zu, dass Verdecktsein, Vergessensein, Verlorensein Weisen des (seines!) Seins und nicht bloß Vollzüge eines Subjekts sind. 203 Thomas von Aquin, De ver., q. 10, a. 12, ad 7: nihil prohibet quod quis cogitet se non esse, sicut cogitat se aliquando non fuisse. […] nullus potest cogitare se non esse cum assensu: in hoc enim quod cogitat aliquid, percipit se esse.
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Ist das Gesagte zutreffend, dann muss sich die Weise, wie uns zu sein gegeben ist, selbst geschichtlich wandeln. Man kann dieses Grundgeschehen der Menschheit, das nicht auf die abendländische Metaphysikgeschichte einzuschränken ist, für eine globalisierte Welt Seinsgeschichte nennen und tritt damit epochal ein in die Möglichkeit einer nie da gewesenen Öffnung für das Gewesene und der Offenheit für den Advent des Seins. Seinsgeschichte meint nicht nur den geschichtlichen Wandel im Seinsverständnis, das dank der mühevollen Philosophiehistorie als Ansichten-Katalog dokumentiert wird, sondern das Verhältnis zum Sein in seiner Modifizierbarkeit uns gegenüber durch unsere Weise, persönlich und leibhaftig (d.h. selbst) dem Sein zu ,ent-sprechen‘. Dabei mag es uns entzogen erscheinen oder dieser Entzug sogar notlos verborgen sein. Das Sein ist das Schicksal des Menschen, das ihn kollektiv wie ein Sog zur Bevorzugung des Seienden bestimmt und von dem geschenkten Reichtum und der Tiefe des Seins abhält. Die Heidegger’sche Rede vom »Geschick« des Seins erscheint so weitgehend gerechtfertigt. Mit ihr ist selbstverständlich kein über den Menschen verhängtes Fatum, das die menschliche Freiheitsgeschichte zur Farce erniedrigt, und schon gar kein Appell zur irrationalen »Schicksalsergebenheit«, »Gehorsamsbereitschaft« gegenüber einer »unbestimmten Autorität« gemeint, welche »die Submissivität einer leeren Unterwerfungsbereitschaft« nahe legt und auf »blinde Submission unters Höhere« hinausläuft,204 denn wenn Freiheit nicht auf das handelnde Sichverhalten zum Seienden (als Selbstgesetzgebung) zu reduzieren ist, dann sind erstens wir selbst vom Sein her in die Auseinandersetzung von Sein und Seienden versetzt, zweitens ist uns so zu sein gegeben, dass wir uns selbst verantwortlich zum Sein verhalten können, sodass unsere Zugehörigkeit zu ihm existenziell zur Entscheidung steht, und drittens sind wir (befreit in die Zugehörigkeit zum Sein) in die Möglichkeit versetzt, inmitten der Seienden wahrhaft selbst zu sein. Das Seinsgeschick ist also nicht deterministisch vorzustellen, sondern es ergeht in immer neuen Herausforderungen (challenges) persönlichster und zugleich überindividueller Art, wobei die Antworten der Menschen mit-, für- oder gegeneinander, also auch ihr menschliches Versagen, in das sie beanspruchende gemeinsame Geschick eingehen. Hier ist keine Auseinandersetzung mit den Spezifika des Heidegger’schen Entwurfs der Seinsgeschichte beabsichtigt, sondern es gilt nur zu beachten, dass eine Seinsgeschichte ohne verbal-ereignishaftes, sich dieser gesamtmenschlichen Erfahrung verdankendes Seinsverständnis gar nicht denkbar ist. Wie das Sein sich 204 Wie J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 158–190, annimmt. Dazu kritisch vgl. E. Fräntzki, Daseinsontologie. Erstes Hauptstück, 57– 66.
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205 Thomas von Aquin im Vorwort zu: De ente et essentia, nr. 1: Quia parvus error in principio magnus est in fine [vgl. Aristoteles, De caelo I, 5; 271 b 8–13], ens autem et essentia sunt quae primo in intellectu concipiuntur […]; ideo primo, ne ex eorum ignorantia errare contingat, ad horum difficultatem aperiendam, dicendum est, quid nomine essentiae et entis significetur, et quomodo in diversis inveniantur […].
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an das Seiende weggibt, ist jeweils zeitwörtlich als Weise geschichtlichen Währens und ,wesenden‘ Gewährens zu verstehen. Die philosophische Ernstnahme von Weltgeschichte legt die Enthüllung dieses Grundgeschehens des verbalen Wesens des Seins als freigebendes und befreiendes Geschick nahe. Die Tragweite des verbal-ereignishaften Seinsverständnisses, das hier skizziert wurde, kann kaum groß genug eingeschätzt werden, um das epochale »Schicksal der Metaphysik« (Gustav Siewerth) mit ihrer philosophischen Theologie und ihrem teilweisen Versanden im Atheismus aus ihren Wurzeln zu verstehen. Philosophische Theologie und moderner Atheismus sind heute ohne Einbeziehung der Seinsgeschichte in ihrem geschichtlichen Wesen undenkbar. Mag für Thomas der Gedanke der Seinsgeschichte noch nicht an der Zeit gewesen sein, muss er dennoch einiges über Risiko und Tragweite des Seinsdenkens geahnt haben. Denn schon in seinem Frühwerk De ente et essentia hat er die Grundlegung seines Seinsverständnisses unter den Anspruch des alten Axioms gestellt: parvus error in principio magnus est in fine, d.h. ein kleiner Irrtum im Anfang, bei der Eröffnung des Denkens aus seinem Ursprung, wird am Ende zu einem großen.205 Und er setzt ohne Übergang mit einem Grundgedanken aus dem Beginn der Metaphysik (lib. I, c. 6) des Avicenna (= Ibn Sina: 980 – 037) fort: »Nun aber sind es Seiendes und Wesen [die ,Notwendigkeit‘ lässt er weg!], die als Erste durch unseren Intellekt vernommen werden.« Damit daraus kein Missverständnis und am Ende auch kein großer Irrtum erwachse, müssten ,Seiendes‘ und ,Wesen‘ als ontologische Namen entsprechend geklärt werden. – Vorausgesetzt, es wird folgerichtig gedacht, müsste ein kleiner Irrtum in der Interpretation des ontologischen Ausgangsphänomens sich am Ende zu einem großen Missverständnis auswachsen, von dem auch die philosophische Theologie mitbetroffen wäre. Was hier als Ausgangsphänomen vorgeschlagen und angemessen erschlossen wird, entscheidet über den Wahrheitsanspruch des Ganzen. Was bedeutet das dann ,am Ende‘ (im Ergebnis)? Gibt es dann eben Leute mit wahren und andere mit irrtümlichen Ansichten über etwas, das eingestandenermaßen nichts Seiendes, Handgreifliches ist? Und verbreitet sich dieses Aufblitzen von wahrer oder vermeintlicher Erkenntnis allenfalls nicht wirkungs- oder rezeptionsgeschichtlich? Oder ereignet sich in allem ein Sichentbergen des geschichtlichen Wesens des Seins, das, herausfordernd für uns, mit der entgegengesetzten
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Möglichkeit seines Unwesens befrachtet ist? Das an Platon anschließende Wort Heideggers über den dramatischen Kampf der Riesen, die »Gigantomachie über das Sein des Seienden«, der in der Antike entbrannt und im Blick auf die Seinsfrage und das Seinsverständnis weiter zu kämpfen ist,206 erscheint hier nicht übertrieben, entscheidet aber nicht über die Frage, ob den Denkern Epochales zu bahnen (auf) gegeben ist oder ob sie nur wie Seismographen das Beben anzuzeigen haben. Was uns heute ontologisch bestimmt, ist einer der bemerkenswertesten Umbrüche im Seinsverständnis, der sich im Mittelalter ereignet hat. Auf ihn wird noch zurückzukommen sein. Vorläufig seien zwei Texte ausgewählt, in denen entgegengesetzte Weisen der Erfahr- und Denkbarkeit des Seins zum Vorschein kommen. Während Thomas von Aquin, der neuplatonische Traditionen eigenständig rezipiert, im Sein das Vollkommenste von allem (perfectissimum omnium)207 und die Gott eigenste und eigentümliche Hervorbringung (proprius effectus) erblickt,208 deren überfließender Reichtum ihn, den Urgrund (die causa prima) selbst, darstellt (repräsentiert), hält Johannes Duns Scotus das Sein für das Gegenteil: Sein sei nicht der bevorzugte, edelste, sondern der unvollkommenste Effekt Gottes.209 Duns Scotus bestimmt das Sein im Ansatz, der sich weit über den Schulskotismus im engeren Sinn hinaus verbreitet hat, nicht nur zwiefältig, sondern zwiespältig: Einerseits ist da das bloß vorhandene Anwesende, Seiendes, insofern es existiert, aus dem in der späten Neuzeit die harten Tatsachen, die allein Geltung haben, werden. Andererseits, wenn nur Seiendes ist, dann fragt sich: Was ist mit ihm? Wie ist es möglich? Der Skotismus bahnt seinen Siegeszug in die neuzeitliche Philosophie damit an, dass er das Seiende als Vorhandenes durch den Rückgang auf das die quaestio facti ermöglichende ,Sein‘ und seine Denkbarkeit erst verstehbar zu machen sucht. Sein wird als Seiendheit zum Begriff gemacht, eine singuläre Begriffsbildung, extrem universalisiert, erster, allgemeinster und unumgrenzt ausgeweiteter Begriff, der abgewandelt auf den unendlichen Gott und das endliche Geschöpf, auf Substanz und Akzidens, Akt und Potenz usw. anwendbar ist. Dieses ,Sein‘, genauer: die Seiendheit des Seienden, ist bewusst durchreflektiert der abstrakteste und folge206 Vgl. auch M. Heidegger, GA, Bd. 3: Kant und das Problem der Metaphysik, vgl. auch 218–246. 207 Thomas von Aquin, Sth I, q. 4, a. 1, ad 3. Vgl. K. Kremer, Die neuplatonische Seinsphilosophie und ihre Wirkung auf Thomas von Aquin: Plotin 88–92, 123, 135–184, 202; Proklos 272, 290; Pseudo-Dionysios 295, 353, 446; Thomas 378, 397 f., 445 f. 208 Siehe oben Anm. 175 und 196. 209 J. Duns Scotus, Reportatio Parisiensis IV, d. 1, q. 1, nr. 7 (in: Opera omnia, Ed. Viv. XXIII, 535 a sq.): esse non est nobilissimus effectus Dei, sed imperfectissimus, quia per se includitur in effectu eius imperfectissimo; nihil enim est in universo ita imperfectum, quin includat esse, et omne agens quodcumque potens super aliquod, potest super esse.
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richtig der inhaltlich leerste aller Gedanken, folglich niemals das vollkommenste Geschöpf Gottes. Er leistet das als das Einsinnigste (univoce), das überhaupt (gleich einem dahinziehenden Schatten der Fülle) denkbar ist. Die Zwiefältigkeit von sinnlich-schauendem und begrifflichem Erkennen bestimmt das Seinsverständnis. Doch die Zwiefältigkeit im Seinsverständnis ist eine Zwiespältigkeit, ja Zerrissenheit im menschlichen Bezug zum Sein des Seienden. Die äußerst abstrakte Art des (vom Auslangen nach sicherer Gewissheit dominierten) begrifflichen Seinsdenkens wird von Duns Scotus für durch die erbsündig verletzte Vernunft bedingt gehalten, der ja im Pilgerstand auf Erden die volle, beseligende Schau (visio beatifica) abgeht. Für eine Grundlegung der Metaphysik ist dem intuitiv schauenden Erkennen unmittelbar nur das vorhandene Seiende sinnenhaft zugänglich, das zugleich Anlass (occasio) zu einer wissenschaftlichen Erkenntnis ist, deren erstes Formalobjekt die abstrakte Seiendheit ist. Die Geschöpfe haben Sein oder schließen Sein als Möglichkeit ein – eine Vollkommenheit, welche die geringste im Universum darstellt, »denn nichts ist im Universum so unvollkommen, dass es nicht Sein beinhalten würde«. Offenkundig ist für Duns Scotus das Anwesende selbst in der Fülle und Vollkommenheit seines Anwesens kein Thema.210 Versuchen wir uns dem Gesagten seinsgeschichtlich anzunähern: zunächst als etwas, das sich in unserer persönlichen Zusammengehörigkeit von Sein und Dasein ereignet, und dann als etwas, das sich im geschichtlichen Miteinandersein epochal enthüllt. Seinsgeschichte, epochal verstanden, ist Geschichte im Widerstreit von Offenbarkeit und Sichentziehen des Seins (als Seinsvergessenheit und Seinsverlust). Das Sein legt sich durch uns aus, indem es gibt, dass wir es selbst auslegen. Wir können es als das Zwingendste ansehen, zu dem wir verdammt sind, und uns nach Entlastung und Fluchtmöglichkeiten umsehen, oder als das Befreiendste, das uns aufruft, ganz selbst zu sein und uns das Können zur Teilnahme am Ganzen gibt.211 Das Sein ist entgegengesetzt deutbar: Es ist das Anziehendste, wenn schon nicht selbst das Göttliche, so doch das von Gott uns Zugeeignete und dadurch ,schlichthin‘ das Gegründetste, und zugleich das Abstoßendste, das Apersonalste, das es überhaupt gibt, das Ekel oder Grauen erregen kann, unsere Personalität einebnet, kurz: das Bodenlose schlechthin, das alle menschlichen Verhältnisse unterminiert. Sein kann also als das Unvollkommenste verworfen werden und sich wie Rauch in die Bedeutungslosigkeit verflüchtigen, oder es kann als das Vollkommenste, als Fülle und Überfluss, zur Würde der Beteiligung an ihm erheben. 210 Näheres dazu später. 211 M. Heidegger, GA, Bd. 51: Grundbegriffe, »Das Sein ist das Verzwingendste und zugleich die Befreiung«, 67 f.
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Damit wird deutlich: Es geht nicht um subjektive Ansichten, die man für wahr oder irrtümlich halten kann und die ohnedies nur auf einen kleinen Kreis von Menschen beschränkt sind. Vielmehr geht es hier um unser Sichverhaltenkönnen aus dem Sein zum Sein, unseren Bezug, aus der Welt sich zur Welt zu verhalten. Welt ist hier mit Heidegger als die »Offenheit des Seins«,212 der vom Sein selbst ausgebreitete Weltaufenthalt des Menschen,213 verstanden, als der Freiheitsspielraum schicksalhafter Beteiligung am geschichtlichen Wesen oder Unwesen des Seins. Gegen den Anspruch des Seins können wir nicht angehen. Rennen wir gegen das Sein an, dann nehmen wir es in Anspruch, aber auch dann, wenn wir uns auf das Seiende als letzten Halt werfen oder meinen, unseren Aufenthalt im Sein verleugnen zu können. Hier ist Irren noch nichts Wesenloses, sondern eine Weise des geschichtlichen Wesens bzw. Unwesens des Seins und ein Versuch, in seiner Wahrheit zu stehen. Es tut not, des Seins innezuwerden. Wir erinnern uns, dass wir dessen innewerden, wenn wir uns aus der Zerstreuung in die Vielfalt unserer Bezüge zu Seienden zurückholen, uns sammeln und wieder leibhaftig anwesend werden. Wir kommen damit auf das im propädeutischen Exkurs zur Phänomenologie der Sammlung Gewonnene zurück. Doch das Sein kann durch den Andrang des Seienden so verstellt sein und zur Bedeutungslosigkeit herabsinken, dass es vergessen wird, ja nicht einmal dessen Entzugserscheinungen mehr wahrgenommen werden. Von diesem Entzug ist die gegenwärtige philosophische Theologie betroffen. In den Möglichkeiten des Sichverhaltens zum geschichtlichen Wesen des Seins wird über die Möglichkeit einer theologischen Philosophie vorentschieden.
3.6 Das Sein und das Nichts 214
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Der Aufgabe, die mehrfachen Weisen (Bedeutungen) des Seins sowie auch die des Nichts zu klären – Aristoteles hat sie öfters formuliert –, ist die abendländische 212 M. Heidegger, GA, Bd. 9: Wegmarken, Brief über den »Humanismus«, 350: Welt als »In-derWelt-sein« bedeutet »überhaupt nicht ein Seiendes und keinen Bereich von Seiendem, sondern die Offenheit des Seins«. 213 M. Heidegger, GA, Bd. 51: Grundbegriffe, 85. 214 Ausführlichere Klärungsversuche zur Bedeutungsmannigfaltigkeit des Nichts sollen an einem geeigneten Ort zur Sprache kommen. Vgl. dazu vom Verf. (22003), in: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Bd. 2: Das Nichts als »Ort« der religiösen Erfahrung. Das Phänomen des Nichts und der Aufweis des Daseins Gottes, 305–344; dazu ergänzend T. Kobusch, Art. »Nichts, Nichtseiendes«, in: HWP, Bd. 6, Sp. 805– 835; B. Welte (2000), Gott und das Nichts.
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215 Vgl. hierzu W. Hübner, Scientia de aliquo et nihilo. Die historischen Voraussetzungen von Leibniz’ Ontologiebegriff, 34–54. 216 J. Schmidt, Philosophische Theologie, 141 ff., hier 141. 217 J. Pieper, Unaustrinkbares Licht. Das negative Element in der Weltansicht des Thomas von Aquin (112–152), in: Werke in acht Bänden, Bd. 2; darin auch ein Abschnitt »Thomas von Aquin: philosophia negativa« (137–140). 218 Thomas von Aquin, De causis, I, 6, nr. 168: ipsa actualitas rei est quoddam lumen ipsius. 219 Thomas von Aquin, De veritate, q. 18, a. 2, ad 5: creatura est tenebra inquantum est ex nihilo.
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Philosophie äußerst unterschiedlich nachgekommen. Die Bevorzugung sprachlich positiver Ausdrucksweisen wird heute besonders durch die Konfrontation mit süd- und ostasiatischer Philosophie deutlich. Das Nichts als Nichtseiendes oder Nichtsein (Nichtdasein) galt als der äußerste Gegensatz zum Seienden oder zum Sein (Dasein). Auch die Gegensätzlichkeit selbst, ob sie nun Ausschluss oder Zusammengehörigkeit besagt, musste fragwürdig werden. Schon vor Hegels begriffslogischer Fassung des Seins und des Nichts gab es Versuche, die Ontologie durch das ausdrückliche Bedenken des Nichts auszuweiten. Leibniz sprach von einer »Wissenschaft von Etwas und Nichts« (scientia de aliquo et nihilo).215 Josef Schmidt hat eine »Meontologie« (von griech. m n, nichts) zur Ergänzung der Ontologie vorgeschlagen.216 Josef Pieper sprach in Anlehnung an den Titel negative Theologie von einer negativen Philosophie bei Thomas von Aquin 217 und hob die Unergründlichkeit der lichtvoll erkennbaren Dinge (Seienden) hervor. Einerseits ist »das Wirklichsein der Dinge selbst ihr Licht«,218 aber als Kreaturen entspringen sie unzugänglicher Tiefe: »die Kreatur ist dunkel, sofern sie aus dem Nichts stammt«; 219 zugleich übersteigt ihre gottgegebene Lichtfülle unser menschliches Begreifen. Hat es Ontologie mit der Unergründlichkeit des Seienden in seinem Sein zu tun – dem Mysterium des Seins –, dann ist die ,Negativität‘ dieser Philosophie zu bedenken. Ein Stück solcher negativen Philosophie sei im Folgenden resümiert. Doch welcher Zusammenhang besteht zwischen ihr und der voraufgegangenen Einführung in die Ontologie? Erinnert sei daran, dass das hinsichtlich seines Seins befragte Seiende selbst in die Frage nach dem Sein hineingezogen worden ist. Sind wir dadurch seinem ,Wesen‘ auch näher gekommen, so hat dennoch seine Fragwürdigkeit zugenommen und ist die Grundfrage wieder aufzunehmen: Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr nichts, warum eher Seiendes als Nichts?‘ Das in der zweiten Hälfte der Grundfrage Befragte, das Nichts, ist bisher zu wenig beachtet worden. Aber das Befragte, das ,nichts‘ oder ,Nichts‘, wird selbst in das Fragen hineingezogen und damit fragwürdig. Muss nicht, um mit dieser Frage auch nur ein wenig weiterzukommen, gefragt werden, welche Bedeutungsmannigfaltigkeit dem Nichts zukommt? Darauf ist im Folgenden Schritt für Schritt einzugehen.
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Verlieren wir uns da nicht in nichtige Spekulationen? Ist dem nicht nüchtern entgegenzuhalten, dass mit dem ,Nichts‘ einfach ,nichts‘, d.h. nicht etwas und sonst nichts, gemeint sein könnte? Was könnte schon ein ,das Nichts‘ anderes sein als die illegitime Vergegenständlichung der Verneinung, die hier offensichtlich ohne ihr Verneintes – das in Abrede Gestellte – gegenstandslos und nichtssagend ist? Ein ,das Nichts‘ ist ein vergegenständlichtes bzw. eingebildetes Nichts, das auf das sprachlogische Nichts zurückzuführen ist. Daher ist die Forderung zu erheben, mit diesem ,das Nichts‘ endlich Schluss zu machen, denn solches ist nirgendwo und niemals vorhanden und kann auch nicht als ein Seiendes vorhanden sein, denn was ist, kann nicht (zugleich und in derselben Hinsicht!) vorhanden und nicht vorhanden sein, das wäre realistisch gesehen eine Unmöglichkeit. So etwas kann als Seiendes nicht vorkommen! Beispielsweise kann ich durch sprachlogische Negation nicht nur mich als Nichtseiendes wegdenken, sondern ausgeweitet das All ins Nichts versinken lassen: ,Wie, wenn überhaupt nichts wäre?‘ Die Sinnhaftigkeit und Vollziehbarkeit dieser radikalen Vorstellung, dass absolut nicht etwas sei (nihilum absolutum), mag strittig sein, ist jedenfalls kein Weg für ein Denken, das sich aus dem Vernehmen des Seins versteht. Behauptet wird damit gerade nicht, dass es dieses absolute Nichts (außer als meine Vorstellung) gibt, und erst recht nicht, dass es einem ontischen Phänomen gleichkommt. Weil Seiendes in seinem Sein west, gehört ein solches ,das Nichts‘ nicht nur zu den faktischen Undenkbarkeiten, sondern erscheint prinzipiell unmöglich, sinn- und sprachwidrig, kann es doch, solange wir offenständig auf das All bezogen sind, dazu kein kontradiktorisches Gegenteil geben. Nach dem Schöpfungsglauben der drei monotheistischen Religionen stellt die Schöpfung aus dem Nichts gerade eine Schöpfung aus einem ,das Nichts‘ als außergöttlicher Vorgegebenheit (ex nihilo subiecti) in Abrede und umgekehrt wird das Hineinverwickeltsein Gottes in seine Schöpfung (etwa durch Kompensation eines Mangels oder das Erleiden von Überfluss) verneint; die Schöpfung ist nicht in Bezug auf den Schöpfer aus ihm, sondern eben aus ,nichts‘ (ex nihilo sui). Gerade hier wird die Vergegenständlichung der Negation ferngehalten, also ein mysteriöses Nichts weder außer noch in Gott angenommen. Schöpfung ist nur aus dem Phänomen des sich selbst Gegebenseins der Seienden, und zwar der Freigabe zu selbstständigem Sein erkennbar. Darauf ist noch einzugehen. Das bloß eingebildete, terminologisch so genannte hypostasierte Nichts hört sich an wie ein Eigenname, der einen Gegenstand benennt und den man sich wie ein Seiendes vorstellt. Der Forderung, diesem Spuk aus Nichts ein Ende zu bereiten, kann nur zugestimmt werden. Dass man mit diesem Nichts nichts anfangen kann, gilt als konsensfähig. Doch endet daher unsere Besinnung mit dem Nichts, oder
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220 Man könnte hier methodisch anders vorgehen und zeigen, dass im Offensein für das Anwesen und das Abwesen erst die Möglichkeit liegt, etwas in Abrede zu stellen, ,nicht‘ und ,nichts‘ zu sagen, zu verneinen, ,nein‘ zu sagen. Doch sei dies zurückgestellt. Ich ziehe hier die retorsive Form der Argumentation vor, die den Vollzug der Ablehnung untersucht und mit dem Abgelehnten konfrontiert. 221 Vermutlich erschöpft sich das Wesen des Übels nicht in der Hinsicht auf das ontologische Gutsein, vielmehr müsste es im Blick auf sämtliche transzendentale Bestimmungen des Seins neu durchdacht werden.
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fängt sie erst richtig an? Wenn wir bedenken, dass sich diese Forderung gegen etwas Nichtssagendes wendet, mit dem angebliche Obskuranten Tiefsinn vortäuschen, taucht vielleicht eine weitere Bedeutung des Nichts auf, die des nichtigen Nichts.220 Das hypostasierte Nichts beruht auf einem Denkfehler, dessen beklagtes Sinndefizit an einer korrekten sprachlogischen Ausdrucksweise gemessen wird. Dem Ausdruck fehlt etwas, es bleibt der Sinn aus und geht ihm ab. Fehlen, Ausbleiben, Wegsein, Abwesenheit von Sinn sind nicht Seiendes, sondern Nichtseiendes, und zwar Erscheinungen des Nichtigen, das Ärger über den Nonsens provozieren kann. Damit ist ein bestimmtes Phänomen des Nichts angesprochen, die Abwesenheit (privatio) von Sinn, von erfüllter Anwesenheit, um die es jeweils geht. Wir begegnen hier dem, was man ein nichtendes Nichts nennen kann. Ein solches ist das Übel (das Destruktive, Schlechte, Böse), das traditionell als privatives Nichts (nihil privativum), näherhin als Privation des Guten (Mangel an dem, worum es geht) bestimmt wurde.221 Das verbale ,Wesen‘ des Übels wird als eine Art des Nichts (species negationis) bestimmt. Damit ist es keineswegs verharmlost, sondern ein Phänomen angesprochen – beispielsweise die Entdeckung, dass man den Haustorschlüssel verlegt hat und nicht mehr ins Freie kommt. Im Falle eines Brandes können davon Leben und Tod abhängen. Ist man über die Aufdringlichkeit dieses Abwesens, Wegseins (kein Wassein!), höchst aufgebracht, so ist dies dennoch, seinem verbal verstandenen ,Wesen‘ nach, ein nichtiges Nichts. Ein privatives Nichts ist sprachlogisch geurteilt kein Seiendes, weder die bloße Abwesenheit des Seienden noch das bloße Nichtzuhandensein des Seienden, mit dem man das Haustor öffnen könnte. Das Fehlen, der Mangel, die Beraubung werden aus ihrem Verhältnis zu Seinsbestimmungen des Bewandtnisganzen verstanden. Gefangen in der versperrten Wohnung schleicht sich in das Zuhausewohnen-Können eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit als lebensbedrohliche Unmöglichkeit ein. Diese unmöglich gewordene Möglichkeit drängt sich phänomenal als Gegebenheit auf. Das privative Nichts kann phänomenal also sogar von höchster Aufdringlichkeit sein. Oder denken wir an den schmerzlichen Verlust eines Menschen, den wir geliebt haben, der uns in tiefe Traurigkeit, ja depressi-
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ve Verstimmung stürzen kann. Phänomene des Weg- und Ausbleibens können aber auch unauffällig wie Verblendungszusammenhänge bleiben. So sehr Übel sich aufdrängen, wie das Getrenntsein von Geliebten und das Zusammensein mit Ungeliebten, so ist das Übel zu Recht in seinem ,Wesen‘ als eine Art von Nichts bestimmt worden, denn es geht einem dabei etwas ab, das fehlt, nämlich das Zusammenleben mit Geliebten und Getrenntsein von Ungeliebten. Wir erfahren uns von Weisen erfüllter Daseinsmöglichkeit ausgeschlossen und in Unmöglichkeiten gedrängt. Es kann sich in einen Sachverhalt, in eine Beziehung usw. eine bedrückende Unmöglichkeit einnisten, oder wir zerbrechen am Unmöglichen (an Fehleinschätzungen, verfehlten Idealisierungen, Widersprüchlichkeiten), das wir irrtümlich für möglich halten und erstreben. Unmöglichkeit und Unmögliches zählt man in der Ontologie zu modalen Seinsbestimmungen, was strittig ist, weil es doch, wie schon die Wörter sagen, so etwas gar nicht geben kann, doch zumeist gehören sie zu den denkwürdigsten Weisen des phänomenal Nichtigen. Diese stellen sich aber wohl nicht immer als jene Nichtigkeiten heraus, die man als wertlose Kleinigkeiten oder Nebensächlichkeiten entlarven kann. Im Fall nichts mehr von dem da ist, das einem zuvor lebensnotwendig beansprucht oder gar als unmöglich zu Leistendes überbeansprucht hat (Distress), können sie tödlich enden. Steht uns mit diesen Unmöglichkeiten, denen auszuweichen ist, die zu lassen oder zu bewältigen sind, eine letzte »eigenste« und »unüberholbare« Möglichkeit bevor?222 Diese bringt das Dasein vor die »Unmöglichkeit der Existenz überhaupt«,223 vor das Nichts des Todes. »Das Nichts, davor die Angst bringt, enthüllt die Nichtigkeit, die das Dasein in seinem Grunde bestimmt, der selbst ist als Geworfenheit in den Tod.«224 Da es uns um unser ,Da-sein‘ gegen das ,Nicht-sein‘ geht, erfahren wir uns »durch und durch von Nichtigkeit durchsetzt«. Dieses nichtige Nichts ist nicht mit etwas Nichtigem zu verwechseln, das uns auch gleichgültig sein kann, wie das Nichtmehrvorhandensein in chronologischer Zeit, mit dem man rechnet, wenn man ein vernünftiges Testament macht. Nichtiges, das etwas Seiendes ist, das weg sein und fehlen kann, ist nicht das, wovor wir primär Angst haben, sondern es ist die stets bevorstehende und anwesende Möglichkeit der Vernichtung des Daseins im Tod. Vor diesem Ende packen einen Entsetzen und Schrecken. Nicht der Ausfall von innerweltlichen Seienden, sein Zerfall in das Bestandlose, auch nicht das 222 M. Heidegger, GA, Bd. 2: Sein und Zeit, 349 f. 223 A.a.O., 348. 224 A.a.O., 409, vgl. 404 und 406: Das Dasein ist der von seiner Nichtigkeit durchherrschte Grund (das »nichtige Grund-sein«) seines Todes.
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Fehlen und nicht mehr Vorhandensein, jagt uns Angst ein, sondern der Absturz in je mein, je dein anwesendes Nichtsein, das unheimlich ohne Ende und als immerwährendes Totsein phänomenal ,west‘. So wie es Sein gibt, das west und nichts ist, so gibt es auch dieses Nichts, das west und nichts ist. Doch verschließt diese zusammenschnürende Enge der Angst nicht eher als sie öffnet? Angst, Entsetzen, Schrecken machen angesichts des Nichts ,kopflos‘, sind Gesten der Abwehr. Ein Weg aus ihnen kann sich nur im Lassen und Zulassen des Nichts auftun. Die hier aufgegebene Frage ist: Braucht es das Seiende und seine Beseitigung, damit das Nichts des Endes west, oder braucht es das vielmehr als etwas Nichtiges, das so nicht abzustoßen wäre? Die Entscheidung dieser Frage kann, wenn sie überhaupt möglich ist, nur aus dem Phänomen selbst geschöpft werden. Dabei ist bemerkenswert, dass diese Frage, echt und eigentlich gefragt, nicht zu den Fragen gehört, die wir beliebig stellen können, vielmehr überkommt sie uns in verschiedenen Gestalten. Sie heißt uns nicht, im Dunkel nach einem Licht zu schielen, sondern verzichtet darauf, Licht von außen ins Dunkel zu bringen, das da hellen Schein zu verbreiten hätte, und meint das »Licht des Nichts«,225 das einzig aus der Phänomenalität des Nichts selbst erweckte Verständnis für das sich Lichten des Nichts und das Freiwerden für den Ursprung und dessen Unergründlichkeit.226 Im Vorübergehen sei noch auf die bedrängende Erfahrung des nihilistischen Nichts eingegangen, dessen Konstruktionsgesetz auf dem Boden des nichtigen, privativen Nichts durchschaubar wird. Nihilistisch wird ein Nichts aus der Erfahrung, dass es mit dem Sein nichts (nihil) ist, genannt, und zwar weil dieses verdeckt und verkannt wird durch die Voraussetzung höchstdenkbarer Vollkommenheit, Sinnund Werthaftigkeit. Durch sie muss grundsätzlich alles andere, was immer es auch sei, als unvollkommen, mit einem Sinndefizit belastet erscheinen. Mit dem Durchschauen der maßlos verklärenden Kraft dieser subjektiven Idealbildung kommt es zum Einsturz des Höchstdenkbaren. Damit ist der Nihilismus offen da. Nach dem bisher Gesagten geht es darum, dass wir beim Denken des Nichts uns an nichts anderes als an das Phänomen des Nichts halten und uns nicht durch spekulatives Wegdenken des Seienden oder Seins oder gar durch eine Substantivierung der sprachlogischen Negation ein Nichts konstruieren, das man zu Recht desavouieren kann. Dass es sich beim Nichts zunächst um etwas phänomenal Gegebenes handelt, wird ja gewöhnlich beeinsprucht, denn wie sollte es etwas geben, das nicht etwas, sondern Nicht-Seiendes ist? Ein spekulativ-hypothetisches 225 Vgl. B. Welte, Abhandlung »Das Licht des Nichts«, in: Gott und das Nichts, 27–87. 226 Zur Phänomenologie des Nichts der Frageerfahrung vgl. auch vom Verf. (1997c), Das Nichts als »Ort« der religiösen Erfahrung, in: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Bd. 2, hier 327 ff.
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Nichtvorhandensein scheint hingegen mühelos nachvollziehbar: ,Was wäre, wenn ich überhaupt nicht wäre?‘ Immerhin war ich einmal (als innerweltliches Seiendes am Leitfaden des messbaren Zeitablaufes gemessen) nicht und werde einmal nicht sein. Es wurde schon gesagt, dass ich nicht ernsthaft denken kann, ich sei nicht. Gerade darum bleibt die Frage offen, warum ich bin und nicht überhaupt nicht bin. Doch die großen Tragödien menschlichen Lebens scheinen die Frage abzuschneiden, denn dem im Leiden am Dasein Ohnmächtigen oder dem am Dasein Schuldiggewordenen enthüllen sie seine ,Wahrheit‘, dass Nichtsein (Nicht-Geborensein) für ihn besser wäre als Sein. Doch diese Abkehr vom Sein steht immer noch unter dem Maß und ,Gericht‘ des Seins; und darüber hinaus könnte wohl noch die Einsicht obsiegen, dass das sich entbergende und mitteilende Sein besser ist als Nichtsein (Aristoteles).227 Beachten wir, dass hinter dieser Entgegensetzung von Sein und Nichts, Dasein und Nichtdasein (als Seiendes!) nur jene Überlebensfrage steht, die uns schon in der Form des ausschließenden Entweder-Oder begegnet ist. Die Frage ,Warum nicht Nichts?‘ ist damit noch nicht berührt. Wie steht es mit dem Sein, das nicht und nirgendwo als Seiendes vorkommt? Ist es nicht selbst phänomenal ein ,Nichts‘, nicht weil es kein Seiendes ist, sondern weil es als non subsistens im Anwesen des Anwesenden (selbstständigen Seienden) zur Erscheinung kommt? Ist dann mit ,Nichts‘ die erfahrbare Abgründigkeit des (An-)Wesens zur Sprache gebracht? Dann wäre es mit dem Sein im Sinne des Nihilismus nicht nichts, sondern Sein und Nichts wären dasselbe. Doch wie können wir dem Sein in seiner Vollkommenheitsfülle eine solche ,Leere‘, die die leerste wäre, zumuten? Bringt uns die Rede vom Sein als Nichts phänomenal weiter? Wir wenden uns erneut dem ,Nichts‘ als einem Phänomen zu. Insoweit es sich durch eine positive Erfahrbarkeit auszeichnet, ergibt sich eine neue Bedeutungsmannigfaltigkeit des Nichts. Ein leichter zugängliches Beispiel für dieses ,Nichts‘ als Phänomen kennen wir aus unserem wahrnehmenden Weltaufenthalt. Es kann der Fall eintreten, dass wir in leibhaftiger Anwesenheit wach und offenständig eksistieren, aber nichts sehen oder nichts hören. Gemeint ist nicht, dass wir irgendetwas, sei 227 Dazu vgl. R. Schönberger, Die Transformation des klassischen Seinsverständnisses, 87. – Diese prekäre Einsicht kann durch verschiedenste Schicksalsschläge verstellt sein. Beispielsweise weist E. Drewermann (Lieb Schwesterlein, laß mich herein, 43–101, hier 51) in seiner tiefenpsychologischen Auslegung des Grimm’schen Märchens vom »Marienkind« auf ein typisches Schicksal von Kindern und besonders Frauen hin, die sich in einem unerträglichen Maß an äußeren und inneren Entbehrungen zur Rücksichtnahme auf die Notlage ihrer Eltern gedrängt fühlen: »Gewiß gibt es kein schrecklicheres Gefühl für ein Kind als das Empfinden, seinen Eltern bereits durch sein bloßes Dasein lästig zu sein, denn es bedeutet, im Grunde unberechtigt auf der Welt zu sein, und je mehr die Eltern sich aus Liebe, Verantwortungsgefühl oder Ehrgeiz Mühe geben, die objektive Notlage zu überbrücken, desto mehr kann dieses Gefühl unter Umständen sogar erst recht dramatische Formen annehmen.«
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es erwartet oder nicht, nicht sehen bzw. nicht hören, sondern an Stelle von solchem Gesehenen oder Gehörten zeigt sich uns etwas positiv, nämlich: nichts. Wir sehen ins Dunkle, aber da zeigt sich überall nichts als Dunkelheit, undurchdringliche Finsternis. Der Presslufthammer vor dem Fenster hat endlich aufgehört zu rattern; wir horchen in die uns umringende Stille, und da: Wir erhorchen keinen Laut, nichts; was hier waltet, ist wohltuende Stille. Ein Nichts sehen und ein Nichts hören ist hier zu unterscheiden von der bloßen Negation des Sehens und des Hörens. Beispielsweise sieht der Videorecorder nicht und hört nicht, aber er kann niemals Nichts sehen oder Nichts hören, weil ihm der Bezug zum Offenen abgeht. Die Weise unserer leibhaftigen, wahrnehmend-vernehmenden Offenheit für begegnendes Seiendes ist hier angesprochen, jene Offenheit, die als solche nicht selbst als Seiendes irgendwo vorkommt, sondern als Nichts west. Vielfältig sind die Bedeutungen des Nichts als das Leere oder das Leersein, beginnend mit der Leere des Vakuums, des Abstands zwischen Seienden, über die raum-zeitliche Leere und Unerfülltheit, die Aufnahmefähigkeit, bis hin zur Offenständigkeit sowie zum Offenen in der Mehrfältigkeit seiner Bedeutungen, die auch das Freisein und Zwischen umfasst. Hier bedarf es einer wichtigen Unterscheidung: Einige Phänomene des Nichts ergeben sich aus dem Anspruch, etwas zu sein, und dem, was faktisch anwesend ist. So wird das privative Nichts aus der Nichterfüllung eines Anspruchs, etwas Sinnvolles, Wahres, Gutes usw. zu sein, bestimmt. Faktisch erweist sich das Angesprochene im Horizont dieses Anspruchs als schlecht: nichtssagend, nichtswürdig, widersprüchlich, unmöglich, mangelhaft. Das Abwesendsein in Anspruch genommener Seinsvollkommenheit kann sich einem aufdrängen. Das nihilistische Nichts erscheint als Generalisierung dieses privativen Nichts, das, absolut gesetzt, alles, alle Menschen und alle Welt, unter einem absoluten, idealen Vollkommenheitsanspruch durchfallen lässt. Denselben Unterschied zwischen Anspruch und Erfüllung finden wir auch in Phänomenen, die nicht als Privation missdeutet werden dürfen. So wird ein räumlich-zeitlicher Abstand im Horizont eines Entwurfs leerer Möglichkeiten der Messbarkeit bestimmt, sei es die Zeitspanne zwischen Ereignissen oder der Zwischenraum beispielsweise zwischen Mond und Erde. Was dazwischen ist, erweist sich als leer, tatsächlich ohne Erfüllung durch etwas Faktisches; es zeigt sich, dass da nichts ist und west, und doch sogar ein rechnerisch bestimmbares Nichts ist, was wiederum nicht mit einem durch Negation bestimmbaren Etwas zu verwechseln ist. Ähnlich wird ein Gefäß, das man gewöhnlich vom Aussehen, seiner Form und Handlichkeit her beurteilt, in seinem Wesen von der Leere her entworfen, beispielsweise wird ein Krug von dem her bestimmt, was er, durch Einschenken an-
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gefüllt, nun fassen soll. Das Gefäß wird von diesem Nichts der Leere her, die es fasst, bestimmt. Hier wurde eine erfüllbare Leere entworfen. Das Beispiel eines leeren, offenen Gefäßes wie eines Weinkrugs, der viele Anwesende verbindet, wenn er ausgeschenkt und so entleert wird, führt uns weiter. Er spricht uns als Symbolon an. ,Symbolon‘ meint hier das konkrete In-Erscheinung-Treten dessen, worin Menschen in mehrfacher Weise Zusammenhaltende sind.228 Es geht um die Leere als Fassungsvermögen (Kapazität) und um Teilhabe, um das Offene oder Zwischen, worin Menschen als Empfangende und Gebende zusammenhalten. Die Leere als ursprüngliches Nichtsphänomen ist hier nicht im Horizont der Erfüllbarkeit (Fassungsvermögen) oder Nichterfüllung eines Anspruchs bzw. Entwurfs zu bestimmen, sondern als eine Weise des Seins, als das Offene oder Zwischen. Die Offenheit ist zunächst eine kommunikative Aufgeschlossenheit des Menschen für den Menschen und damit eine Offenheit des Anwesenheitsbereiches zwischen Menschen in ihrer leibhaftigen Anwesenheit. Das bedeutet unbesetztes Frei- und Offensein des Herzens, ein Sichöffnen im Sinne des Leer- und Zunichtewerdens für ein weites und tiefes, aus dem Gewesenen in das Kommende hineingehendes Vernehmen. Solche Offenheit hat die Spannweite der Welt und ihres Zeit-Spielraums, sie entspricht der Welt als der vom Sein her eröffneten Offenheit und Offenbarkeit. In ihr waltet die Offenheit zwischen dem Ding und dem Menschen, sowohl als Offenheit (Zugänglichkeit) des Menschen selbst für das Ding als auch als unverstellte Offenheit vom Ding her so, dass das Leere, Freie, Durchscheinende das für ein leibhaftiges oder körperliches Erscheinen Durchlässige ist. Diese mehrfältigen Weisen der Leere und Offenheit, das Hin und Her zwischen den Mitmenschen und zwischen den Dingen und uns, walten in sich als eine einzige Offenheit. Hebt man das Zwischen oder Inzwischen (lat. inter) hervor, dann darf es nicht unterbestimmt werden. Unter Intersubjektivität oder Interaktion (Wechselwirkung) stellt man sich vorher bestehende Subjekte (Individuen, Seiende) vor, die unter den kategorialen Gesichtspunkten von actio und passio oder in technomorphen Modellen wie input und output, encodierender Sender und decodierender Empfänger und dergleichen aufeinander einwirken. Aber das Zwischen besagt nicht nur das, was sich zwischen ihnen (inzwischen) abspielt, sondern auch, was sich aus dem Sein als Abgrund heraus so ereignet, dass es die Seienden in Zusammengehörigkeit herausdifferenziert und fügt – so wie ein Gespräch sich ereignet und fügt, dessen Verlauf und Ausgang niemand völlig in der Hand hat. Das Offene fungiert da nicht wie ein bereits bestehender Megabehälter, son228 Zum ursprünglichen Verständnis des Symbols vgl. vom Verf. (2001), Philosophische Vorüberlegungen zum Symbolverständnis in der Psychotherapie.
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229 So die wertvollen phänomenologischen Analysen von B. Waldenfels (Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, 240, 284–304, hier 286) zur Zwischenleiblichkeit als Verschränkung von eigenem und fremdem Leib; Waldenfels denkt die Leiblichkeit des Selbst allerdings nicht aus dem Offenständigsein gegenüber den Begegnenden, auch unterscheidet er nicht zwischen Fremdbezug und Bezug zu Nahestehenden bzw. deren Zusammengehörigkeit, wobei überdies die pränatale Situation der ,Verschränkung‘ ausgeblendet bleibt.
Dritter Exkurs
dern es währt selbst nur als gewährter Aufgang aus dem Verborgensein, als Sichereignen des Offenen, als geeinte »Sphäre der Differenzierung«,229 die ihrerseits als Freigabe zu ursprünglichem Miteinandersein und zur Begegnung der Seienden untereinander einigt. Das Offene in den Weisen des Offenseins ist nichts Seiendes, so sehr es nicht ohne Beteiligung des Seienden west; es ist das Abgründige, es gibt es nur im Aufgang, im Sichereignen von Unverborgenheit (Wahrheit) aus dem Verborgenbleiben des sich im Inzwischen ereignenden Austrags von Sein und Seiendem. Hier ist der Gefahr zu begegnen, den Gedanken spekulativ zu verstehen und seinem unmittelbaren Vollzugssinn auszuweichen, indem man vom Unverborgenen auf dahinter verstecktes oder verdecktes Verborgenes, ja auf überhaupt Verborgenes (Seiendes an sich) schließt. Es ist vielmehr der verbale ,Wesensfluss‘ der Verbergung, das Sichzeigen des Sichnicht-Zeigenden, jenes abgründigen Grundes, der das Sichzeigen wesenhaft trägt und entspringen lässt. Beispielsweise bleiben wir einander bei noch so großer Offenbarkeit und Nähe in unserer Wesenstiefe die einander Verborgenen, Unbekannten, Fernen (homo abyssus), und verweisen so einander in die Tiefe und Abgründigkeit unseres gemeinsamen Daseins als die Zueinandergefügten. Im Sichereignen des Austrags (der ontologischen Differenz), in diesem Geschehen des Freigebens zu selbstständigem Sein des Seienden, erscheint daher das Nichts der Verborgenheit des Seins unauffällig mit, deshalb können Sein und Nichts dasselbe genannt werden. Phänomenal gibt es dieses Austragen und Tragen des Seienden zur Teilhabe als Miterscheinung des Unscheinbaren, des verborgen erscheinenden Nichts. Doch mit dem Gang vom Nichts als dem Offenen zum Nichts der Verborgenheit des Seins ist der Weg nicht zu Ende. Er geht aus von der Ontologie und weiter zur theologischen Philosophie. Wenn wir darauf achten, wie dieser Austrag von Sein und Seiendem als ein ereignishaftes Inzwischen sich gibt und ab-gründig währt, dann gibt es hier keinen Abschluss unseres Denkweges, sondern die Fragwürdigkeit nimmt zu. Das weiteren Fragens Würdige ist an dieser Stelle: Seiendes ist; es ist, indem es sich phänomenal gibt, Sein wesen lässt, weil es teilhat am Sein; es gibt sich so zurück an das Sein. Aber Sein ist kein in sich stehendes Sein als ständiges, immer sich selbst ,gleiches‘ Anwesen (Idee), welches das Werden in den Bereich des Uneigentlichen zurückstößt, sondern Anwesen, das Gewesenes je immer neu in das Zukünftige hinaufhebt, also solcherart ein Sichereignen. Insofern hat es sich und substituiert es
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Sachprobleme systematischer Ortsbestimmung philosophischer Theologie
Dritter Exkurs
nicht, sondern ist es sich gebendes Sein, doch darin abgründig; es gibt sich aus seinem verborgenen Anfang heraus. Wie steht es um diesen? Gibt das Sein her, was es von sich her gar nicht haben kann, weil es dies als Ausstrom, Überschwang, überströmende Fülle aus seinem Urquell empfängt? Scheint die in diesem Geben wesende Gabe des Seins nicht als das Verborgenste des Verborgenen mit auf: sein unergründlicher Ursprung und Anfang? Zeigt sich uns dieser Ursprung in einzigartiger Unaufdringlichkeit im Entsprungenen Mitanwesender? Ruft dies uns in ein angemessenes Entsprechen, zum Vollzug einer Umkehr im Verhältnis zu allem uns aus dem Ursprung Begegnenden? Erst nachgeordnet ist die Frage: Lässt sich dieser Ursprung, dieses Ursprungsgeschehen aufzeigen, aufweisen und nachvollziehbar mit sehen lassen? Gemeint ist mit dem letzten Ursprung nicht ein ,seiendstes‘ Seiendes, keine höchste Idee über allem Sein, sondern das aus seiner Unergründlichkeit Seiendes zum Sein ,Frei-gebende‘ und in diesem Geben Mitanwesende. Was in diesem Sinne (als Sein?) in und über allem Sein west, wird in der Tradition der negativen Theologie von der Weise seines Erscheinens her, von dem als Verborgenbleibendes zur Offenbarung Kommenden, vielfach paradox benannt: als absolutes Nichts, dunkles Licht der Gottheit, letzte Finsternis, »überlichthaftes Dunkel«,230 »überseiende Sturm-Nacht (gnfoß), weg-verborgen unter allem Licht dessen, was west« (Pseudo-Dionysius Areopagita 231).
230 Pseudo-Dionysius Areopagita, De mystica theologia, II, 1: […] tn prfwton […]. n toß osi 231 A.a.O., II, 14 f.: […] tn perosion […] gnfon tn p pantß tou fwtß 2pokruptmenon (Übersetzung: E. Przywara, Was ist Gott?, 32).
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4. ,Metaphysik‘ als Ort des Grunddenkens theologischer Philosophie
4.1 Philosophische Theologie – Annex oder zentrale Thematik der Philosophie?
Wo steht Metaphysik heute? Nimmt man an, dass Philosophie radikal nach einem letzten Sinn, einer endgültigen Wirklichkeit oder nach dem Grund und Ursprung des Seienden im Ganzen hinsichtlich seines Seins (das ,Es gibt‘) fragt und diesen Grund als etwas Göttliches auslegt oder als den Gott der Religionen identifiziert, dann wäre in ihr die philosophische Theologie das zentrale Thema: Es geht in ihr um das Erste und das Letzte als das Allesüberragende in unserem Dasein. Als der eigentliche Ort philosophischer Theologie gilt traditionell die Metaphysik; ja MetaPhysik wurde sogar mit philosophischer Theologie gleichgesetzt. Inzwischen ist es strittig geworden, ob den metaphysischen ,Hypothesen‘ dieser Theologie mehr Raum als nur ein fakultativer Anhang zur Philosophie zuzubilligen sei. Falls man heute noch an ,Metaphysik‘ festhalten will, wäre an ihr bestenfalls nur die ontologische Fragestellung und Thematik haltbar, denn das Fragen nach einer übersinnlichen Letztwirklichkeit fällt in den Bereich überholter Spekulation. Die Gründe für die Zurückweisung der Metaphysik sind zahlreich: Verlässliche Grund- bzw. Gotteserfahrungen für das Denken scheinen heute auszubleiben. Uns beirrt eher Grundlosigkeit. Kritische Philosophie ist (wie etwa bei Sartre) durch einen Atheismus motiviert oder geriert sich angesichts der Anarchie religiös aufgeheizter Ideologien, Fundamentalismen und Weltanschauungs- und Kulturkämpfe antitheistisch. In einer anderen Variante ist sie überhaupt in dem Sinne postatheistisch, dass sie voller Zurückhaltung einen methodischen Atheismus oder Agnostizismus bevorzugt, oder sie behauptet postmodern einen Pluralismus heterogener Wirklichkeiten, der es überhaupt überflüssig macht, letzte absolute Grundannahmen zu erörtern. Die Einwände sind vermehrbar und verdienen ernst genommen zu werden. Dennoch halten sich viele Philosophierende für von einem unergründlichen Ersten und Letzten so betroffen, dass sie darüber eine vernünftige Rechenschaftsablage nicht schuldig bleiben wollen. Auch weist man darauf hin, dass man ohne die Annahme eines Absoluten oder uns unbedingt Angehenden überhaupt nicht auskommt, denn wenn man es ignorieren will, kehrt es verkappt wieder. Mitunter sind es bestimmte Lebensideale, Seinsweisen oder Bereiche, die absolut gesetzt werden, zum Beispiel der Mensch (Anthropologismus, Soziologismus) oder die Welt (Kosmologismus), Geist (Idealismus) oder Materie (Materialismus) bzw. Natur (Biologismus, Naturalismus). Die kritische Umdrehung totalitären Einheitsdenkens setzt die Mannigfaltigkeit ab-
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Sachprobleme systematischer Ortsbestimmung philosophischer Theologie
solut (postmoderner Pluralismus), die ohne ,Zusammengehörigkeit‘ gar nicht gedacht werden kann. Doktrinäre Verabsolutierungen wiederum nähren skeptische Kritik an solchem Anhalt an einem wie auch immer Höchstdenkbaren. Immer geht es um das Ganze des Daseins und das, was es im Grunde bestimmen mag, und sei es, dass uns im Bezug darauf die Sinnlosigkeit und Nichtigkeit von allem (Nihilismus) beirrt. Philosophie ist radikales Denken, das auf das Ganze und ihm auf den Grund geht.1 Das Grunddenken eröffnet der Philosophie überhaupt erst ihren Anfang.2 Sie ist Wissenschaft von den Anfängen, Ursprüngen und Wurzeln, von der innersten Tiefe der Sache selbst, ihren Wurzeln und ihrem Quellgrund.3 Sie hebt sich selber auf, wenn sie sich aus dem radikalen Fragen nach dem Ganzen und dem Grund verabschiedet bzw. zur realitätsfernen Metatheorie herabsinkt, methodisch orientiert an Spezialwissenschaften und auf partikuläre Bereichsperspektiven versessen, und von da aus vermeint, Realitätsannahmen und -zuweisungen kritisch überprüfen zu können. Wo sie grundsätzlich jedes Denken des Ganzen und des Grundes negiert, bezieht sie sich in der verborgenen Form der Negation noch auf ein vorverstandenes, eben für grundlos gehaltenes Ganzes und dessen Grund. Dennoch lässt sich nicht bestreiten, dass das mit dem Mittel des ausgrenzenden Begriffs endgültig für bewältigt ausgegebene Ganze stets das Unwahre ist (Adorno) oder dass ein panoptischer Anspruch eine Täuschung darstellt (Lévinas). Macht Philosophie trotzdem ihrer Sache nach den Anfang mit dem Denken des Grundes des Seienden im Ganzen, so ist in ihrem Grunddenken (dem Seinsdenken) das Denken des Ursprungs dieses Anfangs, d.h. die ausdrücklich ontologische Auslegung des Grundes, von der theologischen sorgfältig zu unterscheiden. Jeder Kurzschluss ist hier zu vermeiden; er würde philosophische Theologie im Ansatz obsolet machen. Es lässt sich plausibel machen, dass die philosophische Zurückhaltung gegenüber philosophischer Theologie ernst zu nehmende Sachgründe hat, die untrennbar 1 Als Beispiel für die hier angesprochene fundamentale Auffassung des Philosophierens wäre zu nennen: M. Heidegger, GA, Bd. 29/30: Grundbegriffe der Metaphysik, §§ 1–15; ders., GA, Bd. 31: Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung in die Philosophie, § 2: »Philosophie als Hineinfragen in das Ganze. Das Aufs-Ganze-Gehen als das An-die-Wurzel-Gehen«, 17 ff.; ders., GA, Bd. 27: Einleitung in die Philosophie, § 1: »Menschsein heißt schon philosophieren«, 1–4. 2 Dazu siehe oben im dritten Exkurs: 3.2.1. 3 Es geht hier nicht um eine bloße Information über Philosophiegeschichtliches, sondern vielmehr um die kritische Prüfung von Wegen, die der Freilegung der Sache am besten gedient haben, und um das Vermeiden von Irrwegen. Nicht vergessen sei E. Husserls Mahnung (Philosophie als strenge Wissenschaft, in: Husserliana, Bd. 25, 3– 62, hier 61): »Nicht von den Philosophien, sondern von den Sachen und Problemen muß der Antrieb zur Forschung ausgehen. Philosophie ist aber ihrem Wesen nach Wissenschaft von den wahren Anfängen, von den Ursprüngen, von den izmata p1ntwn [Wurzeln des Ganzen]. Die Wissenschaft vom Radikalen muss auch in ihrem Verfahren radikal sein, und das in jeder Hinsicht.«
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mit dem Schicksal der Metaphysik und ihres Grunddenkens verbunden sind, die verschiedenste Abwandlungen des Baugefüges von Ontologie und philosophischer Theologie erfahren haben. Versteht man heute unter Metaphysik vielfach eine Art von Platonismus, tendenziell eine Zweiweltenlehre oder gar sinnlose Weltverdoppelung, so wird verständlich, dass Philosophie metaphysikfrei verbleiben will. Unter Anpassung an diese Tendenz wird eine metaphysikfreie philosophische Theologie gesucht. Hält man philosophische Theologie für eine sinnvolle Möglichkeit, dann ist die Frage, ob und wie metaphysisch oder metaphysikfrei sie sein sollte, von größter Bedeutung. Um welche Art von ,Metaphysik‘ handelt es sich und von welcher ,Metaphysik‘ sollte sie sich befreien und frei sein? Zur genaueren Ortsbestimmung philosophischer Theologie im Ganzen der Philosophie bedarf es hier einer Orientierung über das mit dem Titel ,Metaphysik‘ vieldeutig Gemeinte, die wenigstens skizzenhaft auf deren geschichtlich gewachsene Bedeutungen eingeht, auch um vor verwirrenden Äquivokationen zu bewahren (4.2). Weiter ist zu fragen: Inwiefern konnte philosophische Theologie Thema der Metaphysik sein? Zur Klärung dieser Frage sei auf die wichtigsten Metaphysikentwürfe der Verbindung von Ontologie und philosophischer Theologie eingegangen (4.3). Sollte sich herausstellen, dass radikales Grunddenken der Ontologie zu einer Theologie führt, die sich als angemessene thematische Explikation des ontologischen Grundes darstellt, erhebt sich die Frage, inwieweit Philosophie in ihrem Gang zum Grunde aus diesem Ursprung durchgehend bestimmt ist (4.4).
4.2 ,Metaphysik‘ als Denken des Ganzen hinsichtlich seines Grundes
Philosophiegeschichtlich gilt »Metaphysik« bekanntlich als Titel für Schriften des Aristoteles, von denen er selbst betont sagt, es gehe in ihnen um »Erste Philosophie« filosofa, prima philosophia).4 Erste Philosophie ist nicht eine numerisch (pr wh erste, auf die eine zweite, dritte usw. folgen könnte, sondern die von der Sache her gesehen anfängliche, die für alles weitere Philosophieren grundgebend (fundamental) ist, also auch nicht von einer anderen philosophischen Disziplin abgelöst oder überholt werden könnte. Philosophisches Denken nimmt eben mit ihr seinen Anfang. Das Vernehmen des aufgehenden Ganzen kommt in ihr auf sein Fundament. Metaphysik wäre demnach die philosophische Grundwissenschaft, welche die tragenden Gründe oder den Wurzelgrund des Ganzen freizulegen sucht. 4 Siehe auch oben 1. Kap., 1.2.2.5.
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Sachprobleme systematischer Ortsbestimmung philosophischer Theologie
Wie weit und nicht verbaut Aristoteles hier denkt, zeigt sich, wenn er der Philosophie frühgriechischer Denker zubilligt, »Erste Philosophie« zu sein; doch »sie schien« ihm, wie er sagt, per p1ntwn, d.h. »über alles [über das Ganze, die Gesamtheit, das All] nur [wie ein Kind] stammelnd zu reden«.5 Doch gerade sie (die Physisdenker) waren ihm Denker des Grundes bzw. der Gründe, der Ur-Sachen und der Wahrheit des Ganzen.6 ,Metaphysik‘ in der sehr weiten Bedeutung eines Grunddenkens anfänglicher Philosophie gab es also nach Aristoteles längst vor ihm und vor diesem Titel, und zwar insofern die Denker vor Aristoteles über Physis in ihrem Anfang und Ursprung nachgedacht haben. Es fragt sich aber, wieso die zwölf Bücher der Ersten Philosophie des Aristoteles, die an dieses Physisdenken (als Grunddenken) der Voraristoteliker anschließen, ,Metaphysik‘ genannt wurden.
4.2.1 ,Metaphysik‘ als Ausdruck bibliothekarischer Verlegenheit Der Titel ,Metaphysik‘ entstand im ersten vorchristlichen Jahrhundert, als Philosophie im Schulbetrieb bereits in Logik, Physik und Ethik als Sachbereiche aufgegliedert war. Eine geplante Aristoteles-Gesamtausgabe (Sammlung und Neuordnung) umfasste das Organon (die Logik), Physik, Ethik und Politik. Die Physik handelt vom Kosmos, vom Ganzen aller Seienden und von deren Grundbestimmungen, der Bewegung, dem In-Erscheinung-Treten und dem Werden und kann wie ein einziger Gottesbeweis gelesen werden, geht also darin schon über die Physis hinaus.7 Außerdem fand man Abhandlungen ohne Titel mit ähnlichem Inhalt wie jener der Physik. Worum es in ihnen, die Physik ergänzend, im Besonderen ging, kann in drei Themenbereiche aufgegliedert werden: (1) Die Erste Philosophie ist Wissenschaft vom Seienden als Seiendem (vom Seienden als seiend, n n, ens qua ens) und von den ihm zukommenden Eigentümlichkeiten.8 Das Seiende wird hier nicht nur als ,Dieses da‘, als das jeweils Einzelne, verstanden, sondern in seiner ganzen Mannigfaltigkeit, und zwar nicht abstrakt im ,Allgemeinen‘, sondern ,gemäß dem Ganzen‘, ,vollständig‘ (kat’ lo) – und was sollte dieses Ganze anderes sein als die Physis? Jedenfalls hat die Erste Philosophie die Gesamtheit aller Seienden als seiend im Blick. Das, woraufhin das Seiende im Ganzen angesprochen wird, ist das Seiende als Seiendes, insofern es ist, d.h. hinsichtlich seines 5 6 7 8
Vgl. Aristoteles, Met. I, A, c. 3, 983 a 24 – 993 a 10 b 17. A.a.O., 983 a 8. Siehe oben 1. Kap., 1.2.2.5. Met. IV, , c. 1, 1003 a 21–25; XI, K, c 3, 1060 b 31–32.
,Metaphysik‘ als Ort des Grunddenkens theologischer Philosophie
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Seins anwesend ist. Mit dem Seienden ist primär weder bloß Vorhandenes, für uns Feststellbares, noch von uns aus bloß Vorstellbares gemeint. Das Seiende wird verbal (partizipial) verstanden, eben als seiend, d.h. es ist jegliches Sichzeigende, von sich her Aufscheinende, Anwesende, das uns durch sein Anwesen in Anspruch nimmt. Erste Philosophie ist Wissenschaft im Sinne eines sachverständigen Sichauskennens hinsichtlich des Seienden in seinem Sein. (2) Von der Wissenschaft, die Aristoteles im ersten Buch darzulegen beabsichtigt, sagt er, sie sei die höchste Wissenschaft und Weisheit, da es in ihr um die ersten Ursachen und ersten Gründe gehe.9 Diese Bestimmung hängt mit der vorhergehenden zusammen: »Wir suchen (erfragen) die Gründe und Ursachen der Seienden, offenbar aber als seiender.«10 (3) Der letzte Themenbereich wird durch die Frage eröffnet, was das Seiende im Ganzen (den Kosmos bzw. die Physis) am vorzüglichsten durchwaltet, durchherrscht und bestimmt und was für alles Seiende den Grund gibt, denn »allen gilt, dass der Gott eine der Ursachen und in gewisser Weise Grund sei«.11 Dieser ist nichts Stoffabhängig-Bewegtes, sondern das aus seinem eigenen Bereich her Scheinende (cwristn) und unter den Anwesenden das der Verehrung Würdigste (t timitaton), das Göttliche bzw. der Gott, der in der «theo-logischen«, d.h. Gott sagenden, Wissenschaft zur Sprache kommt,12 die man ja erst später physische, natürliche Theologie genannt hat. Aristoteles hat den thematischen Gegenstand der Metaphysik nicht eindeutig bestimmt. Daher stellte sich die Frage, wie man die Abhandlungen, welche diese Themenbereiche enthalten, einordnen soll: Sie sind nicht Logik, kein Teil der Physikvorlesung und auch nicht Ethik. Andronikos von Rhodos (um 70 vC) soll diese Schriften »nach« (met1, post) den Schriften über die Physis eingeordnet haben, gewissermaßen als Anhang oder als Nachtrag zur Physik, da sie Exkurse und sogar Wörterbuchartiges im Blick auf Letztere enthalten. Die Abhandlungen beinhalten unterschiedliche Arbeitsunterlagen für den mündlichen Unterricht. So gesehen wäre der Titel ,Metaphysik‘ ein bibliothekarischer Ausdruck für eine Verlegenheit in der Sachbestimmung: die Bücher, die nach (meta) der Physik stehen.
9 10 11 12
Met. I, A, c. 1, 982 a 1–3; 982 b 9–10. Met. VI, E, c. 1, 1025 b 3– 4; vgl. IV, G, c. 1, 1003 a 26 –32; VI, E, c. 4, 1028 a 3– 4. atwn p sin Met. I, A, c. 1, 983 a 8 –9: te g!r ϑeß doke t wn enai ka rc tiß. Met. XI, K, c. 7, 1064 a 33– b 6.
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Sachprobleme systematischer Ortsbestimmung philosophischer Theologie
4.2.2 ,Metaphysik‘ als Sachtitel für eine platonistische Schuldisziplin Es gibt noch eine andere, viel wichtigere, weil geschichtsmächtigere Worterklärung für »Metaphysik«, die inhaltliche,13 wobei auch eine Umdeutung der bibliothekarischen Worterklärung in einen Sachtitel in Frage kommt. Nach Kant ist der Name »Metaphysik« nicht ohne guten Grund entstanden – weil er so genau zu ihr passt: »denn fsiß heißt die Natur, und zu den Begriffen der Natur gelangen wir nicht anders als durch die Erfahrung. Was auf die Naturwissenschaft folgt, ist eine Wissenschaft, die jenseits des Gebietes der Physik liegt: meta, trans und fsika ergibt Meta-Physik.«14 Metaphysik im Sinne dieses Sachtitels ist, tendenziell völlig unaristotelisch, das, was über alle Gebiete des sinnlich erfahrbaren Seienden und alle diesbezüglichen Fragestellungen hinaus liegt, was jenseits des Physischen ist. Physisch ist dann, was sinnlicher Erfahrung zugänglich ist: der Bezirk der Sinnenwelt (mundus sensibilis); metaphysisch ist das Jenseits der sinnlichen Erfahrung, die Erkenntnis des Über- oder Unsinnlichen (mundus intelligibilis), d.h. erfahrungsfreie Vernunfterkenntnis aus bloßen Begriffen oder Ideen (Idealismus), der Bereich des (reinen, absoluten) Geistigen im Gegensatz zur Materie. Das bedeutet in der platonistischen Tradition Ausstieg aus der Sinnenwelt, in die wir gestellt sind, hinaus zur Welt der Ideen, zur Schau der geistigen Wesenheiten als dem eigentlichen Sein alles Seienden, unter denen Gott als das Höchstdenkbare gedacht wird. Es ist also ein Denken, das diese unsere Erfahrungs- und Lebenswelt zur uneigentlichen herabsetzt oder, kritisch gewendet, unsere Lebenswelt verdoppelt und dadurch eine illusionäre Überwelt bildet. Damit muss die andere Möglichkeit einer ,metaphysischen‘ Tradition versiegen: ein Denken, das auf das ungeteilte Ganze unseres Daseins miteinander geht und sich darin auf den Grund oder Grundcharakter, der alle Seienden phä13 Greifbar schon beim Peripatetiker Alexander von Aphrodisias, der 189 –211 v C in Athen lehrte (vgl. HWP, Bd. 5, Sp. 1187, 1202 f.) und Aristoteles in Richtung Substanzmetaphysik einengend ausgelegt hat. Die inhaltliche Deutung der anfänglichen Philosophie als Meta-Physik verkennt die Physik des Aristoteles. Auch die »theologische Philosophie« des Aristoteles ist physische Theologie, Theologie der Physis und in diesem Sinne theologia naturalis (natura hier noch nicht als Schöpfung und im Unterschied zur »Übernatur« ausgelegt). Siehe oben 1. Kap., 1.2.2.5. Noch im Beginn der mittelalterlichen Rezeption galt der aristotelische Text der Metaphysik als Teil der »philosophia naturalis« im Unterschied zur Logik und Ethik, vgl. A. Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik?, 4. 14 I. Kant, Gesammelte Schriften, Bd. 28: Vorlesungen, Bd. 5/1: M. Heinze, Vorlesungen Kants über Metaphysik aus drei Semestern, 174: »Was den Namen der Metaphysik anbetrifft, so ist nicht zu glauben, dass derselbe von ohngefähr entstanden, weil er so genau mit der Wissenschaft selbst paßt: denn dass fsiß die Natur heißt, wir aber zu den Begriffen der Natur nicht anders als durch die Erfahrung gelangen können, so heißt diejenige Wissenschaft, so auf sie folgt, Metaphysik (von met1, trans und fusik1). Es ist eine Wissenschaft, die gleichsam außer dem Gebiete der Physik, jenseits derselben liegt.«
,Metaphysik‘ als Ort des Grunddenkens theologischer Philosophie
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nomenal zugänglich und erfahrbar durchragt, besinnt. Das ontologische und erst recht das dieses vertiefende theologische Verständnis könnte ja aus dem praktischen Selbstverständnis des Menschen im Austrag der Offenständigkeit seiner Welt (des Seienden im Ganzen) mit Anderen geschöpft werden.15 Über der inhaltlichen Deutung der Metaphysik wurde aus ihr 1. eine Schuldisziplin (ein Unterrichtsfach), die sich 2. zumeist im Sinne eines Platonismus verstanden hat. Metaphysik konnte bzw. kann daher schlagwortartig als ,Platonismus‘ gelten. In Verbindung mit dem christlichen Gottes- und Schöpfungsverständnis hat platonisierende Metaphysik mit ihrem Ineinander zweier Welten weitgehend die mittelalterliche und noch viel mehr die neuzeitliche Metaphysik bestimmt. Andere, originäre Verständnisweisen der Metaphysik wurden dadurch verdeckt. Neuere und neueste historisch-kritische Mittelalterforschung weist auf die tiefgehende Krise und neue Bahnungen philosophischen Denkens im lateinischen Westen innerhalb des Zeitabschnitts vom 12. bis zum 14. Jahrhundert hin, die sich »ex post als ,Ursprünge‘ der Moderne […] erweisen«.16 Mit dem neuerlichen Bekanntwerden und der Rezeption griechischer Werke der Philosophie, insbesondere der aristotelischen samt ihren arabischen und jüdischen Kommentatoren von Rang, erwacht die Frage nach der eigentlichen Thematik und dem Sachbereich der Metaphysik (dem subiectum metaphysicae) erneut, von vielen Denkern systematisch dargelegt und voneinander abweichend beantwortet. Diese Diskussion ist für uns von größter Bedeutung, nicht nur wegen ihres philosophischen Niveaus (wenn sie zum Beispiel die Auslegungsbahnen der Kommentierung des Aristoteles ausdrücklich reflektiert), sondern weil sich durch sie auch die maßgebenden Grundkonzeptionen neuzeitlicher Metaphysik sowie Einschätzungen der Metaphysik insgesamt herausgebildet haben, mit denen eine Auseinandersetzung unumgänglich ist.
4.3 Zur Typengeschichte der Ortung philosophischer Theologie innerhalb der Metaphysik vom Mittelalter bis zur Neuzeit
Beachtet man den engen Zusammenhang der drei Hauptthemen aristotelischer Metaphysik (Seiendes im Ganzen – Gründe – Göttliches), dann lässt sich der Anreiz ver15 Es scheint, dass sich Aristoteles den Gott seiner Metaphysik nicht als weltjenseitigen Beweger vorgestellt, sondern als das in ethischer Praxis zunächst erfahrbare Worumwillen alles guten Handelns sowie aller zwischenmenschlichen Liebe und Freundschaft verstanden hat. Siehe dazu oben 1. Kap., 1.2.2.5. 16 L. Honnefelder, Woher kommen wir? Ursprünge der Moderne im Denken des Mittelalters, 15.
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stehen, sie zu einem eigenständigen und einheitlichen Unterrichtsfach auszuarbeiten. Problemgeschichtlich kam es hierbei zu einer fragwürdigen Reduktion auf eine Zweipoligkeit zwischen Ontologie und metaphysischer Theologie, die sich Heidegger wie folgt aufgedrängt hat: »Diese doppelte Charakteristik der prth filosofa enthält weder zwei grundverschiedene, voneinander unabhängige Gedankengänge, noch darf die eine zugunsten der anderen abgeschwächt bzw. ausgemerzt werden, noch läßt sich gar die scheinbare Zwiespältigkeit vorschnell zu einer Einheit versöhnen.«17 Unter dem Gesichtspunkt der Doppel-Charakteristik, Ontologik und Theologik, gab es im Mittelalter eine erstaunliche Vielfalt gründlich diskutierter (und nicht bloß konstatierender) Auffassungen über das sogenannte »Subjekt« der Metaphysik. Wir würden heute eher vom Gegenstand bzw. vom Gegenstands- oder Sachbereich der Metaphysik reden, doch war damals mit subiectum (pokemenon) das unserem Erkennen Voraus-, Vor- und Zugrundeliegende gemeint. Von den arabischen Quellen ausgehend hat Albert Zimmermann die ganz erstaunlich voneinander abweichenden und zugleich variantenreichen Lösungsrichtungen der Frage nach dem Gegenstand der Metaphysik für den Zeitraum des 13. bis 14. Jahrhunderts gründlich erforscht.18 Diese Lösungsansätze lassen sich als Paradigmen bzw. Typen systematischer Ortsangaben philosophischer Theologie innerhalb der Philosophie und näherhin der Metaphysik verstehen. Die mittelalterlichen Kommentatoren der aristotelischen Metaphysik teilen nach Zimmermann »die Ansicht, die Metaphysik sei diejenige Wissenschaft, die das Seiende als solches oder das Seiende im allgemeinen zum Subjekt hat. […] Metaphysik
17 M. Heidegger, GA, Bd. 3: Kant und das Problem der Metaphysik, 7 f. Heidegger spricht in der Einleitung zu »Was ist Metaphysik?« (GA, Bd. 9: Wegmarken, 379) terminologisch noch ganz unspezifisch vom »onto-theologischen Wesen der eigentlichen Philosophie«, der Ersten Philosophie des Aristoteles, anders in »Identität und Differenz« (51): »Nun ist aber die abendländische Metaphysik seit ihrem Beginn bei den Griechen […] zumal Ontologie und Theologie«, und zwar ist sie »ihrem Wesen nach zugleich Ontologie im engeren Sinne und Theologie«. »Offenkundig handelt es sich nicht erst um einen Zusammenschluß zweier für sich bestehender Disziplinen der Metaphysik, sondern um die Einheit dessen, was in der Ontologik und Theologik befragt und gedacht wird: Das Seiende als solches im Allgemeinen und Ersten in Einem mit dem Seienden als solchem im Höchsten und Letzten.« Das Seiende (im Grunde seinsvergessen) als begrifflich Allgemeines und zum höchsten Ideal genommen als eigentliches Seiendes entspricht freilich einer bestimmten Auslegungstradition. Vgl. hierzu auch das für Heideggers Metaphysikdeutung maßgebende Ontologielehrbuch von C. Braig, Vom Sein. Abriß der Ontologie (1896), das Heidegger als Gymnasiast intensiv studiert hat. Nach Braig bildet den »Abschluß« der Ontologie das Grundthema der metaphysischen Theologie, deren Idee und Ideal des Vollkommenen aus der Welt der endlichen Vollkommenheit erwächst (156 ff.). Zur Fragwürdigkeit der aristotelischen Ersten Philosophie als Ontologie und Theologie: M. Heidegger, GA, Bd. 19: Platon: Sophistes, 221–224; ders., GA, Bd. 24: Die Grundprobleme der Phänomenologie, 38. 18 A. Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik?.
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ist also – in der heute geläufigen Terminologie ausgedrückt – Ontologie.«19 Die zentrale Frage ist jedoch, welchen Bereich das Seiende als Subjekt der Metaphysik umfasst und welches Verhältnis Gott zu diesem Subjekt zugeschrieben wird. Hier gibt es im Wesentlichen zwei Antworten, die als Typenbegriffe zu verstehen sind, denen wesenhaft eine Unschärfe eignet: 1. Metaphysik ist (nur) »insofern Theologie der Philosophen, als sie Gott als die Ursache ihres Subjekts, des Seienden als solchem und im allgemeinen, erschließen kann. Gott wird also außerhalb des Subjekts der Metaphysik gedacht.«20 Dieses Metaphysikverständnis, dessen Wurzeln sich bei Avicenna (Abû ‘Alî Ibn Sînâ) finden, ist somit ein ontologisches. 2. Nach der am häufigsten angenommenen Lösung »gehört Gott zum Betrachtungsbereich dieser Wissenschaft, weil er als das höchste Seiende im Seienden im allgemeinen enthalten ist und darum unter ihr Subjekt fällt«. Dieses Metaphysikverständnis ist also ein onto-theologisches bzw. theologisches. Die Metaphysik droht in theologische Philosophie aufzugehen. Richtungweisend soll hier Averroes (Abû l-Walîd Ibn Ruschd) gewesen sein, der jedoch die Beweise für den ersten Beweger der Physik entnehmen wollte. Von den zahlreichen Vertretern der beiden für unser Vorhaben (einer Ortsbestimmung philosophischer Theologie als thematischer Gegenstand innerhalb der Philosophie) wichtigen Antworttypen seien einige in aller Kürze, ohne auf ihre Ontologien näher einzugehen, vorgestellt: Zunächst gehe ich auf den erstgenannten Typus ein, wonach Gott als Grund des Subjekts der Metaphysik in Frage kommt (4.3.1)21, und danach auf die zweite, wirkungsgeschichtlich bedeutsamste Antwort: In ihr ist Gott entweder eines von mehreren Subjekten (4.3.2)22 oder im Subjekt der Metaphysik mitenthalten (4.3.3)23.
19 A.a.O., 415. 20 A.a.O., 418.
21 A. Zimmermann, a.a.O., untersucht hier neben anonymen Kommentatoren der Metaphysik des Aristoteles die Lösungsvorschläge von Albert dem Großen, Richard Rufus von Cornwall, Thomas von Aquin, Franziskus von Marcia und Richard von Clive, die annehmen, dass Gott Ursache des Subjekts der Metaphysik ist. 22 Hier werden die Auffassungen von Roger Bacon, Gottfried von Aspall, Aegidius von Rom, Petrus Aureoli, Wilhelm von Ockham, Johannes Buridan u.a. untersucht, die annehmen, dass Gott eines von mehreren Subjekten der Metaphysik ist. 23 Von den Auffassungen, die Gott als Teil des Subjekts der Metaphysik ansehen, werden neben anonymen Kommentatoren untersucht: Augustinus Triumphus von Ancona, Petrus von Alvernia, Johannes Quidort von Paris, Alexander von Alexandrien, Johannes Duns Scotus, Antonius Andreas u.a.
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Sachprobleme systematischer Ortsbestimmung philosophischer Theologie
4.3.1 Gott als Grund des Subjekts der Metaphysik
Thomas von Aquin stimmt mit vielen Kommentatoren aristotelischer Metaphysik im 13. und 14. Jahrhundert in der Auffassung überein, dass das Subjekt der Metaphysik das Seiende (ens universale, ens commune) ist.24 Er versteht darunter aber nicht das (als Materialobjekt vorliegende) Seiende in seiner Gesamtheit, alle Seienden, und schon gar nicht das abstrakte Wesen des konkreten Seienden, die Seiendheit, sondern das Seiende, insoweit es seiend ist, d.h. das Seiende in seinem Sein (esse). Dem Seienden kommt Sein jeweils ereignishaft zu und es nimmt an dessen grenzenlosem Reichtum vielfältig teil. In Abhebung von der Physik, die es nur mit materiellem Seienden zu tun hat, wäre demnach die überkommene Metaphysik die wissenschaftliche Ausarbeitung des uns vorgängig immer schon mitgegebenen Seinsverständnisses, sei es des Materiellen oder Immateriellen. Schon dieser Ansatz, der mir ontologisch richtungweisend erscheint, lässt nicht zu, dass Gott im eigentlichen Sinn als ein Seiendes vorgestellt wird, ist es ja doch angemessener zu sagen, »dass Gott über allen Seienden als [dass er] ein Seiendes sei«.25 Da nach Thomas, der hierin seinen Lehrer Albert den Großen weiterführt, Gott keines der Seienden ist, kann er weder Subjekt noch Teilsubjekt der Metaphysik sein. Dann aber stellt sich die Frage, wie Gott in die Metaphysik kommt. In der Diskussion um ihr Subjekt berücksichtigt Thomas (wie auch andere Kommentatoren) im Anschluss an Aristoteles wissenschaftstheoretisch bedeutsame Sachzusammenhänge, die als Vorfragen zur Subjektsbestimmung geklärt sein müssen, nämlich erstens dass das eigentliche Subjekt unseres Erkennens, d.h. das der Wissenschaft und ihrem Beweisverfahren zugrunde liegende, ihr zuvor zugänglich und bekannt sein muss. Daher kann eine Wissenschaft nicht ihr eigenes Subjekt beweisen, sie muss dieses als vorgegeben hin- und annehmen. Auch sollte zweitens das Subjekt einer Wissenschaft nur ein einziger Sachbereich sein, der in seinen Eigentümlichkeiten sowie hinsichtlich seiner gemeinsamen Prinzipien zu erforschen ist. Der Bildung einer einheitlich zusammenhängenden Wissenschaft darf daher nur ein Subjekt bzw. ein Bereich (genus) zugrunde liegen, von dem her sie zu verstehen ist. Im Rahmen der Subjektsbestimmung der Wissenschaft ist drittens von besonderer Bedeutung, dass Wissenschaft als eine Haltung, als ein Sich-Halten und Gehaben (habitus)26 verstanden wird, d.h. als eine Weise, sich in etwas und zu etwas ,ent24 Zum Folgenden vgl. vor allem A. Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik?, 7 f., 11 f., 200 –223. 25 Thomas von Aquin, De nat. gen., c. 1: Licet verius sit, Deum esse super omnes ens quam esse ens. 26 Zum Habitus-Begriff bei Thomas von Aquin vgl. A. Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik?, 201–207; P. Nickl, Ordnung der Gefühle. Studien zum Begriff des habitus, 36–53. Die HabitusPhilosophie des Thomas geht auf Aristoteles zurück: A. Zimmermann, a.a.O., 127–130; M.
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schlossen‘ verhalten zu können, das wir gegenwärtig da haben und aufzuschließen vermögen. Inwiefern? Unter Habitus versteht Thomas in Anschluss an Aristoteles (allgemein kategorial bestimmt) eine Qualität, eine Weise des Wie-Bestimmtseins eines Vermögens (potentia), durch das jemand selbst zu etwas fähig ist, und zwar dazu, etwas gut oder schlecht zu tun. Tugenden oder Laster sind solche Haltungen. Durch sie wird ein Mensch gut oder schlecht. Sie sind also nicht nur Handlungserleichterungen, wie man später meinte, vielmehr wird die Natur seines Trägers vervollkommnet (oder fehlerhaft). Der Habitus ist also nicht nur das Vermögen, wodurch wir etwas können, d.h. jeweils imstande sind, etwas Bestimmtes zu tun, sondern darüber hinaus ist er eine Haltung, die wir zu unseren Vermögen (in und bei ihnen) einnehmen, eine Weise des Verfügenkönnens über die uns gegebenen Möglichkeiten zu sein, kurz: ein Sich-(ver)halten-Können des Daseins zu sich selbst aus der Entsprechung zu dem, was ist. Unsere Haltung kann uns geben, was wir zu tun vermögen: unsere Möglichkeiten ausbilden und so vervollkommnen, aber sie kann Nickl, a.a.O., 19–36. M. Heidegger erschließt in GA, Bd. 18: Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, 172–191, die xiß (hexis; habitus) als ganz fundamentale Seinsbestimmung des eigentlichen Seins bezogen auf den Menschen, der emotional außer Fassung gebracht wird, in verschiedene Lagen gerät, gefährliche Situationen durchmacht, sich selbst aber fasst und wieder seine Fassung findet. Exiß ist ein Haben im Vollzug (enérgeia) des Gegenwärtigseins, und zwar ein »Haben als Haben des Habenden und Gehabten«, »die Bestimmung der Eigentlichkeit des Daseins in einem Moment des Gefaßtseins für etwas«, »eine Seinsmöglichkeit, die in sich selbst auf eine andere Möglichkeit bezogen ist, auf die Möglichkeit meines Seins, dass innerhalb meines Seins etwas über mich kommt, das mich aus der Fassung bringt« (176 f.). In der Sorge um sich selbst ist Hexis ein Sichstellen (Gestelltsein) zum Gehabten, und zwar orientiert am jeweiligen Augenblick (an der Situation) und im Ergreifen der jeweiligen Lage. Das Gefasstsein ist auszubilden durch Offensein für die Situation in Umsicht, durch wirkliches Entschlossensein zu handeln, und hält so die Mitte, auf dass die Sache (im Blick auf die Stimmungen und Missstimmungen) uns »nicht zu viel und nicht zu wenig tut« (186). Das ist dann Tugend (2ret: ein »Gefaßtsein im Sichentschließenkönnen« (xiß proairetik, vgl. EN, B 6, 1106 b 36 ff.). Diese Hexis bringt uns durch ein Öfter-Durchmachen in eine bestimmte Seinsmöglichkeit. Wir haben sie daher nicht von Natur aus. Wenn wir sie auch durch Eingewöhnen einüben und erwerben, ist sie keine Fertigkeit, die wir uns aneignen, um die Überlegung zu entlasten, nicht Betrieb, Routine, also keine starre Gewohnheit (oder moderner ausgedrückt: kein konditioniertes Verhalten). Hexis »ist ein Verfügen über die Echtheit des Verhaltens zu andren und zu sich selbst«, ein wahrhaftiges und unverstelltes ,Da-sein-können‘, das sich so gibt, spricht, denkt und handelt, wie jemand ist – im Gegensatz zum Sichverbergen oder Sichverstellen (264 ff.). Aristoteles bezieht die Hexis nicht nur auf das Handeln und Sein des Handelnden, sondern auch auf das Wissen, die Sachkenntnis (epistéme). Diese ist eine bestimmte Hexis, »ein Gestelltsein zu den daseienden Sachen als solchen«, in der Weise, dass ein konkretes Wissen inhaltlich, in einem bestimmten Ausmaß dauerhaft ausgebildet wird (190). Er unterscheidet zwei Arten der hexis theorias, der theoretischen Haltung: erstens die Sachkenntnis über ein Gebiet (epistéme) und – noch wichtiger – zweitens die Sicherheit im Wie der Behandlungsart (paideía, Ausbildung), das Verfügen über das Reden aus dem rechten Grundverhältnis zur Sache, d.h. aus einem rechten Offensein für den der Sache, ihrem Gehalt und Gebiet entsprechenden methodischen Umgang (209 f.).
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sie auch nehmen. Im Tun des Guten vervollkommnen wir uns, indem wir unsere Möglichkeiten ausbilden und dadurch zum Äußersten dessen gelangen, was wir sein können (ultimum potentiae). Nun können wir auch hinsichtlich des Erkennens einen Habitus ausbilden: Wissenschaft wird als ein Habitus bestimmt, der sich auf das Vermögen des Verstandes (intellectus possibilis) bezieht, da in ihr Einsicht (Weisheit) durch Beweisverfahren hervorgebracht wird. Sie bezieht sich nur auf das, was vom Intellekt natürlicherweise erkannt werden kann. Unser jeweils erkennendes Sichverhalten (habitus) zum vorgegebenen Subjekt einer Wissenschaft entwirft sich hierbei seinen Gegenstand, d.h. den Gesichtskreis (das obiectum formale) der Wissenschaft, innerhalb dessen das Erblickte (obiectum materiale) verstanden werden soll. Hierbei korrespondiert eine Weise des Sichverhaltens einem einzigen Gesamtsubjekt der Wissenschaft, wodurch der Unterschied zu einer anderen Wissenschaft bestimmbar wird. Der wissenschaftliche Habitus ist in einem größeren Zusammenhang zu sehen: Es geht um das, was wir jeweils selbst als Wissende sein können. Thomas versteht den Menschen in der Weite seines ganzen Wesens und Seins aus der Einzigartigkeit seines Sichverhaltens und Bezugs zum Seienden im Ganzen;27 ja der Mensch ist sogar seinem Sein nach in einer bestimmten Weise (quodammodo) selbst dieses Ganze (totum ens), und zwar insofern er sowohl seiner Kapazität nach als auch dem Vollzug nach für dieses Ganze offen ist und sich für es offenhalten kann: Er erkennt das Wahre und lässt sich frei in seinem liebenden Streben von dem, worum es im Daseinsganzen geht, vom Guten, bewegen. Dieser Bezug zum Daseinsganzen ist jedoch kein bloß übersinnlich geistiger, nur intellektueller und willentlicher, sondern er ist nur möglich und vollziehbar durch die sinnliche und leibhaftige Daseinsweise. Die Wahrheit des Ganzen geht einem also nicht ohne das sinnenhafte Gewahren und Wahrnehmen von Seienden auf, die partikulär und partizipativ dem Ganzen angehören und es anwesend werden lassen und darstellen. Aber auch das Streben vervollkommnet sich in den uns leibhaftig-sinnlich bewegenden Leidenschaften der Seele (animae passiones), die wie Zorn oder mitleidiges Erbarmen auch einander (das Sein miteinander) betreffen können. Diese Leidenschaften sind der Stoff (die materia circa quam), aus dem die Tugenden sind. Es besteht also nicht die Aufgabe, die sinnlichen Emotionskräfte zurückzudrängen oder abzutöten, 27 Der wesenhafte Seinsbezug des Menschen wird von Thomas von Aquin öfters angesprochen; beispielsweise hebt er in der 13. Vorlesung des dritten Teils seines Kommentarwerkes zu De anima (nr. 790) hervor: Anima data est homini […] ut sit homo quodammodo totum ens, inquantum secundum animam est quodammodo omnia, quod eius anima est receptiva omnium formarum. »Dem Menschen ist die Seele gegeben […], damit der Mensch gewissermaßen das Ganze des Seienden sei, insofern die Seele gewissermaßen alles ist, weil sie für alle Formen [Wesensgestalten] aufnahmefähig ist.« Vgl. auch a.a.O., nr. 787–789, 284 f., sowie De veritate, q. 1, a. 1, u.ö.
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sondern vielmehr sie zu integrieren. Wird Tugend als ein präsentes Sichhalten im Guten (habitus bonus) verstanden, so eignet ihr wesenhaft eine Leibhaftigkeit. Im Blick auf die angesprochene Sachlage impliziert das Gesagte, dass wir uns zum Dasein im Ganzen (zur Um- und Mitwelt) immer nur in unserer und durch unsere leibhaftig-konkrete Daseinsweise verhalten, und zwar durch ein »System zusammenwirkender Habitusformen«, sodass phänomenologisch das Phänomen Habitus, ausgehend von leibhaftig-gesammelten Haltungen sowie der emotionalen Bewegtheit, zu erkunden ist.28 Diese Haltungen sind selbst Weisen unseres lokalen und situativen Weltaufenthaltes, unseres Sichverhaltens zum Seienden im Ganzen, dem Gegenstandsbereich der ,Metaphysik‘. Dieses leibhaftig und lebensweltlich wahrgenommene Seiende ist aufgrund seines unausschöpfbaren Seins dasjenige, mit dem wir nach Thomas anfänglich schon Bekanntschaft gemacht haben und ein Vorverständnis für alles andere mitbringen, sodass es deshalb auch jeder nachfolgenden Wissenschaft zugrunde liegt und vorgegeben ist. Metaphysik erwächst also nach Thomas aus einem einheitlichen Subjekt und gesamtmenschlichen Sich(ver)halten, zumal der Mensch und nicht ein Denken denkt.29 Nur so genügt sie einem wissenschaftlichen Anspruch. Zu fragen ist nun, wieweit eine solche Metaphysik auch philosophische Theologie (scientia divina) sein kann. Gehört sie nicht zur Vollendung dieser Wissenschaft? Gewiss gehört dazu, dass die Wissenschaft über sich hinaus auch die Ursachen und Prinzipien ihres Sachbereiches (subiectum, genus) erforscht, aber diese können nicht ihr eigentliches Subjekt bilden. Auf diese Weise kommen die »göttlichen Dinge« (res divinae) thematisch (als res consideratae) in den Blick, und zwar aufgrund des Seins, das den Seienden jeweils zuteilgegeben wird. Als anfängliche ,Ursache‘ (causa prima), der es eigen ist, Seiendes zu sein freizugeben, ist Gott oder das Göttliche ganz anders als alle (wirkenden) Ursachen anwesend; er ist »über allen Ursachen«, d.h. im eigentlichen Sinn gar keine Ursache. Er ist Urquell und Anfang des Seins (essendi principium) und wird von da her nur mit ausdrücklichem Vorbehalt causa genannt 30 und 28 Zum Begriff des Habitus und zu den zusammenwirkenden Habitusformen vgl. K. Baier (2008), Spiritualität und religiöse Identität, 196 ff., der die situative Weltlichkeit des Habitus hervorhebt: »Ein Habitus ist als Vermögen des leiblichen Einwohnens und Gestaltens einer Situation immer korrelativ: eine bestimmte Weise leibhaftiger Situationsauffassung verbunden mit der ihr entsprechenden Haltung des Habitus-Trägers. […] Über den Habitus wird die Situation im Praxisfeld durch eine bestimmte Form leiblich affektiven In-ihr-Seins präreflexiv offen gehalten. Er ist eine ganzheitliche Form des Verständnisses, nicht nur eine Denkweise, sondern auch ein System des Fühlens und der Gestimmtheit, das sich in Mimik, Körperhaltung und Gebärden manifestiert.« (196) 29 Thomas von Aquin beruft sich immer wieder auf unsere unmittelbare Erfahrung, dass jeweils dieser Mensch (ich, du, wir) es ist, der denkt; vgl. u.a. Sth I, q. 76, a. 1; De unitate intellectus, c. 3, nr. 216 f., 257 f. 30 Thomas von Aquin, SG l. II, c. 15, nr. 925: Omnibus autem commune est e ss e . Oportet igitur quod supra omnes causas sit aliqua causa sit dare esse. Prima autem causa Deus est; vgl. Sth I., q. 65, a. 3.
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als die nur analog zu verstehende causa universalis des Seins von Seienden erschlossen, also eben nur als Prinzip oder Urgrund, aber nicht seiner eigenen Natur nach. Nun gibt es ja auch eine andere, zweite »Theologie« oder »göttliche Wissenschaft«, die in der Heiligen Schrift überliefert ist. Diese betrachtet die göttliche Natur, wie sie sich von sich aus offenbart. Aber in der Metaphysik, deren Erkenntnisquelle ja nicht die christliche Offenbarung als solche sein kann, kommt Gott nicht als von sich her unmittelbar und direkt offenbares Subjekt vor, wie es vorgängig zu einer wissenschaftlichen Ausarbeitung bekannt sein könnte, sondern das Göttliche ist dem menschlichen Erkennen unumgänglich nur durch das Sein des Seienden und nicht an ihm vorbei zugänglich. Nur die Fragwürdigkeit dessen, was ist, und des Beteiligtwerdens des Seienden am Sein (für uns missverständlich Gottes »Wirkungen« genannt) hat die Philosophen zur philosophischen Theologie geführt, die der theologischen Theologie christlicher Offenbarung vorausgeht. Zusammenfassend lässt sich nun sagen, wie Thomas die drei oben genannten Themen aristotelischer Metaphysik wissenschaftlich zu einer Einheit versammelt sieht, die er in der Vorrede zu seinem Metaphysik-Kommentar31 verdeutlicht: Subjekt der Metaphysik ist das Seiende als Seiendes; jede Wissenschaft sucht aber Gründe; letzter Grund von allem ist Gott; die drei Namen metaphysica (vom Seienden als Seiendem), prima philosophia (von den Ursachen) und theologia (scientia divina: Wissenschaft vom Göttlichen) bezeichnen so ein und dieselbe Wissenschaft. Wenn Gott im Subjekt der Metaphysik nicht enthalten ist, ergibt sich nach dem Gesagten nicht, dass es nach Thomas eine philosophische Theologie als einheitliche, selbstständige und am Ende ontologiefreie Wissenschaft geben könnte, sondern philosophische Theologie gibt es nur aufgrund weiterer radikaler Aufschließung des ontologischen Grundes, wodurch allerdings die Metaphysik erst vollendet wird. Gott ist also weder Subjekt oder Teilsubjekt noch eines von mehreren Subjekten der Metaphysik. Von ihrem Subjekt her lässt sich Metaphysik nicht in Ontologie und natürliche Theologie aufspalten. Metaphysik verfährt auch nicht zirkulär, indem sie vom Seienden als einem Geschöpf (ens creatum) ausgeht, was die Annahme eines Schöpfers voraussetzen würde. Sie geht überhaupt nicht von Gott aus, sondern radikal vom Seienden, und führt zu einer Gotteserkenntnis, die in ein eigentümliches wissendes Nichtwissen um sein Wesen mündet.
31 Thomas von Aquin, In XII Metaph., prooemium.
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4.3.2 Gott als eines unter mehreren Subjekten der Metaphysik
Wie spektakulär die Grundlösung ist, die vor allem Thomas von Aquin vom Subjekt der Metaphysik ausgearbeitet hat, wird deutlich, wenn man beispielsweise die Auffassung des heute in den Blickpunkt der Forschung gerückten Dietrich von Freiberg danebenstellt, die sich nicht weit weg vom Strom christlich-platonistischer Metaphysikdeutung bewegt: »Die Metaphysik betrachtet in erster Linie und hauptsächlich das göttliche Seiende, das aufgrund seiner Wesenheit göttlich ist, nachfolgend aber das andere [Seiende].«32 Hier werden einfach Haupt- und Nebenthema aufgrund des Rangunterschiedes ihrer Betrachtungsgegenstände auf einer Ebene zusammengestellt, wobei Dietrich zwischen der Ordnung der naturhaften göttlichen Vorsehung als dem Subjekt der Philosophie und den göttlichen Willensanordnungen der Vorsehung in der Welt als dem Subjekt der Theologie eine Verbindung sieht. Ähnlich, jedoch mit aller systematischen Gründlichkeit, verfährt Aegidius von Rom. Dieser »getreueste Schüler« des Thomas von Aquin hat, wie Jean-François Courtine feststellt, offenkundig die »grundlegende Inspiration« der Ontologie seines Lehrers verkannt33 und ihm gegenüber »eine völlig neue Gestalt der Ontologie entworfen«, und zwar durch die Weise, »wie er Gott als deren Subjekt in die Metaphysik einbezogen« hat:34 Das eigentliche Subjekt der Metaphysik (principaliter in se et primo) ist das Seiende, insoweit es Seiendes ist. Durch diese Betrachtungsweise ist wiederum die Einheit dieser Wissenschaft gewährleistet. Doch sie umfasst Gott und das Geschaffene. Obgleich die beiden voneinander so entfernt sind, ist ihnen eines gemein: dass sie Seiendes sind. Gott fällt also unter das Seiende, welches das primäre Subjekt der Metaphysik ist. Aber dass Gott als bloßes Seiendes in das Subjekt der Metaphysik einbezogen wird und man einwenden könnte, er entgehe dadurch nicht dem Sinngehalt von Seienden (quod deus non effugiat rationem entis), ist kein Nachteil für ihn, im Gegenteil, da sich bei ihm der Sinn von ‚Seiendes‘ in höchster Ausprägung findet (potissime reservatur ratio entis). Zwar nicht an sich, aber infolge dessen ist Gott das hauptsächliche Subjekt (subiectum principale) der Metaphysik. Die Annahme des Seienden als Hauptsubjekt der Metaphysik hat also zur 32 Dietrich von Freiberg, Fragmentum de subiecto theologiae, 3 (9), in: Opera Omnia, Bd. 3, 281 f.: metaphysica considerat enim primo et principaliter de ente divino, quod est divinum per essentiam, consequenter autem de aliis. Näheres dazu bei K. Flasch, Dietrich von Freiberg, 502–514.
33 Vgl. zur Geschichte der »Ersten Philosophie« bis in die Gegenwart J.-F. Courtine, Suarez et le système de la métaphysique, 136: »en méconnaissant totalement l’inspiration fondamentale de l’ontologie thomiste.« 34 A.a.O., 129: »C‘est donc bien une figure entièrement nouvelle de l’ontothéologique […] qui […] intègre Dieu à la métaphysique à titre de sujet.« Vgl. dazu zustimmend A. Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik?, 12 f., und dessen eingehende Textinterpretation: 168 –185.
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Folge, dass damit ein zweites Hauptsubjekt in den Vordergrund der Betrachtung rückt. Nach Zimmermann versteht Aegidius Romanus die Metaphysik »als Ontologie, die ihrem Wesen nach [natürliche] Theologie ist«,35 und er weist darauf hin, dass Courtine dem Aegidius bescheinigt, »den Konflikt, der sich unmittelbar aus der Dualität der Subjekte (ens secundum ens – Deus) ergibt, nicht befriedigend« auszutragen.36 Die sich hier bereits anbahnende neuzeitliche Trennung von »Ontologie stricto sensu« und »rationaler Theologie« hat erst Hegel in grandioser Weise kritisch zu überwinden versucht, indem er Gott spekulativ als das wahre, d.h. sich selbst denkende Subjekt der Metaphysik konzipierte, das sich selbst im allgemeinsten Sein begrifflich zum Gegenstand macht und diese Selbstentzweiung in sich dialektisch versöhnt. Eine Lösung, welche die keineswegs nur scheinbare Zwiespältigkeit einer Metaphysik mit zwei konkurrierenden Primärsubjekten, Ontologik und Theologik, völlig unterläuft, sei wegen ihrer Geschichtsmächtigkeit noch erwähnt: die Wilhelm von Ockhams.37 Auch er nimmt dem Wortlaut nach als Subjekt der Metaphysik das Seiende im Allgemeinen und Gott als Subjekt natürlicher Theologie an. Aber er entgeht der Problematik konkurrierender Subjekte durch seine wissenschaftstheoretisch (und im Grunde auch anthropologisch) völlig andersartige Auffassung vom wissenschaftlichen Sichverhalten, die er schon bei Johannes Duns Scotus andiskutiert vorfand:38 Ein 35 A.a.O., 12. 36 Ebd., 12. Vgl. J.-F. Courtine, Suarez et le système de la métaphysique, der bei Aegidius auf die folgenschwere, von Thomas abweichende Einbeziehung Gottes in das Subjekt der Metaphysik hinweist (129): »C’est […] méme principal, sans que le conflit, qui résulte immédiatement de cette dualité de sujets (ens secundum quod ens – Deus) ne soit résolu de maniére satisfaisante […].« 37 A. Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik?, 14 f., 389–398. Vgl. auch J. P. Beckmann, Wilhelm von Ockham, 48–134, und ders., Nihil notum nisi complexum. Von der Sach- zur Satzwissenschaft am Beispiel der Metaphysik. Für die Differenz von Sach- und Satzwissenschaft bezieht sich Beckmann (267) auf Ockhams Unterscheidung: »Das [Subjekt], was gewußt wird (id quod scitur), ist nicht dasselbe wie dasjenige, worüber oder wovon etwas gewusst wird (id, de quo scitur aliquid). Ersteres sind Sätze, letzteres Sachverhalte oder Dinge. Gewußt im eigentlichen Sinne werden nicht Dinge, sondern Sätze.« Daher der Denkgrundsatz: »Nichts [ist] gewusst, wenn nicht als complexum.« Complexum ist das Ergebnis der Verwendung von Begriffen als Terme und ihrer Verknüpfung im Satz. Realwissenschaft (scientia realis) hat es dem entsprechend »nicht mit Dingen, sondern mit den für sie stehenden Gedanken zu tun«. Beckmann urteilt: »Mit dieser Verschiebung der Referenz von Dinglichem auf Gedankliches etabliert sich ein neues semantisches Problemniveau: Die Frage nach dem Wirklichkeitsbezug der Erkenntnis wird möglich und aktuell im Medium des Begriffs und unter Rekurs auf die Sprache.« Schon zu Beginn des 14. Jahrhunderts erreicht die Entwicklung der »Metaphysik auf modallogischer und semantischer Grundlage« ihren Höhepunkt. (279) – Der moderne linguistic turn und mit ihm die sprachanalytische Philosophie beruhen auf einem metaphysikgeschichtlichen Ereignis, das mit Ockham seinen großen Anfang nimmt. Unter Abkehr von dem, was vorprädikativ zur Rede steht und sie möglich macht, rückt der sprachlogisch angemessene Ausdruck in das Zentrum philosophischen Interesses. 38 A. Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik?, 303; zum Verbleiben Ockhams innerhalb der
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Habitus des Erkennens ist immer nur einer einzigen Schlussfolgerung zugeordnet und gehört gar nicht immer notwendig zur selben Wissenschaft. Er erstreckt sich auf den jeweils bewiesenen Schlusssatz als Ganzen. Subjekt kann in einer Wissenschaft nur das grammatische Subjekt des gewussten Satzes sein. Damit wandelt sich Wissenschaft, wie Jan P. Beckmann ausgeführt hat, »von der Sach- zur Satzwissenschaft«. Der Metaphysik bleibt nur mehr die Möglichkeit, »von den die kategoriale Begrifflichkeit übersteigenden Fundamentalprädikaten«39 her gebildet zu werden. Die Gemeinsamkeit ihrer Prädikate ist der hinreichende Grund, Aussagen (propositiones), in denen sie vorkommen, ein und derselben Wissenschaft zuzuordnen. Ist Metaphysik nicht mehr Wissenschaft von dem, was ist, so stellt sich die Frage, wie die allgemeinen Aussagen, die über Dinge gemacht werden, beschaffen sind. Metaphysik wird zur »Wissenschaft von den Bedingungen der Möglichkeit der Rede von Seiendem, und d.h.: des Gebrauchs des transkategorial verwendbaren Begriffs ,seiend‘. […] Theorie der Prädikabilität von ,seiend‘ […].«40 Sie hat kein vorgegebenes Subjekt; sie entspringt nicht daraus, dass der Mensch in seinem Gesamtverhalten und Sagen dem Sein entspricht. Ihr Gegenstand ist nicht mehr das Seiende als Seiendes (ens qua ens), sondern das Seiende, insofern es als ein Seiendes (ens inquantum est ens) ausgesagt wird.41 Sie gilt nur mehr als Theorie der Grammatik des Prädikats ,seiend (ens)‘. Aussagen von der Art »Socrates est ens« besagen nicht, Sokrates sei ein weltoffenes Seiendes oder ein Seiender, sondern einfach, dass über Sokrates gesagt wird, er existiert, es gibt ihn, er kommt vor (in der Geschichte).42 Alle diejenigen Sätze gehören zur Metaphysik, in denen der Begriff (terminus) »seiend« verwendet wird. Seiend sagen wir auch von Gott, der nicht nicht-sein kann, aus.43
Struktur des skotischen Metaphysikkonzeptes vgl. auch L. Honnefelder, Woher kommen wir?, 133–154; P. Nickl, Ordnung der Gefühle, 96–115: »Die Aushöhlung des habitus-Begriffs bei Scotus und Ockham.« Entsprechend der gespenstischen Annahme der absolutistischen Allmacht Gottes (potentia Dei absoluta) wird dem Menschen eine Art potentia absoluta zugedacht; er ist wesentlich aktiv, nur innengeleitete Freiheit, nur willentliche Selbstbestimmung, wenn auch noch in Verbindung mit der passiven, weil von außen, durch Objekte bestimmten Vernunft. Insgesamt wird so die menschliche Natur depotenziert und einem tieferen Verständnis des habitus der Boden entzogen. 39 J. P. Beckmann, Nihil notum nisi complexum, 279. 40 Ebd. 41 A.a.O., 275 f. 42 Vgl. J. P. Beckmann, Wilhelm von Ockham, 127, 72, 90 f. 43 Im Rückblick auf die Metaphysik als Satzwissenschaft mag sich nicht zu Unrecht der Verdacht regen, dass die allgemeinsten und dem Umfang nach weitesten Begriffe der Metaphysik, wie Sein und Seiendes, nur nichtssagende Leerformeln sind, die mit jedem beliebigen Inhalt ideologisch aufgefüllt werden können und nichts anderes darstellen als Hypostasierungen der Kopula ,ist‘ zu platonistischen Entitäten.
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Wenn wissenschaftliches Sichverhalten immer jeweils nur einen gewussten Schlusssatz zum Subjekt hat, besteht jede Wissenschaft aus einer Vielzahl von Subjekten, und zwar sind es so viele, wie sie eben Gegenstände zählt, von denen etwas bewiesen wird. Wissenschaft ist die geordnete Menge solcher gegenstandsbezogener Verhaltensweisen. Ihre Einheit – und das gilt auch für die Metaphysik – kann deswegen nicht einmal durch das Aggregat ihrer zahlreichen Verhaltensweisen gebildet werden, sondern notwendigerweise durch etwas anderes: durch die spezielle gegenseitige Ordnung, in der von einer Wissenschaft die Rede ist, die sich aus dem Sprachgebrauch ergibt. Ihre Einheit ist die eines Kollektivs (unitas collectionis): eine Ansammlung oder Mengenbildung, für die Ockham Bürgerschaft, Volk, Heer, Reich, ja sogar Welt als Beispiele anführt. Eine Wissenschaft hat so viele Subjekte, wie sie Teile hat. Das Seiende, nunmehr eindeutig als »Begriff« gefasst, bezeichnet Gott und die Geschöpfe auf univoke Weise, und so bildet die Metaphysik eine Ordnung der Prädikation und Attribution. Die Seienden können auch unter dem Gesichtspunkt der Vollkommenheit betrachtet werden. Innerhalb der Ordnung der Vollkommenheiten des Seienden muss dann Gott als ihr erstes Subjekt bezeichnet werden. Innerhalb der metaphysischen Ordnung der Prädikation und Attribution, die mit dem Terminus »Seiendes« das umfangslogisch weiteste und so erste begriffliche Subjekt bildet, ist Gott das erste Subjekt der Vollkommenheit. Gott, der ein Teilsubjekt (subiectum partiale) der Theologie ist, ist (auch) unter dem Seienden enthalten, das ein Teilsubjekt der Metaphysik ist.44
4.3.3 Gott als Teil des Subjekts der Metaphysik Das herausragende Ontologie- und Metaphysikverständnis des Johannes Duns Scotus ist für unsere systemimmanente Ortung philosophischer Theologie von größter Bedeutung, da es sich, wie vor allem Ludger Honnefelder aufgewiesen hat, um einen epochenübergreifenden neuen und völlig eigenständigen Entwurf von Metaphysik handelt, der neben Thomas von Aquin und über ihn hinaus geradezu zu einem »zweiten Anfang der Metaphysik«45 im 13. und 14. Jahrhundert wurde und über Francisco de Suárez zu den einflussreichsten Deutungen der Ersten Philosophie im neuzeitlichen Denken bis zur Gegenwart gehört. Man begegnet in Duns Scotus einem kühnen konstruktiven Denker mit einer von Phänomenen nahezu unbeschwerten Behändigkeit argumentativer Kraft. Wie der neue Anfang sich langsam und noch 44 A. Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik?, 397 f. 45 L. Honnefelder, Der zweite Anfang der Metaphysik.
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recht uneinheitlich im Laufe der Lehrtätigkeit des zu Recht Doctor subtilis Genannten auch in der Frage nach dem subiectum metaphysicae herauskristallisiert hat, wurde von Honnefelder46, Zimmermann u.a. sorgfältig erschlossen, sodass hier nur auf die Ergebnisse einzugehen bleibt. Subjekt der Metaphysik ist bei Duns Scotus wie bei den anderen Kommentatoren aristotelischer Metaphysik das Seiende. Aber dieses Seiende wird nicht wie bei Thomas von Aquin reduplikativ als seiend, dieweil ihm Sein ereignishaft zukommt, ursprünglich verstanden, sondern mit Blick auf den das Existierende ermöglichenden Wasgehalt. Wie jedes Ding gemäß seiner Washeit betrachtet werden kann, so kann auch »das Seiende im Allgemeinen« gemäß seiner Washeit ganz allgemein (überkategorial) betrachtet werden. Dadurch erhält man den Begriff der Seiendheit (entitas) des Seienden.47 Das Seiende, insoweit es Seiendes ist (ens in quantum est ens), wird als Seiendheit washeitlich spezifiziert. Der ,Sinn von Sein‘ (die formelle ratio entis) wird damit verbegrifflicht und in äußerster Abstraktheit festgehalten: Die Seiendheit ist etwas widerspruchsfrei gerade noch Denkbares und nicht nichts. Man könnte meinen, die Seiendheit sei nichts als eine leere Gedankenkonstruktion, doch besitzt der Gedanke der Seiendheit 1. den Vorteil, etwas, wenn auch nur minimal, doch immerhin Gewisses für den Anfang des Denkens erreicht zu haben, 2. ist mit der Seiendheit des Seienden die Denkbarkeit des Seienden im weitesten Sinne vorentworfen und damit wird 3. die Gegenständlichkeit aller widerspruchsfrei denkbaren Gegenstände als der Bereich der Ersten Philosophie abgesteckt, d.h. das allererste und adäquate subiectum metaphysicae ist damit gewonnen. Die Seiendheit als der allerallgemeinste Erstbegriff der Metaphysik ist so umfassend, dass in ihm Gott und alles von ihm Geschaffene zu denken sind. Der Begriff ist zugegebenermaßen derart inhaltsleer und abstrakt, dass von jeglicher weiteren Bestimmung abgesehen werden muss, aber dadurch kann er einsinnig (univok) und in gleicher Weise von Gott und dem Geschöpf ausgesagt werden. Der Begriff der Seiendheit ist dem entsprechend in sich einfach und unauflösbar (was auch die Einheit dieser ersten Wissenschaft gewährleistet). Eine analoge Gotteserkenntnis würde dagegen, wie Scotus es sieht, neben den Begriff Gottes den Begriff des Geschaffenen stellen. Dann hätte man zwei Begriffe und das leidige Problem von zwei Subjekten 46 Neuerdings zusammenfassend: L. Honnefelder, Johannes Duns Scotus, 48–55; ders., Woher kommen wir?, Kap. 5: »Wie ist ,Erste Philosophie‘ möglich? Der zweite Anfang der Metaphysik im Mittelalter«, 85–113. 47 A. Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik?, 324. J. Duns Scotus, Quaest. super Elench., Q. 1, c., ed. Viv., Bd. II, 1 b: Nam philosophia prima considerat ens inquantum ens est, unde considerat rem secundum suam quidditatem, et quia quidditas rei est entitas per se rei, ideo philosophia prima […] considerat ens secundum suam entitatem.
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der Metaphysik würde sich erneut ergeben. Dass hingegen der Begriff des Seienden als Seiendheit univok ist, besagt, er bedeutet weder Gott noch das Geschaffene, sondern er ist in Gott und im Geschöpf, im Unendlichen sowie im Endlichen eingeschlossen. Die Frage ist, wie sich Gott näherhin zum Subjekt der Metaphysik verhält. In der Theologie ist der Gott der Offenbarung das Subjekt. Das ist er aber nicht in der Metaphysik, die eine auf natürliche Weise erworbene Wissenschaft ist. Hier ist Gott wohl Betrachtungsgegenstand und die Seiendheit Ausgangspunkt der natürlichen Gotteserkenntnis. Nun gilt, dass das erste und adäquate Subjekt einer Wissenschaft virtualiter die Erkenntnis aller Wahrheiten, die in ihr Gegenstand der Betrachtung sind, unmittelbar oder mittelbar erkennbar enthält. Also muss die Seiendheit als Subjekt der Metaphysik die Erkenntnis Gottes virtualiter einschließen. Die bloß ontologische Begrifflichkeit wird Gott nicht gerecht, sondern begreift ihn nur in unbestimmter Weise (confuse), und zwar so, wie durch den Begriff des Sinnenwesens der Mensch erkannt wird. Um Gott in seiner Besonderheit zu erkennen, muss dann etwas hinzukommen, das aber den Begriffsumfang des Subjekts der Metaphysik nicht überschreiten kann. Der philosophische Gottesbeweis zeigt es, nämlich »dass es etwas in Wirklichkeit unter den Seienden gibt, das schlechthin Erstes in der Ordnung der Wirkursächlichkeit« ist.48 Die Metaphysik betrachtet viele Eigentümlichkeiten, die Seienden unmöglich zukommen können, wenn sie nicht von der ersten Ursache dieser Seienden her stammen (wie Endlichkeit, Abhängigkeit, Nicht-Notwendigsein). Daher kann Metaphysik beweisen, dass Gott als erste Ursache (causa prima) aller übrigen Seienden existiert. Gott kann aber nicht Prinzip oder Ursache des Subjekts der Metaphysik sein, weil er als Seiendes unter Seienden und neben den geschaffenen Seienden unter das unüberholbare Subjekt der Metaphysik fällt. Damit schließt sich Duns Scotus der damals am häufigsten vertretenen und dem System philosophischer Wissenschaften immanenten Ortsbestimmung natürlicher Gotteserkenntnis an: »Die Auffassung, nach welcher Gott irgendwie im Seienden als dem Subjekt der Metaphysik eingeschlossen gedacht wird, gewinnt bei Skotus ihre folgerichtigste und auch geschichtlich wirksamste Gestalt.«49 Mit der neuen Subjektbestimmung der Metaphysik wandelt sich auch der theoretische Habitus, er wird intellektualisiert und unterminiert. Peter Nickl spricht von einer »Aushöhlung des Habitus-Begriffs bei Scotus«:50 »Die Leidenschaften werden nicht 48 A.a.O., 327. J. Duns Scotus, Ord. I, d. 2, pars 1, q. 2, nr. 41, ed. Vat., Bd. II, 149, l. 13–15: ostendam, quod aliquid est effectu inter entia, quod est simpliciter primum secundum efficientiam. 49 A. Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik?, 329. 50 P. Nickl, Ordnung der Gefühle, 55–96.
,Metaphysik‘ als Ort des Grunddenkens theologischer Philosophie
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im sinnlich, sondern im vernünftig strebenden Seelenteil – also nicht im appetitus sensitivus, sondern im Willen« primär angesiedelt.51 Es sind vom Körperlichen abgeschnürte passiones spirituales, geistige Leidenschaften. Das hat für den Habitus-Begriff die Folge: »Die Sinnlichkeit rückt an den Rand des ethischen Interesses […].«52 »Für Scotus ist der Mensch wesentlich nur Freiheit, die allenfalls die Sinnlichkeit an sich partizipieren läßt.«53 Da die menschliche Natur hinter dem geistigen, dem freien Akt der Selbstbestimmung zurücktritt, verlagert sich in der Folge das ethische Interesse »von der Güte des handelnden Subjekts zur Güte der Handlung. Habitus und Tugend als ausgezeichnete Seinsweisen der menschlichen Natur verlieren an Bedeutung«.54 »Eine auf Kant vorausweisende Wende in der Moralphilosophie kündigt sich an: Nicht Menschen sind in erster Linie gut oder schlecht, sondern Handlungen.«55 Nicht die Natur des habitus-Trägers vervollkommnet sich, sondern alles ist auf den Akt konzentriert, auf die willentliche Wahl einer Handlung als einer die Handlung selbst qualifizierenden Tätigkeit.56 Duns Scotus und der Skotismus wurden dem in der Neuzeit vorherrschenden Entwurf der Metaphysik weitgehend zum Schicksal. Dessen Metaphysik hat nicht zunächst das Seiende als das, was ist, zu ihrem thematischen Hauptgegenstand, sondern die neu, als existenzunabhängig verstandene Sachheit (res) hinsichtlich ihrer Wesenheit oder Washeit (quidditas), und zwar sofern sie eine innere Eignung zum Existieren besitzt. Das Seiende als solches als der Primärgegenstand der Ersten Philosophie ist das widerspruchsfrei Denkbare und somit das in sich logisch Seinsmögliche. Diese Washeit der Sache ist ihre Seiendheit (entitas). Mit der Seiendheit ist das Seiende in seiner allgemeinsten, washeitlichen Bedeutung erfasst, nämlich insofern es noch irgendwie ein Etwas und nicht nichts ist. Dieses nur begrifflich-abstrakt vorstellbare Allerallgemeinste der Seienden kann nun univok, völlig indifferent gegenüber allem und jedem, unterschiedslos und farblos von Gott und Geschöpf, von allen möglichen und wirklichen, ja sogar von idealen Dingen ausgesagt werden. Aus diesem seiner Herkunft nach skotistischen Seinsentwurf und vor dem Hintergrund der ungelöst verbleibenden Spannung, die Gott als höchstes Seiendes unter die Seienden im Allgemeinen zählt, kristallisiert sich für das Unterrichtsfach Metaphysik eine folgenschwere Systemaufgliederung heraus.
51 A.a.O., 55. 52 A.a.O., 57. 53 A.a.O., 96. 54 A.a.O., 77. 55 A.a.O., 60. 56 Ebd., 60 ff.
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Sachprobleme systematischer Ortsbestimmung philosophischer Theologie
Der Primärgegenstand der Metaphysik ist jetzt das denkbar Generellste – bei Duns Scotus das »schlechthin Allerallgemeinste« (communissimum simpliciter) –, das inhaltlich-thematisch speziellere Anwendungen finden kann. Unter dieser Vorgabe konnte man später eine Metaphysica generalis (allgemeine Metaphysik oder Formalontologie) von den möglichen Hauptfällen ihrer speziellen Anwendung, der Metaphysica specialis (inhaltliche, materiale Metaphysik), unterscheiden. Die spezielle Metaphysik gliedert sich nun nach ihren drei Hauptthemen Gott, Mensch und Welt (bei Kant die Ideen der reinen Vernunft) in drei Disziplinen: Theologia naturalis, Psychologia rationalis (die spätere philosophische Anthropologie) und Cosmologia (die spätere Naturphilosophie). Man kann schematisch das aristotelische und das ,skotistisch‘ beeinflusste Paradigma einander gegenüberstellen. Die Pfeile im aristotelischen Schema (links) deuten die Richtung des Grunddenkens an. Das Dreieck im skotistischen Schema (rechts) deutet inhaltlich auf die Verbindung der metaphysischen Gegenstände (Gott – menschlicher Geist – Natur) hin, die unter das formale abstrakte Seinsverständnis subsumiert werden:
Anthropologie, Kosmologie Mensch Welt
Ontologie Sein, Ursachen, Grund
allgemeine Metaphysik
(= Formalontologie)
spezielle Metaphysik (= Materiale Ontologie) Gott (natürliche, rationale Theologie)
theologische Philosophie
Gott
Geistseele (rationale Psychologie)
Welt, Natur (Kosmologie)
Im neuen Disziplinenentwurf hat das Weltverständnis eine Verengung erfahren. Die Welt wird ontisch verstanden als Verknüpfung endlicher, von Gott geschaffener Dinge. Diesem Weltbegriff geht die antike lebensweltliche und christlich-existenzielle Bedeutung ab, die er etwa bei Augustinus oder Thomas von Aquin noch hatte. Damit zeichnet sich die Bruchlinie zwischen Geistsubjekt und Natur (Materie) ab, vor allem aber auch die Bruchlinie zwischen der formal ausgehöhlten Ontologie und der zu einem Gegenstandsbereich unter anderen herabgesunkenen philosophischen Theologie. Die allge-
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meine Metaphysik reduziert sich auf ein abstraktes, formales Begriffsdenken oder »synthetische Urteile apriori« bei Kant; sie mutiert »von der Sach- zur Satzwissenschaft« (J. P. Beckmann). Gott wird zu einem Sonderfall unter den anderen als möglich denkbaren Seienden oder Gegenständen. Vorgezeichnet ist damit, dass die philosophische Theologie als »rationale« Subdisziplin innerhalb spezieller Metaphysiken zur Sonderthematik für Liebhaber herabsinkt, was zu ihrem Einsturz beitragen musste. Rückblickend kann im Metaphysikverständnis des Thomas von Aquin etwas Richtungsweisendes gesehen werden, insofern die Fragwürdigkeit des Seienden in seinem Sein für ein Grunddenken offen ist. Vor allem darf das, was Philosophie theologisch thematisiert, nicht zu einem monströs vorgestellten Seienden unter anderen herabgesetzt werden, welches als die höchstdenkbare seiende Wirkursache das ,Sein‘ erklären soll. Das Sein, das so als hergestellt (ins Sein ,gesetzt‘) vorgestellt wird, verkommt zum bloßen Existieren des faktisch Vorhandenen, das mindestens ,meta-physisch‘ irrelevant erscheint. Dieses bloß Faktische, das Tatsächliche bzw. Nur-Vorhandene wird nun systemkonform vom ontologisch relevanten Erkennen ausgeklammert, das sich kontrafaktisch mit dem Möglichen, insofern es sein kann, befasst. Folgerichtig kann die Bedeutsamkeit der Jeweiligkeit des Seienden von seinem Sein (d.h. Anwesen und ereignishaften Gewährtsein) her nicht zur Sprache kommen. Sogar das ,Ek-sistieren‘ ist kein ab alio sistere mehr, kein Heraus- und Hervortreten, Wirklichwerden und so phänomenales Auftauchen des Seienden in Teilnahme am Sein. Das sich zeigende Seiende ist kein von sich her In-die-Erscheinung-Tretendes, kein zum eigenen Sein im Sinne von Anwesen Kommendes, das so aus der ihm verliehenen Ursprünglichkeit zum Bestehen kommt. Das ereignishafte Begründen und Begründetsein des Anwesenden in seinem erfahrbaren Anwesen gerät außer Sicht. Was solchem Denken damit entgeht, ist, dass darin jeweils alles liegt und sich der Erfahrungsweg eines verlässlichen theologischen Grundverständnisses öffnen kann. Überhaupt kann die Dimension des Abgründigen und Unergründlichen des Seinsgrundes selbst, insoweit es dem Seienden im Ganzen Grund gibt – eben zu sein –, doch kein Thema sein, das man neben Anthropologie und Kosmologie so betreiben kann, dass man irgendeine Berechtigung hätte, es vom Fragwürdigsten der Metaphysik im Ganzen abzutrennen und in eine »spezielle Metaphysik« abzuschieben.57 Soll metaphysisches Denken einen Sinn haben, so darf man es nicht (wie paradigmatisch im skotistischen Ansatz) von der Seinserfahrung, der Erfahrung ungeteilter Gegenwart der Seinsfülle (und damit grundsätzlich von unserer Daseins- und Selbsterfahrung in der Leibhaftigkeit unseres Bezugs zu Anderen in der Welt), losreißen. 57 Vgl. dazu W. Brugger, Summe einer philosophischen Gotteslehre, 28 f.
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Sachprobleme systematischer Ortsbestimmung philosophischer Theologie
Es wäre vielmehr die ontologische Grund-Erfahrung weiter auszulegen (,weiter‘ auch unter Einbeziehung der Praxis der Religionen) in dem, was sich in ihr ursprünglich mitzeigt und auf-geht. Erweist sich diese Grund-Erfahrung des Seins (das nicht kurzschlüssig zu vergöttlichen ist!) nun weiter auslegbar in ihrer ,Tiefe‘ als das unendlich Heilige, Göttliche oder Gott, so expliziert philosophische Theologie den Grund der Ontologie; sie denkt ihn noch ursprünglicher und vollendet so die Ontologie. Es dürfte daher zutreffend sein, dass philosophische Theologie die Ontologie weiterführt, oder – will man doch (wenngleich missverständlich) von Metaphysik reden – dass sie die Ontologie im Sinne einer Ersten (d.h. anfänglichen und ursprünglichen) Philosophie, die auf das Ganze und den diesem entsprechenden Grund geht, vollendet.
4.4 Die ganze Philosophie als im Grunde philosophische Theologie?
Philosophische Theologie sucht nicht eine Frage, die es neben anderen Fragen auch gibt, zu beantworten. Sie besteht nicht in einer Ansammlung von unzusammenhängend aufgerafften Einzelargumentationen (Gottesbeweisen), die zu den vielen Gegenständen des Denkens eben auch diesen ,übersinnlichen‘ hinzufügen möchte. Sie bildet keinen innerphilosophischen Fachbereich neben anderen, der den übrigen Fächern der Philosophie wie das angestückelte Ende eines schlecht gebauten Dramas angehängt werden könnte. Vielleicht kann aus der Philosophie Hegels, wie aus kaum einer anderen, gelernt werden, dass es in der ganzen Philosophie um nichts anderes als um Gott selbst geht. Überhaupt ist für Hegel jede Philosophie (auf ihre Weise) das Sich-selbst-Erfahren und Sichbegreifen des Absoluten, das daher dem Philosophen nicht etwas Fremdes sein kann: »Hegels Philosophie ist selbst ein einziger systematischer Gottesbeweis und will als solcher verstanden werden.«58 Man muss mit Hegels ontotheologischem Grundgedanken und totalitaristischbegriffslogischer Systementfaltung nicht übereinstimmen, um dieses Motiv einer inneren Zusammengehörigkeit der philosophischen Sachgebiete aus einem gemeinsamen Ursprung würdigen zu können. Auf eine gewisse Weise kann die ganze Philosophie als der Gottesbeweis, d.h. Aufweis des grundgebenden ,An-wesens‘ eines unendlich Heiligen, Göttlichen oder Gottes, verstanden werden. Es geht innerphilosophisch, trotz der Aufgliederung in einzelne Disziplinen, immer nur um dasselbe Ganze und denselben Grund eben dieses Ganzen (jedoch nicht um Selbigkeit im Sinne begrifflich-allgemeiner Identifizierbarkeit!), andernfalls würde 58 J. Flügge, Die sittlichen Grundlagen des Denkens. Hegels existentielle Erkenntnisgesinnung, 120.
,Metaphysik‘ als Ort des Grunddenkens theologischer Philosophie
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Philosophie in isolierte Fachbereiche zerfallen. Wenn auch die Tendenz zur Aufspaltung in Einzeldisziplinen besteht, kann philosophische Theologie doch nicht als Sonderdisziplin Bestand haben. Im Grunde und aus dem Grunde des Ganzen durchdringen alle philosophischen Sachgebiete einander. Sie verweisen daher alle auf den einen und letzten Grund, ohne dass die Verständnisweisen dieses Ganzen damit festgeschrieben wären. Schon methodisch ist Philosophie als Phänomenologie ursprünglicher Erfahrung ein Einweisen in die ursprüngliche Erfahrung der Sache, die (sich) unausschöpfbar zu denken gibt, und so ist sie auch ein Denken des Ursprungs der Erfahrung selbst, letztlich denkende Mystagogie in das Mysterium des Seins. Entfaltet Ontologie das Seinsverständnis des Seienden, so doch insofern Seiendes am Sein teilnimmt und im Sein abgründig gründet. Philosophische Anthropologie thematisiert mit der Weltoffenheit des Menschen sein ,Ek-sistieren‘, d.h. Hinausstehen miteinander in den Offenheitsbereich des Seienden in eben dieser abgründigen Gegründetheit des Seins. Ethik bedenkt das Ursprüngliche der Aufgabe bzw. des Anspruchs, der uns ins Sein miteinander und in die dem entsprechende Weltverantwortung ruft. Sprachphilosophie bedenkt das Unsägliche im ursprünglich sagenden Wort der Sprache. Ja sogar philosophische Logik (nicht Logistik!) hätte die integrale Systemgestalt des Grunddenkens darzustellen usw.59 Alle philosophischen Sachgebiete verweisen so auf ihre Weise in den Grund und somit in das Unsagbare des Ursprungs. Aus dem Gesagten ergibt sich, dass philosophisches Denken auch dort, wo es nicht ausdrücklich-reflex von Gott spricht, sozusagen ,anonym‘ auf das Unergründliche und den letzten Ursprung als das, was bleibend zu denken gibt und daher dem Denken immer bevorsteht, bezogen ist.60 Philosophische Theologie erwächst so aus der Philosophie als Vollendung und Krönung der gesamten philosophischen Denkbewegung und ist in ihr gewissermaßen der Gottesbeweis, insofern er ausdrücklich-reflex thematisiert wird. Daher kommen für ein angemessenes Verständnis der Fragen philosophischer Theologie nicht nur wie bisher hervorgehoben Ontologie, sondern sämtliche anderen philosophischen Sachgebiete mit in Frage; besonders aber sind es Religionsphilosophie und Ethik, die in ihrem Verhältnis zur philosophischen Theologie noch besondere Berücksichtigung finden sollen. 59 Zur Logik des Grunddenkens siehe unten 6.4.3.2 f). 60 Bemerkenswert ist hier die Auffassung des Thomas von Aquin, SG, lib. III, cap. 25, nr. 2063: philosophia tota [sic!] ordinatur ad Dei cognitionem. Die Hinordnung der gesamten Philosophie (des gesamtmenschlichen Erkennens) auf die Gotteserkenntnis besagt, dass in allem Erkennbaren diese Gotteserkenntnis impliziert ist, vernünftige Wesen diese aber explizit erfassen können: De ver., q. 22, a. 1: omnia cognoscunt implicite Deum in quolibet cognitio, und De ver., q. 22, a. 2, ad 5: sola creatura rationalis est capax Dei, quia ipsa sola potest ipsum cognoscere et amare explicite.
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5. Philosophische Theologie in enger Nachbarschaft zur Religionsphilosophie bzw. zu den Religionswissenschaften Das topologische Problem, um das es hier geht, besteht darin, wie das Verhältnis von philosophischer Theologie und Religionsphilosophie zu bestimmen ist. Die damit aufgeworfenen Fragen sind für die Gesamtperspektivierung einer zukünftigen philosophischen Theologie von größter Bedeutung, weil ja angenommen werden kann, dass mit Religionen und Religiosität jene Phänomene in bevorzugter Weise zum Vollzug kommen und angesprochen werden, denen philosophische Theologie inhaltlich begegnet und denen sie ihrem Wesen nach auf den Grund zu kommen sucht. Wenn Menschen in den Religionen das Geheimnis ihres Daseinsgrundes verehren oder dessen inne zu werden suchen, was philosophischer Theologie zu denken gibt, dann verändert und weitet sich deren Aufgabe radikal, sobald sie in der globalisierten Welt der Vielzahl von Religionen gerecht werden will. Damit erhebt sich die Frage, ob philosophische Theologie sich nicht überhaupt in eine andere, neuere Disziplin, nämlich die Religionsphilosophie, zu verlagern hat. Religionsphilosophie hat sich schon seit der europäischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts als »Philosophie der Religion« geradezu in Nachfolge der Rationaltheologie zu einer Teildisziplin der Religionswissenschaft herausgebildet, die heute im weitesten Sinn neben Religionsgeschichte ontisch-deskriptive Religionsphänomenologie, Religionssoziologie, Religionsethnologie, Religionsgeographie und -statistik, Religionspsychologie, Religionsökologie, Religionsökonomie, Religionsästhetik etc. umfasst.1 Religionsphilosophie kann und muss hierbei im Sinne einer wichtigen »Brü ckendisziplin« zu diesen religionswissenschaftlichen Einzeldisziplinen verstanden werden, die in ihnen nicht als bloße Teilwissenschaft aufgeht, sondern sie mit der Philosophie und ihrem Grunddenken verbindet.2 Religionswissenschaft entspricht dadurch in einer globalisierten Welt den Anforderungen der Interdisziplinarität. Philosophische Theologie begegnet uns auch innerhalb der Religionswissenschaften, und zwar als ein zur theoretischen Kultur bestimmter Religionen gehöriger ,Gegenstand‘ (heute v.a. im Christentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus). Sie wird aber dadurch nicht von Religionswissenschaften beiseitegedrängt, sodass sie als eigenständige Disziplin verschwinden müsste, vielmehr rückt sie in die Mitte religionsphilosophischen Interesses, insofern auch sie sich mit Prinzip und Wesen der Vielfalt von Religionen auseinandersetzen muss. Die externe Sichtweise (das bishe1 Dazu einschlägig vgl. die Einleitung in die Religionswissenschaft von J. Figl in: Handbuch Religionswissenschaft, 17– 80. 2 A.a.O., »Religionsphilosophie als Brückendisziplin«, 48–51.
Philosophische Theologie in enger Nachbarschaft zur Religionsphilosophie
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rige ontisch-historische Vorkommen philosophischer Theologie) widerspricht nicht der erweiterten internen Sichtweise (ihrem philosophischen Prinzipienstatus), die hinsichtlich ihres Gegenstandsbereiches unabgeschlossen ist: Religionen sterben ab, wandeln sich und entstehen neu. Dennoch bliebe zu klären, ob philosophische Theologie der Religionsphilosophie einfach als Teilgebiet einzugliedern ist oder ob sie für diese nur unter bestimmter Hinsicht unentbehrlich ist, aber auf Grund ihrer ontologischen Fundierungsmöglichkeit aus ihr herausfällt. Wenn auch von der Gesamtperspektivierung beider Disziplinen her durchaus eine Differenz der Aufgaben herauszuarbeiten ist, zeigen sich die beiden Disziplinen als Gesprächspartner doch engstens verbunden. Zur Klärung dieser topischen Fragen ist eine Gemeinsamkeit in der Thematik zu erzielen: Das religionswissenschaftliche Verständnis des Gesprächspartners ist zu erheben (5.1). Dann kann auf Differenz und Überschneidung der Interessen einer theologisch zentrierten Philosophie und einer Philosophie, die in einer multikulturellen Weltsituation auf Religionen und Religiosität ausgerichtet ist, eingegangen werden (5.2). Die Unumgänglichkeit der fundierenden Ontologie, welche die Eigenart theologischer Philosophie bestimmt, spielt (wie überall in den Wissenschaften) auch in die Religionswissenschaften hinein, und zwar in Gestalt zumeist unthematisierter und unreflektierter Vorgegebenheiten. An einem brisanten Paradigma typisch religionsphilosophischer Fragestellung, der Problematik interreligiöser Kommunikationspraxis angesichts der Geltungsansprüche der Religionen, wird jenseits von Totalitarismus und extremem Pluralismus auf die Notwendigkeit eines integralen Ganzheitsverständnisses im Verhältnis von Eins- und Vielessein hingewiesen. Dieses Verständnis ist ontologisch auszuweisen (vgl. den vierten Exkurs) und zugleich von höchster Bedeutung für Fragen sowohl philosophischer Theologie als auch der Religionsphilosophie.
5.1 Zum religionswissenschaftlichen Religionsverständnis
Eine grundlegende Aufgabe der Religionsphilosophie ist die Klärung ihres Gegenstandsbereiches innerhalb der Religionswissenschaften und zusammen mit ihnen. Ihr ,Religionsbegriff ‘ soll ja als gemeinsame Gesprächsgrundlage die interdisziplinäre Forschung verbinden. Ohne Klärung des gemeinsamen Religionsverständnisses können Teilresultate religionswissenschaftlicher Fachwissenschaften nicht wissenschaftlich fundiert einander ergänzend zusammengeführt werden. Die Problematik dieser Begriffsbildung beginnt schon damit, dass das Wort religio kein adäquates Äquivalent in anderen Sprachen besitzt. Nicht einmal seine Etymologie ist eindeutig gesichert, wenngleich anregend: so die Ableitung von religio aus relegere, mit gewis-
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Sachprobleme systematischer Ortsbestimmung philosophischer Theologie
senhafter Sorgfalt beachten, und zwar: immer wieder ,lesen‘ (legere), durch- und zusammennehmen. Dieser etymologischen Ableitung kommt ein gewisser Vorzug zu. So wurden nach Cicero diejenigen, »die alles, was mit der Verehrung der Götter (ad cultum deorum) zu tun hatte, sorgfältig ausübten und gleichsam immer wieder erwogen (relegere), als religiosi (gottesfürchtig?) bezeichnet«.3 Vermutlich ist vornehmlich im Sinne römischen Rechtsdenkens an kultische Verpflichtungen und deren gewis4 senhafte Beobachtung gedacht. Sehr wichtig erscheint auch die Ableitung des »christlicher Cicero« genannten Laktanz, der u.a. Lehrer von Crispus, des ältesten Sohnes Konstantins, in Trier war. Er lehnte Ciceros Ableitung von religio von relegere ausdrücklich ab: »Unter dieser Bedingung nämlich werden wir geboren, dass wir dem Gott, der uns generiert hat, rechten und schuldigen Gehorsam erweisen, ihn allein anerkennen und ihm folgen. […] Wir sagen, der Name Religion ist vom Band der Frömmigkeit herzuleiten, weil Gott den Menschen an sich gebunden und durch Pietät mit sich fest verbunden hat.«5 Religio besagt demnach re-ligare, zurückbinden. Jüdisch-christliches Verständnis assoziiert mit dem Band (vinculum) den Bundesschluss Jahwes mit seinem geliebten und auserwählten Volk. Daran knüpft die heute noch geläufige Sachbedeutung von Religion als Verbundenheit des Menschen mit Gott oder dem Göttlichen an, die häufig, ausgehend vom Sichbinden des Menschen, diese als Zurückbindung des (gefallenen) Menschen an Gott ausgelegt hat.6 Die Schwierigkeit des wissenschaftlichen Religionsverständnisses liegt darin, eine befriedigende Bestimmung des Gegenstandsbereiches des Faches zu finden, die auf eine nicht-eurozentrische Weise den verschiedensten Religionen gerecht wird. Dabei wird 3 M. T. Cicero, De natura deorum II, 72 (lat.-dt. Ausgabe, 226 f.): omnia quae ad cultum deorum pertinerent, diligenter retractarent et tamquam relegerent, sunt dicti religiosi ex relegendo […]. 4 Es mag als Frage offenbleiben, inwieweit mit relegere der religiöse Grundakt angesprochen wird: Legere,,lesen‘, besagt zunächst ,sammeln‘, Stück für Stück wegnehmen, (mit den Händen) zusammennehmen, weit ausholend etwas zusammenbringen (wie im Deutschen Trauben-, Ährenlese), hier jedoch als religiöser Grundvollzug: sich behutsam sammeln, sich immer wieder zurückholen lassen, hellhörig und gegenwärtig werden und so erneut offen für die Nähe des uns als Numen (göttliches Geheiß, Walten der Gottheit) Angehenden. 5 L. C. F. Lactantius, Divinae Institutiones, IV, 28 (CSEL, Bd. 19, 388 –391): hac enim condicione gignimur, ut generanti nos deo iusta et debita obsequia praebeamus, hunc solum noverimus, hunc sequamur. […] Diximus nomen religionis a vinculo pietatis esse deductum, quod hominem sibi deus religaverit et pietate constrinxerit […]. 6 Schon der späte Augustinus (Die Retractationen in zwei Büchern. Retractationum libri duo, I, 12, 9) geht für die Deutung von religio nicht von Gott, sondern vom Menschen als Subjekt der Religiosität der Religion aus: »Streben wir doch hin zu dem einen Gott, […] um unsere Seelen mit ihm allein zu verbinden (religantes animas nostras), woher, wie man glaubt, auch das Wort Religion abgeleitet ist.«
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1. ein Spagat angestrebt zwischen der geschichtstheologischen und religionsphilosophischen Bestimmung der Religion als einer Realisierung transzendenter Wahrheit auf der einen Seite und auf der anderen Seite jener Geschichts- und Kulturphänomene, die primär humanwissenschaftlichen Disziplinen zugänglich sind. Religionen können sich einerseits als besondere Gaben Gottes oder des Göttlichen an die Menschheit bzw. als relativ verpflichtende Heilswege erfahren und erscheinen andererseits als allzu menschliches Machwerk: »Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen.«7 2. Zwar erscheinen Versuche seit der frühen Aufklärungsphilosophie, eine Art »natürliche« Religion zu rekonstruieren, indem sie ein abstrakt-allgemeines Ensemble von zu realisierenden Lehren als die »wahre« Religion herauszudestillieren suchten, als völlig überholt. Damit sollten konfessionelle Auseinandersetzungen der Offenbarungsreligion unterlaufen werden. Die Entgegensetzung kehrt jedoch in neuer, nunmehr erfahrungsgesättigter Gestalt in der Spannung von Natur-, besser: Elementarreligionen und politisch gewendeten Stifter- und Offenbarungsreligionen wieder, wobei sich die definitorischen Grenzen zwischen den beiden Größen verschieben können. Als extremes Beispiel für die Verwerfung aller anderen Religionen außer der eigenen als Naturreligionen sei die mimetische Religionskritik und -theologie angeführt. Aus ihrem Verständnis christlicher Offenbarung wirft sie den rein natürlichen Religionen vor, sie sakralisierten die Gewalt. Erst durch die christliche Menschwerdung Gottes werde die natürliche Religion aufgelöst. Dieser ordnet Gianni Vattimo im Anschluss an René Girard auch noch die ,Metaphysik‘ zu.8 Da Metaphysik in der ,natürlichen‘ Theologie gipfelt, wäre damit ihr Schicksal besiegelt. In Weiterführung des alternativen Slogans, ,Religionen sind Menschenwerk, nur christliche Offenbarung ist Gotteswerk‘, wird jedoch verkannt, was Religionen einander kritisch zu sagen haben und ihrerseits positiv bringen können.9 Prekäre Absolutheitsansprüche und vorschnelle Verallgemeinerungen stehen vorurteilsloser Feldforschung historischer und rezenter religiöser Phänomene anderer Kulturen in der Vielfalt ihrer Erscheinungen im Wege und umgehen sie. 3. Dennoch bleibt der Spannungsbogen, und zwar der zwischen substanzialistischem und funktionalistischem Religionsverständnis. Er bietet einen guten Ansatz zur diffe7 K. Marx/F. Engels, MEGA2, Abt. I, Bd. 2: Zur Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie. Einleitung (1982), 170. 8 G. Vattimo, Glauben – Philosophieren, 33, 41, 45, 48, 54, 60, 62, 65, 82, 96, 100, 102, 111; neuerdings R. Girard/G. Vattimo, Christentum und Relativismus. 9 Vgl. hierzu U. Tworuschka (Hg.), Die Weltreligionen und wie sie sich gegenseitig sehen.
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Sachprobleme systematischer Ortsbestimmung philosophischer Theologie
renzierten Vermittlung des Definitionsproblems. Diesseits von substanzialistischem bzw. essenzialistischem Religionsbegriff besteht der Anspruch, das Wesentliche (Essenzielle) bzw. Wesen und ,Unwesen‘ religiöser Phänomene inhaltlich zu erfassen. Religion als gesamtmenschliches Sichverhalten des Menschen10 wird von dem her definiert, worauf sie bezogen ist: nicht primär auf Vorstellungen über die Erfahrung, sondern auf die zur Erfahrung kommenden überlegenen Mächte und Gewalten (Übermächte), auf das numinos Waltende, auf das Heilige und Göttliche, das fasziniert und erschüttert, auf das einen unbedingt Angehende, woran alles liegt (des Absoluten), oder auf das Allumgreifende, in dem wir sind und das uns zugleich überschreitet (des Transzendenten), weiter: auf die (tiefste) Tiefe im Antlitz der Welt, die zugleich größte Weite schenkt, und auf das Erhabenste (Hehre, Herrliche), das uns erhebt – auf den (höchsten) Himmel, den Strahl der Ewigkeit im Augen-Blick usw.11 Zur Religion gehören des Weiteren die Weisen, in denen Menschen über die alltäglichen Verrichtungen hinaus diesen Widerfahrnissen entsprechen und auf sie selbstständig kreativ zu antworten vermögen. Ihnen verdanken sie so die Möglichkeiten zu Meditation, Gebet, kultischen Festen und Feiern mit Dichtung und Gesang, Musik und Tanz, Opfer etc. Was sich dem Menschen im Grunde seines Daseins als ein Uranfängliches und Letztes zeigt, dem entspricht er in einer Mannigfaltigkeit der Weisen der Einstellungen, des Durchstimmtseins und der Haltungen: in das Unaussprechliche versunken, überwältigt, hingerissen, bewundernd; er wirft sich zu Boden oder umarmt seinen Nächsten; er betet an, klagt und fleht, er musiziert und tanzt, er deutet seinen Glauben und erkundet ihn so. Die Lebenswelt der Religion bildet die unüberholbare Basis, die in und außerhalb der verschiedenen Religionen philosophisch und auch theologisch bedacht wird. Auf dieselbe Basis beziehen sich die Fachwissenschaften, welche die Religionen partikulär aufgesplittert in einem multi- und interdisziplinären Großunternehmen zum Gegenstand machen. Durch sie ergeben sich andersartige, eben spezielle, fachgebundene Verständnisweisen und Vorschläge zur Definition der Religion. Sie bestimmen die Religion zumeist von der Funktion her, die sie für den Menschen innerhalb seiner Kultur 10 Zur Gesamtmenschlichkeit gehört, dass wir im religiösen Ergriffensein immer eine Leibes-Haltung einnehmen. Ritualisiert kann sie das Interesse der Forschung so nach sich ziehen, dass die Gefahr besteht, über der Antwort das, worauf geantwortet wird, zu vernachlässigen. Hier ist nicht der Ort, das Wesen des religiösen Habitus zu durchleuchten, dem allgemeine Überlegungen zur Leibhaftigkeit jedes menschlichen Anwesens ,unter dem Himmel‘ vorhergehen müssten. Dazu vgl. K. Baier, Sitzen. Zur Phänomenologie einer spirituellen Grundübung, 245–254. 11 Die Frage, wie die vielen Namen das eine namenlose und unaussprechliche Geheimnis nennen, ist hier nicht weiter zu erörtern, vgl. dazu J. Figl, Gibt es eine transkulturelle Einheit der verschiedenen Gottesvorstellungen? Universalreligiöses Selbstverständnis und religionsphilosophische Deutung.
Philosophische Theologie in enger Nachbarschaft zur Religionsphilosophie
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einnimmt (beispielsweise Religion als gemeinschaftsstiftend, als die Gesundheit fördernd oder als Mittel zur Kontingenzbewältigung). Von daher lassen sich auch noch religionsähnliche bzw. -analoge Gebilde (beispielsweise in Politik, Sport, Werbung, Geldwesen) erschließen. Resultate fachwissenschaftlicher Religionswissenschaft können durch multidimensionale Definitionen der Religion nicht ohne Weiteres synthetisiert werden und so einander unvermittelt ergänzen, da zur ,Er-gänzung‘ fachwissenschaftlicher Sichtweisen erst ein Vorblick auf das von ihnen ausgeklammerte Ganze und Wesen notwendig ist. Es wäre unwissenschaftlich, diesen Vorblick der bloßen Intuition zu überlassen und auf die Möglichkeiten wissenschaftlicher Ausarbeitung dieses Gesamtverständnisses, wie es der Philosophie und Theologie der Religion eigen ist, zu verzichten. Religion wird in der funktionalen und kontextuellen Methodik spezieller Religionswissenschaften (wie Religionssoziologie, -psychologie) »nicht aus sich selbst heraus bestimmt, sondern von dem her, was sie [ihrem Wesen nach] nicht ist, im Ausgang von den gesellschaftlichen oder individuellen Zusammenhängen, in denen sie steht«.12 Eine Reduktion der Religion auf ihre Funktionen (als -Ismus der Funktionen, reduktionistischer Funktionalismus) wäre daher unwissenschaftlich, weil sie die phänomenologische Maxime ,Zu den Sachen selbst‘ willkürlich einschränkt. Ein meines Erachtens tragfähiger Definitionsvorschlag von Johann Figl verbindet Religionen im substanzialen und funktionalen Sinn integral (nicht integralistisch!). Er weist auf eine Gemeinsamkeit der beiden Zugangsweisen hin: Es geht in beiden Fällen um Erfahrungen, »die die gewöhnliche (alltägliche) Erwahrungswelt transzendieren und als solche in einer letzten Bedeutsamkeit (ultimate concern) erlebt werden. Der Unterschied zwischen beiden definitorischen Zugängen besteht darin, dass die erstere Transzendenz- bzw. Absolutheitserfahrung im Zusammenhang mit Religionen und Religiosität im herkömmlichen Sinn geschieht, während Letztere ohne direkten Bezug dazu, also außerhalb von institutionellen Religionen erfahren werden kann, die gleichwohl ,religiösen‘ Charakter […] haben.«13 Das gestattet die Unterscheidung einer expliziten und einer impliziten Religion, wobei Letztere gewissermaßen »freischwebend«, nicht institutionalisiert ist. Im Blick auf das Wesen wie auch auf die sich stets wandelnde Mannigfaltigkeit konkreter Religionen setzt Figl bei der »Religiosität« der Religion an: beim »existentiellen Bezug zu einer transzendenten Wirklichkeit«, von der als einer Art Faszinosum der Mensch angezogen wird.14 Konstitutiv für Religion sind noch die zusätz12 D. Pollack, Was ist Religion? Problem der Definition, 178. 13 J. Figl, Handbuch Religionswissenschaft, 76. 14 J. Figl, Universalistische neureligiöse Bewegungen. Prolegomena zu einem angemessenen Religionsbegriff, in: Fides quaerens intellectum, 70.
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lichen Merkmale: 1. (lehrmäßige) Interpretation, 2. kultische bzw. soziale Praxis und 3. soziale (institutionell-gemeinschaftliche) Strukturierung und Tradierung. Der Bezug zur lebendigen Wirklichkeit des Gottes bzw. Göttlichen wird als »Transzendenzerfahrung« angesprochen. Unter dieser ist »zunächst und allgemein das Erfahren einer Wirklichkeit gemeint, die die Normalwelt bzw. die durchschnittliche, die alltägliche Erfahrung dieser Welt übersteigt« und freilich immer »auch im Zusammenhang mit der ,faktischen‘, der vorgegebenen Realität erfahren wird«.15 In diesem Definitionsvorschlag erscheint mir wichtig, dass Figl für das Religionsverständnis nicht von der ,Selbsttranszendenz‘, dem wesenhaften Sich-Überschreiten des Menschen (zu irgendetwas, das höheren Sinn macht), ausgeht und die reflexe Erfahrung dieses Transzendierenden nicht von vornherein subjektivistisch verankert, sondern dass er von der Erfahrung einer »Wirklichkeit« (oder vorsichtiger: »letzten Bedeutsamkeit«) ausgeht, welche die Gegebenheiten unserer eigenen Welt übersteigt bzw. uns anzieht und zu sich erhebt. Es überkommt uns ein Anspruch, dessen Eigenart, uns in Anspruch zu nehmen, mannigfaltig zur Sprache kommen kann. Spricht man von Religion, so ist weiter zu klären, was unter transzendenter Wirklichkeit näherhin zu verstehen ist, wobei die oben genannten Zusatzmerkmale der Religion zu beachten sind.
5.2 Differenz und Zusammengehörigkeit von philosophischer Theologie und Religionsphilosophie
Mit diesem religionsphilosophischen und für die interdisziplinäre Arbeit offenen Definitionsvorschlag stellt sich das Problem der Einbeziehung philosophischer Theologie in die Religionsphilosophie (und damit in die Religionswissenschaften) oder umgekehrt, der Einbeziehung religionswissenschaftlicher Resultate (über die Brücke der Religionsphilosophie) in die philosophische Theologie, erneut. Ein beachtenswerter Entwurf, die philosophische Theologie in die Religionsphilosophie einzubringen, um so die Religionsphilosophie auf ihre philosophischtheologische Grundlegung hin zu erweitern, stammt von Bernhard Welte.16 Er ist systematisch insofern bestechend, als er das Verhältnis von Gott zum Menschen und vom Menschen zu Gott in seiner Untrennbarkeit zur Darstellung bringt, sodass nicht mehr nur in direkter Hinsicht von Gott und nur beiläufig vom Menschen die Rede ist oder umgekehrt, nicht mehr nur in direkter Hinsicht menschliches Sichverhalten 15 Ebd. 16 B. Welte, Religionsphilosophie.
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(Einstellungen, Verhaltensweisen und Gestaltungen) unter der Bedingung, dass der Mensch sich zu etwas Höherem verhält, in die Mitte rückt. Doch ist diese glatte Lösung, welche die philosophische Theologie der Religionsphilosophie eingliedert, problematisch. Philosophischer Theologie kommt nicht unmittelbar die Aufgabe zu, zu fragen, worum es eigentlich in den Religionen geht und was Religion letztlich begründet, sondern sie fragt, worum es im Grunde dessen, was überhaupt ist, geht. Philosophische Theologie überschreitet so wesentlich jede Religionsphilosophie. Religiös sein und Religion haben ist in all seinen Facetten eine Möglichkeit, die im Bezug des Menschen zum Sein gründet. Dieser Allbezug des Menschen ist nicht kurzschlüssig zu überspringen. Philosophische Theologie als Weiterentfaltung der Ontologie hat es notwendig mit ontologischen Implikaten bzw. Vorgegebenheiten zu tun, die unmittelbar kein Thema der Religionsphilosophie sind, wie beispielsweise deren Rede von einer ,letzten Wirklichkeit‘, die (elaborierbare) Kenntnis ontologischer Realität voraussetzt. Die in den Religionen brisanten Fragen nach einem letzten Wahrsein, Gutsein, Schönsein, nach Zusammengehörigkeit und Differenz, Einssein und Vielfältigsein der Religionen etc. zehren implizit von einem ontologischen Vorverständnis. Die Frage nach dem Grund des Seins des Seienden bzw. nach dem Menschen als dem für das Sein der Welt offenen Wesen überschreitet nicht nur die vom Reichtum der Religionen bestimmte Aufgabenstellung der Religionsphilosophie, sondern geht ihr sachlich voraus. Philosophische Theologie ist in einem nachbarschaftlichen Verhältnis zur Religionsphilosophie systematisch zu orten. Sie erschöpft sich nicht als Teilbereich der Religionsphilosophie, weil sie durch ihre ontologische Fundierung durchaus eigenständig ist. Das enge nachbarschaftliche Verhältnis der philosophischen Theologie zu den Religionswissenschaften ist freilich für sie nicht ohne Folgen. Es ist dialogisch wahrzunehmen. Philosophische Theologie kann an der heterogenen Mannigfaltigkeit religiöser Erfahrungen der Menschheitsgeschichte und an deren ontologischen Implikaten nicht vorbeigehen. Ihre Thematik wird daher auch indirekt durch das, worum es in den Religionen eigentlich geht, bestimmt. Aus der Nachbarschaft mit der Religionsphilosophie (sofern diese den Religionswissenschaften zugezählt wird) müsste daher auch die Aufgabe der philosophischen Theologie neu durchdacht werden. Vermutlich hat philosophische Theologie ihre Aufgabe nur teilweise erfasst, wenn sie sich überwiegend dem Erbe antiker Philosophie verpflichtet weiß und es ursprünglicher zu denken sucht. Durch die weltumspannende Makroökumene der Religionen wächst der philosophischen Theologie eine neue, sie ausweitende Aufgabe zu. Sie müsste konstruktiv und nicht ängstlich abwehrend mitbedenken, worum es eigentlich in den verschiedenen Religionen geht, beispielsweise im Erlöschen des
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Nirvâna, im allumfassenden Brahman, im Weg des Tao. Philosophische Theologie müsste sich als Gesprächspartner des Religionsphilosophen mit Erfahrungen, Daseinsdeutungen und Lebenspraktiken der Religionen auseinandersetzen. Sie ist damit in die brisante Problematik der ,Geltungsansprüche‘ der Religionen in ihrem Verhältnis zu- oder gegeneinander hineingezogen, die unmittelbar nicht ihr Thema sind: in die Modellrekonstruktionen des Pluralismus/Superiorismus/Inklusivismus/ Exklusivismus der Religionen und Religiositäten.17 Lassen sich religiöse Traditionen global als Teile oder Teilbereiche eines Systems rekonstruieren, die selbst wiederum systembildend und -transformierend weiterwirken, dann kommen grundsätzlich verschiedenste Möglichkeiten, im Verhältnis von Ganzem und Teil, Einssein und Mannigfaltigsein, in Frage. Auf diese Problematik sei kurz eingegangen, denn es lässt sich paradigmatisch leicht zeigen, dass in ihr unausweichlich ontologische Weisen eines Vorverständnisses – nicht ohne praktische Brisanz – walten.
5.3 Religionsphilosophisches zur Hinterfragbarkeit interreligiöser Kommunikation und Geltungsansprüche
Zunächst seien (etwas schematisiert) drei der wichtigsten religionsphilosophischen und -theologischen Grundmodelle interreligiöser Einheit und Vielheit vorgestellt, wie sie zur interreligiösen Kommunikation als maßgebend angesehen werden, und danach wird eine vierte Möglichkeit der integralen (nicht integralistischen!) Wahrung und Entfaltung ihrer legitimen Anliegen (Wahrheitsansprüche) erörtert. 1. Der theoretisch-ideologische Exklusivismus in gemäßigter Form nimmt an, dass der eigenen Position alle Wahrheit und positive Heilsrelevanz zukommt, mag es auch außerhalb der einzig wahren Religion individuelles Heil (ausnahmsweise oder auf außerordentliche Weise) geben. Der Exklusivismus, radikaler gefasst, hegt einen Absolutheitsanspruch. Aus ihm folgert man, dass die anderen Religionen überhaupt in der Unwahrheit stünden und ihre Mitglieder vom Heil ausgeschlossen seien. Jedenfalls seien die anderen Religionen nichts als (mitunter respektables) Menschenwerk. Auch können sie faktisch ignoriert werden oder unbekannt sein, aus dem religiösen Vollzug ausgeblendet (pragmatischer Exklusivismus) oder überhaupt im fundamentalistischen Größen-, Eifersuchts- und Verfolgungswahn als zu bekämpfende Übel angesehen werden. 17 Vorerst sei hier übergangen, dass zu ihnen wohl auf sie bezogene Phänomene, die unter ,Atheismus‘ oder Religionsverlust zu subsumieren sind, wie skeptische Atheismen oder nicht-antitheistische Agnostizismen gezählt werden müssten, aber auch atheistisch oder religiös motivierte Religionskritik und Religionspathologie.
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2. Der Inklusivismus billigt anderen Religionen ursprüngliche Wahrheit und echte Heilsmöglichkeit zu, die als eigene Teilwahrheiten angesehen oder vereinnahmt werden. Zunächst lassen sich Religionen bei Berücksichtigung der jeweiligen religiösen Sozialisationssituation für Einzelne als existenziell verbindliche und (relativ) unersetzliche gemeinsame Heilswege verstehen, weil in ihnen jeweils die Wahrheit des Ganzen im Fragment (oder ,Gotteswort im Menschenwort‘ und in menschlicher Institutionalisierung) gegeben ist. Dass die eigene Religion in einem alle anderen Religionen überbietenden Höchstmaß Wahrheit und Heilsmöglichkeit besitzt, nähert den Inklusivismus der Position eines gemäßigten Exklusivismus an, insofern zwar nicht an dessen Absolutheitsanspruch, aber doch an einem Superioritätsanspruch festgehalten wird. Die Intoleranz ist im Inklusivismus beachtlich gemildert, da nicht nur das Gewissen Anderer, sondern auch der ihnen eigene Bezug zur Wahrheit respektiert und ihren religiösen Wegen Heilsrelevanz zugebilligt wird. Ja in der Position eines sehr gemäßigten Superiorismus wird anerkannt, dass andere Religionen bestimmte Wahrheiten besser als die jeweils eigene Religion erkannt haben und auch authentischer leben. 3. Im Pluralismus wird die Mannigfaltigkeit der Religionen als eine ,gottgewollte‘ oder letzte Realität vermittelnde kontingente Gegebenheit verstanden. Alle Religionen (mindestens die großen Weltreligionen) bilden so in gleicher Weise sich kulturell unterschiedlich manifestierende bedeutsame Heilswege: »Religiöser Pluralismus ist das Ergebnis der göttlichen Selbstmitteilung im Wort und den vielfältigen Weisen, in denen Menschen auf das Göttliche antworten. Weil die Menschen von Natur aus gesellschaftliche Wesen sind und in der Geschichte stehen, können wir sagen, dass die verschiedenen Religionen verschiedene gesellschaftliche und historische Antworten auf die göttliche Manifestation im Wort sind. Der religiöse Pluralismus ist daher kein Übel, dessen wir uns entledigen müssten, sondern eine unausweichliche Situation, die es zu tolerieren gilt. Die anderen Religionen haben einen bleibenden Wert, der eher anerkannt, bewahrt und gefördert werden muss, denn abgeschafft werden dürfte.«18 Die positive Hinnahme der Pluralität der Religionen impliziert die Folgerung, dass keine Religion berechtigt sei, einen Superioritätsanspruch oder gar Absolutheitsanspruch zu erheben und andere Religionen herabzumindern. Denn absolut ist nur das Absolute, um das es in allen Religionen geht, und dieser Bezug zum Unbedingten ist ihnen nur auf mannigfaltige Weise (nach ihrer kontingenten Aufnahmefähigkeit) gemeinsam. Daher kann wenigstens prinzipiell keine Religion ihre Wahrheit (und Praxis) auf Kosten der Wahrheit (und Praxis) der 18 J. Kavunkal, Mission in the Context of Other Religions, 918.
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anderen behaupten. Der Pluralismus kann Religionen nur als kulturgeschichtliche, mehr oder weniger nur bedingt verbindliche Manifestationen ein und desselben an sich unfassbaren Unbedingten bzw. der transzendenten Realität verstehen. Plädiert die religionsphilosophische Position des Pluralismus für die unbedingte Hinnahme kultureller Diversitäten, dann entgeht ihr leicht der kritische Blick für Entstellungen der eigenen Religion in Theorie und Praxis, ebenso die ständige Aufgabe der läuternden Selbstkritik der eigenen Religion sowie der kritischen Hilfestellung der Religionen im Gespräch miteinander. In seiner relativistischen Abwandlung bringt der Pluralismus die Gefahr eines panoptischen Relativismus mit sich, der metatheoretisch eine Gleichwertigkeit und gleiche Gültigkeit der Ansprüche der Religionen behauptet und so in eine Gleichgültigkeit im Sinne teilnahmsloser Beliebigkeit des Verhaltens abzugleiten droht. Er kann sich auch selbst als eine Art die Religionen überschwebende und durchschauende Überreligion verstehen. Dem Pluralismus geht es um die unverkürzte, irreduzible und unhintergehbare geschichtliche Mannigfaltigkeit. Er wird ihr nicht gerecht, wenn er die Religionen wie ein vorhandenes Symbolkapital oder Weltkulturerbe eines globalen Marktes betrachtet und verkennt, dass wir es heute unausweichlich mit einem globalen Ineinander der Religionen zu tun haben, deren Koexistenzmodus uns neue, sensible und existenziell relevante Probleme aufgibt. In der heutigen Diskussion werden diese drei Standpunkte, die man wohl nicht zufällig als -Ismen (Exklusiv-ismus, Inklusiv-ismus, Plural-ismus) bezeichnet, meist gegeneinander ausgespielt und für unvereinbar gehalten. Dadurch scheinen mir die Integrationsmöglichkeiten der unveräußerlichen Wahrheit jeder dieser drei Positionen eher unterbelichtet. Sie könnten aber im Licht der jeweils anderen Wahrheit sich neu vertiefen und so gewinnen. Dazu kommt, dass die interreligiöse Begegnung in ihrer ganzen Breite, vom Gespräch (kein neuer -Ismus, auch kein »Dialogismus«!) bis hin zu verantwortbaren Weisen der Teilnahme am religiösen Vollzug miteinander (der sogenannten communicatio in sacris bzw. in spiritualibus), ein Reichtum wäre, der bedenkenswerte Mannigfaltigkeit entbirgt. Zunächst müsste das berechtigte Anliegen des Exklusivismus gewahrt werden, aber ohne ihn wiederum auf der Theorieebene als -Ismus zu vertreten. Ich gehe davon aus, dass es heute für die Mehrheit der Menschen faktisch noch eine eindeutige Herkunftsreligion gibt und nicht überall der Religionsverlust die Ausgangslage bildet. Hat jemand seine Herkunftsreligion eindringlich als einen verpflichtenden Heilsweg erfahren, dann kann sein Religionswechsel wie ein Ausweichen, eine Flucht und Prothesenbildung erscheinen und man kann sagen, dass er dadurch in einer anderen Religion kaum unbefangen sein Heil wird finden können. Es kommt nicht darauf an, was alles religiös interessant ist, sondern was existenziell von Interesse ist.
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Das ist die existenziell-praktische Wahrheit des Exklusivismus. Ich übersehe dabei nicht, dass der Religionswechsel bei Ausschluss einer doppelten Religionszugehörigkeit eine Notmaßnahme sein kann. Vorrangig geht es im Exklusivismus um eine Vertiefung bereits bestehender eigener Verwurzelung, um Festigung des Wurzelwerkes und dessen verwandelnde Weitung. Erst durch eine Verwurzelung in der eigenen Religion kann einem aufgehen, dass und wie andere, ja überhaupt alle Religionen einander (keimhaft, anonym) enthalten und wie sie in Dialog und kritischer Auseinandersetzung einander immer mehr durchdringen könnten, indem sie die Wahrheit des Inklusivismus bejahen, die vom Exklusiven des Exklusivismus befreit, sodass er aufhört, nur das Eigene zu suchen. Die Entdeckung der Zusammengehörigkeit einiger, ja aller Religionen bringt die eigene nicht in eine Konkurrenzsituation, sondern in ein neues Licht und lässt ihre Weite erkennen. Wesentlich ist, dass die Angehörigen der eigenen Religion nicht aus der berechtigen Sorge um die wahre Verehrung des Göttlichen, Heiligen, Absoluten oder Unbedingten zu nur mehr sich selbst zelebrierenden wahren Verehrern ihrer eigenen Gruppe mutieren. Ihnen könnte vielmehr aufgehen, dass die Wahrheit des Ganzen in ihrer Unergründlichkeit nur im Fragment, im ,Stückwerk‘ (rätselhaft wie in einem Spiegel oder als ,Gotteswort im Menschenwort‘ sowie menschlich institutionalisiert), gegeben ist. Beachten wir mit den Pluralisten, dass Religionen (insbesondere Stifterreligionen) geschichtlich einzigartige Heilswege (in selbst wieder kulturell mannigfaltigen Ausprägungen, beispielsweise Konfessionen) sind, die insgesamt auf dem Weg der Menschheitsgeschichte deren Heilsgeschichte darstellen. Ihre Vergleichbarkeit untereinander erscheint dann nur sehr begrenzt, was sich theoretisch in der Schwierigkeit widerspiegelt, einen nicht-analogen und eindeutigen Religionsbegriff sowie interreligiöse Fallstudien komparativer Theologie zu erstellen. Darin liegt kein Mangel der Religionswissenschaften, sondern hier wird deutlich, dass Religionen nicht die Verwirklichung eines abstrakten Allgemeinen darstellen, sondern so etwas wie singuläre Gebilde sind, die wie berühmte Berggipfel unserer Erde einander überragen. Sie überragen einander aber nicht durch ihre messbare Höhe, sondern qualitativ durch ihre Einzigartigkeit, die ihre Vergleichbarkeit einschränkt, weil sie einen unersetzlichen, einzigartigen und einander ergänzenden Reichtum tradieren und kreieren. Sucht man die religiöse Vielfalt und den Reichtum der Religionen ernsthaft zu würdigen, dann kann man auch keinen -Ismus des Pluralen (Pluralismus) vertreten, denn eine Absolutsetzung der großartigen Pluralität ist ihr ebenso abträglich wie die Absolutsetzung einer einzigen Religion, da die dadurch erstellte totalitaristische Einheit auf dem Weg synkretistischer Verschmelzung oder durch uniformierende Unterordnung (Subordination) schließlich in einen Beliebigkeitspluralismus verfällt.
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Kann anerkannt werden, dass das Ganze der Wahrheit aller Religionen in jeder einzelnen nur fragmentarisch anwesend ist, dann wird verständlicher, dass keine Religion auf die Dauer nur für sich bestehen und auf eine Begegnung mit anderen Religionen verzichten kann. Religionen sind vielmehr einander gegeben, um einander in die je immer größere Heilswahrheit einzuweisen. Sie können dann bei voller gegenseitiger Anerkennung ihres unersetzlichen, geschichtlich einzigartig gewachsenen Andersseins (und das wäre die unverzichtbare Wahrheit des Pluralismus!) nicht mehr statisch, unverändert, gleichgültig nebeneinander koexistieren oder einander exkommunizieren, sondern müssten sich (ohne ihre Eigenständigkeit synkretistisch im pejorativen Sinne globaler Nivellierung und Vermischung einzubüßen) reinigen, erneuern und verwandeln, und zwar aus jener Liebe, die nicht (nur) das Eigene im Fremden sucht, sondern dieses bei noch so großer Annäherung immer Fremdbleibende wahrhaft bejaht und aktiv sein lässt. Und so mag sich Teilnahme aneinander, ja ,Mit-teilung‘ (communio) sowie Wandlung im Wesen – wie zwischen Freunden und Freundinnen – ereignen.19 Was eine Freundschaft im Grunde lebendig hält, ist ja nicht Anpassung oder Angleichung, ist nicht ein ozeanisches Gefühl der Verschmelzung, ist auch nicht bloß funktionale Ergänzung oder Austausch (gar an kapitalistischer Warenzirkulation orientiert), sondern dass die in Freundschaft Verbundenen einander in ihrem Wesen freizugeben vermögen. Dadurch verweisen sie einander bei noch so großer Nähe zueinander in die je immer größere Ferne und Unergründlichkeit ihres Wesensursprungs als den Quell, aus dem heraus sich Nähe ereignen kann. In diesem Sinne kann sich je nach Begabung in freundschaftlicher Kommunikation im Sicheinigen und Einswerden von Religionen und ihren Mitgliedern Wandlung im Wesen ereignen, die das Eigene nicht preisgibt, sondern im Gegenteil zu integraler Entfaltung bringt. Religionen könnten, ohne einander zu beeinträchtigen, zusammenwachsen, indem sie in verstehender Begegnung zusammen wachsen, d.h. auch einander zur Vertiefung verhelfen. Synkretismus gewinnt dann einen positiven Sinn.20 Beispielsweise 19 Vgl. hierzu R. Bernhardt/P. Schmidt-Leukel (Hg.), Multiple religiöse Identität. Aus verschiedenen religiösen Traditionen schöpfen. 20 Dazu vgl. a.a.O., 297–290: R. Bernhardt, »Synkretismus« als Deutungskategorie multireligiöser Identitätsbildungen, unterscheidet drei Grundtypen (Symbiose, Fusion oder Amalgamierung und Integration der Elemente der einen Tradition in die Grundorientierung einer anderen). Bernhardt schlägt vor, an Stelle des schillernden Synkretismusbegriffes von »interreligiöser Relationierung« zu sprechen. In religiöser Mehrsprachigkeit lebende Personen müssten ihre authentische Grundhaltung im Glaubensverständnis wahren. Sie führen interreligiös einen Dialog, »der sonst zwischen verschiedenen Personen und Gemeinschaften stattfindet, in sich« (290). Die Identität ihrer Grundhaltung (gedacht ist besonders an die Identität des Christlichen) tritt damit umso deutlicher heraus.
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könnte sich dann eine Konversion im Sinne eines Übertritts von einer Religionsgemeinschaft (falls jemand zuvor ernsthaft in ihr gelebt hat!) in eine andere als überholt, ja u.U. als moralisch fragwürdig erweisen, wenn das Hineinwachsen in eine andere Religionsgemeinschaft die verwandelnde Beibehaltung und Vertiefung der eigenen, der Herkunftsreligion ausschließen sollte.21 Keinesfalls dürfte jemand in die Zwangslage geraten, die eigenen Wurzeln ab- oder ausreißen zu müssen. Ihre dankbare Vertiefung und Erweiterung in der Herkunftsreligion erscheint mir angesichts verwirrender und entwurzelnder Superioritätsansprüche jeweils anderer Religionen eine moralische Forderung. Ein Kriterium der Echtheit der eigenen Religionsausübung ist die unbefangene und liebende Anerkennung anderer (aller) Heilswege der Menschheit, weil sie letztlich derselben Quelle entspringen wie die eigene. Abschließend sei noch auf die diese Überlegung tragende Aussageabsicht hingewiesen: Die umstrittenen Geltungsansprüche der Religionen entstammen einem Vorverständnis hinsichtlich unterschiedlicher Verhältnisbestimmungen von Einssein und Mannigfaltigkeit. Sie sind auch dort, wo sie unter selbstbezogener Ausnützung eines in Religionen waltenden Anspruchs des Absoluten vorgetragen werden, streng genommen nicht aus einer Religion als solcher (im Extrem selbst gegen das Zeugnis ihrer Ursprungstexte) ableitbar, sondern Religionen entfalten sich in geschichtlich-anthropologischen Rezeptionsvorgaben, die hinsichtlich ihrer ontologischen Grundlagen hinterfragbar sind.
21 Dieses Hineinwachsen meint nicht notwendig das, was im Rahmen christlicher Ökumene eine fragwürdige communicatio in sacris, sondern was eine communicatio in spiritualibus bedeuten würde.
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6. Vierter Exkurs: Integrale Zusammengehörigkeit des Einen und Vielen im Sein (Walten) des Ganzen jenseits von Totalitarismus und Pluralismus
Vierter Exkurs
6.1. Annäherungen an einige Hauptfragen 6.1.1 Zur Unumgänglichkeit der Frage nach dem Eins-, Vieles- und Ganzsein für eine philosophische Theologie
Das Vorhergehende sollte und wollte keinen Grundriss der Philosophie der Religionen im Plural bieten; auf das Mit- und Zueinander der Religionsgemeinschaften in ihrer geschichtlichen Einzigartigkeit und die Unumgänglichkeit einer Makroökumene wurde vor allem deswegen eingegangen, weil uns in diesem Bereich das uralte Menschheitsproblem von Einheit und Vielheit, von Totalität und Pluralität beispielhaft und als Zündstoff für Konflikte entgegentritt. Es durchdringt alle Bereiche des Daseins und ist für philosophische Theologie von besonderer Bedeutung. Religionsgemeinschaften gelten als soziokulturelle bzw. moralische Einheitsbildungen von menschlichen Personen, die sich von einem Ziel (Worumwillen ihres Zusammenschlusses) her, das sie gemeinsam in Atem hält, als zusammengehörig erfahren. Was sie religiös erfahren und motiviert, legt sich ihnen als äußerste Möglichkeit, ganz zu sein und aus dem Daseinsgrund zu leben, aus, sei es durch Vielfalt in Polytheismen, durch Einheit bzw. Dreifaltigkeit in Monotheismen oder jenseits beider im »Nichts« versunken. Diese Gestalten des Ganzseins kehren in den Religionsgemeinschaften auch als eigenste Möglichkeiten des Dialogs und Zusammenschlusses wieder, und zwar als ein Geschehen der Einigung und Entfaltung in Vielfalt oder als Widerstreit, wo es erst recht um ,Sein oder Nichtsein‘ zu gehen scheint. Ihr Verhältnis zueinander und zum gemeinsamen Ziel beruht weitgehend auf ontologischen Vorentwürfen bzw. Implikaten, nicht ohne beirrenden Widerstreit in der Frage nach dem Einssein in unverkürzter Entfaltung von Vielfalt, was uns zu denken geben muss. Dieselben Implikate sind nicht nur mitbestimmend für das Gottesverständnis, sondern gleichfalls im Rahmen philosophischer Theologie auch im Hinblick auf eine später zu erörternde Philosophie der Schöpfung. In ihr ist auf eine Klärung des Verhältnisses von Einssein und Mannigfaltigsein oder von Einheit und Vielheit wenigstens in seinen Grundzügen zu dringen. Ist Schöpfung der Welt nicht eine der großen weltanschaulichen Erzählungen aus grauer Vorzeit, die der totalitären Denkform eines Ursprungs- und Einheitsdenkens entspringt, das sich seines Grundes zu
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bemächtigen sucht? Ist ihre Idee nicht angesichts des postmodernen Pluralismus hoffnungslos unhaltbar geworden? Wäre aber Welt doch so etwas wie Schöpfung, gewänne dann nicht ihre (in sich nicht reduzierbare) Vielheit des Mannigfaltig- und Einsseins im Ganzen und im Grunde höchste Fragwürdigkeit? ,Wieder-holt‘ dann Schöpfung im Reichtum der Diversitäten, Differenzen und Mehrdimensionalitäten die grenzenlose Fülle ihres Ursprungs? Oder steht ihre Mannigfaltigkeit im Gegensatz zur Einfachheit des Ursprungs, und sind Werden, Vielheit, Einzelseiendes, Begrenztes demgegenüber gemindertes Sein, Abfall? Versteht man Einheit als Einfachheit, die Mannigfaltigkeit aufhebt oder ausschließt, dann hätte Schöpfungsphilosophie eine haltbare Antwort auf die Frage zu geben, wie eine Vielheit aus einer letzten transzendenten Ureinheit hergeleitet werden könnte.1 Oder dasselbe in umgekehrter Richtung gefragt: Ist der sogenannte henologische Gottesbeweis ontologisch solid durchgeführt, wenn er vom wichtigen Gedanken der Grade des in Vielheit Auseinanderliegenden und des zu immer größerer Einheit Zusammengezogenen, also von Seinsstufen in der Welt, ausgeht und diese auf eine zugrunde liegende Ureinheit (griech. n, das Eine) zurückführt, die über aller endlichen Vielheit und Begrenztheit angenommen wird? Doch lässt sich überhaupt und grundsätzlich Einssein auf Vielfalt oder umgekehrt Vielfalt auf das Einssein zurückführen? Liegt nicht schon im alternativen Ansatz der Fragestellung ein Verkennen der implizierten ontologischen Sachverhalte vor? Gehören nicht vielmehr Vielheit im Einssein und Einssein in der Vielheit korrelativ so zusammen, dass eine Herleitung des einen aus dem anderen unmöglich ist? Kann überhaupt etwas sein, das nicht in irgendeiner Weise sowohl vielfältig als auch eins ist? Um solches sachgerecht zu erörtern, muss versucht werden, sich der Fragestellung unter In-Blick-Nahme der ontologischen Dimension von Einssein und Vielessein anzunähern.
6.1.2 Ausweitung einer Ontologie der Vielheit ontischer Einheiten (Entitäten)
Ein erster Schritt der Annäherung soll den Standards sprachanalytischer Ontologie entnommen werden. Diese Ontologie oder Allgemeine Metaphysik beschränkt sich methodisch auf das Seiende (im Modus innerweltlicher Vorhandenheit) und seine Zusammenhänge (Funktionen) oder allgemeiner gesprochen auf Entitäten (Seiendheiten) als allumfassendem ontologischen Begriff. Wenn sie Einheit und Vielheit expliziert, verwendet sie die kategorienübergreifenden Begriffe Entität und 1 Vgl. beispielsweise die Auswahl von Texten des Neuplatonismus: A. Fidora/A. Niederberger (Hg.), Vom Einen zum Vielen. Der neue Aufbruch der Metaphysik im 12. Jahrhundert.
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Einheit füreinander. Der allumfassende und überall verwendbare Begriff der Entität als Einheit unterläuft alle kategorialen Einteilungsbegriffe (wie Mensch, Lebewesen, physischer Körper). Er überschreitet, transzendiert sie und steht zutreffend für jedes Individuum, eben für jede Entität. Damit knüpft diese Ontologie an das klassische Lehrstück der transzendentalen Namen an, wo Sein (ens, entitas) und Einheit (unum) als konvertibel (d.h. als einander vertretbar und daher füreinander eintauschbar) angenommen werden:2 »Alles hat Einheit, wie auch alles Sein hat; alles ist ein Eines (wenn auch nicht unbedingt ein teillos Eines), wie auch alles ein Seiendes ist.«3 Wir haben es hier mit einer allgemeinsten Charakterisierung zu tun, die man von kategorialer Einteilung unterscheiden muss. So verschieden Seiende (Entitäten) aller Kategorien sind, sie sind immer Einheiten. »Als Entitäten haben alle Individuen ein gewisses Maß an Einheit, so dass man sie – wie alle Entitäten – als Ganze, als Einheiten bezeichnen muss.«4 Individuen haben in mannigfachen Weisen echte Teile, als deren Einheiten sie sich darstellen. Diese Teile können selbst wiederum Individuen, Ereignisse, Eigenschaften oder Sachverhalte sein. Hierbei drückt die allgemeinste Charakterisierung des Individuums durch den Ganzes-Teil-Begriff keine allgemeinste eigenschaftliche Charakterisierung des Seienden aus, sondern charakterisiert es relational, »denn es wird ja immer eine Beziehung ausgesagt, wenn man eine Teil-Ganzes-Aussage macht«.5 Meixners Ontologie beschränkt sich ausdrücklich auf die explanatorische Deskription des Ontischen, wie sie häufig als Standard analytischer Ontologie reklamiert wird. Als nächster Schritt der Annäherung an unser Vorhaben ist eine vertiefende Weitung des Ontologieverständnisses nötig. Methodisch ist dazu erst die Beschränkung auf die explanatorische Deskription zu dekonstruieren, und zwar insofern sie die fundamental-ontologische Konstitution des Seienden und damit den Sinn von Sein nicht genügend berücksichtigt. Auch eine noch so scharfsinnige Orientierung am Vorhandensein von Individuen als der (angeblich?) vertrautesten Kategorie des Seienden – weil ich solches Seiendes bin und weil du solches Seiendes bist – verdeckt, eingeschlossen im Horizont von abstrakter Seiendheit (Entität), dessen ontologische Herkunft aus der Arbeitswelt 6 und vermag daher das Vorhandensein als besonderen Seinsmodus des Anwesens von Anwesenden nicht erblicken. Darum 2 Auf dieses Lehrstück wird später ausführlich eingegangen. Vgl. auch dazu L. Oeing-Hanhoff, Ens et unum convertuntur. 3 U. Meixner, Einführung in die Ontologie, 22. 4 A.a.O., 45. 5 A.a.O., 25. 6 Einschlägige Überlegungen dazu siehe im nachfolgenden Band der Philosophischen Theologie im Umbruch.
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empfiehlt es sich, wie oben schon ausgeführt, vom Sein dieses innerweltlichen Seienden auszugehen, und zwar insonah und insoweit wir selbst dem Sein zu entsprechen haben, wir selbst zu sein haben und uns zu sein aufgegeben ist.7 Diese Aufgabe enthält auch, was uns hier bewegt: dass wir das Seiende in seinem Sein und (davon grundverschieden) das Sein selbst in seinem Grundcharakter des Anwesens und Waltens in der Mannigfaltigkeit seiner Weisen und Fügungen phänomenologisch zuzulassen (d.h. sich zeigen zu lassen) haben.
6.1.3 Zur Fragwürdigkeit der Rede vom Eins-, Vieles- und Ganzsein als Weise des Sichverstehens auf das Dasein
Wie und als was lassen wir die sich uns zeigende Erscheinung (ihr Offenbar- und Mitgeteiltsein) sein, damit wir dessen Seinssinn nicht verfehlen? Alles Einteilen als Kategorisieren und alles Definieren als Abgrenzen (sagen, was es ist und was es nicht ist) erfolgt immer schon als ein Sichverstehen auf das Eins-, Vielfältig- und Ganzsein von Seienden und aus ihm. Dieses vorgängige Sichverstehen gehört zur Weise, wie wir uns konkret, in gesammelter Anwesenheit auf Sein verstehen; es bildet so vorerst ein lebensweltliches Vorverständnis, das durch Reflexion nie adäquat einholbar, sondern nur in seinem Sich-Gewähren hinzunehmen und so phänomenologisch umschreibbar ist. Auch der Vorschlag, statt einer strengen Wesensdefinition nur eine umschreibende Definition (definitio descriptiva) zu verlangen, verkennt die Gegebenheitsweise des Seienden hinsichtlich seines Seins, zu der dessen Unbegreiflichkeit wesenhaft gehört, denn über alle Abgrenzungen und Einteilungen hinaus und durch alle hindurch bringt das Eins-, Vielfältig-, Ganz-, Anderssein eine notwendige Alleigenheit, einen transzendentalen Grundzug des Seins und des Seienden zum Ausdruck, und dieser Grundzug ist unzertrennbar mit dem Sein gewährt. Er begleitet das Sein in allen seinen Abwandlungen, was Einteilungsversuche der Weisen des Eins-, Vielfältig- und Ganz- und Anderseins nicht ausschließt, sondern auf den Plan ruft. Aber das Eins-, Vielfältig-, Ganz- und Anderssein als solches ist keine begrifflich fass- und einteilbare ,Entität‘. Es ist daher kein Mangel, wenn der Versuch, einen generischen oder spezifischen Einteilungsunterschied zu bilden, scheitern muss, sucht er doch vergeblich, das transzendentale, alles Kategoriale überschreitende und zugleich 7 Erst ein näheres Eingehen auf das Sichverstehen auf das Sein erschließt eine über die deskriptive Haltung hinausgehende ursprünglich ethische Dimension der Ontologie (Metaphysik). Siehe dazu unten über Metaphysik und Ethik den Abschnitt 7.
Vierter Exkurs
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durchwaltende Währen dieser Urphänomene aufzuheben. Aber nicht mit Ur- oder Grundbegriffen fängt das Philosophieren an, sondern mit der Offenheit für den Anspruch anfänglicher Phänomene; es besteht wesentlich im Aufschließen der Urphänomene und hängt nicht von begrifflichen Vorentwürfen oder Voraussetzungen ab. Fragwürdig ist auch, warum wir diese Erfahrung des Vielfältigen sowie des Einsseins des Seins von Seienden machen. Liegt es an der Eigenart des Anwesens des Anwesenden selbst oder an uns, den Menschen, dass wir alles so sehen und entsprechend handeln müssen? Oder liegt es weder nur am Sein des Seienden noch nur an uns, den Menschen? Und dann woran? Wenn uns (in unserem weltoffenen Dasein!) das Sein des Seienden nicht anders zugänglich ist denn als Offenbarkeit des Seienden als solchem im Ganzen unseres Daseins, so liegt es an unserer Erfahrung, dass wir uns als Menschenwesen in der sich ereignenden Entsprechung und unmittelbaren Zusammengehörigkeit (convenientia) mit dem Sein erfahren. Wir sind immer, wenn auch mitunter flüchtig (in die Vogelperspektive oder panoptische Phantasie ausweichend), unseres Daseinsganzen inne; wir erfahren uns so als für das Sichmitteilen und Offenbarwerden des Seienden im Ganzen freigegeben und diese Offenbarkeit als für alles Erfassen vorgegeben. Im konkreten Ek-sistieren in Weltoffenheit lassen wir Anwesendes sein (d.h. anwesen, währen und gewähren), was es als in Mannigfaltigkeit Versammeltes ist. Dazu gehören wir auch oder vor allem selbst als solche, die in Offenheit zum Walten der Welt mit Anderen Anwesende sind. Sein, Einssein und Mannigfaltigsein sowie ihr Ganzsein sind (in ihren analogen Abwandlungen) daher nicht als apriorische Urbegriffe (Kategorien, Verstandesbegriffe) oder Ideen der Vernunft zu verstehen, sondern ursprünglicher als Weisen des Sichverstehens auf das Dasein (im Selbst-, Mit- und In-der-Welt-sein). Die Weise, wie wir uns vernünftig auf das Sein in seinem Eins- und Vielessein verstehen, ist ein unmittelbares Offenbar- und Erschlossensein des Seinsganzen – anwesend in der pluralen Konstitution und Komposition der Seienden. Was ursprünglich Vernunft ist und besagt, ist aus unserem Vernehmen, aus dem verstehenden In-Empfang-Nehmen des Seienden in seinem Sein, zu bestimmen, ohne das überhaupt nichts und niemals etwas verstanden werden könnte. Vernehmendes Gewahren (d.h. der Zugänglichkeit inne sein) und Sein (Offenbarkeit) sind freilich dem Bestand nach keineswegs dasselbe, nicht identisch. Aber man kann unter Wahrung der Nicht-Identität von vernehmender Offenheit einerseits und Offenheit des Seins (der Welt) andererseits von einer vorgegebenen Identität des Bezugs sprechen, wodurch überhaupt erst ein Nennen, Begreifen, Aussagen in Begründungszusammenhängen und Mitteilen von Sein als Ganzem im Eins- und Vieles sein möglich ist. Mit anderen Worten: Sein ist immer Ganzsein als Einssein im Vielfältigsein; es
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bildet ein irreduzibles Urphänomen, das uns in unüberschaubarer Mannigfaltigkeit von Abwandlungen lebensweltlich schon bekannt ist und zu noch zu diskutierenden Einteilungsversuchen angeregt hat. Ein eindringlicher Hinweis Günther Pöltners erscheint mir vorweg wichtig: »Einheit kann niemals erzeugt oder hergestellt, sie kann immer nur hervorgerufen, ins Spiel gebracht werden. Und dazu ist es notwendig, dass sie sich als Einheit zuvor gezeigt hat.«8 Dem Kontext nach geht es darum, dass Einheit von Lebewesen nicht durch Zusammenstückung hergestellt werden kann. Dasselbe ist wohl überhaupt vom Aufgang des Ganzen in die Mannigfaltigkeit des Einsseins zu sagen. Dieser kann nie bloßes menschliches Konstrukt sein, denn alle Konstruktion setzt deren Zeigbarkeit im Offenen voraus, die sich als solche aber nicht machen lässt. Was das Hervorrufen und Ins-Spiel-Bringen des Ganzseins in Mannigfaltigkeit betrifft, so ermöglicht und gewährt dies erst jeden Herstellungsprozess, jede Hochtechnologie. Hier geht es methodisch aber nur um das Hervorrufen von Eins-, Vielfältig-, Ganz- und Anderssein in die Offenbarkeit des ins Wort Gerufenen, das primär (im Sinne von grundlegend) ein Nennen (durch An- und Zurufen) und erst sekundär ein Begreifen in seinen Seinsweisen ist. Solches Nennen lässt ins Ankommen und Anwesen gelangen, ohne das Abwesen aufzuheben; ja An- und Abwesen steigern einander, weil, was aus der Ferne im Ruf steht und in die Nähe gerufen wird, die Ferne nicht aufhebt, sondern in sie zurück zeigt.9
6.2 Grundriss einer Ontologie der Einheit und Mannigfaltigkeit bei Thomas von Aquin10
8 G. Pöltner (1972a), Schönheit. Eine Untersuchung zum Ursprung des Denkens bei Thomas von Aquin, 59. 9 Zum Unterschied von Name und Begriff vgl. vom Verf. (1997c), Sprachphilosophische Hinführung zu einer Theologie des Namens Gottes, in: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Bd. 2, 159–217. 10 Vgl. hierzu besonders J. A. Aertsen, Medieval Philosophy and the Transcendentals. The Case of Thomas Aquinas, 5. Kap.: One as Transcendental, 201–242.
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Ein weiterer Schritt der Annäherung sucht aus der Fragwürdigkeit des thomasischen Verständnisses jedwedes Seienden als Eins- oder Einessein in Korrespondenz zur Vielheit zu lernen. Er knüpft an den Grundriss der Ontologie des Thomas von Aquin in den Quaestiones disputate de veritate (q. 1, a. 1) an, einem vor allem aristotelisch inspirierten Text, der wirkungsgeschichtlich von größter Bedeutung gewesen ist. Um nicht in dem einschlägigen Artikel etwas unnötig zu vermissen, ist zu beachten, dass
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es in diesem Werk insgesamt nur um die Wahrheit (de veritate) geht. Diese ereignet sich in der wechselseitigen Übereinkunft (convenientia) von Sein und Menschenwesen als ,Wahr-sein‘, aber auch im Bedeutsamsein, was für Thomas u.a. Anteilgewähren und Vervollkommnen des Anteilnehmenden (,Gut-sein‘) besagt.11 Der Artikel geht von dem aus, was ist (id quod est): von allem und jedem Seienden (omne ens) in seiner Offenbarkeit und den Weisen seiner Zugänglichkeit für uns. Mit der Nennung von omne ens taucht ein Nest von Schwierigkeiten auf, denn es ist hier mit omne ens das Ganze der Seienden in einer bestimmten Bedeutung angesprochen, und zwar als das Gesamte, die Allheit der Seienden, also alle zusammen, zusammenhängend, sowie alle miteinander einzeln als sämtliche Einheiten betrachtet. Gewöhnlich versteht man unter Welt die Gesamtheit der Seienden (alles zusammen, was es da so gibt) und spricht terminologisch vom natürlichen Weltbegriff. Nun ist ein Ganzes nicht ohne seine Teile denkbar und umgekehrt. Der natürliche Weltbegriff beschränkt sich auf die faktische Summierung der innerweltlichen Seienden, die wie Teile ein Ganzes bilden, denkt aber das Weltganze als solches nicht. Das Weltverständnis, wenn überhaupt es in De veritate als Implikat angesprochen werden darf, ist jedoch ein ontologisches. Das Ganze ist nicht als Menge oder als (fiktiv) Gezähltes, als bloße Summe seiner Teile genommen, denn die Seienden werden übersummativ als solche verstanden, die Anteil haben an der nicht aufteilbaren Totalität des Seins. Sie sind sie selbst und haben daher nicht Teile des Seins genommen bzw. zerteilen sie das Sein nicht quantitativ wie einen Kuchen, sondern gründen in ihm, sind innerlich durch Sein konstituiert. Das Seiende, insoweit es seiend ist (ens inquantum est ens), das heißt, ihm Sein zukommt, steht hier im Vordergrund und bildet damit den Anfang der Metaphysik: die Ontologie. Die Sichtweise auf das in seiner Konstitution sich Konstituierende (im Sichereignen Zeigende) ist von der Sicht auf das Konstituierte (das Ereignete) zu unterscheiden. Dazu in gebotener Kürze:12 Dass die Seienden teilweise (partialiter) und nicht auf die Weise des Ganzen (non totaliter) das Ganze des Seins sind, schließt nicht aus, dass sie ontisch auch quantitative Ganze sind. Jeder Teil eines ,ganzen‘ Liters Wasser ist zur Gänze Wasser, während ein Teil eines Menschen kein Mensch ist. Das heterogene, aus unähnlichen oder ungleichartigen Teilen bestehende Ganze ist dem homogenen, aus ähnlichen oder gleichartigen Teilen bestehenden Ganzen überlegen. Die verschiedenen Teile der Organismen, Glieder und Organe, »bestehen im Ganzen«, sind »im Ganzen verbunden«, können abgetrennt wie eine abgeschlagene Hand nur noch 11 G. Pöltner (2001c), Vorläufer des Ereignisdenkens, 14. 12 Vgl. dazu L. Oeing-Hanhoff, Ens et unum convertuntur, 155–163; ders., Art. Ganzes/Teil, in: HWP, Bd. 3, Sp. 6 ff.
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äquivok eine Hand genannt werden, weil der Teil nicht für sich tätig ist. Eigentlich handelt ja nicht der Teil, sondern das Ganze. Deshalb gilt: Die Grundlage menschlicher Handlungen ist nicht der Teil, sondern das Ganze.13 Überdies nimmt Ranghöhe, Vollkommenheit der Seinsmächtigkeit eines Organismus, mit der Differenziertheit von Struktur und Gliederung zur Ausübung verschiedener Tätigkeiten zu. Das bedeutet aber auch eine höhere Weise des Einsseins, der Individualität. Hingegen ist jedes selbständige Einzelwesen, jede Substanz an sich (abstrakt verstanden), ohne Quantität, denn erst (konkret verstanden) durch das wesensnotwendige Akzidens der Quantität ist sie ein ausgedehntes und teilbares Ganzes. Konstituieren Seinsgründe wie Wesensform und Materie (als Weisen des Vollzugs des Seins) das Seiende, so haben wir es eigentlich mit einer Weise des Teilnehmens des Seienden am Sein zu tun. Dieses besteht dann als ein wesenhaftes Ganzes (totum essentiale) aus nicht-quantitativen »Wesens-Teilen« ( partes essentiales), die je nach der Vollkommenheit des Seienden (durch Wesensqualität und Eignung der Materie) seinem Ganzsein entsprechen. Damit ist deutlich geworden, dass sich die Sicht auf das Ganze mit seinen ontischen Teilen und ontologischen Konstituenten mit der Sicht auf das Einssein in Vielfältigkeit nicht völlig deckt, sondern kreuzt, besteht doch jedes Ganze in einer Mannigfaltigkeit von Teilen, die in einer besonderen Weise eins bzw. geeint sind. Kehren wir wieder zum ursprünglichen ontologischen Weltverständnis zurück. Es hat nicht das Seiende an sich, das heißt ontisch abstrakt, vor Augen, sondern dieses in seiner Zugänglichkeit, die es zulässt und ermöglicht. Zugänglich ist es nur, wenn es in der Möglichkeit der Offenbarkeit (Wahrheit) steht, die das jeweils uns begegnende Seiende im Offenbarwerden seiner Teilnahme am Sein im Ganzen offenbart. Im ontologischen Weltverständnis geht es um die Offenbarkeit des in seinem Seinsganzen verstehbaren Seienden, um das Seiende in der Offenbarkeit und Offenheit seines Seins. Damit ist der von Thomas berührte, aber nicht ausdrücklich gemachte Welthorizont angesprochen: Was jeweils und was immer ist (omne ens), ist (seinem Sein nach) da, anwesend, und zwar für ein offenständiges Vernehmen unmittelbar offenbar und zugänglich. Das jeweilige Seiende hat Sein, weil es (durch Teilhabe) jeweils sein Sein und Wesen zu eigen empfängt. Das Geschehen, in dem das Seiende, auf seinen Grund (das Sein) gestellt, von seinem Grund aus sich er-eignet, sich darin ins Eigene schickt und so erstellt wird (das sogenannte Subsistenzgeschehen), wird als Hinzukommen und Hinzugabe (additio) und näherhin als expressive Seins13 Thomas von Aquin, Sth II/II, q. 58, a. 2: Actiones autem sunt suppositorum et totorum, non autem […] partium et formarum, seu potentiarum.
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weise (modus expressus) des Seienden ausgelegt: Was ist, sagt uns etwas. Hier ist von der lautlosen ,Sprache‘ des sich von seinem Sein her ereignenden Seienden zu reden. Die Seinsweisen (modi communes), die aus dem Sein des Seienden hervorgehen (generaliter consequens) und das Gefüge der Subsistenzbewegung bilden, sind das Seiende (ens), das Etwas bzw. Ding (res) und das Einssein (unum), diese drei.14 Die Wendung ,das Seiende als Seiendes‘ ist doppeldeutig. Sie lässt uns von der Sache her (nicht vom Text her!) sowohl auf ein einigendes als auch auf geeintes Einssein blicken: Das Seiende ,west‘ als ,seiend‘ vormodal entspringen lassendes Sein, das sich selbst gibt. Das Sein teilt sich selbst mit, geht von sich her auf und kommt einigend (konstituierend) als geeintes (konstituiertes) Seiendes in dessen Selbstvollzug (als actus essendi) zur Darstellung, zur Gestalt. Die Seinsweise, wie sich hierbei Seiendes vollzieht, in sein Anwesen gelangt, verdankt es der Freigabe in sein Wesen (essentia) bzw. Wassein (quidditas). Das Seiende ist und vollzieht, was es ist: sein Sein. Auf Grund seines Seins vollbringt es sich selbst als die geeinte Einheit aller unterschiedlichen transzendentalen Bestimmungen (die daher konvertibel sind), zu denen seine Essentia gehört; es schließt sich im Unterschied seiner selbst, im Unterschied von Sein und Wesen, zur geeinten Einheit zusammen. Aus der einigenden Ursprungseinheit hervorgetreten, ist es so eins mit sich, ist es da, ist es gegenwärtig, teilt es sich in seinem Seinsgehalt (Wassein) selbst mit und bringt sich im Offenen zur Darstellung. In der vom Sein ausgehenden Bewegung der Einigung von Sein und Wesen ist Seiendes ein Etwas, eine Sache, dieses (An-)Wesende (res), das mit sich selbst eins, dasselbe, identisch ist. Und dieses Einssein (unum) des Seienden in sich wird nun von Thomas ins Auge gefasst, doch merkwürdigerweise, ohne auf die einende Einigung, die Durchdringung und Entfaltung des Unterschieds zwischen dem sich weggebenden Sein selbst und der geeinten Einigung des gestaltbildenden Wesens, zurückzukommen. Thomas scheint hier einem anderswo herkommenden Zugang zum Einssein zu folgen. Seiendes bildet ja kein wirres Chaos, sondern ist jeweils da, geht als es selbst auf und sagt sich uns phänomenal von sich aus als »Eines« (unum) zu. Anders könnte man ja gar nicht von einem Seienden reden, wenn es nicht irgendwie eins mit sich selbst (idem) wäre. Nur mit sich in Bezug auf sich selbst kann Seiendes (dem Bestand nach!) eins sein. Was jeweils da ist, ist deswegen keine fensterlose Monade, es wird vorerst nur »absolut« aufgefasst, das heißt abstrakt, für sich bestehend, noch ohne Rücksicht auf andere Seiende, somit in sich geschlossen (nicht verschlossen!) – gewissermaßen als prägnante Gestalt, die sich in ihrem Anwesen enthüllt, ausspricht und mitteilt. Gerade indem zunächst nur berücksichtigt wird, was jedes der 14 Hierzu und zum Folgenden vgl. G. Pöltner (1972a), Schönheit, 49–56.
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Seienden unter den vielen Seienden betrifft, enthüllt sich, dass es nur es selbst ist, indem es von jeglichem anderen geschieden ist. Gewiss kann ein Seiendes mit Anderen verbunden sein, an ihnen Anteil haben, ja selbst das Glied einer umfassenderen Einheit sein, aber nur insoweit es ,es selbst‘ ist. Insoweit Seiendes ganz es selbst ist, ist es in einer doppelten Weise eins und Eines: Es ist nämlich nicht nur in Bezug auf sich selbst eins, sondern auch insofern es sich in Hinordnung zu anderen (secundum ordinem unius ad aliud) befindet; und da verhält es sich selbst gesondert von (allem) anderen (ab aliis divisum), aber zugleich auch als ein Anderes (aliquid) zu anderen.
6.2.1 Das Einssein des Seienden als Ungeschiedensein in sich
Betrachten wir zunächst, wie sich Thomas das Eines- oder Einssein des Seienden in ihm selbst zeigen lässt. »Das Seiende wird ,eines‘ genannt, insoweit es in sich nicht geschieden ist« (ens dicitur unum in quantum est indivisum in se).15 Für das Einssein wird nur eine negative Umschreibung gefunden: indivisum in se. Das ist ein facettenreiches Wort: das Ungeschieden-, Ungeteilt-, Unzerteilt-, Ungetrenntsein des Seienden in sich. Diese bloß negative Umschreibung wurde oft für eine ungenügende oder sogar mangelhafte Bestimmung gehalten, worauf noch einzugehen ist. Mag sie sich auch als äußerst problematisch oder als ergänzungsbedürftig herausstellen, so ist hier doch das Bemühen um einen phänomennahen Zugang zu berücksichtigen,
15 Thomas von Aquin, De ver., q. 1, a. 1; vgl. auch In X Metaph., lect. 4, nr. 1985. Aristoteles, Met. X, Kap. 2, erblickt unter den mehrfachen Bedeutungen des Einen und Vielen das Wesen der Einheit im 2diareton, das ein Nichtauseinandernehmbares bzw. Nichtauseinandergenommenes im Gegensatz zum Auseinandernehmbaren bzw. Auseinandergenommenen, dem Zerlegten, ist. 16 Vgl. dazu Thomas von Aquin, In X Metaph., lect. 4, nr. 1991, 1995–1998; Sth I, q. 11, a. 2, ad 4.
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auf den Thomas anderswo hinweist:16 Was wir zunächst gewahren, ist solches, das ist, also Seiendes, und zwar dass dieses Seiende (hoc ens) nicht jenes andere (aliquid) ist, und damit eignet ihm das Geteiltsein (divisio) von vielen. Erst dieses anfänglich Wahrgenommene führt uns weiter zur Erkenntnis des Einsseins als Freisein vom Geteiltsein und schließlich dazu, dass das Einssein in Mannigfaltigkeit konstituiert ist. Von der Ordnung der Sinneserkenntnis her ist das ontisch Geteilte und Teilbare (divisum, divisibile) das, womit die Erkenntnis eigentlich anfängt. Von der Ordnung der Sache her (secundum ordinem naturae) hingegen ist das Einssein (und nicht das Geteilt- und Zerteilbarsein) der Vielen das Erste. Nach dem Gesagten zeigt sich Seiendes im Gang zur Erkenntnis zunächst nicht in seinem Ungeteiltsein, sondern im privativen Anwesen der Vielen, d.h. mit ihnen, von ihnen her, im Getrennt- und Geschiedensein von ihnen. Thomas wählt als Beispiel
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den Punkt, der als das definiert wird, was keine Teile hat bzw. das Prinzip der Linie ist. Doch um die negative Definition des Punktes zu verstehen, muss uns, was ein Punkt heißt, schon bekannt und vorgegeben sein. Hierbei wäre der Wesensunterschied zwischen einem lebensweltlich erblickbaren Punkt, einem kleinen (kreisrunden) Tupfen oder Fleck, einem typographisch punktförmigen Zeichen im Kontext und dem nur geometrisch vorstellbaren Gebilde elementarer Art zu beachten. Thomas scheint an Letzteres zu denken. Der geometrische Punkt gehört als Mittelpunkt zum Kreis oder er verbindet als Punkt Q die Koordinaten x und y oder er wird als mögliche Schnittstelle durch Linien generiert usw. Dieser Punkt ist absolut allein nicht verständlich, sondern nur in Verbindung mit einem metrischen Gebilde (einem in sich zur Einheit verbundenen Ganzen). Das Beispiel ist also höchst prekär. Seiendes begegnet primär (diffus) als Etwas (res) in der Fülle seiner Bedeutungen als Bewandtnisganzheit, als Wassein und Wesen. Was wir hermeneutischen Zirkel nennen, scheint Thomas hier auszuschließen: dass das Erkennen zwischen dem, was für uns früher ist, und dem, was von der Sache her später für uns kommt, hin und her geht: aus der Vielheit erkennen wir die Einheit, aus dem Geteilten das Ungeteilte – und umgekehrt.17 Versuchen wir nun, das als in-divisum gesichtete Einssein des Seienden zu verstehen: Es negiert zwar die divisio, ist aber dennoch keine begriffslogische Negation der Vielheit, also als solches kein Nicht-Vieles-Sein, auch nicht das durch eine doppelte Negation gegangene Aufgehobensein der Vielfalt und des Vielerlei. Es schließt vielmehr Vielheit (multitudo) nicht aus; ja es wird von dem, was uns da ringsum im Auseinandersein vorliegt, von der divisio der Vielen aus überhaupt erst entdeckt. Aber trotz dieses Entdeckens springt Thomas mit der negativen Bestimmung des Einsseins vom Entdeckten weg und achtet nicht auf das Einssein und das (jeweilige) Ganzsein, das ein Umgriffenes umgreift oder als Zusammenhalt verbindet. Bloßes Ungeteiltsein verbindet nicht, entfaltet und durchdringt nicht das Vielessein positiv (als positive Vollkommenheit), sondern es wird nur negativ als das In-sich-Freisein vom Geteiltsein in das Viele zugelassen. Immerhin kommt kein spekulativer Ausgang, sei es von der Abwesenheit oder von dem Aufgehobensein innerer Vielfalt, in Frage.18 Dieses In-sich-Einssein, inso17 Vgl. a.a.O., In Met., nr. 1995. 18 Thomas von Aquin, Sth I, q. 30, a. 3, ad 3: unum non est remotivum multitudinis, sed divisionis […]. Das indivisum des als solches (absolut) verstandenen Einsseins besagt für Thomas ein privatives Freisein von einer divisio und nicht die privative Ermangelung, das Fehlen der Mannigfaltigkeit, also keineswegs Unvollkommenheit. Weitere Belege bei L. Oeing-Hanhoff, Ens et unum convertuntur, 127 f. Meist wird übersehen, dass das lat. privatio ontologisch einen anwesenden Modus von Abwesenheit und so ein sich bekundendes Weg- oder Ausbleiben und nicht bloß ein Nichtvorhandensein (eine einfache Negation) besagt. Privation kann ein Fehlen, einen Mangel (ein
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Übel), aber auch ein ,Befreitsein‘ von einem Mangel (Schmerzen) oder einfach das ,Freisein von …‘ bedeuten. 19 Thomas von Aquin, De pot., q. 9, a. 7: Unum […] non addit supra ens nisi negationem divisionis, non quod significet ipsam indivisionem tantum, sed substantiam eius cum ipsa: est enim unum idem quod ens indivisum.
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weit es ein in sich Unzerteiltsein des jeweiligen Seienden ist, dürfte jedenfalls nicht selbst wie ein Seiendes (verdinglicht oder hypostasiert) vorzustellen sein, denn Thomas betont, es ist nichts zum Seienden Hinzugefügtes. Ein solches würde ja dann eine neue Einheit mit dem Seienden erfordern – und so weiter ins Endlose. Das In-sich-Einssein ist jedenfalls auch kein äußerliches Band der Einheit, vielmehr – hier meldet sich wieder die Sache – durchwaltet das Einssein vom Phänomen her gesehen das ganze Seiende: »Das Eine […] fügt dem Seienden bloß die Negation der Teilung [im Sinne einer Privation] hinzu; nicht dass es nur die Ungeteiltheit selbst bezeichnen würde, sondern die Substanz des Seienden mit ihr [der Ungeteiltheit] selbst. Es ist nämlich das unum dasselbe (idem!) wie das ungeteilte Seiende.«19 Nun ist für Thomas Identität das volle Einssein mit sich selbst. Damit durchwaltet das Einssein das ganze selbstständige Seiende. Was eins ist, ist das jeweilige Ganze. Aber dieses müsste sowohl ein aktiv einigendes als auch ein passiv geeintes Einssein umfassen. Die bloß negative Umschreibung des Eins-seins durch das Ungeteiltsein kann dazu niemals ausreichen. Somit ist mit der Ungeteiltheit des Seienden sachlich viel mehr angezielt, als die negative Bestimmung hergibt. Dass Seiendes nur als Ungeschiedenes es selbst und mit sich identisch ist, ist übrigens nicht mit abstrakter Ununterschiedenheit im Sinne von begrifflicher Unbestimmtheit zu verwechseln, aber auch nicht, wie schon angedeutet, mit der Annahme leeren Einerleis. Im Gegenteil, Seiendes ist im Aufgang seiner selbst (wie ein Same sich entfaltet) da – also vernehmbar; es enthält sich selbst, enthält als res sein Wassein (quidditas), sein Wesen (essentia) in Fülle. Die Unzerteiltheit in sich (indivisio in se) verneint zwar (solange es besteht) die Zerlegtheit oder Zerlegbarkeit des jeweiligen Seienden in ein Vielerlei (divisio ipsius in multa), schließt aber keineswegs das Haben von Teilen, von Akzidenzien einer Substanz oder der Möglichkeiten der Entfaltung zur Wirklichkeit, ja überhaupt innere Vielheit (multitudo intrinseca) aus. Einssein und Vielfältigsein schließen einander innerhalb eines Ganzen eben nicht aus. Nur insofern das Seiende in sich eine Mannigfaltigkeit versammelt, eins ist und (eigentlich ein geeintes) Ganzes ist, kann es nicht zugleich und in derselben Hinsicht ein (wie Schlachtvieh) Zerteiltes, ein in sich Zertrenntes, Zersplittertes oder Auseinandergenommenes sein, das ja andere Seinsweisen angenommen hat.
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Gleich ob sich ein Ganzes aus Teilen zusammensetzt oder in sich Seinskonstituenten versammelt (und eine divisio essentialis der Prinzipien des Seienden ermöglicht), es ist seinem Seinssinn nach notwendig mehr als diese Teile, mehr als die Akzidenzien eines selbstständigen Seienden oder mehr als dessen Seinskonstituenten (alle diese abstrakt nur für sich in ihrem Eigensein genommen). Es ist als Ganzes es selbst und als solches mit sich (samt seiner inneren Vielfalt) ungeteilt eins. An dieser Stelle müsste der Gedanke über Thomas hinaus positiv gewendet werden. Ein Ganzes ist eins und eines im Zusammenhalt und im Zusammengehören der Teile oder Konstituenten, also eins nicht trotz, sondern gerade mit und wegen des Vielfältigseins und durch dieses (im Sinne einer Vermittlung). Einssein ist nur in einer bestimmten Wesensfülle als Einssein des Mannigfaltigen und in Mannigfaltigkeit (in jedem Teil ganz anwesend) und in geeinigter und zum Miteinigen gebrachter Vielfalt zu verstehen.
6.2.2 Das Anderssein des Seienden
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Kehren wir wieder zur thomasischen Sicht des In-sich-Einssein des Seienden zurück. Hierbei darf man den ersten Artikel von De veritate nicht überstrapazieren. Er bietet keine Ontologie des Einsseins in (innerer) Mannigfaltigkeit. Es geht Thomas um etwas anderes, um das Seiende (in seinem Sein), das primär auf sein Anderes (ad alterum), auf den das Sein gewahrenden Intellekt (intellectus concipiens) bezogen ist. Näherhin geht es um die Wahrheit und das Gute als Übereinkunft des Seienden mit der menschlichen Seele. Daher geht es ihm nicht um Vielheit (multitudo) als solche, vielmehr um das Übereinkommen des Seienden mit dem Seienden.20 Wir verfolgen aber dennoch exkursartig dieses Nebenthema und fragen, ob und wie sich am jeweiligen Seienden der Bezug zur Vielheit oder umgekehrt von der Vielheit her zeigt oder zeigen müsste. Wenn Thomas die Einheit des jeweiligen Seienden betont, so hebt er doch zugleich hervor, dass das Seiende etwas ist, das von allen anderen unterschieden (aliquid in quantum est ab aliis divisum) ist. Thomas redet von »zwei Negationen«, durch welche die Vielheit von in sich ungeteilten Dingen angesprochen wird, »insofern nämlich etwas in sich ungeteilt und von den anderen abgeteilt ist. Dieses Geteiltsein 21 besteht darin, dass das eine von ihnen nicht das andere ist.« Gesagt ist also nur, 20 Vgl. die Klärung der Aussageabsicht bei G. Pöltner (1972a), Schönheit. Eine Untersuchung zum Ursprung des Denkens bei Thomas von Aquin, 60– 65. 21 Thomas von Aquin, De pot., q. 9, a. 7: cum unum addat supra ens unam negationem, secundum quod aliquid est indivisum in se, multitudo addit duas negationes, prout sciliet aliquid est in se indivisum, et prout est ab alio divisum. Quod quidem dividi est unum eorum non esse alterum.
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dass dieses Eine (von Vielen) eben nicht jenes Andere (von den Vielen) ist, sondern jedes ist jeweils es selbst und unter Wahrung der Unterschiede mit sich dasselbe. Alles Weitere in ihrem Verhältnis ist damit noch präzisiv offengelassen. In der Schulsprache wird die Ungeschiedenheit in sich selbst innere Einheit (ad intra) genannt und gilt als primäres Element der Einheit. Die Geschiedenheit von allem ringsum anderen, von der Umgebung, wird äußere Einheit (ad extra) genannt und gilt als sekundäres Element der Einheit, das aus dem ersten folgt. Dass und wie hier das Einssein gedoppelt zum Abschluss kommt, steht in dieser Einteilung außer Frage. Man kann sie außerdem leicht überinterpretieren, indem man das Grenzphänomen der Gestalt nicht für das kommunikative Wesen des ganzen Seienden, sondern primär für eine Be- und Abgrenzung gegen alles Äußere und wesensfremde Andere eines Seienden hält, die darin gründet, dass es sich selbst (seine Identität oder Individuation) behauptet. Damit wäre eine individualistische Position bezogen, die ja von großer Nachhaltigkeit war und den (post)modernen Pluralismus vorbereitet hat. Aus anderen Prämissen kann die Be- und Abgrenzung des Seienden deswegen auch dialektisch als geschehende Ausgrenzung der Anderen als Negation interpretiert werden, die ihrerseits (also doppelt) negiert zur Aufhebung oder zur verschmelzenden Einigung ihrer Unterschiede führen, aber auch mit totaler Vernichtung des Anderen enden könnte. Die an die Sache des Textes gehaltene Interpretation kann auch in eine andere als die individualistische Richtung weisen. Gewiss würde das, was sich nicht selbst im Aufgang der Gestalt zusammenhält, ins Grenzenlose zerfließen und würde dann nichts enthalten. Somit unterscheidet sich das Seiende von anderem, weil es nur so es selbst sein kann. Doch es kann nur sein, was es ist, wenn es durch seine Erscheinungsgestalt nicht nur in sich geeint, sondern auch von anderen unterschieden ist, sein Wesen zeigt und entfaltet. Aber was es ist, könnte es gleich ursprünglich nicht nur für sich, sondern für sie (die anderen Seienden) sein und umgekehrt die anderen für es. Das Sich-Unterscheiden im Austrag des Geschiedenseins von anderen geschieht immer auch um willen anderer und unter Wahrung des Einsseins mit anderen, und zwar so, dass das Einssein die Identität des Bestandes über sich hinaus zur Identität des Geschehens im Bezug wölbt, denn nur wenn Seiendes mit sich (dem Bestand nach) eins ist, kann es mit anderen (im Bezugsgeschehen) eins werden, ja eins sein (anwesen) in (Selbst-)Mitteilung (communicatio), in Teilnahme (participatio) und Übereinkunft (convenientia, consonantia) mit- und aneinander. Ein und dieselbe Grenze, die von anderen trennt, macht für andere berührbar, bringt in Kontakt. Daher das französische Sprichwort distinguer pour unir: Unterscheiden, um zu vereinigen. Die konkrete Gestalt des anwesenden Seienden ist Versammlung
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der inneren Fülle des Seins und konstituiert den kommunikativen Sinn des Seins in Grenzen mit. Sehen wir nun den Text genauer an, so will Thomas gar nicht nur sagen, dass jeweils das Eine nicht irgendein Anderes von vielen ist und umgekehrt. Das Seiende ist nach Thomas nicht nur faktisch jeweils eines unter vielen, das von den anderen getrennt vorhanden ist, sondern ist als solches wesenhaft selbst in Hinordnung auf viele da (ens in ordine ad aliud). Das konkrete Geschiedensein des Einen im Hingeordnetsein auf das Andere bzw. die und den Anderen hin (secundum ordinem unius ad alterum) und – ein neuer Gedankenschritt – des Einen von ihm gegenüber getrennten Anderen her (secundum divisionem unius ab altero) drückt nach Thomas der Name aliquid (irgendein anderes oder irgendetwas anderes von Mehreren) aus, was so viel heißt wie ein aliud quid, ein anderes Etwas (Was), ein anderes Anwesendes sein. Jenes Andere ist getrennt, nicht identisch mit diesem Seienden (hoc ens).22 Dennoch ist auch jenes Seiende ein Anderes, sofern es für Andere und von ihnen aus gesehen zu den von ihnen Verschiedenen, Geschiedenen und Getrennten gehört. Aliquid ist hier einer der transzendentalen Namen des Seienden, die mit ihm ,konvertibel‘ sind und es erläutern.23 Alles und jegliches Seiende ist also (vom anderen her gesehen) gleichfalls ein anderes Wesen, ein Anderes zu Anderen, und daher seinem Sein nach als Anderes konstituiert; es besteht seinem Anderssein nach als Anderes aus dem Bezug der Anderen zu ihm. Jedes Seiende ist nicht nur eines unter Anderen (singuläres Individuum), sondern es ist anders als alle Anderen und so ist es in seinem Anderssein ein Anderes. Es ist zwar deiktisch von außen (mit dem Zeigefinger, der es bezeichnet) aus einer Vielzahl als Dieses identifizierbar, aber primär ist es mit sich selbst Ein-und-dasselbe, von sich her dieses Andere, was einschließt, diese Andere oder dieser Andere (Jemand, Person) selbst zu sein.24 Das verharmlosend mit »irgendein Etwas« oder »ein anderes Etwassein« übersetzte aliquid versperrt den Blick für den grundstürzenden Ortswechsel der Blick22 Vgl. auch Thomas von Aquin, Opuscula philosophica: De natura generis, cap. 2, nr. 481: Aliquid namque idem est quod aliud quid, quod idem est quod n o n-h o c : omne namque ens est aliquid, ita quod non nisi illud solum. Die Authentizität des Werkes ist allerdings nicht gesichert. 23 Das Aliquid wird allerdings sonst (außer a.a.O., nr. 478, wo sechs Transzendenzien aufgezählt werden: ens, res, aliquid, unum, verum, bonum) nicht genannt. 24 Wichtig wäre hier die Unterscheidung zwischen Singulär- und Diesessein. Seiendes ist immer irgendeines unter vielen seiner Art, aber jedes Seiende ist auch einmalig. Es kommt ihm zu, Dieses (ja Diese oder Dieser da) zu sein. Sein gibt dem Soseienden Grund, eines unter anderen zu sein, aber so, dass es Grund jedes besonderen Individuums ist. Sein als Grund für Soseiendes, eines zu sein, ist Einzelheit, Konkretheit, Individualität, Singularität. Sein als Grund der einzigartigen Besonderheit des Individuums ist Diesessein, es besitzt nicht bloß das abstrakte Moment der Diesesheit (haecceitas). – Zum personal verstandenen Anderssein der/des Anderen siehe unten den fünften Exkurs: 7.3.
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richtung, der hier im Vorbeigehen angebahnt ist. Die Rezeption lief in der Bahn des Essenzialismus und hat das Wassein eines jeden Seienden hervorgehoben, jedoch sein kategorial nicht reduzierbares Anderssein unterschlagen. Wenn ThomasInterpreten das aliquid überhaupt unter den Transzendentalien anführen, so wird es meistens nicht als eigenständiges nomen transcendens aufgefasst, sondern (oft auch zusammen mit res) auf das im unum immer schon Mitgesagte reduziert. Was jedoch der ontologische Gedanke des aliud quid impliziert, wird deutlicher, wenn wir ihn existenziell wenden: Ich bin nicht nur inmitten aller Seienden (bei aller Wesensauszeichnung) ein Seiendes, sondern immer schon gleich ursprünglich unter den Vielen jeweils ein Anderer, ein Anderer im Verhältnis zu Anderen und, solchem Sichverhalten zuvor, von Anderen her. Ich bin meiner Herkunft nach von Anderen her primär und wesenhaft Mitmensch, wenngleich auch gleich ursprünglich mit ihnen dieser Mensch (sui generis, eigener Herkunft, einzigartig, heterogen in meinem Sein). Das würde aber implizieren, dass ein Ausgang nur von mir selbst (in exklusiver Subjektivität) seinswidrig wäre. Erst von Anderen her bin ich und kann ich ganz ich selbst sein, sofern diese Anderen mich in mein Eigenstes freigegeben und in meinem Anderssein zugelassen haben.
6.2.3 Transzendentale Vieleinheit der Seienden und Seinskonstituenten
Zusammenfassend wird in De veritate gesagt: »Wie daher ein Seiendes [seinem Sein nach] ,eins‘ genannt wird, insoweit es in sich ungeteilt ist, so wird es [ein anderes] ,etwas‘ genannt, insoweit es von anderen abgeteilt ist.«25 Als unum gehört das Seiende zu den transzendentalen Namen, die das Seiende »absolut« kennzeichnen, und als das jeweils andere Etwas zu denen, die es ,relativ‘, das heißt in Hinordnung auf Anderes und von Anderen her, charakterisieren. Als Anderes zu Anderen und nicht zuletzt als in sich selbst ontologisch differenzierte Einheit ist es daher notwendig in Vielheit gegeben.26 Die Übersetzung von divisum mit ,Geteiltsein‘ spricht unbeabsichtigt die Teilhaftigkeit eines Ganzen an. Einheit in Vielheit ist ja das Ganze aller Seienden (omne ens) im Sinne eines Gesamten, einer Allheit, zu der alles, was es da zusammen und füreinander gibt, auf dem Grund ihm zukommenden Seins gehört. 25 De ver., q. 1, a. 1: Unde sicut ens dicitur unum, in quantum est indivisum in se, ita dicitur aliquid, in quantum est ab aliis divisum. 26 Thomas von Aquin, De pot., q. 3, a. 16, ad 3: Non enim ex hoc quod aliquid dicitur esse unum, negatur quin aliquid sit extra ipsum quod cum eo constituat multitudinem.
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a) Vielheit als transzendentale Eigenheit des Seienden
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Von da aus war es naheliegend, der Vielheit den Rang und die Würde transzendentalen Seins zuzugestehen.27 Mit der Thematisierung der Vielheit überschreiten wir das im Beginn von De veritate textlich Gesagte, kaum aber die dort gedachte Sache. Die Vielheit entfaltet den inneren Sinn von Sein; sie gehört zwar zur Seinsmannigfaltigkeit der Transzendentalien, fügt aber dem Seienden nichts hinzu außer der Verschiedenheit (distinctio), durch die das eine der Seienden nicht das andere ist.28 Ihr Ursprung wird nicht vom Sein als Sein, sondern von der Konstitution des Seienden her gedacht, die sich freilich aus dem Sein, an dem Seiendes durch sein Wesen partizipiert, versteht: Die Vielheit entspringt dem Geschiedensein der Wesensformen (divisio formalis) und nicht einer stofflichen Aufteilung. Sie kommt durch Gegensätze oder unterschiedliche Formen zustande: »[…] und aus dieser Geschiedenheit folgt die Vielheit (multitudo), welche nicht zu irgendeiner Gattung, sondern zu den Transzendentalien gehört, insofern das Seiende durch Eines und Vieles unterteilt wird.« 29 Aber mit einer solchen Unterteilung, die ja keine kategoriale Einteilung sein will, ist philosophisch nicht viel gesagt, wenn nicht ihr Hintergrund, ihre Herkunft, der Grund ihrer Differenzierung mit in Frage kommt. Die Entfaltung der Frage, woher Seiendes seinem Seinssinn (ratio) nach immer Eines und Vieles sein soll oder was ein solches ,und‘ zu bedeuten habe, wird durch die negative Unterbestimmung des Einsseins beeinträchtigt; denn sobald nach dem Grund der Entgegensetzung von Eines- und Vielessein gefragt wird, zieht sich Thomas systemkonsistent auf die Ungeschiedenheit (indivisibilitas) als Sinn des unum und die Geschiedenheit (divisio) als Sinn der Vielheit zurück.30 Die Entgegensetzung ist aber nicht kontradiktorisch, sondern privativ zu verstehen: »Das Eine, das mit dem Seienden konvertibel ist, steht der Vielheit auf die Weise einer Privation entgegen wie das Ungeteilte dem Geteilten.«31 Privation ist hier nicht Mangel, Fehlen, sondern das Freisein von Geteilt27 Im krassen Gegensatz zur Hervorhebung des unum scheint mir bei Thomas von der multitudo nur mit einer gewissen Zurückhaltung die Rede zu sein. Doch obwohl das Wort transcendens erst im 13. Jahrhundert terminologisch verwendet wurde und bei Thomas nur vierzehnmal vorkommt, handelt die Hälfte dieser Stellen von der Vielheit (multitudo); vgl. dazu J. A. Aertsen, Medieval, Philosophy and the Transcendentals, 91, 225. 28 Thomas von Aquin, De pot., q. 9, a. 7. 29 Thomas von Aquin, Sth I, q. 30, a. 3: […] est diviso formalis, quae fit per oppositas vel diversas formas: et hanc divisionem sequitur multitudo quae non est in aliquo genere, sed est de transcendentibus, secundum quod ens dividitur per unum et multa. Ähnlich auch Sth I, q. 11, a. 1, ad 2: […] ens dividitur per unum et multa, quasi per unum simpliciter, et multa secundum quid. »Das Seiende wird durch Einssein und Vielessein unterschieden, gleichsam durch das einfache Einssein und in bestimmter Hinsicht Vielessein.« 30 Vgl. Thomas von Aquin, Sth I, q. 11, a. 2, s.c.: […] ratio unius consistit in indivisibilitate: ratio vero multitudinis divisionem continet. 31 Vgl. Thomas von Aquin, Sth I, q. 11, a. 2: Unum vero quod convertitur cum ente, opponitur multitudini per modum privationis, ut indivisum diviso.
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heit (Pluralität), das irgendeine Weise des Mitanwesens von Geteiltheit nicht ausschließt. Das im Seienden gründende Einssein ist jedoch durch das Mitanwesen der Geteiltheit in bestimmter Hinsicht (secundum quid) eingeschränkt und nicht einfachhin (simpliciter) als Eines zu verstehen; in einer bestimmten Hinsicht des Erblickbaren stellt es ein Vieles dar und umgekehrt sind auch einfachhin viele in gewisser Hinsicht eins oder kommen in Einem überein.32 Daher finden wir im Bereich des Seienden Einheit und Vielheit, doch so, dass das Seiende als einfachhin Eines nur in etwa (secundum quid) durch die Vielheit unterteilt wird. Das Viele wäre nicht im Seienden enthalten, wenn es nicht auf irgendeine Weise im Einen enthalten wäre.33 Ist hier ein Gefüge der Unterordnung – Sein, Einssein unter dem Seienden (sub ente) und Vielheit unter dem Einen (sub uno) – ausgesprochen oder bleibt nur offen, wie das Eine in sich differenziert ist? Einheit und Vielheit bilden bei Thomas nicht (immer) eindeutig einen echten, einander einschließenden und ergänzenden Gegensatz. Das Sachmotiv einer Weise des Sich-Offenbarens und -Mitteilens der Seinsfülle durch ein Einssein, das eint, indem es differenziert, und das Differente zur Entfaltung bringt, indem es eint, scheint unter der Dominanz des negativ bestimmten unum zurückzutreten.
In seiner sachlichen Tragweite ist es von kaum zu überschätzender Bedeutung, dass Vielheit (multitudo) nicht auf irgendeine Gattung (Kategorie, Prädikament) zurückgeführt, sondern als den Transzendentalien zugehörig erblickt wird. Wir sind (mindestens) seit Kant eher daran gewöhnt, dass in der Kategorien-Trias der Quantität der apriorische Verstandesbegriff der Vielheit zwischen Einheit und Allheit steht und Einheit zusammen mit Vielheit die Allheit (Totalität) bildet, wobei die Kategorie der Quantität eine der transzendental-logischen Begriffsformen darstellt, die zu den apriorischtranszendentalen Bedingungen der Denkbarkeit der in der Anschauung gegebenen Gegenstände gehört und sie aus Teilen zusammengesetzt erfahr- und zählbar macht. Hingegen vom konkreten Phänomen her dürften wir wohl zuerst in Mannigfaltigkeit gegebenes Anwesendes in seiner bedeutungsvollen Offenbarkeit erfahren. Um mit dem Messen und Zählen anfangen zu können, müssen wir das Anwesende erst als Gegenstandsbereich für ein handelndes Subjekt entwerfen. Um zu dem von Thomas Gemeinten vorzudringen, vergegenwärtigen wir uns vorerst den Zugang zur aristotelischen Kategorienmannigfaltigkeit, um den Un32 A.a.O., ad 1: […] remotio unitatis fundatur in aliquo uno. […] quod multitudo est quoddam unum […] quod est unum simpliciter, est multa secundum quid; et e converso. 33 A.a.O., a. 1, ad 2: […] ipsa multitudo non contineretur sub ente, nisi secundum quod aliquo modo contineretur aliquo modo sub uno.
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b) Zum Unterschied von transzendentaler und kategorialer Vieleinheit
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terschied zur transzendentalen Vielheit (der Seinsmannigfaltigkeit alles Seienden) zu verdeutlichen. Kategorien bilden notwendig eine Vielheit, weil sie allgemeinste Einteilungsgesichtspunkte darstellen, auf die hin Seiende (Individuen), die am Sein teilnehmen, ansprechbar sind und durch das, woraufhin sie angesprochen werden und hinsichtlich ihres Seins (das immer Eines und Vieles ist) ins Offene, Öffentliche und Offenbare gestellt werden. Zum Beispiel erblicken wir ein Hochhaus und sagen: »Das Haus ist so und so viele Meter hoch.« Wir sagen über es ,hoch‘ aus, wobei wir auf etwas Allgemeines wie Größe, Ausdehnung, in Metern gemessene Höhe – also auf Quantität, die sich von anderen Kategorien unterscheidet – geblickt haben. In analogen Abwandlungen wird ein gattungshaft-spezielles (generisches und spezifisches) Sein von Seienden innerhalb jeder Kategorie (als einer Hierarchie allgemeiner begrifflicher Differenzierungen) und durch alle hindurch beim kategorialen Beurteilen des Seienden mit ausgesagt. Die Vielheit geht wie das Sein und mit dem Sein und auf Grund eben der Seinsmannigfaltigkeit durch alle nach Gattung und Art begrifflich artikulierten Bereiche des Seienden hindurch, übersteigt, transzendiert sie und bildet so eine in diesem Sinne transzendentale Eigentümlichkeit des Seins. Das Axiom »Seiendes und Einssein sind konvertibel« (ens et unum convertuntur) müsste daher ergänzt werden: ,Seiendes und Vieleinheit sind konvertibel‘ (omne ens est unum multiplex).34 Seiendes ist ein in mannigfachen und mannigfaltigen Abstufungen und Abwandlungen ineinander Verfügtes.35 Beachten wir, dass Seiende in verschiedenen Graden ganz, und das heißt zugleich in verschiedenen Graden eins und vielfältig sein können, dann korrespondiert dem Einssein jeweils eine ihm entsprechend geeinte und ihm zugehörige Vielheit.36 Den wesentlich verschiedenen Stufen der Verwirklichung des Seienden und der Teilnahme am Seinsganzen entspricht eine der nichtquantitativen ,Höhe‘ des Einheitsgrades angemessene Vielheit. Das besagt, dass selbst noch, oder besser: erst recht, in der einfachsten Einheit, im Einssein Gottes als des Urhebers aller Seinsvollkommenheiten, in einem analogen Sinn die Seinsweise des Vielen in höchster Weise gewahrt ist. Eine transzendentale Vielheit, die dem, worüber sie ausgesagt wird, lediglich ein Nichtgeteiltsein hinsichtlich der Einzelnen hinzufügt, kann auch von Gott ausgesagt werden.37 Was in sich selbst geteilt und entgegengesetzt ist, ist 34 Zu diesem Axiom Caspar Ninks siehe unten 6.4.3.2 c). 35 In multiplex ist plecto enthalten, d.h. flechten, ineinanderflechten und -fügen. Der Gedanke des Schicksalhaften schwingt hier mit, vielleicht auch der der Vernetzung. 36 Zur multitudo correspondens uni vgl. Thomas von Aquin, De pot., q. 9, a. 7. 37 Thomas von Aquin, Sth I, q. 30, a. 3, ad 2: tantum multitudo transcendens […] non addit supra ea de quibus dicitur, nisi indivisionem circa singula. Et talis multitudo dicitur de Deo.
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38 Thomas von Aquin, Sth I, q. 4, a. 2: Cum ergo Deus sit prima causa effectiva rerum, oportet omnium rerum perfectiones praeexistere in Deo secundum eminentiorem modum; ad 1: […] quae sunt diversa, et opposita in se ipsis, in Deo praeexistunt ut unum, absque detrimento simplicitatis ipsius. De divinis nominibus; cap. V, lect.1, nr. 641: […] omnia causata […] in seipsis oppositionem habent et diversitatem, in Deo autem conjunguntur simul. 39 Zum Folgenden vgl. über die »Pluralität im Kontext des thomistischen Partizipationsgedankens« G. Pöltner (2005), Radikale Pluralität: »3.1 Partizipation als Einheit-Differenz« und »3.2 Freigabe der Vielheit durch Einheit«, 81– 85.
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in Gott eins, es präexistiert in ihm ohne Beeinträchtigung seiner unbegreiflichen Einfachheit und ist in ihm zugleich verbunden.38 Thomas geht jedoch nicht kurzschlüssig (ohne einen angemessenen Erfahrungsweg) von einer solchen Gottesvorstellung aus, sondern er orientiert sich zunächst am selbstständigen, in seinem Sein subsistierenden Seienden (der Substanz). Insoweit substanzielles Seiendes ist, hat es Sein; und es hat Sein, weil ihm Sein zukommt und ihm zu sein gegeben, mitgeteilt, kommuniziert ist.39 Seiendes partizipiert dadurch an der absoluten und einzigartigen Wirklichkeitsfülle des Seins. Teilnehmend am Sein ist das Seiende das Ganze des Seins, aber es ist dies eben nur teilweise (partialiter); es bringt in den unzähligen Abstufungen und Abwandlungen der Vielfältigkeit den Reichtum des Seins ins Anwesen, und zwar so, dass jedes Seiende das Sein wesensgemäß partikulär (particulariter) repräsentiert, darstellt und offenbart. Nun sind in der Teilnahme am Sein die Seienden jeweils selbst auf ihre ureigenste partikuläre Weise die Seinstotalität selbst und repräsentieren diese einander ergänzend mit- und füreinander. So ermöglicht gerade die Seinstotalität Pluralität durch Teilgabe des Seins. Im Sein kommen alle Seienden überein und sind auch zugleich voneinander verschieden und in sich differenziert. Jedes Seiende stellt sich selbst dar, es repräsentiert und enthüllt daher auf seine eigene Weise die innere Seinsmannigfaltigkeit, das Sein in Einheit und Vielfältigkeit, mit Anderen und von ihnen her. Demgemäß sind ontische Stufen, Ränge der Selbstständigkeit des Seienden und Abwandlungen seines Einsseins, aber auch darüber hinausgehende Weisen der Seinsmannigfaltigkeit oder Einheitsbildung (wie beispielsweise logische Einheiten) zu unterscheiden. Thomas differenziert sie systemkonsistent mehr vom Einssein als vom Ganzsein her. Diese terminologischen Festlegungen der Einteilung des Einsseins (dem jeweils eine Vielheit korrespondieren müsste) rückten in der Schulphilosophie in den Vordergrund. Einteilungen des Einsseins können als hilfreiche typologische Provisorien ohne Anspruch auf ein panoptisches System gelten. Philosophisch gesehen ist ihr Herkunftsbereich stets fragwürdig. Ohne näher auf diese phänomenologischen Bemühungen um die Einteilungen einzugehen, ist hier doch auf Probleme mit weltanschaulicher Tragweite zu verwei-
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sen. Die Frage ist nämlich, welchem Typus des Einsseins welcher Typus der Vielfalt korrespondiert. Wie ist jeweils das Vielfältige eins und der Eigentümlichkeit seines Einsseins gemäß in Vielfalt entfaltet? So korrespondiert der Charakter der Vielheit eines Sandhaufens oder einer Gesteinsformation nicht dem Einssein eines Lebewesens, das wesenhaft durch sich selbst zustande kommt. Oder negativ formuliert: Sind organismische Prinzipien der Selbstorganisation nicht in sich selbst mit hinzukommenden Einheiten und Zufallsbildungen kompatibel usw. Die Verwechslung und Vertauschung des Einheitsgrades oder der Art von Mannigfaltigkeit verschiedener Seinsstufen kann fatale Irrtümer zur Folge haben. Besonders eine dieser Irrtumsmöglichkeiten verkehrter Zuordnung hat Thomas in kritischer Auseinandersetzung mit Avicenna (Abû ‘Alî ibn Sînâ, 980 –1037) hervorgehoben, wenn er die Gleichsetzung von transzendentaler und prädikamentaler (kategorialer) Einheit sowie die These, dass jede Vielheit das Resultat quantitativer Teilung sei, zu widerlegen suchte.40 Thomas hebt den Unterschied zwischen dem Einen als transzendentaler Eigenheit des Seienden (unum quod convertitur cum ente) und dem Einen als Prinzip der Zahl (unum principium numeri) hervor. Dieser Unterscheidung entspricht der Unterschied zwischen transzendentaler Vielheit (multitudo transcendens) und zahlhafter Vielheit (multitudo numeralis).41 Die Gattung (Kategorie) der Quantität enthält der Art nach die Zahl (discretum) sowie die ungeteilte Ausdehnung bzw. Dauer (continuum), welche die Bestimmung der Ordnungen des Nebeneinanders und Nacheinanders ermöglicht. Die Zahl (das Gezählte, die Summe) ist eine durch das unum gemessene Vielheit oder eine Vielheit von Einheiten. Das Messen vollzieht aber der Mensch vermittels seiner erkennenden und imaginierenden Seele. Besteht das gezählte Ding auch unabhängig vom Menschen, so ist die Zahl als solche doch von der geistigen Seele (von jemanden der zählt) abhängig. Das unum principium numeri gehört zur Gattung des Mathematischen und mit quantum und continuum ist der Gegenstandsbereich (das Formalobjekt) der Mathematik bestimmt. Die Zahl entsteht aus der Teilung des Kontinuums. Man stelle sich eine Linie vor, deren Abschnitte durch einen Punkt geteilt sind und die weiter auf diese 40 Dazu Thomas von Aquin, Quaestiones Quodlibetales X, q. 1, a. 1, nr. 195. Zu diesem Unterschied vgl. L. Oeing-Hanhoff, Ens et unum convertuntur, 131–140; J. A. Aertsen, Medieval Philosophy and the Transcendentals, 212–231, der auf die Fragwürdigkeit der Avicenna-Rezeption des Thomas näher eingeht. In der Folge war vermutlich die Annahme von Johannes Duns Scotus wirkungsgeschichtlich bedeutsam, der das transzendentale Eine nicht für wesentlich vom Einen als Prinzip der Zahl unterschieden hält (Quaestiones subtillisimae super libros Metaphysicorum Aristotelis, in: Opera omnia, ed. Viv., Bd. IV, q. 2, n. 17). 41 Thomas von Aquin, Sth I, q. 30, a. 3: Multitudo [transcendens] autem sic accepta hoc modo se habet ad multa de quibus praedicatur, sicut unum quod convertitur cum ente ad ens.
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Weise unendlich teilbar ist. Was hier mathematisch unsinnlich imaginiert wird, ist keine Vernunftwahrheit, geht auch nicht auf die sinnliche Anschauung zurück, sondern ist Produkt der Einbildungskraft. Die Bedeutung der Unterscheidung von transzendentaler Vieleinheit und kategorial-quantitativer Vieleinheit ist erstens von großer Aktualität, da sie deutlich die Grenzen berechnenden Denkens zu markieren sucht, was die Unmöglichkeit impliziert, die Wirklichkeit als solche berechnend in den Griff zu bekommen. Dabei ist nicht an ein Nebeneinander transzendentaler und kategorialer Bereiche der Vieleinheit gedacht, weil ja die diskrete (zahlenhafte) oder kontinuierliche Art von Quantität in der trans zendentalen Vieleinheit gründet, die ihrerseits wiederum die gesamte Kategorienmannigfaltigkeit durchwaltet; jedoch soll die transzendentale Vieleinheit nicht mit kategorial-quantitativer Vieleinheit verwechselt, auf diese reduziert und mit ihr gleichgesetzt werden. Zweitens ist mit der Erkenntnis wesensverschiedener und dennoch analoger Stufen der Zusammengehörigkeit der Einheit und Einfachheit einerseits und der ihnen entsprechenden Ausfaltung in Vielheit und Mannigfaltigkeit andererseits das Eine und Einfache auch dort nicht von der Vielfältigkeit des Vielen ausgesperrt, wo eine quantifizierbare Pluralität nicht mehr in Frage kommt; erblickt werden ein Einssein in nichtquantitativer Vielfalt und die quantitativ nicht beschränkte Vielfalt im Einssein. Rückblickend auf das über die transzendentale und kategoriale Vieleinheit Gesagte ist hervorzuheben, dass es uns selbst, unsere Seinsweise leibhaftigen Lebendigseins betrifft, welche die menschliche Seele genannt wird, durch die der Mensch in Welt-Offenheit anwesend und dazu bestimmt ist, mit allem Seienden und dessen Offenbarkeit übereinzukommen (natum […] convenire cum omni ente). Insoweit der Mensch im leibhaftigen Allbezug auf eine bestimmte Weise (des Erkennens und Strebens) alles (quodammodo omnia) ist, hat er keine quantitativ gesonderten Teile, keine Teilvermögen, sondern verhält er sich in seinen einzelnen Wesensvollzügen immer gesamtmenschlich. Thomas legt im Anschluss an Augustinus dar, dass die Seele (als Vollzugsform menschlicher Leiblichkeit) gemäß der Ganzheit des Wesens (secundum totalitatem perfectionis et essentiae) in jedem Teil des Körpers »ganz« anwesend sei, fügt jedoch hinzu: nicht aber gemäß der Ganzheit ihrer Kraft und Wirkfähigkeit (secundum totalitatem virtutis).42 Sie ist somit nicht gemäß ihrem »ganzen« Wirkvermögen in jedem Teil des von ihr beseelten und durch Organe gegliederten Körpers, denn sie erfordert, beispielsweise für ihre Seh- oder Hörkraft (und deren Ausübung), die Ausbildung verschiedener Organe. Im Sehen und Hören sind wir auf verschiedene Weisen und dennoch als ganze Menschen präsent und unserer Sinne 42 Thomas von Aquin, Sth I, q. 76, a. 8.
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mächtig. Die sogenannten »Seelen-Teile« oder »-Vermögen« sind daher als Wirkvermögen nichts quantitativ Teilhaftes, sondern ein Ganzes hinsichtlich des Selberkönnens (totum potentiale) und der Mächtigkeit des Ganzen (totum potestativum). c) Zur Notwendigkeit einer kritischen Weiterführung
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Vergegenwärtigen wir uns nochmals die thomasische Grundposition: »Wie nämlich das Eine das ist, was nicht teilbar oder nicht geteilt ist, so ist das Viele das, was teilbar oder geteilt ist.«43 In ihr ist deutlich geworden, dass die Einheit nur negativ und als solche rein nichts-sagend bestimmt wurde. Das betrifft auch die Vielheit als solche, da im Dunkeln bleibt, was Einssein und Vielfältigkeit positiv und konkret einander bringen. Ein einigendes Sichentfalten und Aufgang in eine geeinte Mannigfaltigkeit, ein Entspringenlassen in sich selbst durch Sichunterscheiden, wie wir es faktisch bei Thomas in der Frage der Subsistenzbewegung oder auf den verschiedenen Stufen des Einsseins in Mannigfaltigkeit finden, lässt sich streng genommen nicht aus der negativen Bestimmung der Einheit heraus denken.44 Man kann es nicht bei der Begründung bewenden lassen, dass wir um das in unser Verständnis rufbare Einssein intuitiv wissen, aber nicht sagen können, was es ist, weil es für transzendentale Bestimmungen grundsätzlich keine Wesensdefinition geben kann. Gerade die Rückkehr in das Mysterium des Einsseins ist nur möglich, weil Einssein sich konkret, im phänomenalen Aufgang seines gleichfalls unbegreiflich bunten Reichtums an Vielfalt, in Vielerlei und Vielzahl bekundet und offenbart und darin sich die Korrelationen zwischen dem Einssein des Erscheinenden und der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen als im Sein gegründet erweisen. Negative Philosophie darf nicht als Ausrede für einen Begründungsnotstand missbraucht werden. Die Frage ist zu stellen, ob die Bestimmung der Einheit als ,Ungeteiltheit‘ dekonstruktiv auflösbar ist. Wie es dazu kommt, dass Einheit als Ungeteiltheit gedacht wird, hat Edmund Husserl überzeugend gezeigt. Gehen wir nämlich von der Definition der Einheit aus, wonach »Eines ist, was geeinigt ist«, dann ist dazu eine letzte Steigerungsform des Einsseins, ein Ideal der Einheit denkbar. Das Ideal der Einigung ist die Unteilbarkeit und deren Ideal wiederum ist der mathematische Punkt.45 Dieser wird bei 43 Thomas von Aquin, Compendium theol. 1, cap. 60, nr. 105: Sicut autem unum est indivisibile vel indivisum, ita pluralitas est divisibile vel divisum. 44 Vgl. hierzu auch G. Pöltner (1972a), Schönheit. Eine Untersuchung des Ursprungs des Denkens bei Thomas von Aquin, 34–48. 45 E. Husserl, Gesammelte Werke, Husserliana, Bd. 12: Philosophie der Arithmetik, 154: »Eines ist, was geeinigt ist. Die Einigung läßt aber Vollkommenheitsgrade zu; sie ist um so vollkommener, je inniger sie ist. Das Ideal der Einigung ist aber Unteilbarkeit, das Ideal der Unteilbarkeit der mathematische Punkt – folglich kommt der ,strengen‘ Einheit Punktualität zu.« – Welch ein Gegensatz
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Thomas als etwas schlechthin Unteilbares gedacht, das über seine Einheit hinaus nur lageverschieden ist. Der Punkt ist als »Zeichen der Teilung« einer Linie lediglich die Privation einer kontinuierlichen Verbindung und so diskrete Quantität.46 Das metaphysische Einssein (indivisibile, indivisum) ist damit in Analogie zum mathematischen ,Punkt‘ gedacht. Doch gerade auf Grund der thomanischen Unterscheidung des mit dem Seienden konvertiblen Einen und des Einen als Prinzip der Zahl verbietet sich jedes metaphysische Konstruieren in Analogie zur als Grundlage genommenen Mathematik. Aber der Philosophierende selbst kann der Gefahr verfallen, von einem (sogar methodisch) reduzierten Seinsverständnis auszugehen, welches das Seiende von der Seiendheit (entitas entis) her versteht. Die Seiendheit ist streng genommen die InBlick-Nahme des Seienden hin auf sein abstraktes Wesen, eine Wesensabstraktion, die von der Seinsfülle absieht, also keine ontologische, sondern eine essenzialistische Fassung des Seienden. Man spricht meist ins Unreine von Einheit und Vielheit, von Vieleinheit und Ganzheit usw. Beim Wort genommen werden hier Einssein und Geeinigtsein (entsprechend dem Suffix ,-heit‘) abstrakt, wie ein Wesensallgemeines, als Einheit und ebenso wird die Vielfalt des Sichentfaltenden abstrakt als Vielheit bestimmt. Einheit und Vielheit sind so Bestimmungen der Seiendheit (allgemeinste Washeit) und nicht des Seins (Anwesens, Waltens, Sichereignens) des Seienden. Dazu kommt die Gefahr, sich Einheit und Vielheit wie vorhandene Seiende verdinglicht vorzustellen, wodurch Einheit und Vielheit in Konkurrenz zueinander geraten, die es ja auch faktisch gibt. Setzt man die abstrakte Einheit der abstrakten Vielheit entgegen, so ist ihre Unvereinbarkeit oder dem Anschein nach echte Antinomie vorprogrammiert. Auf diesen tragischen Widerstreit der Möglich- bzw. Unmöglichkeiten, ganz zu sein als Eines und zugleich als Vieles, muss näher eingegangen werden.
6.3 Zur aporetischen Dialektik der verschiedenen Auffassungen von Einheit und Vielheit, Ganzem und Teil (Totalitarismus und Pluralismus)
zur chinesischen Schriftkultur, wo das Zeichen für Einssein bzw. Einheit wie unser Bindestrich (,–‘) aussieht, der das Zusammengehörige verbindet, d.h. sammelt, und zwar als Waagrechte, Horizontale, die Breite des tragenden Weltgrundes anzeigend. 46 Vgl. L. Oeing-Hanhoff, Ens et unum convertuntur, 138 f.
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Die abendländische Philosophie (und nicht nur sie) erscheint uns heute vom Vorherrschen eines totalitaristischen Einheitsdenkens bestimmt und durch mitunter extreme Pluralismen konterkariert. Das Plurale wurde häufig pejorativ als Unvollkommenes, Beschränktes, Vorübergehendes, Abstieg, Privation verstanden und aus dem
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übergeordneten Einen hergeleitet, ja auch wissenschaftstheoretisch und politisch abgewertet: »Wo Vielheit ist, da ist Zwietracht (ubi pluralitas ibi discordia)«, seufzt Wilhelm von Ockham, einen alten Gemeinplatz aufgreifend.47 Oder das Plurale wird umgekehrt als irreduzible, sich in Differenzen behauptende Letztgegebenheit angesetzt, woraus dann erst Zusammensetzungen (Aggregate) resultieren – ein ,-Ismus‘ des Pluralen, der Pluralismus. Die einander widerstreitenden, alternativen Konzepte des Ganz- und Einsseins sowie der anarchischen Vielheit sind hier unter dem Titel von ,Totalitarismus und Pluralismus‘ zusammengefasst. Gezeigt soll werden, dass diese Konzeptionen uns nicht vor eine echte Antinomie stellen. Es handelt sich um sachlich begründete Anliegen in Gestalt extrem einseitiger Auffassungen, die den Wahrheitsgehalt der gegnerischen Position nicht zu wahren verstehen. Ihr Widerstreit lässt eine innere Logik erkennen, insofern Schwäche und Ausweglosigkeit der eigenen Position die entgegengesetzte provozieren. Die widerstreitenden Positionen beruhen auf Privationen einer ursprünglicheren Auffassung des plural verfassten und sich entfaltenden Ganzen. Vielleicht verhält es sich hier ähnlich wie beim Kranksein, aus dem wir vieles über das Wesen des Gesundseins lernen können, da dieses für den Erkrankten und Genesenden, dem die Gesundheit noch fehlt und abgeht, anders und ursprünglicher hervortreten kann als dort, wo Gesundheit selbstverständlich ist. So lässt sich aus den Deformations- bzw. Privationserscheinungen des Ganzen methodisch eine aporetische Dialektik erkennen, aus der viel über das ontologische Wesen des Ganzen zu lernen ist und eine ursprünglichere Bestimmung des Ganzen aufleuchtet. Die Ganzheitskonzepte kommen dabei typologisch als totalitäres (totalitaristisches) und als pluralistisches Ganzes zur Sprache, wobei Typen randunscharfe Idealisierungen darstellen, die zumeist in unterschiedlichsten Legierungen vorfindbar sind: 1. Das totalitäre Ganze, auch Holismus (von lon, das Ganze) genannt: Als hologen be-zeichnet man ein Ganzes, das einseitig von der Einheit her konstruiert wird. Dieses kommt in zwei Grundformen zur Sprache: Die Teile oder Konstituenten werden auf Grund eines den Teilen überlegenen (pseudo-teleologischen) Ordnungsprinzips in ihrer relativen Eigenständigkeit aufgehoben. Entweder wird die Einheitsform so dominierend angesetzt, dass das Plurale überhaupt unterdrückt wird (a) oder ein Teilbereich wird als Ganzes absolut gesetzt und die übrigen Teile werden durch Unterordnung unterdrückt (b). 2. Das pluralistische Ganze, Merismus (von mroß, Teil, Anteil, Teil eines Ganzen, Stück): Merogen wird eine Einheitsbildung, die aus Teilen entstanden ist oder rekon47 Wilhelm von Ockham, Dialogus III, 2, 1c, 1.
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struiert wird, genannt. Das Ganze wird elementaristisch, additiv und summativ verstanden, und zwar als die Summe der Teile plus der Gesamtheit ihrer Wechselwirkungen; die Einheit des Ganzen ist hier nur Ergebnis einer ,Ansammlung‘, die nicht ein Erscheinenlassen aus dem Einigenden her ist (a), oder im extrem radikalen und heterogenistischen Pluralismus wird Einheit nur als Verstandesform unter Bejahung in sich selbst vielfältiger Differenzen oder Diversitäten zugelassen (b).
6.3.1 Das totalitäre Ganze
Im Anfang war das Ganze. Das Ganze wird aus der absolut gesetzten Einheit bestimmt und hebt jeden inneren Unterschied auf. Vielfältigkeit, Vielheit, Vielerlei gelten als ontologischer Abfall vom Ursein im Doppelsinn von Abwendung und Weltmüll. Die mit dem einigenden oder geeinten Einssein gegebenen Unterschiede sind nicht gleich ursprüngliche innere Unterschiedenheiten, die am Ganzen ihren Anteil nehmen, sondern nur äußere Modalitäten der Einheit, bloße Erscheinung, Schein – bis hin zur Illusion. Idee und Begriff werden der Einheit, sinnliche Erscheinung und Anschauung werden der Vielheit zugeordnet, und mit ihnen stehen wir in uns selbst in einem extremen Spannungsverhältnis – in einer ,schizoiden Position‘, uneins mit sich selbst für Einheit votierend. Alles ist im Ursprung so sehr eins, dass jede Vielheit nur als Abfall und Unvollkommenheit, als Vorläufiges, Zu-Überwindendes und letztlich Verschwindendes, nicht aber als letzte Vollkommenheit des sich vermittelnden Einsseins erscheint. Daher ist kein konkretes Seiendes das, was es selbst ist, sondern nur die mangelhafte Kopie seines Urbildes oder Urzustandes, mit dem es wieder eins zu werden gilt. Zunahme der Einheit geht einher mit Abnahme jeglicher Pluralität, begrenzter Teilhaftigkeit und schmerzlicher Abgetrenntheit. Es geht in allem um Rück- oder Heimkehr aus der Zersplitterung zur Unendlichkeit des Ursprungs. Vielheit ist eine uneigentliche Wirklichkeitsweise, während die eigentliche die Einheit ist. Auf das unersetzbare Anliegen dieser Position, nämlich die Erweckung zum Einssein als ungeteilter Daseinsvollzug, den wir miteinander teilen dürfen, ist noch mehrfach zurückzukommen.48 Die Einheitsvorstellung setzt sich nicht ohne repressive Gewalt totalitär in der Aufhebung, Verschmelzung, Absorbierung ihrer zu bloßen Momenten, Modalitäten, 48 Auf diese Seinsweise wurde schon im Rahmen der Übung zur Sammlung verwiesen, vgl. den zweiten Exkurs.
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a) Totalitärer Ausschluss oder einschmelzende Aufhebung der Pluralität
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Aspekten oder Ansichten herabgedrückten Mannigfaltigkeit der einzelnen Teile, Konstituenten oder Individuen durch, die nur als das sich gegen die Einheit Behauptende und sich Auflehnende (stsiß) und daher das Ganze Negierende angesehen werden. Die Einheit ist das ewig in sich Ungeteilte, das Nicht-Viele, die Negation alles Negativen (des Pluralen) und damit auch wiederum ihre mögliche Sammlung und Aufhebung, Bewahrung, Rückführung und Rettung. Das formal Einigende der Einheit, ihre abstrakte Negativität allein, bleibt dennoch, innerlich durch ,nichts‘ unterschieden, unstrukturiert und undifferenziert zurück. Was auf diese Weise absolut unvermittelt und ununterscheidbar in sich verharrt, dem mangelt es an Transparenz, an Selbsterschließung (Wahrheit), Selbstmitteilung (Gutsein) und an überbordender Konsonanz in der Pluralität der Transzendentalien (Schönheit). Das Rückführungsprogramm von der Vielheit zur Einheit verdeckt das leere und langweilige Immer-wieder, in das sich das ursprüngliche Anliegen, dass alles in einer in die äußerste Mannigfaltigkeit gehenden Weise eins sei und nicht zu einem Brei zusammenschmelze, verflüchtigt hat. Wir begegnen diesem Denktypus bevorzugt in monistischen Pantheismen, die das Sein alles Seienden als das Ur-Eine, Gott oder Göttliche in allem auseinanderliegenden Dasein auslegen,49 aber auch in entpersonalisierenden Ideologien. Beispielsweise sehen evolutionistische Erklärungen im menschlichen Dasein nur einen höheren Organismus, dessen Funktionen auf Überleben und Reproduktion ausgerichtet sind, sodass man sagen kann, ,Du bist nichts, die Evolution ist alles‘ – ähnlich einem Propagandaslogan des Dritten Reichs: ,Du bist nichts, dein Volk ist alles.‘
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b) Totalitaristische Einheit durch Unterordnung (Subordination) Diese Ganzheitskonzeption bestimmt die Einheit des Seins nur eingeschränkt negativ zu allem, was Besonderheit, Unterschied, Geteiltheit, unvertauschbare JeEinmaligkeit besagen, sowie als etwas radikal Ungegenständliches und damit unbestimmbar Leeres. Sie setzt die Einheit als abstraktes Wesensallgemeines oder dieses als inhaltlich bestimmtes Element bzw. im Uniformismus und Konformismus als vereinheitlichende Form an. Es geht um die Herstellung einer umfassenden, geschlossenen Ordnungsgestalt des Denkens, die sich des Einzelnen weder differenzierend annimmt, noch eine partizipative Entfaltung der Teile in Richtung des Ganzen sowie unter- und füreinander zulässt. Versucht wird vielmehr das, was ist, zu 49 Man beruft sich für ein solches, die Vielheit ausschließendes und von ihr abstrahierendes Einheitsdenken gerne auf Parmenides, dessen Grundanliegen damit völlig verkannt sein dürfte. Darauf soll später noch eingegangen werden.
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begreifen, das Ganze des Seienden herrschaftlich in den Griff zu bekommen, das Chaos der Erscheinungen durch immer allgemeinere und umfassendere Prinzipien zu bändigen, um es einer letzten begrifflichen Einheit zu unterwerfen. Diese übergeordnete Einheit ist nicht in sich unterschieden entfaltet, sondern unterscheidet sich von allem anderen durch Sichfortbestimmen, durch Unter- und Überordnung, durch begriffslogische Subsumption unter ein Allerallgemeinstes. Die konkrete phänomenale Gestalt (das Individuum) wird durch eine übergeordnete Begrifflichkeit (Gattung und Art) definiert und identifiziert und damit wird ihre konkret-geschichtliche Anwesenheit ausgeblendet oder zur Nebensache. Das begriffslogisch verkürzte Denken minimiert die Verschiedenheiten zugunsten des übergeordneten Wesensallgemeinen und schaltet damit das Plurale gleich. Seine Einheitsbildung, die das Gemeinsame einer Pluralität für das eigentliche Sein hält, schließt zwar Pluralität oder Entfaltung der Einheit nicht aus, sagt aber das begriffliche Gemeinsame univok von allen Einzelnen samt deren Verschiedenheiten aus. Diese werden dadurch zu bloßen Fällen des übergeordneten Allgemeinen degradiert. Nun sagt einzig das Allgemeine, was etwas ist, es bestimmt das Wesen. Dieses Wesensallgemeine rückt zum unwandelbar Bleibenden, zum eigentlichen Sein auf. Damit wird das einer Vielheit gemeinsame Wesen zum umfassenden und logisch übergeordneten Ganzen und damit zum eigentlichen Gegenstand der Wissenschaft. Die Vielheit dagegen ist dem raum-zeitlichen Wandel unterworfen, ihr mangelt es am Sein, sie ist ein relativ Nicht-Seiendes. Weil die essentia als das Wesensallgemeine (bzw. die Idee) dominiert, spricht man von einem Essentialismus. Dieser ist im Grunde keine Seinsphilosophie, sondern eine abstrakte Wesensmetaphysik. Ein wirkungsgeschichtlich mächtiger Strom abendländischer Metaphysik, der Platonismus, kann grob als Essentialismus charakterisiert werden50 und wird uns noch in Anspruch nehmen. Eine Variante der Subordination konkreter Vielheit unter das Abstrakt-Allgemeine ist als besonders erfolgreich hervorzuheben, weil ihr die Auffüllung der Leere des begrifflich-abstrakten Seinsverständnisses durch einen konkret erfahrbaren Inhalt gelingt, der auf diese Weise ontologisiert und verabsolutiert wird. Ein Teil (Teilbereich, Konstituente, beispielsweise der Wille oder der begreifende Intellekt, Nationalität, ethnische u.a. Zugehörigkeiten o. Ä.) wird auf der Ebene des Pluralen zur vorherrschenden Einheitsform des Ganzen erhoben (pars pro toto). Das Ganze wird von einem ersten Teil her gebildet, der, wenn er in chronologischer Zeit als Anfang oder Ende angesetzt wird, die ganze Zeitgestalt durchgehend dominiert. Die Iden50 Zum Terminus vgl. den Art. Essentialismus von H. Schneider in: HWP, Bd. 2, Sp. 751 –753. Zur Kritik der Wesensmetaphysik vgl. B. Weissmahr, Ontologie, 101–112; G. Pöltner (2005), Radikale Pluralität, 75 f., 85.
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tität des Ganzen im Walten des Seins wird in ihrer Fülle auf das Bestehen von etwas Bestimmtem zurückgeführt und damit identifiziert. Der Unterschied zwischen Identität der konkreten Seinsgestalt in der Teilnahme am Sein und kategorial-logischer Identität (dem substantiellen Bestand, der Qualität, Quantität, Relation usw. nach) wird verwischt. Das Ganze wird nach Art eines ,Einparteiensystems‘ etabliert, das repressiv vereinheitlicht und alles Andersartige unter die Herrschaft seiner Ordnungsmacht zwingt. Zu diesem Typus totalitären Denkens gehören die sogenannten monistischen Tendenzen, Ideologien und Weltanschauungen, die das Sein des Seienden inhaltlich sehr verschieden, zum Beispiel als Materie (Materialismen, Physikalismen), als Leben (Biologismen, Naturalismen), als Geist (Idealismen), aber auch anders auslegen wie zum Beispiel in Historizismen, Psychologismen und Soziologismen.51 Insgesamt verhält sich das jeweils Untergeordnete zum Übergeordneten als bloße Ausgliederung, Emanation, inferiore Abbildung, Derivation usw.; Gleichmacherei, Nivellierung, totes Einerlei herrschen vor. Die Pluralität wird durch Uniformierung inhaltlich depotenziert. Alle Einheit ist absolut, alle Vielheit relativ auf diese Einheit, weil durch sie einheitlich bestimmt, von ihr abhängig und in ihrem Dienst sich verzehrend. Es mangelt diesem Systemdenken der Sinn für echte Subsidiarität, weil nichts Einzelnes wahrhaft als es selbst gelten kann. Die verschiedenen totalitären Systeme liegen miteinander im Widerstreit oder zerbrechen an der von ihnen unfreiwillig demonstrierten Anarchie und drängen zu radikal anderen Lösungen.
6.3.2 Das pluralistische und anarchistische Ganze
Vierter Exkurs
a) Das elementaristische Ganze Statt mit dem Ganzen anzufangen, werden die Elemente für das Erstgegebene gehalten, womit man anfangen muss. Diese strenge, phänomenologisch nicht hinterfragte Alternative zum totalitären Ganzheitsdenken ist die Prämisse der elementaristischen Konstruktion. Der schillernde Ausdruck ,Element‘ besagt lateinisch als elementum zunächst Buchstabe, Laut und nimmt dann die Bedeutungen von griech. stoiceon an, das so viel wie Buchstabe, Laut, nicht weiter zerlegbare Grund- und Erstbestandteile, Beweisgrundlagen und oberste Allgemeinbegriffe bedeuten kann. Doch geht es hier nicht um elementare Bereiche unseres Weltaufenthaltes oder Ur51 Siehe dazu auch den dritten Exkurs (3.3.5): Ideologiekritische Dekonstruktion des begrifflichen Seinsverständnisses.
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52 G. Deleuze/F. Guattari (Anti-Ödipus, 53– 63), auf die noch einzugehen sein wird, radikalisieren diese antiholistische Version. Das Ganze wird »als Teil neben Teilen produziert«: »Wir glauben nur an Randtotalitäten. Und sollten wir auf eine solche Totalität neben den Teilen stoßen, so wissen wir, daß es sich um ein Ganzes aus diesen Teilen handelt, das diese aber nicht totalisiert, eine Einheit aus diesen Teilen, die diese aber nicht vereinigt, vielmehr sich ihnen wie ein neues, gesondert zusammengefügtes Teil angliedert.« (54) Oder noch radikaler formuliert: Zum Vielen (multiple) wird das Eine gar nicht mehr hinzugezählt, sondern die übergeordnete Dimension ist vom Vielen abzuziehen (G. Deleuze/F. Guattari, Rhizom, 11): »Das Eine [oder das aus einer Vielheit von Dimensionen mit einem Konsistenzplan faktisch Bestehende] ist nur dann ein Teil der Vielheit, wenn es ihr abgezogen wird.«
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stoffe (Erde, Luft, Wasser, Feuer u.Ä.). Gemeint sind vielmehr elementare Teilchen (Einheiten), aus denen sich alles zusammensetzt. Das elementaristische Ganze ist ein Ausdruck für eine Einheit, die durch die Bildung der Summe (Menge) tatsächlich vorhandener Einzelelemente (Individuen) sowie ihrer Wechselwirkungen gewonnen wird. Die Einheit des Ganzen kommt summativ oder enumerativ zustande. Das Ganze (Komplexe) bildet sich durch Summierungseffekte (summativ) oder Zusammenzählung (enumerativ) des unaufhebbar Pluralen. Es setzt sich aus ,A-tomen‘, elementaren Bestandstücken und Modulen zusammen, die durch bestimmte Funktionszusammenhänge oder Mechanismen Gesamtkomplexe bilden. Problematisch ist die Extrapolierung, die Meinung, dass alle Einheit summativ-aggregativ oder additiv-stückhaft auszulegen sei, d.h. analytisch auf die Summe ihrer Komponenten plus dem Effekt effizienter Wechselwirkungen zurückzuführen sei. Einheit und Einigung wären demnach immer nur nachgeordnetes Ergebnis der als Gesamtheit aufgefassten Zusammensetzung und des Zusammenwirkens – ein ens rationis, nichts Reales, niemals etwas Ursprüngliches. Das gilt auch vom Begriff ,Teil sein von …‘. Die durch die besonderen Eigenschaften der Individuen und ihrer Wechselwirkungen zu erklärende Gesamtleistung könne zwar etwas (sogar qualitativ) anderes als die bloße Summe unkoordinierter Einzelleistungen sein, bedeute aber nicht ein ursprüngliches Mehrsein (plus esse) auf Grund einigenddifferenzierenden Seins.52 Dies besagt, dass beispielsweise jeder Unterschied zwischen dem Einssein eines selbstständigen Seienden, das sich als in und durch sich einigende Einheit (unum per se) in geeinter Pluralität darstellt (unum simpliciter), und einer nur (nachträglich!) unter gewissen Rücksichten hergestellten Einheit (unum secundum quid) eingeebnet wird. Das heißt, geologisches Konglomerat, Sonnensystem, Haus und Computer sind im Hinblick auf den Charakter ihres Einsseins im Prinzip gleich Pflanze, Tier und Mensch gebaut; nur ihr Komplexionsgrad ist jeweils ein anderer. Der alle Weisen des Ganz- und Einsseins nivellierende Grundzug frappiert als verkappte Version eines totalitären Einheitsdenkens, aus dem sich folgerichtig die Forderung nach ei-
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ner »Einheitswissenschaft« erheben konnte. Führender Vertreter dieser um nachhaltige Klärung der Grundbegriffe bemühten Auffassung war Moritz Schlick, aus dessen Anregung bekanntlich der Wiener Kreis hervorging. Sein logischer Positivismus war in der Frage nach Ganzheit und Summe allgemein an dem für Einzelwissenschaften Beobachtbaren und an der zweckmäßigen bzw. brauchbaren Beschreibbarkeit im Interesse berechenbarer Lebensbewältigung orientiert.53 Durch die Rückführung von allem auf nichts als ein Gesamtverhalten von Elementen, Teilchen eines Systems in verschiedenen Kombinationen und Komplexionen, wird weder der unvertauschbar-einmalige Sinn des einzelnen Anwesenden noch dessen Entfaltung über sich hinaus aus dem erfahrbaren Anwesen im Ganzen des Seins berücksichtigt. b) Ganzheitskonzeptionen radikaler Pluralität
Vierter Exkurs
Mit dem Schlüsselwort »Radikale Pluralität« bezeichnet Wolfgang Welschs brillantes Plädoyer den »Postmodernismus«. Die postmoderne Pluralität »schlägt auf eine Vielheit der Horizonte durch, bewirkt eine Unterschiedlichkeit der Rahmenvorstellungen, verfügt eine Diversität des jeweiligen Bodens. Sie geht an die Substanz, weil an die Wurzel. Daher wird sie als ,radikale Pluralität‘ bezeichnet.«54 Mit der Wurzelmetapher ist der Wesensbereich, aus dem etwas entspringt und zu verstehen ist (letzte Realität, Untergrund, Materie u.Ä.), angesprochen. Doch mit der Metapher ,An die Substanz und ihre Wurzel gehen‘ ist eine umfassende In-Frage-Stellung gemeint: Ins Schwanken kommt das, was man für substanziell wesentlich gehalten hat, das von unten her substanziell Aufragende (lat. ,sub-stare‘ ), das zur Erfüllung des von sich her aufsteigenden höheren Aktualitätsbereiches in den Wurzelgrund absteigen muss, weil es sich innerhalb seines vereinheitlichten Bezugs zum Grund (,Boden‘) und zum Ganzen (,Rahmen‘, ,Horizont‘) als differenziell erweist. Durch diese In-Frage-Stellung dringt das Konzept der Vielheit in bisher Grundlegendes vor. Beispielsweise kann sich das Selbstseiende, das cartesianische Subjekt als Systemprinzip, in einen Aggregatszustand auflösen. So meint Nietzsche (und vor ihm ähnlich der ,postmoderne‘ Spinoza): »Die Annahme des Einen Subjekts ist vielleicht nicht nothwendig, vielleicht ist es ebensogut erlaubt, eine Vielheit von Subjekten anzunehmen, deren Zusammenspiel und Kampf unserem Denken und 53 Vgl. M. Schlick, Über den Begriff der Ganzheit. Diese ist mit allen ihren Teilen und deren Beziehungen identisch, sodass »die Aussage, irgendein Geschehen werde durch das Ganze bestimmt, gleichbedeutend ist mit der Aussage, es werde durch alle seine Teile und deren Beziehungen untereinander bestimmt« (692). »Die vollständige Beschreibung des Verhaltens der Teilchen eines Systems enthält bereits die lückenlose Beschreibung seines Gesamtverhaltens […].« (694) 54 W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, 4.
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55 F. Nietzsche, KGW, Abt. 7, Bd. 3: Nachgelassene Fragmente (1884/5), 382; vgl. Abt. 6, Bd. 2: Jenseits von Gut und Böse I, 12 (1886), 20 f.: »Seele als Subjekts-Vielheit.« Diese depersonalisierende Konzeption des Menschen hat bereits Spinoza ausgearbeitet, für den bekanntlich das hoch komplizierte Körpersystem dem ebenso hoch differenzierten Ideensystem entspricht. In beiden Systemen ist der Mensch nur eine Teilwirklichkeit, die wieder aus Teilwirklichkeiten gefügt ist, die selbst wiederum wie eine der Mikrowelten in den Makrowelten zu verstehen sind. Obwohl keine direkte Brücke von einem System zu anderen führt, stellt der Mensch die partikuläre Wiedergabe eines und desselben Dings in zwei verschiedenen Medien dar, den beiden uns bekannten unter den unendlich vielen göttlichen Attributen. Da die identische res allein Gott ist, handeln wir und denken wir im Grund eigentlich nicht selbst in den uns eigenen Handlungen und Gedanken, sondern allein Gott handelt mit unseren Handlungen in sich und denkt mit unseren Gedanken in sich. So wird der Mensch, sub specie aeternitatis betrachtet, im Gott Spinozas zu seinem höheren Glück völlig zum Verschwinden gebracht. Das ontologische Fundament ist der Notwendigkeitsgedanke, wonach Gott seine unendliche Wesensmacht ausdrücken muss, und zwar sowohl in seinen unendlichen Attributen als auch in seinen zwei uns zugänglichen endlichen Attributen (Körper- und Ideensystem) auf unendliche Weise von den kleinsten bis zu den größten Dingen. Das macht Spinoza für die Konzeption eines radikalen Pluralismus und für eine meristische Rezeption interessant. Zu dieser vgl. G. Deleuze, Spinoza et le problème de l’expression. 56 G. Deleuze/F. Guattari, Rhizom, 41; vgl. 6. 57 A.a.O., 13. 58 Vgl. a.a.O.; W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, 141 f. 59 Vgl.: Schelling bemerkt in »Clara oder über den Zusammenhang der Natur mit der Geisterwelt« (Schellings Werke, Ergänzungsbd. 4, 139), »daß alles Göttliche hier nur Erscheinung, nicht Wirklichkeit ist, daß selbst das Geistigste nicht frei, sondern nur unter Bedingung hervorkommt,
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überhaupt unserem Bewußtsein zu Grunde liegt. […] Meine Hypothesen: das Subjekt als Vielheit […].«55 In diesem Sinne ruft uns Gilles Deleuze (1925–1995) zu: »Seid nicht eins oder viele, seid [im Sinne des Substantivs] Vielheiten!«56 Für ein depersonalisierend und pathologisch bewertetes und dadurch möglicherweise qualvoll negiertes Erleben, eine multiple Persönlichkeit zu sein (heute auch dissoziative Identitätsstörung genannt), kann man aus der Erklärung, dass Einheit nur ein Schein- und Trugbild (simulacrum) ist, rationalisierend Entlastung ziehen. Eine Retorsion, welche das Einssein als dem Erlebnis und der Selbstaussage der multiplen Persönlichkeit vorgängig anerkennt, weil der einheitliche Selbstvollzug der Person erst die Bedingung der Möglichkeit abgibt, sich als multiple Persönlichkeit zu erfahren und zu denken, kommt nicht in den Bereich des Fragens, denn »nur wenn das Viele (multiple) als Substantiv, als Vielheit (multiplicité) behandelt [also substantiviert] wird, hat es keine Beziehung mehr zum Einen als Subjekt und [zum Einen als] Objekt, als Natur und Geist, als Bild und Welt«.57 Verweilen wir einen Augenblick bei dem von Welsch als einem der Kronzeugen für die postmoderne Position angeführten Gilles Deleuze, dann gewinnt die Metaphorik der Wurzel ein durchdachtes Profil, das vielsagend deren ganze Problematik aufdeckt:58 Dass überhaupt der in der idealistischen Morphologie gemiedene Wurzelbereich in Frage kommt, ist schon beachtenswert.59 Doch geht es nicht um
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Wurzelfassung im tragenden Erdreich, nicht um ein Übernehmen gründenden Begründetseins, also nicht um ein Aufnehmen, Umwandeln und ein wurzelstandfestes Befestigen, um sich nach oben offen zur Sonne hin zu erheben, auch nicht um ein Sichgründen, Zustandebringen, das geerdet statt entwurzelt stehen lässt, sondern um einen spezifischen Typus pflanzlicher Ausbreitung, um die laienhaft für ,Wurzelstöcke‘ (griech. zwma: das Wurzelschlagen) gehaltenen Rhizome, die botanisch als Metamorphosen des Sprosses (ein Sprossensystem, das gelegentlich die Stelle der Wurzeln vertritt) und nicht im eigentlichen Sinne als Wurzeln gelten. Echte Wurzeln wie die tiefdringende Pfahlwurzel des herrlichen Löwenzahns oder die kleinen büscheligen Wurzelsysteme Samen bildender Gräser – werden ausgeschlossen. Keinerlei Artendiversität der Wurzelfassung kommt als Metapher für den angezielten Pluralismus in Frage. Das wird sofort durch das verständlich, was Deleuze zurückweist: alle binäre Logik, die nach dem Gesetz »aus eins wird zwei, aus zwei wird vier …« Baum oder Wurzel zum Modell nimmt.60 Hierher gehört vor allem das hierarchische Kategoriensystem, für das mittelalterliche Logiker im Anschluss an Porphyrios die Baummetapher verwendet haben. Der sogenannte porphyrische Baum (Arbor porphyriana) wird hier in einer Lesart, die Substanz und Akzidens nur univok statt (unter Bezugnahme auf die irreduzible Pluralität der nicht mehr definierbaren Individuen) primär analog aussagt, rezipiert. Damit wird eine Identität herstellende Subsumptionslogik mit ihren begriffslogischen Differenzen zurückgewiesen. Aber auch das zweite Modell, das »System der kleinen Wurzeln«, ist, ähnlich wie das Buch mit seinen Blättern als Bild der Welt, noch der Idee eines Gesamtzusammenhanges verpflichtet. »Der Baum und die Wurzel zeichnen ein trauriges Bild des Denkens, das unaufhörlich, ausgehend von einer höheren Einheit, einem Zentrum oder Segment, das Viele imitiert.«61 Anders steht es mit dem Rhizom, denn dieses ist keine vorgängige Einheit, d.h. keine Hauptwurzel, die Seitenwurzeln trägt; es ist überhaupt nicht wie Baum oder Pfahlwurzel zentriert (auch nicht polyzentriert), vielmehr ohne vorher festgelegte Verbindungen und ohne Ordnungsstruktur. Mit seinen Linien, Knollen, Knötchen, vernetzten Verästelungen und mit seinen ohne Unterschied unter- und oberirdisch wachsenden Sprossen sowie den Würzelchen ist es das Modell der Radikalität von Pluralität. Es bildet verschiedenartigste Verkettungen, aber auch Brüche mit bisherigen Anordnungen, Querverbindungen zwischen divergenten Entwicklungslidass es Blüthe, hie und da auch Frucht ist, aber nicht Stamm und Wurzel«. Dazu kritisch H. André, Vom Sinnreich des Lebens, 73, 153 f. sowie Kap. 6: »Wurzelfassung«, 199–279. 60 Vgl. G. Deleuze/ F. Guattari, Rhizom, 8 f., 14, 34. 61 G. Deleuze/ F. Guattari, Rhizom, 26.
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62 A.a.O., 11, 16. 63 G. Deleuze, Differenz und Wiederholung, 49 ff. 64 W. Welsch, a.a.O., 5. 65 Ebd. 66 Ebd.
67 Ebd. 68 Ebd.
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nien bei nicht-sesshafter, nomadisierender Ausbreitung, jedenfalls keine Einheiten in einer geordneten Mannigfaltigkeit von Dimensionen, sondern Vielheiten vieldimensionaler Konsistenzebenen, wo ein Spalten und Öffnen, ein Verlassen und Verbinden, ein Differenzieren und Synthetisieren zugleich statthat. Erzeugt werden also unsystematische, unerwartete und ständig fluktuierende Differenzen und Differenzfelder. Realität ist durch die Zirkulation der Zustände selbst (in der sich der Denkende bewegt) und nicht durch Strukturmodelle der Realität zu definieren. Zum Rhizom kommen bei Deleuze noch ergänzende Metaphern wie Wohnungsfunktionen, Vorratslager, Rangiergelände, Versteck und Ruine und das Gewurle der Rattenmeuten, Ameisen u. Ä., an denen das Rhizommorphe hervorgehoben wird.62 Pointiert wird das Differenz-Denken durch die Einseitigkeit der Unterscheidung, die man macht oder die sich macht. Sie besagt nicht Diversität, Verschiedenheit zwischen differenten Dingen, sondern ein Sich-Unterscheiden von etwas anderem, das selbst nicht von ihm unterschieden ist – gleich einem unbestimmten Untergrund, auf dem Linien gezeichnet sind.63 Pluralisierung will nach Welsch kein Auflösungsvorgang sein, sondern »eine zuinnerst positive Vision«,64 eine in Erfahrung gegründete allgemeine »Grundverfassung« der Gesellschaften, Kulturen, Welt- und Lebensanschauungen, philosophischer und wissenschaftlicher Grundlegungen und Methoden. Da ist keine Wahrheit, kein Licht mehr wie »die eine Sonne für alles und über allem«, sondern es gibt immer nur »Eigenlicht«.65 »Fortan stehen Wahrheit, Gerechtigkeit, Menschlichkeit im Plural.«66 Die Postmoderne plädiert für eine Vielheit heterogener Konzeptionen, Sprachspiele und Lebensformen. Sie bringt das unüberschreitbare Recht hochgradig differenter Wissensformen, Denktypen, Orientierungssysteme, Lebensentwürfe, Handlungsmuster, demokratischer Sozialkonzeptionen, Minderheiten usw. zur Anerkennung, soweit diese selber zu dieser Anerkennung fähig und bereit sind, und das alles nicht aus billigem Relativismus oder in oberflächlicher Beliebigkeit, sondern geradezu aus tiefmoralischen »Motiven der Freiheit«,67 deren positive Wesensbestimmung und Begründung man jedoch vergeblich sucht. Der Pluralismus ist prinzipiell, d.h. er erweist sich für alle Bereiche der Pluralität als »einheitlicher [sic!] Fokus«.68 Seine »prohibitive Konsequenz und Rückseite
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[…] ist seine anti-totalitäre Option«; er tritt »offensiv für Vielheit« ein und gegen alte und neue »Hegemonie-Anmaßungen«, gegen Verabsolutierungen eines »in Wahrheit Partikularen«, auf,69 wo struktureller und faktischer Terror »der einzig effiziente Weg zum Ganzen ist«;70 er ergreift »für das Viele Partei« und »wendet sich gegen das Einzige«, gegen Monopole, Monopolisierungen jeder Art.71 Er bricht mit allem, was auf Totalität hoffen lässt, aber nur totalitär eingelöst werden kann: »Einheitsträume, die vom Konzept der Mathesis universalis über die Projekte der Weltgeschichtsphilosophen bis zu den Globalentwürfen der Sozialutopien reichen«, aber ebenso mit der »Ideologie der Potenzierung, der Innovation, der Überholung und Überwindung« und »läßt die Dynamik der Ismen und ihrer Akzeleration hinter sich«72 und weiß sich somit ,nur‘ dem -Ismus des Pluralen verpflichtet. Der postmoderne Pluralismus löst einheitliche Wissenstotalitäten (die »großen Meta-Erzählungen«) auf und plädiert selbst im Ganzen – unter Wahrung seines strikt formalen und regulativen Charakters des Ganzen73 – für die Freigabe und Potenzierung der Vielfalt in ihrer »Heterogenität, Autonomie und Irreduzibilität«,74 die also positiv und in ihrem Wert gesehen wird. Der »Boden der Vielheit […] ist nun einmal fundamentaler als jeder einheitsbestimmte«.75 Die postmoderne Option für Pluralität verabschiedet sich jedoch nicht blind von holistischen Intentionen: den Ideen der Ganzheit und Einheit. Aber »Ganzheit [ist] nur via Differenz einlösbar«;76 denn wer Einheit fordert, bezieht sich auf Vielfalt. Überschaubare Einheit liegt auch »im eigenen Interesse der Vielheit« und »gehört zu den Produktions-, Wahrnehmungs- und Realisationsbedingungen der Vielheit«.77 Aber »aus strukturellen Gründen ist das Vielheitskonzept prinzipiell überlegen. Es ist das Ganzheitskonzept.«78 Doch bringt es nichts Inhaltliches zur Vielheit, sondern steht in ihrem Dienst, dient ihrer Freisetzung, steht also in umgekehrter Opposition zur absorbierenden In-Dienst-Nahme der Komponenten unter dem teleologischen Anspruch der Ganzheit. Dem Einwand, dass absolute Vielheit weder sein noch gedacht werden kann, wird stattgegeben; er trifft nicht die pluralistische Konzeption, insofern Vielheit nur in Differenzen besteht. Rigide Differenz 69 Ebd. 70 A.a.O., 62. 71 A.a.O., 5. 72 A.a.O., 6. 73 A.a.O., 62. 74 A.a.O., 33. 75 A.a.O., 177. 76 A.a.O., 60; vgl. 63. 77 A.a.O., 61. 78 A.a.O., 63.
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6.3.3 Dialektik der totalitären und pluralistischen Ganzheitskonzepte Die Ganzheitskonzepte befinden sich zueinander in einer dialektischen Opposition. In der pluralistischen Auffassung des Ganzen ist immer schon ihr Widerspiel, die totalitäre Auffassung, keimhaft enthalten. Sobald die Momente, Bestandteile und Konstituenten eines Ganzen voneinander getrennt sind und isoliert werden, kann sich ein Moment (Teil) zum Ganzen aufblähen und in ungebührlicher Weise die anderen Teilmomente unterwerfen und subsumieren wollen – nur um dem Einheitsmangel und Chaos ein Ende zu setzen. Wo die Individuen in absoluter Selbstständigkeit vorgestellt werden, grundlos, ohne Zusammenhang, abgetrennt von der Leben spendenden Beziehung zum Ganzen, gehen sie zugrunde oder sind sie nicht einander zur Bezugsidentität Freigebende, sondern werden zu bloßen 79 A.a.O., 142, unter Bezugnahme auf Jacques Derrida. 80 Vgl. dazu G. Pöltner (2005), Radikale Pluralität, 77 f.
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ohne Übergang und Verbindung würde sich selbst aufheben. Doch »die Einheit, die mit einem Differenzdenken kompatibel sein soll, muß selbst differentiell sein. Sie kann nicht den Charakter abschließender Präsenz haben.«79 Die strikte Bewahrung des inhaltlich leeren und nur regulativen Charakters des Ganzen richtet sich gegen jede Realwerdung einer Einheit80 mit ihren unterdrückenden, terroristischen und vernichtenden Konsequenzen. Es scheint, dass Ganzheit und Einheit hier als verdinglichte, der Vielheit übergestülpte und sie subordinierende Abstrakta rezipiert werden und daher grundsätzlich nicht als Weisen des Einsseins in entfaltender Verbundenheit und Durchdringung in Sichtweite kommen. Das bedeutet, dass der totalitäre Grundzug essenzialistischer Realisierung von Ideen bzw. Allgemeinbegriffen (nach dem Modell begriffslogischer Hierarchie der Kategorien) sensibel durchschaut und wohl nicht ganz zu Unrecht zurückgewiesen wird. Dass der Pluralismus selbst in verschiedenen extremeren und gemäßigten Positionen sich darstellt, versteht sich von selbst. Die positiven Anliegen sind die Anerkennung der Inkommensurabilität, der grundverschiedenen und mit keinem gemeinsamen Maßstab mehr messbaren Pluralität der Gesamtwirklichkeit, die nicht auf diverse Möglichkeiten der Gestalten des (gegenständlich oder ontisch) Selben rückführbar ist sowie ein dem entsprechendes ,an-archisches‘, herrschafts- und gewaltfreies Denken und Sichverhalten, das sich aus unterwerfender (subjektivierender) Totalisierung der Einzigartigkeit der Einzelnen bzw. Anderen zurücknimmt und diese zulässt.
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Momenten der Einheit verschmolzen und herabgesetzt. Wo dagegen Vielheit nur in Differenzen spielt, die sich aufeinander beziehen, untereinander dezentrieren, bewegliche Netze bilden und in nomadische statt monadische Distributionen übergehen, in Verschiebungen und Wiederholungen, keine logische, simulierte Identität mit exklusiver Negation mehr zulassen, dort ist weder alles, wie es ist, noch ist das, was anders ist, jemals ganz anders. Das drückt die gegen alle Dualismen in eine »magische Formel« gefasste Gleichung »PLURALISMUS = MONISMUS« aus.81 Aber ist dieser Monismus nicht ein neuer Totalitarismus? Werden Differenz an sich selbst und Wiederholung an sich selbst unabhängig von den Formen ihrer Repräsentationen durch Identitätslogik gedacht, so kann ein univok als Werden verstandenes Sein, das vom Differenten ausgesagt wird, in ewiger Wiederkehr zur Identität als das »Identisch-Werden des Werdens selbst« zur Macht gelangen. Diese »Identität der Differenz« ist dann »das Identische, das sich vom Differenten aussagt, um das Differente kreist« und dieses wiederholt.82 Damit gipfelt das Werk von Deleuze in dem großen Gedanken der ewigen Wiederkehr, die vom radikal, exzessiv Differenten und nicht vom begrifflichen Ganzen und Identischen her verstanden werden will: »Alles ist gleich und Alles kehrt wieder […].« Ja wir hören: »Ein und dieselbe Stimme für all das Viele, das tausend Wege kennt, ein und derselbe Ozean für alle Tropfen, ein einziges Gebrüll des Seins für alle Seienden. Wenn man nur für jedes Seiende, für jeden Tropfen und jeden Weg den Zustand des Exzesses erlangt hat, d.h. die Differenz, die sich verschiebt und verkleidet und wiederkehren läßt, auf ihrer schwankenden Spitze kreisend.«83 Dieses Abschlusswort von »Differenz und Wiederholung« lässt einen mit der Frage zurück, ob solche Wege in ein differenziell und ozeanisch gedachtes Ganzes nicht erst aus der Verstrickung in die Gegnerschaft zum spinozistisch-hegelianischen Ganzheitsdenken verständlich werden. So bleibt der Eindruck bestehen, dass über dem groß angelegten Versuch der unbedingten Rettung des Differenziellen der radikale Pluralismus in einen neuen Monismus umgekippt ist. 81 G. Deleuze/F. Guattari, Rhizom, 34. 82 Vgl. G. Deleuze, Differenz und Wiederholung, 58 – 66, hier 65. 83 A.a.O., 377. – »In der ewigen Wiederkunft ist das univoke Sein nicht nur gedacht und sogar bejaht, es ist vielmehr tatsächlich verwirklicht. Das Sein sagt sich in ein und derselben Bedeutung aus, diese Bedeutung aber ist die der ewigen Wiederkunft als Wiederkunft oder Wiederholung dessen, wovon es sich aussagt. Das Rad in der ewigen Wiederkunft ist zugleich Erzeugung der Wiederholung ausgehend von der Differenz, und Selektion der Differenz ausgehend von der Wiederholung«, und zwar beginnend mit einer »Art gekrönter Anarchie«, die mit der Umkehrung der »Rangordnung, […] mit der Unterordnung des Identischen unter das Differente beginnt«. (66)
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Wie im radikalen Pluralismus keimt auch aus dem Monismus verdeckt in der totalitären Auffassung von Ganzheit immer schon deren pluralistisches Widerspiel; denn in dem Maß, als man Plurales, Heterogenes, Je-Einmaliges unterdrückt und seiner Gleichursprünglichkeit beraubt, entleert man das verbindende und qualifizierende Einssein. Bei zunehmender Formalisierung der abstrakten Einheit können nun wieder die besonderen Momente zu unendlicher Bedeutung anschwellen, deren Zusammenordnung nun erneut Schwierigkeiten macht usf. Es ist wichtig zu durchschauen, dass die pluralistischen und die totalitären Auffassungen der Einheit in der verdeckenden Form gegenseitiger Negation voneinander abhängig sind, einander notwendig herausfordern, ineinander umschlagen und übergehen sowie sich miteinander legieren können, weil keine dieser Ansichten der partizipativen Eigenart des Seienden in seinem Sein gerecht wird. Zum besseren Verständnis des gegenwärtigen Widerstreites von totalitaristischen und pluralistischen Auffassungen kann ein Blick in die Vergangenheit hilfreich sein: Kann man die Ausbreitung der Menschheit als erste Globalisierung ansehen, so kann man die Bildung einer die Erde umspannenden, alle Erdteile ,vernetzenden‘ und durchdringenden menschlichen Sphäre (Teilhard de Chardins »Noosphäre«) seit ca. 500 Jahren die zweite Globalisierung nennen. Diese Globalisierung ist eigentlich eine Planetarisierung, da die Erde, die zunächst als dem Sternenhimmel angehörig bloß vorgestellt und erst viel später aus dem Weltraum her auch tatsächlich erblickt wurde, sich als der bläulich schimmernde Globus zeigte, auf dem sich nun alles zusammen- und gegeneinanderdrängt und gegenseitig durchdringt. Seit damals florieren (mit Blickbeschränkung auf die europäische Neuzeit) antithetische Tendenzen totalitärer und pluralistischer Auffassungen – anscheinend in Extremen wie noch nie zuvor. Erinnert sei nur an das grandiose Einheitsdenken Hegels, der den Spinozismus zur höchsten Vollendung gebracht hat, und die darin liegende Provokation zur Umkehrung seines geschlossenen Systems in ein Denken anti-hegelianischer Multiversität. Diese Gegenbewegung ist schubartig vor sich gegangen, vermutlich verstärkt durch den Schock kultureller, geographischer, biologischer und kosmologischer Diversitäten, und mündet in den postmodernen Pluralismus, der sich auf eine vollbesetzte Ahnengalerie berufen kann, man denke nur unter vielen an Max Stirners »Einzigen«, Kierkegaards »Einzelnen« und vor allem an Nietzsches Pluralität der Willenssubjekte. Mit dieser Bewegung koexistieren eine Renaissance des Ganzheitsdenkens, die wie die New-Age-Bewegung gleichfalls ihre Wurzeln in der europäischen Neuzeit hat,84 und (neben offenen, inkompatiblen Systementwürfen) ein 84 Dazu vgl. beispielsweise J. Figl, Ganzheitliches Denken am »Ende der Neuzeit«. Romano Guardinis These und die gegenwärtige New-Age-Diskussion.
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geschlossenes Systemdenken, dessen Komponenten abstrakt, unter System-Zwang auf ihre Funktion im Ganzen hin zurückgenommen werden. Im Gegenüber zum in vielen Lebensbereichen vorherrschenden, bürokratisch verwalteten, uniformierenden Systemdenken und Medienbetrieb kann deshalb die durch radikalen Pluralismus gekennzeichnete Postmoderne längst nicht mehr allein als eigenständiger Epochenbegriff fungieren. Heute sind die sich gegeneinander aufspreizenden Verhältnisse von Einheit und Vielheit, Ganzem und seinen Teilen, System und multiplen Komponenten, Struktur und Differenz, Selbstorganisation und Chaos zu Existenzfragen von globaler Tragweite und brisanter Aktualität geworden, und das in allen Lebensbereichen: in Natur und Kultur, Politik, Ökonomie und Ökologie, Wissenschaften, Künsten, Religionen usw.85 Allein schon theoretisch stehen die Extrempositionen des Totalitarismus und Pluralismus einander widersprechend gegenüber: Einerseits werden postmodern Recht und Notwendigkeit der Differenzen, der Heterogenität, des Widerstreits (différend), der kreativen Anarchie in Anspruch genommen. Der Einheit und Ganzheit kommt nur mehr der Status einer subjektiv-beliebigen regulativen Idee zu. Aber andererseits koexistieren mit dem sich als postmodern verstehenden Pluralismus die eine Entfaltung der Differenzen hemmenden Gegenkräfte. Unter zunehmendem Globalisierungsdruck wuchern in allen Lebensbereichen totalitäre Ideen, verdeckt innerhalb strukturalistischer, poststrukturalistischer und systemischer Konzeptionen und offenkundig im Holismus des New Age. Auf sie sei noch in einigen Beispielen hingewiesen. Man sollte die für die strukturalistischen, strukturalistisch inspirierten oder poststrukturalistischen Auffassungen klassische und richtungweisende Argumentation bei Ferdinand de Saussure nachlesen.86 Sie bildet die Prämisse für verschiedene Lösungsentwürfe der durch sie hervorgebrachten Probleme. Saussures Sprachverständnis ist zur Gänze der Linguistik verhaftet, sofern diese die Sprache als etwas zur fachwissenschaftlichen Erforschung Vorhandenes voraussetzt. Sie geht nicht vom paralinguistischen Sachverhalt aus, dass wir etwas zu sagen haben, weil etwas (eine res) zur Rede steht, und dass Sprache nur lebendig ist im Vollzug der Sprechenden, insoweit sie auf die lautlose Sprache des Erscheinenden hören.87 Den Anfang bildet für ihn das System der sprachlichen Zeichen (le langue). Diese werden durch Abstraktion vom Gesamt85 Vgl. hierzu O. Marquard (Hg.), Einheit und Vielheit. XIV. Deutscher Kongress für Philosophie (1987). 86 F. de Saussure, Cours de linguistique générale, hier besonders II. Teil, Kap. 4, §§ 3 und 4. 87 Vgl. vom Verf. (22003), Mensch und Wort: Zur phänomenologischen Grundlegung einer Philosophie der Sprache, in: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Bd. 1, 57–79.
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88 W. von Humboldt, Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues (1827–1829), 186. 89 F. de Saussure geht von einem fachwissenschaftlich eingeschränkten Sprachverständnis aus, das Sprache in der Hauptsache auf das synchrone (insgeheim vom Grammatikertraum graphischer Konservierung inspirierte) Zeichensystem reduziert. Er wirft zum Beispiel die ganze Welt der Zeichen, die Bedeutung haben, mit der Sprache des Begegnenden zusammen, die von den verschiedenen Alphabeten unabhängig ist. Haltungen, Bewegungen, Gebärden (auch Lautgebärden) eines Menschen sind bedeutsam und bedeutungsvoll, aber nicht alle bezeichnen etwas und sind Zeichen, die man jemandem macht und die etwas sagen sollen. Was sich als das Sich-Betragen bedeutsam zeigt, ist also deshalb nicht ein Etwas-Zeigen. ,Körpersprache‘ ist ein verschlamptes, mehrdeutiges Wort. Für Saussure ist nur das System der Zeichen (als ,Sprache‘, in der wir sprechen) linguistischer Hauptgegenstand unter Abstraktion vom Selberanwesen und von personaler Kommunikation der Sprechenden, insoweit sie unter dem Anspruch des zu Sagenden stehen. Mag die Wahl eines speziellen Gegenstandsbereiches für eine Fachwissenschaft legitim sein, Philosophie kann sie nicht begründen. Zu den solche fachliche Spezialisierung ermöglichenden Bedingungen der Literaturwissenschaft gehört vermutlich, dass Sprache im Weghören, im Sich-Abwenden von dem, worum es im Ernstfall geht, zu etwas Seiendem gemacht wird, und zwar indem sie als etwas am Menschen (vor allem oral ) Vorkommendes vergegenständlichend erfasst wird, was man inzwischen als Logozentrismus denunziert hat. Aber das erst ermöglicht, sie linguistisch zu erfassen, sie im visuellen Wahrnehmungsfeld handlich zu machen, sie verdinglichend zu verschriftlichen, um dann im Gegenzug zur Oralität einer ausgeweitet verstandenen Literalität einen Vorrang einzuräumen, wie sie faktisch unser Zeitalter prägt. 90 F. de Saussure, Cours de linguistique générale, 163 (Übersetzung: M. Wandruszka, Das Leben der Sprache, 253).
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phänomen Sprache (le language) unter Ausklammerung des tatsächlichen Sprechens (le parole) zum Hauptgegenstand seiner Linguistik (nicht einer Sprachphilosophie!) gemacht. Philosophisch geht es im Phänomen Sprache um ihr Wesen im Ganzen und im Grunde, um die Sprache des Phänomens. Aus philosophischer Sicht sei auch an ein Wort des gerade als Sprachwissenschaftler bewährten Wilhelm von Humboldt erinnert: »Die Sprache liegt nur in der [aktuellen] verbundenen Rede, Grammatik und Wörterbuch sind kaum dem Gerippe vergleichbar.«88 Was für Humboldt nicht einmal einem Knochengerüst gleicht, ist demnach Saussures System der sprachlichen Zeichen. Dieses reduziert er auf das zufällige, arbiträre Miteinander von bezeichnendem Lautbild (une image acoustique) und bezeichneter Vorstellung (un concept) und stellt seine wirkungsgeschichtlich einflussreiche und abwandlungsfähige These auf: Verstehbar sind die Zeichen einzig und allein dadurch, dass sie sich von anderen Zeichen desselben Systems kennzeichnend unterscheiden, also durch relevante Differenzen, durch Oppositionen innerhalb des Zeichensystems.89 Aus der Argumentation für diese These sei kritisch nur hervorgehoben: »Worauf es beim Wort ankommt, ist nicht seine Lautgestalt als solche, sondern sind die lautlichen Unterschiede (différences phoniques), die es erlauben, dieses Wort von allen anderen zu unterscheiden, denn diese Unterschiede sind es ja, die die Bedeutung (la signification) tragen.«90 Das Zeichen wird in lebensweltlich defizienter Weise nicht mehr aus dem lebendigen Zeigen im Sinne des Erscheinenlassens des Sichzeigenden
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verstanden, sondern als die von einer Umgebung gegenständlich abgehobene Gegebenheit (Laut, Schriftzeichen, Text usw.), welche angeblich die Bedeutung trägt und bezeichnet. Es wachsen nicht Laute den Bedeutungen zu, sodass Wörter, Wortprägungen, entstehen, sondern bedeutungslose Lautgebärden gewinnen gewissermaßen magisch übersinnliche Bedeutungen und mutieren zu ,Bedeutungsträgern‘. Unter dieser Voraussetzung gibt es (für den unmusikalischen Augenmenschen) »kein Lautbild (image vocal), das besser als ein anderes dem entspricht, was es besagen soll«91 – und nun kommt der Gedankensprung:92 Daher »ist evident, selbst a priori [sic!], dass niemals ein Fragment der Sprache letztlich auf etwas anderem begründet sein kann als auf der Nicht-Koinzidenz mit allen übrigen Teilen« des Zeichensystems.93 Aus dem Gesagten folgt beispielsweise: Wenn a für Nacht und b für Nächte steht, sind »die Termini a und b […] als solche grundsätzlich unfähig, in den Bereich des Bewusstseins zu gelangen, das immerzu nur [sic!] den Unterschied (la différence) a/b wahrnimmt«.94 Wenn wir schon nicht im Ernstfall von einer Nacht unter den Nächten hören oder das Ineinander von Ab- und Anwesen von Tag und Nacht gewahren, sondern uns nur (etwa im Sprachunterricht) auf das linguistische Abstraktum ,Lautbild‘ konzentrieren, so ist doch die volle Lautgestalt als etwas Eigenständiges wahrnehmbar und der Unterschied zu anderen Wörtern (und erst recht ein durch Laut- oder Buchstabenanalyse erfasster) tritt faktisch oft in den Hintergrund. Gewiss gilt formalisierend: a und ä sind wohl unterschieden als a/ä auffällig, jedoch nur unter diesem Gesichtspunkt sind »für sich allein genommen weder Nacht noch Nächte irgend etwas«.95 Ist jedoch im Ernstfall des Sprechens von Nacht und Nächten nicht so sehr die linguistische Opposition, sondern vielmehr die Beziehung zwischen beiden wichtig? Doch der Gedanke Saussures springt unvermittelt und kühn extrapolierend weiter: »also ist die Opposition innerhalb des Systems alles«. Dem entsprechend gibt es in der Sprache »nichts außer Unterschiede (différences)«. Differenz heißt hier das Zauberwort: »Alles bisher Gesagte läuft darauf hinaus, daß es in der Sprache nichts gibt außer Unterschiede. Mehr noch: Ein Unterschied setzt im allgemeinen positive Termini voraus, zwischen denen er besteht. In der Sprache gibt es dagegen nur Unterschiede ohne positive Termini. Ob man das Bezeichnete oder das Bezeichnende ins Auge fasst, die Sprache enthält weder Gedanken noch Laute, die schon vor dem linguistischen 91 Ebd. 92 Mit dem ,Sprung‘ oder ,Bruch‘ ist ein Übergang gemeint, der sich nicht sinnvoll auf das Vorausgegangene zurückbezieht und nicht zu verwechseln ist mit einer Frage, mit der jemand eine ungerechtfertigte Aufforderung beantwortet. 93 F. de Saussure, Cours de linguistique générale, 163. 94 Ebd. 95 A.a.O., 168.
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96 A.a.O., 166. 97 A.a.O., 167. 98 J. Derrida, De la grammatologie, 274: »Il n’y a pas hors texte.« 99 Vgl. dazu J. Derrida, Die Schrift und die Differenz: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen, 422–442.
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System vorhanden gewesen wären, sondern nur begriffliche und lautliche Unterschiede, die aus dem System hervorgegangen sind. Was ein Zeichen an Gedanken oder an Lautmaterial enthält, ist weniger wichtig als das, was in den umgebenden Zeichen enthalten ist.«96 Jedes Zeichen besteht aus einem Bezeichnenden und einem Bezeichneten. Diese Verbindung ist nicht negativ, sondern positiv. Die Zeichen sind darin nicht verschiedene (différents), sie sind nur unterscheidbar (distincts) und das ist weniger wichtig, aber zwischen den Zeichen »besteht nichts als Opposition«.97 Nichts ist, was es ist, sondern es ist nur das in Differenz(en) und Entgegensetzung zu dem, was es nicht ist (welches gleichfalls weiter die Differenz ist zu dem, was es nicht ist, usw.), vor sich Gehende. Damit ist durch eine Art von negativer Identität die Systemidee geschmiedet, die trotz aller Richtungsmannigfaltigkeit nahezu überall im klassischen sowie im Postund Neo-Strukturalismus in den Rang eines metaphysischen Axioms aufgerückt ist und zum Schlüssel aller symbolischen oder semiotischen Konfigurationen der Kultur gemacht wurde, auf die der Realitätsbezug zurückgenommen wurde. Was es gibt (und uns umgibt), ist angeblich nur die Welt der Zeichen, der auf (geistige) Signifikate hinweisenden (materiellen) Signifikanten. Oder man kann im Anschluss an Jacques Derrida jenes dualistische System in Frage stellen, das Intelligibles und Sinnliches einander entgegensetzt und in dem allein dieses zweiteilige Zeichenvon … funktioniert. Ist alles ein System solcher und ähnlicher Differenzen, Diskurssorten, unendlicher Austausch von Zeichen, dann gibt es kein Außerhalb des Systems, nur »Text« und »Schrift« im weitestmöglichen Sinn.98 Das linguistisch orientierte System ist totalitär, geschlossen, es kann systemkonform und folgerichtig in ihm »kein transzendentales oder privilegiertes Signifikat«, kein Zentrum, keinen Ursprung, kein unerschütterliches Fundament geben. Weder ein Signifikat noch ein Signifikant kommt dafür in Frage. Stellt man so die Metaphysik (gemeint ist die platonistische als Zweiweltenlehre oder in idealistischer Vermittlung) ebenso wie ihre Umkehrung (beispielsweise Nietzsche und Freud) in Frage, so bleibt als das zu Denkende nur mehr der gemeinsame Boden, die »différance« (mit phonetisch stummem a), diese unreduzierbare Differenz von Bezeichnendem und Bezeichnetem, die selbst nie gegenwärtig, präsentiert, wird.99 Die différance ist das metaphysisch Undenkbare, welches das Gleiche und das Unterschiedene, das Selbe und das Andere zusammen denken lässt, ohne das Andere vom Selben her in begriffslogischer Dialektik zu vereinheitlichen.
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Nach dem Gesagten wird die unüberbrückbare Kluft des Differenten, die distinkte Opposition, auf die Differenz der Opponenten zurückgenommen, als läge in ihr etwas Ursprüngliches, aber die Differenz ist nach Derrida nicht ein neuer einheitlicher Ursprung. Ursprung und Ordnung der Oppositionen werden zerbrochen, doch ohne ganz getrennt zu werden. Die différance durchbricht die Ordnung der metaphysischen Dualismen (wie Zentrum/Peripherie, Geist/Materie, Transzendenz/Immanenz) zur dekonstruktiven Offenlegung der Texte aus der Perspektive ihres jeweiligen »blinden Flecks«. Die différance (aus lat. differre und franz. différer) als ein aufschiebendes, zeitliches Auseinandertragen, Nicht-identisch- und Anders-Sein ist der Schlüssel zur Dekonstruktion der metaphysischen Begriffspaare und geht der Unterscheidung der Begriffe Identität und Differenz, Univozität und Äquivozität voraus. Sie weist damit auf eine ursprüngliche Ununterscheidbarkeit von begrifflich gefasster Identität und Differenz hin. Wird das in sich unterschiedliche, verschieden und differenzierend qualifizierende Ganzsein übersehen oder fällt es aus, so kann vor lauter Unterschieden kein Unterschied mehr da sein, der einen Unterschied und damit ein Zusammengehören und Einssein macht. In der soziokulturellen Praxis kann Pluralismus sich in eine Art Indifferentismus verkehren. Jean Baudrillard hat diese pluralistische Differenzbildung kritisch als gesellschaftliches Phänomen gigantischer Implosion allen Sinns im Übergang zu einer universellen Erzeugung von »Indifferenz« kommentiert.100 Ungebremste Vielfaltssteigerung vergleichgültigt in der globalen Kultur die durch sie hervorgebrachten Möglichkeiten. In unserer Informationsgesellschaft ist das Verhältnis zur Realität zunehmend unmöglich und sinnlos geworden, weil das Reale nicht mehr von Simulation, von der durch Information erzeugten Wirklichkeit unterschieden werden kann. Die Dialektik des in die Differenz Verschlagenen schlägt in Indifferenz, Wachstumsprogression des Gleichen, Selbstbespiegelung der Systeme um. Die mathematische Einheit des indivisum meldet sich mit zu Wort. Im pluralistischen Differenzdenken scheint sich ein unaufgebbares Anliegen (Ungesagtes) zu verbergen, welches vom additiv-stückhaften Denken verwischt wird, indem es das ,und‘ durch eine bestimmte, die mathematische Auslegung inhaltslos formalisiert. Es sei kurz angedeutet: Definiert bzw. unterscheidet man etwas traditionell durch die Angabe des nächsthöheren Gattungsbegriffs und der spezifischen Differenz, so erhält man einen Bestimmungszuwachs in Hinsicht auf das begriffslogische Allgemeine. Dabei wird (methodisch) nicht beachtet, dass jede (faktische) Differenz einen ,Abstand‘ zwischen den voneinander Unterschiedenen 100 Vgl. J. Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod.
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101 So sagt A. M. S. Boethius, In Isagogen Porphyrii Commenta, lib. 4, c. 2, CSEL, Bd. 48, 244: omnis differentia alterius ab altero distantiam facit. Vgl. S. K. Knebel, Art. Unterschied, in: HWP, Bd. 11, Sp. 311. 102 M. Heidegger, GA, Bd. 65, 299. Vgl. auch M. Theunissen, Art. Zwischen, in: HWP, Bd. 12, Sp. 1543–1549.
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bildet.101 Die sich fortschreibenden Differenzen tragen sich aus einem sich ereignishaft entfaltenden ,Zwischen‘ heraus aus, welches das Mysterium ihrer Heraufkunft im Ganzen verbirgt. Das ,Zwischen‘ kann räumlich-einräumend wie das zwischen Himmel und Erde Waltende und zugleich sich zeitigend verstanden werden, wie das ,Inzwischen‘, das zwischen der Zukunft und dem Gewesenen notwendig ist. Das in Differenzen Stehende bzw. die Glieder einer Relation treten nicht nachträglich zueinander in Beziehung, sondern sind ganz sie selbst überhaupt erst im Geschehen des Bezugs und mehr oder weniger von ihm selbst her. So erfahren wir uns zum Beispiel im unvorhersehbaren Prozess eines Gesprächs von der »Sphäre des Zwischen« überrascht und beschenkt oder es zeigt sich, dass Nähe in der Begegnung eine zugemessene, zureichende Distanz zur Annäherung braucht. Ontologisch lichtet nach Heidegger erst die Offenheit des Seins im Da das »,Zwischen‘, das vom Seyn selbst entfaltet wird als der offene Hereinragungsbereich für das Seiende [im Ganzen]«.102 Das pluralistische Differenz-Denken, wie es de Saussure vorgezeichnet hat, nimmt das Oppositionelle auf die distante Unterschiedlichkeit der Verschiedenen (difference, differance) in (vielfach legitimen) Übergängen (oder Brüchen) zurück. Im Geschehnisganzen des Wiederheraufholens und so der Wiederkehr des Differenziellen mag dieses gerettet erscheinen. Doch will mir scheinen, dass es den Differenzdenkern gegen ihre Intention nicht gelingt, die positive Identität des Heterogenen, des unableitbar Einzigartigen, des Je-Einmaligen mit sich selbst hinreichend zu wahren und schon gar nicht deren Entfaltung im Mit- und Füreinandersein sowie im ihr zukommenden Überschritt auf Andere und Anderes hin, und zwar, weil sie fixiert sind auf die Differenz, auf das bloße Auseinandergehen und -liegen. Dadurch unterbietet aber das Differenzdenken das Auseinanderliegende, insofern es dieses nicht sein lässt, was es in seiner jeweiligen Heterogenität positiv ist: etwas, das durch keinen gemeinsamen Maßstab mehr gemessen werden kann, also inkommensurabel ist. So ist dem Differenz-Denken ein grundsätzlich und geradezu systematisch das Phänomen verkürzender, und das heißt totalitärer Grundzug eigen, der die Pluralität zwar nicht einschmelzend aufhebt, aber doch auf ihr pures Auseinandergehen einschränkt. Gewiss ist dieser totalitäre Grundzug nicht überall gleich deutlich ausgeprägt. Zudem wendet sich dieses gerade um Pluralismus bemühte Denken vehement gegen Ordnungen der Unterordnung, Ausgrenzungen und Marginalisierungen und
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kann sich der Zustimmung sicher sein. Über der heftigen Abwehr des anderen Totalitarismus (des repressiv subordinierenden mit primordialer Struktur des Uranfangs) wird aber der eigene, das Plurale in sich verkürzende Totalitarismus nur verdeckt. Im pluralistischen Totalitarismus bzw. Monismus berühren sich die Extreme. Völlig gegenteilig scheint es sich beim heterogenistischen Pluralismus eines Jean-François Lyotard zu verhalten. Das Wort ,Heterogenität‘ im Gegensatz zur ,Homogenität‘ übersetzt man mit Uneinheitlichkeit, Ungleichartigkeit, Verschiedenartigkeit u.Ä., aber gemeint ist nicht irgendein verschieden Geartetsein und damit die Zugehörigkeit zu einer anderen kategorialen Artbestimmung, sondern ein Sein anderer Ab- oder Herkunft jenseits von Art, Gattung und Zahl: ein Anderswie-Herkünftiges. Der Zugang ist die strukturell und ereignishaft dem mitteilenden Menschen vorgängige Sprache, mit der man in die Akte des Sprechens eintritt. Und hier macht Lyotard die Grunderfahrung einer Heterogenität (Autonomie und Inkommensurabilität) der Satz-Regelsysteme und Diskursarten, die miteinander in Konflikt, in Widerstreit (différend) geraten. Im ersten Satz des »Merkzettels zur Lektüre« seines Hauptwerks »Le Différend«103 werden die Weichen gestellt: »Im Unterschied zu einem Rechtsstreit (litige) wäre ein Widerstreit (différend) ein Konfliktfall zwischen (wenigstens) zwei Parteien, der nicht angemessen entschieden werden kann, da eine auf beide Argumentationen anwendbare Urteilsregel fehlt.« Der Widerstreit (différend) ist injustiziabel; vom sprachtheoretischen Ansatz her ist ein gemeinsamer Boden für einen justiziablen Streit (litige) ausgeschlossen. Wolfgang Welsch kritisiert die Absolutheit des Autonomie- und Heterogenitätstheorems Lyotards als widersprüchlich, da dadurch jeder Widerstreit und Konflikt unverständlich werde, und plädiert für eine relative Autonomie des Heterogenen, welche die agonalen Diskursweisen und Satz-Regelsysteme der Opponenten zulässt und eine Ethik des Umgangs mit ihr erfordert. Weiters wäre zu sagen, dass kaum etwas anderes als eine zu Streit, Meinungsverschiedenheit, Konflikt ausgewachsene Differenz in Abwesenheit gemeinsamer Lösungsmöglichkeiten das Gemeinsame der Streitparteien hervortreten lässt, also ihr Einssein im Gegensatzpaar ,die Einen/die Anderen‘ voraussetzt. Die Partikularitäten, um deren Unvereinbarkeit es geht, sind ihrer Herkunft oder ihrem Herkunftsbereich nach verschieden und in ihrer Gegenläufigkeit auseinanderzuhalten. Aber ihr Einssein, ihre gemeinsame Wahrheit (als Offenbarwerden in der Setzung des einen aus dem anderen oder des einen gegen das andere), bleibt über der Auffälligkeit der Auseinandersetzung unthematisiert, wenn es offenkundig zu keiner Übereinkunft und Einigung kommt und schon gar nicht eine Einheit vorliegt. 103 J.-F. Lyotard, Der Widerstreit, 9.
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Die Verabschiedung der Vielheit totalitärer Einheitsgebilde soll Abschied von Herrschaft, Zwang, Terror bedeuten. Die Polemik steht aber in Gefahr, durch die Absolutsetzung der Heterogenität (des Autonomismus) das zu Recht Abgelehnte mit Gegenherrschaft, neuen Zwängen und Antiterror zu beantworten. Absolutsetzung ist ja als wesentliche Wurzel des Widerstreits und der Konflikte kaum zu verkennen. Die hierbei angesprochene Haltung der Zustimmung zur Pluralität wäre von kaum zu unterschätzender Bedeutung, würde sie nicht die Differenz von uneigentlichem und eigenstem Seinkönnen geradezu symptomatisch nivellieren. Die geforderte vorbehaltlose Zustimmung zum Heterogenen differenziert nicht zwischen dem Seinlassen der Möglichkeit eines nicht-totalitären Einsseins gerade zugunsten des Heterogenen einerseits und dem Bruch mit dieser Möglichkeit im Totalitarismus andererseits. Gleichfalls fehlt die Differenzierung zwischen der Bejahung und Bewunderung des uns ansprechenden Pluralen und der Flucht in die Zerstreuung und Zersplitterung des Daseins aus Angst vor dem eigentlichen Seinkönnen. In der Verzweiflung, dem eigenen Selbstsein (eins mit sich, den Anderen und der Welt) nicht zustimmen zu können, in Abwendung vor dem eigensten Seinkönnen, eröffnet sich als Ausweg in Neugier und Zerstreuungssucht eine neue Sicht der Welt. Im neugierigen Ausbruch aus der eigenen Mitte, dem Sichergießen in das Vielerlei, erscheint dann alles Sein und Einssein völlig undifferenziert zum totalitären Phantom und paranoid zum Verfolger aufgebläht. Der postmoderne Pluralismus ist, wie gesagt, als Gegenbewegung nicht der einzige Hauptstrom gegenwärtiger Philosophie. Er wird durchkreuzt von einem holistischen ,Megatrend‘, der weit davon entfernt ist, die echten Anliegen des Pluralismus zu entfalten. Gemeint sind nicht nur Zurückweisungen des radikalen Pluralismus von eher lokaler Bedeutung, wie beispielsweise die Kritik der Hegelrenaissance, die sich der die Teile aus sich heraussetzenden und aufhebenden Wahrheit des Ganzen verpflichtet weiß, sondern eine prinzipielle Abkehr von elementaristischen Ganzheitsbildungen in verschiedensten Kulturbereichen. So hat Fritjof Capra auf einen Paradigmenwechsel innerhalb der Physik verwiesen, der als Zeichen einer Zeitenwende holistischen Konzeptionen den Vorzug einräumt.104 Capra beruft sich auf Spinozas Leitformel »Deus sive natura« als tiefstem metaphysischen und spirituellen Grund für einen ökologischen Umgang mit der Natur sowie auf die spinozistische Anschauungsweise Goethes, der Gott in der Natur und die Natur in Gott erblickt.105 Gegen anthropozentrische Überheblichkeit wird die Einfügung in die 104 Vgl. dazu J. Figl, Ganzheitliches Denken am »Ende der Neuzeit«. 105 F. Capra, Wendezeit, 4, 6.
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große Harmonie der Natur wichtig. Alle Phänomene erscheinen »zwangsläufig als die untrennbaren Teile des kosmischen Ganzen, als verschiedene Manifestationen der gleichen letzten Wirklichkeit«.106 Die moderne Physik enthüllt »die grundlegende Einheit des Universums«, das ein »einheitliches Ganzes [ist], das bis zu einem gewissen Grad in getrennte Teile zerlegt werden kann, in Objekte, bestehend aus Molekülen und Atomen, die ihrerseits aus Teilchen bestehen. Doch hier, auf der Ebene der Teilchen, gilt der Begriff separater Teile nicht mehr.«107 »Auf subatomarer Ebene sind die Wechselbeziehungen und Wechselwirkungen zwischen den Teilen des Ganzen von grundlegenderer Bedeutung als die Teile selbst. Es herrscht Bewegung, doch gibt es letzten Endes keine sich bewegenden Objekte; es gibt Aktivität, jedoch keine Handelnden; es gibt keine Tänzer, sondern nur den Tanz«108 – eine Aussage für den subatomaren Bereich moderner Physik, die undifferenziert extrapoliert für ein Ganzheitsverständnis der Welt in den verschiedensten Bereichen Geltung haben soll. Capra verweist zustimmend auf Gregory Batesons Systemdenken: »Systeme sind integrierte Ganzheiten, deren Eigenschaften sich nicht auf die kleineren Einheiten reduzieren lassen. […] natürliche Systeme sind Ganzheiten, deren spezifische Strukturen sich aus den wechselseitigen Beziehungen und Abhängigkeiten ihrer Teile ergeben. […] Systemdenken heißt Denken in Vorgängen; Form wird mit Geschehen assoziiert, Zusammenhang mit Wechselwirkung, und Gegensätze werden durch Schwingungen vereint.«109 »Jedes Ding sollte nicht durch das definiert werden, was es an sich ist, sondern durch seine Zusammenhänge mit anderen Dingen.«110 Der Holismus erscheint gelegentlich gemäßigt, wenn beispielsweise bemerkt wird, dass die Ordnungen relativ autonomer, sich selbst organisierender Organismen »den Teilen keinen starren Zwang auferlegen, sondern Raum lassen für Variationen und Flexibilität, und genau diese Flexibilität ist es, die lebende Organismen in die Lage versetzt, sich neuen Umständen anzupassen«.111 Doch auch hier ist das Ganze nicht um willen der Erhebung der Teile, sondern sind die Teile nur um willen des Ganzen da. So liegt insgesamt der Schwerpunkt im Vorrang des Ganzheitsdenkens und kommt die Wahrung und Entfaltung der integren Identität der Teile in Anteilnahme an einer Totalität zu kurz.
106 A.a.O., 6 f. 107 A.a.O., 83 f. 108 A.a.O., 97, vgl. 295. 109 A.a.O., 294 f. 110 A.a.O., 84. 111 A.a.O., 297.
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6.4 Integrales und integratives Ganzsein
6.4.1 Ganzsein als Korrelation von Eins- und Vielfältigsein Vorerst geht es hier nur um die Wahrung sowohl des phänomenalen Einsseins als auch des phänomenalen Vielfältigseins: Keine Aus- und Entfaltung der Vielfalt ohne einigendes oder/und geeintes Einssein. Ihre konstitutiven Momente sind unableitbar einmalig, gleich ursprünglich sowie gleich wesentlich und nur in ihrem Miteinander- und Durcheinandersein ganz verstehbar. Eine Mehrursprünglichkeit des Ganzen wird also präzisiv (positiv) und nicht exklusiv (negativ) supponierend angenommen. Ganzsein in der Korrespondenz von Eins- und Vielfältigsein entfaltet sich als ein korrelativer Gegensatz, das heißt, dass hier Einssein und Vielfalt zwar sinnverschiedene und so gleich ursprüngliche, aber nur mit- und ineinander gegebene Phänomene darstellen. Der Gegensatz zwischen dem Einssein und der von ihm unableitbaren Vielfalt ist nicht ein ausschließender, sondern ein ergänzender. Das Einssein eines Ganzen enthüllt sich im Anwesenlassen einer Mannigfaltigkeit zusammengehöriger gleich konstitutiver Momente. Umgekehrt ist Vielfältigkeit auch immer nur im Mitund Durcheinandersein des Anwesenlassens eines Ganzen gegeben. Wer für das Differente oder Heterogene plädiert, spricht das Differieren, das Geschehen des Austrags, des nach verschiedenen Seiten Auseinandertragens (eines aus dem anderen) und somit eine Weise des Seins und der Offenbarkeit des Seins
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Das Ergebnis der bisherigen Überlegung hinsichtlich der gegensätzlichen Lager von Totalitarismus und Pluralismus lautet knapp zusammengefasst: Das totalitaristische Ganzheitsverständnis besagt, dass bei noch so großer Aufsplitterbarkeit in eine Pluralität je immer größere Einheit und Einfachheit vorherrscht. Im Gegensatz dazu besagt pluralistisches Ganzheitsverständnis, dass bei noch so großer Einheit das Ganze in je immer größere Pluralität, Differenzen oder Heterogenitäten auflösbar ist. Der zunehmende Widerstreit von gewalttätigen Totalitarismen und entsolidarisierenden Pluralismen mit ihren verheerenden Folgen im Zusammenleben der Menschen gibt erneut die Frage auf, ob und wie Einssein und Vielfalt, kommunikative Einigung und variierende Heterogenität ontologisch ursprünglicher gedacht werden können und für uns sein lassend, kreativ und befreiend vollziehbar sind. Dazu ist zu verdeutlichen, dass Eins- und Vielfältigsein nicht nur einen komplementären und korrelativen (1) sowie transzendentalen (2) Gegensatz bilden, sondern im integralen Ganzsein integrativ zur Entfaltung kommen (3).
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an; er weiß, wenn auch noch so unreflektiert, um ein Anwesen miteinander, also um Sein. Deswegen weiß er, dass Plurales pluraler zu denken ist, als er jemals können wird; ja selbst Heterogenstes kann weder sein noch ist es denkbar, ohne in einem Bezug des Andersseins als ein Gegenstrebiges eins zu sein. Mit dem Einssein wird nicht nur ein Wovon und Wofür des Einsseins, ein versammeltes Vielerlei- bzw. Vielessein innerhalb eines Ganzen ausgesagt, sondern auch die ontologische Ausfaltung in Vielfältigkeit sowie umgekehrt das Teilhaftigsein in Teilhabe an einem Ganzen. Die Weisen des Anwesens in der Vielfalt auseinanderstrebender Tendenzen scheinen hierbei bestimmten (und selber noch einmal in analogen Abwandlungen verschiedensten) Weisen des Einsseins im Verbundensein, Umgriffensein, Zusammenhalt und Ganzsein zu entsprechen. Das Ganze (distributiv verstanden) ist das jeweilige Verbundensein in einer Mannigfaltigkeit zusammengehöriger Momente. Das Ganze kann als Seinstotalität die Seinsmannigfaltigkeit der transzendentalen Eigenheiten des Seins umfassen (vgl. hier unten Abschnitt 6.4.2). Ein Ganzes kann auch das genannt werden, wovon die Seinsgründe das Seiende konstituierende Gründe (in der Seinsmannigfaltigkeit geeint) sind, oder das, wovon die Teile Teile sind. Einssein des Seienden und seiner Gründe ,west‘ nur im Aufgang von Unterschiedenheit, Verschiedenheit, Differenz (Fügen, Fügung, Gefügtheit) der Teile des Seienden, seiner Gründe, ihres Verhältnisses zueinander sowie zum Seienden selbst. Die Fügung, Gliederung, Strukturiertheit, Verbundenheit des Seienden zu einem Geeinten ist seinem ursprünglichen Seinssinn nach notwendige Folge (finis) der einigenden Einheit (Fügung) seiner Gründe in Teilnahme an der Seinstotalität. Miteinander korrespondierendes Einssein und Vielfältigsein kann selbst wiederum auf analoge Weise (graduell) mannigfaltig sein. Einssein kann aber nicht in ein und derselben Hinsicht mehrfach und vielfach (Vielfalt, Mannigfaltigkeit, Pluralität) sein, sondern ist seinem Seinssinn nach notwendig auf eine entsprechende Vielheit bezogen (korrelatives Einssein), auf das in sich differenzierend und differenziert Auseinanderliegende. Umgekehrt ist Vielheit in ihrem Mit- und Durcheinandersein notwendig auf ein Einssein so bezogen, dass sich Aufgang, Offenbarkeit und Worumwillen des Seins notwendig als Eins- und Vielfältigsein ereignen. Ganzsein eines Ganzen (dieses distributiv verstanden!) jeweils als vereinigte oder einend-geeinte Mannigfaltigkeit ist nicht monadisch, sondern besteht in einer Vielfältigkeit der Weisen von Teilnahme, Durchdringung, Kommunikation, Bezugsidentität an der Welt (der Offenheit des Anwesens), und zwar so, dass alles in jedes und jedes in alles geht, alles in alles wirkt, und weiter, dass alles einander durchdringt, alles in allem da (anwesend) und das All in allem da ist. Jedes Einzelne
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(als im Da Anwesendes) nimmt Teil am Weltganzen und ist so erst ganz es selbst als die kleine Welt, die es in der großen Welt ist. Dabei ist die Beziehung von Makround Mikrokosmos nicht als ein hierarchisches Abbildungsverhältnis vorzustellen, sondern besser als Mannigfaltigkeit der Partizipationsweisen (auch ,Wieder-gabe‘, ,Wieder-holungen‘, Spiegelungen und Perspektivierungen): als Weisen des Anwesenlassens des Ganzen und des anwesen lassenden Teilnehmens am Ganzen sowie des Teilnehmens aneinander bzw. des einander Anwesenlassens. Ich verweise hier, ohne andere Traditionslinien auszuschließen, auf den großen Gedanken des Nikolaus von Cues von der complicatio und explicatio des Ganzen,112 welches jedes Einzelne auf seine Weise unmittelbar zur Erscheinung bringt, versammelt und enthält, enthüllt und so repräsentiert. Das Universum (All) ist als universelle Einheit in der Vielheit (einander ergänzender und verschieden abgestufter Einzelner) die Explikation ihres absoluten Ursprungs. Was als Mannigfaltigkeit zum Vorschein kommt, als Explikation (»aus-einander-rollende Ent-faltung«), expliziert jedoch mehr als eine einfache Einheit den Ursprung. Weil im Ursprung selbst Pluralität (in nicht numerisch begrenzter Weise) und Singularität koinzidieren, drückt der Hervorgang (excessus) einer Mannigfaltigkeit eine größere Vollkommenheit des Seienden aus (als Simplizität). Jedes beliebige Ding (als Teil des Universums) begegnet wesenhaft als eine Viel-Einheit, weil es im Vollzug seiner Herkunft auf diese oder jene verschränkte (zusammengezogene, partikuläre) Weise das Universum ist. Weil das Ganze im Teil anwesend ist und erscheint, ist es durch jeden Teil in jedem anwesend, explizieren alle Einzelnen, alle einend-geeinten Vielen, das Ganze, und das meint (aus der ursprünglichen Erfahrung des Anwesens geschöpft) mehr und Ursprünglicheres als eine abstrakte Zuordnung von verstandesmäßigen Denkbarkeiten der Dinge: begrifflich-kategoriale Verknüpfung von Vielheit (Besonderheit) als geordnete Einheit (Allgemeinheit) zusammengenommen zur Allheit (Totalität).
6.4.2 Ganzsein als transzendentales Eins- und Vielfältigsein
Einssein und Vielfältigsein ist, wie schon ausgeführt, ein ontologisch-transzendentaler (d.h. mit dem Sein des Seienden konvertibler) Gegensatz. Geeintsein bedeutet in sich notwendig auch Geeint- und Vereinigtsein mit Anderen, besteht in Mannigfaltigkeit des Geeintwerdens. Vielfältiges kann ohne Zusammenhalt, Verbundensein, Zusammengehörigkeit, ,Durch-einander-sein‘ bis hinein in alle Gestalten der 112 Vgl. dazu Nikolaus von Kues, De docta ignorantia, lib. II, cap. 3– 6, in: Philosophisch-Theologische Schriften, Bd, 1, 330 – 355.
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Auseinandersetzung weder sein noch gedacht werden. Der transzendentale, alles Seiende überschreitende Verständnishorizont dieses ontologischen Urphänomens ist kein ideell-spekulativer, kein bloß quantitativ-kategorialer oder mathematischer, sondern durch unsere Teilnahme an der Welt eröffnet. Wir haben vom lebensweltlichen Bezug von Mensch und Welt auszugehen, von unserem ,Da-sein‘ in der Welt, wie sie uns konkret nur in Begegnung mit innerweltlichen Seienden aufgeht. Bli cken wir um uns und auf uns: Konkret verstehen und erfahren wir nicht nur Seiendes, sondern Seiendes in seinem Sein (das Walten von Offenbarkeit des Seienden in dem, worum es jeweils geht), und zwar in einer Vielfalt auseinandergefalteter Weisen und Fügungen, als Seinsvielfalt, Seinsmannigfaltigkeit in Sinn- und Bedeutungsmomenten. Seiendes (Anwesendes als das sich Zeigende und Mitteilende) ist uns nicht anders zugänglich und offenbar denn als etwas in irgendeiner Weise Eines, Geeintes und/oder Einigendes, korrelativ bezogen auf eine irreduzible und letztlich unabsehbare Mannigfaltigkeit im Anderssein Andersseiender. Aber dieses Walten von Offenbarkeit des Seienden ist wesenhaft ein weltbezogenes. Mit dem Hinweis auf die Weltzugehörigkeit der Seienden präjudizieren wir nicht einen abgehobenen Vorrang des Einsseins der Welt113 vor dem Vielfältigsein innerweltlicher Seiender, denn innerweltliches Seiendes verstehen wir nur in und von der Welt her als dem Offenen, der Offenbarkeit und Offenheit des sich in ihnen weggebenden Seins, also in dieser ontologischen Urdifferenz von Sein und Seiendem. Der eine lebensweltliche Bezug von Mensch und Welt geht uns in der jeweiligen Situation nur als ein in sich selbst vielfältiger auf – im Anwesen der Mannigfaltigkeit der Weisen und Fügungen des uns begegnenden Anwesenden. Der Ausgang vom Daseinsganzen (kollektiv verstanden) besagt also eine In-Blick-Nahme einer Mannigfaltigkeit der Weisen, sich zum Ganzen der Welt zu verhalten, und dieses Verhalten vollzieht sich konkret in unmittelbarer Kenntnisnahme des uns begegnenden Seienden und des Seienden, das wir inmitten anderer Seiender selbst sind. Der ontologisch tiefste Ansatz geht, wie gezeigt wurde, von der Partizipation des Seienden an der Seinstotalität aus, insoweit es selbst an der Totalität teilnimmt und diese Totalität in seiner ureigensten Weise ist und im Mitsein austrägt (differenziert).
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6.4.3.1 Zum integralen Ganzsein in aristotelischer Tradition
Insofern ein Ganzes zu sein angefangen hat, lassen sich Teile, Komponenten, Konstituenten usw. unterscheiden, in die das Ganze differenziert und gefügt ist. Ihre An113 Als ,Universum‘, das in eins Gekehrte, in eine Einheit Zusammengefasste, die ganze Welt (als Inbegriff aller Teile), das Weltall.
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teilhaftigkeit endet mit dem Untergang und Zerfall des Ganzen. Differierende Teile, Komponenten, Konstituenten usw. sind einzig nur im Walten eines echten Ganzen als ihrem einigenden Band da, lassen das Ganze (nicht zur Gänze, sondern eben teilhaft) anwesen und stellen es so dar. Damit ist die wichtigste jener mehrfachen Bedeutungen des Ganzen, die Aristoteles unterscheidet, in den Blick genommen: »Als Ganzes bezeichnet man das, dem keiner der Teile, deretwegen es ein der Natur nach Ganzes genannt wird, fehlt.«114 Heidegger umschreibt diese Bestimmung so: »Etwas ist ein lon, bei dem nichts abwesend ist, bei dem kein Teil, kein zugehöriges Bestandstück abwesend ist.« Er bedenkt das Gesagte zu Recht in der Spannung von An- und Abwesen, Da-sein und Weg-sein. Die griechisch gedachte Anwesenheit ist ontologisch und nicht bewusstseinstheoretisch oder linguistisch gedacht und daher nicht mit vorstellungsmäßiger Präsentation (Vergegenwärtigung von etwas) oder Repräsentation (auf sich zu- und zurückstellendes Vorstellen und so erst Gegenwärtigmachen und sich Präsentieren) zu verwechseln: »Positiv gesagt ist das lon die volle Anwesenheit des Seienden in dem, was [jeweils] zu seinem Sein gehört. Unser Ausdruck ,Vollständigkeit‘ gibt das ausgezeichnet wieder; das Seiende ist in seinem vollen Stand.«115 Was zu seinem vollen Stand, ja zum vollen Ende, zur Vollendung, gekommen ist, nennt Artistoteles das tleion, das Vollkommene.116 Heidegger macht noch darauf auf merksam, dass Aristoteles das Vollkommene (tleion) gleich dem Ganzen (lon) de finiert: »,tleion ist einmal das, bei dem auch nicht ein einziges Bestandstück außer halb ist.‘[117] Das lon bedeutet also […] die volle Anwesenheit der das Fertigsein eines Seienden ausmachenden Bestandstücke.«118 Das tleion ist das Seiende, das zu seinem
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114 Aristoteles, Met. V, 26, 1023 b 26 f. (Übersetzung: F. F. Schwarz): te δ ti . Gleich ob Ganzes oder Teil, Seiendes oder Rationalitätsformen der Vernunft usw., Aristoteles ist stets an den vielfachen Bedeutungen einer Sache interessiert, was ihm das Lob von W. Welsch einbrachte (Unsere postmoderne Moderne, 277–284, hier 277): »Aristoteles ist generell der traditionelle Philosoph der Pluralität – und sollte als solcher geschätzt werden.« Dennoch taucht bei Aristoteles in der Beurteilung von Grundstrukturen aller Lebewesen ein typisch subordinationistisches Ganzheitsverständnis auf: »[…] der Gegensatz von Herrschendem und Dienendem tritt überall auf, wo etwas aus mehreren Teilen besteht und eine Einheit bildet, seien die Teile nun kontinuierlich oder diskret. Und dieses Verhältnis der Über- und Unterordnung findet sich bei den beseelten Wesen auf Grund ihrer ganzen Natur« (Politik I, 5, 1254 a 28–32; Übersetzung: E. Rolfes, 9). 115 M. Heidegger, GA, Bd. 19: Platon: Sophistes, 79. 116 Wir hören das Wort heute nominal bzw. substantivisch. Eine verbale Bedeutung hatte auch das zum Substantiv »Vollkommenheit« gehörige, aber untergegangene deutsche Verbum »volkomen« im Mittelhochdeutschen. Ähnlich meint das Lateinische etwas durch und durch machen, etwas fertigmachen, durchführen, zu Stande (zum Stehen!) oder zu Ende bringen, vollenden. Perficio ist das Stammwort für perfectio (Ausführung, Vollendung, Vervollkommnung, Vollkommenheit) und für (dessen Ergebnis) perfectus. 117 Aristoteles, Met. V, 16, 1021 b 12. 118 M. Heidegger, GA, Bd. 19: Platon: Sophistes, 79.
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Sein und in sein Sein gekommen ist, das fertig da ist – also etwas durchaus Phänomenales, das uns alltäglich betrifft. Der Gedanke einer quantitativ-formalen, äußeren Vollkommenheit des Fertiggestellten ist hier nicht ausgeschlossen – einseitig weitergeführt finden wir ihn heute in der Idee technischer Perfektion, der alles, auch das Menschliche, unterworfen werden soll. Doch bei Aristoteles ist eher an eine qualitativinhaltliche Vollkommenheit im Sinne eines ,inneren‘ Vollendetseins zu denken, an eine Bestimmung menschlicher Fertigkeiten und überhaupt des Gutseins, um das es geht, ja auch des Schönen. Das Téleion ist dann nicht eine Eigenschaft des Seienden, sondern »ein Sein, eine Weise des Seins selbst […,] eine Bestimmung des Seins des Seienden […]«.119 Die primäre Bedeutung des tleion, des Grundzugs der Vollkommenheit von Seienden, ist für uns wichtig: Über das jeweilige vollkommene Seiende hinaus gibt es nichts (keinen einzigen Teil), ist nichts weiter da, was das Sein des betreffenden Seienden mit ausmachen würde. Bemerkenswert ist das Beispiel, das Aristoteles dafür anführt: Derart vollendet ist für ein jeweils Daseiendes die Zeit, außer der es nicht noch eine gewisse Zeit gibt, die jene mit ausmacht. Sagt man mit dem Buch Kohelet, »für alles ist eine [festgelegte] Zeit«,120 so ist diese Zeit, die es zu sein gibt, angesprochen. Der aristotelische Vollkommenheitsgedanke besagt zwar, dass etwas ganz und heil sein kann oder ist, hat aber mit heiler Welt im Sinne eines hierarchischen Gefälles von vollkommenem Urbild (übergestülpter Idee) und unvollkommenem Abbild nichts zu tun, weil das, was sich von ihm selbst her und an ihm selbst zeigt, gefragt ist. Im Grundzug der Vollkommenheit als das, worüber hinaus nichts anderes anwesend ist, ist eine »bestimmte Seinsmöglichkeit eines Seienden […] in seinem Sein eigentlich bestimmt«, und zwar so, dass »Seiendes hinsichtlich seiner Seinsmöglichkeiten zu seinem Ende gekommen ist«.121 Das zu seinem Ende Gekommensein des Seienden hat den ontologischen Charakter der Grenze,122 des Worumwillen etwas geschieht,123 der enthüllenden Gestaltwerdung, ja überhaupt des Gehens in das Äußerste (scaton), in die Eigentlichkeit des Daseienden, aber im übertragenen Sinn auch die Bedeutung des Seins zum Ende, zum Untergang und zur Vernichtung, 119 Vgl. M. Heidegger, GA, Bd. 18: Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, 80 –97, hier 89. 120 Vgl. 3,1–9. Das Buch ist übrigens zur Zeit des Aristoteles um die Mitte des dritten Jahrhunderts verfasst worden. 121 M. Heidegger, GA, Bd. 18: Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, 85. – Erst aus einem ontologischen Verständnis des vollkommenen Ganzen ist Teleologie (im Unterschied zur ontischen Teleonomie des intelligenten Designs) zu begründen und kann so etwas wie ein teleologischer Aufweis des Daseins Gottes in Frage kommen. 122 Vgl. dazu vom Verf. (1997c), Zur Erscheinung der Endlichkeit als Grenze. Ein Beitrag zur Atheismus-Forschung und zum Vorverständnis philosophischer Theologie, in: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Bd. 2, 117–138. 123 Siehe dazu unten den Abschnitt 7: Philosophische Theologie und praktische Philosophie.
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124 Vgl. beispielsweise Platon, Timaios, 32d –33a 1: In stetiger In-Blick-Nahme des Guten, Schönsten und unter dem Intelligiblen in jeder Beziehung Vollkommenen hat der Demiurg den Kosmos tleon) aus vollkommenen als ein »gänzlich vollständiges Lebewesen (lon ti m1lista z mer wn)« Bestandteilen (k telwn t wn gefügt. 125 Vgl. dazu vom Verf. (2007), Was besagt Privation? Zur Sprache der Abwesenheit. 126 Vgl. L. Oeing-Hanhof, Art. Ganzes / Teil, in: HWP, Bd. 3, Sp. 5–13. 127 Thomas von Aquin, Sth I, q. 73, a. 1. 128 Thomas von Aquin, III Sent., dis. 33, q. 3, a. 1, sol. 1 (nr. 268): integralis enim pars intrat in constitutionem totius, sicut paries (in constitutione) domus. Unter Teil eines Ganzen im eigentlichen Sinne versteht Thomas das, was unmittelbar zur Konstitution eines Ganzen führt (venit) – im Unterschied zum Teil eines Teiles: In peri hermeneias, lib. I, lec. 6 c, nr. 79.
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zum Tod. Nur das heile Ganze kann ein gebrochenes Ganzes werden. Es geht um das jeweils mögliche Ganzsein, nur darum, nicht um ein davon abspringendes Ideal an Vollkommenheit, um eine ideale Ganzheit. Da es hier um die konkrete Vollkommenheit im Ganzsein geht, wird darauf zu achten sein, dass und wie die Bestandstücke oder Anteile eines Ganzen selbst vollkommen sein müssen.124 Auch Art und Grade des äußeren bis innigeren Verbundenseins sind hierbei zu beachten und nicht für selbstverständlich zu halten. Solange ein Seiendes noch vorliegt, kann seine Vollständigkeit durch die Abwesenheit ,natur-notwendiger‘ Teile eingeschränkt und versehrt sein. Ontologisch gehören hierher die als privativ gekennzeichneten Seinsweisen des Abwesens,125 die sich im Da des Offenen als anwesend vielfach bekunden (freilich nicht als Anwesende, sondern in ihrem ,Weg‘sein), und zwar durch Wegnahme, Entziehung, Aufhebung, Verlust, Fehlen, Beraubung, Verstümmelung, Zerbrechen, Verneinung usw. dessen, was Seiendes (Waltendes) vom Sein (Walten), vom Aufgang seiner Natur her, seinem innersten Wesen und Gesetz nach ist. Mittelalterliche und neuzeitliche Metaphysik rezipierte weitgehend das differenzierte Ganzheits- und Vollkommenheitsverständnis des Aristoteles bzw. aristotelischer Philosophie.126 Für uns kommt hier besonders das Ganz- und Vollkommensein eines Ganzen auf Grund der Vollständigkeit der Teile in Frage, wenn beispielsweise Thomas von Aquin sagt, vollkommen ist ein Ding (res) bzw. selbstständiges Seiendes (substantia), wenn die Wesensform »aus der Integrität der Teile entspringt (quae ex integritate partium consurgit)«.127 Ein Ganzes, das in dieser grundlegenden Vollkommenheit besteht, wird terminologisch integrales Ganzes (totum integrum) genannt. Das lat. integer besagt unversehrt, unverletzt, unverstümmelt, unvermindert, ungeschmälert, unverkürzt, noch ganz, also heil und auch blühend. Die Integrität wird nicht nur vom anwesenden Ganzen, sondern auch vom Teil ausgesagt. Der integrale Teil (pars integralis) konstituiert das Ganze auf die Weise, wie die Wände das Gebäude mitkonstituieren, wobei der Umkehrschluss nicht zulässig ist: »Wenn Wände da sind, besteht [deswegen] kein Haus.«128 Das selbstständige Seiende ist mehr als die Summe eigenständiger Konstituenten.
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In der thomanischen Auslegung der berühmten Sentenzensammlung des Petrus Lombardus129 ist das integrale Ganze das, dessen Vollkommenheit in seiner Unversehrtheit aus den seiner Natur nach ihm zukommenden (An-)Teilen zustande kommt (integratur).130 Die Unversehrtheit des Ganzen beruht auf der Vollständigkeit der Teile; und dazu müssen diese selbst ,integer‘ sein, denn »integral« heißen ja »jene Teile, aus denen sich die Vollkommenheit eines Ganzen ergibt«.131 Die integralen Teile eines Ganzen sind gegenseitig aufeinander hingeordnet, »einige haben eine Ordnung nur in räumlicher Lage […], andere aber stehen darüber hinaus in einer Ordnung der Kraft nach, wie die Teile des Sinneswesens, deren erster der Kraft nach das Herz ist […]. In einer dritten Weise werden sie in einer Ordnung der Zeit nach geordnet«.132 »Ein integraler Teil kann das Ganze in sich enthalten, wenn [es] auch nicht gemäß seinem [ganzen] Wesen [gegenwärtig] ist. Denn das Fundament enthält gleichsam der Kraft nach das ganze Gebäude in sich.«133 Dass das Ganze in den integralen Teilen in gewisser Weise (»zugleich und in gleicher Weise gemäß der ganzen Kraft des Ganzen«)134 enthalten und anwesend ist, wird aus dem Partizipationsgedanken verständlich: Es gibt keine Vielheit, die nicht am Einssein des Seienden teilnimmt, denn alles Viele ist im Hinblick auf irgendetwas eins.135 Unterscheiden lassen sich: edlere (nobiliores) und weniger edle Teile, hauptsächliche und nebensächliche Teile (partes principales und secundariae), wesentliche und (im Blick auf die Wesensdefinition unwesentliche oder auf das reale Akzidens) akzidentelle Teile (partes essentiales oder accidentales).136 Zum Beispiel hält schon Aristoteles Kahlköpfe
129 Ebd.: »Jegliches Ganzes läßt sich auf drei Gattungen zurückführen, nämlich das universale, integrale und vermögensmäßige (potentiale) Ganze.« 130 Thomas von Aquin, In V Metaph., lec. 21. Nach der lateinischen Übersetzung nennt Aristoteles das ein Ganzes, cui nulla partium deest, ex quibus dicitur totum natura (dem keiner der Teile fehlt, abgeht, wörtlich ,abwest‘, auf Grund derer es ein naturwüchsiges Ganzes genannt wird). Dies kommentiert Thomas (in nr. 1098): Primo ponit rationem […] totius […] in hoc quod perfectio totius integratur ex partibus (der Sinn des Ganzen besteht vor allem in der Vollkommenheit des Ganzen, das aus Teilen gefügt wird). 131 Vgl. Thomas von Aquin, Sth III, q. 90, a. 3, s.c.: illae dicuntur partes integrales ex quibus integratur perfectio totius. 132 A.a.O., ad 3: omnes partes integrales habent ordinem quendam ad invicem. Sed quaedam habent ordinem tantum in situ […]. Quaedam vero habent insuper ordinem virtutis: sicut partes animalis, quarum prima virtute est cor […]. Tertio modo ordinantur ordine temporis […]. 133 A.a.O., ad 2: una pars integralis potest continere totum, licet non secundum essentiam: fundamentum enim quodammodo virtute continet totum aedificium. 134 A.a.O., ad 3: […] partibus subiectivis singulis adest tota virtus totius, et simul et aequaliter. 135 Thomas von Aquin, De Divinis Nominibus, cap. 13, lect. 2, nr. 975: nulla enim m u l t i t u d o e s t quae non participet uno, quia omnia multa sunt unum secundum aliquid. 136 Thomas von Aquin, IV Sent. dis. 16, q. 1, a. 1, ad 3 qu. (nr. 41); Sth I, q. 23, a. 7; SG I, c. 86, nr. 722; lib. 3, cap. 112, nr. 2859, 2863.
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137 Thomas von Aquin, In V Metaph. V, lect. 21, nr. 1118. 138 Vgl. u.a. Thomas von Aquin, Sth I, q. 74. a. 4; SG IV, 36, nr. 3741 f. 139 A.a.O., III, 112, nr. 2860: Manifestum est partes omnes ordinari ad perfectionem totius: non enim est totum propter partes, sed partes propter totum sunt. 140 A.a.O., nr. 2859: In quolibet toto partes principales propter se exiguntur ad constitutionem totius: aliae vero ad conservationem, vel ad aliquam meliorationem earum. 141 Vgl. dazu J. A. Aertsen, Medieval Philosophy and the Transcendentals, 225, 228.
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nicht für Verstümmelte oder Behinderte,137 denn ein Mensch kann ganz, heil und vollkommen sein, wenn ihm die Haare fehlen. Zur Integrität eines Menschen, der ein aus heterogenen Teilen gefügtes Ganzes darstellt, gehören beispielsweise das Sehvermögen oder der Wille (selbst wiederum als integraler Teil seines Wirkvermögens) oder Form und Materie, Seele und Leib als integrale Wesens-Teile.138 Wenn Thomas sagt, »offensichtlich sind alle Teile auf die Vollkommenheit des Ganzen hingeordnet: denn das Ganze ist nicht um der Teile willen, sondern die Teile sind um des Ganzen willen da«,139 erhebt sich die Frage: Berücksichtigt die Hinordnung aller Teile auf die Vollkommenheit des Ganzen die Eigenständigkeit und Eigenwesentlichkeit der Teile? Wenn die Teile um willen des Ganzen so da sind, dass sie teilweise das Ganze enthalten und es sind, ist dann nicht auch umgekehrt das Ganze um willen jedes und aller seiner Teile da? Waltet nicht das Ganze in der Liebe zum Detail, das zu ihm gehört? Immerhin gesteht Thomas gewissen Teilen eines Ganzen (so den intelligenten Kreaturen im Universum) zu, dass sie um ihrer selbst willen da sind: »In jedem beliebigen Ganzen sind die Hauptteile um ihrer selbst willen zum Aufbau des Ganzen erforderlich: die anderen [die Nebenteile] aber zu ihrer Erhaltung oder irgendeiner Verbesserung.«140 Diese Unterscheidung ist sicher wichtig. Immerhin drückt Vielheit als transzendentale Eigentümlichkeit des Seienden eine positive Vollkommenheit aus, die freilich zur Vollkommenheit des Universums erforderlich ist.141 Doch was in der Bestimmung des integralen Ganzen in dieser aristotelischen Traditionslinie zurücktritt, ist die Bedeutung des Ganzseins für das Teilsein, welches das eigenständige ,Erblühen‘ (Aufgehen) der Teile fördert, sowie die Bedeutung der Integrität der Teile selbst hinsichtlich des integrativen Moments ihrer eigenständigen Entfaltungsmöglichkeiten, ihres Andersseins (aliquid esse), ihrer Heterogenität, die sie dem Ganzen mitgeben. Das Schicksal der Eigenständigkeit der Teile bei ihrer ,Aufhebung‘ in ein größeres Ganzes ist genau zu beachten. Aufhebung kann positiv Einbeziehung und Eingliederung in ein Ganzes bedeuten. Aber hier schleicht sich leicht eine Zweideutigkeit ein: Meint hier Integration, dass die Teile zugunsten ihrer selbst verwandelt, höher qualifiziert und dadurch auch gewahrt werden, oder besagt Aufhebung, primär negativ verstanden, nur so viel wie Auflösung, Einschmelzung und einseitige
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Anpassung in holistischer Perspektive (Integralismus)? Das Walten der Integration ist keineswegs exklusiv als Vervollständigung (Er-gänzung) der Teile im Dienst des Ganzen zu sehen, wobei die Teile nicht um ihrer selbst willen und für sich, sondern nur von der Vollkommenheit und Vollständigkeit des Ganzen her bestimmt werden. Braucht beispielsweise jemand das Qualifiziertsein der Mitarbeiter nur für sich oder kommt es allen mit ihm zusammen Arbeitenden zugute? Das Ganze kann in seinem Sein nicht bewahrt und behauptet werden in der bloßen Nutzung der sonst gleichgültigen Teile. Hieße das Sein bewahren nichts anderes als nur die Einheit bewahren,142 dann würde es darauf hinauslaufen, dass die Teile nur um ihrer Dienlichkeit willen vollständig versammelt da sind. Wie es um die Teile als solche, um ihre Ergänzung untereinander, um ihren differenzierten Beitrag zur Ganzwerdung und ihre Anteilnahme am Ganzen steht, wäre dann nicht in gleich ursprünglicher Weise wichtig.
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6.4.3.2 Paradigmen zum neueren Verständnis des integralen Ganzen Aufgabe ursprünglichen Philosophierens ist es, (die) Phänomene zu retten (s zetai, lat. salvare, aber auch integrare) oder methodisch gesehen: der Phänomene in ihrer höchsten und tiefsten Erscheinungspotenz gewahr zu werden. Demnach kann man sagen, dass im umfassenden Ganzen das Einssein der Seinsfülle nicht nur gegenüber seiner Vielfältigkeit, sondern, weil es ihr zugeeignet ist, für diese Vielfältigkeit gerettet ist, und zwar damit Seiendes jeweils ganz es selbst sein kann; und umgekehrt wird gerade in der Ausfaltung und ,Ent-wickelung‘ der Vollkommenheitsfülle des Einsseins, in diesem Walten der mitteilenden (und nicht ,zer-teilenden‘) Verteilung, die Vielfalt vor dem Zerfall unversehrt bewahrt und gerettet – bekundet sich doch das eigentümliche Einssein des in sich zusammengenommenen Seins in der Freigabe des Seienden zu seinem Sein und Wirken in Selbstständigkeit. Das bedeutet, dass die Vielfältigkeit nicht nur an sich gegenüber dem Einssein, sondern auch füreinander und (dadurch) für das Einigende des Einsseins zu retten ist. Zur eigenständigen Würde der einzelnen Teile bzw. konstitutiven Momente eines Ganzen gehört die Bejahung ihrer optimalen Entfaltbarkeit und Entfaltung (explicatio) vermittels ihrer Einigung. Das Phänomen der Teilhaftigkeit sowie der Gleichursprünglichkeit der konstitutiven Momente eines Ganzen ist nicht hinreichend zugelassen (,gerettet‘), wenn es durch bloße Selbsterhaltungstendenzen vor dem Untergang bewahrt, verwahrt und kontrolliert wird – allenfalls durch absichtliche Expansion, Verlagerung in ein Mehr-sein-Wollen, in den Willen zur Macht. 142 Thomas von Aquin, Sth I, q. 11, a. 1: custodit suum esse, ita custodit suam unitatem.
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Die Formel ,Erhaltung durch Wachstum, durch Stärker-Werden‘ ist blind für ihren eigenen Wesensursprung, der erst aufgehen und wachsen lässt, was zu erhalten wäre. Im Gewähren überfließender Fülle heißt Sein konkret immer Mehrsein (plus esse), aber nicht mit dem Ziel oder der Absicht, sich dadurch exklusiv selbst zu ,behaupten‘, d.h. oben, im Haupt, bleiben zu wollen, und zwar unter Verweigerung des Rückgangs auf das ursprüngliche Wesen des Seins. Die Vollkommenheit eines Ganzen beruht daher nicht nur auf der Vollständigkeit der Teile oder konstitutiven Momente im Blick auf deren Einssein, sondern auch auf der Vollkommenheit des jeweiligen Teils bzw. des mitkonstituierenden Moments, der oder das am Ganzen mit ,teil-nimmt‘. Ist ein Ganzes das zur geeinten Mannigfaltigkeit des in sich Unterschiedenen Versammelnde, welches die Vollständigkeit und Selbstständigkeit des in ihm Unterschiedenen nicht nur unversehrt wahrt, sondern bewahrt, entfaltet und walten lässt, und ist umgekehrt das Ganze in seinem einigenden Einssein durch die ihm eigene Pluralität vermittelt und geeint, dann gehört auch das Vielfältigsein zur Seinsvollkommenheit. Also ist nicht nur das konkrete einigende Einssein eine positive Seinsvollkommenheit, sondern die Vollkommenheit eines Ganzen ist durch den Mannigfaltigkeitsreichtum des Geeinten wesensnotwendig mitkonstituiert. Nach dem bisher Gesagten ist das integrale Ganze durch die Integrierung und das Integriertsein von Eins- und Vielfältigsein zu charakterisieren. Auch wenn Einssein und Vielfalt als gleichwertig und als konvertibel mit dem Sein des Seienden, ja als transzendentaler Gegensatz verstanden werden, ist damit das integrale Verständnis der Vieleinheit noch nicht erreicht, solange man den Eindruck hat, es mit einer Kompromisslösung zu tun zu haben: einig trotz Vielfalt, vielfältig und trotzdem eins. Das integrale Ganze bildet jedoch kein Mittleres zwischen Extremen, sondern steht jenseits dieser Extreme oder Privationserscheinungen. Man müsste viel mehr sagen können: Eins, weil vielfältig, vielfältig, weil eins. Oder das integrale Ganze ist ein Sein ,durcheinander‘, aber nicht im Sinne von Dudens derzeitigem Wörterbuch der deutschen Sprache, das unter »Durcheinander« nur mehr Unordnung und Wirrwarr versteht anstatt einer Weise des Anwesens und Währens, in dem eines durch das andere erst ganz es selbst ist und wird. Hierbei muss aber genau beachtet werden, dass es zwischen Einssein und Vielfältigsein eine niveaugleiche Korrespondenz, ein niveaugleiches Entsprechungsverhältnis gibt. Die immer nur analogen Einheits- und Vielheitskonzepte verschiedener Wirklichkeiten und Bereiche dürfen nicht niveauverschieden zusammengeflickt werden. Zum Beispiel hat das geballte Gemisch eines Bruchsteins aus einem geologischen Konglomerat eine eigene und andere Weise des Einsseins und der Mannigfaltigkeit als etwa das Organ eines Lebewesens und erst recht das eines Menschen, dessen Magen bei-
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spielsweise (ob gesund oder krank) im Weltbezug des Menschseins mitschwingt und an dessen offenständigem Eksistieren – es mitverarbeitend – teilnimmt. Erst wenn solches gesehen und berücksichtigt wird, kann man sagen, je mehr geeinigt, desto reicher die Seinsfülle, desto komplexer, differenzierter, heterogener die konstitutiven Momente, und desto mehr durchdringen die Komponenten einander. Aus dem Anspruch des uns integral zu denken aufgegebenen Ganzen lässt sich das ontologische Axiom gewinnen: Die Korrelate der Gegensätze von Einheit und Vielheit, Alleinheit und Je-Einmaligkeit, Ganzem und Teil wachsen im selben und nicht im umgekehrten Verhältnis zueinander – freilich nur miteinander auf der gleichen Stufe der Wirklichkeit. Das Einssein und Mannigfaltigsein (Fülle) nehmen miteinander in gleicher und nicht in umgekehrter Proportion an Offenbarkeit, Würde und Vollkommenheit zu. Je höher das Einssein, desto mehr kategoriale Beschränkungen, negative Begrenzungen der Teile sind überwunden und es herrscht deren gegenseitige Durchdringung, Perichorese, Kommunion und Kommunikation vor. Erst aus dieser Sichtweise kann von einem integralen Ganzen im eigentlichen Sinne die Rede sein und es fällt das holistische oder totalitäre Missverständnis von einer die Teile negativ aufhebenden, verbrauchenden und absorbierenden Integration weg. Das Denken des integralen Ganzen zieht sich wie eine Goldader durch die Philosophiegeschichte und ist monographisch noch nicht aufgearbeitet.143 Im Hinblick auf die neuere Denkgeschichte des integralen Ganzen sei auf einige europäische Autoren verwiesen, insofern diese Einssein und Vielfältigkeit ausdrücklich korrelativ, integral und darüber hinaus meist transzendental-ontologisch verstanden haben. Ihre Denkansätze können das Gesagte vielfältig illustrieren.
143 Verwiesen sei in Bezug auf das frühe griechisch-kleinasiatische Denken (trotz möglicher Einwände) nur auf Heraklits Logos als das Ein und Alles, als Versammlung des in Auseinandersetzung Entstehenden und Sichzeigenden, etwa auf Fragm. 51, und zwar in Platons Kurzfassung: […] […] (to hen diapherómenon autò), d.h. die Physis ist das Eine in sich Unterschiedene, das einigend sich Differenzierende, das im durchgetragenen Austrag als das sich selbst Auseinandertragende waltet (zitiert nach Platon, Symposion, 187a, vgl. DKV, Bd. 1, 162). Oder a.a.O., 152, Fragm. 8: »Das widereinander Strebende zusammengehend; aus dem auseinander Gehenden [: diapheróntôn = eines aus dem anderen erbringend] die schönste Fügung [der Physis].« Fragm. 10: »Auch die Physis strebt wohl nach dem Entgegengesetzten und bringt hieraus und nicht aus dem Gleichen den Einklang () hervor […].«
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a) Johann Wolfgang von Goethe (1749 –1832)
144 J. W. Goethe, Die Schriften zur Naturwissenschaft, Abt. 1: Texte, Bd. 9: Morphologische Hefte, 8. 145 Ebd. 146 Ebd. 147 J. W. Goethe, Die Schriften zur Naturwissenschaft, Bd. 10: Aufsätze, Fragmente, Studien zur Morphologie, 128. 148 Brief vom 3. Mai 1927 an Christian Dietrich von Buttel, in: Goethes Briefe, Bd. 4, 231.
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Wirkungsgeschichtlich wichtig sind hier Goethes Hefte »Zur Morphologie« (1817– 1822).144 Er versteht das Seiende (das »Bewegliche«) als Vieleinheit: »Jedes Lebendige ist kein Einzelnes [kein abgeschlossenes Individuum], sondern eine Mehrheit; […] eine Versammlung von lebendigen selbständigen Wesen […]. Diese Wesen sind teils ursprünglich schon verbunden, teils finden und vereinigen sie sich. Sie entzweien sich und suchen sich wieder und bewirken so eine unendliche Produktion auf alle Weise und nach allen Seiten.« Für diese Werdegestalten entwickelt Goethe schon 1807 eine Art ,Axiom‘: »Je unvollkommener das Geschöpf ist, destomehr sind diese Teile einander gleich oder ähnlich, und destomehr gleichen sie dem Ganzen. Je vollkommener das Geschöpf wird, desto unähnlicher werden die Teile einander.«145 Die alte Unterscheidung des Ganzen, sofern es aus mehr homogenen Teilen oder aus mehr heterogenen Teilen konstituiert ist, wird hier anschaulich in einen Stufenzusammenhang je höherer Vollkommenheit der Darstellung des Ganzen gebracht. Doch statt für die Teile eine zunehmend intensivere Möglichkeit der Teilnahme am Ganzen und der Darstellung des Ganzen und so je immer größere Vollkommenheit (»Unähnlichkeit«) anzunehmen, hebt Goethe nur ihre gegenseitige Dienlichkeit hervor: »Je ähnlicher die Teile einander sind, desto weniger sind sie einander subordiniert. Die Subordination der Teile deutet auf ein vollkommeneres Geschöpf.«146 Goethes Axiom, welches das Verhältnis der Gestalt und ihrer Teile bestimmt, gehört seiner Morphologie an, die er als »die Lehre von den Gestalten und ihren Wandlungen oder Metamorphosen« bestimmt. Ihr phänomenologisch-ontologisch orientierter Ansatz ist zu beachten: Er »ruht auf der Überzeugung, dass alles, was sei, sich auch andeuten und zeigen müsse«.147 Es geht um das, was ist, um das Seiende, das als das sich selbst Zeigende zugänglich ist und sich von sich her in seinem Sein (Grund, Idee, Anlage) zeigt – daher ist Goethes »Urphänomen« auch kein »Grundsatz«, sondern »eine Grunderscheinung, innerhalb deren das Mannigfaltige anzuschauen ist«.148 Mit ihr halten wir uns nicht bei einem Erkenntnisbesitz auf, sondern stehen in reiner Durchsicht zur Sache, um die es geht. Goethes Axiom ist dem entsprechend kein selbstevidenter Grund-Satz, keine bloße Voraussetzung zum Arbeiten mit Werdegestalten, kein empirisch sich mehr oder weniger bewähren-
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des Einsichtigsein, sondern das im phänomenologischen Sinne aus der originären Selbstgegebenheit geschöpfte Offenbarsein eines Sachverhaltes. Das Axiom (als ontologisches!) artikuliert aus der Entsprechung zum Sinn von Sein das, was anfänglich zu denken gibt, was sich aus dem Verborgenbleibenden von sich her zeigt und offenkundig anwesend ist. So heißt Goethes Axiom: in gewisser Weise das Sein selbst als Einheit und Vielfalt erfahren zu lernen und zu verstehen. b) Franz Xaver von Baader (1765–1841)
Vierter Exkurs
Für Baader ist jedes Seiende als solches (d.h. in seinem Sein) »nothwendig zugleich Vieleins und Einsvieles, weil nur das Viele Eines, nur das Eine Viele, d.i. nur jenes einfach, nur dieses ein Vielfaches, Mannigfaltiges sein kann«.149 Der Aufhebung der Vielheit, die im Gegensatz zu Hegels Konzeption primär keinen negierenden Sinn hat, entspricht die Aufhebung der Einheit: Jedes Lebendige, »das ein Vieleins ist«, »will die Vielheit seiner Kräfte und Qualitäten etc. in sich als Einheit aufheben, und sich als Einheit hinwieder in ihnen aufheben, um die Mitte beider sich zu halten, weil nur auf solche Weise Einheit und Vielheit, die vita communis und die vita propria der Glieder zugleich und einander bedingend bestehen«.150 »Aufheben« ist hier ein Sichbewahren und Wahren der Vielheit in der Einheit und der Einheit in der Vielheit in gleicher Ursprünglichkeit. Das ist freilich nur in Freiheit von Selbstsucht und subjektivistischer Selbstbehauptung möglich: »Indem das Glied sich dem Universellen gibt, erhält es vom Universellen seine vita propria zurück. Es ist ein Wechselprocess des Gebens und Empfangens. Das Glied muss sich beständig entselbstigen, und empfängt eben dadurch die Selbstheit als Spende zurück.«151 Erst so wird verständlich, dass »je inniger ein Wesen sich selbst [als anzunehmende Gabe] erfasst (attrahirt), um so freier entfaltet (expandirt) es sich.«152 Einheit und Mannigfaltigkeit widerstreiten daher in ein und demselben Wesen einander nicht: weder im trinitarischen Gott153, noch in den Geschöpfen.
149 F. X. Baader, Sämtliche Werke, Bd. 1: Vorlesung über religiöse Philosophie (1827), 317. 150 A.a.O., Bd. 2: Fermenta Cognitionis (1822–1824), 162. 151 A.a.O., Bd. 13: Aus Privatvorlesungen über J. Böhme’s Lehre (1829), 61. 152 A.a.O., Bd. 2: Fermenta Cognitionis, 163. 153 A.a.O., Bd. 10: Über die Vernünftigkeit der drei Fundamentaldoctrinen des Christentums (1839), 83 ff.
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c) Caspar Nink (1885–1975)
154 C. Nink, Ontologie, 207; vgl. auch Ninks innovatives Spätwerk: Fundamentalontologie, hier besonders das Kap. 2: »Das Seiende ein System der inneren Seinsvieleinheit. 1. Einheit und Vieleinheit«, 91–148. 155 Dazu W. Kern, Einheit-in-Mannigfaltigkeit, besonders 209, angeregt durch K. Rahner, der gleichfalls die korrelative, transzendentale und integrale Dimension im Verhältnis von Einheit und Pluralität herausgearbeitet hat. Dazu später. 156 C. Nink, Zur Grundlegung der Metaphysik, 157; vgl. ders., Fundamentalontologie, 5: »An erster Stelle ist das den Seinskonstituentien [des Seienden] innerliche, in seiner Innerlichkeit ihnen selbst vorgeordnete Sein, dieses selbst aber in seiner apriorischen Beziehung zu seinem nachgeordneten, aus ihm sich ergebenden inneren, apriorischen Grundsein, nicht weniger in seiner inneren, begründet-begründenden, vieleinheitlichen Beziehung zum Seienden, Dies- und Daseienden sachgemäß herauszuarbeiten.« Vgl. 186, Anm. 1., 327 f., Anm. 10, u.ö. 157 C. Nink, Ontologie, 206.
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Caspar Ninks aus dem Potenzial aristotelisch-scholastischer Metaphysik schöpfende Synthese scholastischer Seinslehre erschließt Einheit (Gestalt, Ganzheit) und Vielheit (Mehrheit) als wesensnotwendige transzendentale Seinsvollkommenheiten (Seinsattribute).154 Das ist besonders bemerkenswert, da in der scholastischen Tradition (fast durchgängig bis zur Aufbruchsbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts) die Vielheit als Unvollkommenheit unterbestimmt wurde, weil man in ihr notwendig Nichtsein, einschränkende Endlichkeit, wesentliche Relativität im Gegensatz zur Einheit erblickte.155 Nink geht es vor allem um ontologische Grundlagenerkenntnis: Die Ontologie ist erste, den anderen Wissenschaften vorgeordnete Wissenschaft. Sie »hat als erste, den anderen vorgeordnete Aufgabe die, das Seiende, insbesondere das kontingente Seiende, in seiner inneren Konstitution systematisch herauszustellen.«156 Jedes Seiende ist eine innerlich geordnete »Viel-Einheit« von formal unterschiedenen und verschiedenen Seinsprinzipien (essenzielle Washeit bzw. Wassein, Singularität bzw. Konkretsein, nicht wiederholbares Diesessein und Dasein bzw. Existenz), die in ihm real identisch sind. Nink rezipiert die skotistische »Formaldistinktion«, wenn er eine formale Unterschiedenheit und Verschiedenheit unter realer Identität für die allein nicht selbstständigen Seinskonstituenten annimmt. Mit dem realen Identischsein der inneren Gründe (»con-stituentia«) und Vollkommenheiten ist das Seiende logisch notwendig als Einheit (Etwas-, Konkret-, Dieses- und Daseiendes) gegeben. »Es gibt keine Einheit ohne Unterschiedenheit und formale Verschiedenheit oder Andersheit der die Einheit konstituierenden Prinzipien.«157 Hinzu kommt für das ens contingens, dass seine Konstitutionsgründe sich in der Entgegensetzung von Potenz und Akt zur Einheit ergänzen.
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Die »Einheit beruht so auf Einigung (Gestalt auf Gestaltung, Ganzheit auf Ergänzung)«;158 sie ist nicht ursprünglich einigende Einheit, sondern ungeteilte »geeinigte Einheit«.159 Hierbei ist die Einheit des Seienden jedoch »mehr als Verträglichkeit, Vereinbarkeit oder Zueinanderpassen seiner Elemente; die Elemente sind vielmehr dadurch zur Einheit vereinigt, dass sie real identisch sind« und in mannigfaltiger, innerlich geordneter Beziehung (einem sinnvoll-werthaft-finalen Verhältnis) zueinander stehen und einander ergänzen.160 Nink korrigiert damit ausdrücklich den scholastischen Grundsatz von der Konvertibilität der transzendentalen Seinsattribute ,Seiendes‘ und ,Einheit‘: »Mithin ist der Satz: Omne ens est unum, zu ergänzen: Omne ens est unum multiplex.«161 Besonders im Spätwerk wird herausgearbeitet, dass das Sein niemals »nur eine Abstraktion«, »nichts als das Minimum, das wir von jedem Seienden immer schon wissen« (im skotistischen Sinne), nicht primär »Begriff« (im nominalistischen oder konzeptualistischen Sinne), nicht bloß »Sein als solches« oder gar das »Sein selbst« (etwa im Sinne des Thomas von Aquin oder Heideggers) ist, vielmehr geht das vieleinheitliche Sein, das den Konstituenzien in ihrem Grundsein und Begründen vorgeordnet ist, durch sein innerliches Begründen und Begründetsein selbst völlig auf und manifestiert sich in allen Seienden, Individuell-, Dies- und Daseienden.162 Die Seinsgründe konstituieren das Seiende, weil »das jedem inneren Grund (Konstituens) innerliche, und zwar innerlich vorgeordnete Sein ursprünglich selbst, aber erst in innerer Nachordnung […] essentiell-individuell-diesesbestimmt-existentiell [ist]. Es ist infolgedessen […] vieleinheitlich vollkommen, geordnet ausgezeichnet durch alle transzendentalen Vollkommenheiten«.163 Sein ist dem Einssein vorgeordnet, und zwar durch sich (durch sein inneres, apriorisches Begründen) in apriorischer Folge und Nachordnung innerlich harmonisch eins, und zwar vieleinheitlich, immer aber zu seinem inneren, apriorischen Begründen nachgeordnet eins.164 Wichtig ist, dass nach Nink ontologisches Vor- und Nachgeordnetsein nicht mit Vor- und Nachrangigkeit verwechselt werden darf. Vor- und Nachgeordnetsein des gegenseitig Unersetzlichen begründet daher keinerlei Vor- und Nachrangigkeit.165 Wenn er das Sein des Seienden im metaphysischen Wesen (das Wassein in Realidentität mit dem Singulär- bzw. Konkretsein) erblickt, sucht er den platonischen Grundsatz, welcher 158 A.a.O., 206, vgl. 211. 159 A.a.O., 212. 160 A.a.O., 211. 161 A.a.O., 209. 162 C. Nink, Fundamentalontologie, 191. 163 A.a.O., 6, vgl. zur Abgrenzung: 72, 76 f.; vgl. 68, 76, 208, 250, 390. 164 Vgl. a.a.O., besonders 91 f., 94, 97 u.ö. 165 Vgl. a.a.O., 59, 189.
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166 Vgl. C. Nink, Zur Grundlegung der Metaphysik, Einheit und Vielheit, 101–110. 167 A.a.O., 104. 168 C. Nink, Ontologie, 211, Anm. 8. 169 C. Nink, Zur Grundlegung der Metaphysik, 52. 170 A.a.O., 33. 171 C. Nink, Ontologie, 210. 172 C. Nink, Philosophische Gotteslehre, 172. 173 A.a.O., 170; vgl. 170 –174; vgl. ders., Fundamentalontologie, 465 f.
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der Einheit den Vorrang vor der Vielheit zuerkennt, in seinem ursprünglichen Sinn zu erhellen: Er hält das dem tiefsten Grund der Seinskonstitution entsprechende nachgeordnete Einssein des Seienden für das Ziel der Vielheit konstitutiver Seinsgründe und deshalb für sie innerlich vorgeordnet.166 Einheit ist jene »ontologisch erste Vollkommenheit […], durch welche die sinnvoll-finale Vielheit und Ordnung der Seinswesensgründe und ihrer Vollkommenheiten erst möglich (nämlich einheitlich) ist«.167 Dem entspricht, dass en passant anscheinend doch nur die Einheit als »Grundlage und Ziel der Liebe« anvisiert wird.168 Dennoch kommt »die Mehrheit (Unterschiedenheit und Verschiedenheit) […], nicht äußerlich und nachträglich zur Einheit des Wesens des Seienden und kontingent Seienden hinzu oder in sie hinein. Sie gehört vielmehr zu seiner Konstitution«.169 Das Seiende ist daher nicht die »Summe« der Seinskonstituenten, »ihr ,Zusammensein‘, ihr Neben-, In- oder Nacheinander«, sondern diese Gründe sind »in ihrem Sein, Geord netsein und geordneten Begründen« dem Seienden konstitutiv vorgeordnet.170 Einheit ist ein analoger Begriff und entsprechend der Stufung ihres Subjekts auch selber gestuft.171 Das könnte von der Vielheit auch gesagt werden. »Jedes Seiende ist eine logisch gegliederte Viel- und Ordnungseinheit, am meisten Gott.«172 »Bei den göttlichen Attributen besteht Identität in der Verschiedenheit im höchsten Sinne.«173 Ninks Fundamentalontologie bietet keine Ontologie der Welt als solcher, sie konzentriert sich auf von Gott geschaffenes kontingentes Seiendes, das er in seinem vieleinheitlichen innerlichen Grund- und Begründetsein systematisch freizulegen sucht. Welt ist demnach nur die Gesamtheit der in analogen Abwandlungen in Vielzahl vorkommenden Substanz-Akzidenz-Vieleinheiten, die zugleich als Subjekte und Objekte betrachtbar sind. Durch die, so weit ich sehe, für neuscholastische Denker typische Annahme eines Pluralismus der Seienden im Aufbau ihres Weltverständnisses wird die Sicht auf die Teilnahme jedes partikulären und partiellen Seienden am Universum eher verbaut als eröffnet. Das eine, einzige und einzigartige Ganze der Offenheit des Seins der Seienden und des Aufgangs aus dem verborgen bleibenden Seinsgrund des Universums kommt nicht in Frage. Dennoch kann in Ninks ontologisch-transzendentaler Konzeption der VielEinheit ein beachtlicher Ansatz zu einem integralen Verständnis des Ganzseins erblickt
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werden: »Das kontingente Seiende ist ein vieleinheitliches System des vieleinheitlichen, manifestierten Seins und a priori notwendigen Vollkommenseins.«174 Das von innen her strahlende Vollkommensein des jeweiligen Seienden stellt als harmonisch schön gefügte Viel-Einheit ein integrales Ganzes dar: »[…] das Sein und Seiende bilden ein vieleinheitliches, a priori notwendig geordnetes, harmonisches System.«175 »Die Vieleinheit, die jedes Seiende in apriorischer Folge, Vollkommenheit und Ordnung bildet, ist in apriorischer, unzertrennlicher Folge und Vollkommenheit vieleinheitliche Harmonie (Symphonie). Vieleinheitlichkeit des Seienden besagt seine vieleinheitliche Ungeteiltheit; Harmonie seine vieleinheitlich geordnete Ausgemessenheit.«176 d) Romano Guardini (1885–1968)
Vierter Exkurs
Eine besonders reiche Entfaltung im Denken des Ganzen von Einheit und Mannigfaltigkeit findet sich in Guardinis »Philosophie des Lebendig-Konkreten«. Alles LebendigKonkrete besteht nur als »geeinte Gegensätzlichkeit« und »in gegensätzlich aufgebauter Einheit«.177 Insofern die Gegensätze voneinander abgrenzbare, »letzte Allgemeinheitsstufen des Gegensätzlichen« darstellen, werden sie (im Anschluss an die aristotelischscholastischen Kategorien) kategoriale Gegensätze genannt.178 Kategoriale Gegensatzpaare sind zum Beispiel Teil und Ganzes (= Einzelheit und Ganzheit) oder Dynamik und Statik oder In-sich-Stehen und Sich-Überschreiten. Das »Faktum echter Gegensätzlichkeit an sich« beschreiben hingegen die (im ontologischen Sinne der scholastischen Transzendentalien) transzendentalen Gegensätze: Einheit und Mannigfaltigkeit (= Verbundenheit und Geschiedenheit, Zusammenhang und Gliederung) neben Verwandtschaft (Analogie) und Besonderung (Verschiedenheit).179 Im Lebendig-Konkreten stehen die Glieder (Momente, Seiten, Pole) der Gegensatzpaare in einem korrelativen, komplementären oder Ergänzungsverhältnis. Die Seiten sind in dem Sinne gleichwertig, als keiner an sich ein Vorrang zukommt. Jede Seite ist mit, an und in der anderen Seite sowie durch jene mitgegeben. Dem Grad der Aktualität nach sind die Größenverhältnisse der Pole ständig im Fluss; damit wandelt und verschiebt sich fortwährend die gegensätzliche Spannung. Die Bewegung kann somit von einer Seite zur Gegenseite übergehen und in einem agogischen 174 C. Nink, Fundamentalontologie, 488. 175 A.a.O., 433. 176 A.a.O., 144, vgl. 154, 529. 177 R. Guardini (1998, 11925), Der Gegensatz: Versuche zu einer Philosophie des Lebendig-Konkreten, 133. Vgl. dazu die Vorstufe aus 1914: Gegensatz und Gegensätze. Entwurf eines Systems der Typenlehre. 178 R. Guardini (1998), Der Gegensatz, 30 f. 179 A.a.O., 72 f.; vgl. 30 f. und 80 f. Vgl. dazu auch: (1914) Gegensatz und Gegensätze, 10 ff.
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180 R. Guardini (1998), Der Gegensatz, 49. 181 A.a.O., 133. Gegen die »hegelisch-romantische Aufhebung aller Wesensunterschiede in einer Mediationsdialektik« und die romantische Polaritätsauffassung vgl. 24, 40 (Anm. 11), 44 f., 49, 82, 133– 136. 182 A.a.O., 40. 183 A.a.O., 173 f. 184 Vgl. a.a.O., 24. 185 A.a.O., 138. 186 R. Guardini (1992), Liturgie und liturgische Bildung, 78, Anm. 57.
Vierter Exkurs
Rhythmus periodisch hin und hergehen. Das Leben kennt die divergierende Bewegung: die »integrierende und differenzierende Tendenz; [die] Richtung auf das Ganze und auf das Einzelne, auf das Allgemeine und das Besondere«.180 Doch hat die aktuelle Schwingungsbreite der Lebensbewegung zwischen den potenziellen Polen bestimmte immanente Grenzen: Der Versuch, einen Pol rein (absolut, autonomistisch) zu verwirklichen, das Ganze des Lebens nur auf eine einzige Seite zu stellen – ohne wenigstens ein Minimum der Gegensatzseite zuzulassen –, führt notwendig in den Untergang. Einheit kann daher nie ohne ein Minimum an Vielheit und Vielheit nie ohne minimale Einheit sein. Ein harmonisch-stationäres Gleichgewicht stellt ebenfalls eine Unmöglichkeit dar, weil es zur Auflösung und zum Auseinanderbrechen der Gegensatzeinheit führt. Nur im Vorübergang ist ein Ausgleich (innerhalb der Gesamtbewegung alles Lebendig-Konkreten) lebendig möglich. Das in der Spannung des Gegensatzes Auseinanderliegende ist daher weder ein bloß mechanisches, aus bloßen Teilen zusammengestücktes oder -gemischtes Nebeneinander, noch schlägt eine Seite in dialektischen Antithesen in die andere um. Eine auf Grund monistischer Tendenz »durch Vermengung erkaufte ,Synthese‘ in einem höheren Dritten« ist ausgeschlossen.181 Die sich in ununterbrochener Beziehung zueinander befindlichen Seiten des Gegensatzes können stets nur zugleich bestehen und bleiben so immer in ihrer qualitativen Eigenständigkeit und Sinnverschiedenheit gewahrt. Dieses eigenartige Verhältnis ist von solcher Ursprünglichkeit, dass Guardini von einem »Urphänomen« spricht.182 Das »Sein in Spannung« ist in diesem Sinne »ein Erstes, Ursprüngliches«, »das natürliche Mysterium des Lebendigen«.183 Die Gegensatzphilosophie führt in kritischer Rezeption die romantische (und insbesondere Goethes) Idee der Polarität fort.184 Der Gegensatzgedanke will »Morphologie oder Strukturlehre des Lebens« sein.185 »Die konkrete Gestalt ist immer die Einheit der Gegensätze«,186 und zwar der physisch-kategorial erfahrbaren (wie beispielsweise Fülle und Form) sowie der metaphysisch-kategorialen, in denen sich das Verhältnis des Quellgrundes zum Erfahrbaren auseinandertfaltet (wie beispielsweise Innewohnen und Darüberstehen, Immanenz und Transzendenz). Durch sie alle ist die konkrete Gestalt
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in der Erscheinung ihres Seins (der Innerlichkeit) bestimmt. Die darin enthaltene Gegensätzlichkeit als solche entfalten die transzendentalen Gegensätze. Alle Gegensatzpaare sind so miteinander verflochten, dass sie ein Gesamtsystem von Beziehungen darstellen. Hierbei bilden sämtliche Gegensatzpaare (unter Anspruch auf Vollständigkeit) ein System von aufeinander nicht mehr rückführbaren Reihen, deren Seiten in einem besonderen Verwandtschaftsverhältnis stehen,187 zum Beispiel Vielheit, Teil, Akt, Fülle und Produktion auf der einen Seite und Einheit, Ganzes, Bau, Form und Disposition auf der anderen. Sie bringen »die eigentlichen, grundlegenden ,Typen‘ des Lebens«, den »Grundgegensatz« oder die »Grundpolarität«, zur Sprache.188 Dass Einheit und Vielheit transzendentale Vollkommenheiten des Seins als solchem sind, führt Guardini nicht näher aus. Obwohl sie die Gegensätzlichkeit der Seinsgestalten an sich darstellen, werden sie in beide Reihen von Gegensatzpaaren eingeordnet, insofern diese die »Grundzüge eines Systems der Typologie« aller Bereiche des Lebendig-Konkreten zum Ausdruck bringen.189 Mit der morphologischen und typologischen Struktur des Lebendig-Konkreten wird jedoch keineswegs bestimmt, was etwas ist, und auch nicht, wie Personen als solche oder wie Seinsbereiche (zum Beispiel »Natur« und »Geist«) sich zueinander verhalten, sondern nur die allgemeinen Strukturen, der konkrete Vollzug des Lebendigseins alles Lebendigen bzw. aller Daseinsbereiche. Guardini geht hierbei vom menschlichen Bereich aus. Doch erstreckt sich die Gültigkeit der Gegensatzidee auf »alles, was ,lebendig‘ ist, Tier und Pflanze. In bestimmter Weise vielleicht alles, was ,Ding‘ [= »selbständiges Seiendes«190] heißt.«191 Darüber hinaus wird im Rahmen der platonisch-christlichen Sicht Guardinis zurückhaltend angedeutet, dass »das Urbild wie von allem Geschöpflichen, so auch von der Tatsache der Gegensätzlichkeit« in Gott liege.192 e) Wladimir Sergejewitsch Solowjew (1853–1900)
Vierter Exkurs
Der russische Religionsphilosoph und Paläontologe hat ausdrücklich die Idee des integralen Ganzen entwickelt, die sein ganzes Denken trotz neuplatonisch-idealistischer Ausrichtung bestimmt hat. Unter Idee versteht er das, »was an und für sich würdig ist, zu sein«, aber das ist »nur das allvollkommene oder absolute Wesen, das völlig
187 Vgl. R. Guardini (1998), Der Gegensatz, 88–92. 188 A.a.O., 139. 189 A.a.O., 163. 190 R. Guardini (1914), Gegensatz und Gegensätze, 15. 191 R. Guardini (1998), Der Gegensatz, 128. 192 A.a.O., 112 ff., Anm. 29.
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193 W. Solowjew, Schönheit als Offenbarung der All-Einheit, in: Deutsche Gesamtausgabe der Werke, Bd. 7: 117–189, hier 131. 194 A.a.O., 131 f. 195 Ebd. 132. 196 W. Solowjew, Der Sinn der Geschlechtsliebe, in: Deutsche Gesamtausgabe der Werke, Bd. 7, 201–272, hier 266. 197 Ebd.
Vierter Exkurs
frei von allen Beschränkungen und Mängeln ist«.193 Im Weltprozess werden die partiellen Existenzen auf Grund ihrer Beziehung zum integralen Ganzen der konkreten Idee dieses absoluten Seins teilhaftig, das sich allmählich in ihnen inkarniert. Einerseits ist das »einzelne Sein […] nur insoweit ideal und würdig [zu sein], als es das allgemeine Sein nicht verleugnet, sondern ihm in sich Raum gibt«, und andererseits ist »in gleicher Weise […] das [sowohl logisch als auch stofflich verstandene] Allgemeine soweit ideal oder würdig [zu sein], als es dem Partiellen in sich Platz einräumt«. Daraus ergibt sich für Solowjew die »formelle Definition der Idee oder der würdigen Art des Seins«: »Die Idee ist völlige Freiheit der Bestandteile in der vollkommenen Einheit des Ganzen.«194 Hierbei kann »Selbständigkeit der Teile oder der freie Spielraum des Seins« zusammen mit der »Einheit des Ganzen, das seinen Teilen diesen Spielraum gibt«, in einer komplexen Mannigfaltigkeit von Stufen mehr oder weniger vollkommen (verwirklicht bzw. verkörpert) sein.195 Die Richtung, in die der kosmische Prozess geht, ist durch das Axiom bestimmt, wonach »die größte Einheit des Ganzen sich in der größten Selbständigkeit und Freiheit der partiellen und einzelnen Elemente verwirklicht – in ihnen [den Elementen] selbst, durch sie und für sie«.196 Es ist ein Prozess der Integration, der das Plurale verschiedenster Elemente und Bereiche auf dem Weg des Einswerdens, der Wiederherstellung in absoluter Ganzheit (All-Einheit) zu sich freigibt. Integration (russisch: iscelenie = Heilung, zum Adjektiv: celyj = unversehrt, unvermindert, ganz, neu, lat. integer) besagt daher völlig anderes als die postmodern befürchtete totalitäre Aufhebung der Pluralität des Heterogenen und Mannigfaltigen: »Die vollkommene All-Einheit verlangt schon ihrem eigentlichen Begriff nach volles Gleichgewicht, volle Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung zwischen dem Einigen und Allem, zwischen dem Ganzen und den Teilen, zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelnen.«197 Der kritische Punkt der integralen Einheit ist das Verhältnis »der einzelnen Elemente der Welt zueinander und zum Ganzen«, das gegeben ist, »wenn, erstens, die einzelnen Elemente einander nicht ausschließen, sondern im Gegenteil sich gegenseitig eines im anderen setzen, solidarisch untereinander sind; wenn sie zweitens das Ganze nicht ausschließen, sondern ihr Einzel-Dasein auf der einen allgemeinen Grundlage behaupten; wenn schließlich drittens diese all-einheitliche
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Grundlage oder der absolute Urgrund die Einzel-Elemente nicht unterdrückt und nicht absorbiert, sondern, sich in ihnen entfaltend, ihnen vollen Spielraum in sich gibt«.198 f) Leo Gabriel (1902–1987)
Vierter Exkurs
Leo Gabriel hat (in eigenständiger Rezeption u.a. von Vladimir Solowjews integralem Denken199 und Michele Federico Sciaccas ontologisch fundierter Philosophie der Integralität200 den Gedanken des integralen Ganzen im Bereich der Grundformen der Erkenntnis sowie der Grundgestalten der Logik präzisiert und entfaltet.201 Es geht ihm um ein unabschließbares dialogisches Denken der »Teilhabe an der Wahrheit des Ganzen«,202 die unausschöpfbar ist. Dieses Denken entspricht der fundamental-ontologischen Differenz von Sein und Seiendem durch die fundamental-logische Differenz von Grund und Gegenstand, von systematischer Explikation der Totalität (Idee) und Identifikation des Wahrgenommenen im Begriff. Gabriel definiert das »integrale Ganze« als »eine die Teile integrierende Ganzheit, das heißt, die Teile bewahrende und entfaltende Verbundenheit«.203 »Das Ganze [hat] als Gestalt ein Gefüge in sich, [es] ist innen aufgetan, hat inneren Gehalt in der Ordnung seiner Teile, so daß die Teile nicht unterdrückt oder aufgelöst, sondern in ihrer spezifischen Eigenart im und durch das [schöpferisch sie qualifizierende] Ganze erhalten werden. Das Ganze verhält sich zu den Teilen integrierend oder ergänzend: als das aufbauende Gefüge der echten Synthese.«204 Integral heißt hier »Bedachtnahme auf das Ganze, ohne die Teile in ihrer relativen Eigenständigkeit aufzuheben, ohne einen Teil als Ganzes zu setzen, sondern in schöpferischer Wahrnehmung und Entfaltung der Teile«.205 Dazu ein transplantationsbiologisches Beispiel aus Gabriels Naturphilosophie: Einem Molchembryo werden die Anlagezellen zu einer Mundzähnepartie entfernt. An deren Stelle wird die Hautanlage eines Frosches eingesetzt. Aus den pluripotenten Zellen entwickelt sich, was mit 198 A.a.O., Schönheit als Offenbarung der All-Einheit, 176. 199 Vgl. Y. B. Raynova/S. Moser, Das integrale und das gebrochene Ganze. Zum 100. Geburtstag von Leo Gabriel. 200 L. Gabriel (1968), Der Einfluss des integralen Denkens Michele Federico Sciaccas auf die österreichische Philosophie. 201 Vgl. L. Gabriel (1954), Vom Brahma zur Existenz. Grundformen aller Erkenntnis und die Einheit der Philosophie; ders. (1949), Logik der Weltanschauung; ders. (1965), Integrale Logik. Die Wahrheit des Ganzen. 202 L. Gabriel (1976), Darstellung meines Denkweges, 242. 203 L. Gabriel (1954), Vom Brahma zur Existenz, 328. 204 L. Gabriel (1949), Logik der Weltanschauung, 22. 205 L. Gabriel (1954), Vom Brahma zur Existenz, 329.
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206 Vgl. L. Gabriel (1951), Das neue Weltbild II: Zeit und Leben, 331 f; vgl. H. Spemann, Experimentelle Beiträge zu einer Theorie der Entwicklung, 236 f. 207 L. Gabriel (1976), Darstellung meines Denkweges, 240. 208 Ebd. 209 L. Gabriel (1956) Integrale Logik, 48. 210 L. Gabriel (1954), Vom Brahma zur Existenz, 329. 211 L. Gabriel (1956) Integrale Logik, 48. 212 L. Gabriel (1965), Integrale Logik, 22. 213 Vgl. a.a.O., 247 ff., 420 f. 214 L. Gabriel (1965), Integrale Logik, 22, 72, 139, 156, 187, 196, 273, 356, 392. 215 L. Gabriel (1956), Integrale Logik, 48. 216 Ebd.
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Rücksicht auf das Ganze des Lebewesens nötig ist – ein Gebiss. Aber, so stellt sich heraus, es ist ein Froschgebiss, das heißt, die Eigenart des Teiles, der innerhalb des Ganzen entfaltet wurde, blieb gewahrt.206 Das Wort integral »versteht sich in der integralen Logik von einem Ganzen her, das in sich integer, also ungebrochen in seiner Ganzheit gedacht ist durch Wahrung des Ganzen in logischen Gestalten«,207 aber dieses Ganze, zu dem wir uns verhalten, wird nicht totalitär absolut gesetzt, sondern: »Integralität akzentuiert die Integrität der Teile und [sic!] des Ganzen, das analytisch weder durch seine Auflösung in die Summe der Teile als ihr Aggregat, noch durch die Auflösung der Teile durch das Ganze als dessen Momente – also weder summativ noch dialektisch – erreicht werden kann.«208 Das Ganze ist somit deshalb integral, weil es die aufbauenden Teile (Teilbestände oder Teilkomponenten) »ungebrochen im Ganzen wahrt und sie darin zu integrer Vollständigkeit, zur vollen Erfüllung und Entfaltung bringt«.209 Integration als Vollzug des Ganzen ist daher als »Ordnung der Ergänzung« anzusprechen,210 und zwar »Er-gänzung«211 im Sinne einer »Ganzheitsfügung«, »Fügung zum Ganzen« oder »Integration«,212 als ursprünglicher Akt der (logischen) Gestalt oder, wie man auch sagen könnte, eines komplementären Gefüges. Deshalb ist auch das Ganze nicht einfach vor den Teilen (Aristoteles), weil ihm die Gestaltqualität der Übersummativität zukommt (Christian von Ehrenfels),213 und schon gar nicht ist es bloß in die Teile zerlegt (analytisch) darstellbar,214 sondern es ist vor allem »für die Teile. Es vollzieht deren integrierendes ,Zusammenwachsen‘ zu ,ihrem‘ Ganzen, deren Konkretion.«215 Gemeint sind in der Logik ursprüngliche Gestalten (nicht bloße formalisierte Formen!) der Darstellung, also konkrete Formen der ,ent-sprechenden‘ Darstellung eines Inhalts (wie Begriff, Urteil und systematischer Begründungszusammenhang). »Gestalt ist wesentlich […] das konkretisierende Gefüge des Ganzen [als Einheit des Mannigfaltigen] als integrierende Struktur, die die Eigenschaft hat, die Teile positiv über sich selbst hinaus, d.h. also transzendierend zum Ganzen zu fügen.«216 So sind
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sämtliche Teile »zu überlegener Entfaltung in dem ihnen entsprechenden Ganzen« zu bringen.217 Das Sachmotiv einer nicht auf die Einheit des Ganzen rückführbaren Pluralität, die »radikale«218 und »pluralistische Differenz«,219 wird von Gabriel längst vor dem postmodernen Pluralismus als »Prinzip der Differenz« erkannt: »Der Begriff der logischen Integralität bestimmt das Verhältnis von Identität und Differenz in der Weise, dass das ,principium exclusi tertii‘ ausgeklammert, das Prinzip der Differenz daher integer gewahrt wird.« 220 Der Begriff drückt widerspruchsfreie Identität aus, hingegen das ,Ur-teil‘ eine strenge Differenz, die zwischen Ja und Nein ein Drittes, Mittleres und Vermittelndes ausschließt. Wie sollte aber dann eine Verbindung (Korrelation) von Identität und Differenz möglich sein? Die Integration von Identität und Differenz ist konkret nur über sie hinaus, in einem anderen, in einer Totalität, logisch in einem Begründungs- und Deutungssystem möglich.221 Gabriel hatte ein tiefes Vertrauen in die den Menschen gegebenen realen und schöpferischen Gestaltungsmöglichkeiten, die das, was auf niedrigerer Ebene sich zu widersprechen scheint, auf höherer Ebene miteinander vereinigen können. Was auf tieferer Ebene unvereinbar ist, lässt sich oft schöpferisch auf höherer zusammenbringen. So gilt für ,Flachköpfe‘, die nur Ebenes kennen, die Quadratur des Kreises als absolut unlösbares Problem. Unter Hinzufügung einer neuen Dimension, also im dreidimensionalen Raum, ist es lösbar: in einem Zylinder mit quadratischem Mantel. – Das geometrische Gleichnis besagt nicht nur, dass die Elemente gewahrt werden, wenn sie sich vereinigen und beiderseitig wandeln, sondern auch, dass sie in ihrer Bedeutung für das Ganze einen beachtlichen Zuwachs erfahren, indem sie gemeinsam zu etwas beitragen, wozu sie isoliert gar nicht imstande wären. Die Elemente werden also weder beschnitten, gebrochen, dialektisch durch Negation zur Identität gezwungen noch in ihrem negativen Verhältnis zur Einheit als unvereinbare Differenzen behauptet, sondern unter Einführung in den erweiterten, umgreifenden Horizont eines ihnen entsprechenden Ganzen, unter Wahrung ihrer echten Differenzen und Identitäten, in ein positives Verhältnis gebracht. So entsteht ein integrales Verhältnis von Einheit und Vielheit, das »nicht eine Einheit des Gleichen in ihrer Identität, sondern des Mannigfaltigen, in sich Unterschiedenen in ihrer Differenz (als Bedingung der Möglichkeit konkreter Strukturen)« ist:222 Es ist also 217 Ebd. 218 L. Gabriel (1965), Integrale Logik, 123. 219 A.a.O., 385. 220 A.a.O., XI. 221 A.a.O., 270. 222 L. Gabriel (1976), Darstellung meines Denkweges, 240.
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223 Ebd. 224 L. Gabriel (1954), Vom Brahma zur Existenz, 328. 225 Gabriel (1954), Darstellung meines Denkweges, 240 f. 226 L. Gabriel (1965), Integrale Logik, 292.
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festzuhalten, »dass die Differenz weder formal-logisch in Identität aufgelöst, noch dialektisch ,aufgehoben‘, d.h. zur Identität zurückgeführt werden kann, vielmehr nur aufrecht bleibend konkrete Einheit des Ganzen in seiner lebendigen kreativen Entfaltung möglich macht.«223 Das Gesagte kann auch ideologiekritisch gewendet werden, und es erweist dann die besonders praxisrelevante Bedeutung des integralen Denkens durch das Aufzeigen seiner möglichen Gefährdungen in einer Theorie der Deformationen der konkreten Gestalten des Denkens, welche in der Praxis verheerende Folgen haben. Deformiert fällt das integrale Ganze, wie oben (6.3) in der Dialektik der Ganzheitskonzepte gezeigt wurde, in zwei einander kontradiktorisch ausschließende Extreme des elementaristischen (pluralistischen) und totalitären Ganzen auseinander: Das (merogene) elementaristische Einheitsdenken leitet das Ganze von Teilen ab. Das totalitäre Denken stellt das Ganze teleologisch als eine »von einem Ganzen her gestaltete Einheit (hologen) als den Teilen überlegenes Ordnungsprinzip« vor oder als »eine die Teile oder einen Teil unter einen anderen subsumierende Ganzheit«.224 Drei Arten von Deformationen logischer Gestalten werden unterschieden: Identisierung, welche Urteile ungerechtfertigt verallgemeinert und allgemeine Begriffe in einen Tatbestand umsetzt, Singularisierung, welche Totalität (Welt) und Identität in singuläre Tatsachen auflöst, und die falsche Totalisierung, welche die Identität (begrifflich bestimmte gegenständliche Begrenzung, Partikularität) in Totalität verwandelt. Totalisierung denkt das Eine nur als das sich selbst Gleiche, als formale, abstrakte Identität, ohne Rücksicht auf die Besonderheit der Teile, die Wahrung echter Differenz. Gabriel geht es ganz besonders um diese für die integrale Logik »entscheidende Differenz«225 von Identität und Totalität der Seinswirklichkeit. Ihr entsprechen Begriffsform und umfassender Begründungszusammenhang oder bei Kant Verstand und Vernunft. »Die Reduktion der Totalität auf die Identität – Strukturfälschung und Verkümmerung des rationalen Denkens – erzeugt totalitäre Systeme, die einen bestimmten Ausschnitt und partikulären Aspekt, ein bestimmtes Seiendes, mit dem Ganzen des Seins identifizieren und damit das Denken dem wirklichen Ganzen entziehen und vor ihm verschließen.«226 Wird »ein Teilaspekt totalitär zum Ganzen der Wirklichkeit aufgebläht«, dann kommt es zu einer »Horizontverengung«, die »den Fanatismus der Aggression gegen das ,andere‘ System hervorbringt […]. In solchen Verfahrensweisen werden idealistische, naturalistische,
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individualistische, kollektivistische Systeme, überhaupt die ,Ismen‘ ausgebildet, wo raus hervorgeht, dass totalitäre Systeme je immer in der Philosophie präexistent sind, bevor sie in der Politik ihre Wirkungsgeschichte erfahren.«227 Der Philosophie als Verantwortungsträgerin kommt die Aufgabe zu, »die totalitäre Systematik in ihrer Wurzel, in ihrem logischen Deformationskern zu überwinden«.228 Damit ist die eminent praktische Bedeutung der Logik eines Seinsdenkens, dessen ursprünglich ethischer Sinn uns noch zu denken geben wird, angesprochen. g) Pierre Teilhard de Chardin (1881–1955)
Vierter Exkurs
Teilhard de Chardins besonderes Verdienst ist die Durchführung einer Phänomenologie und Metaphysik des integralen Ganzen aus der Erfahrung der Liebe, die einigend differenziert. Seine Phänomenologie, die vom menschlichen Phänomen ausgeht, ist von besonders hartnäckigen Missverständnissen umlagert und heute so gut wie verschüttet.229 Vom Beginn der Rezeption seiner Schriften an wurde der Unterschied zwischen den Aussageintentionen seiner natur- und spezialwissenschaftlichen und seiner phänomenologischen Werke nicht genügend beachtet. 230 Beispielsweise übersetzte man sein Hauptwerk »Le Phénomène Humain«, das keine (abstrakte!) Metaphysik, sondern eine »wissenschaftliche Abhandlung« (mémoire scientifique) sein wollte,231 irreführend mit »Der Mensch im Kosmos« und hielt aus einer falschen Erwartungshaltung heraus das Werk für eine methodisch äußerst fragwürdige Vermischung von Naturwissenschaft und Philosophie. Daher konnte man nicht erkennen, dass hier naturwissenschaftliche Ergebnisse keineswegs extrapoliert werden, sondern auf Grund einer (dort nicht ausdrücklich und reflektiert) dargelegten »Metaphysik« bzw. Ontologie der Vereinigung in einen höheren Zusammenhang übersetzt und integriert werden sollten. So wurde übersehen, worum es methodisch in »Le Phénomène Humain« geht, nämlich um »nichts als das [menschliche] Phänomen. Aber auch das ganze [menschliche] Phänomen« (so die »Vorbemerkung«). Das Werk will eine Art Phänomenologie des wesenhaft Menschlichen sein: der Mensch bzw. die Menschheit als Verständnisschlüssel für ihre Welt, für ihre Vorgeschichte 227 L. Gabriel (1965), Darstellung meines Denkweges, 241. 228 L. Gabriel (1965), Integrale Logik, 292. 229 Zum Folgenden vgl. vom Verf. (1997c), Zur Frage nach der Methode bei Pierre Teilhard de Chardin, in: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Bd. 2, 379 –394. 230 L’Œuvre Scientifique sammelt die weniger bekannten naturwissenschaftlichen Arbeiten von P. Teilhard de Chardins und umfasst elf Bände. Die französische Werkausgabe seiner nicht fachwissenschaftlichen Schriften umfasst 13 Bde.: Œuvres de Teilhard de Chardin (hier zitiert nach Band und Seitenzahl sowie nach der deutschen Ausgabe »Werke Teilhard de Chardins« mit dt.). 231 Vgl. die Vorbemerkung (Avertissement) der Œuvres de Teilhard de Chardin, Bd. 1, 21.
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232 Brief vom 1. Oktober 1936, in: C. Cuénot, Pierre Teilhard de Chardin, 264 (dt. 381). 233 Nachweise (auch für das Folgende) unter den entsprechenden Stichwörtern in: A. Haas, Teilhard de Chardin-Lexikon: Grundbegriffe – Erläuterungen – Texte. – Vgl. besonders Comment je vois (1948), in: Œuvres de Teilhard de Chardin, Bd. 11: Les Directions de L’Avenir, 177–223, hier die Dreigliederung der Abhandlung: 1. Physik (Phänomenologie), 2. Metaphysik und 3. Mystik, in welcher Teilhard de Chardin seine wissenschaftliche (scientifiques) und para-wissenschaftliche Sicht (»Weltanschauung«) dargelegt hat. 234 P. Teilhard de Chardin, Geheimnis und Verheißung der Erde: Reisebriefe, 21. 235 Œuvres de Teilhard de Chardin, Bd. 1: Le Phénomène Humain, 323, dt. 286.
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und Zukunft, für den Aufgang des Physis-Ganzen – also eine moderne Physis-Philosophie (»die wahre ,physiké‘ der Griechen«232), die Teilhard auch (zur Abhebung von naturwissenschaftlicher Physik und Biologie) »Ultra-Physik«, »Hyper-Physik«, »Hyper-Biologie« nannte und die er wiederum von seiner christlichen spirituellen Theologie unterschieden hat.233 Was uns hier interessiert, ist die Metaphysik des Einsseins, der schöpferischen Einigung des Vielfachen, in unbefangener Aufgeschlossenheit für die so erstaunlich »gewaltige Mannigfaltigkeit« des evolutiven Universums und die Notwendigkeit, für sein Werden »eine gemeinsame Achse zu finden«: »Das große und einzige Problem – das Problem des Einen und des Vielfachen – ist bei mir im Begriffe, rasch die ein wenig zu metaphysischen Zonen zu verlassen, wohin ich es verlegt hatte und wo ich es zu lösen versuchte. In der realen Menschheit sehe ich klarer seine Dringlichkeit und seine Schwierigkeiten.«234 Das evolutionäre Universum hat seine Erkenntnisgrundlagen im Phänomen »der realen Menschheit« und nicht in der spezial- und naturwissenschaftlichen Forschung. Mit Evolution sind primär gar nicht Abstammungshypothesen oder kausale Beziehungen gemeint, sondern der Gesamtzusammenhang der Kosmo-, Geo-, Bio-, Anthropo- und Noogenese als kosmische Dimension der Zeitlichkeit im Sinne von Dauer (durée). Daher die transzendentale Fragestellung, wie es überhaupt möglich ist, dass ein Universum besteht, welches das Fassungsvermögen hat, die menschliche Person (nicht bloß einen Beobachter der Welt!) aufzunehmen (capable de contenir la personne humaine).235 Das menschliche Phänomen ist der Erkenntnisgrund und Strukturschlüssel für das Verständnis der ,Evolution‘ in ihrer kosmischen Dimension. Eine briefliche Mitteilung erhellt blitzartig, was es heißt, »die ein wenig zu metaphysischen Zonen zu verlassen«, d.h. jene abstrakte Schulmetaphysik, die Sein nur als Möglichsein des singulären Seienden denkt, ohne auf die physischen Möglichkeitsbedingungen seiner Verwirklichung umfassend einzugehen. Von seiner Schiffsreise nach China im April 1927 berichtet Teilhard de Chardin: »Staunen vor der Ge stalt und dem wunderbaren Flug der Möwe. Wie ist dieses Vogelschiff entstanden?
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Die schlimmste Schwäche unseres Geistes ist, die größten Probleme nicht zu spüren, weil sie uns unter den vertrautesten Gestalten entgegentreten. Wie viele Möwen habe ich gesehen, wie viele Menschen haben Möwen gesehen, ohne das Geheimnis wahrzunehmen, das mit ihnen schwebt! […] Gott möge mir die Gabe verleihen, stets wie berauscht die unermeßliche Musik der Dinge zu hören und sie den anderen hörbar zu machen.«236 Alle verschwindende Partikularität ist in Solidarität, Teilnahme an der Unermesslichkeit des Ganzen, und das Ganze ist nur in der Unermesslichkeit der Vielheit, im kosmischen Prozess des Einigens, gegenwärtig. Dieser ist im Grunde ein ontologischer Prozess der Einigung oder des Vereinigtwerdens materieller Vielfalt und wird als Hauptbewegung des Wirklichen (mouvement principal du Réel) durch Vergeistigung (spiritualisation) und Entwicklung als Einrollung (enroulement) im Sinne von Verinnerlichung gekennzeichnet.237 Zu berücksichtigen ist, dass der qualitativ jeweils neue Zustand von Gestalten der Geist-Materie in je immer größerer geeinter Komplexität und in einander immer inniger angenäherten Elementen in weiteren Graden der Einswerdung mit einem Zuwachs an innerem Bewusstsein und Freiheit einhergeht. Daher muss die abstrakte »Metaphysik des Esse [Seienden]«, die weltlose metaphysica generalis, durch eine konkrete »Metaphysik des Unire (oder Uniri ) « mit der dem evolutiven Universum entsprechenden Mannigfaltigkeit ersetzt werden.238 So sehr der Prozess des ontischen Werdens von der ontologischen Konstitution streng zu unterscheiden ist, so ist doch das ontische Werden im Ganzen des Austrags der ontologischen Differenz von Sein und Seienden und darin als Teilnahme am Sein in seiner Ursprünglichkeit zu verstehen. Die damit angesprochene Seinserfahrung finden wir bei Teilhard de Chardin in seiner Metaphysik der Einigung artikuliert. Sein ist Mehr-Sein (plus esse) durch Viele, oder aus Vielen Geeinigtwerden, und zugleich Mehr-Sein im je immer mehr die Vielen Einigen. Dieses temporale Seinsverständnis (in passiver und aktiver Form) ist im Eigentlichen das, was von Teilhard de Chardin als Wesen der Evolution verstanden wird. Es ist in gar keiner Weise spekulativ, sondern aus der Erfahrung nicht-egoistisch Liebender geschöpft; und erst diese lässt uns das Werden, das Gewesene und ehemals Gewordene in seinen immer höheren und tiefer verinnerlichten Synthesen verstehen. Ist das menschliche Phänomen der Erkenntnisgrund und Strukturschlüssel für das Verständnis des kosmischen und auch des geschichtlichen Werdens (der »Auto-Evolution«), dann hat dieses 236 P. Teilhard de Chardin, Geheimnis und Verheißung der Erde: Reisebriefe, 94. 237 Zum Folgenden vgl. vom Verf. (1997c), Pierre Teilhard de Chardins Phänomenologie und Ontologie der Vereinigung, in: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Bd. 2, 394 – 420, hier 411 ff. 238 Œuvres de Teilhard de Chardin, Bd. 10: Comment je crois, 208, 271, dt. 213, 270.
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239 A.a.O., Bd. 6: L’Énergie Humaine, 80, dt. 83 f. – »Die Liebe ist nichts anderes als der konkrete [energetische] Ausdruck dieses metaphysischen Prinzips«: »Einigung differenziert.« (A.a.O., 189, dt. 206) 240 A.a.O., 81, dt. 85. 241 Vgl. u.a. Œuvres de Teilhard de Chardin, Bd. 1: Le Phénomène Humain, 291 f., dt. 255 f.; 344, dt. 307; Bd. 5: L’Avenir de l’Homme, 73–76, dt. 76 –79; Bd. 6: L’Énergie Humaine, 52, dt. 56 (supradifferenzieren); 80 – 82, dt. 84 f.; 84 f., dt. 88 f.; 86 f., Anm. 2, dt. 91, Anm. 9, 93, dt. 99; 103, dt. 111; 129, dt. 139; 179, dt. 185; 185, dt. 201; 188 f., dt. 205 f.; Bd. 7: L’Activation de l’Énergie, 122 f., dt. 356 f.; 269, dt. 135; Bd. 9: Science et Christ, 74, dt. 74; 178, dt. 184; 231f., dt. 241f. 242 Œuvres de Teilhard de Chardin, Bd. 5: L’Avenir de l’Homme, 75, dt. 78. 243 Dazu vgl. u.a. a.a.O., Bd. 6: L’Énergie Humaine, 93 ff., dt. 99 f.
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einen Realgrund, der sich erst aus einer Ontologie der schöpferischen Vereinigung in Liebe erschließt, die der agonalen Daseinsdeutung des (Neo-)Darwinismus entgegengesetzt wird. Das metaphysische »Strukturgesetz« für alle aufeinanderfolgenden Stufen der Einigung des Universums, mit dem Teilhard das ihm eigene temporale Verständnis von Sein und Einssein in Liebe ausspricht, lautet »Die Vereinigung differenziert«.239 Dies ist das »grundlegende Gesetz des Seins (la loi fondamentale de l’être)«.240 Das Vielfältige wird also nicht nur vereinigt, sondern zugleich differenziert. Differenzieren heißt (für die Wesen, die sich einander annähern) nicht nur den Unterschied wahren, sondern auch die Verschiedenheit austragen (vgl. lat. differre), einander zunehmend ins Eigene bringen, auszeichnen, einander sein lassen und das Wesen schenken, einander verstärken, vollenden, einander ergänzen, befruchten, verstärken, steigern und auf ein neues Niveau erheben.241 In der Selbsthingabe und -mitteilung der Liebe (l’amour) nähern sich zwei Wesen einander an und lassen sich voneinander anziehen, indem sie einander ins je Eigene freigeben, selbstständig machen, das Unterschieden-, Verschieden- und Anderssein nicht nur wahren, sondern vollenden. Die Liebe ist »die Vertiefung unseres innersten Ich in der belebenden menschlichen Annäherung. [… Sie] schließt die Liebenden enger zusammen, ohne sie zu verschmelzen, und die Liebe läßt sie in dieser gegenseitigen Berührung eine Erhöhung finden, die hundertmal mehr als jeder einsame Stolz dazu befähigt ist, in der Tiefe ihrer selbst die mächtigste und schöpferische Eigenständigkeit zu wecken.«242 Dagegen ist einander aufsaugen, verschmelzen, genießen und besitzen wollen oder narzisstische Verschließung in der Zweierbeziehung ein Zerrbild, die dialektische Zerfallsform der Liebe, aus der Abstoßung, Trennung, Isolierung, Rückfall in unverbundene Vielheit, Auflösung und Absturz in das Nichts folgen.243 Einigung, die in Liebe differenziert, ereignet sich überall. Sie differenziert nicht nur, sondern personalisiert, und zwar so weitgehend, dass sie ganz neue Zentren zu bilden vermag. Wenn Menschen sich wahrhaft lieben, geben sie einander in der Ein-
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zigartigkeit ihres personalen Wesens aktiv zu sein frei, sodass jeder – ganz als er selbst und mehr als er selbst allein – aus sich, aus ureigener Initiative hervortreten und auf dem Grund ihm neu entgegenkommender Möglichkeiten sich selbst zu überschreiten vermag. Aufgrund dieser Erfahrung, deren kosmische Möglichkeiten, die über sich in die Zukunft hinausführen, gegeben sein müssen, konnte von einem »Personalisationsfluss« und kann von »einer Welt, deren Formel ,zur Personalisation durch die Vereinigung‘ lautet«, die Rede sein, »in der die Kräfte der Liebe […] einen vorrangigen Platz einnehmen«.244 Ausdrücklich beruft sich Teilhard auf unsere Liebeserfahrung als das menschlichste der Phänomene, das ja den Ausgangsort seiner Metaphysik bildet: »Ist es nicht durch die tägliche Erfahrung bestätigt, dass die Vereinigung, die voll und ganz geschieht, als von Geist zu Geist, von Herz zu Herz, nicht nur differenziert, sondern auch ,Mitte‘ gibt (centrifie)?«245 Liebe im eigentlichen Sinn waltet keineswegs dort, wo Menschen privatisieren oder einander im Ich-Du-Verhältnis genügen oder sich im Gruppenegoismus behaupten, sondern wo die Verbindung der Liebenden sich öffnet und weitet, wo sie sich über sich hinausführen lassen, wo ihre Liebe eine gemeinsame Mitte bildet. Besonders in diesem Sinne ist die Vereinigung schöpferisch, indem sie über die sich (letztlich personal) zusammenschließenden Zentren hinausführt: Sie schafft neue, höhere Zentren, sie »überzentriert«, »exzentriert«, »superzentriert«, »superpersonalisiert«, »ultrazentriert« und »ultrapersonalisiert«.246 Das hat nichts zu tun mit einer ,transpersonalen‘ Verschmelzung oder Auflösung der Person. Die Person verschmilzt weder mit dem Anderen noch löst sie sich in ihm auf. Je immer größere Nähe differenziert, sie bringt uns in das je Eigene, indem sie uns radikal über uns hinausführt. Das Trennende der Individualität tritt so zurück, dass »wir nur ganz wir selber sein können, indem wir uns einander unter [dem allgegenwärtigen Konvergenzpunkt] Omega im Universellen totalisieren«.247 Nach dem bisher Gesagten muss das Universum von Stufe zu Stufe sich so entwickeln, dass unser personales Sein möglich wird; aber das jeweilige Mehrsein (und Bessersein) ist insgesamt nur möglich, wenn es unaufhörlich, von Anfang an und vom 244 A.a.O., Bd. 7: L’Activation de l’Énergie, 125, dt. 360. 245 A.a.O., Bd. 8: La Place de l’Homme dans la Nature, 164, dt. 122. 246 Vgl. u.a. dazu a.a.O., Bd. 5: L’Avenir de l’Homme, 152, dt. 160; Bd. 6: L’Énergie Humaine, 52, dt. 56; 81, dt. 85; 190, dt. 208; Bd. 7: L’Activation de l’Énergie, 55 f., dt. 61; 121, dt. 355; 123, dt. 357, sowie »Die Zentrologie« in Bd. 7, 103 –146, dt. 335–371; Bd. 9: Science et Christ, 178, dt. 184; 204 f., dt. 213; gut zusammengefasst in Bd. 11: Les Directions de l’Avenir, dort: Les trois temps de la personnalisation (Centration, Décentration, Sur-centration), 129 –135, dt. in: P. Teilhard de Chardin, Vom Glück des Daseins, 29 – 43. 247 Œuvres de Teilhard de Chardin, Bd. 7: L’Activation de l’Énergie, 125, dt. 359.
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248 A.a.O., Bd. 9: Science et Christ, 73, dt. 73 f.: Pour les éléments groupés par l’âme en un corps (et élevés par le fait même à un degré supérieur d’être) «plus esse est plus cum pluribus uniri». Pour l’âme ellemême, principe d’unité, «plus esse est plus plura unire». Pour les deux, recevoir ou communiquer l’union, c’est subir l’influence créatrice de Dieu «qui creat uniendo». 249 A.a.O., Bd. 10: Comment je crois, 30 f., dt. 29 f.
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Ende des Ganzen her, unter der schöpferischen Anziehungskraft der Liebe Gottes steht. Genau dies will die »Philosophie« bzw. »Theorie von der Unio creatrix« sagen, nämlich »daß in der derzeitigen evolutiven Phase des Kosmos (der einzigen uns bekannten) sich alles so vollzieht, als bilde das Eine [das im Kommen ist] sich durch aufeinander folgende Einswerdungen des Vielen – und als wäre es umso vollkommener, je vollkommener es unter sich ein umfassenderes Vieles zentralisiert (centralise)«. Zentrierung (centration) ist eine differenzierende Weise der Einigung. Sie bemisst den Grad ihrer Einigung an dem Grad der verinnerlichten Komplexität (centro-complexité). Sie hat daher mit einem Zentralismus, der Diversitäten uniformiert und sich organisatorisch unterwirft, nichts zu tun, sondern besagt hier erstens »Mehr sein« (lat. plus esse, franz. plus-être), Erhebung »zu einem höheren Grad des Seins«, d.h. immer besser mit Vielen vereinigt werden, und das gilt hier »für die durch die Seele in einem Leib gruppierten […] Elemente«, und zweitens ein »Mehr sein«, d.h. sich aktiv immer mehr mit vielen Elementen vereinigen, was hier auch »für die Seele selbst, das Prinzip der Einheit« gilt. Erfahren wir uns selbst so als Zentrum einer gegebenen Vereinigung, durch die wir ein Mehr an Sein empfangen haben und die uns zugleich in die aktive Möglichkeit versetzt, die Vereinigung mitzuteilen, d.h. ein Mehr an Sein zu stiften, dann »heißt, die Vereinigung zu empfangen oder mitzuteilen, den Schöpfereinfluß Gottes zu erfahren, ,qui creat uniendo‘ (der vereinigend schafft)«.248 Der jeweilige ontologische ,Zuwachs‘ wird also nicht dem Überschwang des Lebens oder der Willensexpansion zugeschrieben. Er versteht sich aus der Erfahrung der einigenden Anziehung der Liebe von vorne, nicht aus einem Gestoßen- und Getriebenwerden von hinten, was gegen ein unzureichendes Schöpfungsverständnis gesagt wird (das einen ersten Beweger, der in der Vergangenheit den Anstoß zur Schöpfung gab, annimmt, oder auch gegen einen reduktionistischen Evolutionismus). Mit der schöpferischen Einigung ist somit eine nach Teilhard de Chardin in der Scholastik nicht erkannte »Bewegung« definiert, nämlich die »schöpferische Transformation, die transformatio creatrix«. Sie geht vor sich in einem »Akt«, »der, indem er sich eines bereits existierenden Geschaffenen bedient, es in ein ganz neues Sein vergrößert. Dieser Akt ist wirklich schöpferisch, creatrix, denn er verlangt das erneute Eingreifen der ersten Ursache.«249
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Die ganze Kosmogenese ist so Freigabe zur universellen Amorisation (der einigenden und vollendenden Kraft personaler Liebe) und Personalisation (der zunehmenden Wahrung des Personalen in einem Universum der Konvergenz), die den letzten Grund aller kosmischen Einswerdung, die Liebe Gottes, transparent machen. Der letzte Grund ist nicht als Ursache zu postulieren, sondern er gibt sich im Geschehen schöpferischer Einigung selbst zu erfahren: Indem er den Vielen die Würde verleiht, sich selber schöpferisch an der Entstehung des Neuen durch Vereinigung zu beteiligen, schafft er und ruft er aus dem Nichts ins Dasein, eint er das Viele. Gott schafft, indem er gibt, schenkt, bzw. die Dinge so sein lässt, dass sie sich selbst schaffen. »Die erste Ursache mischt sich nicht unter die Wirkungen: Sie wirkt auf die individuellen Naturen und auf die Bewegung des Ganzen. Im eigentlichen Sinne gesprochen macht Gott nicht: er läßt die Dinge sich machen.«250
250 A.a.O., 38, dt. 36; vgl. Bd. 3: La Vision du Passé, 39, dt. 40; 217, dt. 225.
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7. Philosophische Theologie (Metaphysik) und praktische Philosophie (Ethik) Beabsichtigt ist nicht, das Verhältnis der Religionen zur religiösen, ethischen und soziokulturellen Daseinsgestaltung zu untersuchen, wozu wohl keine Monographie ausreichen würde, sondern sich mit einigen mir wichtig erscheinenden Hinweisen auf das Verhältnis einer ontologisch begründeten theologischen Philosophie zur Lebenspraxis und praktischen Philosophie zu bescheiden. Lebenspraxis meint hier den Vollzug des uns zu vollbringen aufgegebenen Daseins. Diesen bedenkt die praktische Philosophie, insbesondere die Ethik als philosophische Wissenschaft vom Ethos (im Sinne von ,Moral‘, der gelebten sittlich bestimmten Daseinsgestaltung). Im Hintergrund müsste dabei auch eine Kenntnis der Vieldeutigkeit und Differenziertheit allein schon des aristotelischen Praxisbegriffes stehen, dessen Mitte die sittlich-praktische Vollzugsweise bildet.1 Obgleich der Vorrang der Theorie gegenüber der Praxis im engeren Sinn bei Aristoteles betont wird, wird Theorie in einer bestimmten Weise als eine Form lebenserfüllender Praxis dargestellt. Aber auch das technisch-poietische Herstellungsvermögen, alles Machen, das ein vom Menschen ablösbares Werk hervorbringt, kann noch der Praxis im weitesten Sinne zugezählt werden. Das kommt unserem modernen Sprachgebrauch nahe, dessen Mittelpunkt die kapitalorientierte Arbeitswelt als ,eigentliche‘ Praxis bildet. Praxis im weitesten Sinne ist jede Weise, in der wir uns vollbringend und sorgend in der Welt umtun.2 Blicken wir nun zurück auf die drei klassischen Bedeutungen von Theologie: mythische, physische und politische Theologie, dann kann sich die Frage erheben: Ist die Aufzählung zufällig so gereiht oder liegt darin eine Zusammengehörigkeit und Entfaltung des Gott-Sagens, die zu beachten wäre? Der Mythos gehört ursprünglich zur religiösen Praxis, ja zur kultischen Feier, wo er göttliches Geschehen, das sich im Dasein verdichtet, verkündet. Die Weise seines ursprünglichen Vollzugs ist daher jedenfalls nicht die stumme Lektüre. Die physische Theologie ist ein Gott-Sagen, das dem zur Erscheinung kommenden Wesen des Göttlichen auf dem Wege des nachdenkenden Vernehmens, der ,Theorie‘, zu entsprechen sucht. Sie scheint sich von 1 Vgl. dazu den Artikel Praxis, praktisch/I. Antike von Günther Bien in: HWP, Bd. 7, 1277–1286,
dort auch Biens einschlägige Arbeiten zum Praxisbegriff des Aristoteles. 2 Pr axiß kommt von pr1ssein, das u.a. transitiv so viel wie besorgen, (einen Weg) zurücklegen, vollbringen, etwas zu Ende führen heißt; vgl. auch M. Heidegger, GA, Bd. 18: Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie: »Das In-einer-Welt-Sein ist gleichursprünglich Besorgen« – also Praxis, 66, vgl. 58 f., 70 ff., 353.
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der Praxis vornehm abzuheben, da sie den gesamtmenschlichen Vollzug beschaulich bedenkt und sich kritisch-klärend auf die faktisch ,praktizierte‘ Vulgärreligion mit ihrer Mythologie, aber auch auf die Regelung des Gott-sagenden Kultes durch staatliche und religiöse Autoritäten bezieht. Die klassische politische Theologie erscheint der unmittelbaren religiösen Praxis enthoben, normiert aber zugleich die Praxis in der Sorge um die Erhaltung des Gemein- und Staatswesens. Das Gott-Sagen des Mythos spricht den Menschen im Bereich praktizierter Religion an. Politische Theologie regelt diese Praxis offiziell. Physisch bzw. metaphysisch begründete Theologie bedenkt hingegen das, wovon sich die Vollbringer der Religion bestimmen lassen; sie gilt als theoretische Disziplin der Philosophie, die nicht wie Ethik, Rechts- und Staatsphilosophie, Logik, Ästhetik u.a. normativ-praktisch ausgerichtet ist. Diese normativ-praktischen Disziplinen haben anscheinend mit philosophischer Theologie direkt nichts zu tun, außer über Fragen der privaten und öffentlichen Religionsausübung oder des wissenschaftlichen Ethos, beispielsweise der existenziellen Redlichkeit und Ernsthaftigkeit des Denkens. Man könnte die normativ-praktischen Disziplinen dem Bereich praktischer Anthropologie zuordnen, weil sie von spezifisch menschlichen Vollzügen handeln. Doch alles in normativ-praktischen Disziplinen thematisierte Sichverhalten des Menschen, das der Offenbarkeit des Seienden auf seine Weise antwortend entspricht, ist ohne Bezug auf Ontologie gar nicht hinreichend verständlich. Das sei im Folgenden besonders im Hinblick auf das gelebte sittlich-praktische Sichverhalten, das Ethos, und auf dessen wissenschaftliche Fassung, die Ethik, hervorgehoben. Allem Anschein nach sind jedoch Ethik und philosophische Theologie einander entgegengesetzt: In der Ethik geht es um das, was wir als Menschen sein können und dürfen und dem entsprechend konkret und situativ vollbringen sollen. Dazu gehört auch die rechte, die ,Geister‘ unterscheidende Religionsausübung. In der philosophischen Theologie geht es hingegen um eine Besinnung auf das, was eigentlich als das Göttliche in der Welt waltet und möglicherweise unsere Teilnahme am Sein der Welt bestimmt, aus dem dieses Sein überragenden Grunde. Sie hat den letzten Grund der Religionsausübung theoretisch um der Wahrheit willen zu klären und sagt mindestens direkt nichts über die Religionsausübung aus, beispielsweise über die ethische Relevanz religiöser Akte wie etwa Ehrfurcht und Scheu, Verehrung und Anbetung, Glauben, Hoffen und Lieben, Reue und Dank, die auch ethisch zu verantwortende und zu beurteilende Weisen unseres Sichverhaltens sind. Insofern religiöse Vollzüge Freiheitsvollzüge von Menschen sind, sind sie ethisch relevant, bewegen sie sich in der Grunddifferenz von Gut und Böse (bzw. Schlecht). Zur Religionsausübung gehört ein Ethos, ja Religionen beanspruchen ethische Kompetenz
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im höchsten Ausmaß. Anscheinend ist diese lebenspraktische Dimension nicht Gegenstand philosophischer Theologie. Aber ist das zutreffend? Gelten als Ziel der Ethik, ja überhaupt aller praktischen Philosophie, praktische Einsicht und Lebensweisheit im Hinblick auf die Möglichkeiten des eigenen Selbstseins und des entsprechenden Tuns und Lassens sowie auf Lebensgestaltung im Miteinanderleben und Miteinanderteilen der gemeinsamen Welt, sei es eine sittlich, rechtlich, politisch vertretbare oder sonst wie motivierte, so gilt als Ziel der Metaphysik letztlich nur etwas Theoretisches, das den Verdacht auf Realitätsflucht erregt. Ihr Denken steigt auf, empor zum Höchstdenkbaren und steigt nicht ab in die ,Niederungen‘ der Praxis. Weil sie jedoch solcherart anscheinend völlig ,unpraktisch‘ ist, konnte man sie (und besonders die philosophische Theologie) im offiziellen Betrieb der akademischen Philosophie für einen entbehrlichen Luxus halten, bestenfalls für eine Art Spezial- oder Nebenfach ohne obligatorischen Anspruch. Infolgedessen sind auch theonome oder gar supranaturalistische Ethikbegründungen, wie sie in die Philosophie Eingang gefunden haben, obsolet geworden. Trägt man dieser Situation Rechnung, so könnte man annehmen, dass philosophische Theologie allenfalls indirekt, durch ihre gesellschaftlichen Auswirkungen, praktischen (pragmatischen) Begründungskriterien unterwerfbar ist. Dazu bietet sich beispielsweise die Nützlichkeitskalkulation teleologischer (utilitaristischer) Ethik an, welche ausschließlich die Handlungsfolgen (,Früchte‘) berücksichtigt, d.h. jenen Beitrag, den eine Handlung zur Beförderung des Wohls aller von ihr Betroffenen leistet. Man kann nun hypothetisch annehmen, dass die Metaphysik mit ihrer Theologie einen solchen positiven Beitrag leistet. Dabei muss ihr spekulativer Charakter im Hinblick auf die faktische praktische Religionsausübung kein Einwand sein, weil sie wie jede bloße Weltinterpretation eine weltverändernde Wirkung hat, und wäre es nur eine konservierend-stagnierende. Bloß konstatierende Sätze gibt es ja streng genommen in einem Interpretationszusammenhang gar nicht, denn auch sie gehören zu einem performativen Handlungszusammenhang und sind praxisbezogen nie völlig indifferent. Man könnte also erwarten, dass ein für wahr gehaltener und plausibel gemachter Theismus in einem bestimmten soziokulturellen Milieu (noch/doch?) eine bemerkenswerte Verbesserung der Weltbewältigung durch Verstärkung der Religiosität gewährleiste. Zum Beispiel gilt: Je religiöser, desto gesünder; je unreligiöser, desto depressiver. Hierbei wird der Gottesglaube als stimmungsveränderndes Mittel betrachtet, das ähnlich positiv wie bestimmte Antidepressiva oder placeboartige Mittel wirkt oder zu Verhaltensänderungen führt, die dem individuellen und allgemeinen Wohl zugutekommen.
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Doch empirische (statistisch auswertbare) Belege der Religionspsychologie oder -soziologie sagen prinzipiell niemals etwas direkt über die Wahrheit oder Unwahrheit einer der faktisch vorfindbaren Religionsausübung zugrunde liegenden Auffassung aus. Alle Überlegungen, welche die Bejahung oder Verneinung eines philosophischen Glaubens an Gott nur von der praktischen Anwendbarkeit her rechtfertigen wollen, setzen voraus, dass der Grundzug einer solchen Philosophie ein weltenthoben-apraktischer ist (sei es ,akademische‘ Theorie, Ideologie, Weltanschauung, Welterklärungshypothese oder dergleichen), der nicht in sich (in seinem Wahrheitsbezug), sondern nur von seinen Funktionen bzw. Handlungsfolgen her zu beurteilen ist. Aber diese haben sich keineswegs immer nur als nützlich (beispielsweise Frieden und Freude bringend), sondern auch als äußerst schädlich, ja mitunter todbringend erwiesen.3 Sucht man das Verhältnis von Metaphysik und praktischer Philosophie, die in der Ethik gipfelt, zu bestimmen, so könnte es sein, dass die utilitaristische und auch leistungsorientierte technische Idee der Anwendbarkeit der Metaphysik auf die ethische Lebenspraxis und ihre Theorie sowohl den theoretischen Status der Metaphysik als auch den der Ethik als Wissenschaft verkennt, denn beide Sachgebiete sind philosophisch argumentative Theorien, die primär nicht der Praxis, sondern der Wahrheit verpflichtet sind, und zudem durchdringen sie einander und gehören in ihrem lebenspraktischen Sachbezug engstens zusammen. Man könnte methodisch (auf dem Boden einer philosophischen Anthropologie!) von der Ethik ausgehend zu den sie grundlegenden metaphysischen Vorgaben vordringen und umgekehrt – und das ist hier die These – eine fundamentale, »ursprüngliche Ethik« in einer anfänglicher gedachten Metaphysik entdecken. Ich komme damit mit dem überein, was Heidegger in seinem »Brief über den ,Humanismus‘« hervorgehoben hat: »Das Denken, das 3 Als gegenüber pragmatistischer Erfolgsbesessenheit zur Vorsicht mahnendes Beispiel sei die religionspsychologische Untersuchung des Zusammenhanges von Religiosität und Depressivität durch Anette Dörr, »Religiosität und psychische Gesundheit«, angeführt. Untersucht wurde die Selbsteinschätzung psychischer Beeinträchtigung hinsichtlich Depressivität, sofern sie auf eine klinisch relevante depressive Symptomatik hinweist. Dörr kommt zum Ergebnis, dass für die seelische Gesundheit nicht so sehr ihr konkreter Inhalt (Religiosität versus Areligiosität) stabilisierend wirkte, sondern vielmehr die Gewissheit einer Überzeugung. Denn zu beiden Extremen einer minimal und einer maximal ausgeprägten Religiosität hin nimmt das Maß an Depressivität ab, besonders deutlich aber zu starker Religiosität hin. Mit wachsender Religiosität geht also eine zunächst steigende Depressivitätsrate einher, die nach Erreichen ihres Gipfels deutlich abfällt. Mit anderen Worten: Die Nichtreligiösen sind im Durchschnitt in ihrer Depressivität eher unauffällig, ebenso erscheinen Menschen mit ausgeprägter Religiosität wenig depressiv. Doch die im Mittelfeld Stehenden zeigen ein Höchstmaß an Depressivität. Die methodisch sich auf religionswissenschaftliche Empirie einschränkende Untersuchung hat übrigens nur das depressiv verstimmte, nicht aber das oft damit zusammenhängende manisch verstimmte Weltverhalten in Betracht gezogen.
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nach der Wahrheit des Seins fragt und dabei den Wesensaufenthalt des Menschen vom Sein her und auf dieses hin bestimmt, ist weder Ethik noch Ontologie« im herkömmlichen Sinne, sondern die »andere Metaphysik«, die »in sich schon die ursprüngliche Ethik« ist,4 welche die konkrete Ausarbeitung einer dem Seinsdenken entsprechenden Ethik ermöglichen würde. Wenn hier philosophische Theologie eine Theorie im Sinne eines in die Sachursprünge zurückgehenden Denkversuchs genannt wird, so meint Theorie philosophisch verstanden nicht ein Wissen um des Wissens willen, und zwar unter der Voraussetzung, dass man Wissen auf ein Gesehen-Haben (dnai) von etwas reduziert versteht, das man dann wirklich ,hat‘, ,besitzt‘ und das dadurch einem zur Verfügung steht und wie Kapital vermehrt wird oder als toter Besitz verrottet. Zudem verteidigt man es als die jeweils ,meine‘ subjektive Ansicht und private Meinung, auf die man einen unbedingten Anspruch hat. Auf diese Weise wäre der Mensch in der ,grauen‘ Theorie dem Offenen des Daseins entfremdet und müsste sie (sauber gedacht als Arbeitshypothese) erst in der Praxis bewähren. Praxisbewährte Wissensakkumulation kommt jedoch hier nicht als Angezieltes in Frage, so wichtig sie heute sein mag. Gewiss dürfte ursprüngliches Wissen nicht ohne existenzielle Aneignung sein, diese aber kommt aus je größerer Übereignung an das Anwesen des Anwesenden in seiner Offenheit uns gegenüber, d.h. Theorie ist ein Weltverhältnis um willen der Wahrheit und des horchend-schauenden Beteiligtseins an ihr. Zum Verständnis des Theorie-Status philosophischer Theologie können auch etymologische Überlegungen zum griechischen Wort hilfreich sein.5 Theoria ist ein schauendes Wahrnehmen. Das theá, das mit wor verschmilzt, bedeutet Schau, Blick, wobei an ein Blicken zu denken ist, das nicht eine subjektive, auf Gegenstände gerichtete Tätigkeit ist, in der man im Hinsehen und Zusehen etwas (Seiendes) sich vorstellig macht und ergreift, sondern ein entgegenkommendes Antworten des Menschen auf den Anblick, in dem sich etwas darbietet und gibt, an dem der Mensch schauend Anteil nimmt und teilhat. Theorie heißt eine solche »Schau wahren«.6 4 M. Heidegger, GA, Bd. 9: Wegmarken, Brief über den »Humanismus«, 356 f.; vgl. ders., Zollikoner Seminare, 273: Das »Stehen« im Sinne des offenständigen Eksistierens »unter dem Anspruch der Anwesenheit […] ist der größte Anspruch des Menschen«, und das »ist ,die Ethik‘« – unter Anführungszeichen! Vgl. dazu R. Thurnher, Heideggers Denken als »Fundamentalethik«?; A. K. Wucherer-Huldenfeld (2003), Das ursprünglich Ethische im Ansatz von Heideg gers »Sein und Zeit«. 5 Vgl. hierzu W. Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, 180 ff. 6 Zum ursprünglich griechischen Theorieverständnis vgl. M. Heidegger, GA, Bd. 9: Wegmarken, Brief über den »Humanismus«, 314; ders., GA, Bd. 54: Parmenides, 152 ff. und 219 f., hier 153: »Das Blicken ist das Sichzeigen, und zwar als jenes Sichzeigen, worin das Wesen des begegnenden Menschen sich gesammelt hat, worin der begegnende Mensch ,aufgeht‘ in dem gedoppelten
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Nach der in der Antike angenommenen Wortverwandtschaft von Theoria mit ϑeß, Gott, bedeutet Theorie »einen Gott wahren«. Doch diese Ableitung von theo, wie in theós, kommt etymologisch heute nicht mehr in Frage. Dennoch besteht hier ein Sachzusammenhang. »Der theorós ist ein bestimmter Beamter, der als Abgesandter im Auftrag der Stadt zu den Götterfesten entsandt wird in verschiedenen Missionen, entweder um ein Orakel zu befragen oder einfach, um mit dabei zu sein und [um am ,Schau‘-Platz] den ritualen Akt durch seine Gegenwart zu begleiten. Eine Art Sakralgesandter also […]. Er hat irgendwie den Gott oder göttliche Dinge zu wahren. […] theoría ist also nicht so sehr eine Weise geistiger Tätigkeit, sondern vielmehr eine bestimmte Weise geistigen Seins, […] das schauende Beteiligtsein an einem derartig heilig-festlichen Geschehen.«7 Von hier lässt sich die Brücke zur lateinischen Übersetzung von Theoria mit contemplatio schlagen sowie zum Vorrang der vita contemplativa als der betrachtenden Lebensweise vor der vita activa als der tätigen Lebensweise. Dieses Dabeisein und Zuschauen, das aus allen Bezügen der Dienlichkeit herausgelöste, zweckfreie Anwesen, bestimmte das frühe philosophische Selbstverständnis als eine theoretische Existenz, die den vernehmenden Bezug des Menschen zum Sein nicht herstellt, sondern sich dem Bezug des Seins zum Menschen fügt. So lesen wir noch in der Übersetzung der aristotelischen Metaphysik, die Thomas von Aquin seinem Metaphysikkommentar zugrunde gelegt hat: theoria, id est contemplatio.8 Mindestens noch im Mittelalter war der Metaphysik mit ihrer theologischen Philosophie ein kontemplativer Charakter eigen. Das heutige Theorie-Verständnis schränkt folgerichtig den theoretischen Gebrauch der Vernunft ein und gibt der Praxis den Vorrang, weil Theorie nicht mehr als Erblicken des Seienden in der Offenbarkeit (Wahrheit) seines Seins, sondern als Leit- und Modellvorstellung zur praktischen Verwendbarkeit verstanden wird. Die ,bloß abstrakte‘ und ,rein theoretische‘ Theorie rechtfertigt sich in ihrem Wirklichkeitsbezug, wenn sie der herstellenden Durchsetzung eines Willens zur Bearbeitung des Seienden dient, sich bewährt bzw. wenn ihr Möglichkeitsentwurf als Hypothese verifiziert werden kann. Wird der Wesensbezug des Menschen zum Sein und erst recht zum Bereich des Göttlichen im modernen Sinn als Theorie gefasst, gerät er in ein Zwielicht, denn erst eine Nachrechnung seines praktischen Wertes für das Leben könnte diese ,bloße‘ Theorie bewahrheiten und rechtfertigen und bringt den HanSinne, dass sein Wesen im Blick wie die Summe seiner Existenz beisammen ist und dass dieses Beisammen und einfache Ganze seines Wesens im Blick sich aufschließt – aufschließt allerdings, um in dem also Unverborgenen zugleich das Verbergen und den Abgrund seines Wesens anwesen zu lassen.« 7 W. Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, 181. 8 Thomas von Aquin, In II Metaph., lect. 1; textus Aristotelis 993 a 30.
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delnden unter den Zugzwang einer Selffulfilling Prophecy, welche weithin die religiöse Orthopraxie irritiert (,Probiere es, es wird dir helfen!‘). Die Metaphysik kann dem allzu oft berechtigten Verdacht, eine überflüssige, ja mitunter schädliche und daher zu beseitigende Theorie zu sein, nur entgehen, wenn der ursprüngliche Daseinsvollzug, um den es geht, in ihr zur Sprache kommt. Dann würde der Einwand, dass Metaphysik eine unbrauchbare und unnütze Theorie sei, in sich zusammenfallen. Die Frage ist, ob und in welchem Sinne das dem Sein und seinem Ursprung entsprechende Denken von vornherein (a priori) ein praktisches ist. Der Anspruch, der sich aus dem Selber-sein-Können erhebt, dessen wir gewahr werden und das als solches anzunehmen und zu übernehmen ist, könnte hierbei dem Denken als Wegweisung dienen. Aus dem Gesagten geht hervor, dass hier nicht die Absicht verfolgt wird, die in philosophische Theologie mündende Ontologie den im herkömmlichen Sinn praktischen Disziplinen der Philosophie zu- und beizuordnen, sondern dass es nur darum geht, zu zeigen, dass sich der Gegenstandsbereich der ontologisch fundierten Theologie erst durch ein Aufschließen der ihm eigentümlichen Bedeutung, die ihm nie anders als in lebenspraktischer Ursprünglichkeit zukommt, konstituiert. Diese Vorgabe erst würde (im Rahmen philosophischer Anthropologie) eine Begründbarkeit und Entfaltungsmöglichkeit praktischer Philosophie, wie sie in der Ethik kulminiert, ermöglichen. Damit wird für das Folgende die Fragestellung auf das Verhältnis von Metaphysik und Ethik, nur präzisiv, nicht aber exklusiv, beschränkt. Worauf es ankommt, ist, das in einer Metaphysik des Gutseins ursprünglich grundgelegte Vorverständnis des Ethischen aufzuweisen, um damit ihren inneren Praxisbezug zu verdeutlichen (7.1). Dem steht aber die Abkoppelung der Ethik bzw. Moral von einem ursprünglichen Seinsverständnis im Weg, auf die kursorisch eingegangen werden soll (7.2). Abschließend sei versucht, das für die philosophische Theologie grundlegende ontologische Ursprungsphänomen praktischer Philosophie zu vergegenwärtigen und hinsichtlich der Moral und Ethik weiter zu klären (7.3).
7.1 Zur Grundlegung praktischer Philosophie in einer Metaphysik des Gutseins Kennt frühgriechisches Physis-Denken noch keine Unterscheidung von Physik und Ethik als zu sondernde Sachbereiche, so ist bei Aristoteles die Ethik bereits von der sogenannten Metaphysik bzw. Physik9 unterschieden, wenngleich sie eng zusam9 Ich schließe mich hier der sachlich weitgehend zutreffenden Auffassung Heideggers an (GA, Bd. 9: Wegmarken, Vom Wesen und Begriff der Fsiß, 242), dass die Metaphysik des Aristoteles »ebenso sehr ,Physik‘ ist als die Physik ,Metaphysik‘«.
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mengehören. In der platonisch-aristotelischen Ethik und ihrer relativ eigenständigen und vielfältigen Rezeption und Tradierung in der mittelalterlichen und neuzeitlichen Philosophie war Ethik immer noch (auch?) das systematische Bedenken der menschlichen Aufgabe, am Gutsein teilzunehmen, es seiner Mit- und Umwelt mitzuteilen und dem entsprechend im Handeln zu vollbringen. Ethik war nur im Weitblick jener Metaphysik des Guten begründet, der es um das Ganze und den Grund des Daseins ging. Darum konnte noch Spinoza seine Metaphysik »Ethica« nennen und Kant eine »Metaphysik der Sitten« verfassen. Ethik wäre demnach ein in der Metaphysik (als Ontologie samt der sie weiter ausfaltenden philosophischen Theologie) gegründetes systematisches Bedenken der dem Menschen eigenen Aufgabe, das sittlich Gute (auf Grund des Gutseinkönnens des Menschen) zu vollbringen. Ihr Grundgedanke ist, dass Sichverhalten oder Handeln nur gut ist, wenn das Sein nicht nur als Wahrsein offenbar wird, sondern Sein entsprechend dem Seinkönnen des Menschen zur ,Mit-teilung‘ kommt. Dieses Gutsein ist im Anschluss an Aristoteles10 nach der im Mittelalter meistgebrauchten Definition des Guten das, weswegen etwas geschieht, oder das Worumwillen alles Strebens, also das Gute als Ziel (finis) des Handelns, Sichverhaltens und überhaupt des Daseins verstanden. Das Gute ist das, worum es geht, und das, worum es geht, ist das, was ist,11 oder umgekehrt ist das, was ist, das, worum es geht, das Gute. Ist das, worum es im Grunde und auf Grund des Seins (Seienden) geht, das Gute, so ist dieses konvertibel mit dem Sein (Seienden) und der Wahrheit (Offenbarkeit) des Seins selbst,12 das heißt, wer Sein sagt, sagt immer auch Wahrsein und Gutsein mit aus und umgekehrt. Das Gute ist in der aristotelischen Tradition (in der immer auch die Platon-Re zeption des Aristoteles mitspricht) durch das, »worum willen« (o neka, lat. propter quod ) etwas geschieht (ist, west), charakterisierbar. Etwas geschieht um willen der Mitteilung, der Kommunikation, des Vollbringens von Sein, um das es im Grunde geht. Dem entsprechend beantwortet sich die Frage, worum willen jemand handelt (etwas anstrebt, bejaht, anerkennt, hervorbringt, wirkt, lässt usw.), ontologisch durch das Gutsein (und die Teilnahme am Guten) als zu vollbringendem Ziel. Wir eksistieren ja immer in gestimmter und vernehmender Offenheit für den Anspruch des 10 Vgl. Aristoteles, Met. D 16, 1021 b 28 f.: tloß d ka o neka scaton. Ende im Sinne von Vollendung heißt auch das, worum willen etwas ist. Das Worumwillen hat den Charakter des Äußersten. 11 Dass hier das, was in betonter Weise ist, nicht nur die Wirklichkeit des Hervorgebrachten, sondern die weiteren Modalitäten des Seins wie Möglich- und Notwendigsein umfasst, versteht sich von selbst. 12 Zum Sinn der Differenz und Konvertibilität von verum und bonum vgl. G. Pöltner (1972a), Schönheit, 159 –170.
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Anwesens von Anwesenden (jemandem, etwas) und erfahren uns immer aufgefordert, dem zu entsprechen, was uns da in Anspruch nimmt und was uns zu einem diesem Anspruch entsprechenden Verhalten bewegt und bestimmt. Dazu gehört wesentlich, dass sich die In-Anspruch-Nahme entsprechend dem Selbst-sein-Können aus dem Dasein erhebt. Der Anspruch ist der Beweggrund (das Motiv oder Quietiv) für das Entsprechen des Menschen, sein Verhalten, sein Handeln – auch in Zwangslagen. Diese In-Anspruch-Nahme durch das Sein ist phänomenologisch noch näher aufzuschließen. Man kann die Frage, worum willen jemand handelt, statt vom Sein her auch vom Erkennen (vom kognitiven Handlungsziel) des reflektierenden Subjekts ausgehend zu beantworten suchen. Ein Erkennen (gemäß den Ideen, Idealen, Werten) ist auf Verwirklichung im Handeln bezogen. Dann ist das, weswegen man erkennt, das zu verwirklichende Seiende, und so kann sich das Gutsein auf eine seiende Eigenschaft oder kategoriale Qualifikation bzw. Bewertung des Handelns (,dass es gut ist‘) reduzieren. Die menschliche Praxis ist aber immer mehr als ein bloßes Mittel zum Zweck der Selbstverwirklichung von Subjekten; sie ist ein solches Handeln, das Anfang und Ziel in sich selbst, im eigenen Menschsein, im Sichverhaltenkönnen zum Anspruch des Anwesens der Anwesenden selbst besitzt. Darüber hinaus ist zu beachten, dass dasjenige, weswegen der Mensch überhaupt handelt, nicht von einem partikulären oder speziellen Vermögen (Anlagen, Fähigkeiten) eines ich-zentrierten Subjektes her, das sich primär auf sich und nachgeordnet auf Andere/s bezieht, bestimmt werden kann, sondern von dem her, was der Mensch (als Mitmensch) gemäß dem ihm übereigneten prinzipiellen Seinkönnen ist und was er als ganzer Mensch vollziehen kann. Denn alle wesentlichen Möglichkeiten zu sein (vernünftig, bedürftig, strebend, in guter Gesinnung, gestimmt, fühlend, wahrnehmend usw.) bestimmen sich immer schon aus der ontologischen Möglichkeitsfülle. Eigenstes Selbstseinkönnen in der Welt ist das, worum es im Dasein geht. Es ist uns vorgängig als uns in Anspruch nehmende Offenheit des Seins (Welt) erschlossen. Überdies ist im Blick auf eine mögliche Ethik ein wichtiges, individualistisches Missverständnis auszuschließen: In der von Heidegger pointiert ausgesprochenen These, das »primäre ,Wozu‘«, »Worum-willen« oder »,Umwillen‘ betrifft […] immer das Sein des Daseins, dem es in seinem Sein wesenhaft um dieses Sein selbst geht«,13 sei nur das um sich besorgte Dasein Vereinzelter angesprochen, sodass dann doch der subjektive Selbstbezug (die Struktur der Reflexivität) den Vorrang habe. Doch Dasein besagt immer auch und schon Mitsein, Mitanwesen Anderer, Anwesen 13 M. Heidegger, GA, Bd. 2: Sein und Zeit, 113.
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miteinander. Wie immer wir uns zueinander existenziell verhalten, wir verstehen uns im Grunde so auf unser Anwesen (Sein), dass das Mitdasein Anderer uns immer schon innerweltlich als Mitanwesen von diesen her erschlossen ist. Das besagt, dass es sich im Offenen des »Da« und von sich her zeigt. Erst dadurch sind sittliches oder unsittliches »Für-, Wider-, Ohne-einandersein, das Aneinandervorbeigehen, das Einander-nichts-angehen«14 möglich. Daher ist auch noch in defizienten Weisen der Fürsorge Dasein als Mitsein »wesenhaft umwillen Anderer«,15 um willen ihres Seins da.
7.2 Über Schwundstufen des Ontologieverständnisses in den Ethiken
Ist das eigentliche Umwillen, Worumwillen oder Umzu des Menschseins das ihm übereignete Dasein in der Welt, so ist mit dessen Sein das Gute, nicht als Qualifikation für Seiendes, sondern als das alles gute Handeln in seiner Mannigfaltigkeit ermöglichende und in Bewegung haltende ,Gutsein‘ angesprochen. Was die Bedeutung und Tragweite dieser Konzeption verdeckt, sind verschiedene Defizite im Ontologieverständnis. Die an sich großartigen Aufbrüche in der Geschichte der Ethik erscheinen mir daher wachsend durch Aporien belastet, die sich dort eingestellt haben, wo das ,natürliche Sittengesetz‘ oder ,Naturrecht‘ (in Abhebung vom positiven, gesatzten Recht) in das Zentrum der durch Metaphysik begründeten Ethik gerückt wurde, ein Problemknäuel, dem gegenwärtige Bestrebungen der Wiederbelebung einer naturrechtlichen (will sagen: ontologischen, metaphysischen) Grundlegung der Ethik nicht entgehen können und der aufgearbeitet werden müsste. Auf einige mir wesentlich erscheinende Problemstellungen sei hier hingewiesen: Erstens: Wir stehen stets unter dem Anspruch des Daseinsganzen, um das es geht. Das heißt, es ist uns aufgegeben, gut zu sein. Das Gute überhaupt ist in der jeweiligen Situation (im entscheidenden Augenblick) zu vollbringen. Gerät dieser praxisbegründende Anspruch des Seins im Guten außer Sicht, so rückt stattdessen das in den Vordergrund, was die Seinsmöglichkeiten im Guten in der Spannung zur Einmaligkeit der Situation für den Handelnden vermittelt: das Regelwerk ethischer Gebote bzw. moralischer Gesetze oder praktische, d.h. handlungsanleitende Sätze. 14 A.a.O., 162. 15 A.a.O., 164. Freilich legt sich bei Heidegger das Problem nahe, ob der Ausgang vom mit dem Mitsein gleich ursprünglichen Selbstsein nicht tendenziell einen methodischen Solipsismus in der Begründung der Ethik nach sich zieht, sodass die Entfaltung des Mitseins als Quelle der Sittlichkeit zu kurz kommt.
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Diese sollen dann nachträglich zu ihrer Erstellung auf das Handeln in der jeweiligen Situation angewendet werden. Fragen nach der allgemeinen, objektiven und ,überzeitlichen‘ Gültigkeit oder nach argumentativ zu begründenden Verbindlichkeiten eines sittlichen Wahrheitsanspruches u.a. werden innerhalb dieses eingeschränkten Horizontes diskutiert. So sind beispielsweise in der neueren Diskurs-Ethik nicht die ontologischen Ermöglichungsbedingungen des Gutseins, sondern anwendbare Regeln gefragt, denn eine sittliche Handlung ist dann gegeben, wenn sie nach Regeln erfolgt, auf die sich kompetente Teilnehmer eines herrschaftsfrei geführten Diskurses hätten einigen können. Ein solches Handeln ist gewiss nicht nur vernünftig, sondern auf seine Weise gut. Aber ist es nicht deswegen vernünftig, weil es solcherart wahrhaft gut ist, zu sein? Die ontologische Frage nach dem Phänomen des ,Gut-seins‘, das unser Dasein in Anspruch nimmt, bleibt hier ausgespart. Zweitens: Man versuchte im Rahmen des Vordringens der Zweiweltenlehre des (vulgären) Platonismus die unbedingte Autorität des Naturrechts dadurch zu sichern, dass man es als eine überzeitliche (und das heißt ungeschichtliche) Wesensordnung und Willensäußerung Gottes hingestellt hat. Im Zuge des in der neuzeitlichen Metaphysik zur Vorherrschaft gekommenen Ansatzes skotistischer Ontologie, auf die noch wiederholt eingegangen werden muss, wird die das faktische Seiende transzendental ermöglichende Wesensordnung zum eigentlichen Sachgebiet der Philosophie. Das aus der Welt her situativ Anwesende verkommt zum bloß Vorhandenen (bzw. zu Gegenstand oder Tatsache) und scheidet damit als Quelle wesenhafter sowie sittlicher Erkenntnis aus. Mit der Ausklammerung des jeweils in seinem Anwesen ereignishaft zur Gegebenheit Kommenden wird das verbale Seinsverständnis dem nominalen untergeordnet. Durch diese Ausdünnung des Seinsverständnisses bahnen sich folgerichtig spätere vermeintlich ontologiefreie oder -überlegene Versuche der Ethikbegründung an. Im Gegenzug zur skotistischen Ontologietradition wird mit dem cartesianischen Ansatz des »Ich bin« zwar etwas vom partizipial-verbalen Seinsverständnis wiedergewonnen, jedoch auf das selbstgewisse »Ich denke mich denkend« eingeschränkt. Darüber hinausgehend war es die große Entdeckung des personal-dialogischen Denkens, dass abgehoben vom innerweltlich Anwesenden (als dem bloß Eshaften) der oder die mir gegenüber Anwesende (also jemand, der ich selbst nicht bin) mir vorgängig ethisch und ontologisch relevant erscheinen muss. Wenn es um das ,personale Sein‘ geht, so im Sinne der Begegnung (dem Anwesendwerden in der Gegenwart des Du). Zu bedenken wäre unsere Herkunft (die Herkunftsfamilie) im personal miteinander eröffneten Raum und damit das ontologisch Wesenhafte des relationalen Personverständnisses. Doch dieser generative Aspekt (in der transbiologischen Be-
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deutung von »Generation«) wurde von personal-dialogischen Denkern eher vernachlässigt: Nun sind es doch immer Andere in ihrer Mitmenschlichkeit, denen wir es verdanken, ,zur Welt‘ – und das heißt zum Offenen des Seins – gebracht worden zu sein, und zwar als Wesen, die solches wiederum selbst vermögen. Ohne Rücksichtnahme auf diese generative Rangordnung suchte Emmanuel Lévinas eine der Ontologie enthobene und ihr angeblich überlegene neue Sittlichkeitsbegründung, die sich auf den situativ unvermittelten Anspruch der Andersheit der/des leibhaftig begegnenden Anderen beschränkt, der mich selbst zur Verantwortlichkeit für ihn oder sie öffnet. Das sagt mir jemand (Lévinas), der im Blick auf Andere, unter denen ich selbst zufällig als sein Leser bin, die Verantwortung dafür übernommen hat, dass sein Appell an Andere, Verantwortung zu übernehmen, ankomme. Zu berücksichtigen ist hierbei: Immer schon waren es Andere, welche in der Verantwortlichkeit für dich, für mich und für uns standen – von denen wir verantwortlich zu sein gelernt haben. Und so waren und sind zunächst wir die Anderen, und zwar schon dort, im Schoß der Mutter, wo dein, sein, mein und unser aller Antlitz noch gar nicht direkt sprechen konnte: Lass mich sein! Gütig ist jemand, wenn er gut ist; er darf es zulassen und lässt es zu, dass es gut ist zu sein, gut ist, einander sein-lassen zu dürfen. Und das dürfen wir in alle später von uns aus verantwortbaren Begegnungen mit Anderen immer schon einbringen. Subjekt- oder personzentrierte Ansätze thematisieren meist ungenügend die je verschiedene Teilnahme an der gemeinsamen Welt, und zwar als dem Offenen des Seins, das in sich gut ist, gut füreinander, und weiter: die Möglichkeit der seinlassenden Freigabe des Daseins Anderer zu ureigenstem Sein. Diese umfasst die weltweite Spannweite ihres Wesens, ihr Mitdasein aus der Mitwelt im leibhaftigen Anwesen (Sein), um das es ihnen, den jeweils selbst Anwesenden, mit- und füreinander geht und ging. Der innige und teilnahmsvolle Bezug mit- und füreinander, um den es geht, d.h. der für uns gut ist, verdankt sich der Gabe des Gutseins: Daher sind Sein und Gutsein – dasselbe. Drittens: Dem Verlust des ontologischen Ethikverständnisses geht die radikale Unterminierung überlieferter Naturrechtsethik durch den im Spätmittelalter aufkommenden ,theologischen Absolutismus‘ voraus, eine theonome Ethik auf der Basis einer Metaphysik des schrankenlosen göttlichen Willens. Schon für Johannes Duns Scotus wird der Wille Gottes zur Norm der Sittlichkeit.16 Zwar unterstellt er dadurch Gott keine Irrationalität, meint aber dennoch, dass die Dinge nicht deswegen von Gott gewollt seien, weil sie gut sind, sondern dass sie gut sind, weil Gott 16 Duns Scotus, Ord. IV, d. 46, q. 1, n. 6: Opera omnia, ed. Viv., Bd. 20, 405 a: Voluntas sua [sc. Dei] est prima regula.
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sie will und liebt.17 Noch ist damit keine schrankenlose Willkür Gottes im Sittlichen behauptet, da der absolute göttliche Wille durch die logische Norm des Prinzips vom zu vermeidenden Widerspruch sowie durch Gottes Ideen und vor allem durch die Erkenntnis der eigenen göttlichen Wesenheit normiert ist. Auch ist es ein unveränderliches Prinzip der Ethik, dass Gott über alles geliebt werden muss.18 Gott könnte die ersten beiden Gebote des Dekalogs nicht willkürlich ändern. Aber alle übrigen Gebote, welche die Verhältnisse unter den Geschöpfen regeln, sind für den Willen Gottes disponibel.19 Daher habe man nach einem weiteren Grund, warum etwas Geschöpfliches gut oder nicht gut sei, gar nicht erst zu fragen.20 Diese supranaturalistische Begründung der ,natur‘-rechtlichen Moral verschärft sich bei Wilhelm von Ockham, der bekanntlich das natürliche Sittengesetz einzig und allein auf den Willen und Befehl Gottes zurückführt,21 wodurch es (unter Wahrung des Widerspruchsprinzips) »de potentia absoluta« veränderlich ist. So wäre es beispielsweise nicht widersprüchlich, wenn Gott dekretieren wollte, es sei gut, ihn zu hassen.22 Hier wird der Allmachtsglaube als kritische Instanz gegen die Sicherheiten der Metaphysik und der in ihr gegründeten Ethik eingesetzt. Die willkürliche Übermacht Gottes, bei dem durch besondere ,Offenbarung‘ alles immer noch anders werden kann, als es geschaffen wurde, verunsichert alles bodenlos. Diesem Schrecken der Verunsicherung durch Allmachtsphantasien setzt Spinoza den Gedanken der Seinsnotwendigkeit entgegen, welche Metaphysik und Ethik in eine grandiose Synthese zu zwingen sucht, wobei für den Menschen ,ethisch‘ gesehen nur bleibt, sich als endlicher Modus (unter den unendlich vielen endlichen Modi, die aus der göttlichen Substanz hervorgehen) und als notwendige Selbstauswirkung und -ausdruck eben dieser unendlichen Allsubstanz zu begreifen. Die Ethik wird in eine apersonale Substanzmetaphysik aufgehoben, welche die Substanz ontotheologisch für das Höchstdenkbare hält, sodass das Ethische naturalisiert, d.h. zu einem naturhaft notwendigen Seinsgeschehen wird (Deus sive natura naturans).
17 Duns Scotus, Ord. III, d. 19, q. un., n. 7: Opera omnia, ed. Viv., Bd. 14, 718 b: omne aliud a Deo ideo est bonum, quia a Deo volitum et non e converso. 18 Duns Scotus, Ord., Prol. pars 5, q. 2: Johannis Duns Scotus Opera omnia, ed. Balic, Bd. 1, 196; Ord. III, d. 36, q. 1, n. 13: Opera omnia, ed. Viv., Bd. 15, 631 a/b. 19 Duns Scotus, Ord. III, d. 37, q. un ., n. 5: Opera omnia, ed. Viv., Bd. 15, 826 a. 20 Duns Scotus, Ord. lib. I, pars 2, q. un.: Opera omnia, ed. Balic, Bd. 4, 324 f. 21 In Absetzung von einer abstrakten Wesensidee des Guten: Wilhelm von Ockham, Scriptum in librum primum Sententiarum, d. 35, q.5, in: Opera Theologica., Bd. 4, 48 f., vgl. Bd. 2, 321, u.ö. 22 Vgl. E. Hochstetter, Viator mundi, 14, mit einer Interpretation von Ockhams Quodlibeta, III, q. 14 f., die unterstellt, dass Ockham seine extreme These später korrigiert habe.
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Wird demgegenüber der Gedanke des willentlich und frei handelnden Subjekts geltend gemacht, dann kann die skotistische Scheidung von faktisch vorhandenem Seienden und der dieses ermöglichenden Wesensordnung, die im Willen Gottes verankert ist, die neuzeitliche Entgegensetzung von Sein und Sollen vorausbahnen. In seiner »Einführung in die Metaphysik« hat Heidegger versucht, diese Entgegensetzung durch Eingrenzungsschritte des frühgriechischen Seinsverständnisses verständlicher zu machen.23 Der Ausbildung der Schuldisziplinen Physik und Ethik in der Stoa24 geht die Auslegung der Physis (dem aufgehend-entbergenden Walten) als Idee voraus, die den Bezug zum Vorbildhaften, dann zum Ideal und schließlich zum Gesollten mit sich bringt. Die Herabsetzung des Seins wird dadurch wettgemacht, »dass etwas über das Sein gesetzt wird, was das Sein stets noch nicht ist, aber jeweils sein soll«.25 Die Scheidung von Sein und Gutem wird in der Scheidung von Sein und Sollen fortgesetzt, die sich bei Kant im kategorischen Imperativ als reinem Sollen vollendet26 und durch Fichte noch verschärft wird. Ihre Ausgestaltung im 19. und 20. Jahrhundert mündet in den Bruch zwischen der Welt der Tatsachen (bloß vorhandener Seiender) und der Welt zeitlos geltender Werte. Das Sein der Tatsache begründet kein Sollen, umgekehrt schafft das zu verwirklichende Sollen ,Tat-sachen‘, die an sich wertfrei sind. Seinsgeschichtlich kann der Bruch zwischen dem Sein und dem Sollen, ontischer Metaphysik und Ethik durch zwei radikale Positionen markiert werden: Durch die Spinoza nahestehende Aufhebung der Ethik in eine Metaphysik des Willens durch Nietzsche und durch die sich von der Ontologie des Spinozismus abhebende Ethik bei Lévinas. Nietzsche hat insofern zum Einsturz einer auf dem Wertedenken gründenden Ethik bzw. Moral beigetragen, als er diese reduktiv-genetisch auf eine letzte Pluralität der Willenskräfte zurückgeführt hat.27 Alle Seienden seien im Grunde jeweils als Wille-zur-Macht-Geschehen organisiert. »Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem!«28 Das Geschehen der unzähligen Willen-zur-Macht vollzieht sich in Interpretationen, in »perspektivischen Schätzungen« bzw. Ideal-, Horizont-, Sinn- und Wertsetzungen. Sie verfälschen das Werdegeschehen zum begrifflich-abstrakten Sein und geben diesen Schein für festgestellte 23 M. Heidegger, GA, Bd. 40: Einführung in die Metaphysik, 100 ff., 204–208, 211. 24 Vgl. M. Heidegger, GA, Bd. 29/30: Die Grundbegriffe der Metaphysik, § 10, 52–56. 25 M. Heidegger, GA, Bd. 40: Einführung in die Metaphysik, 206. 26 Dazu ausführlich M. Heidegger, GA, Bd. 31: Vom Wesen der menschlichen Freiheit, §§ 27, 28. 27 Vgl. dazu G. Abel, Nietzsche: Die Dynamik der [sic!] Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, sowie M. Heidegger, GA, Bd. 6.2: Nietzsche, 43–45, 47, 48, 50, und die noch immer wichtige Abhandlung über »Nietzsches Wort ,Gott ist tot‘«, in: GA, Bd. 5: Holzwege, 209–267. 28 F. Nietzsche, KGW, Abt. VII, Bd. 3, 339.
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Wahrheit aus. Allein die für unbedingt und überzeitlich gehaltenen Werte stellen sich als nichts anderes heraus denn als subjektive Blickbahnen, die durch Setzung neuer hermeneutischer Perspektiven und eines neuen Glaubens der Machtsteigerung und -erweiterung dienen.29 Mit dem Erwachen dieser Einsicht stürzt die angeblich auf diesem Glauben beruhende ganze europäische Moral ein.30 Insoweit die Zeitdiagnose zutreffend ist, wird damit ein verborgener Grundzug abendländischer Geschichte überhaupt offenbar: der Nihilismus. Dieser bedeutet, »dass die obersten Werthe sich entwerthen«; »es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das ,Warum?‘«.31 Gemeint ist der Einsturz der übersinnlichen ,meta-physischen‘ Welt des Platonismus, zu der Gott und die göttlichen Ideen als Grund und Ziel der sinnlichen, physischen Welt gehören. Mit ihr ist es nichts (nihil), sie existiert nicht: »Ein Nihilist ist der Mensch, welcher von der Welt, wie sie ist, urtheilt, sie sollte nicht sein und von der Welt, wie sie sein sollte, urtheilt, sie existiert nicht.«32 Nach Nietzsche mobilisiert das Willen-zur-Macht-Geschehen die Suche nach Werten (bzw. Sinn) und setzt sich diese als Wertgesichtspunkte zur Erhaltung und Steigerung der jeweiligen Kraftzentren voraus. Die von ihm versuchte »Umwertung aller Werte« aus dem Prinzip der neuen Wertsetzung, dem Willen zur Macht, die den Nihilismus vollenden sollte, zeigt indes nur, dass er in die abstrakte Wertvorstellung verstrickt blieb. Heidegger konnte hervorheben, dass das Werten als wertsetzendes Sichvorstellen so etwas wie eine Subjektivierung des Seienden ist, das nicht in seinem Sein gewahrt und gehütet, sondern nur als Gegenstand der Wertung, der Schätzung, zugelassen (bzw. dem Willen unterworfen) wird. Subjektive Bewertungen oder Wertsetzungen können den Menschen nicht binden und bleiben unverbindlich,33 auch beraubt das nur vom Subjekt aus Gewertete das Bewertete der eigenen Würde. Selbst Gott wird (in der Hierarchie der Werte) zum höchsten Wert herabgewürdigt, was nach Heidegger die Gotteslästerung schlechthin ist, der letzte, tödliche Schlag, der gegen ihn geführt wird.34
29 A.a.O., Bd. 1, 112. 30 Auf Nietzsches Dekonstruktion des Glaubens wird später eingegangen. Inzwischen erlebt man sich in der europäisierten Welt von einem grassierenden Einsturz des Wertedenkens bedroht, wobei der Werteverfall und die globale Forderung, die Werte wieder hochzuhalten, sich gegenseitig aufschaukeln. 31 F. Nietzsche, KGW, VIII/2, 14. 32 F. Nietzsche, KGW, VIII/2, 30. 33 M. Heidegger, GA, Bd. 9: Wegmarken, Brief über den »Humanismus«, 349, 361. 34 M. Heidegger, GA, Bd. 5: Holzwege, Nietzsches Wort »Gott ist tot«, 259 f.; ders., GA, Bd. 9: Wegmarken, Brief über den »Humanismus«, 349.
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Man kann Nietzsches Denken auf Grund einer Selbstdeutung als umgekehrten Platonismus ,meta-physisch‘ verstehen.35 Seine Anti-Metaphysik ist immer noch eine Metaphysik, und zwar eine Metaphysik des Willens,36 die im Gegensatz zu Schopenhauers Annahme der Welt als sich vorstellender Gesamtwille einen Pluralismus der Willenszentren vertritt. Mit dem Sein des Seienden als solchem ist es nichts (nihil), weil Nietzsche Sein nur statisch auslegt, als abstraktesten und leersten Begriff im Gegensatz zur lebendigen Dynamik des Werdens verkennt und es nicht als konkretes Anwesen und Konstituieren, Gewähren und Walten des Anwesenden versteht. Seine radikale Moralkritik beruht so auf der ihm eigenen Metaphysik, die in sich lebenspraktische Philosophie von anhaltender seismographischer Qualität ist. Es liegt auf der Hand, dass Nietzsches Seinsauslegung schon deswegen methodisch fragwürdig ist, weil sie das Unbekannte aus dem Bekannten zu verstehen sucht, das Sein von einem partikulären, innerweltlichen Phänomen (Willen, Energie, Macht, Leben usw.) her auslegt, dessen jemand inne ist. Die wesenhafte Unbekanntheit, welche die stets des Fragens würdig bleibende Quelle der Bekanntheit unseres Seinsverständnisses ist, wird damit verstellt. Mit dem Ausgang von einem speziellen Phänomen unseres Verhältnisses zum Sein für die Daseinsdeutung im Ganzen muss ein allenfalls sich zeigender ursprünglicher Seinssinn des Guten notwendig verstellt bleiben.37 Die entpersonalisierende und dehumanisierende Selbstauslegung, welche den Menschen auf das Ensemble einer Pluralität agonaler Willenszentren reduziert, scheint – ausufernd in Weltkriegen, kolonialisierender Versklavung und himmel35 Worauf später näher eingegangen werden soll. 36 Versteht man unter Meta-Physik den Sachtitel für platonistische Zweiweltenlehren, dann kann von dem als radikal anti-metaphysisch bekannten Denken Nietzsches höchstens metaphorisch gesprochen werden, insofern er den Platonismus bzw. die idealistische Metaphysik umgekehrt hat. Versteht man unter Metaphysik keinen derartigen Sachtitel, sondern ein Denken, das auf das Ganze unseres Daseins miteinander geht und auf den Grund oder Grundcharakter, der alle Seienden phänomenal durchragt, dann ist der Platonismus nur ein Deutungsstrang innerhalb der Metaphysik, die im weiteren Wortsinn für ein Denken von größter Weite und Tiefe steht. Willensmetaphysik ist dann eine der speziellen Ausgestaltungsmöglichkeiten dieser Metaphysik als eine Auslegung des Seins durch irgendeine Konzeption von Willen. Nun versteht Nietzsche das Willentliche der Willen als Befehlen, Herrschaftsausübung, Sichüberwinden der multiplen Persönlichkeit, Kraftexplosion, Auslösung und Ausströmen von Kraft, als einen Willen, der sich selber die Steigerungsbedingungen der Macht setzt. Damit kann mindestens im Sinne der zweiten Bestimmung von Metaphysik von einer Willensmetaphysik bei Nietzsche gesprochen werden. 37 Zur sachlichen Unhaltbarkeit des willensmetaphysischen Daseinsverständnisses vgl. A. K. Wucherer-Huldenfeld (1996), Grundgedanken bei Freud und Nietzsche im Blick auf die Sachproblematik der Metaphysik des Willens, 62 ff. Das Gesagte mindert nicht die hellsichtige Aktualität von Nietzsches Denken, das eine Welt beschreibt, die nur als Sichbemächtigenwollen, Herrwerden über etwas, vorsätzliches Sichdurchsetzen, Sicheinsetzen für etwas, Selbstexpansion usw. zugelassen wird.
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schreienden Genoziden – ihre politische Entsprechung bis in den Alltag hinein zu finden. Was nottut, wäre eine völlige Umkehr, eine Abkehr von einem Denken und Sichverhalten, das sich die Unbekanntheit des Anderen und seiner Welt unterwirft, hin zu einem Sichbetreffenlassen durch die uneinholbare »Anderheit« (altérité) des/ der Anderen. Darum geht es unübergehbar im Denken von Emmanuel Lévinas, doch leider in exklusiver Einseitigkeit, insofern er meint, das Anders-Se i n des ,bist‘ ausklammern zu können. Doch wie wäre die Erfahrung der Anderheit des Anderen möglich, die den totalen Herrschaftsanspruch universeller Subjektivität des transzendentalen Ichs umstürzt, wenn wir die grundstürzende Erfahrung des allen Seienden vorgeordneten und jeweils zueigenen Seins hintanhalten? Lévinas erblickt jedenfalls in der Anderheit des Anderen den konkreten Ursprung und hinreichenden Begründungsanspruch für eine neue Sittlichkeit, weil ihr die unbedingte Übernahme von Verantwortung für eben diesen Anderen entspringen soll. Sie scheint der Geschichte abendländischer Metaphysik abzugehen, wenn auch, um nur ein Beispiel zu nennen, viele mittelalterliche Denker die »Nicht-Mitteilbarkeit« (incommunicabilitas) für den wesenhaften Grundzug des Personseins gehalten haben, dem in Liebe zu entsprechen ist.38 Für Lévinas kann aber eine Ontologie mit ihrem totalitären, gewaltsam sich alles unterwerfenden und einverleibenden Denken niemals das grundlegende Geschehen enthüllen und die anfängliche, Erste Philosophie sein, sondern allem voran muss Philosophie mit der in die Verantwortung rufenden Berührung mit dem Anderen von Angesicht zu Angesicht anfangen. Daher wird die Stelle einer prima philosophia von der Ethik eingenommen. Der Vorrang des Subjekts des Anderen wird nicht durch die sich selbst behauptende Substanzialität, durch die universelle transzendentale Intentionalität und auch nicht durch das anonyme Seinsverstehen begründet und gewahrt, sondern durch die ethische Verantwortung. Was versteht Lévinas unter dem Sein der Ontologie? »Das Sein hat immer zu sein, das Sein ist conatus essendi – im [praktischen] Leben ist es sofort Krieg.«39 Conatus essendi ist ein Grundwort spinozistischer Philosophie. Bei Spinoza bringen die Dinge Gottes unendliche Mächtigkeit in unendlicher Mannigfaltigkeit auf endliche Weise durch den conatus zur Darstellung. Spinoza versteht darunter die dauernde Bedürftigkeit, Begehrlichkeit, das bewusste Streben, Wünschen und Wollen, und zwar als dauernden Versuch, sich im Sein und Handeln (agere) zu erhalten (conser-
38 Etwa bei Richard von St. Viktor und besonders in den Franziskanerschulen (Johannes Duns Scotus, Alexander von Hales u.a.). 39 E. Lévinas, Humanismus des anderen Menschen, 136.
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vare) und zu beharren (perseverare).40 Was zu sein hat, ist nicht das jeweilige Dasein, nicht jemand selbst, sondern ein vom conatus umgetriebenes Sein. Der conatus meint dabei kein psychologisches Vermögen, keine besondere Fähigkeit, ja überhaupt nichts, was einem Subjekt, einer Person oder einem Ding zu eigen sein könnte, sondern es verhält sich umgekehrt: Er ist dasselbe wie die Urmacht (potentia rei), die bestimmt, wodurch und was Seiendes ist. Daher halten wir etwas für gut, weil wir es betreiben, erstreben, wollen oder wünschen, und wir nehmen es nicht deshalb an, weil wir es für etwas halten, das in sich gut ist.41 Jedes Ding widersetzt sich der Aufhebung seiner Existenz. Selbstzerstörerisches hat das Ding nicht in sich, es weicht nur der Übermacht der Selbstbehauptung anderer. Was sich gegen die Selbstaufhebung richtet, das ist immer das Bestreben und die Anstrengung, im Existieren zu beharren – genau dies ist der conatus essendi; dessen Esse ist bei Spinoza existentia –, also nicht abgründiges Anwesen, das sich dem Anwesenden gewährt. Lévinas beruft sich auf diese von Spinoza markant formulierte Traditionslinie. Nietzsche hat sie durch den Gedanken der Selbstbehauptung durch Machtsteigerung (zum Zweck des Machterhalts) überbietend fortgesetzt.42 Das spinozistische Sein hat nun für Lévinas etwas Entpersonalisierendes und Anonymes. Lévinas weist also nur eine bestimmte Gestalt der sogenannten ,Willensmetaphysik‘ zurück,43 die er kaum verhüllt der ganzen abendländischen Ontologie (Metaphysik) zu unterstellen scheint. Sein großes Verdienst liegt darin, für den Zusammenhang von Metaphysik (Ontologie) und einer Politik der Gewalt gegen Andere sensibel gemacht zu haben. Die Ethikbegründung von Lévinas besticht durch ihre Lebensnähe und wird vor dem alttestamentarischen Hintergrund verständlicher. Die üblicherweise mit »Du sollst nicht töten!« übersetzte Weisung, nicht zu morden, wurzelt bei Lévinas vor aller Verallgemeinerung konkret im lautlos-flehenden Anspruch des Blicks, der einen ethisch bedrängt und sagt: »Du wirst mich [doch] nicht töten [wollen]!« 44 Mit 40 Spinoza, Ethica, pars III, prop. VI und VII, in: Opera, Bd. 2, 146. 41 A.a.O., prop. VIII–IX. 42 G. Abel, Nietzsche, 49–59 u.ö. 43 Auf seine Auseinandersetzung mit Sartre wird noch einzugehen sein. 44 E. Lévinas, Humanismus des anderen Menschen, XI. – Die biblische Weisung in Ex 20,13 und Dt 5,17 ist möglicherweise als persönlich gewendete beschwörende Bitte zu verstehen: Weil Du aus Ägypten, dem Sklavenstaat, zur Freiheit befreit wurdest (Ex 20,2; Dt 5,6), deswegen wirst Du als solcherart Befreiter, der Du bist, doch nicht töten! Aus demselben Grund ist dieser alttestamentlichen Weisung vorgeordnet: »Du wirst doch Deinen Vater und Deine Mutter ehren!«, die Dich zu ureigenstem Sein freigegeben haben, das Du, so lange Du lebst, ihnen verdankst. Zu bedenken wäre auch, dass die Freigabe zu ureigenstem Sein nicht im Horizont der Subjektivität, sondern als Antwort auf das Widerfahrnis des Andersseins des Anderen zu verstehen ist, wobei in einer lebendigen Beziehung Nähe und Fremdheit in gleicher und nicht umgekehrter Proportion miteinander wachsen.
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dieser Epiphanie des Blicks des Anderen sind wir weit entfernt von einer den Angriff hemmenden Unterlegenheitsgeste oder Demutsgebärde, die aus ethologischer Sicht automatisch (instinktiv) eine Aggressionshemmung bewirken, zum Beispiel wenn der Artgenosse des angreifenden Wolfs sein Gefrieß abwendet, um ihm den tödlich verletzbaren Hals zum Zubeißen zuzukehren. Doch das flehende Aufschauen eines Menschen, das kein Wegsehen, kein Senken des Blicks, kein Aufgeben und Sichgeschlagen-Geben ist, wehrt den Gewalttäter nicht automatisch oder instinktiv ab, und schon gar nicht, wenn Erwartungsangst oder Brutalität und Gier, Zerstörung oder Verfallen das Gesicht entstellen. Für manche ist ein befremdendes Anderssein Beweggrund genug, um zu töten. Vielmehr erhebt sich aus dem menschlichen Antlitz eine Forderung, die mich in absolute Verantwortung versetzt. Da ist etwas in dem nackten Gesicht, eine unantastbare Sakralität leuchtet im Antlitz auf, die mich unvermittelt gefangen nimmt und die als intentional Fassbares, als vorhandenes Sein, verkannt würde. Das Antlitz des Anderen wird in jüdischer Tradition von der Spur (trace) her gedacht, ist aber keine Spur, welche eine Fährte identifizierbar macht, sondern geschieht nur als Vorübergang, und zwar als Vorübergang des ,Oh, Er ist da‘ (Jahwe).45 Daher gibt es keinen Gottesbezug ohne den Anderen, ohne die Annahme des Anspruchs Gottes als ethisches Handeln. Anlässlich des Aufblitzens des Ewigen im Augen-Blick (mhd. blick = Blitz), das jedem Beobachten entgeht, verlässt einen Menschen die Gewaltbereitschaft und er weiß sich in die unbedingte Verantwortung für den Anderen genommen. Dass dies die sittlich stimmige Antwort ist, wird eigentlich vorausgesetzt und zehrt von einem faktischen Konsens als Vorverständnis für das, worum es da bedingungslos geht: Dass es gut ist, dass es mir nicht nur oder vorrangig um mein eigenes Sein geht, sondern (auch) um das Sein des Anderen, und zwar um seinetwillen. Die unbedingte Erfahrung und bedingte Beurteilung sittlicher Stimmigkeit solchen Verhaltens ist nicht dasselbe wie die Begründung einer Ethik, die solchem Verhalten gilt. Zudem ist der Anspruch des Anderen auch nicht ontologiefrei oder »jenseits des Seins«, musste der Andere doch als der Seiende oder die Seiende in seinem/ihrem irreduziblen Anderssein und in der Offenständigkeit seines/ihres Anwesens mir gegenüber vernehmbar gewesen sein. Der mich betreffende Mensch muss ja mir gegenüber aus dem Offenen seines und unseres gemeinsamen Weltaufenthalts heraus leibhaftig anwesend geworden sein, sonst könnte ich ihn gar nicht gewahren. Wie könnte er mich sonst etwas angehen? Auch ist das Sein des Guten kein abstraktes Prinzip, keine Idee; längst bevor ich es zulassen und Anderen in ihrer verletzlichen 45 Vgl. B. Waldenfels, Das leibliche Selbst, 297 ff.
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Würde zugestehen kann, ist mir dieses verletzliche Sein, das ich selbst bin, konkret leibhaftig durch Andere aus der Welt zuteilgeworden und gibt es mich und dich lebenslang immer schon als zum Sein freigegebene ,Dritte‘, nicht im Sinne rechnerischer Größen verstanden. Ich selbst verdanke dieses Geschenk meines Seindürfens Anderen und bin schon pränatal, längst bevor man mein Antlitz erblicken konnte, die/der Andere gewesen, und bin die/der im Anderssein Andere zu allen uns Begegnenden, und zwar habe ich mich, nicht ohne den sittlichen Anspruch konkreter Anderer, selbst entgegen- und anzunehmen. Die von Lévinas eingemahnte unpersönliche Namenlosigkeit im »Il y a«, ,Es gibt da‘ (entsprechend dem lat. habet) Sein/Seiendes im Sinne eines nivellierten Seinsverständnisses, nämlich eines Existierens im Allgemeinen, dieser bedrückende Nachtgedanke eines Schlaflosen sagt völlig anderes als Gegeben- und Gewährtsein des Seienden, das ich bin und das du bist‘.46 Das hier Waltende ,Es gibt‘ muss nicht von vornherein apersonal (unmenschlich), sondern könnte auch transpersonal verstanden werden, was eine eigene Erörterung verdiente. Sollte diese Kritik an Lévinas, welche die Untrennbarkeit von Sein und Gutsein einfordert, zutreffen, dann ist es nötig, nochmals auf unser verbales Seinsverständnis zurückzukommen, aus dem und auf das wir uns selbst verstehen. Erst eine weitere Freilegung unserer ursprünglichen Grunderfahrung des Seins lässt die Entscheidung zu, ob die Rede von einem ursprünglichen Ethos und von Ethischem und damit von einem Praktischwerden der Metaphysik, sofern sie phänomenal anfänglicher gedacht wird, zulässig ist oder nicht.
Fünfter Exkurs
7.3 Fünfter Exkurs: Das Gutsein als ontologisches Ursprungsphänomen praktischer Philosophie
Wenden wir uns nun uns selbst zu, dann können wir gewahren, dass wir unseres eigenen offenen Anwesens mit Anderen in der Welt inne sind und dass uns in ihr Zeit zu sein gegeben ist. Der Hinweis auf diese Grund- und Urerfahrung ist, wie wir wissen, nicht zu verwechseln mit der verdinglichenden Aussage, dass wir als faktische Gegebenheiten in der Welt antreff- und beobachtbar sind, denn nur innerhalb des uns vorgegebenen Offenseins und Miteinanderanwesens für uns ansprechbare Gegebenheiten des Anwesenden ist Beobachtung möglich. Das zeitwörtlich verstandene Sein (Anwesen der Anwesenheit) des Seienden, das ich bin, das du bist und das wir sind, währt als meines, deines und als Sein, das wir miteinander teilen, und dies 46 Vgl. dazu B. Klun, Das Gute vor dem Sein, 68 – 94, 149 –154, der die unmittelbar nicht synthetisierbare Differenz im Seinsverständnis von Lévinas und Heidegger sorgfältig herausarbeitet.
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nur dadurch, weil wir jeweils sind und zu sein haben. Dieses, dass je ich selbst zu sein habe, dass je du selbst zu sein hast und dass wir zu sein haben, ist als eine einzigartige Weise des Zuteilwerdens von Sein nichts bloß Allgemeines oder Individuelles, sondern jeweils eine einzigartige Bestimmung (Schicksal, Sichfügen) und ,Geschick‘, für das zunächst noch nicht entscheidbar ist, ob damit ein persönliches, apersonales oder transpersonales Bestimmtsein gemeint sein kann. Was unbestreitbar ist, ist nur, dass wir uns in die Erfahrung, dass wir sind und zu sein haben, jederzeit, solange wir sind, zurückrufen lassen können. Dieses Geschick tritt schärfer hervor, wenn wir denkend bei der Einzigartigkeit unseres Daseins verweilen und gewahr werden, wie fragwürdig es ist, dass es zu dieser Bestimmung kein kontradiktorisches Gegenteil gibt. Es können einen da Fragen überkommen wie: Warum bin ich ,ich‘, ich selbst, und nicht du? Warum bist du ,du‘, du selbst und nicht ich? Warum bin ich ,ich‘, diese oder dieser – könnte ich nicht ebensogut eine Andere oder ein Anderer sein? Warum bin ich nicht anderswo oder zu einer anderen Zeit oder in einem anderen kulturellen Umfeld zur Welt gekommen? Also warum bin ich gerade nur diese da oder dieser da und warum absolut keine Andere oder kein Anderer? Und warum die Unausdenkbarkeit dieses ,Warum‘? Das sind erregende Fragen, die uns, wenn wir sie zu beantworten suchen, kein Rätsel lösen, sondern uns nur vor das Faktische unseres Daseins bringen und es vergegenwärtigen lassen: Ich bin derjenige, dem unabwendbar dieser Ort zugewiesen ist, an dem ich standzuhalten habe, dem diese Zeit zuteilgeworden ist, um ich selbst zu sein und mein Dasein auszutragen, der unabänderlich im Empfang dieser Zeitspanne meines Seins existiert und nur dieser zu sein hat. Das ist je mein, je dein, je unser unhintergehbares Geschick, von dem man sich zwar abkehren kann, aber auch dann sind wir jeweils selbst der uns eigenen Anwesenheit überantwortet. Niemand kann der ontologischen Faktizität entrinnen, zu der es eben kein kontradiktorisches Gegenteil gibt. Kein innerweltlicher Kausalprozess, keine Evolution, macht diese Herkunft verständlich, sondern es verhält sich umgekehrt, meine evolutive und generative Herkunft habe ich nur als dieses innerweltliche Seiende da, weil es mich gibt und weil überhaupt allem, was ist, zu sein gegeben ist. Das menschliche Phänomen ist etwas, das aller gegebenen Möglichkeit des Machbaren, Herstellbaren, Produzierbaren dem Rang nach vorausgeht, etwas, das ,schlichthin‘ existenzielles Staunen hervorruft, sobald wir diesem beim Wort genommenen ,Zu-fall‘, der nicht durch Rekurs auf eine die Einzigartigkeit überfliegende Etikettierung mit blindem Zufall oder Kontingenz abzutun ist, in seiner Bedeutungsfülle nachgehen. Dieses Urphänomen, dass wir uns als Seiende mitten unter anderen Seienden in der Welt auf uns als solche verstehen, denen zu sein gegeben ist und denen Sein
Fünfter Exkurs
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Fünfter Exkurs
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überantwortet wurde, hat bekanntlich Heidegger, vielleicht nicht sehr glücklich, »Geworfenheit« im Sinne von »Faktizität der Überantwortung« genannt. Diese besagt: »dass es [Dasein] ist und zu sein hat«.47 Die Faktizität ist besonders unmittelbar in der Befindlichkeit, in den Grundstimmungen und in eins mit ihnen im Selbersein-Können so erschlossen, dass wir selbst als diese Erschlossenheit ,ek-sistieren‘. Übrigens rühren wir alltäglich mit der Frage ,Wie geht es Dir?‘, an das Hintergründige dieser stimmungsmäßigen Selbsterschlossenheit. Wie steht es um dich, wenn es dir um das Dasein miteinander in der Welt selbst geht? Wir haben nun vergegenwärtigt, dass Dasein ist und zu sein hat; niemand kann ihm, solange es ist, was es ist, und sich ereignet, entrinnen; wir können uns davon abkehren, aber auch so sind wir ihm überantwortet. Diese Faktizität, dass Dasein ist und zu sein hat, ist keine reflexive urteilsmäßige Feststellung beobachtbarer Tatsächlichkeit meines/deines Vorhandenseins in nachträglicher theoretischer Distanz. Ontologisch abgründige Faktizität und ontisch hingewürfelte Tatsächlichkeit sind hier streng auseinanderzuhalten. Die Beobachtung, dass irgendjemand tatsächlich vorhanden ist und einen Seinsbestand besitzt, mit dem man rechnen muss, ist ja nur möglich, wenn dem Dasein, wie gesagt, schon zuvor erschlossen ist, »dass es ist und zu sein hat«. Nur für jemanden, der schon ist und zu sein hat, ist eine Selbstbeobachtung möglich. Die Distanz, die das Feststellenwollen schafft, ist aufzugeben und in eine horchend aufgeschlossene Haltung zurückzunehmen, um dem Zu- und Anspruch dessen, was ist, horchend zu ,ent-sprechen‘. Des Seins, das sich in einem lautlosen Zu- und Anspruch erhebt, werden wir nur in horchender Offenheit inne. Im Versuch, den Anspruch des Seins zuzulassen, erfahren wir uns offen für die unscheinbare Sprache dessen, was uns im Offenen des Seinsganzen angeht. Dabei können wir nicht von uns absehen, weil wir es ja selbst sind, die unter dem Anspruch übereigneten Anwesens stehen. Ohne unser Menschsein besteht gar kein solcher Anspruch, wenn nicht wir selbst es sind, die sich zu diesem Anspruch verhalten, dem Phänomen folgen, seine Forderung ,ge-horchend‘ vernehmen. Damit sind wir vorbereitet, einen weiteren Schritt zu tun. Gesagt wurde: Zu sein ist uns so gegeben und mitgeteilt, dass wir zu sein haben. Dieses Haben ist nicht possessiv gemeint im Sinne von ,es steht zur Verfügung‘, ,es steht zur Disposition‘, obwohl es den Charakter anzueignenden Gegebenseins nie verliert. Ontologische »Faktizität der Überantwortung« des Daseins besagt aber anderes. Achten wir auf den Tonfall, der im ,Du hast zu sein!‘ liegt. So ist aus dieser Faktizität des Zu-sein-Habens ein einzigartiger Anspruch herauszuhören: der 47 M. Heidegger, GA, Bd. 2: Sein und Zeit, 180.
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48 Dazu vgl. A. Camus, Essays, Bd. 1: Le Mythe de Sisyphe (1943), dort: L’absurde et le suicide, 99–104: »Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Sich entscheiden, ob das Leben es wert ist, gelebt zu werden oder nicht (Juger que la vie vaut ou ne vaut pas la peine d’être vécue), heißt auf die Grundfrage der Philosophie antworten.« Es ist »der Sinn des Lebens die dringlichste aller Fragen«. (Je juge donc que le sense de la vie est la plus pressante des questions.) (99) Hat es Sinn zu sein oder nicht, ist zu sein besser als nicht zu sein?
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schlichte Anspruch zu sein, die Herausforderung, die/der zu werden, die/der du eigentlich bist, und zwar auf Grund dessen, was nur du und niemand anderer an deiner Stelle zu sein vermag. Dass es Sein gibt und dass du dieses Sein in der Zeit zu sein hast, besagt, dass es dir aufgegeben, dass es ,Auf-gabe‘ ist – freilich immer mit Anderen, für sie und von ihnen her. So gewahren wir einen Anspruch, der uns an- und aufruft, dem, was uns gegeben ist, mit allen seinen jeweiligen Möglichkeiten und Notwendigkeiten zu ,ent-sprechen‘: ganz selbst zu sein und zu werden. Zu-sein-Haben nimmt uns in Anspruch wie ein Appell, eine Anforderung mit dem kategorischen Todernst des Unbedingten, der kein Wenn und Aber kennt. Solange wir zu sein haben, sind wir schuldig, dem uns überantworteten Sein und der damit erteilten Aufgabe zu entsprechen, was einschließt, dass wir auch im Sinne sittlicher Verfehlung schuldig werden können. Nicht ganz zu Unrecht stößt die Frage nach dem Selbstmord das Tor zur Philosophie auf.48 Aber der hier gemeinte Anspruch, der mich mit der Fragwürdigkeit des Sinns von Sein (Leben, Dasein) überkommt, entlässt uns zunächst in eine Art von vormoralischer Schuldigkeit im Sinne einer permanenten Aufgabe – ein leises Geheiß, ein lautloser Anruf, der nichts von einem diktatorischen Imperativ an sich hat, der unterwerfen wollte –, er ist also kein bloßes verbindlich gemachtes Sollen, aus dem erst ein Können (Sein!) zu postulieren wäre, kein aus dem Himmel gefallenes Sollen jenseits des Seins. Vielmehr verhält es sich umgekehrt: Es ist das Seinkönnen, das alles einbegreift, was wir dem Leben schulden. Persönlich gewendet: Du bleibst es dem Dasein miteinander ,schuldig‘, sinnvoll (nach optimaler Möglichkeit) zu sein und dem entsprechend zu handeln, und zwar immer, solange du bist, ohne dass dieses Schuldigsein etwas Unmoralisches oder ein sittlicher Mangel wäre. Du bist damit auch nicht zum Sein verdammt, als ob du unter einem kategorischen Imperativ eines Gesetzes (Regelwerkes) oder unter dem apersonalen Anspruch eines höheren Ideals stündest, das dich repressiv ,zu sein‘ verpflichtet, sondern freigegeben, erfahren wir uns zunächst als solche, die gewürdigt sind, sein zu dürfen. Dieses Sein-Dürfen besagt geheimnisvolle Ermächtigung, selbst sein zu können. Zu sein ist uns nicht nur gegeben, sodass wir zu sein haben, nicht nur aufgegeben, sodass wir uns zum Sein ermächtigt erfahren, sondern wir sind in ein entsprechendes Verhalten gerufen und dazu ermächtigt. Damit ist ein weiterer Schritt
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im denkenden Vernehmen des Seinsanspruches möglich. Das Sein (des Seienden) gewahren wir so, dass wir uns stets aus dem uns vorgegebenen Sein, das wir zu sein haben, zu diesem Sein verhalten können. Das geschieht freilich so, dass wir uns innerhalb eines situativ und örtlich gebundenen Weltaufenthaltes durch jeweils dieses und jenes Seiende angehen lassen, ohne dass der Seinsbezug auch in der Unmittelbarkeit der eigenen Befindlichkeit thematisch werden müsste. Wir können uns aus dem gegebenen Sein (dem Miteinander-Anwesen in der Welt) heraus zum Sein gar nicht nicht verhalten. Auch das ist unbestreitbar und es gibt kein kontradiktorisches Gegenteil dazu. Dem können wir nicht entrinnen, denn es gibt keine andere Wahl, die nicht unser Miteinander-Anwesen in der Welt sein würde, ja fast könnte man sagen, es habe uns ,erwählt‘. Jedoch ist unsererseits statt Über- und Annahme, deren Übung wir täglich dem Leben schulden, Abkehr oder Flucht, Abweichen oder Abbruch möglich. Aber auch so sind wir konkret dem Sein (in dieser Situation, an einem bestimmten Ort mit Anderen in der Welt) überantwortet. Das heißt, in die Verantwortung gerufen. Dabei ist zu beachten, dass unser Verhalten zum Sein nicht etwas außerhalb des Seins ihm gegenüber ist, sondern dass dieses Sich-selbst-zum-Sein-Verhalten ein aus der Teilnahme am Sein im Ganzen gegebenes Seinkönnen ist, dem Sein frei zu entsprechen, auf seinen Anspruch frei antworten zu können. Dieses aus dem Sein geschöpfte Verhältnis zum Sein kann vielfach verstellt sein, aber es herstellen, das können wir nicht, dies liegt unmittelbar nicht in unserer Verfügung. Nun besteht die Freiheit im Sich-selbst-verhalten-Können in der Mannigfaltigkeit der Möglichkeiten, jeweils selbst zu sein (mit Anderen, im Verhältnis zu Anderen und grundlegender von ihnen her), oder genauer gesagt: Freiheit ist in hier nicht weiter zu differenzierenden Gestalten als befreiendes Zum-Sein-Freigeben zugänglich und erfahrbar. Freigegebenwerden zur Freiheit und Befreien sind Grund-Erfahrungen unseres Mensch- und Personseins miteinander, die mit aufschließen, wer wir eigentlich sind, was wir können, worum es im Dasein geht (um das Gutsein) und welches unsere sittliche Aufgabe ist (die ethische Praxis, das Gewürdigtsein, sich selbst in freier Entschlossenheit gut statt böse verhalten zu können). Mit dem Phänomen des unbedingten In-Anspruch-Genommen-Seins durch das Sein, zu dem wir uns aus dem Sein, es freigebend, verhalten können, ist etwas genannt, das sich als etwas ursprünglich Ethisches erweist und einer wissenschaftlich ausgearbeiteten Ethik als ontologischer, metaphysischer Grund vorausliegt. Dieser Grund geht, als sachlich begründender sowie dem Rang nach, jeder Entzweiung in etwas Faktisch-Vorhandenes und in ein Sollen auf Grund sittlicher Ideale oder zu realisierender Werte voraus. Hier sind Sein und Sollen auf ein und denselben Ursprung
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zurückgenommen, was jedem naturalistischen Fehlschluss spottet. Denn dieser bestreitet zwar zu Recht, dass aus deskriptiv erschlossenen, bedeutungsfreien Fakten eine normativ-praktische Dimension der menschlichen Natur (Physis) erschlossen werden könne, d.h. aber nur, dass er den Schluss aus einem methodisch reduzierten ,Sein‘ (den bedeutungsnackten Tatsachen) auf ein Sollen oder aus Ist-Sätzen auf Sollens-Sätze für illegitim hält. Doch erst im Rückgang auf das unverkürzte Phänomen des Gutseins wird das, was Ethik begründet, das ursprüngliche Phänomen des Ethischen, erreicht. Das leibhaftige Sein im Da, in der offenen Weite, ist »Last«, »Joch«, das Aufgetragene und zu Tragende. Das muss nicht notwendig etwas repressiv Belastendes sein, sondern ist stets das ernsthaft Gewichtige, das dem Dasein überantwortet und übereignet ist. Daher ist es aus der Zugehörigkeit zum Sein selbst zu übernehmen. Dass wir, solange wir sind, niemals etwas anderes als nur zu sein haben, heißt dann erst: dass es dem Dasein um gar nichts anderes gehen kann als um dieses Sein des Daseins selbst,49 und zwar in allem, was es sein kann (Seinsverständnis, sich auf das Sein Verstehen, Seinkönnen), in allem, was es besorgt und worüber es für sich und Andere in Sorge ist. »Als Mitsein ,ist‘ daher das Dasein wesenhaft umwillen Anderer.«50 Ist nun das Gute das, worum willen jemand/etwas ,ist‘, dann heißt Anwesendsein »umwillen Anderer« mit anderen Worten: Wir sind aufgerufen, »das Miteinandersein gut zu vollbringen. […] Wir sind da, um auf gute Weise miteinander dazusein. […] Das Miteinander-Dasein, dessen Gestaltung uns anvertraut ist, ist bereits etwas Gutes. Es trägt seinen Sinn in sich selbst […, so, dass] Sein und Gutsein hier gar nicht zu trennen« sind.51
7.4 Das dem Sein entsprechende Ethos im Unterschied zur Ethik als philosophischer Wissenschaft
Mit dem Gesagten sind wir auf etwas anfänglich Ethisches, das Gutsein selbst, zurückgekommen, dessen wir inne sind, das wir in allem und jedem, das ist, gewahren 49 Vgl. M. Heidegger, GA, Bd. 2: Sein und Zeit, 113, 164. – Das Sein selbst ist hier freilich im Vollsinn gemeint, in seiner Tiefe und Herkunft, in seinen transzendentalen Eigentümlichkeiten, in der Konstitution der Seienden, als überbordende Gabe an das Seiende usw. 50 Ebd., 164. 51 G. Pöltner (1998b), Das Phänomen des Sittlichen, 34 f. Vgl. dazu auch Pöltners Studie über das »Mitsein bei Medard Boss« (1998a), das im Umkreis des Gesprächs von Daseinsanalytik und daseinsanalytischer Psychotherapie zu orten ist. Über die Zugehörigkeit des Gutseins zu den transzendentalen Eigen-tümlichkeiten des Seins wird im folgenden Band der Philosophischen Theologie im Umbruch noch zu handeln sein.
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können. Stets erfahren wir, dass wir anwesend zu sein haben und dass wir infolgedessen dies zur Kenntnis zu nehmen und anzunehmen haben. Anwesend zu sein ist uns aufgegeben, und zwar in aller nur möglichen Leibhaftigkeit anwesend, da im Offenen der Welt, ringsum offen für Begegnendes (Anwesen mit Anderen, Anwesen bei den Dingen, bei den Geschehnissen des Alltags usw.). All das kommt uns immer in und aus einer Welt zu, mit der wir irgendwie immer schon vertraut sind und in der wir uns jeweils in mannigfaltig sich wandelnden Bezügen und Weisen der Offenheit aufhalten, sodass wir sagen können: dein Weltaufenthalt, mein Weltaufenthalt, unser Weltaufenthalt usw. Nun nennt man im Griechischen den Aufenthaltsort, der uns zugewiesen ist zu sein, anwesend zu sein, zu wohnen und dem es aufrecht standzuhal ten gilt – Ethos ( ϑoß). Diesen zu bedenken ist die »ursprüngliche Ethik«,52 welche die Ausarbeitung einer eigenen Ethik im herkömmlichen Sinne nicht überflüssig macht. Ethos ( ϑoß) als Aufenthaltsort, wie er uns zugewiesen ist, oder als Charakter, der das Geschick des Menschen bestimmt, hat auch die Bedeutung von Wohnung, Wohnort, Gewohnheit, Brauch und Sitte.53 Im heutigen Sprachgebrauch umfasst Ethos Grundhaltungen, Wertmaßstäbe, Sinndeutungen und Handlungsregeln sowie deren Institutionalisierungen. Unter Ethos bzw. Moral (lat. mos) versteht man die konkret gelebte geschichtliche Gestaltung der Sittlichkeit einer Gruppe, Gesellschaft oder Epoche mit ihren praktischen Entwürfen, die einem gelingenden Leben Orientierung geben sollen. Dagegen ist Ethik nicht einfach die Verlängerung des moralischen Hausverstandes eines Menschen, sondern die methodisch-kritische Besinnung auf das Sichverhalten unter dem Gesichtspunkt der Findung, Klärung und Begründung der Alternative von verantwortlich und verwerflich, von Gut und Böse. Hier kommt es auf die Unterscheidung von ursprünglicher Ethik und Ethik als philosophischer Wissenschaft an. Ursprüngliche Ethik ist metaphysisches Bedenken der grundlegenden ethischen Aufgabe (wie sie aus dem Sein des zum Handeln aufgegebenen Guten kommt). Ethik als philosophische Wissenschaft (pistmh ϑik) vom Ethos ist als Schuldisziplin ein Teilbereich der Philosophie, und zwar der praktischen Philosophie. Berücksichtigt man aber das ursprüngliche Ethos, verstehen wir uns als Menschen aus dem uns zugewiesenen Aufenthaltsort und von unserer jeweiligen Aufgabe zu sein her, dann ist von ihrer ontologischen Grundlegung her die ganze Philosophie praktische Philosophie, dann wird verständlich, warum man Philoso52 M. Heidegger, GA, Bd. 9: Wegmarken, Brief über den »Humanismus«, 356. 53 Nicht zu verwechseln mit dem fast gleich lautenden Ethos (ϑoß), das nicht mit Eta (h), sondern mit Epsilon (e) geschrieben wird, und das Gewohnheit, Gewöhnung, Lebensgewohnheiten und damit auch Brauch und Sitte bezeichnen kann.
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phie überhaupt primär als Lebenslehre, Lebensweisheit, Lebenspraxis und Kunst der Lebensführung in einem begreifen konnte. Die undifferenzierte Alternative, wonach reine Theorie alle Praxisorientiertheit überschreite oder Theorie nur im Dienst der Lebenspraxis zu rechtfertigen sei, ist falsch, wenn Philosophie ihrem Wesen nach ein Sichöffnen für den Ursprung und Sinn der Praxis ist. Aus dem Gesagten ergibt sich aber, dass eine philosophische Grundlegung der Ethik nicht ontologiefrei oder in ein Jenseits der Ontologie verbannt werden kann. Dennoch ist der Versuch, sich von einer defizitären Ontologie bzw. Metaphysik zu lösen, als Sachmotiv berechtigt, denn Metaphysik steht in der Gefahr, in fernste Fernen weitab praktischer Lebenserfahrung zu entschweben. Wie oben gezeigt, impliziert jeder Fachbereich der Philosophie den Bezug zum Ganzen und zum Grund. Das gilt in besonderer Weise auch von der Ethik als dem Zentrum praktischer Philosophie. So gesehen ist es als Anliegen legitim, die Ethik zum Ausgangsort philosophischer Theologie zu machen, was im Rahmen der anthropologischen Gottesbeweise als »moralischer Gottesbeweis« noch zu diskutieren sein wird.54 Allein diese Versuche erweisen sich nur als haltbar, wenn ihre ontologischen Grundlagen nicht verkannt werden, die uns phänomenologisch zurück in »die Nähe des Nächsten«,55 das heißt hier zum Sein in seinen transzendentalen Eigentümlichkeiten des Wahr- und Gutseins, bringen. Diese Nähe des Nächsten meint nicht einfach das für unser Erfassen phänomenal Nächstliegende (Seiende), sondern das phänomenologisch, von der Sache her verstandene Nächstliegende, das Sein, welches als Wesensraum des Göttlichen, das näher als alles Nächste ist, zur Erfahrung und in Frage zu kommen vermag. Wir erfahren Sein als »die Nähe des Nächsten«, obwohl diese einem faktisch als fern liegend erscheinen kann. Zur Nähe des Nächsten gehört auch die Ferne des Fernsten, deren Anwesen und Abwesen, Unverborgenheit und Verbergung, Aufgang und Untergang. Wir suchen jedes die Erfahrung übersteigende, sich hinaufsteigernde und verstiegene und insofern erfahrungsferne Denken loszulassen. Denn wie sollte es etwas Gutes, das unser Dasein trägt, unter Abstraktion vom Sein und unter dieser Voraussetzung jenseits des Seins geben? Aber das Wort von der ,Nähe 54 Es ist hier in einer geweiteten Sicht auf Kants Anliegen einer »Ethikotheologie« (KU, § 86) oder »Moraltheologie« (im Unterschied zu einer »theologischen Moral«, die Gottes Dasein voraussetzt) einzugehen (vgl. KrV, B 660, 664, 842 ff.), welche das »Dasein eines Welturhebers« aus der »sittlichen Ordnung und Vollkommenheit« der Welt bzw. Kausalität der Freiheit erschließt, und zwar nicht bloß durch einen spekulativen, sondern auch durch einen praktischen Gebrauch der Vernunft. 55 Zu dieser Formulierung vgl. M. Heidegger, GA, Bd. 9: Wegmarken, Brief über den »Humanismus«, 352.
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des Nächsten‘ könnte man auch für eine Äquivokation halten, wenn man darunter entweder das Sein als das Nächste oder davon abgehoben den Mitmenschen als die oder den uns gegenüber Nächsten versteht. Gewiss, um diese mitmenschliche ,Nähe des Nächsten‘ geht es wohl immer, und wir sind aus ihr konkret in die Verantwortung gerufen, die Gegenwart der/des Anderen »von Angesicht zu Angesicht« (Lévinas) zuzulassen, ihr Raum und Zeit zu geben, wohlgemerkt: Raum und Zeit, um zu sein – anders ist jemand Anwesender nicht ohne weltweite Zeitlichkeit und Räumlichkeit seines personalen Seins (Anwesens) wahrnehmbar und denkbar. Freilich muss ich mich dazu aus einer Haltung zurücknehmen, welche die/den Andere(n) auf dem Weg analogisierender Einverleibung meiner Verständniswelt zu unterwerfen sucht, um stattdessen jener Selbstoffenbarung und Seinsmitteilung Anderer in meiner Welt Sein einzuräumen, wodurch sich jemand Anderer in Enthüllung je größerer Unähnlichkeit aus seiner Welt mir ähnlich macht. Abschließend sei nochmals der Zusammenhang der These verdeutlicht, dass die ethische Dimension nicht ohne die ontologische und umgekehrt denkbar ist. Dabei ist ein Kurzschluss zu vermeiden, denn Ethik ist eine Weiterentfaltung der Anthropologie und nicht unmittelbar der Ontologie. In der philosophischen Anthropologie geht es um den personalen Vollzug des menschlichen Verhältnisses zum Sein, um das personal zu vollziehende Sein des Menschen im Reichtum des Mannigfaltigseins, Wahrseins, Gutseins, Schönseins usw. Daher ist der menschlich Nächste (als sie selbst oder er selbst!) immer nur jemand Anwesender, jene Person, die teilhat und teilnimmt am offenbarend-verbergenden Sein, das dem Menschen (im Ereignen) wesenhaft zuteil gegeben und das ihm im Sein füreinander zu hüten aufgegeben ist. Was es mit der ontologischen »Nähe«, diesem »unaufdringlichen Walten« des Seins56 auf sich hat, ohne das mich kein Augen-Blick treffen und kein Gesicht in seiner verletzlichen Nacktheit in die Verantwortung rufen kann, sei nur angedeutet: Es ist nichts Bedrückendes, keine anstrengende Sorge (conatus essendi), keine anonyme Gefangenschaft, kein als totalitär zu identifizierendes Allerallgemeinstes. Das uns gegebene Sein (im Selbstsein, Miteinandersein, In-der-Welt-sein) entzieht sich jedem aufdringlichen Zugriff und ist zunächst in der Abgründigkeit seiner Herkunft verborgen, die als Bereich des Heiligen und Göttlichen für philosophische Theologie in Frage kommt. Nur darin erweist sich unsere Menschlichkeit, dass wir uns selbst und einander in dieser Zugehörigkeit zum Sein, wie es uns jeweils konkret möglich und zu eigen gegeben ist, aktiv zulassen. Das ethisch-praktische Existenzverständnis lässt sich 56 Ebd., 333.
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hier leicht heraushören, besagt ja jedes offenständige ,Ek-sistieren‘ ein Ausstehen, Durchstehen und sorgetragendes Übernehmen und Anteilnehmen am für uns Nächsten, am Sein, wie es uns zeitlich für einander in uneinholbarer Mannigfaltigkeit gegeben ist. Nur in der Zugehörigkeit zum Sein im Ganzen, der Welt-Offenheit, haben wir ( performativ und appellativ verstanden!) für einander zu sein. Dieses Sein ist in seiner Menschlichkeit das »personale Sein«, was das Menschliche (die humanitas) des konkreten Menschen und das Verhältnis der Menschen zueinander wesentlich bestimmt. Diese (vorläufige) Wesensbestimmung des Menschen gibt schon das entbehrte ,Maß‘ für den Unterschied zwischen dem Guten und dem Bösen, zwischen dem Sein und dem Schein und für den Vorzug des Guten vor der Irre und dem Bösen.57 Aber die Entfaltung dieser Unterscheidung für die menschliche Praxis ist kein Thema der Ontologie oder philosophischen Theologie, sondern der Ethik als einer eigenen philosophischen Disziplin, der epochal aufgegeben ist, aus der Dimension des Gutseins des Seins anfänglicher gedacht zu werden. Philosophische Theologie hingegen erwächst aus dem Wurzelgrund der Ontologie als der ursprünglichen Ethik. Sie ist von ihrem Wesen her praktisch orientierte Philosophie und mindestens über eine gründlichere Fassung des Theodizee-Pro blems ausdrücklich praktisch, haltungs- und handlungsanweisend. Diese sucht nicht das absolut Unvereinbare, das Übel in der Welt, mit Gottes allmächtiger Güte spekulativ zu versöhnen, was scheitern muss, sondern sie sucht freizulegen, dass wir selbst im Guten zu sein haben und dass wir uns selbst im Hervorbringen des Guten und im Überwinden von Übeln durch das Gute selbst ermächtigt erfahren, die Übel zu mindern. Diese uns in Würde erhebende Ermächtigung kann zu Recht als ontologische Erfahrung verstanden werden, in der sich ein göttlicher Ursprung und Urquell enthüllt. Denn die uns stets zugesprochene Möglichkeit, gut zu sein und gut zu handeln, erscheint als Gabe, die im Gegeben- und Entgegengenommenwerden wie ein Blitz die Weltnacht in Tageshelle taucht. Die Praxis aus und entsprechend dem Gutsein selbst könnte so als ein sich ereignender Selbsterweis des Daseins Gottes aufgewiesen werden – ein verlässlicher Gotteserweis, weitab von aller Spekulation. Daher der Rückgang in das Denken des uns zugewiesenen Aufenthaltsortes ( ϑoß), wo wir dem Sein, das es gibt (der Gabe des Seins), zu entsprechen haben, indem wir ihm einen Aufenthalt einräumen. 57 Der Einwand, dass die Annahme von so etwas wie einem »Seinsgeschick« irrational sei und fatalistische Irrnis, Schein und Böses impliziere, verkennt den im Seinsgeschick gestifteten Freiheitsbezug des Menschen (zu diesem vgl. G. Pöltner, 2001b, Nihilismus – Grundzug abendländischer Metaphysik?, 125 f.) sowie, dass alles Übel als Privatives nur am Sein (und dem, was wie Gutsein mit ihm konvertibel ist) zu messen und von ihm her erkennbar ist und überdies von den Kräften des Seins, insofern es gut ist, zehrt (vgl. G. Pöltner, 2001a, Das Böse – Wille zum Widersinn).
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Heidegger hat in diesem Zusammenhang auf Heraklits Fragment 119 hingewiesen: ~ ϑoß 2nϑrp damwn. Er übersetzt das mit: »Der (geheure) Aufenthalt ist dem Menschen das Offene für die Anwesung des Gottes (des Un-geheuren).«58 Hier, so ~ Heidegger, bedeutet ϑoß den »Aufenthalt, Ort des Wohnens. Das Wort nennt den offenen Bezirk, worin der Mensch wohnt. Das Offene seines Aufenthaltes läßt das erscheinen, was auf das Wesen des Menschen zukommt und also ankommend in seiner Nähe sich aufhält. Der Aufenthalt des Menschen enthält und bewahrt die Ankunft dessen, dem der Mensch in seinem Wesen gehört. Das ist nach dem Wort des Heraklit […] der Gott. […] der Mensch wohnt, insofern er Mensch ist, in der Nähe des Gottes.«59
58 M. Heidegger, GA, Bd. 9: Wegmarken, Brief über den »Humanismus«, 356. 59 A.a.O., 354 f.
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Zweites Kapitel:
Sachprobleme systematischer Ortsbestimmung philosophischer Theologie innerhalb der Philosophie
1. Vorschau auf die Methode
1.1 Hermeneutische Phänomenologie ursprünglicher Erfahrung
Die Frage nach der wissenschaftlichen Positionierung philosophischer Theologie innerhalb anderer Theologien hat bereits zu wichtigen methodischen Einsichten geführt: Hervorgehoben sei der Rückgang auf die lebensweltliche Selbsterschlossenheit des Daseins als Ausgangsort wissenschaftlicher Systematik und Methodik. Diese methodischen Überlegungen werden hier wieder aufgenommen, da zur weiteren Darlegung der philosophischen Theologie als einer theologischen Philosophie eine Vorschau auf ihre Gangart notwendig erscheint. Die hier vorgestellte Methode ist keine andere als der Denkweg desjenigen Philosophierens, das innerhalb der Methodenvielfalt Phänomennähe lebensweltlich optimal gewährt, und zwar durch den Rückgang (reductio, resolutio) auf die ursprüngliche Erfahrung unseres Daseins, in der sich seine Grundstrukturen und das ihm Eigene enthüllen. Diesem Anliegen hat vor allem Husserls Neuansatz der Phänomenologie zum Durchbruch verholfen. Er hat erstens eine Bewegung ausgelöst, in der es um die Freilegung des sich selbst originär Zeigenden geht (traditionell: das per se notum, das aus sich Offenkundigsein). Husserl und seine Schüler nehmen damit nicht weniger als die alte Thematik der Rettung und Befreiung der Phänomene in ihrer Ursprünglichkeit auf. Das mag übertrieben feierlich klingen, ist aber dennoch sachgerecht gesagt, ja gehört zur Aufgabe jeder Philosophie und stellt für ihre Durchführung ein Maß dar, an der ihre Größe gemessen werden kann. Tiefer gesehen, heißt Beteiligung an der Rettung und Bewahrung der Phänomene so viel, wie selber als Gerettete und Befreite
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Sachprobleme systematischer Ortsbestimmung philosophischer Theologie
im Austrag unserer Lebensmöglichkeiten für den Aufgang in die Unverborgenheit – die Wahrheit des Seins – da zu sein.1 In einer solchen Bewegung, die global nach wie vor an der Zeit ist, liegt auch die Chance der Vertiefung des Methodischen zur Verbindung der Denkwege, die andere Denkwege nicht ausschließt, vielmehr von ihnen lernt und so ihnen hilft, ihr Eigenes besser zu verstehen. Phänomenologie ist zweitens im (immer noch lehrreichen) Anschluss an Husserl eine Methode lebendigen Philosophierens. Über sie gibt es weitreichende Auffassungsunterschiede. Uneinigkeit besteht in der Frage, wovor, als was und worin die Phänomene gerettet werden sollen. Die Divergenzen enthüllen die Fruchtbarkeit der Methode, bringen aber die Gefahr der Festlegung auf Einengungen mit sich. Statt das Methodische entsprechend dem Entgegenkommen der Sache in ihren inneren Fügungen so zu entwerfen, wie sie von sich her, d.h. ursprünglich, zur Gegebenheit kommt, versandet Phänomenologie leicht in einem Phänomenalismus deskriptiver Beliebigkeiten oder reduziert (schon bei Husserl ) das Erscheinende unter Einklammerung der Existenz auf seinen bloßen Wesensgehalt (Eidos) und unterstellt die Sache aus einem Sicherheitsbedürfnis heraus dem methodischen Vorhaben – etwa der transzendental-egologischen Begründungsform. Ohne auf diese Differenzen weiter eingehen zu können, ist nun zu klären, was hermeneutische Phänomenologie mit Rücksicht auf ursprüngliche Erfahrung besagt.2 1 Zur Geschichte des Motivs der Errettung des Erscheinenden vgl. Th. Rehbock, Art. Rettung der Phänomene, in: HWP, Bd. 8, Sp. 941– 944; J. Mittelstrass, »Die Rettung der Phänomene. Ursprung und Geschichte eines antiken Forschungsprinzips«, erblickt darin historisch-kritisch gut belegt nur ein Thema antiker Astronomie, das in der Neuzeit zum methodischen Programm einer Erklärung der Natur mittels mathematischer Gesetzeshypothesen wurde. Zur Wendung dieses Motivs zugunsten der Rettung der besonderen, konkreten, nicht wiederholbaren Phänomene vor der Unangemessenheit durch Unterstellungen (Hypothesen, Ideen, abstrakte Begriffe) vgl. jedoch den Artikel »Rettung« von R. Tiedemann, in: HWP, Bd. 8, Sp. 939–941, hier 940 f. M. Heideg ger erblickt im Retten des Erscheinenden ein platonisches Sachmotiv, das für griechische Denker besagt: »das Sichzeigende als das Sichzeigende und wie es sich zeigt behalten und bewahren in der Unverborgenheit, nämlich vor dem Entgehen in die Verbergung und Verstellung. Wer dergestalt das Erscheinende in das Unverborgene rettet (bewahrt und behält), ist selbst ein für das Unverborgene Geretteter, dafür Bewahrter.« (GA, Bd. 54, 178, auch 186 –193.) Zur Unverborgenheit als geschichtlichem Geschehen ständiger Befreiung als Schicksal des Philosophierenden: ders., GA, Bd. 34: Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlengleichnis und Theätet, 87–94. 2 Einen ausgewogenen Überblick über die Richtungsmannigfaltigkeit der Phänomenologie gibt H. Vetter, in: Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe (2004), 410–425. Zur Phänomenologie ursprünglicher Erfahrung vgl. besonders F. Wiplingers methodischen Ansatz und Entwurf einer »Philosophie als Phänomenologie der ursprünglichen Erfahrung«, in: Der personal verstandene Tod. Todeserfahrung als Selbsterfahrung (12–24); R. Kijowski, Ursprüngliche Erfahrung als Grund der Philosophie. Eine Auseinandersetzung mit Fridolin Wiplingers Philosophieren. Vgl. auch H. Helting, Einführung in die philosophischen Dimensionen der psychotherapeutischen Daseinsanalyse, 32–57; G. Pöltner (2008), Philosophische Ästhetik, 214–225. Auf mir wichtige Grundzüge einer ,Phänomenologie ursprünglicher Erfahrung‘ soll im dritten Band dieser philosophischen Theo-
Vorschau auf die Methode
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1.1.1 Zum Phänomenverständnis der Phänomenologie
Das Phänomenverständnis der Phänomenologie reicht in die Welt der griechischen Philosophie zurück, in deren Alltag das phänomenale Sein volles Gewicht besaß. Es ist die den Menschen in seiner Welt bewegende (und nicht distanziert eine ,das Denken‘ angehende) Sache. Diese wurde vorterminologisch – und das heißt mit Bezug auf die Lebenswelt – das »Phänomen« genannt. Tò phainómenon (t fainmenon) ist das Partizip Präsens von phainesthai (fanesϑai); dieses Zeitwort versammelt im Modus infinitivus von passiv phainesthai und aktiv phainein (fanein) die Bedeutungsmannigfaltigkeit finiter Formen3 in einem außerordentlichen Reichtum an Abschattungen. Hinter dem Wort vom Stamm fa- steht das Wort f1oß, Licht, Helligkeit, Helle, von dem auch das Verb gebildet wurde. Die übliche Übersetzung von phainestai und phainein mit erscheinen und erscheinen lassen (einer Erscheinung) gibt das mit Phänomen Gemeinte nicht prägnant wieder. In ihm geht es vielmehr erstens um das Leuchtenlassen (passiv) und Leuchten (aktiv), um das An-das-Licht-Kommen und -Bringen, das An-den-Tag-Kommen, -Legen und -Bringen – der Tag als Helligkeit verstanden, nicht als Zeitabschnitt. Das Tagsein ist eine Weise der Anwesenheit von Daseienden, ein zum Vorschein Kommen, und gehört zum Sein der Welt.4 Zweitens geht es um das Offenbarwerden, Offenkundigsein und Offenbarmachen, um das Sichtbarwerden und Sichtbarmachen und vor allem um das Sichzeigen und Zeigen von Daseiendem. Das sich (selbst) Zeigende ist unmittelbar selbst als ein Zeigen da und lässt sich so dem entsprechend selbst sehen und erkennen. Dieses Zeigen meint kein Hinzeigen oder Hinweisen auf etwas, kein Vorzeigen oder Begreiflichmachen von etwas, wofür das griechische Wort deiknymi (deknumi) steht. Das phänomenale Zeigen ist vom deiktischen Zeigen zu unterscheiden, das ein nachträgliches Zeigen (Aufzeigen) des sich von sich her Zeigenden ist. Drittens seien aus der Bedeutungsvielfalt noch das Geborenwerden, Entstehen, Ins-Sein-Treten und das Geborenwerdenlassen (eines Kindes), aber auch das Scheinen (als Möglichkeit der Täuschung) und das Bloß-den-Anschein-Haben angeführt. logie im Zusammenhang mit der Phänomenologie religiöser Erfahrung näher eingegangen werden. Zur ontologischen Grundlegung der Phänomenologie vgl. M. Heidegger, besonders GA, Bd. 2: Sein und Zeit; ders., GA, Bd. 24: Die Grundprobleme der Phänomenologie, 26 –32; ders., GA, Bd. 17: Einführung in die phänomenologische Forschung. 3 Zur Sachproblematik des Verhältnisses der finiten Form (bin, bist) zur infiniten Form des Zeitworts ,sein‘ siehe vom Verf. (1985), Personales Sein und Wort, 236 ff. 4 Vgl. »Fainmenon als ausgezeichnete Weise der Anwesenheit von Seiendem: Dasein im Tag« bei M. Heidegger, GA, Bd. 17: Einführung in die phänomenologische Forschung, 6 –9.
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Sachprobleme systematischer Ortsbestimmung philosophischer Theologie
Eine frühgriechische Bestimmung des Phänomens findet man bei Anaxagoras: »Sicht des Nichtoffenbaren: die Phänomene. ópsis adélon tà phainómena.«5 (en)dêlos und delóein heißt offenbar, offenkundig, klar, sichtbar sowie klarmachen, klären, offenbaren, und zwar das ádêlon, das Verdeckte, Unsichtbare, Verborgene und Dunkle. Dieses ádêlon ist das Verborgene als Ursprung des Entborgenen, des (én) dêlon. Opsis ist das im jeweiligen Sehen Vernehmbare als solches. Diese Sicht ist im Blick auf das, was uns das Phänomen gibt, eine Sicht des an sich Unsichtbaren. Das Phänomen ist also nicht (wenigstens nicht primär) etwas bereits sichtbar Gewordenes, das sich dem Betrachter (unter verschiedenen Hinsichten) nachträglich entdeckt, keine sichtbar gewordene Gestalt des Anwesenden (Seienden), die einen Anblick (eîdos) und ein Aussehen (idéa) darbietet. Was Anaxagoras hervorhebt, ist, dass die Phänomene Sichtweisen »nämlich« (gár) des Unsichtbaren, des Verdeckten und Verborgenen sind – und nicht, wozu Gesichtetes für uns gut ist. Daher behauptet er nicht, dass die sichtbaren Dinge als Grundlage der Erklärung der Erkenntnis des Unsichtbaren dienen.6 Eine Vorwegnahme des Methodenideals der Naturwissenschaften kommt hier nicht infrage. Das durch den göttlichen noûs (die Weltvernunft) ermöglichte Geschehen des Heraustretens des Verborgenen in die Unverborgenheit gewährt eine Sicht, gibt Einsichten frei, indem etwas zum Licht kommend sich aus dem Bereich des Verborgenen zeigt. Das Phänomen ist bei Anaxagoras primär kein noetisches, sondern ein ontologisches Prinzip, ein Denkanfang, der einer Seinsweise von Daseiendem entspricht. Terminologisch wird das Phänomen der Phänomenologie als das Grundelement der Methode gefasst: als das Sichzeigende im Bezug auf sich und zugleich auf den Menschen, der auf es hinweisen kann. Phänomen ist jede Sache (Seiendes; etwas, das ,ist‘, anwest, weilt, währt usw.), insofern und insonah sie sich selbst zeigt, d.h. zum Sein kommt. Sich selbst zeigen besagt primär so viel wie: sich an sich selbst, von sich selbst her und in Bezug auf sich zeigen. Das schließt nicht aus, dass das Phänomen sich sekundär für Andere und im Bezug auf anderes zeigt oder nur etwas ist, das sich begleitend von anderen Phänomenen her zeigt: das Epiphänomen. Ist das phänomenale Sichzeigen ein Sichentbergen von Verborgenem, so ist damit das ursprüngliche Verständnis der Alêtheia, der Wahrheit, angesprochen. Phänomenologie ist so verstanden Alethiologie, was nur unzureichend mit Wahrheitslehre übersetzt wird.7 . 5 DKV, Bd. 2, 43: Anaxagoras, Fr. B 21 a: 6 So W. Capelle, Die Vorsokratiker, 280. 7 Ob ein Phänomen, insofern es sich jemandem augenscheinlich zeigt und sichtbar wird, nicht einseitig oder unterbestimmt ist, muss zunächst als Frage offenbleiben.
Vorschau auf die Methode
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1.1.2 Zum Logos der Phänomenologie
Der Wortteil ,-logie‘ in Phänomenologie besagt ein legein ta phainomena (lgein t! fainmena), d.h. ein Sammeln und Ansprechen der Phänomene, ein Reden, welches das zur Rede stehende Phänomen offenbar macht und Anderen ermöglicht, es mit zu sehen. Schließlich bezeichnet ,-logie‘ in Phänomenologie ein wissenschaftliches Vorgehen: die systematische Aufweisung von Seienden, welche die in Frage kommenden Phänomene, wie sie sich von sich selbst her zeigen, an ihnen selbst sehen lässt, auf- und ausweist. Die hier entscheidende Frage ist aber, wie das Sichzeigende in seinem Sichzeigen zugelassen wird. Realwissenschaftliche Bereichsentwürfe haben es mit dem, was sich zeigt, zu tun und verstehen sich gewöhnlich phänomenorientiert. Sie bestimmen methodisch über die Begegnisart, das Wie des Hinnehmens von Sichzeigendem. Begegnet uns Sichzeigendes in den Wissenschaften in verschiedenen speziellen Hinsichten bzw. Bereichsentwürfen (biologisch, geschichtlich, wirtschaftswissenschaftlich usw.), so fügt Philosophie keine neue, partikuläre Hinsicht hinzu. Sie steht quer zu allen anderen Wissenschaften und ihren speziellen Hinsichten, insoweit sich ihre Hinsicht für das Vernehmen des Sichzeigenden als das Sichzeigende offenhält. Das Sichzeigende, das sich im Philosophieren als solches (ut sic) erhellt, kann als Logos angesprochen werden, den der Mensch hat, d.h. zu dem er sich verhält – Logos besagt hier die Sinnfülle des Seins (der Physis). Der Mensch ist in einer nicht ausschöpfbaren Weise das Wesen, das den Logos hat, dem der Logos zukommt, das vom Sinn für die Gegenwart des Ganzen und des Grundes in Anspruch genommen da ist. Die Übersetzung mit animal rationale, dem vernünftigen Sinneswesen, verkürzt das. Die primäre Bestimmung des Menschen ist nicht seine Vernunft als Vermögen oder Vorentwurf (Idee) des zu erkennenden Ganzen, sondern das, woraus alle Vernunft schöpft. Sie erfährt unverkürzt ihre volle Aufgabe aus der gegenwärtigen Versammeltheit des Seinsganzen in dem Anwesenheitsbereich, den unser Dasein bildet. In der Gesammeltheit unseres Daseins entsprechen wir dieser Versammeltheit des Ganzen, dem Weltlogos, dem sich offenbarenden Sein des Seienden im Ganzen. Aus der Phänomenalität dieses Logos gewinnt der Logos der Phänomenologie noch den weiteren Sinn: Er ist aufweisendes Auslegen des Daseins. Der Logos ist methodisch ein hermeneutischer. Hermeneutik ist hier nicht für die Kunst der Interpretation von Botschaften und Texten reserviert, sondern sie wird als Auslegung des ontologischen Sinnes der Phänomene verstanden. Einen Hinweis auf den hermeneutischen Sinn von Logos in Phänomeno-logie bringt die
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Sachprobleme systematischer Ortsbestimmung philosophischer Theologie
Etymologie. Logos kommt von griech. lgein, dessen verbaler Sinn zu denken gibt: Légein hieß ursprünglich so viel wie lesen (wie in Traubenlese, Ährenlese: etwas sorgfältig einzeln von etwas abnehmen oder aufnehmen, in die Hand nehmen und Schlechtes dabei absondern), d.h. also sammeln: ein Sammeln des Verstreuten und zur Sammlung Versammeln, das Vollbringen einer Bewegung des Ausholens und Zusammenbringens des Zusammengehörigen. Übertragen auf das Phänomen wird dieses ausgelegt, und zwar im Vorblick auf eine uns in es hineinziehende GrundErfahrung sowie geleitet durch ein Vorverständnis (eine Auslegungsperspektive) seiner inneren Wesensfügungen. Auslegen heißt hier: aus der Zugehörigkeit zum gesammelten Offen- und Freisein für das Offene heraus so ,aus-ein-ander-legen‘, dass ein Sinnmoment aus dem anderen heraus entfaltet wird und diese Sinnmomente – gemäß ihrer Zusammengehörigkeit – zusammengefügt werden. Das der Sache innewohnende Sinngefüge wird dadurch aufgeschlossen, in den ihm zugehörigen Sinnmomenten offengelegt und auf deren Zusammengehörigkeit hin versammelt. Auf diesem Weg wird es in seinem Sinngrund aufgeschlossen, verständlich gemacht und zu verstehen gegeben. Viel spricht dafür, dass Heideggers Übersetzung von Heraklits »Logos« mit Sammlung zutreffend und weiterführend ist.8 Von der Sammlung her lässt sich das ursprüngliche Verhältnis des Menschen zum Weltlogos bestimmen: Der Logos ist als das ,Alles vereinende Eins‘ der Ursprung und die das ,Alles‘ im Ursprung einbehaltende »Ver-sammlung«. Er ist so das Wesentliche des Seins des ,Alles‘ (des Seins des Seienden im Ganzen), insofern er dasselbe ist wie das Aufgehen der Physis in die Unverborgenheit, die in der Verbergung gründet. Treten wir ins Unverborgene, so sammelt dieses uns auf es hin und gibt das Sichsammeln auf die ursprüngliche Versammlung (den Logos) frei. Zur Versammlung des Unverborgenen gehört also unser Sichsammeln in dieses als ein Bergen in die Unverborgenheit (in vielen Gestalten des Sagens). Der Weg (der ursprüngliche Methodos) ist dann das Gegenwärtig-werden-Lassen der ursprünglichen Versammlung aus dem Sichsammeln und auf diese hin, d.h. auf das Sein – ein in seinem Selbst GesammeltBleiben, das freilich immer nur begrenzt in die Unverborgenheit zu bringen vermag. Der Mensch wäre demnach zur Sammlung auf das Wesen des Seins bestimmt, von dem er die Möglichkeiten seiner selbst empfängt. Das Methodische beruht daher auf der Weise, wie der Mensch sich zum Logos verhält, ihm zugehörig ,ek-sistiert‘, d.h. ihn im Innestehen des Logos gesammelt aufnimmt. 8 Zum Folgenden vgl. M. Heidegger, GA, Bd. 55: Heraklit, besonders »Heraklits Lehre vom Logos«, § 6 –8.
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Das hermeneutische Verstehen, das sich als ein sammelndes Bergen in die Unverborgenheit auslegt, ist primär nicht intentional, objektgerichtet gemeint, sondern insofern wir zum Phänomen Gehörige sind, ist es die Weise, sich selbst auf das Dasein in der Weite der Welt zu verstehen, d.h., es in seinem Seinkönnen, seinen Möglichkeiten und seinem Vermögen zu enthüllen. Das Durchmachen und Durcharbeiten der Erfahrung geht vor sich als Auslegung in seinem jeweiligen Seinssinn. Das geschieht, indem aus Fragen, die einen überkommen, das Erfahrene auf seine Ursprünglichkeit hin, auf das in ihm eigentlich Erfahrene (Erscheinende, Sichzeigende) hin, befragt wird, und zwar so, dass die schrittweise Freilegung des Phänomens im Vorblick auf seine Ursprünglichkeit das eigentlich Erfahrene allererst sehen und füreinander erscheinen lässt. – Im Auslegungsvorgang wird das Einzelne aus dem Versammeltsein des Ganzen und das Ganze aus dem Versammeln des Einzelnen verstanden. Gewisse Bestimmtheiten des Seinssinnes werden vorweg angenommen (nicht einfach voraus-gesetzt!) und einer vollständigeren Bestimmung zugeführt. Dadurch wird kein logischer Fehler (circulus vitiosus) begangen, sondern eine hermeneutische Denknotwendigkeit befolgt. Der hermeneutische Zirkel als methodische Anweisung zum Sammeln und gesammelten Aussprechen der Phänomene entspricht der totalen In-Anspruch-Nahme des Daseins, das sich stets aus dem Sein (Phänomen) zum Sein (Phänomen) zu verhalten hat. Phänomenologie der ursprünglichen Erfahrung ist in sich hermeneutisch und anders nicht verstehbar. Aus dem Gesagten ergibt sich das folgende methodische Axiom: Phänomene können in ihrer Ursprünglichkeit nur verstanden und angemessen ausgelegt werden, wenn man sie in der jeweils erreichbaren höchsten und tiefsten, vollsten und weitesten Erscheinungspotenz aufsucht. Das Wort Erscheinung bzw. Erscheinen sei hier präzisiert: Es meint das Phänomen im Sinne des sich selbst von sich her Zeigenden. Doch kann es auch anders verstanden werden: Zum Beispiel kann das Kranksein von jemandem sich in Unwohlsein, Fieberhaben und Gesichtsröte melden. Das Erscheinen (Melden am Fieberthermometer) des Krankseins wird zwar durch das Kranksein mit ermöglicht, doch das Kranksein selbst und als solches zeigt sich dadurch nicht. Das macht Diagnosen oft so schwierig. Das Kranksein zeigt sich nur durch anderes an, das sich als eigene Erscheinung (das Meldende selbst) bekundet. Selbsterscheinung bzw. erscheinendes Erscheinen (das Phänomen) ist von der bereits erschienenen Erscheinung, die etwas anzeigt bzw. auf etwas anderes hinweist, zu unterscheiden. Da waltet ein seiender Verweisungsbezug. Hierher gehören Symptom, Syndrom, Indikation, Vertretungssymbol (im Gegensatz zum Realsymbol), die Bezugnahme verweisender Darstellung auf eine Sache u.a. Weitere Bedeutungen von Erscheinen bzw. Erscheinung im Sinne der ,bloßen
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Erscheinung‘, des ,Den-Anschein-Habens‘ und des ,bloßen Scheins‘ ergeben sich, wenn ein eigentliches ,Sein‘ von der erschienenen Erscheinung verdeckt, verstellt, entstellt wird oder wesenhaft so verhüllt ist, dass es durch ihre Ausstrahlung dieses als nicht Offenbares gedachte Sein verhüllt oder privativ abgewandelt bloßer Schein ist oder überhaupt nichts dahinter ist. So kann sich unter einem bestimmten Licht Gesichtsröte zeigen, die irrtümlich (ob ihres Anscheins) für ein Anzeichen von Fieber und dieses für ein Sichmelden einer Erkrankung gehalten wird.9
1.1.3 Ontische und ontologische Dimension des Phänomens
Die methodische Frage nach dem Wie des Sichzeigens der Phänomene ,als das Sichzeigende‘ führt vor die Frage, als was und worin das Sichzeigende der Phänomene näherhin aufzuweisen ist. Dieses Was und Worin ist, wenn wir es möglichst unvoreingenommen im Hinblick auf die ursprüngliche Erfahrung befragen, in seinem von ihm her sich enthüllenden Wesen (als Sichereignen) verstanden: das Seiende in seinem Sein. Notwendiges Thema einer ausdrücklichen Aufweisung ist demnach, wie Heidegger in »Sein und Zeit« ausgeführt hat, »solches, was sich zunächst und zumeist gerade nicht zeigt, was gegenüber dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, verborgen ist, aber zugleich etwas ist, was wesenhaft zu dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, gehört, so zwar, dass es seinen Sinn und Grund ausmacht«.10 Was als Sinn und Grund, als Anfang und Ursprung zum Offenbarwerden wesenhaft gehört, durchragt grundgebend das offenbar Gewordene; es ermöglicht sinnstiftend Verständlichkeit und ist das, womit etwas zu sein anfängt: das Entspringenlassende. Es ist so aufzuweisen, dass (und wie) es sich mitzeigt und wie wir es eigens füreinander mitsehen lassen können. Mag es als solches sich sogar verbergen und an sich verborgen bleiben, mag es weitgehend verdeckt, verschüttet und vergessen sein, worauf es hier ankommt, ist, dass wir aus dem Phänomen selbst den Anspruch gewahren, dass Sinn und Grund, Anfang und Ursprung selbst Phänomen werden – ontologisches Phänomen, versteht sich, nicht bloß ontisches! Interessiert uns zum Beispiel das Fenster, das wir dort erblicken, dann nehmen wir es dort wahr, wo es jetzt ist, und zwar als ein Anwesendes, das dort vorhan9 Zur Entwirrung des Phänomen- und Erscheinungsbegriffs vgl. M. Heidegger, GA, Bd. 2: Sein und Zeit, 38 –42, und ders., GA, Bd. 23: Geschichte der Philosophie von Thomas von Aquin bis Kant, 38 f. 10 M. Heidegger, GA, Bd. 2: Sein und Zeit, 47.
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den ist. Seiendes, das sich in seinem Anwesen zeigt, ist ein ontisches Phänomen. Das Sichzeigen dieses Fensters in seinem Anwesen uns gegenüber ist offenkundig, wenngleich sein bloßes Anwesen unscheinbar ist – es ist selbst nichts Wahrnehmbares. Anders ist uns aber das Fenster nicht als Anwesendes gegeben. Nur als ein anwesendes Fenster ist es unmittelbar wahrnehmbar. Dieses Anwesen (des Fensters) ist dem gemäß kein Anwesendes (kein Fenster); Sein (das ontologische Phänomen) ist kein Seiendes (ontisches Phänomen). Ebenso ,ist‘ unser eigenes Anwesen, während wir aufmerksam dort beim Fenster verweilen, kein Seiendes, denn als leibhaftig Anwesende sind wir gar nicht dort, sondern sind wir hier. Ringsum anwesend sein zu können, ist eine offenkundig gewordene Möglichkeit unseres ,Da-seins‘. Das ontologische Phänomen des Fensters bekundet sich selbst in einem nicht ausschöpfbaren Reichtum des Seins dieses Seienden: in seinem kategorialen Wassein, Eines-unteranderensein, Diesessein, Möglich- und Wirklichsein, Zu-etwas-gutsein usw. Weil wir als Menschen die sind, die Sein verstehen und in der Offenheit von Sein stehen, bringen wir ein Verständnis dafür auf. Ohne dieses Seinsverständnis könnten wir das Fenster als ein solches überhaupt nicht wahrnehmen. Sehen wir genauer hin, so zeigt sich: »Die nicht-wahrnehmbaren, ontologischen Phänomene haben sich allen wahrnehmbaren Phänomenen immer schon, notwendigerweise zuvor für diese gezeigt.«11 Hingegen dem gegenüber, was sich uns vor allem, »zunächst und zumeist« zeigt (das Seiende), bedarf es eines eigenen Verfahrens der Freilegung des verborgenen Phänomens (des Seins), da sich dieses »zunächst und zumeist« nicht zeigt. Damit stellt sich die Frage, wie, d.h. auf welchem Weg, wir vom ontischen auf das ontologische Phänomen zurückkommen können.
1.1.4 Zum phänomenologischen Verständnis ursprünglicher Erfahrung
Lebensweltlich Dasein heißt notwendig, erfahrend in der Welt sein können. Der Weg zum ontologischen Phänomen ist, dem Lebensweg entsprechend, ein Weg der Erfahrung. Er fängt mit der Sammlung an,12 die uns für Sichzeigendes öffnet und auf es vorbereitet. Ohne sie können wir uns nicht auf das Ursprüngliche im uns Widerfahrenden einlassen. Das Ursprüngliche ist jeweils das im gewöhnlichen Sichzeigen zunächst Verborgene, das ursprünglicher ist als das uns Offenbare, weil es dieses entspringen lässt bzw. als Entsprungenes entlässt. Ursprüngliche Erfahrung ist fundiert im Zeitspielraum, den das uns Widerfahrende braucht, um auf11 M. Heidegger, Zollikoner Seminare, 7, vgl. 281. 12 Siehe oben den zweiten Exkurs über Sammlung.
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genommen, durchgemacht, aufgeschlossen und verstanden zu werden. Dazu muss das, worum es im Widerfahrenden geht, aus den alltäglichen und theoretischen Verdeckungen und Verdrängungen so herausgearbeitet und so freigelegt werden, dass es in höchstmöglicher Ursprünglichkeit selbst zu einer neuen Weise des Sichverstehens auf das Dasein und zur entsprechenden Ausgelegtheit dieses Daseins kommen kann. Ursprüngliche Erfahrung ist damit präzisiv erläuternd und nicht exklusiv bestimmt. Eine philosophische Methode ist von ihrem Wesen her nur so lange lebendig, wie im Gegenzug zur Ausbildung ihrer eigenen Systematik die Frage nach der Ursprünglichkeit des Methodischen selbst wachbleibt. Die Methode selbst, ein Verfahrensentwurf unseres Denkens, soll geeignet sein, das Leben systematisch in seinem Gang zu enthüllen. Sie schöpft aus der Lebenserfahrung im weitesten und tiefsten Sinne des Wortes,13 in der wir es jederzeit mit dem unteilbaren und doch strukturierten Daseinsganzen zu tun haben, ja uns unausweichlich im geschehenden Erfahren selbst vorfinden und befinden. Das Sichselbstvorfinden und -befinden im geschehenden Erfahren ist eine Daseinsnotwendigkeit, zu der es kein konträres oder kontradiktorisches Gegenteil gibt.14 Im Rückgang auf das jeweils eigene Erfahren als Daseinsgeschehen sind wir uns selbst ursprünglicher gegeben als in der Selbstgewissheit und Selbstoffenbarkeit des ,Ich denke‘ bzw. des Selbstbewusstseins. Ein Vernehmenkönnen der Anwesenheit (und in ihr des Abwesens) des Sichzeigenden ist immer nur im offenständigen Sein (Anwesen) des menschlichen Da-seins möglich. Mag ein Denken des Denkens (ein reflexives cogito) auch unbestreitbar sein, es wäre ein seinsvergessenes Denken, wenn ich darin davon absehe, dass ich jeweils der Denkende selbst als ganzer Mensch und Mitmensch bin, selber da und für mein Anwesen in der Welt in einzigartiger Offenheit ansprechbar bin. Ein von mir vorausgesetztes transzendentales ,Ich denke‘ (reflexives cogito) kann daher nur willkürlich als Prinzip der Philosophie angesetzt werden, denn die primäre Bestimmung des Menschen (seine Menschlichkeit) kann nicht im Denken bzw. der Vernunft liegen, sondern nur in dem, woraus auch diese ihre primäre Bestimmung zur Gänze ,er-fährt‘: aus den Möglichkeiten des Vernünftigseins eines Menschen im ,Da-sein‘ füreinander, und zwar jeweils eines gestimmt-vernehmenden Anwesens in der Offenheit des Bezugs zur Welt.
13 Einen Gesamtüberblick über Erfahrung gibt G. Haeffner, Erfahrung – Lebenserfahrung – religiöse Erfahrung. Versuch einer Begriffsklärung. 14 Geschehende Erfahrung ist nicht geschehene Erfahrung, die wir einmal durchgemacht haben: Deren Anwesen kann dem Offenheitsbereich meines Eksistierens entfallen und vergessen werden oder mir wieder ,einfallen‘ und erinnert werden.
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Was immer wir vom Menschen (uns selbst!) und seiner Welt, vom Sein oder Nichtsein denken, ob wir dem Denken großer Denker wie Platon oder Aristoteles, Thomas oder Kant, Hegel oder Marx nachdenken, dieses unser leibhaftiges Anwesen (nicht Vorhandensein!) miteinander in der Welt ist immer und notwendig ursprünglicher als das, was wir davon denken können. Im Rückgang auf das Daseinsgeschehen werden wir selbst frei, die eigene Erfahrung jeweils neu, im Blick auf ihren Ursprung verstehen zu können, und von da erst offen dafür, das Denken der Großen, in dem, was ihnen zu denken gab, mitzuvollziehen. Fragen wir, wie wir Derartiges denken können, dann zeigt sich, dass der retorsive Rückgang dieses Denkens ein transzendentaler ist. Transzendental aber nicht in dem Sinne, dass er dem nachfragt, was ein ,das Ich‘ für sich notwendig voraussetzen muss, um so etwas zu denken, sondern weil das Dasein selbst wesenhaft transzendierend ist, d.h. es überschreitet sich auf das Sein hin, ohne dass dazu ein Gegenteil möglich wäre. Der erkennende Rückgang ist ein Sichverhalten zum Sein des menschlichen Daseins, auf dem das Sichtranszendieren dieses Daseins beruht, das sich selbst phänomenal aus diesem Sein gegeben erfährt und versteht. Daher kann es eine Sache hinsichtlich ihres Soseins (ihrer Wesenszüge und Wesensbestimmung) im Durchmachen ursprünglicher Erfahrung auf ihren Ursprung hin befragen, etwa fragen, wodurch sie in sich möglich ist, welches die ,Natur der Sache‘ oder die Grundbeschaffenheit einer sich zeigenden Gegebenheit des Daseins ist, und weiter, worin dieser Ermöglichungsgrund für das Sosein der Sache, worin ihre versammelten Grundund Wesenszüge gründen, wie die Ursprünglichkeit des Anwesendseins des Menschen im Offenen und Freien der Welt erschließbar ist usw. Phänomenologie der ursprünglichen Erfahrung empfiehlt sich daher nicht als eine neue methodische Spezialität, sondern durch die Bemühung der Freilegung des das philosophische Denken in seiner Ursprünglichkeit Bewegenden, in Gang Bringenden. Sie rührt an den Ursprung der Erfahrung selbst. Zum Eigentümlichen dieses phänomenologischen Erfahrungsverständnisses sei noch kurz bemerkt: Geht es im Dasein um das geschehende Erfahren, so ist diese Erfahrung, die vor aller Aufspaltung in Theorie und Praxis liegt, nicht spekulativ aufhebbar, einhol- oder überholbar, weil es in ihr nicht um geschehene Erfahrung, sondern um ein zeitliches Sich-selbst-Verstehen auf das Daseins selbst geht. Und weiter: ,Da-sein‘ ist jeder möglichen Erhärtung irgendwelcher Hypothesen als Bedingung der Möglichkeit (jeder partikulären Verifizier- bzw. Falsifizierbarkeit) schon vorgegeben. Besondere Erfahrungs- oder Verfahrensweisen (z.B. sogenannte ,empirische‘) bzw. spezifische Erfahrungsbegriffe können daher für das, was Erfahrung eigentlich und im Ursprung ist, prinzipiell keine kritischen Maßstäbe
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liefern, da sich ihre Maßstäbe selbst erst der Hinterfragung und Ausweisung durch ursprüngliche Erfahrung stellen müssten. Es geht in der Methode um das Freilegen und Ausleuchten menschlichen Daseins in der Unverborgenheit seines Weltaufenthalts, das in das Verborgene hineingestellt ist und sich aus diesem Ursprung versteht. Die Frage nach dem in der Erfahrung ursprünglich Gegebenen weitet sich deswegen zur Frage nach dem Ursprung der Erfahrung: insofern und insoweit dessen Woher (der Anfang als Eröffnung des Ganzen) und dessen Wohin (im Sein zum Tode) zu denken geben. Zu denken gibt, was uns überhaupt widerfährt, sich zeigt und zu erfahren gibt und motiviert und was unserer Sorge um die Wahrheit, die rettet und befreit, anvertraut ist. Dazu gibt es keinen anderen Erstzugang als das Phänomen (im weitesten Sinne des Wortes) selbst – nichts als das Phänomen, nichts daneben an ihm vorbei, nichts darüber hinaus spekuliert, nichts darunter unterstellt oder hineingeheimnisst, ja sogar nichts dahinter vermutet. In diesem Sinne ist Phänomenologie hier allgemein als menschliche, existenziell relevante Möglichkeit angesprochen, welche die Verantwortung auf sich nimmt, auf dem Weg des Denkens dem, was überhaupt zu denken gibt, der Sache des Denkens – dem Phänomen –, optimal zu entsprechen. Das phänomenologische Anliegen »Zu den Sachen selbst« verbindet wohl global alle großen Denktraditionen ab den Anfängen der Philosophie. Keine unserer bekannten philosophischen Methoden konnte, wie mir scheint, völlig ohne die phänomenologische Maxime »Zu den Sachen selbst« auskommen, obgleich hinsichtlich der Sache selbst größte Divergenzen bestehen. Menschliche Endlichkeit und Unzulänglichkeit verbieten jedoch eine Methodensynthese. Obwohl die Supermethode eine Unmöglichkeit darstellt, ist nicht auf methodisches Vorgehen zu verzichten, denn Unsystematik kann sich nicht einmal das Eintreten für eine Anarchie der Methoden leisten. So bleibt dem Philosophierenden in der sich bescheidenden Einfügung in das eigene Lebensgeschick und gemäß den nur ihm eigenen Fragen sowie den besonderen Interessen an der Methode doch die kommunikative Anteilnahme an der Vielfalt der Methoden offen, die zu seiner Orientierung beitragen. Aber gerade in dieser Situation der Zersplitterung der Erfahrungswege, blinder pluralistischer Stagnation, der Unübersichtlichkeit und Orientierungslosigkeit sowie des konsenslüsternen Marktes und der durch Moden bestimmten ,Lehren‘ scheint mir heute jenseits der Aufspaltung in ein medial (virtuell) vermitteltes Allgemeinwissen einerseits und in eine körperlichlokale Eigenerfahrung andererseits der Rückgang in die je eigene ursprüngliche Erfahrung leibhaftig gesammelten Anwesens im Offenen unserer Welt eine unumgängliche Notwendigkeit zu sein.
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Ursprüngliche Erfahrung ist jeweils nur meine und jeweils nur deine Erfahrung. Dadurch ist sie nicht objektiv im Sinne von unpersönlicher Allgemeinverbindlichkeit und gegenständlicher Distanziertheit. Sie ist aber auch nicht unverbindlich-subjektiv, kein bloß unmittelbares Erlebnis, sondern eine selber um der Enthülltheit (Wahrheit) willen durchzumachende und am Ende verstandene Erfahrung des sich uns gemeinsam Zusprechenden und Mitteilenden. Je mehr wir auf das Einzigartige und Einmalige des jeweils nur mir und jeweils nur dir Widerfahrenen einzugehen vermögen, desto ursprünglicher können wir einander zeigen, was sich uns gemeinsam zeigt und zu denken gibt. Wir können einander mitteilen, was uns gemeinsam in Anspruch nimmt. Die so verstandene Eigenerfahrung ist der unverbindlichen Subjektivität entrissen. Eine ihr entsprechende Phänomenologie der ursprünglichen Erfahrung scheint mir noch immer ebenso ,unzeitgemäß‘15 wie epochal ,not-wendig‘ zu sein und kommt sachgemäß dem Anliegen der philosophischen Theologie entgegen.
1.2 Erweiterung zu einer akroamatischen Phänomenologie? 16
Phänomenologie lässt sich in ihrem methodischen Auslegen, Offenbarmachen und Mit-teilen dessen, was ist, von dem her bestimmen, was sich zeigt und sehen lässt: vom (wörtlich verstandenen) phainomenon. Doch ist diese Bestimmung nicht zu eng, zu exklusiv? Bedarf sie nicht einer Erweiterung durch Nicht-Phänomenales, durch solches, das sich zwar nicht sehen lässt, das aber dennoch, wenn auch nur unscheinbar, uns zugänglich ist? Ja müsste nicht stets fragwürdig bleiben, was Phänomenologie ist, wenn anders ein ursprüngliches Fragen niemals abschließend beantwortbar ist und uns immer erneut überkommen kann? Ich beschränke mich hier auf eine mir besonders dringlich erscheinende Anfrage: Orientieren wir uns im Sichzeigenlassen nicht nur an einer möglichen Weise unseres Weltverhältnisses, nämlich am Sehen? Waltet dagegen alles, was ist, nicht vielmehr ,sprachlich‘? Es spricht uns an, es sagt sich uns (an sich) geräusch- und lautlos zu und es nimmt 15 Zum kritischen Verständnis der Unzeitgemäßheit vgl. den Artikel »Unzeitgemäß« von H. Schalk in: HWP , Bd. 11, Sp. 349 f. 16 Zum Folgenden vgl. besonders M. Riedel, Hören auf die Sprache. Die akroamatische Dimension der Hermeneutik. Riedel geht in seinen materialreichen Studien »dem Phänomen des Hörens im hermeneutischen Verstehen« nach, und zwar als einem »Hintergrundphänomen der Sprache, das den Sinnanspruch der Worte im Ganzen eines Textes wie der von ihm angesprochenen Phänomene [in ihrer Bedeutsamkeit] betrifft«. (8) Die von mir verfolgte Fragestellung verlagert sich aber vom Hören auf die Sprache der Phänomene auf die Sprache der Phänomene selbst als dem ursprünglichen ,Wesen‘ der Sprache.
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uns in Anspruch, ihm zu entsprechen. Dieses (beim Wort genommene) ,Entsprechen‘ würde sich dann aus einem horchenden Vernehmen des zu Hörenden verstehen. Vermögen wir uns in ein gesammeltes Schweigen zu bringen, d.h. in ein für das Vernehmen offenes Anwesen, dann können wir uns in der weiten Tiefe von dem angehen und etwas sagen lassen, worum es im Dasein überhaupt geht, und haben daher selbst Entsprechendes zu sagen (d.h. wir antworten aus einem vom Geschehen der Sprache bestimmten Bezug). Zu untersuchen wäre, wie verschieden und doch gemeinsam uns in unserem Weltverhältnis das zu Sehende und/oder das zu Hörende aufgeht (1.2.1). Kommt für unser philosophierendes Weltverhältnis der Gesichtswahrnehmung ein Vorrang zu oder gibt es Gründe für einen Vorrang der Gehörswahrnehmung? Oder gehören beide in gleicher Ursprünglichkeit zusammen (1.2.2)? Zur Phänomenologie gehört das kritische Hinterfragen der Ursprünglichkeit von Wissensintentionen, was an der Diskussion über die ,theoretische Neugier‘ exemplifiziert werden soll (1.2.3). Vorterminologisch ist das Phänomen als das Sichzeigende, als Erscheinung und Schein vor allem etwas Sichtbares, hingegen ist das Akroama (t 2kra) etwas Gehörtes oder zu Hörendes (uns Ansprechendes), gewöhnlich ein Vortrag, eine Vorlesung oder etwas, das sich hören lässt; besonders aber (musikalische) Unterhaltung für das Ohr (während der Mahlzeit: ein ,Ohrenschmaus‘). Akroama kommt von akroáomai (2kro1ai), d.h. hören, anhören, zuhören, auf jemanden oder etwas hören im Sinne von ,achten‘, gehorchen. Dem Akroama entspricht die Akroasis (2krasiß), das Zuhören, die Anhörung. Im terminologischen Sprachgebrauch der pythagoräischen Tradition ist Akroasis die Anhörung bzw. das Erhorchen der Harmonie der Welt. Der Weg zu ihr beginnt mit dem händischen Anschlagen des Monochords, wo die Bekundung sichtbarer Proportionen (Oktav, Quint, Quart usw.) und der Klänge in Zahlenverhältnisse gefasst werden, die qualitativ bedeutsam erscheinen: Da hören wir, was wir sehen und greifen, und da sehen wir, was wir hören und greifen.17 Die aus der Welt uns begegnenden Gestalten (wie pflanzliche Verzweigungen oder Tempelproportionen) werden in ihrem Klang gehört und Erklingendes wird wohlproportioniert geschaut. Dieses ,synästhetische‘ Weltverhältnis lässt uns des Nomos (nmoß), in dem die Welt in ihren Seinsgestalten ins Unverborgene aufgeht, innewerden: Es bringt uns in Einklang mit ihrem schaubar-hörbar-stimmigen Gefüge und letztlich in Übereinstimmung mit dem Logos der Physis. 17 Zur allgemeinen Schulbildung für die Söhne der Freien gehörte in der griechischen Grundschule der Unterricht in Kithara und in der Oberstufe die Kenntnis dieser Art musischer ,Mathematik‘. Vgl. den Artikel »Enkyklios Paidaia« von H. Koller, in: HWP, Bd. 2, Sp. 503.
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1.2.1 Verschiedenheit und Gemeinsamkeit von Sehen und Hören im weltbezogenen Sichverhalten
Zum besseren Verständnis sei kurz vergegenwärtigt, wie verschieden Sehen und Hören sind. Wie zeigt sich uns das Sehen? Ob wir wachen oder träumen, breitet sich vor uns eine Gegend aus, haben wir eine umgrenzte Aussicht (Horizont). Das uns umwölbende Offene des Sehraums ist uns immer gegenüber, räumlich ,gegenwärtig‘:18 diese vielgestaltig farbig und simultan gegliederte Welt der begegnenden Anwesenden (Seienden), auf die wir uns richten, ausgerichtet sind oder für die wir einfach offen da sind (adesse). Das gegenwärtig Anwesende breitet sich immer nur unter Abstandwahrung aus, räumt einen jeweils anderen Anblick und Einblick ein, je nachdem, wie wir uns dazu verhalten; anders im Hantieren und Handeln, anders im Beobachten, das feststellen will, oder versunken in ruhig verweilendes Schauen usw. Der Sehraum wölbt sich nicht nur in der Helligkeit des natürlichen oder künstlichen Lichts, sondern auch das Dunkel gibt eine Möglichkeit frei, etwas zu sehen – Sterne, Leuchtkäfer, Straßenbeleuchtung usw.19 Eine herausragende innerweltliche Möglichkeit hat unser Sehen im Miteinanderanwesen, wo wir einander mit sprechendem Blick von Angesicht zu Angesicht begegnen. Im Phänomen des Gesehen- und Erblicktwerdens können wir nun sehen, wie wir selbst gesehen (anerkannt, geliebt oder abweisend vergegenständlicht, übersehen usw.) werden, das heißt, im Sehen verstanden werden. Auch im bloßen Sehen vernehmen wir Sprache: von den Gebärden (der sogenannten Körpersprache), mit denen jemand spricht, bis hin zum stummen Lesen. Anders das Hören:20 Hier gewahren wir uns nicht nach vorne auf ein Gegenüber ausgerichtet, sondern sind nach allen Seiten für zu Hörendes offen. Wir können von hinten angesprochen werden, drehen uns dann um, um den Sprechenden zu sehen. Wir hören gerichtet, was aus dieser oder jener Gegend kommt. Zu hören gibt es etwas erst, wenn wir horchend offen sind und einen Anwesenheitsraum für das Vernehmen des zu Hörenden darbieten. Das Hörbare, auch wenn es uns von der Ferne nahe kommt, wie Donner oder Verkehrslärm, hat ganz anders als das Sehbare eine eigentümliche Eindringlichkeit und Distanzlosigkeit. Es trifft uns schutzloser als solches, vor dem wir die Augen verschließen oder von dem wir 18 Zum Unterschied von räumlicher und zeitlicher Gegenwart vgl. G. Haeffner, In der Gegenwart leben, 12–15, 90. 19 Zum »Fainmenon [Phainomenon] als jedes an ihm selbst Sichzeigende in der Helle oder Dunkelheit« vgl. M. Heidegger, GA, Bd, 17: Einführung in die phänomenologische Forschung, 10–13. 20 Zur lebensweltlichen Erfahrung des Hörens und Horchens siehe oben 1. Kap. 2.2.4.4 a).
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uns abwenden und wegsehen können. Wir können zwar weghören oder uns an den Lärm gewöhnen, sind aber dennoch in horchender Offenheit für zu Hörendes ständig zugänglich da. Meist verschwindet diese umfassende Offenheit aus der Beachtetheit. Hören wir nun irgendetwas (Geräusch, Klang, Laute, Musik oder Reden), da durchdringt es uns unmittelbar in unsichtbarer Gegenwärtigkeit. Wir hören nicht Geräuschempfindungen, sondern Seiendes, beispielsweise das Handy, das verdeckt läutet, ohne dass es sich deswegen schon zeigt. Streng genommen ist Gehörtes an ihm selbst nicht etwas, das sich einem zeigt; doch kann sich allenfalls im Gehörten dem Hörenden etwas mitzeigen und anschaulich zu verstehen geben. Hören ist an sich kein Sichzeigenlassen, das ein augenscheinliches Zugleich einräumt, Bewegungsabfolgen fixiert, indem wir dem Bewegten mit Augen oder Körperdrehungen folgen, sondern es geschieht so, dass es sein Sein nur im Vorübergang hat. Seine Gegenwart ist eine zutiefst zeitliche. Haben wir etwas gehört, können wir nicht nochmals genauer hinhören, so wie wir oft wiederholt genauer hin- und nachschauen können (wodurch wir auch befugte Augenzeugen werden), denn soeben Gehörtes ist schon wieder vorüber. Das Gehörte zeitigt sich, gibt sich uns als zeitlich Anwesendes. Zur ringsum horchenden Offenheit gehört das Schweigen und Hören auf das, was sich uns zuspricht. In seiner höchsten Möglichkeit verstanden, ist Schweigen nicht nur ein Hören auf jemanden, auf das Wort der Sprache, sondern vielmehr ein Hören auf das zu Sagende, das sich uns im Gespräch lautlos gemeinsam zuspricht, und ein teilnahmsvolles Hören auf jemanden selbst, ja hörend-horchende Eksistenz im Gespräch.21 Wir hören im Gespräch nicht nur voneinander, sondern wir können einander selbst hören – in einer Welt, welche diese Unmittelbarkeit des Selbstseins medial auszuklammern vermag. Wir haben Sehen und Hören einander gegenübergestellt, sie isoliert und getrennt betrachtet. Insofern blieb unberücksichtigt, dass Sehen und Hören Vollzüge des einen und ganzen Menschen sind und mitmenschlich ihre höchste Erfüllung finden, wenn wir uns im Gespräch einander zugewandt ,sehen‘: Ich höre dich selbst und sehe, wie du mich selbst (und nicht bloß etwas) hörst und verstehst. In diesem ,Sehen‘ geben wir einander frei und einander selbst zu verstehen. So ereignet sich Selbstmitteilung. Im konkreten Erfahrungsvollzug spielen Hören und Sehen normalerweise miteinander, zueinander und ineinander, was man auch intersensorische Koordination nennt: Ringsum, in horchender Offenheit, sind wir da und hören, worauf wir uns richten können, und sehen nach, was es zu hören gibt. Sagt uns, was 21 Das hier über das Sehen und Hören Ausgeführte müsste im Zusammenhang des personalen Mitseins weiter bedacht werden, vgl. dazu vom Verf. (1985), Personales Sein und Wort, 184–202.
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sich dem Auge zeigt, Bedeutungsvolles, so lässt uns, was das Ohr anspricht, (ein-) sehen, sodass in beiden ein Verstehen waltet. Im Hören und Wort der Sprache können wir einander sehen lassen und in eine Welt des zu Sehenden versetzen, die uns anspricht. Auf dem leibhaftigen Erfahrungsweg des Lebens entfaltet sich dieses Mit-, Zu- und Ineinander in Zusammenhängen von immer bedeutsamer werdender Bewandtnis, etwa vom ersten ,Begreifen‘ und Verkosten eines erblickten Apfels bis hin zum Begriff des Apfels oder gar der Pomologie, der Lehre von den Obstsorten, als Teilgebiet der Welt der Botanik. Das lehrt uns auch, dass unsere philosophischen Begriffe nur im Rückgang auf alles das, was uns zu begreifen heißt, die volle Lebendigkeit ihres Wesens wiedergewinnen können. Sollte man in diesem Beispiel das Horchen und Hören vermissen, so sei nur an die eigentümliche Stille erinnert, die über pflanzlichem Dasein so eindringlich waltet und in die getaucht sich beispielsweise ein sommerlicher Obstgarten zeigt. Rückblickend auf das Gesagte muss nun ein grundsätzlicher Vorrang eines der beiden Weltbezüge des Sehens (Schauens) und des Hörens (Horchens) als nicht phänomengerecht fallen gelassen werden. Das jeweils steigerungsfähige Eigene der beiden Weltbezüge scheint so unvergleichlich anders zu sein, dass sie gerade im Zusammenspiel und Ineinandergehen einander gegenseitig so unvergleichlich überragen, dass kein Vorrang des einen der beiden Sinne über dem anderen begründet werden kann.22 Für die Methode ist es eine offene Frage, ob sehendes Vernehmen und schweigendes Vernehmen (d.h. sich ansprechen lassendes Vernehmen) nicht echte gegensätzliche Weisen, sich auf das Dasein zu verstehen, darstellen, sodass sie sinnverschiedene, aber gleich ursprüngliche Glieder eines polaren Gegensatzes bilden, die notwendig einander so ergänzen, dass wir im Hören immer auch etwas zu sehen bekommen und dass Erblicktes uns immer irgendwie anspricht. Systematisches Vorgehen muss sich immer erneut offenhalten und vor monomaner Logik der Konsequenz hüten, die in ihrer Voreingenommenheit das Phänomen opfert. Fraglich ist auch, was uns überhaupt berechtigt, unter allen Sinnen das Sehen und Hören so hervorzuheben: Wohl nur, dass beide Sinne Fern-Sinne sind, d.h. sie reichen in die Ferne, von wo aus uns zu Sehendes oder zu Hörendes (auf verschie22 Dass Sehen und Hören in ihrem Eigensein einander überragen, könnte noch deutlicher werden, wenn wir in der Phylogenese die Umwandlung des Schädels auf der frühen Primatenstufe bei Lemuren betrachten, deren Augen gegenüber dem archaischen Eutherientypus vergrößert und nach vorne gerichtet sind. Sind hingegen beide Organe am Schädel seitlich angebracht, dann sieht und hört das Lebewesen zumeist fast richtungsgleich. Der Differenzierungsschritt mit dem Blick nach vorne macht ein neues, jeweils eigenes Zusammenspiel des Richtungshörens und Richtungssehens notwendig und bereitet die typisch menschliche Begegnungsmöglichkeit von Angesicht zu Angesicht vor.
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dene Weise!) nahe kommen kann, und zwar so, dass die eigenen Organe, Auge und Ohr, im Aufenthalt bei Gesehenem und Gehörtem, aus der Beachtetheit verschwinden (wie gänzlich anders bei einem Anfall von Wetterfühligkeit!). Spüren wir unsere Augen (ihre Bewegung oder bei Schmerz) oder unsere Ohren, so hat das selten mit dem Erblickten oder Erhorchten etwas zu tun. Das ist wiederum anders bei der Hand: Was sie greift, muss in Reichweite, in der Nähe sein. Wir spüren, wie wir selbst im Greifen in unmittelbarer Berührung mit dem Ergriffenen da sind. Das gilt vor allem für alles Tasten, das man deshalb einen Nah-Sinn nennt. Wir haben Optik (den Fernsinn) und Haptik (den Nahsinn) einander gegenübergestellt,23 doch auch Fern- und Nahsinne werden nicht voneinander isoliert verständlich. Nehmen wir beispielsweise einen Apfel in die Hand, den wir sehen und zu verspeisen beginnen, so erfahren wir, dass es ein und derselbe Apfel ist, den wir auf diese Weise sehen, berühren und dann kauend hören – ontologisch ein Phänomen von Identität. Aus dem Weltoffenheitsbereich, den wir als Menschen jeweils austragen, sind wir angesprochen durch die Anwesenheit von einzelnen Anwesenden in ihrer Bedeutsamkeitsfülle. Aus dem Bezug auf ein und dasselbe Seiende können wir Sinneswahrnehmungen aus verschiedenen Modalitäten (sehen, tasten, schmecken, hören usw.) ganzheitlich überkreuzt-koordiniert erfahren. Deshalb spricht die neuere Forschung von kreuzmodaler Wahrnehmung,24 deren Entwicklungs- und Lernprozesse im Sinne eines hermeneutischen Zirkels verstehbar werden. Dabei ist hervorzuheben, dass wir es jeweils selbst sind, die sich für das Vernehmen-Können von Begegnendem in sinnenhaft-wahrnehmbarer Gegenwärtigkeit offenhalten: innerhalb des und für den Anwesenheitsmodus von Seienden in unmittelbar sinnenhafter Gegenwart. In besonders wachen Augenblicken können wir uns gesammelt mit allen Sinnen gegenwärtig erfahren, und zwar eins mit dem Anwesen des unmittelbar Gegenwärtigen. Da geht uns am deutlichsten auf, dass und wie die vielen Sinne nur eine Sinnlichkeit, einen sinnlichen Lebensvollzug, ein Versammeltsein, eine Weise des leibhaftigen Selbst-, Mit- und In-der-Welt-seins bilden. Diese gibt ihrer Einzelentfaltung den Grund. Man hat diesen Grund ,Gemeinsinn‘ (sensus communis) genannt. Der Gemeinsinn ist Quelle und Vermögen ursprünglicher Erfahrung und Einsichten; er ,ent-spricht‘ vor allem dem, was als Offenkundiges schlicht hinzunehmen ist, sich selbst ausweist, durch Hinweisen uns gemeinsam wird, sodass es keines Beweises bedarf (was die Notwendigkeit eines phänomenologischen Hin- und 23 Siehe oben 1. Kap., 2.2.4.4 b). 24 Vgl. u.a. M. Dornes, Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen, 43– 48.
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Aufweises nicht ausschließt). Zum Gemeinsinn gehört, dass wir uns im Gebenlassen des sinnlich Vernehmbaren nicht nur passiv-rezeptiv, sondern auch aktiv-spontan verhalten, indem wir das Entgegenkommende unseren Verhaltensmöglichkeiten entsprechend aufnehmen, erinnernd behalten, phantasievoll erbilden, verbinden, vorstellen, einschätzen, aber auch übergehen usw. Man könnte hier von einem Integrationsgeschehen differenzierender Einigung der Sinne reden. Dieses lässt sich paradigmatisch gut am Zentralorgan unseres Handelns, der Hand, enthüllen. Man könnte meinen, dass die Hände als Greiforgane vom Auge überwacht werden, da das Sehen weiter als das Greifen reicht. Aber was uns hier besonders interessiert, ist, dass wir im Dunkeln durch Tasten auch dem Sehen nachhelfen können. Die Hand ist also dem Auge oder dem Ohr keineswegs (immer) untergeordnet. Doch kommt ihr deswegen auch kein Vorrang vor dem Auge oder vor dem Ohr zu. Nicht nur Sehen und Hören überragen durch ihr Eigenes das Greifen, sondern auch das Unvergleichliche der Hand überragt den Gesichts- und Gehörsinn – ist sie doch in ihrer höchsten Möglichkeit ein Handlungsorgan, mit der wir sogar (allenfalls lautlos) sprechen, zeigen und offenbar machen und zu verstehen geben können. Bernhard Welte hat im Blick auf die sich vollziehende Integration der Sinnlichkeit der Hand gesagt, sie sei »ebenso Organ des Handelns, wie sie Organ des Fühlens und Empfindens ist. Die Versammlung der Sinnlichkeit zu einem Ganzen lebt gerade in der Hand als lebendige Einheit und Versammlung von Rezeptivität und Spontaneität, von Wahrnehmen und Handeln. Diese scheinbare Doppelheit 25 ist in Wirklichkeit ein einziges Leben.« Und gerade diese in ihr versammelte Sinnlichkeit lebt in ihr nicht für sich, sondern in ihr sind wir eben mit allen Sinnen selber da. Geben wir beispielsweise einander die Hand, so bewerkstelligen wir nicht, dass Körperteile einander berühren als Zeichen für etwas Seelisch-Geistiges, sondern wir selbst sind es, die mehr oder weniger wach, herzlich oder gedankenlos, fest oder lässig, ehrlich oder falsch usw. im Händedruck einander begegnen und da sind – also sind wieder Ontisches und Ontologisches untrennbar eins. Sinnlichkeit unseres offenständigen Daseins als eine Weise des unmittelbar gegenwärtigen Anwesens von Anwesenden tragen wir nur beschränkt aus. Sie gewinnt jedoch als Bereich des Vernehmen-Könnens der Bedeutungsfülle des Anwesenden in seinem Anwesen zunehmend an Bewandtnis für das Daseinsganze, worauf hingewiesen wurde. Sinnlichkeit bildet sich immer mehr aus zu einer Vernehmensweise, in der wir selbst leibhaftig und persönlich da sein und ganz wir selbst werden kön25 B. Welte (1982), Der Verlust der integralen Sinneserfahrung als Quelle des Verlustes der religiösen Dimension, in: Zwischen Zeit und Ewigkeit, 176 –191, hier 179.
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nen. Wir kommen gegenwärtig unausweichlich auf uns sinnenhaft Widerfahrenes zurück, das einmal gegenwärtig war und wir behalten haben. Während wir augenblicklich Gewesensein und Zukünftigsein in eine Gegenwart versammeln, nehmen wir es in unsere Zukunft hinein – anders könnten wir diese Zeilen gar nicht lesen. Daher kann ursprüngliche Erfahrung keine bloß unmittelbare sein; vielmehr brauchen Ereignisse ihre Zeit des Austrags, um verstanden zu werden. Wir verstehen hinsichtlich der ursprünglichen Erfahrung uns selbst so, dass wir uns sinnlich wahrnehmend in unserer Welt gegenwärtig aufhalten, und zwar vor aller Trennung in Sinnlichkeit und Geist, in Wahrnehmung und Denken. Alle Erkenntnis nimmt daher ihren Anfang (principium) mit den Sinnen. Das heißt nicht, dass sie mit den Sinnen als Materiallieferanten des von ihnen loslösbaren Intelligiblen bzw. Ideellen beginnt. Sinneserkenntnis ist nicht Anlassfall oder Ankurbelung geistigen Geschehens, sondern sie ist der in das Kommende ausholende und so bleibende Anfang allen wesenhaften Gewahrens des Anwesenden (Begegnenden) in seinem Anwesen (seiner Wahrheit). Der Versuch einer Entsinnlichung statt eines integrativen Entfaltens der Wahrnehmung im Raum des Erkennens würde ein Sichabschneiden von der Lebenswelt bedeuten. Zur Erkenntnis gehört der Rückgang in die Lebenswelt, nicht nur in ihrem flüchtigen Vorübergehen, sondern im Bleibenden (memoria) des Anwesens in der Welt des Begegnenden, das ohne Sinne gar nicht statthaben kann. Wir können also in leibhaftiger Anwesenheit mit allen Sinnen ganz da sein (was sich jede Multimediashow zunutze macht). Sind wir so zugleich ganz Auge und ganz Ohr, so heißt das viel mehr als nur, sich für einen Entwurfsbereich aus Bedeutsamkeiten des sinnenhaft Vernehmbaren, des Gesehenen und Gehörten, offen halten. Wir sind als wahrnehmende Menschen mit allem gegenwärtig Wahrnehmbaren, den sinnenhaften Gegebenheiten unserer Um- und Mitwelt, in lebendiger Vollzugseinheit eins; und dieses Wahrgenommene ist Seiendes im sehend-schauenden und hörend-horchenden Verstehen seines Seins in der Zeit. Das Gesamtverhalten in sinnenhaft leibhaftiger Offenheit gibt die Möglichkeit frei, ja zwingt in die Notwendigkeit, sich selbst inmitten aller Anwesenden aus dem Sein zum Sein zu verhalten. Ein solches sich zeitigendes Verhalten lässt zahlreiche Modifikationen zu. Beispielsweise die Möglichkeit, sich erkennend auf jeweils einen der Sinne zu verlegen, weiter: sie im Verhältnis zueinander und in ihrem integralen Zusammenspiel zu vollziehen und zu betrachten – wohl nicht unwichtige Möglichkeiten unseres Umgangs mit den Sinnen. Wir können nicht nur betrachtend, sondern alltäglich unser Weltverhältnis in die durch einzelne Sinne zugänglichen Bereiche verlegen und uns aus anderen zurückziehen, diese bevorzugen und
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andere vernachlässigen. Integrations- und Desintegrationsvorgänge in unserem Verhalten zu den Sinnen können deshalb das Verhältnis zur Wahrheit und das entsprechende methodische Vorgehen tragen, aber auch beirren.
1.2.2 Ergänzung der Phänomenauslegung durch die akroamatische Dimension
Mit dem Gesagten kommen wir auf das Problematische einer Prädominanz des Zeigens und Sehenlassens in der Phänomenologie zurück. Wäre das Seinsverständnis der Phänomenologie vom Sehen und Wissen als einem Gesehenhaben bestimmt, dann würden ihr möglicherweise unnötig verdeckende Grenzen auferlegt sein, die, von der die Phänomenologen bewegenden Unvoreingenommenheit gegenüber ihrer Sache her, gar nicht bestehen. Diese Grenzen müssten sich aus der der Phänomenologie eigenen Tendenz, die auf je größere Ursprünglichkeit ihres Sachbezugs geht, ,transphänomenologisch‘ in Frage stellen lassen. Gewiss können die Weisen unseres Sichverhaltens, wie wir unser Weltverhältnis leibhaftig, mit allen Sinnen (durch den Gemeinsinn vermittelt) austragen, sehr verschieden sein: bedingt durch Typus, Begabung, Berufsausübung (z.B. Musiker oder Maler), vom Bereich des jeweiligen Weltaufenthalts abverlangt, im Wachen, Schlafen und Träumen verschieden, von Blind- oder Taubheit beeinträchtigt, aber auch verfeinert usw.; aber ein Sichverstehen auf das Dasein, das sich vorrangig und im Wesentlichen auf ein auf Sehen und Schauen gestimmtes Weltverhältnis verlegt oder umgekehrt auf ein auf Hören und Horchen gestimmtes Weltverhältnis, macht in der Frage nach der Methode einen Unterschied in der Weltorientierung aus, der nicht zu vernachlässigen ist. Man kann das überprüfen, indem man sich mit verbundenen Augen oder mit Geräuschschutz in seiner Umgebung zu orientieren versucht. Da verschwinden vertraute Weisen des Weltverhältnisses und unvertraute treten hervor. Die uns hier angehende Frage ist nicht, ob wir faktisch dem einen oder anderen Sinnesgebrauch mehr zugeneigt sind oder ihn vorziehen, sondern eine grundsätzliche. Vorweg sei daran erinnert, dass wir, indem wir diese Frage stellen, uns daseinsgemäß zu verstehen haben, d.h. als einen Weltbereich von Vernehmensmöglichkeiten einräumend und zeitigend. Auf diesem Boden erst wird fraglich, ob die Vernehmensmöglichkeiten vorrangig und vorgängig Erblickbarkeiten oder Ansprechbarkeiten sind. Die Frage läuft darauf hinaus: Wie ist das Sein des Seienden erstlich zu vernehmen – als verbergend-entbergendes Sichzeigen oder als Sprache des An- und Abwesenden, des Sagens und Sichversagens? Oder ist diese Alternative falsch, da Erblickbarkeiten und Ansprechbarkeiten dasselbe, wenn auch
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nicht auf gleiche Weise, jedoch gleich ursprünglich in einer einander durchdringenden Gegensatzspannung, besagen? Nachdem die phänomenologische Vergegenwärtigung des Sehens und Hörens (in 1.2.1) schon in die Richtung der die Differenz entfaltenden Selbigkeit der beiden gleich ursprünglichen Vollzugsweisen des Sinneslebens wies, ist nun noch zu fragen, was sich daraus für den Ansatz der hier dargelegten Methode des Philosophierens ergibt. Fraglich ist, ob Phänomenologie als Wissenschaft vom Phänomen (im strengsten Sinne des Wortes) zu verstehen ist, sodass das Seiende als solches (in seinem Sein) das Phänomen in reinster Ausprägung ist, d.h. als das Sichzeigende, das in seinem Sichzeigen (Sein) erscheint und vernommen werden kann. Antwortet phänomenologische Forschung auf das Sichzeigen des Sichzeigenden im Lichtbereich (oder Dunkel), indem sie es angemessen erblickt, klärt, sichtbar macht, aufweist und das sich aus dem Grund erhebende Dastehende in seiner ,Be-deutsamkeit‘, seinem Aussehen (Wesenseidos) und Anblick (Idee) zu vernehmen und auszulegen sucht? Wissen gilt ja als Erblickt- und Gesehenhaben einer Sache und als begründete Einsicht (Evidenz). Oder antwortet phänomenologische Forschung allererst auf ein Angesprochenwerden durch im Weltbereich bedeutsam Begegnendes, auf Seiendes, das seinem Sein nach sich uns zuzusprechen und uns in Anspruch zu nehmen vermag? Dem ,ent-spräche‘ dann ein gesamtmenschliches Erhorchen und Hören auf das sich uns Zusprechende, das sich mitteilt, kommuniziert. Kurz: Geht es letztlich in Philosophie um philosophische Weltschau (ja wissenschaftliche Weltanschauung) oder um Weltanhörung (Akroasis)? Oder ist mit typologischen Ausprägungen zu rechnen, die einander wenigstens minimal implizieren, weil unsere Orientierungsfunktionen des Sehens (Schauens) und Hörens (Horchens) gleich ursprünglich sind und in unserer ,Weltorientierung‘ untrennbar zusammengehören und ineinander übergehen? Man kann diese Fragestellung nicht mit dem Hinweis abtun, es gehe ja beim Wissen um etwas Geistiges und nicht mit Sinnen Wahrgenommenes. Die sinnliche Metaphorik unserer Wissenschaftssprache sei daher irrelevant für das Seinsund Methodenverständnis, bloß eine Façon de parler. Gerade phänomenologische Anthropologie konnte zeigen, »dass es faktisch keine einzige Erscheinung des menschlichen Existierens gibt, die unleiblich wäre«, sei sie erinnert, phantasiert oder ,abstrakt‘ gedacht.26 Was immer ist, nimmt uns ganz, mit ,Leib und Seele‘, in unserem leibhaftig situierten Weltaufenthalt in Anspruch, und zwar vor aller zertrennenden Analyse in psychische Fähigkeiten. Gerade wenn es 26 Vgl. beispielsweise M. Boss, Grundriss der Medizin, 271–285, hier: 274.
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um das geht, was uns letztlich und unbedingt von sich her angeht, kann die Frage nach der Ursprünglichkeit unseres Gewahrens des Wie dieses Angangs und nach der von uns bevorzugten Weise des Zugangs (der Offenheit) von ausschlaggebender Bedeutung sein. Schon die methodische Intention, das Sichzeigende (das Phänomen) sich in seinem Vollsinn geben zu lassen – also die Öffnung für die Ursprünglichkeit des uns Widerfahrenden –, zielt darauf, sich vom Seienden in seiner Bedeutungsfülle in Anspruch nehmen und sich lautlos (schweigend) ansprechen zu lassen. Mit der Freilegung der originären Sprachlichkeit des ,Phänomens‘ selbst, das uns in seiner Bedeutungsfülle etwas sagt und Stimmungen anklingen lässt, geht die Phänomenologie über sich hinaus und gewinnt (terminologisch gesprochen) eine Dimension, welche die Phänomenauslegung wesentlich erweitert und ergänzt: die akroamatische Dimension des sich Entbergenden. ,Phänomen‘ unter Anführungszeichen steht hier nicht mehr nur für das Sichzeigende in seinem Sichzeigen, sondern auch für das sich Zusprechen von Anwesendem in seinem Anwesen. Dieser erweiterte Sprachgebrauch war schon im Griechischen möglich, wo phainesthai (fanesϑai) auch hörbar machen, ertönen lassen und etwas aussprechen bedeutet. Umgekehrt ,spricht‘ sich uns in jedem Sichzeigen ein Sichentbergen von Verborgenem zu. Zu unterscheiden sind daher: 1. das Phänomen (Zeigen) im engeren (philologisch strengeren) Sinne. Was sich zeigt, sagt uns Bedeutungsvolles und ist ein Sagen, d.h. hier ein stimmlich nicht verlautendes, gestimmtes Sagen. Dieses gehört zwar mit in den Bereich der Akroasis, umfasst ihn aber nicht. 2. das Phänomen in einem weiteren Sinne, das die akroamatische Dimension des Daseins umfasst. Jedes Phänomen ist ursprünglich gesehen akroamatisch. Zu den Intentionen der Phänomenologie als einer -logie gehört die Akroasis des Weltlogos. Phänomenologie verstehe ich als Wissenschaft von der methodischen Erschließung des Phänomens im zweiten, erweiterten Sinn ihres Logos. Im Rückgang auf die ursprüngliche phänomenale Erfahrung ist Phänomenauslegung (Hermeneutik) als ein ,Lesen‘ der Phänomene (légein tà phainómena) notwendig auch ein horchendvernehmendes Eingehen auf den Sachlogos, und ist Phänomeno-Logie nicht kurzsichtig auf das Phänomenale im engeren Wortsinn zu reduzieren oder gar als Wesensschau zu stilisieren. Gerade wenn sich etwas in dem, was es ist, zeigt und enthüllt, sagt es uns Bedeutungsvolles und ist dieses Zeigen selbst ein Sagen, ein uns Ansprechen. Zugleich gehört zum Zeigen selbst und in das Zeigen sol-
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ches, das sich nicht (im engeren Wortsinn von zeigen) zeigt bzw. mitzeigt. Dieses spricht uns unterschiedlich an, sei es als ontisch Wahrnehmbares, das wir, auch ohne es zu sehen, als solches hören, greifen, schmecken usw. können, oder sei es überhaupt die ontologische Dimension der sich verbergenden Herkunft alles Unverborgenen. Im Rückblick auf diese Herkunft wissen wir aus Erfahrung um diesen Verborgenheitsbereich, der im Verhältnis zur Offenbarkeit alles unverborgen Seienden immer sein Übergewicht hat, immer das Vermögendere ist. In den Anfängen abendländischen Denkens finden wir dies bei Heraklit im Fragment 54 angesprochen: »Unscheinbare Fügung (Harmonie) vermag mehr als erscheinende.«27 Dem Erscheinenden ist nicht das »Unsichtbare«, wie Diels/Kranz aphanês übersetzen, entgegengesetzt, sondern das »Unscheinbare«: Dieses soll nun ,stärker‘ (Diels/Kranz) als alle vordergründige Fügung sein. Das Unscheinbare ist das Stärkere im Sinne des Großartigeren und Vorzüglicheren, das irgendwie reicher, vermögender ist als das Erscheinende. Es erscheint nicht als Phänomen (Gesichtetes im engeren Wortsinn), und doch ist es in allem, was nicht augenfällig in Erscheinung tritt, unscheinbar da. Das Unscheinbare ist daher nicht zu verwechseln mit einem unansehnlichen Aussehen oder Anblick. Auch lässt das Wort ,Harmonie‘ einen zu rasch abgleiten in die Idee eines zwar erhabenen, aber unhörbaren Zusammenklangs der Weltsphären, in kosmische Sphärenmusik. Aber Harmonia bedeutet im Griechischen zunächst doch so viel wie Verbindung, Fuge, Fügung. Eines ist so in ein anderes eingepasst, eingefügt, dass Verbindung, Zusammenhalt, Fügung sich ereignet. In der Weise von Fügung, Verbindung und Fuge waltet die Physis. Das ,Unscheinbare‘ ist das in allem zum Vorschein Kommende der Physis, die im reinen Aufgang ins Offene, zu dem der Rückgang ins Verborgene gehört, da ist. Die Physis ist in ihrem ereignishaften Wesen nichts Unsichtbares, aber auch nicht ein eigens erblicktes Erscheinendes unter Erscheinenden. Der Bereich des Erscheinenden und Scheinenden ist in den Bereich des Unscheinbaren einbehalten, nämlich der Physis, die allem Erscheinen das gelichtete Offene gewährt – ja reicher ist und mehr vermag als das Erscheinende, dem sie im gelichteten Offenen Raum und Zeit eröffnet. Die Physis ist (bei Heraklit) hörbar in ihrem Logos; sie spricht uns an im Aufgang ihrer Sinnfügungen. Ihr entspricht eine schweigend-horchende Grundhaltung, die auch das Erblickte in seiner Anfänglichkeit vernehmen lässt und alle Sichtweisen zu ihrer Anfänglichkeit freigibt. Das im Hinhören Erhorchte der Physis ist, wie früher schon gesagt, keine sinnliche Gehörsempfindung, kein kettw). Zur 27 DKV, Bd. 1, 162: Harmoniê aphanês phanerês kreitton ( Interpretation und Übersetzung vgl. auch M. Heidegger, GA, Bd.55 Heraklit, 141–144.
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Hörerlebnis, sondern ein Sich-Sagen-lassen, ein ,ge-horchender‘, d.h. betroffen Anteil nehmender Erfahrungsbezug zu allem Begegnenden im Walten ihres Aufgangs. Die Fügung der Physis in ihrem Walten als Aufgang ins Offene ist das Unscheinbare, das als lautloser Zu- und Anspruch sich bekundet. Sie bahnt so den Weg (Zugang) zu ihrem Vernehmen und begründet so die methodische Möglichkeit, ihr angemessen zu entsprechen. Das entsprechende Sichverhalten zur Physis (zum Sein des Seienden) liegt in der Offenheit eines achtsam horchenden Vernehmens. Physis ist also nicht nur das, was von sich aus aufgehend sich zeigt und gesichtet wird, sondern umfassender zu verstehen als das, was im Horchen auf ihr Walten sich uns zuspricht. Phänomenologie ist also Phänomeno-Logie. Zu ihr gehört die gestimmte Ernstnahme der in allen Dingen liegenden Sagbarkeit des Wortes, das schweigendhorchende Eingehen auf den Wortcharakter (Sachlogos) sich zeigender Dinge, ja überhaupt das (unausweichliche) ringsum In-Anspruch-genommen-Sein durch die Welt: die Akroasis des Welt-Logos.
1.2.3 Zur kritischen Hinterfragung der Wissensintentionen
Zu den Grundelementen der phänomenologischen Methode gehört ein eigenes kritisch-hinterfragendes Vorgehen. Dieses entlarvt nicht nur wie Ideologiekritik samt ihrer genetisch-reduktiven Variante ein falsches Bewusstsein (Ideen, Idole), sondern es sucht im Rückgang auf das ontologische Vorverständnis die ursprünglich motivgebende Vollzugssituation von überkommenen Begriffen, Urteilen und Argumentationszusammenhängen freizulegen. Redet man mit Heidegger von phänomenologischer Destruktion (von lat. destruere, niederreißen), so nennt der Terminus nur die negative Seite der Kritik: den Abbau der Verdeckungen. Da mit den konstruktiven (hermeneutisch ,auseinander-legenden‘, aufbauenden) Möglichkeiten der Phänomenologie verschüttete Quellen der Erfahrung in ihrer Ursprünglichkeit freizulegen sind, könnte man auch von phänomenologischer Rekonstruktion des ursprünglichen Vollzugssinns reden, wobei kriminaltechnische und archäologische Reminiszenzen erlaubt sind. Die angebahnte Relativierung des Vorrangs des zu Sehenden vor dem zu Hörenden hat uns in folgende rekonstruktive Fragestellungen versetzt: Warum konnte überhaupt ein solcher Vorrang behauptet werden? Warum orientiert sich Philosophie bevorzugt am Sehen als primärer Zugangsart zum Seienden und Sein? Sind die Fragen überhaupt zureichend gestellt? Zu ihrer Klärung soll auf den wir-
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kungsgeschichtlich wichtigsten Beleg, den viel kommentierten Beginn der aristotelischen Metaphysik, eingegangen werden: »Alle Menschen streben von Natur nach Wissen.« Damit wird eine alltägliche Selbstverständlichkeit angesprochen. Man will verschiedene Sachen kennenlernen, um sich im Umgang mit ihnen bei ihnen auszukennen. Wissen ist überhaupt als solches das den Menschen Wesensgemäße. »Dies beweist die Liebe zu den Sinneswahrnehmungen; denn auch ohne den Nutzen werden sie an sich geliebt und vor allen anderen die Wahrnehmungen mittels der Augen. Nicht nämlich nur zum Zweck des Handelns, sondern auch, wenn wir nicht zu handeln beabsichtigen, ziehen wir das Sehen so gut wie allen anderen [Sinnen] vor. Ursache davon ist, dass dieser Sinn uns am meisten 28 Erkenntnis gibt und viele Unterschiede aufdeckt.« Aufgezeigt soll werden, dass das in der (menschlichen) Physis wurzelnde Streben nach wissendem Verstehen, welches das Menschsein mit ausmacht, sich vor allem im Verlangen nach einem Leben im ,Sehen‘ ausdrückt. Das geschieht unter Berufung auf etwas, das uns unmittelbar angeht, und zwar durch einen nicht näher ausgeführten Vergleich der Sinneswahrnehmungen. Alle Menschen hängen an ihnen und gehen ihnen nach. Und so sind sie daran schuld, dass wir etwas kennenlernen und Erkenntnis gewinnen. Im Vergleich zeigt sich, was für den Platonschüler Aristoteles offenkundig ist: dass unter den verschiedenen Weisen des Kennenlernens das offenbar- und klarmachende Sehen (und Gesehenhaben) den Vorzug hat. Diesem von Aristoteles im Eingang der Metaphysik aufgezeigten Sachverhalt des Wissensstrebens, wie er allen Menschen zu eigen ist, ist besondere Aufmerksamkeit zu widmen, da er mit Bedacht die erste dieser Sammlung von Abhandlungen eröffnet.29 Zudem verspricht er uns Klärung über die Verwurzelung und Intention des Erwerbs von Wissen. Beachten wir den Satzbau: »Allen Menschen ist es eigen, dass sie nach Wissen verlangen«, und mit Nachdruck wird am Satzende nachgesetzt: »von Natur aus« (fsei). Das wissende Verstehen geschieht also gemäß der Physis, der Weise, wie Seiendes (das eigene und das uns umgreifende) von sich her in seinem Sein waltet und aufgeht. Der Satz gibt eine Antwort auf die in ihm implizierte Frage, worauf es »allen Menschen […] im Sein und Leben« – eben physei – ankommt. Was das wissende Verstehen der Menschen mit ausmacht, ist, 28 Aristoteles, Met. A 1, 980 a 21. 29 Mittelalterliche Manuskripte, die ähnlich wie die nachträglich ,Metaphysik‘ genannte Sammlung von Arbeitspapieren des Aristoteles wegen der mündlichen Unterweisung meist keinen Titel haben, wurden oft nach ihren Eröffnungsworten, dem incipit benannt. Am Beginn steht ein Schlüsselsatz, der mit Bedacht das Anliegen der Schrift und die Tradition, an die sie anschließt, anklingen lässt und daher kaum überschätzt werden kann. Aristotelisch geurteilt, ist hier ein weithin anerkannter Ausgangsort (Topos,tpoß) der Beweisführung vorgegeben.
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dass es ihnen nicht nur um das Sehen im Leben, sondern um ein Leben im Sehen, ja Aufgehen im Sehbaren geht. Dieses Worumwillen ist nicht wie am Beginn der Nikomachischen Ethik das Gutsein in der Praxis, sondern das freie Wissen. Wie dieses Wissen das Sein des Menschen mit ausmacht, gibt das Wort eidénai zu verstehen. Als Perfektbildung vom Stamm vid, der ,sehen‘ bedeutet, ist in ihm diese Bedeutung noch lebendig. Wörtlich übersetzt ist dieses Wissen ein GesehenHaben, ein Wissensbesitz. Er bezeichnet das nachhaltige Ergebnis (Resultat) eines Seh-Aktes. »Wenn jemand sehr viel gesehen hat und dies Gesehene besitzt, hat er Wissen. Wissen gehört also in den Bereich der Sicht und ist als resultierender Zustand ein Verfügen über Sichten.«30 Es gründet im Wahrnehmen, vorzüglich im Sehen. Mit dem eidénai als einem Erkannt-Haben mag schon hier der ganze Reichtum des Lebens im Sehen, des theoretischen Lebens, angesprochen sein. Der Mensch ist von seiner Physis her zum Schauen berufen. Dieses ist dann nicht »das Erkannthaben als Haben, sondern [als] schauende daseiende Einsicht, insofern ein Sein als höchstes Leben in Wahrheit, im Offenen«31 – der Unverborgenheit des Seins des Seienden. Das verstehende Wissen ist als eidénai ein Sehen, Erblicken, ja Schauen (horân), wie es dem Anblick der zu Gesicht kommenden Seinsgestalten (eîdos) entspricht. Zum Erkannt-Haben kommt es dadurch, dass wir nach einer Erfüllung verlangen, sie anstreben, auf sie aus sind. Orexis (rexiß) ist bei Aristoteles menschliches Streben als eine Weise des Daseins, und zwar der Selbstbewegung eines beseelten Wesens. Dieses Streben ist grundlegend ein »Aus-sein-auf […] Erschließung von Welt, Selbst und Bezug zum Göttlichen«.32 Unter Bezugnahme auf den Anfang der aristotelischen Metaphysik umschreibt Karl Kerényi das »griechische Phänomen« des eidénai mit »schauendem Wissen«, in dem die griechische Religion für den festlich gestimmten Menschen ihre Erfüllung findet: »Man kann griechisch das Ereignis des schauenden Wissens auch so fassen: Es ist Gott, wenn solches geschieht.«33 Mit dem Gesagten wurde die im Beginn der Metaphysik aufgegriffene Wissensweise im Blick auf weitere, ursprünglichere Verstehens- und Seinsmöglichkeiten bei Aristoteles angesprochen. Das ist in einer an der Sache des Denkers interessierten Interpretationsweise, die ihm entgegenkommt, durchaus gerechtfertigt. Doch soll jeder Anlass zu einer nostalgischen Überzeichnung des ,Griechentums‘ 30 31 32 33
W. Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, 163 (ednai: 162 f.). M. Riedenauer, Orexis und Eupraxia, 301. A.a.O., 326. K. Kerényi, Antike Religion, 80.
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vermieden werden. Aristoteles leitet seine Metaphysik unter Berufung auf eine eigentümliche Seinstendenz des Menschen ein, die alltäglich wesenhaft (physei) in der Sorge um das Sehen liegt. Dieses Sehen ist ein anschauliches Vernehmen, ein Gesehenhaben, welchem die Möglichkeit zur (augenscheinlichen) Anschauung (Betrachtung, Theorie) eigen ist, die eine differenzierte Entdeckung von Seienden in ihrem Sein gestattet. Aristoteles holt seine gebildeten Leser jedoch bei dem ab, was sich allgemeiner Bekanntheit und Zustimmung erfreut. Mit der Berufung auf das, was jedem zugänglich ist und bei jedem Zustimmung findet, weckt er in uns die Frage: Spricht er hier nicht doch nur eine bestimmte Weise des sich auskennenden Umgangs mit ursprünglich wissendem Sichverstehenkönnen (und nicht dieses als solches) an, und zwar wie es erstens aus der positiven Verfassung des Daseins (physei), zu der die alltäglichen Wissensweisen gehören, geschöpft werden kann, und zweitens wie wir es auch aus dem durchschnittlich entfremdeten Miteinander- und Selbstsein kennen? Alltäglich kennt man vieles. Das heißt nicht, dass man es ausdrücklich kennen gelernt und erkannt hat. Mit dem gegenwärtigen Auslangen nach Wissbarem, um gewusst zu haben, ist eine Weise zu sein angesprochen, die das Menschsein mit ausmacht: die »seinshafte Zeitigungsweise«.34 Die Weise, im Wissen in der Zeit zu sein, scheint mir für die Aristoteles-Interpretation in zwei Richtungen deutbar: Verhalten wir uns zu gegenwärtig Sehbarem, indem wir ihm in einem echten Verstehen den zukünftigen Status des Verstandenen einräumen, wobei wir unser Gewesensein (das geschichtlich gewordene ,Apriori‘) in das Zukünftige einbringen, d.h. Kennenlernende sind? Kommen wir nicht darin auf die eigensten Seinsmöglichkeiten unseres Daseins zurück? Oder geht es darum, so im Sehbaren aufzugehen, dass es uns um ein Nur-Sehen geht, also nur darum, dieses als solches zu vernehmen (zu konsumieren), das man auch gesehen hat, ja gesehen haben muss? Kommen wir (nur?) auf unser Dasein aus einem Besorgen zurück, das rundum darauf aus ist, immer nur Neues zu gewärtigen? Das Streben als Aussein auf Sehbares ist nach Aristoteles ein liebendes Verlangen (agápêsis, 2g1phsiß), wie wir es vorzüglich kennen, wenn wir nichts mehr vorhaben, wenn nicht etwas zu nutzen, zu verrichten oder zu leisten ist. Da suchen wir nach Möglichkeiten, ausruhend zu verweilen, der Hektik zu entgehen, haben Entspannung, eine Kaffee- oder Zigarettenpause u.Ä. nötig. Wir wollen informiert sein über das, was es so alles gibt, nicht nur sicherheitshalber, sondern um 34 M. Heidegger, GA, Bd. 62: Phänomenologische Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles zur Ontologie und Logik, 17.
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etwas zu erleben, um sich zu amüsieren, um uns die Zeit, die sich als gähnende Leere der Gegenwart hinzieht, ,zu vertreiben‘, ,vom Hals zu halten‘, oder um sich bei irgendetwas über das bekümmerte Dasein zu beruhigen. Der Befriedigung solcher Tendenze kommen – heute hochspezialisiert – die öffentlichen Verhältnisse (Medien, Unterhaltungsindustrie) entgegen. Bezüglich des Wissensstrebens verweist Aristoteles darauf hin, dass uns das Gernhaben des Wahrzunehmenden unter Bevorzugung des zu Sehenden bewegt (motiviert), weil dieses uns »am meisten Erkenntnis (gnorízein, gnwrzein) gibt und viele Differenzen aufdeckt«.35 Beim Kennenlernen sehen wir uns etwas an oder bei etwas um oder bei etwas nach oder dahinter. Aber ist es nicht ein Gerne-Haben des Wahrnehmens von Wahrnehmbarem, das gierig auf das Neue aus ist? Man sagt: Sehen und dabei gewesen sein ist alles! Oder geht es im Vollzug der Wahrnehmungen, die jemand machen kann, um das Wahrgenommensein von Wahrgenommenem? Anders gewendet: Werden also die augenscheinlichen Differenzen entdeckt, um die Zerstreuung zu genießen, um sich zu entspannen bzw. von sich selbst wegzukommen und sich von sich selbst zu erholen? Oder geht es um ein dem Aufgedecktsein der erstaunlichen Mannigfaltigkeit entsprechendes gesammeltes Selberanwesen, um das Ereignis ursprünglich schauenden Wissens? Was nun dieses in der Daseinsverfassung verwurzelte Streben nach dem Gewusst-Haben meint, muss m.E. für die Interpretation des Eingangs in die aristotelische Metaphysik (und nur für diesen!) offenbleiben. Und hier gilt rezeptionsgeschichtlich für die Metaphysik: Eine Verwirrung in ihrem Beginn hinsichtlich der Wissensintentionen, die nicht bereinigt wird, kann schlimme Folgen haben. Wo im Mittelalter die aristotelische Metaphysik universitär rezipiert wurde, wie beispielsweise von Thomas von Aquin, wurde die Naturgemäßheit theoretischen Wissensstrebens positiv herausgestellt. Allen Menschen ist ein natürliches Verlangen zu wissen innewohnend.36 Darin strebt der Mensch über das Nützliche hinaus nach Vollkommenheit, nach dem ihm Eigenen, nach der glückhaften Erfüllung jenes intellektuellen Offenseins, wodurch er Mensch ist, und zwar insbesondere, indem er den Dingen auf den Grund geht. Daraus ergibt sich, dass alles Vertrautsein mit einer Sache, alle Kenntnis und alles Verstehen, alles gründliche Wissen und alle gründliche Wissenschaft gut ist (omnis scientia bona est).37 Thomas 35 Aristoteles, Met. A 1, 980 a 27. 36 Thomas von Aquin, In I Metaph., lib. 1, lect. 1, nr. 1: […] omnibus hominibus naturaliter desiderium inest ad sciendum. Zur Begründung dieses Grundsatzes vgl. nr. 2–4. Dem widerspricht nicht, dass keineswegs alle diese ihnen eigene Möglichkeit aus verschiedensten Gründen ausschöpfen (scientiae studium impendunt). 37 Thomas von Aquin, In De anima, lib. 1, lect. 1, nr. 3.
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hält mit Aristoteles auch am Vorzug des für das Wissen behilflichen Gesichtssinnes fest, da dieser von allen Sinnen der am wenigsten materieverhaftete und daher der spirituellste ist, dem allein sich die Himmelskörper zeigen und der überhaupt größte Sachnähe vermittelt.38 Eine die grundsätzliche Bonität des Erkenntnisstrebens äußerst beschränkende Gegenthese zum ersten Satz der aristotelischen Metaphysik, die ihn auf seine sittlich-religiöse Intention hinterfragt, hat Augustinus entwickelt.39 Er unterstreicht zwar auch den Primat des Gesichtssinnes (primatum oculi), aber er findet diesen von einer krankhaften Gier (morbo cupiditas) geleitet: der Neugier bzw. der (beim Wort genommenen) ,Wissbegier‘ (curiositas). »Sie ist es, die [u.a.] dazu verleitet, das Verborgene der Natur, die außer uns ist, zu erforschen, das zu wissen für nichts gut [ist] und der Mensch eben nur zu wissen begierig ist.«40 Das Verlangen nach solchem Wissen wird nicht für natürlich gehalten, sondern wird theologisch als Ausdruck der Begierlichkeit (concupiscentia) angesehen, die Augustinus nicht nur als Folge des von der ursprünglichen Natur abgefallenen Menschen, sondern material als Erbsünde ausgelegt hat. Der Mensch strebt im status defectus nach einem perversen Wissen (perversa scientia) und hat darum eine Hinneigung und Vorliebe für die Sinnesvermögen, insbesondere für das Sehen bzw. den Anblick (visus). Die Neugier ist innerhalb der augustinischen Lasterlehre systematisch zu bestimmen.41 Deren innere Logik ist relativ unabhängig von der neuplatonischen Abwertung der Sinnlichkeit sowie dem anthropologischen Dualismus von Leib und Seele, der sich besonders im Dualismus von Außenwelt (Natur) und Innenwelt (memoria) artikuliert. Der Mensch, der sich von Gott, seinem Schöpfer, abwendet, stürzt ins Grundlose einer zum Nichts laufenden Existenz. In seinem Hochmut (superbia) übernimmt er sich, verdeckt er seine wahre Lage, sucht er unter niemandes Gewalt zu sein und sich selbst zu genügen: In der Gier, seine Eigenmacht zu verkosten und zu spüren (cupiditate vero experiendae potestatis suae), wirft er sich in seinem Inneren auf sich selbst, als wäre er die Mitte der Welt (ad se ipsum tamquam ad medium). Das 38 Vgl. Thomas von Aquin, In I Metaph., lib. 1, lect. 1, nr. 5– 8. 39 Augustinus, conf., besonders lib. 10, c. 55. Zur Interpretation vgl. auch H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Kap. 6: »Aufnahme der Neugierde in den Lasterkatalog« (358–376) – vermeintlich erst bei Augustinus. 40 Augustinus, conf., lib. 10, c. 35, 55: Hinc perscrutanda naturae, quae scire nihil prodest et nihil aliud quam scire homines cupiunt. (574) 41 Vgl. dazu R. Schneider, Welt und Kirche bei Augustin. Ein Beitrag zur Frage des christlichen Existentialismus, 24–41. Die biblische Quelle für Augustins Dreilasterlehre in 1 Joh 2,16, wo Welt durch drei verwerfliche Strebungen – Fleisches-, Augenlust, Prahlsucht (nicht ,Hoffart des Lebens‘!) – konstituiert wird, stellt dort nur eine Illustration, keine strenge Systematik im Sinne einer Lasterlehre dar.
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Ich (ich bin, denke und will) kommt im Versuch, Mittelpunkt der Welt sein zu wollen (suae medietatis experimentum),42 sich selbst (und seine Welt) nur auf sich zu gründen, unter den kompensatorischen Zwang, sich fort und fort selbst dahin vermitteln zu müssen, um auf diese Weise seiner Nichtigkeit zu entgehen und glücklich zu leben. Aber in seiner Überheblichkeit stürzt der Mensch nun erst recht aus der selbst gesetzten und erfundenen Mitte ab (ab ipsa sui medietate); sein Leben nimmt um dieser Zentriertheit willen Suchtcharakter an: Er ist versucht, sich auf aktuelle Lustbefriedigung in Vergnügungen (»Fleischeslust«) zu verlegen und ist hierbei unersättlich und ständig unbefriedigt; daher sucht er in dem, was immer erneut aussteht, im Besorgen des Allerneuesten Befriedigung (»Augenlust«); interessiert sich dabei in Erfahrung und Erkenntnis für das, was ihn nichts angeht usw. Die dabei konstituierte Erkenntnis-Welt, in die sich der Mensch verstrickt hat, ist die durch menschliche Konkupiszenz organisierte Welt, nicht die Welt der Schöpfung Gottes, die zum Erkennen offensteht. Man könnte daher annehmen, dass nach Augustinus die Schöpfungswelt um ihrer selbst willen zum Kennenlernen einlädt. Doch Augustinus sieht das anders. Sehen wir von seiner relativ einfachen Konstruktion der Drei-Laster-Lehre (etwa im Vergleich zum Niveau der klassischen Acht-Laster-Lehre des Euagrios Pontikos und seiner Schüler)43 ab, so setzt Augustins Lasterlehre eine instrumentale Verhältnisbestimmung des Menschen zur Schöpfung voraus, die Widerspruch hervorrufen musste: »Wir genießen (frui) etwas [eine res], durch das wir Freude (voluptatem) empfangen, und wir gebrauchen (utimur) etwas, das wir in Beziehung setzen zu dem, wodurch die Freude zu empfangen ist. Alle menschliche Verkehrtheit (humana perversio) jedoch, die auch als Laster (vitium) zu bezeichnen ist, leitet sich von da her, des Genusses wegen gebrauchen zu wollen und des Gebrauches wegen zu genießen. Alle Ordnung hingegen, die als Tugend zu bezeichnen ist, verlangt, man solle des Genusses wegen genießen (fruendis frui) und des Gebrauches wegen gebrauchen (utendi uti). Genießen aber soll man das Gute (honestis), gebrauchen das Nützliche.«44 Nun ist im eigentlichen Sinne nur Gott gut (honestum) und allein er darf von uns genossen werden; alles andere ist für uns nur zum Gebrauch da und ist nicht als etwas 42 Augustinus, De Trinitate, lib. XII, cap. 11, CCL, Bd. 50, 370 f. 43 Vgl. dazu vom Verf. Maskierte Depression und ,Trägheit‘ in der klassischen Achtlasterlehre, in Befreiung und Gotteserkenntnis, 71–101. Hier werden Neugier (curiositas) und Gerede (verbositas) u.a. als Symptome der Akedia (der bekümmerten Sorglosigkeit, ,Trägheit‘), d.h. der NichtAnnahme seiner selbst verstanden und anthropologisch dem mutartigen Seelenteil mit den im Herzen wurzelnden Gemütsbewegungen zugeordnet. 44 Augustinus, Dreiundachtzig verschiedene Fragen, q. 30: »Ist alles zum Nutzen des Menschen erschaffen worden?« Utrum omnia in utilitatem hominis creata sint.
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in sich Genusswürdiges geschaffen worden, das um seiner selbst willen (propter se) geliebt werden dürfte. Daher darf man weder den Mitmenschen direkt um seiner selbst willen noch sich selbst um seiner selbst willen lieben, und daher darf sich auch niemand direkt an Anderen oder sich an sich selbst freuen.45 Diese Auffassung wird etwas entschärft: Nur insofern der Mensch zu Gott in Beziehung steht, in Hinwendung zu Gott und in seiner Anwesenheit lebt, also um Gottes willen, darf er sich selbst lieben und sollen Mitmenschen geliebt werden und dürfen wir uns dankbar freuen. Aus heutiger Sicht kann man theologisch darin dennoch ein schwer gestörtes Verhältnis zur Schöpfung erkennen, das sich nichts von dem, was in eigener Würde sich als es selbst (als bonum honestum) gegeben ist, anzuerkennen traut und sich vom Schöpfer ein Bild macht, in dem er unfähig erscheint, die Dinge liebend zu sich selbst, zu ureigenstem Sein freizugeben. Dass alles Geschaffene unmittelbar nur zum Gebrauch des Menschen erschaffen ist,46 kann übrigens auch aus ökologischer Sicht als Freibrief für die Ausbeutung der Natur Ärgernis erregen. Das Gesagte bedeutet für die Legitimität der Welterkenntnis, dass sie nur zuzulassen ist, insofern sie Gott anerkennt und die Weltdinge in ihrer Dienlichkeit zur Gotteserkenntnis erschließt. Hier verhält sie sich zur übrigen Forschung ausbeuterisch und in der Zulassung der Erkenntnisbereiche je nach Brauchbarkeit flexibel, wenn es beispielsweise um die Überzeugungsarbeit an gebildeten Nichtchristen geht. Das Kriterium für die Zulassung von Erkenntnis, die Nützlichkeit für die Gotteserkenntnis, ist zugleich das Ausschlusskriterium für die curiositas als verkehrte Wissensweise. So engt sich der Horizont auf die religiöse Beziehung von ,Gott und die Seele‘ ein. Kann der instrumentale Mittelscharakter, dem der Mitmensch unterworfen wird, humanistischen Protest und atheistische Selbstbehauptung des Menschen provozieren, so enthält Augustins These dennoch eine durchaus haltbare religionskritische Aussage, die sich von einer Religion der Bedürfniserfüllung, welche ihre Nützlichkeit zum Kriterium macht, distanziert: Der Mensch darf in seiner Gottesbeziehung Gott nicht zu etwas Nützlichem instrumentalisieren, d.h. zum bloßen Mittel herabsetzen; und insofern darf er sich nicht (in hochmütiger Nachahmung des Schöpfers) genießen. Die bedeutendste Auseinandersetzung mit Augustins einflussreicher Kritik an den Intentionen theoretischen Wissens und Forschens findet sich im groß angelegten Werk von Hans Blumenberg über »Die Legitimität der Neuzeit«. Sein Anliegen im Kapitel über den »Prozeß der theoretischen Neugierde« ist die 45 Augustinus, De doctrina christiana, lib. 1, 20 f., CCL, Bd. 32, 16 f. 46 Augustinus, Dreiundachtzig verschiedene Fragen, q. 30: Omnia ergo quae facta sunt, in usum hominis facta sunt […].
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Darstellung der Herkunfts- und Befreiungsgeschichte des die Neuzeit charakterisierenden entgrenzten Wissenwollens vom Diskriminierungsdruck jener theologischen Relevanzkontrolleure, deren Funktion es war, weltflüchtig-gnostizierend im Namen der allmächtigen »Transzendenz« Wissensgebiete und -inhalte zu tabuisieren. Das so sorgfältig und einfühlsam durchgeführte Forschungswerk Blumenbergs leidet an einer terminologischen Konfusion, sofern Wissensweisen, die als Ausfluss des Lasters der Neugier nach Blumenberg zu Unrecht diskriminiert wurden, unterschiedslos mit nicht-diskriminierten oder zu Recht diskriminierbaren Weisen des Wissenwollens unter dem vormals eher pejorativ besetzten Titel »theoretische Neugier« zusammengebracht und nun unterschiedslos positiv bewertet werden47 – eine wohl unbeabsichtigte Immunisierungsstrategie. Durch diese Umwertung wird die Frage nach dem Sinn, nach Hintergründen und fragwürdigen Einstellungen zu wissenschaftlicher Theorie in bestimmter Hinsicht der möglichen Kritik entzogen. Es wird somit wesensgemäßes Wissenwollen – jene Haltung allseitig interessierter Offenheit für solches, das zu denken gibt und der Frage würdig ist – einfach mit »theoretischer Neugier« identifiziert. Doch damit fängt die Konfusion an: ,Gier‘, beim Wort genommen, artikuliert eine Sucht. Sie wird als eine Sorge erfahren, die von einem Besitz ergreift. Was uns solcherart ,hat‘ und belastet, kränkt bzw. verletzt durch seinen Zwangscharakter und stellt eine eingeengte Weise des Existierens – das heißt ein Laster – dar. Neugier als Sucht wäre demnach eine unfreie, einengende Verhaltensweise. Insoweit sie drangartiger Natur ist, blendet sie das Gewesensein aus und wirft sich auf Zukünftiges. Die Sucht findet die sie befriedigende Entschädigung in dem, worauf sie aus ist, hier: im Reiz des immer Neuen. Demnach wäre ein Süchtigsein nach Neuem auf dem Niveau der Theorie wie die mit ihm verwandte Arbeitssucht des Workaholic – unabhängig von ihrer theoretischen Ausbeute und (wirtschaftlichen) Effizienz – die symptomatische Kehrseite einer gewissen Unmöglichkeit der freien und offenen Annahme seiner selbst. Eine solche Annahme seiner selbst würde die volle Annahme der Andersheit des Mitmenschen und schließlich die volle Aufgeschlossenheit für das Unergründliche des Daseins implizieren, aus dem wir uns im Selbst- und Miteinanderdasein freigegeben erfahren. Wir finden bei Blumenberg leider keinerlei positive Würdigung von Augustins kritischem Anliegen, sich vor einer Verführung durch Philosophie zu hüten. Philosophie bezeichnet an sich »eine bedeutende und von ganzem Herzen erstre47 Das Missverständnis zieht sich heute bis in die Ethologie hinein, wo das Orientierungs-, Erkundungs- und Sicherungsverhalten der Tiere mit einem menschlicher Alltäglichkeit analogen Neugierverhalten verwechselt wird.
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benswerte Sache« (rem magnam totoque animo appetendam). Verboten ist nur, neubzw. wissbegierig zu sein (curiosi esse prohibemur), was im Blick auf das philosophische Wissenwollen »eine große Aufgabe der Mäßigung (temperantia) ist«. Es gibt jedoch Menschen, die ohne entsprechende sittliche Haltung und in Unkenntnis über Gott und seine Erhabenheit »etwas Großes zu leisten meinen«, wenn sie die Welt »höchst wissbegierig und aufmerksam (curiosissime48 intentissimeque) erforschen«, wobei sie diese für nichts anderes als für eine körperliche Masse halten oder sich Unkörperliches in körperlichen Bildern vorstellen. »Dadurch wird sogar ein so großer Hochmut (superbia) erzeugt, dass es ihnen erscheint, als wohnten sie schon in dem Himmel, über den sie oft disputieren. Die Seele möge sich also in der Begierde nach einer solchen eitlen Erkenntnis (vanae cogitationis cupiditate) zurückhalten, wenn sie beschlossen hat, sich für Gott keusch zu bewahren.«49 Wahre Philosophie, die Liebe und Eifer für die Weisheit ist, geht also aus der Haltung der Mäßigung hervor, die vor Neugierde bewahrt. Zu unterscheiden wäre zwischen dem zu Unrecht madig gemachten Forschen bzw. dem Forschungsbereich (z.B. der gestirnte Himmel) und den gegeißelten Intentionen des Forschers als eines Menschen, dessen Forschungswerk die Neugierde mit vorantreiben, aber auch verzerren und verkehren kann. Augustins Anliegen ist der Ab- und Ausstieg aus der ganz alltäglichen Verstiegenheit im Größenwahn, die ja den Wissensbetrieb mitbestimmt. Wohl zu Recht ist Demut (Mut zum sinnvollen Dienen) einem Forscher nahezulegen, der überheblich und arrogant ist, d.h. der sich überlegen von oben herab gebärdet, andere missachtet, rechthaberisch und eifersüchtig öffentliche Geltung (und Gelder) beansprucht und zugleich an mangelnder Selbstwahrnehmung leidet, der für den Gabecharakter des eigenen Selbst und ebenso für die eigene Abgründigkeit und das Mysterium seines Daseins in der Welt verschlossen ist. Dem Forscher (auch als Spezialwissenschaftler) sollte doch als Menschen die tiefste Bedeutung seiner Einsichten nicht völlig verborgen bleiben. Im freien Anschluss an die augustinische Lasterlehre hat Heidegger an die Metaphysik die kritische Frage gestellt: Geht es im Kennenlernenwollen um ursprüngliche und echte Wahrheit, der wir grundlegend ein Unterrichtet- und Orientiertsein verdanken? Oder geht es darum, nur etwas Neues und Anderes als das Gewohnte kennenzulernen? Heidegger hat diese »Tendenz zum Nur-Vernehmen«, die man verkürzt als konsumistisch bezeichnen könnte, mit Neugier (curiositas) identifi48 H. Blumenberg, a.a.O., 367, übersetzt curiosissime »mit äußerster Neugier«; es könne aber auch die Bedeutung »mit größter Sorgfalt« mitschwingen. 49 Augustinus, Opera – Werke, Bd. 25: De moribus ecclesiae catholicae et de moribus manichaeorum – Die Lebensführung der katholischen Kirche und die Lebensführung der Manichäer, 1, 38.
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ziert.50 Sie ist eine Weise des Verfallenseins (und immer schon Abgefallenseins) an die ,Welt‘; darunter versteht er eine existenzial-ontologische Weise des Nicht-esselbst-Seins, des (süchtigen) Aufgehens in die Welt des Miteinanderseins als positive Möglichkeit des Seienden, das jemand in der Uneigentlichkeit des Man selbst ist. Darin liegt zwar die Aufgabe der Befreiung, des Freiwerdens für das jeweils eigenste Selbstseinkönnen in der raumzeitlichen Spannweite der Welt; doch kann sich das Dasein in seinem Wahrnehmungs- und Erkenntnisstreben in das Besorgen der Möglichkeiten des Sehenkönnens verlieren und ständig entwurzeln. Das ist dann Neugier. Sie wird weiter charakterisiert als »spezifisches Unverweilen beim Nächsten«.51 Sie sucht die Zerstreuung statt der Sammlung (des verweilenden Anwesens). Die Neugier sucht »das Neue nur, um von ihm erneut zu Neuem abzuspringen. Nicht um zu erfassen und um wissend in der Wahrheit zu sein, geht es der Sorge dieses Sehens, sondern um die Möglichkeiten des [flüchtigen] Sichüberlassens an die Welt.«52 Unter dem Anschein äußerster Interessiertheit kann dann die Flucht vor dem eigensten Selbstsein verdeckt und erfolgreich kompensiert werden. Indem man glaubt, sich überlegen in Schwebe halten zu müssen (heute oft mit Wahrheitsrelativismus verwechselt), entscheidet man sich ernsthaft für keine Möglichkeit, interessiert sich für »solches, was erlaubt, im nächsten Augenblick schon gleichgültig zu sein und durch anderes abgelöst zu werden, was einen dann ebenso wenig angeht wie das Vorige«.53 Was man heute unter Interesse versteht, ist meistens Neugier. Dagegen hieße »Inter-esse« eigentlich: »unter und zwischen den Sachen sein, mitten in einer Sache stehen und bei ihr bleiben. Allein für das heutige Interesse gilt nur das Interessante. […] Man meint heute oft, etwas dadurch besonders zu würdigen, dass man es interessant findet. In Wahrheit hat man durch dieses Urteil das Interessante bereits in das Gleichgültige und alsbald Langweilige abgeschoben.«54 Neugier ist so ein uneigentliches Interesse. Die Aktualität der Neugieranalyse liegt auf der Hand, wo ein institutionalisierter Kulturbetrieb (dem die philosophische Forschung angehört) sich als anregend und interessant 50 Vgl. M. Heidegger, GA, Bd. 2: Sein und Zeit, § 36: »Die Neugier«, 226 –230 und 458 f. 51 A.a.O., 229. Gemeint ist das der Sache nach Nahegehende, nicht explizit der Mitmensch. 52 Ebd. 53 M. Heidegger, GA, Bd. 8: Was heißt Denken?, 6. 54 A.a.O., 6 f. Monographisches zur Herkunft der Unterscheidung von Interesse in der Bedeutung von ,Zwischensein‘ (inter-esse) und ,Interessiertheit‘ als Gegenwärtig-, Angelegt- oder Hingeneigtsein (vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zur Diskussion in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts) vgl. H. M. Schmidinger, Das Problem des Interesses und die Philosophie Sören Kierkegaards.
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zu präsentieren hat, stets nach der Zufuhr des Neuesten schreit und im ständigen Besorgen von Möglichkeiten der »Zerstreuung« besteht. Die Neugier verkehrt das zum Wesen des Menschen gehörige unüberholbare Offensein für Kommendes. Sie reißt es vom Überkommenen los und nimmt diesem damit die Zukunft weg. Doch der Mensch gehört dem Kommenden so an, dass er in sich zukünftig ist, stets zur Gänze vom Sein der Zukunft in seinen Möglichkeiten (mit)bestimmt wird, die aus dem Gewesenen heraus im Augenblick offen sind. Man sagt zu Recht: »Jeder Tag – ein neuer Tag.« Die Offenheit für alles Neue, für das verborgene ,Noch-nicht‘ realer Möglichkeiten gehört zu den Notwendigkeiten unseres Wesens. Die Verheißung, die über allem und in allem liegt, gibt alltäglichen Erwartungen und letzten Hoffnungen Grund. Dazu gehört, dass der Mensch immer erneut auf sein Sein im ,Da‘, und d.h. auch, sich auf sein Selbstseinkönnen versteht, somit nach einem Modus des Erkennens strebt, der es verdient, bei ihm zu verweilen. Im Rahmen seiner phänomenologischen Neugier-Analyse hat Heidegger im Anschluss an Augustinus darauf hingewiesen, dass wir ,Sehen‘ auch für die anderen Sinne gebrauchen:55 Wir sehen, was jemand sagt, wie etwas klingt, wie etwas duftet usw. Dagegen sagt niemand, er höre, wie etwas riecht, er höre, wie etwas leuchtet, aussieht oder sich anfühlt usw. Wie kommt es zur Auslegung des als solchem nicht Sichtbaren durch das Sehen? Wieso also dieser Vorrang des schauenden, sehenden und beobachtenden Zugangs zur Wirklichkeit, der bereits alltäglich unser Erkenntnisleben durchdringt? Wichtig ist hier, dass wir klar ,sehen‘: Die Seinstendenz der Alltäglichkeit zum Sehen, die Neugier genannt wurde, ist, wie Heidegger schon erkannte, »charakteristischerweise nicht auf das Sehen eingeschränkt«, sondern drückt eine »Tendenz zu einem eigentümlichen vernehmenden Begegnenlassen der Welt« aus.56 Sie hat ein Gegenstück im Gerede (verbositas); dieses »regiert die Wege der Neugier, es sagt, was man gelesen und gesehen haben muß. […] Die Neugier, der nichts verschlossen, das Gerede, dem nichts unverstanden bleibt, geben sich […] die Bürgschaft eines vermeintlich echten ,lebendigen Lebens‘.«57 Es kommt zu einer öffentlichen Ausgelegtheit des Miteinanderseins, wo alles zweideutig wird, da »bald nicht mehr entscheidbar [ist], was in echtem Verstehen erschlossen ist und was nicht«.58 Der dem Sehen zugeschriebene Vorrang, sofern er auf Neugierde beruhen soll, gehört also nicht zum Wesen des Gesichtssinns. Er kann sich in gleicher oder vor55 M. Heidegger, GA, Bd. 2: Sein und Zeit, 231 f. (Augustinus, conf., lib. 10, c. 35, 54). 56 M. Heidegger, GA, Bd. 2: Sein und Zeit, 226. 57 A.a.O., 229. 58 A.a.O., § 37: »Die Zweideutigkeit«, 230.
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rangiger Weise auf den Gehörsinn verlagern. Im Gerede kann jeder über jedes alles sagen und gibt uns so das Allerneueste zu verstehen bzw. zu sehen. Wenn die Arbeit ruht, ergreift man alle Möglichkeiten, die beängstigende Stille zu vertreiben. Alte Wörter dafür sind ,Ohrenkitzel‘ oder ,Ohrenschmaus‘, da essen wir gewissermaßen mit den Ohren. Dasselbe sagen wir ja auch von den Augen. Das »gefräßige Auge«59 verschlingt alles, es ist unersättlich. Im Hören können sich also wie im Sehen die Obsession gierigen Habenwollens, die Konkupiszenz oder krankhafte Begierde als Hunger und Durst nach dem Sein melden, um die innere Leere auszufüllen. Die Welt, von der wir uns mit allen Sinnen ansprechen lassen und die uns im vernehmenden Begegnen etwas sagt, kann dann die philosophierende Existenz irritieren und in Zweideutigkeit des Verstehens geraten. Die rechte Methode gebietet daher die Läuterung der Grundeinstellung zur absichtslosen Freigabe der Phänomene zu sich selbst. Die eingangs gestellte Frage, wieso man einen Vorrang des Sehens oder Hörens annehmen konnte, hat damit eine erste, aber keine abschließende Antwort gefunden. Sie konnte zur Klärung der Wissensintentionen beitragen und bleibt bedenkenswert. Zur philosophischen Methode gehört das Hinterfragen der sie leitenden Interessen und Wissensintentionen. Durch es werden bestimmte Vorlieben in Frage gestellt, beispielsweise das eurozentristische Vorurteil eines vermeintlich philosophisch begründbaren Vorrangs des Sehens im abendländischen Denken. Denn anders als in der Welt des griechischen (hellenistischen) Denkens finden wir in der althebräischen einen Vorrang des Hörens,60 nicht nur des Hörens auf die menschliche Stimme: also keine Zentrierung auf das Offenbarmachen durch die Verlautbarung im Wort, keinen Phono- und keinen Logozentrismus, sondern vielmehr ein Hören und Horchen auf das, was da ist (wobei allenfalls auch die in der Stimme sich bekundende Stimmung am unmittelbarsten unser Sein in der Welt erschließt). So hat das begegnende Ding zwar Gestalt und Aussehen, aber zunächst sagt es etwas, es ist Wort (dâbâr), die Sprache des Ereignisses, die in einem gestimmten Vernehmen erhorcht wird. Wir hören, was wir sehen, nicht hören wir, um bloß zu sehen, was wir hören. Nun wurde im Vorangegangenen nicht anstelle eines Vorrangs des Sehens für einen Vorrang des Hörens plädiert, sondern für eine methodische Offenheit, die keinen der menschlichen Sinne ausschließt 59 Vgl. dazu G. Mattenklott, Der übersinnliche Leib. Beiträge zur Metaphysik des Körpers, dort 78 –102: »Das gefräßige Auge oder: Ikonophagie«. 60 Vgl. Th. Boman, Das hebräische Denken im Vergleich mit dem Griechischen, der zusammenfassend feststellt, »daß der für das Erleben der Wirklichkeit wichtigste Sinn für die Hebräer das Gehör (und die verschiedenen Arten von Empfindungen), für die Griechen das Gesicht werden mußte«. (181)
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und die auf die uns zumeist verdeckten, ausgeschlossenen Intentionen unseres Daseinsverständnisses achtet. Abschließend noch ein Wort zu einer Grundintention auf dem Weg des Denkens:61 Im Denken geht es um das zu Denkende. Alles Denken verdankt sich dem zu Denkenden. Sichverdanken heißt nicht nur, dass es auf dem zu Denkenden beruht, es in seine Obhut übernimmt und daher auf es zurückführbar ist – ,re-duzierbar‘ im Vollsinn des Wortes. Vielmehr ist darauf zu achten, dass das zu Denkende zu denken gibt, indem es sich den Denkenden mitteilt und zu eigen gibt. Ohne dieses Geben gibt es auch die Begabung des Denkens nicht. Das Denken selbst ist die Gabe, die das zu Denkende verschenkt. Daher bleibt dem Denken eines Denkenden, der nicht dankbar ist, Wesenhaftes verschlossen. Zwar bleibt im Undank das Denken noch ein Denken, aber der wesenhafte Sinn dieser Seinsmodalität, des Gabecharakters aller Dinge, geht ihm ab und beirrt den Denkweg, den die Methode zu bahnen hat. Insgesamt verhält es sich hier ähnlich wie bei einem Musikstück: Fehlende oder unbeachtete Versetzungszeichen in einer Partitur können zu einer Kakophonie führen. Lebendiges Philosophieren kann sich zwar nicht ohne ,Vorzeichen‘, methodische Vorgaben, aber auch nicht mit fix vorgegebenen begnügen. Zur philosophischen Methode gehört auch die Besinnung auf den Ursprung des Philosophierens und auf die ihm entsprechende Haltung. Wissensintentionen und -motivationen bedürfen daher stets selbstkritischer Hinterfragung.
61 Vgl. dazu M. Heidegger, GA, Bd. 8: Was heißt Denken?, 44 – 47.
2. Zweiter Exkurs Zur Einübung in die Philosophie: philosophische Propädeutik
2.1 Sammlung als Aufgabe einer philosophischen Propädeutik von heute
Propädeutik ist die Vorbildung, die wir zur Ausbildung sowie Ausübung einer Fertigkeit schon mitbringen müssen. Die Frage, ob und welche schulischen Vorbereitungen oder Vorübungen für ein lebendiges Philosophieren notwendig sind, war und ist eine vielerörterte Frage.62 Hier bezieht sie sich nicht auf das Philosophikum, die propädeutische Funktion der Philosophiekurse für (katholische) Theolog/inn/en, andere Studienrichtungen, Lehramtskandidat/inn/en usw., oder auf die allgemeine Vorbildung für ein akademisches Philosophiestudium. Es geht nur um Propädeutik als Einübung in die Philosophie. Eine solche kann als erste Hinführung zur Philosophie ihren Herzschlag erhorchen lassen, aber auch vom Wesentlichen fernhalten, Um- und Abwegen die Bahn öffnen. Nimmt Philosophie mit Propädeutik ihren Anfang, dann hängt alle weitere Methodik und Entfaltung ihrer Systematik von deren Eigenart ab, denn diese bahnt und bereitet die besondere Weise ihrer Grundlegung vor. Der Anspruch einer Propädeutik kann daher kaum hoch genug eingeschätzt werden. Als Zeugen für eine anspruchsvolle Auffassung philosophischer Propädeutik zitiere ich Kant mit seiner Unterscheidung von Philosophie als Propädeutik einer Wissenschaft und als Wissenschaft: Philosophie als »Erkenntnis aus reiner Vernunft« ist »entweder Propädeutik (Vorübung), welche das Vermögen der Vernunft in Ansehung aller reinen Erkenntnis a priori untersucht, und heißt Kritik, oder zweitens das System der reinen Vernunft (Wissenschaft), die ganze (wahre sowohl als scheinbare) philosophische Erkenntnis aus reiner Vernunft im systematischen Zusammenhange, und
Als Kant fragte, wie Metaphysik als Wissenschaft möglich sei,64 konnte er noch einen Konsens bezüglich des philosophischen Verständnisses von Metaphysik fraglos voraussetzen, zu der man selbstverständlich die philosophische Theologie (als theo62 Vgl. dazu den Artikel »Propädeutik, philosophische« von C. Günzler in: HWP, Bd. 7, Sp. 1468 –1471. 63 Kant, KrV, B 869. 64 Vgl. Kant, KrV, Vorrede, B XV.
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heißt Metaphysik«.63 Ein Werk vom Rang der ,Kritik der reinen Vernunft‘ sieht Kant also als »Vorübung« in die Philosophie an. Wenn Philosophie »Erkenntnis aus reiner Vernunft« ist, ist diese Lösung systemimmanent verständlich. Was eine Propädeutik ist, bestimmt sich von dem her, wofür sie es ist.
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Sachprobleme systematischer Ortsbestimmung philosophischer Theologie
logia rationalis) zählte. Die Eingangsfrage stellt sich aber heute anders: Wie kommen wir überhaupt in ein Philosophieverständnis, das allenfalls (auch) als Wissenschaft möglich ist? Welche wären angemessene Vorübungen (propaidea) zu solcher philosophischen Erkenntnis? Es gibt ja zahlreiche Vorschläge zur Propädeutik der Philosophie. Gehen sie auf die gegenwärtige Situation und die Weise, wie sich der Mensch in ihr vorfindet, überhaupt ernsthaft ein? Traditionsgemäß kommt als Propädeutik der Philosophie vor allem philosophische Logik infrage. Sie wird heute meist durch formalisierte Logik (Logistik) ersetzt, deren Einsatz in der Philosophie schon ein nicht-formalisiertes Philosophieund Logikverständnis voraussetzt. Dasselbe ist von Wissenschaftstheorie und Sprachphilosophie zu sagen. Eine Einführung in die Geschichte der Philosophie und ihre Grundprobleme überschreitet in gewisser Hinsicht Niveau und Umgang einer Propädeutik. Sie häuft Wissensstoff an und müsste heute eine interkulturelle Weltgeschichte der Philosophie sein, was einem ersten, lebendigen und lebensnahen Philosophieren nicht förderlich ist. Ähnliches gilt für den Vorschlag, sich auf Ethik (meist als Ersatz für das Unterrichtsfach ,Religion‘) oder auf philosophische Anthropologie ontologielos zu beschränken, obwohl hier in gewisser Weise Lebensnähe und Lebensernst erreichbar wären. Die aufgezählten Vorschläge divergieren bei der Auswahl der Unterrichtsinhalte. Auch besteht die Gefahr, die Inhalte für die eigene Weltanschauung propagandistisch zu missbrauchen oder in musealer Beliebigkeit verkommen zu lassen. Zur Überbrückung all dieser Schwierigkeiten werden meist mehr oder weniger gelungene Kompromisse geschlossen. Selbstverständlich gibt es die Bemühungen, philosophisches Grundwissen geschickt vereinfacht, ja jugend- und sogar kindgemäß darzustellen. Sie gehen davon aus, dass philosophisches Verständnis schon früh wach ist, brachliegt und geweckt werden sollte. Doch ist darauf zu achten, dass nicht im Bildungsbetrieb von heute die Menschen durch zunehmende Intellektualisierung (,Kopflastigkeit‘) und versteckte weltanschauliche Indoktrinierung Schaden erleiden. Philosophische Propädeutik darf unter keinen Umständen jene Aufspaltung (,Ausschaltung‘) des Menschseins fördern, die bei Zunahme des Allgemeinwissens und der berechnenden Verstandesausbildung zu einer Abnahme leibhaftiger Eigenerfahrung im Weltbezug führt. Diesem Problem schizoider Daseinsführung kann eine (im akademischen Bereich letztlich nicht umgehbare) materiale Bildung etwa durch einen Einführungskurs in die Philosophiegeschichte oder eine formale Schulung in Logistik keinesfalls abhelfen. Die angesprochene Spaltung wird heute besonders augenscheinlich durch den leibhaftigen Austritt (wie durch ein Futteral) aus der unmittelbaren Weltanwesenheit in virtuelle Scheinwelten gefördert. Das Sein im Computernetz setzt Umweltbezug
Zur Einübung in die Philosophie: philosophische Propädeutik
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65 Im Vollsinn (performativ) kann ich selbst ,Ich‘ nur zu jemandem sagen, der mich (verbal oder nonverbal) anspricht. Als personale Existenzialbehauptung auf die Frage, wer da sei, ist diese Selbst- und Seinsaussage eine Antwort, und zwar ein Kürzel für ,Ich bin es selbst‘ – nämlich dir oder euch gegenüber leibhaftig anwesend in der Welt da. Die Substantivierung des ,Ich‘ erscheint so sprachwidrig. Ich bin also zunächst nicht ein ,das Ich‘. 66 Über Ideologiebildungen unter vergegenständlichender Grundeinstellung bei einem schizoid gestörten Selbstverhältnis auf Grund eines defizitären Mitseins vgl. vom Verf. (22003), Miteinandersein als Zugang zum Leib-Seele-Problem: Ein Beitrag zur Kritik anthropologischer Ideologien, in: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Bd. 1, 137 –156. 67 Zur Frage nach Sinn und Zeitgemäßheit der Spaltung vgl. A. Längle/A. Holzhey-Kunz, Existenzanalyse und Daseinsanalyse, 249 –298, hier 296.
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und Erfahrungsreichtum leibhaftiger Selbstpräsenz außer Kraft. Die in ihren Formen phänomenologisch zu wenig beachtete Spaltung ist näherhin betrachtet kein Bruch zwischen Leib und Seele (Ich), Körper und Geist, Außen- und Innenwelt, Sinneswahrnehmung und Intelligenz, Objekt und Subjekt o. Ä., da diese Art leibhaftig vollzogener Entrückung oder Selbstabschnürung den gekonnten Gebrauch bestimmter Sinne voraussetzt, beispielsweise im Blickkontakt mit dem Bildschirm und in manuellen Verhaltensweisen wie Tastaturbeherrschung, also völlig unleiblich gar nicht möglich ist. Überhaupt ist ein rein geistiger Selbstbezug bzw. eine rein geistige Abwendung von der jeweiligen Leibhaftigkeit eines Daseins unvollziehbar, weil Ich-Sagende primär jeweils sie selbst sind, indem sie leibhaftig als mitanwesende Mitmenschen in einer Vielheit von Bezügen aufgehen und leben.65 Immer nur kann sich der ganze Mensch (in diesem oder jenem) zu sich verhalten oder von sich abwenden.66 Die Gespaltenheit ist gewöhnlich eine komplexe, weil das überbeanspruchte Dasein als Miteinandersein in divergierenden Weisen der Zersplitterung existiert, an ein solches unentwirrbares Vielerlei ausgeliefert oder hingegeben ist. Man sucht selbstverloren die Zerstreuung oder Verzettelung. In ihr scheint sich ein und derselbe Mensch zugleich und in derselben Hinsicht vielfach widersprüchlich zu verhalten. So hält er sich flüchtig anderswo auf, als er gegenwärtig körperlich vorfindlich ist. Ja er verfällt diesem anderswo sich Zusprechenden mehr oder weniger unfrei (gierig, widerstandslos oder dagegen ankämpfend oder genötigt) und sucht in ihm aufzugehen und von sich wegzukommen. Der räumlichen Zersplitterung entspricht die zeitliche. Alice Holzhey-Kunz hat sie herausgearbeitet: Die Spaltung »lässt eine reine, von Vergangenheit und Zukunft abgeschnittene Gegenwart entstehen, […] bewirkt also ein Leben im ,Hier und Jetzt‘ und entpuppt sich unversehens als Ermöglichung eines heute viel gepriesenen Lebensideals, das Befreiung von den Belastungen und Einschränkungen verspricht, die sowohl die Vergangenheit wie die Zukunft der jeweiligen Gegenwart auferlegen«.67 In der kapitalistischen Umwelt ist es zeitgemäß, dass einen nicht mehr so sehr Verdrängung, sondern Spaltung entlastet, weil
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nicht mehr kohärente Ich-Identität, sondern Flexibilität, konfliktfreie Anpassung an beliebige und sich verändernde Bedingungen, erforderlich ist. Grundstörungen, unter denen Persönlichkeiten leiden, sind »innere Leere, die sich durch die bloße Aneinanderreihung von Aktivitäten nicht füllen, sondern immer nur für den Moment betäuben lässt, was oft zu einem suchtartigen Erlebnishunger führt«.68 Der Mensch entgeht dadurch zunehmend seiner Möglichkeit des Verweilens, des leibhaftigen Selberanwesens im friedvollen Einssein mit seiner Mit- und bei seiner Umwelt, die nun verdeckt, verstellt oder abgedrängt erscheint. Entgegen diesem Sog zur Zersplitterung, der uns alltäglich von uns selbst abzuziehen droht, wird philosophische Propädeutik von den wenigstens blitzartig auftauchenden und bekannten Möglichkeiten des (selbst noch alle Zerspaltenheiten tragenden) Selbstvollzugs unseres Ganzseins auszugehen haben, also vom Menschen, wie er (unter Wahrung der Verschiedenheit seiner Lebensbezüge) möglichst ungeteilt ,leibt und lebt‘. Eine Propädeutik in die Philosophie müsste deshalb heute so geartet sein, dasss sie nicht als Wissensvermittlung von der Selbsterfahrung ablenkt und sie zudeckt, keine gefällige Zerstreuung im Bereich des Allgemeinwissens bietet, sondern überhaupt der Zersplitterung des Daseins entgegenwirkt. Es ist die schlichte Übung der Sammlung, welche aus dem Sichverstehen auf das Dasein schöpft und so die rechte Intention und Bereitschaft zum Philosophieren zu wecken vermag. Wie schon gesagt, meint Sammlung wörtlich zusammenbringen, und zwar Zersplittertes, Verstreutes, Auseinanderliegendes vereinigen, ein ,Lesen‘ wie in ,Weinlese‘. Sammlung nennt ein Sich-Zusammenbringen als menschlichen Grundvollzug, ein Geschehen im Sinne des Anwesendwerdens. In dieses führt uns weniger eine Anleitung zum Handeln als eine Vollzugsanweisung zum Sein, aus der sich erst ein Handeln ergeben kann: Wir horchen auf, werden ganz still und ruhig, offen und wach, ganz gegenwärtig und eins mit uns selbst, mit unserer Mit- und Umwelt. In all dem geht es nur darum, unser Anwesen zu gewahren, selbst ganz anwesend zu werden und es währen zu lassen in seinem verbal verstandenen ,Wesen‘ (als Geschehen). Werden wir ganz ruhig, suchen wir ganz gegenwärtig und anwesend zu werden. Halten wir eine Weile inne, dann gewahren wir, wie der Atem geht und kommt, wie alles Bewegtsein zur Ruhe kommt, in Berührung mit dem Boden, tragendem Grund, kommt … Wir ruhen geerdet im Augenblick – vom unbewegten Ursprung getragen und bewegt. »Die […] Kunst der Sammlung besteht […] gerade darin, in diese einfachen, aber wesentlichen Vollzüge zurückzufinden und in ihnen zu verweilen.« 69 68 A.a.O., 297. 69 K. Baier, Phänomenologie der Sammlung, 38.
Zur Einübung in die Philosophie: philosophische Propädeutik
2.2 Zur ,Not-wendigkeit‘ der Sammlung
Das Sichsammeln ist kein beliebiger Akt der Selbstsetzung, der vernachlässigt werden könnte, sondern als antwortendes Sichverhalten ein wesenhafter Grundvollzug des Daseins, der Raum und Zeit frei gibt, um sein zu lassen, was ist und worum es jederzeit geht. Die unumgängliche Notwendigkeit des Sichsammelns kann auch hergeleitet werden aus dem Anspruch, der Seinsmannigfaltigkeit in ihrer Zusammengehörigkeit angemessener zu entsprechen. Sie lässt sich für uns, wie so oft, aus ihrem Fehlen leichter verständlich machen. Das Anwesendsein in der Sammlung ist ja nicht selbstverständlich, denn im alltäglichen Durchschnitt sind wir gar nicht eigentlich da, sondern abwesend, woanders, zerstreut und zersplittert, auf der Flucht vor dem eigentlichen Daseinkönnen und von Betriebsamkeit, Hunger nach Erlebnissen und Genuss bestimmt. Treten Pausen ein, macht sich ein inneres Lasten und Brüten bemerkbar, dem Unterhaltung, die ,Augenlust‘ des Fernsehens etwa, abhelfen soll. Die innere Leere, Öde, Langeweile (und damit die ,Zeit‘, um wirklich selbst da zu sein), will vertrieben werden. Ich bin eher anderswo als da, etwa dort, wo ich besorgt bin, nicht zu kurz zu kommen, oder wo ich fürchte, dass ich keinen Erfolg haben werde, oder wo mir gerade etwas einfällt, was mir nachhängt, oder wo ich das, was gerade an der Zeit wäre, überfliege. Eine innere Unrast treibt einen vom Ort weg, auf den es ankommt, wo standgehalten werden muss. Da besteht eine Not, die zu wenden ist und die noch größer wird, wenn man verblendet unter dem Eindruck der Notlosigkeit steht. Sichsammeln ist eine existenzielle ,Not-wendigkeit‘ und heißt uns, immer wieder zu versuchen, sich aus der Zerstreuung und Zersplitterung in die Anwesenheit zurückzuholen, und zwar in eine solche, welche das unbefangene Offensein für die Mannigfaltigkeit allen Daseins nicht ausschließt. Gesammelt zu sein ist uns lebenslang aufgegeben, wobei wir erfahren, dass uns Abneigung und Widerstand dagegen begleiten. Wir müssen uns daher immer wieder eigens in die Sammlung zurückrufen lassen, weil wir dieser Grundweise der Selbstbegegnung mit dem Sein (Anwesen) eher auszuweichen suchen als sie zuzulassen. Es erscheint mir wichtig, die Widerstände gegen die Übernahme des eigenen Daseins in der Sammlung kennen zu lernen. Eine vollständige Phänomenologie der Sammlung müsste einerseits zeigen, woraus sich die/der Sichsammelnde zurückzuholen hat, und andererseits, woraus (etwa zur Befreiung aus Überforderungen) nicht. Sie müsste auch zeigen, welche die Zerstreutheiten und Zersplitterungen sind, in die wir verwickelt oder verstrickt sind, so dass wir dabei den Vollzug unserer Grundfreiheit in der Offenständigkeit des Eksistierens einschränken bzw. versäumen, und schließlich, welches die verschiedenen Formen des Widerstandes gegen die Sammlung sind.
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Um den Phänomenkreis der Ungesammeltheit kennenzulernen, sind die Lasterlehren des frühchristlichen Mönchtums hilfreich. Ich denke da an Euagrios Pontikos (346–399) und Johannes Cassianus (um 360 – 430/435). Sie behandeln etwas, das in der Yoga-Philosophie und im Buddhismus unter die Analyse der kleshas fällt: »Die Laster bzw. kleshas könnte man insgesamt auslegen als die den Menschen beherrschenden Mächte der Zerstreuung. Es sind Weisen des Gefesseltseins an eine ungesammelte Verfassung des Daseins.«70 Hervorheben möchte ich das Laster der akedía. Es wird missverständlich mit »Trägheit« übersetzt, meint jedoch eine chronische, sorglose und missmutige Oberflächlichkeit, die mit einer zumeist versteckten, aber gelegentlich hervorbrechenden Art von Depressivität verbunden ist. Diese Traurigkeit ist selbst Symptom der Hoffnungslosigkeit, des Verzweifeltseins als ,Zwiespalt‘: der Uneinigkeit mit sich selbst und des Ausweichens vor der Übernahme des gesammelten Selbstseins. Anstatt sich dieser missmutigen Niedergeschlagenheit zu stellen und sie durchzuarbeiten, übertüncht man sie in der akedía durch verschiedene, symptomatisch auffällige Verhaltensweisen. Als solche Symptombildungen der Unfähigkeit des Verweilenkönnens in der Sammlung kennen die Lasterlehren innere Unruhe, hyperaktive Geschäftigkeit, zerstreuten Zeitvertreib, ein Schwanken in Bezug auf den uns zugewiesenen Aufenthaltsort sowie Instabilität der Entschlüsse, Langeweile, Neugier, Gerede und andere Phänomene. Sie sind der neueren Philosophie zum Teil aus Heideggers Analytik der Alltäglichkeit vertraut.71 In der augustinischen Tradition haben die Laster ihre Wurzel in jener Selbstliebe, die in der Gegenwart psychotherapeutisch in Anlehnung an den Mythos des Narkissos vielfältig durchforscht wurde.72 Der frustriert in Selbstverliebtheit Befangene verweigert die Annahme seiner selbst in den Möglichkeiten seines offenständigen Eksistierens. Für die Annahme seiner selbst als Mitmensch ist Sammlung vonnöten. In der Ungesammeltheit wird die Selbstbezogenheit existenziell und theoretisch als primär angesetzt, wobei ihre Herkunft aus dem Miteinandersein verdeckt wird. Diese Hinweise auf eine anthropologische Begründung der Notwendigkeit der Sammlung setzen jedoch voraus, dass wir schon möglichst unvoreingenommen mit dem Phänomen der Sammlung vertraut sind.
70 A.a.O., 42. 71 Siehe oben 2. Kap., 1.2.3, Anm. 43. 72 Vgl. dazu vom Verf. (22003), Schwierigkeiten mit der narzisstischen Selbstliebe in Freuds Metapsychologie, in: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Bd. 1, 269–305.
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2.3 Zur Bedeutung einer Phänomenologie der Sammlung für die philosophische Propädeutik
73 Verwiesen sei zunächst auf K. Baier (Phänomenologie der Sammlung), der hier vom Ausgangsort der Sammlung her einen zusammenfassenden Ausblick auf mein Philosophieren gibt und in selbstständiger Weise diesen Grundgedanken meiner Philosophie so zutreffend und durchdacht herausgearbeitet hat, dass ich aus dieser Arbeit vieles bis in wörtliche Formulierungen hinein übernommen und nur markantere Textstellen ausdrücklich angeführt habe. Grundlegend für diese Thematik ist gleichfalls die monographische und sachkritische Aufarbeitung der Sammlungs-Thematik bei K. Baier, Meditation und Moderne, Bd. 2, bes. Kap. 10: »Die Schule der Sammlung«, 707–812. 74 K. Baier, Phänomenologie der Sammlung, 40. 75 Ebd. 76 Also nicht nur fraglich, sondern der Frage würdig ist! Siehe dazu den nachfolgenden (dritten) Exkurs zur »Einführung in die Ontologie: Einführung in die Philosophie«.
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Dem Vorhaben, zur philosophischen Propädeutik von der Übung der Sammlung auszugehen, soll durch eine »Phänomenologie der Sammlung«73 entsprochen werden. Das Anwesendwerden ist ein Geschehen von solcher Ursprünglichkeit, dass es ohne Erfahrung in der Übung der Sammlung nicht recht verstanden werden kann. »Besinnung auf ein gelegentlich eingetretenes Erwachen der Gesammeltheit reicht dazu nicht ganz aus.«74 Da es zur praktischen Übung der Sammlung heute zahlreiche Anleitungen gibt, werde ich auf sie nicht näher eingehen. Sie geben wertvolle Handlungs- und Haltungsanleitungen, suchen vor allem den Vollzug des Sichsammelns zu beschreiben und sprechen von einfachen Phänomenen, die »prinzipiell jederzeit für jede bzw. jeden zugänglich sind«.75 Weil sie jedoch so naheliegend sind, werden ihr Reichtum und ihre Reichweite leicht verkannt. Eine Phänomenologie der Sammlung hat das Wesen der Sammlung aus der Erfahrung ihrer Übung zu schöpfen, weil es dort optimal zugänglich ist. Mit ihr kommen wir zum Ausgangsort eines Philosophierens, das ich als Denken des Ganzen und des Grundes verstehe und das sich daraus ergibt, dass uns unser Dasein in grenzenloser Weite und abgründig-unergründlicher Tiefe fragwürdig wird.76 Sammlung und ihre Übung scheinen mir ein in den philosophischen Schulen der Antike wohlvertrautes Thema gewesen zu sein, wo Philosophie als praktische Lebensform verstanden wurde. Dieses Thema ist aus der Philosophie in die christliche Meditationspraxis abgewandert. Ein »Denken aus der Sammlung […] an der Universität […] hat im Forschungs- und Lehrbetrieb bei Theologen und Philosophen seit langem keinen Platz mehr. Es impliziert ein Wahrheitsverständnis, das man monastisch genannt hat, weil es wissenssoziologisch nicht nur, aber vor allem in mönchischen Lebensformen und den ihnen entsprechenden Lehr- und
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Lernweisen beheimatet war und ist. Gerade seit dem Siegeszug der Universitäten im 13. Jahrhundert, als die Klöster endgültig aufgehört hatten, die maßgebenden Bildungsstätten zu sein, wurde in Westeuropa der durch die Übung der Sammlung gestiftete Wahrheitsbezug aus der gesellschaftlichen Organisation des Wissens verdrängt. Die Abkoppelung der Theorie von der existenziellen Praxis, die daraus folgte, erwies sich vor allem für die Philosophie und Theologie als problematisch.«77 Eine Rehabilitierung der Sammlung auch im Rahmen akademischer Bildung erscheint mir darum dringend notwendig.
Zweiter Exkurs
2.4 Unterschiedliche Bedeutungen des Wortes »Sammlung«
Ich versuche nun zur Weckung des Vorverständnisses verschiedene Bedeutungen des Wortes »Sammlung« schrittweise zu klären und hebe sie danach von einigen Missverständnissen ab. Dabei gehe ich von dem für uns Naheliegenden aus, von dem, worauf wir uns sammeln, vom schlichten Anwesendwerden, und nicht von dem, womit man der Sache nach den Anfang machen müsste: nämlich von dem, was uns überhaupt in den Vollzug der Sammlung einzutreten ruft: dem lautlosen Anruf, zu sich selbst zu kommen, versammelt zu sein, und zwar gesammelt auf das Anwesen in unserer Bestimmung (d.h. dem Geschick, aus dem wir unser Selbstsein empfangen). Unser Sammlungsvollzug ,entspräche‘ dann etwa dem alles durchwaltenden Logos des Heraklit, den Heidegger mit »Sammlung«, ursprünglicher »Versammlung« und »Lese« des Seins übersetzt und zu verstehen gegeben hat.78 Hier in der philosophischen Propädeutik steht jedoch das Wort »Sammlung« nur für eine menschliche Haltung und eine Weise des Sichverhaltens. Und da kann es »dreierlei bedeuten: Sichsammeln, Gesammeltsein und Sammlung als Übungsweg. Sammlung meint zunächst einmal das Sichsammeln, Sich-in-die-Sammlung-bringen, zum anderen dann das Gesammeltsein, die Seinsmöglichkeit, auf die hin der Sichsammelnde sich zusammennimmt und die im Sichsammeln her-vor-kommt.«79 Der Ruf, sich zu sammeln, kann uns spontan überkommen, wenn z. B. eine Schicksalswende oder Neuorientierung ansteht. Alles, unser Verständnis von Mensch, Welt und Sein, kann fragwürdig werden und muss neu entschieden werden. Dazu können bewegende Erfahrungen führen wie der Beginn einer großen Liebe, die vorgeburtliche Erwartung eines Kindes, die Trennung der Liebenden durch den 77 K. Baier, Phänomenologie der Sammlung, 39. 78 M. Heidegger, GA, Bd. 55: Heraklit, hier besonders 261–317. 79 K. Baier, Phänomenologie der Sammlung, 40.
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80 Ebd. 81 Eine Sonderstellung kommt hier der Daseinsanalyse als einer psychotherapeutischen Richtung zu, denn sie versteht ihr therapeutisches Bemühen ausdrücklich philosophisch, und zwar als Entfaltung phänomenologischen Seinsdenkens, das besonders im Anschluss an Heidegger Leidenden zugutekommen soll.
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Tod, aber auch eine Psychotherapie. Da reichen wir mit- und füreinander in das Gewesene hinein, und zwar in Hinblick auf die sich eröffnende gemeinsame oder abgebrochen erscheinende Zukunft. Aber auch mitten im Alltag können es unscheinbare Augenblicke sein, die uns in die Sammlung rufen und in denen wir dann eigens in Sorge genommen werden, wenn wir uns z.B. vor einer wichtigen Aufgabe ,zusammennehmen‘. Wer immer ein Gefühl für das Wichtige und Bedeutsame hat, löst sich, bevor er es anfasst, aus der Zerstreuung und nimmt sich zusammen, er kehrt in sich ein, wird ganz wach und präsent. Mit einem Wort: Sie oder er sammelt sich. Im Gesammeltsein sind wir dann offen für wesenseigene Möglichkeiten, zu sein. »Wenn dieses Sorgetragen für das Gesammeltsein in vorgenommener Regelmäßigkeit und auf strukturierte Weise geschieht, wird das Sichsammeln und das Verweilen in Gesammeltheit zu einem Übungsweg.«80 Die Formen, die die Sammlung als Übungsweg annehmen kann, sind alte und neue Praktiken der Meditation, zu denen auch verschiedene Formen der Psychotherapie zählen. Ich halte Letztere für einen bewährten Ausgleich des Mangels an therapeutischer Weisheit der akademischen Philosophie, die seit dem Spätmittelalter einseitig theoretisiert wurde und nun praktische Ergänzung von therapeutischer Seite bekommt.81 Nun zu einigen Missverständnissen in Bezug auf das Thema Sammlung: Sie ist nicht mit besonderem Erleben, verändertem Bewusstseinszustand, selektiver Konzentration oder Aufmerksamkeit zu verwechseln. Unter Konzentration und Aufmerksamkeit versteht man eher auf etwas gerichtete, partikularisierende Vollzüge. Sie sind beispielsweise notwendig, um Beobachtungsfehler zu vermeiden, sind aber auch für spezialisierte Höchstleistungen in Bereichen wie Sport, Technik u.a. erforderlich. Das Sichsammeln ist jedoch ein Grundvollzug jenseits des Gegensatzes von Beobachter und Beobachtetem. Jemand kann hochgradig konzentriert bei etwas sein, muss deshalb aber noch lange nicht gesammelt sein. Konzentration kann sogar Sammlung ausschließen, wenn sie im Dienst der Zerstreuung, des Ausweichens vor dem Selberanwesen, aber auch spezieller Handlungs- und Leistungsziele steht. Achtsamkeit hingegen kann zum Übungsweg der Kunst des Verweilens im gegenwärtigen Augenblick werden. Sie führt dann dazu, ganz gegenwärtig, ganz gesammelt da zu sein, und gehört insofern zum Sichsammeln und folgt aus ihm. »Auch die Bestimmung der Sammlung als veränderter Bewusstseinszustand bzw.
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besondere, etwa mystische Weise des Erlebens greift zu kurz, weil das Bewusstsein, seine Zustände und Erlebnisweisen, sekundäre Phänomene sind, die unterlaufen werden von der vorgängigen Erschlossenheit sowohl des gesammelten, als auch des zerstreuten Daseins. Am gesammeltsten sind wird da, wenn wir uns unserer Gesammeltheit gar nicht weiter bewusst sind.«82 Die angeführten Missverständnisse liegen nahe, weil Sammlung Erleben und Bewusstsein sowie besondere Arten von Aufmerksamkeit, die im Gegensatz zu achtlosem und unkonzentriertem Verhalten stehen, nicht ausschließt. Doch das Sichsammeln als voll und ganz Anwesendwerden und das Gesammeltsein als Anwesendsein in offener Weite gibt als Grundvollzug des Daseins überhaupt erst die Basis für alle wirklich menschlichen Vollzüge ab. Es liegt dem Bewusstsein ebenso zugrunde wie allem praktischen, poietischen, theoretischen Verhalten. Insbesondere gibt das Gesammeltsein dem Dasein erst den Zeitspielraum zum künstlerischen, sittlichen, religiösen oder philosophischen Vollzug frei.
Zweiter Exkurs
2.5 Unspezifische Vorbedingung oder Grundvollzug des Philosophierens?
Nun könnte eingewendet werden: Wenn Sammlung nicht nur zur Vorbereitung auf Philosophie, sondern auch für andere, ja sogar alltägliche außerphilosophische Verhaltensweisen geeignet und unverzichtbar erscheint, kommt sie als spezifisch philosophische Propädeutik gar nicht infrage. Und überhaupt: Ist nicht philosophisches Denken selbst als Erwachen zum wahren Bewusstsein etwas Elitäres oder mindestens so Außergewöhnliches, dass es uns vom alltäglichen Leben abhebt, weil es gerade mit der natürlichen, naiven und unreflektierten Einstellung bricht (Husserl)? Ist es nicht naiv, eine allgemein als natürlich einzuschätzende und die Reflexion hintanhaltende Verhaltensbedingung für philosophisch relevant zu erklären? Dazu ist zu sagen: Gewiss erfahren wir den Sog zur Zerstreuung, den Widerstand oder Widerwillen gegen das Anwesendwerden als etwas ,Natürliches‘ im Sinne des Gewöhnlichen, was es schon im alltäglichen Leben zu überwinden gilt. Übung und Phänomenologie der Sammlung sind alles andere als naiv und unüberlegt, wenn sie hier anknüpfen. Sie fassen im Rückgang auf das Selberanwesendsein ,Reflexion‘ radikaler und kritischer als jede freilegende Selbstanalyse des Bewusstseins im Blick auf seine apriorischen Verständnis- und Erkenntnishorizonte sowie die gegenstandskonstituierenden Bewusstseinsakte. Im Gefolge des spätmittelalterlichen Skotismus hat sich 82 K. Baier, Phänomenologie der Sammlung, 41.
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83 Vgl. G. Marcel, Geheimnis des Seins, I. Buch: Reflexion und Mysterium, VII. Vorlesung: Das Sein in der Situation (L’être en situation); Siehe dazu auch unten Dritter Exkurs (3.3.3), Anm. 94. 84 Dazu vgl. auch K. Baier (2009), Meditation und Moderne, Gabriel Marcel, 718 –721.
Zweiter Exkurs
eingebürgert, dass Philosophie mit dem Faktischen zu brechen habe, insofern sie auf die transzendentalen, alles Faktische ermöglichenden Wesensbedingungen einzugehen hat. Doch im Sichsammeln auf das Währen unseres Anwesens klammern wir uns weder an das Faktische, noch klammern wir es aus, vielmehr enthüllt sich von da aus das Existieren des Faktischen phänomenal als eine Modifikation des Anwesens von Anwesenden – setzen doch Existenzfeststellungen immer die Zugänglichkeit zum Anwesenden im Offenen unseres leibhaftig situierten welthaften Selberanwesens voraus. Gerade die Sammlung gibt dem Denken diese ungebrochene Weite zurück, die den transzendentalen Egologien abgeht. Sammlung als Sichsammeln, Gesammeltsein sowie Sammlung als Übung sind aus dem Bezugszusammenhang der Lebensvollzüge, durch den (als ihrem Worumwillen) sie qualifiziert werden, zu verstehen – beispielsweise anders im Musizieren, anders im Gebet. Für das philosophische Denken ist Sammlung dem entsprechend nicht eine bloße vor- oder außerphilosophische Bedingung, da jeder Denkvollzug von ihr durchdrungen sein muss, ja Philosophie nur so lange lebt, als sie aus dem, was unser Gesammeltsein gibt, denkt. Einen Schritt in diese Richtung ist Gabriel Marcel gegangen, der das ursprüngliche Denken der Philosophie als einen spezifischen, »metaproblematischen« Akt der Sammlung (recueillement) auf das »ontologische Geheimnis« hin bestimmt hat, und zwar in Abhebung von der wissenschaftlichen Reflexion, die Subjekt (in mir) und Objekt (außer mir) trennt.83 Er gesteht damit der Philosophie eine ihr wesenhaft eigene Art der Sammlung ausdrücklich zu.84 Sind nicht die verschiedenen Weisen, in der Sammlung zu sein, aus ihr zu leben und zu schöpfen – primär die gesammelte Gestaltung des Alltagslebens –, Quellbereich der Philosophie? Im Sichsammeln und Gesammeltsein legt sich im steten Rückgang in die Lebenswelt der Quellgrund der Philosophie frei. Was vom Standort der Sammlung aus betrachtet zu Recht als außerphilosophisch erscheinen mag, gehört philosophisch betrachtet mindestens als Propädeutik (Vorschule) bleibend in die Philosophie, weil die Sammlung ihr ebenso wie auch dem Alltagsleben erst Grund frei legt und gibt. Doch ist hier nachzufragen: Ist das zutreffend? Gibt Sammlung solches frei? Worum geht es genauerhin in der Sammlung?
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2.6 Worum es in der Sammlung geht
Sammlung ist wegbahnende Möglichkeit und Weise der Selbstbegegnung des Daseins, das zu sich selbst erwacht. Sich sammeln heißt wecken und wachwerden, im Augenblick ganz da, ganz gegenwärtig und überhaupt anwesend werden, d.h. in das unscheinbare einfache ,Da-sein‘ gelangen und dessen jeweils innewerden. Was das Sichsammeln als Innewerden des Daseins erweckt, ist das Gesammeltsein des ,Daseins‘. Sammlung meint zunächst unser Anwesen, Weilen, Verweilen im Sein des ,Da‘. Das ,Da‘ ist nicht lokal als vorhandene Stelle im Raum zu verstehen – nicht Hiersein im Gegensatz zu Dortsein –, sondern bezeichnet das Offene als Weltganzes, an dessen Anwesen wir als Seiende teilnehmen, indem wir in ihm anwesend sind und dieses Anwesen in seinem Sichereignen gewähren lassen, wie es sich eben gibt. Wird das Anwesendsein unseres Da-seins wach, so werden wir für unser Anwesen offen, können es sein lassen, annehmen und übernehmen. Zur Ursprünglichkeit des Sichsammelns gehört das ortsgebundene, leibhaftige Anwesendwerden, und zwar in dieser Situation, hier im Bezug zu dort, zur Umgebung. Das besagt dasselbe, wie ganz persönlich, und zwar selbst und in Person, anwesend zu werden. Niemand kann uns darin vertreten und uns dieses unser Selberanwesen abnehmen. Dieses Selbstsein ist von eigentümlicher Weite, spannt sich weltweit aus. In ihm geben wir unseren mitanwesenden Mitmenschen sowie allem anderen, was uns sonst noch betrifft, Lebendem und Unbelebtem, Raum und Zeit, d.h. wir lassen sie sein (walten). Darin treten wir niemals wie isolierte Akteure auf, sondern übernehmen in der Sammlung das jeweils dir (mir, uns, einander) gewährte weltoffene Sein, versammeln es im Selbstvollzug. Die Sammlung erweckt das Selbstsein zum Ergreifen des Freiseins für das eigenste Seinkönnen miteinander in der Offenheit des Seienden im Ganzen (der Welt). Das Sichsammeln ist dem entsprechend ein Freiwerden, eine Befreiung. Und Sammlung ist gleichbedeutend mit dem Vollzug der fundamentalen Freiheit, dem Freisein des (verbalen!) Wesens des Menschen. »In der Sammlung wird das jeweilige Dasein frei für sich selbst, für die gerade ihm gegebene ursprüngliche Erfahrung.«85 Im Sichsammeln zum Gesammeltsein geht uns die ganze Weite unseres Daseins auf. Dieser Vollzug des Innestehens im Ganzen geht vom augenblicklichen Sichzurückholen auf das leibhaftige Anwesen an einem Ort aus, wo wir gewahren können, wie wir leibhaftig eins werden mit uns selbst und (schrittweise) eins werden ringsum mit allem. Mit uns selbst können wir nur in dem Maß eins werden, als wir 85 K. Baier, Phänomenologie der Sammlung, 42.
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gewahren, dass und wie wir uns selbst stets gegeben sind und es uns alltäglich aufgegeben ist, dieses Anwesen unserer selbst verantwortlich zu übernehmen. Diese besonders im Vorfeld philosophischer Theologie wichtige Grunderfahrung des Einswerdens und Einsseins muss im Ansatz von einem Missverständnis freigehalten werden. Einssein meint nicht ein Verschmelzen dem Bestand nach (Bestandsidentität), sondern es ist im Sinne aristotelischer Identität des Vollzugs (kat’energeian: energetische Identität) ein Verbundensein von Differentem in der Selbigkeit des Sichereignens, so wie wir beispielsweise unser Einssein als Wahrnehmende mit dem Wahrzunehmenden vollziehen: Wir schauen hin und sind dort anwesend (nicht dort Anwesende!). Dass der Mensch in gewisser Weise, nämlich in der Dimension ,offener Weite‘ (oder ,ausgedehnter Leere‘), in seinem Anwesen das Ganze des Anwesenden ist, wird aus dem Vollzug der Sammlung zu verstehen sein und ist sonst – streng genommen – unvorstellbar oder eine spekulative Verirrung. Auf die Bedeutung dieses Sammlungsvollzugs für ein ursprünglicheres Verstehen der transzendentalen Eigenheiten des Seins (Anwesens) muss später eingegangen werden. Das hier als Sammlung Angesprochene bildet auch eine Brücke zu einem ursprünglicheren Verständnis außereuropäischer Philosophien und hat ein Gegenstück mindestens in der advaita-Philosophie, in der gerade aus leibhaftiger Sammlungserfahrung geschöpften Lehre von der Nicht-Zweiheit. Von da aus ist es nur ein kleiner Schritt, das Einssein unseres Daseins in der Welt mit und in ihrem abgründigen Ursprung zu erblicken, Atman (Selbst, Seele, auch Person) und Brahman (Urgrund, ,Gottheit‘) unvermischt und ungetrennt als dasselbe, »eines ohne ein zweites« (als Nicht-Dualität, advaita), zu verstehen. Das sei vorweg angedeutet. Diese Betonung des Aufgangs der Weltweite im Sichsammeln – der Weite des je eigenen Selbstseins im Selberanwesen – schließt daher nicht aus, sondern im Gegenteil ein, dass Sammlung so viel wie Selbstbegegnung, Einkehr bei sich selbst, In-sich-Gehen, Verinnerlichung ist. Jedoch ist diese Innerlichkeit ein der Weltoffenheit Innewerden, Insein und Innestehen, eben kein narzisstisches sich Abschließen, bei dem man körperlich zwar vorhanden bleibt, sich aber aus dem Sinnesleben zurückzieht und versucht, sich gegen die Wege der Sinne und das, was sie erschließen, abzukapseln. Das Sichsammeln ist kein Wegtreten, kein Aussteigen in rein geistige oder gar überweltliche Sphären, sondern es ist ein geerdetes Sichoffenhalten des Menschen, ein leibhaftiges Verwurzeltsein im tragenden Boden, ringsum horchend offen, durch die Atmung der Umgebung eingeborgen: Sichsammeln ist »vermutlich der leiblichste aller Vollzüge des Menschen«.86 Die 86 Ebd.
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hier angesprochene Sammlung meint also kein entmenschlichendes, schizoides Sichverhalten, das die Welt der Sinne und Leidenschaften auszuschalten sucht und sich auf ein abstraktes Leben des Intellekts, des Geistes, zurückzieht, vorbei an der leiblich durchwohnten Welt und an der Geschichtlichkeit mitmenschlichen Daseins. Keineswegs geht es in der Übung der Sammlung als Propädeutik der Philosophie um die Abkehr von der sinnenhaften Leibhaftigkeit, wie sie innerhalb der platonistischen Tradition empfohlen wurde. Als wirkungsgeschichtlich folgenschweres Beispiel für sie sei der Meditationsvorschlag Descartes’ angeführt: »Ich werde nun meine Augen schließen, meine Ohren verstopfen, alle [meine] Sinne abberufen, ich werde auch alle Bilder von körperlichen Dingen […] aus meinem Denken tilgen […]; und indem ich mit mir allein spreche (meque solum alloquendo) und tiefer in mich hineinblicke, werde ich mich bemühen, mich mir selbst nach und nach bekannter und vertrauter zu machen.«87 Zur Gewissheit, eine »denkende Sache« zu sein, einer solchen Innenwelt selbst gewiss zu sein, gehören die Sinnesempfindungen und Einbildungen als Modi meines Denkens in mir. Das Verschließen der Sinne gilt den von außen kommenden Ideen (Sinnesbildern), von denen zweifelhaft ist, ob sie existierenden Dingen der Außenwelt ähnlich sind. Mit sich allein, in dieser Ich-Einsamkeit, sucht Descartes eine Idee, deren Ursache er nicht selbst ist, sondern die ihn (und alle Dinge) verursacht. Und er findet jene Idee, die so beschaffen ist, dass sie ihm den existierenden Gott repräsentiert. Descartes’ Vergewisserung der Existenz des Gottes der christlichen Religion unter Abscheidung von der äußeren Welt setzt eine lange meditative und primär religiös ausgerichtete Tradition fort. Wir sind ihr in den Soliloquia des zum christlichen Neuplatonismus bekehrten frühen Augustinus begeg net, der ganz und gar nichts anderes (nihil omnino) als Gott und die Seele zu wissen begehrte und folgerichtig glaubte, dies originär nur an seinem ,äußeren‘ Menschen (homo exterior) und damit auch am Mitmenschen vorbei vollziehen zu können.88 Das griechische Paradigma für diese Art der Sammlung findet sich in Platons Phaidon. Ihre Übung wird ausdrücklich für das Philosophieren – also propädeutisch – für notwendig gehalten, setzt aber, was mehr Beachtung finden sollte, die ewige Dauer der vom Leib abtrennbaren Geistseele, welche die Ideen schaut, voraus. Die Seele ist dadurch insofern geschichtsfremd, als sie durch ihre Wiederverkörperung, d.h. durch Zeugung, Geburt und Tod, nicht wirklich in ihrem Wesen berührt wird: »Es erkennen nämlich die Lernbegierigen ( filomaϑeß), dass die Philosophie ihre Seele […] milde tröstet und zu lösen versucht, indem sie zeigt, dass alle 87 R. Descartes, Meditationen. Dreisprachige Parallelausgabe, Beginn der dritten Meditation, 97. 88 Siehe oben 1. Kap., 1.3.2.
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Betrachtung durch die Augen voll Trug ist, voll Trug auch die durch die Ohren und die übrigen Sinne; und sie darum zu überreden sucht, sich von diesen zurückzuziehen (acwren), soweit es nicht notwendig ist, sie zu gebrauchen; und sie auffordert, sich in sich selbst zu sammeln (xullgesϑai) und hereinzuholen und keinem Anderen zu glauben, als eben sich selbst, (nämlich dem,) was sie [die Seele] rein für sich selbst an ntwn, hier: die Ideen] erkennt.«89 Auf den Dingen als das an sich selbst Seiende [t wn die rechte Weise zu philosophieren heißt, die Gemeinschaft mit dem Körperlichen zu fliehen, sich zu reinigen, indem man sich vom Leib absondert, und sich (so weit als möglich) daran zu gewöhnen, auf diese Weise übersinnlich in sich (im Denken des Vernünftigen, Unsterblichen und Göttlichen) gesammelt zu bleiben.90 Hier fragt sich nicht nur, wie ohne positives Verhältnis zum Leibsein unsere geschichtliche, durch alle Lebensalter gehende Anwesenheit in der Welt und damit auch die mitmenschliche Offenheit im personal-dialogischen Gegenübersein möglich sein soll, sondern auch, ob diese Horizontverengung nicht zu einer den Sinn der Seienden verkürzenden Sicht führen muss. Im Gegensatz zur platonischen Propädeutik der Philosophie, die immerhin der Sache nach eine solche für notwendig hält, hat sich die uns heute aufgegebene Sammlung auf jenen ihr optimal möglichen Gesamtvollzug des menschlichen Daseins einzulassen, der in den Wurzelboden, in die Ursprünge hinabreicht. Von da aus könnte die provokante daseinsanalytische These verständlich werden: Es gibt keine Vollzüge des Menschseins, die nicht leiblich sind. Erste, anfängliche Philosophie als ein Denken, das auf das Ganze und den Grund geht, ist in ihrem Grundvollzug das Denken des durch und durch leiblich situierten Menschen, ist leibhaftiger Austrag seiner Weltoffenheit, seines jeweiligen Weltaufenthaltes, geerdetes Sichtragenlassen und so Vertrauen in den Grund dieses Anwesens im ,Da‘.
Hervorgehoben seien zwei Wesenszüge von Sammlung: die mitmenschliche Offenheit (a) und die raum-zeitliche Leibhaftigkeit des Daseins im gelassenen Atemrhythmus (b), die im Sammlungsverständnis der platonistischen Tradition ausgeschlossen erscheinen. 89 Platon, Phaidon, 83 a (Übersetzung: R. Guardini, 1987, Der Tod des Sokrates, 204). 90 Vgl. Platon, Phaidon, 80 e, 81 a, 82 c–83 b.
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2.7 Konkretisierung einiger Wesenszüge der Sammlung im Rückgang auf das eigene ,Da-sein‘ als leibhaftiges Sein mit Anderen
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a) Eine der größten Versuchungen ist es, die Mitanwesenheit Anderer für die Sammlung zu ignorieren. Wir können uns gemeinsam schweigend mit Anderen sammeln. Dann sind wir in der Sammlung aufeinander bezogen da. Das Bezogensein ist besonders deutlich, wenn wir einander nicht zu stören suchen. Ziehen wir uns von Anderen zurück, um uns von Anderen unbehelligt zu sammeln, so bleiben wir dennoch die auf Andere Bezogenen. Als Mitmenschen existieren wir immer schon im Raum der Anwesenheit Anderer: der uns Nahe- und Fernstehenden, der gegenwärtig An- und Abwesenden, der Lebenden und als ,Hinterbliebene‘ sogar der Verstorbenen. Wenn die Anderen gerade lokal abwesend und wir allein sind, bleiben wir und sie immer Mitanwesende. Auch im Gedränge uns fremder Menschen können wir allein sein, d. h. wir treffen auf sie als uns Fernstehende; Nahestehende gehen uns ab. Dieses Alleinsein ist daher nicht mit einem faktischen Nichtdasein Anderer zu verwechseln. Wer in einem soziologischen Sinn gerade faktisch allein, ohne Andere da ist, eksistiert notwendig und wesensmäßig immer auf Andere bezogen und im Anwesenheitsraum Anderer. Auch ohne der Anderen bedürftig zu sein, oder verlassen von Anderen, vereinzelt, isoliert oder vereinsamt, bin ich immer noch auf Andere bezogen, ebenso wenn ich mich und das störungsfreie Alleinsein genieße und mich gegen den Bezug Anderer zu mir abzuschirmen versuche, Andere losgeworden bin, an niemanden mehr außer an mich denken will, oder wenn ich am Mangel kommunikativer Bindung leide. Immer sind die Anderen mit da, wenn auch unauffällig als irgendwie Mitanwesend-Abwesende. Was wir entdecken, wenn wir gründlich genug in uns gehen, ist, dass unsere Sorge um Andere erwacht. Aber in der Sorge um sie erschließen auch sie sich in ihrem Sorgetragen oder ihrer Sorglosigkeit uns gegenüber, ja erschließt sich, dass der Bezug Anderer zu uns, denen wir unser eigenes Dasein bis hinein in das Alleinseinkönnen (mit)verdanken, unserem Selbstbezug vorgängig ist und ihn mitträgt. Der Bezug des Daseins Anderer zu uns (ihr Mitanwesen) ist für uns konstitutiv und ursprünglicher als jede Selbstbezogenheit. Aus dem Gesagten wird deutlich, dass jede echte Sammlung eine Weise des Miteinanderseins ist: die Öffnung des Raums personalen Miteinanderseins, in dem wir einander unser Selbstsein mit-teilen, d.h. miteinander teilen. Aber nicht jedes Miteinandersein ist ein gesammeltes, im Gegenteil. In Abkehr vom mitmenschlichen Bezug, im Sichverlieren an die ,Ich-Einsamkeit‘ haben wir keine Möglichkeit, uns im Anwesenheitsbereich unserer primären Bezugspersonen zu sammeln. IchEinsamkeit schließt freilich nicht ein faktisches Beisammensein, ein Komplizentum in der Zerstreuung und im Zeitvertreib aus. Es ist für die Ungesammeltheit bzw. Pseudogesammeltheit charakteristisch, dass in ihr die Selbstbezogenheit existenziell und theoretisch als primär angesetzt wird und sich die Herkunft des Selbstseins (nicht des Selbstseienden!) aus dem Schoß des Mit- und Füreinanderseins entzieht.
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b) Eine Beschreibung des Sichsammelns sollte immer bei der Leiberfahrung ansetzen und auf sie zurückkommen.91 Zunächst geht es überhaupt nur darum, erst einmal anzukommen und einen uns ansprechenden Ort zuzulassen, an dem wir leibhaftig eine gewisse Zeitspanne lang verweilen können.92 Er wird ausgewählt, weil er zur Sammlung geeignet erscheint, tiefer gesehen, weil von ihm so etwas wie eine Anziehung, ein lautloser ,Ruf ‘ ausgeht: Hier könnte es sein, nun halte hier stand! Dies ist nun der Ort deines Aufenthaltes in der Welt, der sich im Sichsammeln weiter zu öffnen vermag. Es muss nicht wiederholt werden, dass dieses leibhaftige Selberanwesendwerden in der Sammlung unausweichlich mit Rücksicht auf Andere geschieht, gleich ob sie an- oder abwesend sind, ob wir sie wahrnehmen oder nicht, an sie denken oder nicht. Sie sind durchaus da, nah oder fern, gewesen oder im Kommen. Dass wir nun da sind, verspüren wir primär am eigenen Leib und so ist das Wachwerden der Leiblichkeit für das Anwesendwerden im gesammelten ,Dasein‘, wörtlich verstanden, ,grund-legend‘. In einer elementaren Selbstbesinnung spüren wir beispielsweise, wie wir uns hier niedergelassen haben, an einem Ort sitzen, mit unserem Gewicht am Sitzplatz 91 Hierzu vgl. K. Baier, Die Relevanz einer Phänomenologie des Leiblichseins für die Spiritualität und ihre Abgrenzung vom psychosomatischen Denken, in: K. Baier, Sitzen. Zur Phänomenologie einer spirituellen Grundübung, 245–260. 92 Es könnte auch ein bestimmter Weg oder eine Weise sich zu bewegen sein.
Zweiter Exkurs
Der Ursprung der Sammlung ist als personales Beziehungsgeschehen zu denken: Wir können uns selbst sammeln, weil und insonah wir im Raum der Sammlung Anderer, im Offenheitsbereich ihrer Zuwendung, in unserem Ganzsein zugelassen worden sind und diese Möglichkeit zu sein selbst übernehmen. Wir haben im Raum ihrer Sammlung uns selbst zu sammeln angefangen, oder wir haben in der zerstreuten Ortlosigkeit an uns vorbeilebender Anderer angefangen, die Möglichkeit zum Vollzug des gesammelten Selbstseins zu verlieren. Das zum geeinten Selbstvollzug Freigegebensein im gesammelten Anwesen Anderer ist und bleibt konstitutiv für das Sichselbstsammeln. Im Raum der personalen Begegnung, in dem Offenen, das die Mitteilung des personalen Selbstseins ermöglicht, verdanken wir einander die Sammlung und bringen wir einander zur Sammlung. Für die Übung der Sammlung bedeutet das, dass sie nicht als individualistische Privat- oder Fluchtpraxis missverstanden werden darf. Das Sichsammeln ist also (auch wenn wir faktisch ohne Andere allein da sind) wesentlich ein Miteinanderanwesen. Es geschieht mit den Anderen, durch die Anderen und für sie. Die Sammlung bringt uns zueinander. Sie stiftet eigentliches personales Miteinandersein. Das Gesagte wird noch verständlicher, wenn wir von unserer Leiberfahrung ausgehen.
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aufruhen. Indem wir immer wieder innehalten, gewahren wir, wie wir mit dem Untergrund eins sind und wie er uns aushält, stabil, nicht schwankend, aus dem Unergründlichen heraus trägt und Grund gibt, der uns nach oben, bis in den Kopf, durchragt. Wir sitzen aufrecht, spüren unseren Leib, den Kopf zwischen unseren Ohren, unser Gesicht …, unsre Hände …, die Füße …, da und dort die Verspannungen, die wir lösen können … Wir halten ringsum einen Bereich horchender Anwesenheit offen … oder richtiger: Wir werden dessen inne, dass uns eine solche ,Um-gebung‘ zu halten scheint. Würde es nun ganz still und versuchten wir völlig ruhig zu werden, so fänden wir uns dennoch rhythmisch bewegt vor: Wir sind uns als Atmende gegeben. Wenn uns die Ruhe überkommt, verlangsamt sich die Atmung. Wir folgen regungslos dem Ruf in ein Unbewegtsein, das keine Erstarrung ist, das der unbewegt tragende Untergrund frei gibt. Wir tauchen in ein unbewegtes Bewegtsein ein und halten uns im Gleichgewicht bewegter Unbeweglichkeit auf. Finden wir uns so gesammelt in die alles verbindende Mitte unseres erdverbundenen, in die Tiefe gehenden Wesens vor und lassen wir zugleich die Anziehung, die aus dem Oben kommt, zu, so kann dieses Ausgespanntsein zwischen Himmel und Erde geradezu als kosmisches Ereignis erfahren werden. So oder ähnlich kann eine Übung der Sammlung in aller Kürze beschrieben werden. Um Missverständnisse zu vermeiden, betrachten wir näher, wie das Gesagte gemeint ist: Das Sichsammeln als leibhaftiges Anwesendwerden, um einfach da zu sein, meint nicht, sich bewusst zu machen, dass man in einem von Empfindungen erfüllten Körper vorhanden ist. Eine solche Vorstellung, die wir uns von uns machen, verstellt uns die sich uns erschließende Eigenerfahrung. Dies lässt sich besonders am unverstellten Phänomen der Atmung gut zeigen93 – vorausgesetzt, dass man sich Atmung nicht physiologisch verkürzt als Gasaustausch zum Zweck der Energieproduktion vorstellt oder mechanisch, wie einen Blasebalg, der Luft einzieht und wieder hinauspresst. Achtet man stattdessen auf die Atmung als jeweils meine gesamtmenschliche Weise, anwesend zu sein, dann kann man entdecken, dass der Atem in besonderer Weise darauf angelegt ist, das gesamte Geschehen der Sammlung leibhaftig werden zu lassen. Aus diesem Grund wird überall in den verschiedenen Meditationskulturen die Übung des Atmens als Weg der Einweisung in die Sammlung praktiziert. Mit der Atmung geschieht mir etwas Unfassbares, das aus mir und über mich kommt, und zwar vor aller Möglichkeit, den Atemfluss durch Techniken aktiv zu verändern. Ich kann dieses mein Atmen auch einfach nur geschehen lassen. Meinen Atem mache ich 93 Zur Phänomenologie atmenden Daseins vgl. K. Baier, Sitzen. Zur Phänomenologie einer spirituellen Grundübung, 257–260.
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nicht. Werde ich nicht viel mehr geatmet (,inspiriert‘)? Ich erfahre in der Atmung unmittelbar, wie ich mir zur Übernahme meiner selbst gegeben werde und bin. Wichtig ist auch, die sich zwischen uns und unsere eigene Erfahrung schiebende physiologische Vorstellung einer Lungenatmung beiseitezulassen. Der in der Atmung Geübte atmet als ganzer Mensch und erfährt sich im Ein- und Ausströmen des Atems in die Umwelt eingebunden. Dem entspricht übrigens physiologisch die Hautatmung. Anhand der Atemerfahrung kann die Grundbewegung, in der wir im Sichsammeln unser Dasein zulassen, expliziert werden. Haben wir tief ausgeatmet, dann können wir den Atem (Es) kommen lassen. Wir atmen ein und aus, der Atem kommt und geht, geht auf und ab. Das ist ein nach oben aufgehendes Sichöffnen, Sichgebenlassen, Sichweiten, ein Sein im Bezug zum Offenen; dann das Ausatmen: ein Sichloslassen, Sichhergeben, Sichniederlassen und auf den Grund kommen und mit ihm eins werden. Die Erfahrung der Atmenden ist dieses Einbehaltendürfen und Freiwerden, Sichweiten und Tiefwerden, Sichöffnen und Einswerden. Das Sichsammeln in der Atmung ist also nicht die Beobachtung eines an unserem Körper ablaufenden Vorgangs, sondern ein Gewahrwerden unserer selbst in der Atmosphäre des Raumes unserer Anwesenheit. In diesem Offenen des Luftraumes vollziehen wir die Atmung. Wir lassen uns auf unser Anwesen in der Welt im gelassen atmenden Bezug zur Weite des Seienden im Ganzen und zur Tiefe des Grundes ein. Das gesammelte Dasein ist das aktiv und leibhaftig gelassene. Das Seinlassen der Atmung bringt eine Umstimmung: Der gelassen Atmende wird ruhig und still, findet hinein in eine horchende Haltung. Wir haben sie als methodischen Grundzug einer Phänomenologie ursprünglicher Erfahrung schon angesprochen. Zur Sammlung gehört das Stillwerden und Schweigen.94 Erst im Schweigen geht uns das Anwesen (Sein) im Da auf, spricht es sich uns zu. Schweigen und Stillsein verlangt mehr von uns, als nichts zu reden bzw. kein Geräusch von sich zu geben. Stillwerden ist ein Stillwerden des ganzen Menschen und geschieht im Horchen. Horchen heißt, uns den Bereich des hörenden Vernehmens um willen des sich uns Zusprechenden offen zu halten. Das gesammelte Horchen ist ein Sichhinausspannen in die Stille, die den Hörraum der Welt bildet, ein Eingehen in die Stille, welche die Offenheit für alles Hören von etwas oder jemandem bildet, ein Entsprechen gegenüber dem lautlosen Zuspruch jeglichen Anwesens von Anwesenden. Nur in einer horchend-vernehmenden Haltung haben wir etwas zu sagen. Das sagende Verlauten unterbricht dann das Schweigen nicht. 94 Siehe dazu auch oben 1. Kap., 2.2.4.4 a); vgl. hierzu auch den informativen Artikel »Schweigen, Stille« von G. Wohlfart/H. Kreuzer, in: HWP, Bd. 8, Sp. 1423–1495.
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Zweiter Exkurs
Die Stille ist nicht nichts, nicht Abwesenheit von Lärm, nicht Freisein von Beschallung, sondern die lautlose Sprache des Unaussprechlichen, das uns sprechen lässt. Sie wird häufig als beängstigende und belastende Leere erfahren. Man reagiert heute auf sie epochal und global mit »Vertreibung der Stille«95, mit dramatischer Zunahme des Lärmpegels und entsprechender Anpassung durch Lärmtoleranz. Diese bringt, abgesehen von gesundheitlichen Schädigungen, eine Not sonderlicher Art hervor: ein Geübtsein im Weghören. Vielleicht ist dieses aufgenötigte Training des Weghörens im Vorfeld möglicher Erfahrung des Göttlichen einer der wichtigsten Gründe, welche für das Angesprochenwerden durch Göttliches oder Numinoses unzugänglich machen. Im gesammelten Vollzug des gelassenen Atems wandelt sich der Bezug zur Räumlichkeit des Daseins, die wir als das vom Sammlungsort her rundum Offene des Seins in der Welt schon angesprochen haben: »Der Raum der Sammlung, der sich dann auf tut, ist gekennzeichnet durch ein Verbundenheitsgefühl mit der Umgebung, das nach allen Richtungen des uns umschließenden Raums geht. In dem rundum Offensein, in das uns die Sammlung bringt, tritt der Raum als Medium trennender Abstände zurück. Er zeigt sich als ein Offenes, […] in dem wir inständig sind, mit dem wir atmend kommunizieren und das wir durchspüren, mit unserer leiblichen Präsenz bewohnen. Das atmende Verbundensein mit der von sich aus nahe kommenden Ferne verbindet uns mit allem.«96 Auch der Bezug zur Zeitlichkeit des Daseins wandelt sich: »In der Sammlung lässt sich das Dasein im gelassenen atmenden Rhythmus Zeit. Es lässt sich die Zeit, die ihm gegeben ist und wird zur sich zeitigenden Ganzheit versammelt.«97 Der sich Sammelnde verweilt in der Gleichzeitigkeit von Gewesensein und Zukünftigsein im Augenblick der Gegenwart. Was wir hier gewahren können, ist entscheidend: Dass nicht primär wir es sind, die sich im gegenwärtigen Augenblick zum Anwesendsein und zum Abwesendsein (dem Gewesensein und dem Zukünftigsein) verhalten, als wären das die Subjektivität expandierende Entwürfe, sondern vielmehr verhält sich die Zeit zu uns. Wir haben uns Zeit genommen, anwesend zu werden, und gewahren, wie die Zeit zu sein uns zufließt und gegeben ist.98 Wir erfahren ständig, ,Es gibt uns Zeit, um zu sein‘. Spüren wir dem nach, wie das ist: Wir halten einen Augenblick aufmerksam inne. Was gewahren wir dann? Dass wir noch immer da und uns selbst 95 R. Liedtke, Die Vertreibung der Stille. 96 K. Baier, Phänomenologie der Sammlung, 44. 97 A.a.O., 45. 98 Zeit wird hier als befreiende verstanden, nicht nur als negative Herrschaft der chronologischen Zeit (wie bei M. Theunissen, Negative Theologie der Zeit, 41, 55), in der ein Jetzt das andere jagt und nichtig erscheinen lässt, missverstanden.
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gegeben sind, immer neu und erneut. Eigentlich ist das erstaunlich: die Einmaligkeit des Augenblicks tritt hervor; die Zeit verliert ihre Selbstverständlichkeit und wird kostbar. Unser Dasein ereignet sich einzigartig und einmalig aus einem unergründlichen ,Es gibt‘. Zeit als Versammlung von Zukunft und Gewesenheit in eine Gegenwart ist sich ereignendes Anwesen, an dem wir teilnehmen, das den abgründigen Ursprung allen Anwesens mitbekundet. Durch solche Raum- und Zeiterfahrung in der Sammlung wird die Zerstückelung des Daseins aufgehoben, die wir in der sich überstürzenden Hektik der durch die Uhr gemessenen Jetzt-Folge, an der wir uns alltäglich orientieren, sowie in räumlichen Abständen erleiden. Wir vollziehen ja unser Anwesen, indem wir selbst ganz da sind, also als Ganze, wodurch der in die Akte des Wahrnehmens, Erinnerns, Erkennens, Fühlens, Handelns u.a. aufgespaltene Selbstvollzug auf seine ursprüngliche Einheit zurückgeführt wird. »Der Vollzug der Sammlung verwischt dabei nicht die Unterschiede, aber er lässt trennende Scheidewände fallen, dies sowohl in Bezug auf das Zusammenspiel unserer verschiedenen Vermögen, wie auch in unserem Bezug auf das Seiende im Ganzen, der mittels ihrer vollzogen wird.« 99 Wir nehmen uns zurück in die reine Anwesenheit, in der alles ungeschieden liegt und zugänglich ist, und treten ein in ein Erfahren des alles umgreifenden und tragenden Geheimnisses des Seins. Da ist jede Subjekt-Objekt-Spaltung, jede Zweiheit im Gegenüber zurückgenommen in die Nicht-Zweiheit, die durchaus alles und jedes in jenes Eigene frei gibt, was es von seinem Ursprung her ist. Das Anwesen in seiner offenen Weite ist nicht dies und das, nicht jenes und anderes, es ist überhaupt kein Seiendes, sondern so gesehen nichts von allem, und zwar phänomenal positiv ein ,Nichts‘ in allem. Die Frage, inwiefern Nichts und Sein (Anwesen) dasselbe sein können, wird sich daher stellen. Indem Anwesen sich uns aus verborgener, in ihrer Verborgenheit widerfahrender Quelle ereignet, versetzt uns die Sammlung an den Ort, von dem her wir jeweils selbst und überhaupt alle Seienden in die Unverborgenheit des Anwesens, des Seins, treten: »Sie ist ein Wohnen im ortlosen Ort des Ursprungs.«100 Aller Ursprung ist insofern ortlos, als er kein Ort unter anderen Orten ist, zumal jeder Raum gewährende Ort seine Ursprünglichkeit besitzt. Gemeint ist die Erfahrung, dass der jeweilige Zeitspielraum des Aufgangs in die Unverborgenheit sich dem ständigen Geben einer einzigen Verborgenheit verdankt, die uns vertraut ist und ständig begleitet, in der wir uns selbst immer schon mitverborgen sind: einem Quellgrund, aus dem und von dem her wir Zeit zu sein haben und uns in unserem Anwesen verstehen können. 99 K. Baier, Phänomenologie der Sammlung, 45. 100 A.a.O., 45.
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Zweiter Exkurs
In der Sammlung gewahren wir das, worum es in der Philosophie geht: uns selbst miteinander in der Weite und Tiefe der Welt. Sie ist eine einzigartige Weise, das in die Unmittelbarkeit ankommen zu lassen, worum es im Dasein geht. Methodisch hat Phänomenologie von der optimalen Gegebenheit ihrer Phänomene auszugehen. Das menschliche Phänomen ist sich selbst erst in voller Leibhaftigkeit des gesammelten Daseins zugänglich. Sammlung ist, wie wir gesehen haben, als propädeutischer Zugang zur Philosophie und ihrer philosophischen Theologie nicht bloß ihr anregender Beginn oder gar nur eine äußerliche Vorbedingung, sondern sie ist eine innere Notwendigkeit des Philosophierens selbst, in die sie immer wieder zurückkehren muss. Gegen das Gesagte ließe sich der Einwand erheben, dass seit alters her das Fragen als der maßgebende Zug des philosophischen Denkens gilt. Bewährt sich Sammlung, wenn sie ernsthaft und radikal mit dem, was als Anfang und Aufbruch des Philosophierens gilt, konfrontiert wird, nämlich mit dem Fragen? Beruhigt und beschwichtigt Sammlung nicht die leidenschaftliche Suchbewegung unseres Fragens? Ist sie nicht eher als ein illusionäres Quietiv denn als ein Beweggrund ursprünglichen Philosophierens zu bewerten? Oder bringt uns Sammlung – solange sie in ihrer Spannkraft durchgehalten wird – in ein Vorfragliches zurück, zu einem Entsprechen, Innesein und Einklang mit dem, was im Grunde ist und was in bleibender und darüber hinaus noch zunehmender Fragwürdigkeit zu denken gibt ?
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Zur Einführung in die Philosophie: Einführung in die Ontologie Wie immer wir Philosophie verstehen, in sie hinein gelangen wir nur durch ein wahrhaftes, ursprüngliches, echtes und ernsthaftes Fragen – erst recht dann, wenn wir fragen müssen, von woher, wodurch und wie wir in das Fragen kommen und ob unser Fragen sich dem der Frage Würdigsten verdankt. Wir werden uns zunächst der Fraglichkeit als der Eigenart philosophisch bedeutsamen Fragens zuwenden (3.2), und zwar im Hinblick auf jene Frage, mit der wir methodisch-systematisch nicht nur beginnen wollen, sondern mit welcher der Anfang des Denkens der Philosophie (und damit der philosophischen Theologie) zu machen ist: auf die ontologische WarumFrage nach dem Seienden im Ganzen sowie dem Sein als Grund. Fragwürdig und problematisch ist, ob und wie diese Frage ein ursprüngliches Philosophieren eröffnen oder verbauen kann, und weiter, wie es um ihre Eigenart und Beantwortbarkeit steht (3.2). Daraus wird sich die Notwendigkeit einer vorläufigen Klärung des Verständnisses von Seiendem, Sein und Nichts ergeben (3.3). Im Rückblick rechtfertigen es diese Überlegungen, von einer phänomenologischen Einführung in den Anfang der Ontologie zu reden, die zugleich in die Philosophie (und mit ihr in die philosophische Theologie) einführt. Daraus ist auch ein gewisser Vorrang der Ontologie innerhalb der philosophischen Sachgebiete ersichtlich, insofern in ihnen irgendein Seinsverständnis unausweichlich impliziert ist und mitspricht.
3.1 Zur Fraglichkeit philosophischen Fragens 1 3.1.1 Das Fragen nach der Frage
1 Verwiesen sei nur auf die zum ganzen Folgenden wichtigen Werke von G. Pöltner (1972b), Zu einer Phänomenologie des Fragens; ders. (1978), Erfahrung radikaler Fraglichkeit als Grundlage einer Philosophischen Theologie; F. Wiplinger (1962), Warum das Warum?; ders. (1968), Das Fragen als Anfang der Philosophie; ders. (1970), Der personal verstandene Tod; ders. (1976), Metaphysik: Grundfragen ihres Ursprungs und ihrer Vollendung; R. Kijowski, Ursprüngliche Erfahrung als Grund der Philosophie. Eine Auseinandersetzung mit Fridolin Wiplingers Philosophieren, 112–132; neuerdings T. Eilebrechts Monographie »Durch Fragen ins Offene« über das radikale Fragen in Heideggers Werk, sofern es seine Denkwege charakterisiert. Bemerkenswerte Begriffsklärungen auch aus sprachanalytischer Sicht bei J. Walther, Logik der Fragen.
Dritter Exkurs
Zur Frage steht, wie und mit welcher Frage wir über ein von alltäglichen Sorgen und Interessen geleitetes Fragen hinaus überhaupt in ein Fragen kommen, das entdeckt, was mit Philosophie gemeint sein kann. Wollten wir die Vielzahl der
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Definitionsvorschläge von Philosophie sichten, so wäre ja die Frage zu stellen, von woher und woraufhin wir sie überprüfen sollten. Wir könnten von den sie leitenden Fragen ausgehen, setzten aber dabei fraglos unkritisch voraus, dass wir über das philosophische Fragen schon orientiert sind. Wir könnten sogleich nach dem Vorverständnis unseres eigenen Philosophierens weiterfragen, denn ein solches bringen wir mit unserer Frage nach dem Anfang philosophischen Denkens ja eingestandenermaßen schon mit. Doch halten wir diese Überlegung zurück und suchen vorerst, die Frage als Frage in ihrer Fraglichkeit wenigstens kursorisch zu vernehmen, um einen besseren Einblick in das Wesen unseres Fragens zu erhalten. Sehen wir uns um, wie wir fragen, wenn wir fragen. Was ist das, das Fragen als Fragen? Was heißt uns fragen? Warum fragen wir überhaupt? Wir werden uns immer wieder zu fragen haben, ob wir jeweils wahrhaft, eigentlich, echt, ernst und überhaupt ursprünglich genug fragen. Fragen sind primär auf Antworten ausgerichtet. Fragebezogen können aber auch Erwiderungen sein, die streng genommen die Frage nicht beantworten, Klärungen der Frage verlangen oder sogar behaupten, sie sei unbeantwortbar. Es wäre dann die Frage, ob und wie das begründet werden kann. Weil echte Antworten, die auf Fragen gebbar sind, seien sie ausgesprochen oder nicht, Fragen beantworten, können diese Fragen nachträglich als Implikate aus ihnen herausgeholt werden. Eine Behauptung (und ebenso die Erwiderung) kann eigentlich nur verstanden werden, wenn sie diejenige Frage, die zu ihr geführt hat, sei sie ausgesprochen oder nicht, beantwortet.2 Die Frage kann in der gegebenen Antwort auch umgangen werden oder unbeantwortet bleiben, dann antwortet die Antwort zwar immer noch auf eine Frage, aber der ,Fragepunkt‘ wurde unter der Hand geändert (was man in der Logik mutatio elenchi nannte). Dann liegen uneigentliche Antworten, Scheinantworten, vor, die eigentlich gar keine Antworten darstellen, aber von Erwiderungen auf Fragen zu unterscheiden sind, welche die Antwort ausdrücklich verweigern, sich außerstande sehen, sie zu beantworten, ihre Legitimität bestreiten, mit Rück- oder Gegenfragen entgegnen usw. Jede eigentliche und echte Antwort, in der etwas begriffen, behauptet, begründet usw. wird, kann nicht nur formalisiert oder grammatisch auf bestimmte Fragen zurückgeführt werden (beispielsweise die Fragen: Was ist das? Ist es? Warum ist es?), sondern auch sachlich auf bestimmte Fragen, die den Phänomenbereich des hier und jetzt Fraglichen aufschließen. Zwar bleiben im Alltag gestellte Fragen oft unbeantwortet, von Scheinantworten zugedeckt oder brüsk zurückgewiesen, 2 Dass jede Aussage Antwort auf eine Frage sei und »nur so verstanden werden kann«, bezeichnet H.-G. Gadamer sogar als »hermeneutisches Urphänomen«, in: Die Universalität des hermeneutischen Problems (1966), in: Gesammelte Werke, Bd. 2, 219 –231, hier 226.
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ja nicht einmal erwidert, diskret übergangen oder wie auch immer – doch für ein sachgemäßes Denken ist die optimale Entsprechung von Frage und Antwort ,normativ‘, weil sie ihren ursprünglichen ,Sitz im Leben‘ in dem hat, was uns in einer mitmenschlichen Gesprächssituation, im Bezug zum Gegenüber angeht. Dieses einander Angehende steht eigentlich zur Frage. Das wahrhaft und eigentlich Zur-Frage-Stehende muss keineswegs in Fragesätzen artikuliert sein, ja nicht einmal durch ein ,fragendes‘ Sichbetragen (Gebärde, Mimik, Gestik) offenbar werden. Es bestimmt sich von dem her, was jemandem fraglich oder fragwürdig geworden ist. Versuchen wir, über das Wesen des Fragens etwas sachgemäß zu sagen, dann ist das nur vom Zur-Frage-Stehenden her möglich, wenn das Fragen selbst, das Fragen nach der Frage, einem fragwürdig geworden ist. Was Fragen ist, zeigt sich nur als Fragen. Nur von sich her im Phänomen des Fragens wird das Fragen selbst verständlich und auslegbar, und zwar in dem Ausmaß, als es jeweils mein Fragen ist und wir uns selbst unverkürzt auf das Fragen verstehen. Berücksichtigen wir, dass es immer jemand ist, der fragt, weil ihm etwas in einer bestimmten Situation (im Offenen der Welt mit Anderen) aus einer bestimmten Stimmung, Haltung, Interessenslage heraus als fraglich oder fragwürdig aufgeht und zur Frage steht, dann lässt sich jenes Missverständnis der Verdinglichung des Fragens und Antwortens vermeiden, das Fragen und Antworten wie Allgemeindinge, ideale Objekte, mit Relationen behaftete Seiende oder dergleichen behandelt. Echtes und ernsthaftes Fragen und Antworten kommt phänomenal so niemals vor. Dem situativen Bezug zum Fraglich- oder Fragwürdiggewordenen sind Grad und Gewicht der Ernsthaftigkeit des Fragens zu entnehmen gegenüber Unernst, Scherz, Leichtfertigkeit, Unzeitigkeit usw. Als Übungsbeispiel im Sprachunterricht ist ,Sein oder Nichtsein‘ nicht die Frage, die im Ernst gefragt wird, und zwar gerade dann, wenn die Unterrichtssituation ernst genommen wird. Fragen sind aber nicht deswegen von vornherein nicht ganz ernst oder unernst, weil sie an sich weder wahr noch falsch sein können (was syntaktische oder semantische Fehler nicht ausschließt). Dagegen sind Antworten, sofern sie etwas aussagen, entweder wahr oder falsch bzw. werden als wahr oder falsch in Bezug auf das aufgefasst, was sie als Urteilsbehauptungen entschieden ausdrücken. Aber als Fragende, denen es wie immer um die Entbergung von Verborgenem, um das Eksistieren in der Wahrheit geht, sind wir notwendig auf Wahrheit bezogen. An diesem Bezug bemisst sich, ob und inwiefern das Fragen ein wahrhaftes ist, denn Fragen, obgleich sie keine Aussagen sind, teilen mit diesen den Bezug auf befragte Sachverhalte bzw. fraglos Vorfragliches. Fragen können als Scheinfragesätze klar und verständlich sein,
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ohne einen Sachverhalt zu bezeichnen, zum Beispiel: ,Wann wurde Karl Marx ermordet?‘3 Die Zusammengehörigkeit von Frage und Antwort ist keine linguistische oder ontische Banalität. Das erweist sich durch jede wahrhafte und echte Frage, die mindestens als ausgesprochene, um zu einer Antwort zu führen, schon in einem ursprünglicheren Sinne ein ,Ant-worten‘ – das ,Ent-sprechen‘ eines offenständig Eksistierenden und Sichverhaltenden zu dem, was ist und sich zeigt – sein muss, insoweit wir im fragenden Sichverhalten uns auf das Fraglichgewordensein von Vorfraglichem offen einlassen. In einem echten Gespräch lassen wir uns auf die Erfahrung von solchem ein, das uns gemeinsam in seiner Fraglichkeit angeht, sich ,mit-teilt‘ und zu denken gibt. Dieses Aufbrechen der Erfahrung der Fraglichkeit (und die ihr entsprechende gemeinsame Offenheit) liegt ursprünglich dem Vollzug des Fragens zugrunde. In einem ursprünglichen Sinn kann daher nur gefragt werden, weil uns (jeweils mir und dir, auf meine und deine Weise) etwas fraglich geworden ist, und nicht, weil ich etwas von mir aus in Frage stelle und mir vorstellig mache. Was uns gemeinsam fragwürdig werden kann, muss nicht etwas außer uns sein, sondern unser personales Sein selbst in der Welt, die wir miteinander teilen, kann fragwürdig geworden sein. So kann sich eine Beziehung gegen alle Erwartung als in Frage gestellt erweisen. Um phänomenologisch einen Zugang zur ursprünglichen Frageerfahrung zu gewinnen, suchen wir in das Fragen selbst zu gelangen und betrachten wir das Fragen nicht verdinglichend, wie äußerlich vorhandene Gegebenheiten. Bildet man (entsprechend den Regeln der Grammatik) einen Fragesatz und sprechen wir die Frage aus, so ist das deswegen noch keine echt und ernsthaft gefragte Frage. Ebenso ist das (psychologisch erforschbare) Erleben, dass in uns ein Fragesatz abläuft oder dass Fragen unerledigte Aufgaben bilden, an die man sich gewöhnlich besser als an bereits erledigte erinnert, kein eigentliches Fragen. Gewiss kann in grammatischer und linguistischer Sprachanalyse, in Psychologie und Verhaltensforschung, in formalisierter interrogativer Logik sowie anderen Fachwissenschaften das Phänomen des Fragens vielseitig erforscht werden. Doch setzen diese Fachwissenschaften für ihre Fragen fraglos voraus, dass es das Fragen ,gibt‘. Sie befragen innerhalb eines vorgefassten Entwurfs (dem ihren Gegenstandsbereich konstituierenden Fragehorizont) das, was Fragen und Frage ist. Das Fragen ist ihnen auf diese Weise methodisch nur abkünftig, niemals in seiner Ursprünglichkeit zugänglich. Ihr 3 J. Walther, Logik der Fragen, 27, 35: »Der Fragesatz hat Sinn und drückt eine Frage aus, aber die entsprechende problematische Sachlage besteht nicht.«
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Zugang zur Frage ist nicht ein phänomenologisches Verstehen der Frage selbst von ihrem Wesen her und schon gar nicht ein Sichverstehen auf die Fraglichkeit des Daseins, sondern sie erklären die Frage jeweils von etwas anderem her, das fraglos außerhalb des Fragens als einem solchen liegt, sodass das Fragen als Funktion oder Wirkung von fraglos außerhalb des Fragens gegebenen Phänomenen erscheinen muss (Fragesatz, Erlebnis, Aufgabe, Informationsbedürfnis, Such-, Erkundungsoder Neugierverhalten usw.). Doch das eigentliche und mithin ursprüngliche Fragen der Frage ,gibt‘ es nur im eigenen Fragen selbst, sofern sich jemand wahrhaft durch die Fragwürdigkeit dessen, wonach in seinem Fragen konkret gefragt wird, bestimmen lässt. 3.1.2 Unechtes Fragen und problematische Fragehaltungen
Nach dem bisher Gesagten ist es besonders wichtig, dass wir eine Umkehr vollziehen, indem wir besonders die linguistische Orientierung am Fragesatz zugunsten der Sache, die in Frage kommt und zur Frage steht, aufgeben, und zwar gerade um eines ursprünglicheren Verständnisses von Fragesätzen willen. Dazu wenden wir uns wieder dem Fragesatz zu und prüfen, was geschieht, wenn wir einen Fragesatz wiederholt aussprechen, beispielsweise den nach dem Anfang des Philosophierens. Komme ich dadurch in das Fragen oder gar Philosophieren? Gewiss nicht. Das wiederholte Aus- oder Nachsprechen des Fragesatzes macht den Satz nicht fragender, im Gegenteil: Dem Fragenden verflüchtigt sich der konkrete Fragesinn der Frage. Auch verliert die Frage das Schwergewicht des existenziellen Ernstes. Ihr mangelt die echte Bestimmungskraft dessen, wonach gefragt wird: des in der Frage Gefragten. Die im Wonach der Frage zugelassene Fraglichkeit des Befragten, nicht aber ein Fragesatz, lassen uns fragen. Von woher sollte denn ein Fragesatz als solcher verstanden werden, wenn korrekt artikulierte Fragesätze kein eindeutiges Zeichen ernsthaften, echten und sinnvollen Fragens wären oder es ein Fragen gäbe, das überhaupt nur dem Anschein nach in der grammatischen Satzform des Fragens auftritt, es aber im eigentlichen Sinne überhaupt nicht ist, sondern ein ,Scheinfragesatz‘? Soll man im angemessenen Ernst und nicht leichthin in spielerischer Beliebigkeit fragen, kann einem leicht der Geduldsfaden reißen, weil man doch das (im Gefragten liegende und angezielte) Erfragte nun endlich in Erfahrung bringen und in das Wissen erheben möchte. Doch der verdeckte Unwille der/des Fragenden wandelt das Fragen allzu leicht in eine Art von Suche nach einer Antwort um, die eigentlich ein Fordern, ein aktives, ja mitunter anmaßendes Herausfordern
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ist. Es gibt ein Fragen, in dem eine versteckte Drohung oder ein Wünschen unüberhörbar sind. Jemand bekommt Ärger und schreit ihn Umgebende an: ,Was gibt es da zum Lachen?!‘ Das heißt, es ist eben keine Frage mehr, dass es hier etwas zu lachen gibt. Das Lachen soll hier nicht in Frage kommen. Ähnlich steht es mit der doppeldeutigen Aufforderung: ,Bitte, kannst du nicht endlich mit dem Blödsinn aufhören?!‘ Sie fordert dazu auf, unverzüglich einem als sinnlos abgewerteten Tun ein Ende zu machen. Der fordernde Ausruf ist weder eine echte Frage noch eine ehrliche Bitte, sondern ein halbversteckter Imperativ, der allenfalls das Tun des Angesprochenen in das ,Fragliche‘ herabzieht. Nun kann man echte Fragen meist leicht von unechten unterscheiden, die durch Fragesätze verdeckt werden, wie Aufforderungen, Einladungen, Befehle, Wünsche, Bitten oder erstaunte Ausrufe, die zu nichts auffordern oder nichts wünschen und keine Antwort anzielen (,Was für ein wunderbarer Tag?!‘). Der alltägliche Umgang mit Fragen ist lehrreich für ein ursprüngliches Philosophieren und echtes Fragen. Hier gilt es auch, hellhörig für ein verdecktes Sichbetragen zu werden, dem es um Herrschaftsausübung geht: für das fordernde, postulatorische Stellen von Fragen (etwa nach Möglichkeitsbedingungen im Sinne von ,Voraus-Setzungen‘), in denen zwar ein Sinn mit Nachdruck gesucht und unterstellt wird, weil ohne ihn am Ende alles in ein Nichts der Ohnmacht und Absurdität abzustürzen droht, aber man sich nicht hinreichend klarmacht, dass man deswegen sucht, weil man die Quelle dieser Sinn- und Grundsuche schon auf irgendeine Weise (als das im Fragen Befragte) ,vor-gefunden‘ hat. Fragen können auch herabsetzende Kritik, Einwände, Anklagen, Vorwürfe enthalten oder Geständnisse erzwingen wollen. Achten wir beispielsweise auf eine im Tonfall des Vorwurfes lautstark vorgebrachte Frage: ,Warum tust du das schon wieder?!‘ Genau genommen wird in diesem Vorwurf etwas behauptet, nämlich, dass für dieses Tun ein Grund weder in Frage kommt noch besteht. Eine Antwort, welche die Warum-Frage begründet, wird nicht erwartet, allenfalls nicht völlig ausgeschlossen. Eine echte Frage liegt jedenfalls nicht vor.4 Es zeigt sich also, dass Satzarten ineinander übergehen können. Mit einer Frage kann man einen tadelnden Ausruf oder eine Forderung tarnen, zum Beispiel: ,Man wird ja wohl noch fragen dürfen, oder?!‘ Bis zu einem gewissen Grad lässt sich das Fragen willkürlich vom Zaun brechen. Ohne ernsthaft zu fragen, lassen sich Fragen dadurch (er)stellen, dass man konstatierende Aussagen (formal) in Fragesätze umwandelt. Wünscht man eine 4 Vgl. dazu B. Bettelheim, Ein Leben für Kinder, 92–102: Die Frage »Warum?«.
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bereits vorgefasste Meinung beim Gesprächspartner zur Anerkennung zu bringen oder sein Interesse zu wecken, ohne eine Antwort zu provozieren, so fragt man ,rhetorisch‘. Was Grammatik irreführend als ,rhetorische‘ Frage bezeichnet, bedarf meist keiner ausdrücklichen Beantwortung und dient dazu, den Gesprächspartner zur Anerkennung einer Behauptung, die ein Urteil enthält, zu bewegen.5 Im akademischen Betrieb fragt man oft nur, weil das methodisch geordnete Fragestellen, das Darlegen der Problematik von Streitfragen (Problemen) und Lösen der Probleme etwa durch In-Erfahrung-Bringen nun einmal fraglos zum Wissenschaftsbetrieb gehören. Die Problementwürfe (Fragestellungen, die ein Informationsvorhaben hinsichtlich eines Sachverhaltes aussagen) erscheinen dann als echte Fragen. Ja Kinder, denen das Fragen im aufbrechenden Fragesturm nicht als Dummheit verboten wurde, lernen es rasch, sich mit dem Stellen uneigentlicher (nebensächlicher, unwichtiger) Fragen wichtig zu machen, wenn sie bemerken, dass sie dadurch bewundert werden. Auch kann man durch geschicktes Fragen, das hinsichtlich der Teilnahme nicht ehrlich und ernst sein muss, eine Konversation in Gang bringen. Was nach dem bisher Gesagten das Fragen als solches im eigentlichen Sinne problematisch oder gar zur Scheinfrage macht (die semantisch durchaus sinnvoll sein kann), erkennen wir, wenn wir die Fragehaltung mitberücksichtigen. Insofern wir wahrhaft, eigentlich, ernsthaft und ursprünglich Fragende sind, können wir uns selbst nicht distanziert aus dem Fragen heraushalten und außerhalb des Fragens aufhalten, und zwar schon deswegen nicht, weil das uns eigene Verhalten und Verhältnis zum Gefragten sowie zu dem, was wir befragen, zum Befragten, also zur befragten und gefragten Wahrheit, die Eigentlichkeit, Ernsthaftigkeit und Ursprünglichkeit des Fragens gehören. Zum Gefüge des Fragens einer Frage gehört nicht nur das Befragte, Gefragte und Erfragte, sondern das Fragen als eine Weise, wie wir anwesend sein können (Seinsweise), wenn wir uns aus bestimmten Interessen, Grundhaltungen und -stimmungen zu dem verhalten, was in Frage kommen soll oder mag. Solches Sichverhalten, das sich durchaus nicht aus dem Fragen heraushält, kann unangemessen oder nicht sein, ja es kann das rechte Fragen und damit das Verhältnis zur Wahrheit beirren. Das Fragen gilt als Suchverhalten nach Verständnis, Erkenntnis und Wissen. Im fragenden Suchen geht es dem Dasein um es selbst, d.h. es waltet eine bestimmte Sorge um das Dasein als Umsicht und Vor(aus)sicht mit der Absicht, im Erkennen Erkanntes zu erschließen, nämlich ein konkretes Feld des Seins, der Sachverhalte in der Welt. Im Fragen – und sei es noch so nebensächlich – ist das Dasein seinem Sein 5 J. Walther, Logik der Fragen, 27, 51.
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(Anwesen) nach immer mitbeteiligt. Das Fragen ist so eine Möglichkeit, sich selbst (und das heißt auch frei und verantwortlich) aus dem Sein zum Sein zu verhalten. Wie sich diese Sorge um wahre Erkenntnis und Wahrheit des Seins vollzieht, kann verschieden und mitunter völlig entwurzelt sein. So ist man im neugierigen Fragen von »der Sorge um erkannte Erkenntnis« umgetrieben.6 Solche Neugierde gibt sich den Anschein, jedes und alles erkennen zu können, und ist als ungezügeltes, gieriges Verlangen nach Befriedigung ein Suchtverhalten. Ein Suchtverhalten ist der Versuch, das eigene Selbst im anderen und über das andere seiner selbst expansiv zu konstituieren. Die Neugierde bestimmt die mediale Welt ,unterhaltender‘ Wissensvermittlung ebenso wie diese von jener ,unterhalten‘ und gefesselt ist. Die neugierige Fragehaltung ist nicht vom ,Inter-esse‘ bestimmt, insofern dieses uns heißt, »unter und zwischen den Sachen sein, mitten in einer Sache stehen und bei ihr bleiben«.7 So gesehen (!) ist die Neugierde, wie schon gezeigt wurde,8 insofern nicht unproblematisch als ,theoretische Neugier‘ rehabilitierbar, als sie dem Ausweichen des Daseins vor der Annahme des eigenen Seinkönnens entspringt. Sie kann als Erscheinungsweise und Symptom des Mangels an Sorgetragen um den wesenhaften Bezug zur Wahrheit des eigenen Selbst verstanden werden. In ihr verflüchtigt sich der Mut, ursprünglichem und ernsthaftem Fragen standzuhalten. Für die Vorbahnung der philosophischen Anfangsfrage ist es wichtig, die Eigenart des inquisitorischen sowie des zweifelnden Fragens besonders im Hinblick auf die Fragehaltung zu verdeutlichen, um einer Verwechslung mit dem ursprünglich existenziellen Fragen (3.1.3) vorzubeugen. Das (nach Art eines strengen Untersuchungsrichters) untersuchende und inquisitorische Fragen erzwingt seine Antwort im Kontrollrahmen des bisherigen Selbstverständnisses oder will seine Annahme, die es der Wirklichkeit (als Hypothese) unterstellt, empirisch bestätigt oder falsifiziert wissen. Fragen heißt dann festlegen, dass und was wir in Erfahrung bringen und wissen wollen. Mag dieses (provisorische) Sicherstellenwollen von Wissensentwürfen und Sichbemächtigenwollen von ,Wirklichkeit‘ noch mit Hilfe eines eigentlichen und echten Fragens vor sich gehen – ein ursprüngliches Fragen ist es nicht, weil es von vornherein das in der Selbst-, Mitseins- und Welterfahrung uns ursprünglich Widerfahrende bloß vom forschenden Subjekt her und auf dessen Entwurf hin fraglos festlegt, um selbstsicher über ein bestimmtes Wissen zu verfügen, und weiter: weil die Primärerfahrung, sich selbst vorgegeben zu sein (mitsamt allen Möglichkeiten des Vernehmens, der Vernunft) niedergehalten wird, kann die 6 Vgl. hierzu M. Heidegger, GA, Bd. 17: Einführung in die phänomenologische Forschung, 126 f. 7 M. Heidegger, GA, Bd. 8: Was heißt Denken?, 6 f. 8 Siehe oben 1. Kap. 1.2.3.
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endgültige Unüberholbarkeit der Fragwürdigkeit des Wissensentwurfs mitsamt dem entwerfenden und fragenkönnenden Subjekt nicht mehr selbst in Frage kommen. Verwandt mit dem untersuchenden Fragen ist das von der Suche nach zweifelsfreier Gewissheit (für mich selbst sowie meiner selbst) geleitete bezweifelnde Fragen, das eher ein vorsichtiges Schwanken zwischen Sein und Nichts, Wahr- und Falschsein, Wissen und Nichtwissen ist, und zwar solange keine klare, deutliche, entschiedene und beständige Scheidung Gewissheit möglich macht. Hier wird Fraglichkeit fälschlich mit Ungewissheit und Fraglosigkeit mit Gewissheit gleichgesetzt, als ob Ungewissheit nicht fraglos lähmend, verunsichernd oder Fragen erst weckend und Gewissheit nicht echt erstaunlich und fragwürdig sein könnte. Das angebliche Fragen besagt hier ein In-Zweifel-Ziehen des unmittelbar als selbstverständlich Gegebenen, und zwar als Sprachhandlung des Subjekts, das in Frage stellt, das heißt, sich selbst als das maßgebende Woher (radix) der Fraglichkeit setzt. Eine solche angeblich radikale Fragehaltung lässt nichts unbefragt stehen, kann nirgends haltmachen, löst alle Voraussetzungen auf, kommt naturgemäß in keiner Antwort zur Ruhe, ja muss sich in Frage stellen, ohne allerdings je das ideale Ziel absoluter Voraussetzungslosigkeit erreichen zu können. Ohne Aussicht auf Erfüllung dieses Postulats der Voraussetzungslosigkeit muss sich dieses ,Frageverhalten‘ schließlich mit der im Zweifel (an sich selbst) entdeckbaren Gewissheit, dass alles in Schwebe bleibt, begnügen. Alles kann dann ,in Frage gestellt‘ werden und fraglos im Zweifel als unhaltbar und ungewiss versinken. Das Fragen dient hier dem Zweifel, aber ein solches Bezweifeln ist kein Fragen, zumindest kein echtes, eigentliches und wahrhaftes. Ein solcherart angeblich radikales (richtiger: radikalistisches) Fragen verwechselt Wahrheit mit Fraglosigkeit. Es kann keine Antwort als unabschließbaren, weiteren Fragens würdigen Durchgang und Wegweiser zu je immer größerer Wahrheit verstehen; es verdeckt sich aus der Haltung des Habenwollens von Gewissheit die ursprünglich und bleibende Fraglichkeit allen Daseins; es kann nicht in Offenheit für das Gegebene dieses als ,Vor-gegebenes‘ bereitwillig hin- und in Empfang nehmen; es kann sich nicht der Unergründlichkeit des Vorfraglichen, das allein zu denken gibt und uns nach ihm fragen lässt, verdanken. Mit dem Gesagten soll die Sinnhaftigkeit und Berechtigung eines vernünftigen Zweifels (dubium prudens) nicht bestritten werden. Eine Phänomenologie ursprünglicher Erfahrung wird methodisch auf den Zweifel nicht verzichten können, wenn es um die Suspendierung, das vorläufige Außer-Leitung-Stellen, Einklammern und Hinterfragen von fraglos und selbstverständlich gewordenen Vormeinungen, Vorurteilen oder Theorien geht, und zwar um der Zurückführung auf das an ihm
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selbst sich als wesenhaft Zeigende willen und um der Selbstzusage der Sache selbst ,ent-sprechend‘ Raum zu geben. Die so genannte skeptische Epoché (als methodischer Schritt auf dem Wege zur ,phänomenologischen Reduktion‘ auf die Sache selbst) meint nur eine solche Übung der zweifelnd-fragenden Zurückhaltung gegenüber vorgefassten Urteilen, Werturteilen, Idealen, Voreingenommenheiten, ja auch Grundhaltungen, Vorlieben und Vorzugsstimmungen, denn diese Weisen eines geschichtlich gewordenen Vorverständnisses (der zum Erkenntnisapriori aufgerückte modus receptionis) sollen ja nicht beseitigt werden. Nicht sollen kompetente Autoritäten pietätlos gestürzt werden, sondern im Gegenteil, der Boden soll erst vorbereitet werden, um solche kritisch, im Sinne des unterscheidenden Hervorhebens und Auszeichnens in ihrem Sachbezug, als diejenigen Gesprächspartner zu ermitteln, denen es um dieselbe Sache zu tun ist. Es wäre ein unhaltbares Vorurteil, das einem paranoiden Selbst- und Weltuntergangsszenarium nahekäme, wollte man von einem voraussetzungslosen Anfang des Denkens, das mit allem Tabula rasa gemacht hat, von einem Nullpunkt an Verständnis ausgehen. Der philosophischen Tradition sowie unserer Erfahrung und Einsicht soll ja als einem Gewesenen nicht undankbar die läuternde, vernünftig klärende Zukunft verweigert werden, sondern nur ihrer fraglosen Fixierung (als ob es eine ungeschichtliche, zukunftslose Voraus-Setzung wäre) wird die Zustimmung vorenthalten (die »Seinsthesis«, wie Husserl sagt); vielmehr soll das bereits Verstandene mitsamt den fertig abgeschlossenen Antworten in ein lebendiges Verstehen zurückgenommen werden, in ein Sichverhalten, das nichts und nicht voraussetzt, weil es von vornherein im (unergründlich-abgründigen) Offenen des auf uns Zukommenden sich aufhält, offen dafür, dass uns die bleibende Fragwürdigkeit im Verständnis unseres Selbst-, Mit- und In-der-Welt-seins angesichts des uns (je neu von ihm selbst her) Widerfahrenden aufgeht. Was immer von ihm selbst her sich ,gibt‘, ist nicht mehr durch zweifelndes Fragen abzuschirmen, sondern aus der zu erringenden Grundhaltung der Gelassenheit (aktiv) sein zu lassen und als solches der Frage würdig. Das Gesagte entwertet aber nicht die Fragehaltung des In-Frage-Stellens und fragenden Sichvorstelligmachens. Diese schränkt zwar (methodisch) das Phänomen der Fraglichkeit ein, weil sie sich über die ursprüngliche Erfahrung und Erfahrbarkeit stellt, das Sichgebenlassen des Anwesenden in seinem Anwesen verkürzt und so das unüberholbar Neue im Phänomen verstellt; es ist dadurch abkünftig und nicht ursprünglich. Doch mindert das nicht seine relative Berechtigung und Fruchtbarkeit für den Bereich des Seienden (insbesondere in der wissenschaftlichen Forschung). Auch dem Weg ,radikaler‘ Infragestellung durch den Zweifel im Falle vernünftigen Zweifels ist die relative Berechtigung nicht abzusprechen, wenn er auch im
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Sinne einer Vergewisserung des Daseinsganzen in seiner Brüchigkeit und Zwielichtigkeit nicht gangbar ist. Letztere erhebt sich (in Ermangelung ursprünglichen Fragens) fraglos aus der Verhaftung an die Grundstimmung des Misstrauens, eines enttäuschten Vertrauens, das verfehlte Erwartungen der Vertrautheit nicht abstreifen konnte, das sich einem Grund-Vertrauen (man denke an das, was Erik Erikson mit basic trust gemeint hat) verschließt – einem Grundvertrauen nicht im Sinne einer irrational vertrauensseligen und leichtgläubigen Voraussetzung eines Grundes, sondern im Sinne von Antwort auf das grundgebende Phänomen der Fragwürdigkeit von Vorfraglichem. Der Zweifelnde kann in einem ursprünglichen Sinn gar nicht mehr ,radikal‘ fragen: ,Warum zweifle ich, will ich zweifeln? Und warum kann und muss ich an allem Seienden zweifeln?‘ Diese Fragen würden ihm neu aufgehen, in einer anders gestimmten Weise des Fragens, könnte er über das ihm unverfügbar widerfahrende Möglichsein des Zweifelns erstaunt sein.9
3.1.3 Das Vorfragliche und das ursprünglich-existenzielle Fragen
9 Vgl. F. Wiplinger (1962), Warum das Warum?, 353. Mit dieser Unterminierung des Zweifels durch das Staunen ist das Zweifeln nicht bagatellisiert. Den radikal Zweifelnden kann sein Zweifeln so sehr fesseln, dass ihn seine leidenschaftliche Glut in eine Verzweiflung treibt, welche die Tradition des Zenbuddhismus den »großen Zweifel« nennt. In ihm zerbricht jedes sichere Fundament. Der Zweifelnde wird selbst so radikal in Frage gestellt, dass er selbst zum »großen Zweifel« wird. Er stürzt in die Erfahrung bodenloser Nichtigkeit und des Todes, wo alles Zweifeln aufhört. Die durch den »großen Zweifel« entstehende Leere und Weite ist dann der Ort der völligen Umkehr, der Preisgabe der Selbstbehauptung, der Öffnung und Befreiung in radikaler Offenheit für das untergegangene und ihn neu überkommende Universum, das ihm in einem neuen Licht aufgeht. Vgl. hierzu H. Waldenfels, Absolutes Nichts, 87– 91. Auf eine Umkehr in der Fragehaltung, die der im »großen Zweifel« sich ereignenden verwandt ist, wird im Folgenden eingegangen werden.
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Die Totalisierung des untersuchenden und zweifelnden Fragens verdeckt, dass die eigentliche Gebärde des hier nötigen Denkens nicht unbesehen ein Aufgreifen von Fragen sein kann – auch nicht der brennenden Gegenwartsfragen – und schon gar nicht ein (beliebiges) Stellen von Fragen, sondern das Vernehmen dessen ist, was überhaupt in Frage kommen soll, worüber wir nicht verfügen können. Dieses Vernehmen ist ein gesamtmenschliches, denkendes Hören auf die Zusage des zu Denkenden, innerhalb dessen erst Fragen aufkommen oder gestellt werden können. Es muss sich uns irgendwie, allem Fragen zuvor, etwas zugesprochen haben, das uns fragen lässt und auf diese Weise zu denken gibt: ein Vorfragliches, das uns in Anspruch nimmt. Daraus ergibt sich für die Zusammengehörigkeit von Frage und Antwort: Um sachgerecht zu fragen, muss jemand die befragte Sache schon irgendwie kennen
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und sich mit ihr auskennen. Diese Kenntnis des Befragten besagt jedoch nicht, dass das Gefragte schon hinreichend erkannt wäre oder dass es gar im Sinne thematischen Erfasst- und Bestimmthabens bereits so abschließend erkannt wäre, dass zukünftig keine Frage mehr bliebe. Das Vorfragliche geht sachlich und, wie wir aus der kindlichen Entwicklungsgeschichte wissen, auch zeitlich als fragloses Zugänglich- und Erschlossensein sowie als Befragbares und der Frage Würdiges dem Fragen voraus. Unser eigenes Anwesen in der Welt ist keine ,Voraus-setzung‘, die wir machen müssten und in Zweifel ziehen könnten, sondern ein vorgängiges Offenbar- und Erschlossensein, eine Vorgegebenheit nicht bloß vorläufiger Art, sondern eine bleibend aufgegebene. Alles Fragen, auch das radikalste, ja gerade dieses, ist vom Anspruch durch solches betroffen, das fraglos nicht mehr so, sondern anders, ganz anders als erwartet ist, das wir als Unergründliches, Unerkanntes, Unverständliches und Befremdendes usw. kennen, das sich entzieht oder verborgen erscheint: das vorfraglich Gegebene, welches überhaupt das Fraglich- und Fragwürdigsein ermöglicht. Zum Gefüge der Frage gehört das Vorfragliche, insofern es das Befragte ist, denn ein Fragen, das in einer bestimmten Fragehaltung vom Gefragten und Erfragten in Anspruch genommen wird, ist immer von einem Befragten, einem vorfraglich Vorgegebenen, getragen. Machen wir nicht in Wahrheit mit einem Vorfraglichen notwendig den Anfang unseres fragwürdigen Seins und fragenden Denkens? Diese Frage muss mit der Einschränkung bejaht werden, dass dieser Anfang uns nur in der konkreten Fraglichkeit, in der er uns aufgeht und überkommt, als etwas befragbar wird. In dieser Hinsicht kommt weder dem Vorfraglichen noch seiner Fraglichkeit ein Vorrang zu und sie erscheinen uns in gleicher Weise konstitutiv für alles Fragen. Am Anfang unseres denkenden Entwurfs steht daher jedenfalls nicht die Frage, auch nicht die Frage nach der Frage oder nach einem Anfang der Metaphysik oder der Philosophie überhaupt, sondern die Erfahrung dessen, was sich uns von sich her als das ,schlichthin‘ Fragwürdige (das am meisten Fragwürdige) zuspricht und unser Dasein und Denken beansprucht. Wir entsprechen diesem Zuspruch eher in einem horchenden und vernehmenden Denken als in einem (leidenschaftlich, sehnsüchtig) nach Wissen jagenden. Auf diese Erfahrung des Anspruchs der Fragwürdigkeit und auf den Versuch, diesem Zuspruch dankbar zu entsprechen (zu antworten), ist immer wieder zurückzukommen. Sie sind das, wodurch unser Denken dem Vorfraglichen als Ursprung des Fragens entspricht, indem es in das Fragen kommt, ja (gelegentlich) fragender zu werden vermag. Unser Fragen wird umso ursprünglicher und sinnvoller sein, je mehr ihm aufgeht, dass es sich dem der Frage Würdigen verdankt. Wenn von etwas der Frage
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,Würdigem‘ gesprochen wird, so als etwas, das auch außerhalb des Fragens oder anders als durch Fragen zugänglich ist, das eben als ein vor dem Fragen zu Würdigendes erscheint. Das Vorfragliche erschöpft sich nämlich nicht darin, Grund der Fraglichkeit und des Vernehmens von Fraglichkeit zu sein. Das Fragen ist nicht der einzige Zugang zu dem, was phänomenal in seiner Bedeutungsmannigfaltigkeit als Sein oder als Nichts erscheint. Das kann besonders anhand von negativen Beispielen überzeugend gezeigt werden: Erfahrungen von Absurdität oder Widersinnigkeit, dass es mit allem nichts ist, Grauenerregendes, das die Abwehr und den Bemächtigungswillen mobilisiert, oder der hinhaltende Sog unendlicher Langeweile, niederdrückende Depression oder den Weltbezug beengende Angst, Absturz in lähmende Verzweiflung gehören zu den Grunderfahrungen mit Vorfraglichem, in denen einem das Fragen eher vergeht, als dass es aufkommt. Sie entziehen sich so sehr jedem Verständnis, dass einem ein Fragen, das verstehend zu Neuem aufbricht, wegbleibt. Ihre angebliche ,Fraglichkeit‘ oder ,Fragwürdigkeit‘ hat mit der ursprünglichen Erfahrung, dass etwas der Frage Würdiges in Frage kommt, nichts zu tun, sondern hält sich im Bedeutungsumkreis von Brüchigkeit, Zwielichtigkeit, dem Verdacht der Nichtigkeit ausgesetzt, auf, spricht also damit Wertungen, nicht Fragen aus. Die Fraglosigkeit, in der solche negativen Erfahrungen einen überkommen, mindert aber keineswegs ihre alltägliche und philosophische Frag-Würdigkeit (etwa hinsichtlich der unmittelbar seinserschließenden Bedeutung dieser Befindlichkeiten), sondern sie kann auch – statt sie zu beklagen oder anzuklagen und alles ins sogenannte ,Fragliche‘ im Sinne des Brüchigen und Nichtigen hinabzuziehen – therapeutische Bemühungen wecken. Solcherart gibt es auch die alles Unglück und Übel unterminierenden, die beglückenden Erfahrungen wie die Bewährung in Freundschaft und Liebe, uneigennützige Hilfe, erfüllte Hoffnung, das bestrickende Lächeln eines Kindes und den blühenden Kirschbaum …, überhaupt alles der Bewunderung Würdige. Auch hier ist nicht das Fragen das Erste, sondern das fraglos Vor-Gegebene, von dem es sich als einem (im Sichgeben) Gegebenen fragt, ob wir es nicht erst dann angemessen hinnehmen, wenn wir es als Gabe, mit der wir beschenkt werden, verstehen. Alle diese Erfahrungen haben das Eigentümliche, dass sie als einzelne (vor aller abstrakt vergleichenden Verallgemeinerung) das Bedeutungsganze der Welt fraglos verwandeln können, die nun in ein neues Licht oder in undurchdringliche Finsternis getaucht erscheinen kann. Das gibt die Frage auf, ob Gut und Böse, Wahrheit und Betrug, das Schöne und das Grauenhafte nicht gegeneinander aufrechenbar oder gar miteinander versöhnbar sind. Oder stehen sie so lange in einem
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unentschiedenen Gleichgewicht wie wir vergessen, dass wir uns in eigentümlicher Weise mit dem Vermögen begabt und gewürdigt erfahren dürfen, (soweit es an uns liegt) das Gute zu mehren, Sinn zu stiften und das Böse und Schlechte in unserer Menschenwelt zurückzudrängen? Es könnte dann mit Günther Pöltner gesagt werden: »Dass es gut ist zu sein – und nicht nicht zu sein –, dies ist kein Trug, sondern die Wahrheit. Die Wahrheit […], weil sie vor aller Fraglichkeit liegt.«10 Dem Vorfraglichen sind wir also schon am Beginn unserer Überlegungen begegnet, insofern es sich in der Übung der Sammlung als Anwesendes in seinem Anwesen (fraglos im Sinne des Vorfraglichen) erschließt. Und wird es nicht am Ende um das fraglos (am meisten) der Verehrung Würdige (timitatwn) gehen, das deswegen als das der Frage Würdigste in Frage kommt? Es ist hier noch nicht beabsichtigt, auf die bedrängendsten unter den praktischen Fragen philosophischer Theologie (der sogenannten ,Theodizee‘) näher einzugehen. Nur so viel will gesagt sein, dass der primäre und einzige sowie ursprüngliche Zugang zum Vorfraglichen, was immer dieses Vorgegebene in seiner Vorgegebenheit auch sei, nicht das verfügenwollende In-Frage-Stellen sein kann, dessen Position es sich als ,Unverfügbares‘ entziehen muss. Wenn schon ein ursprüngliches Fragen, dann überkommt es mich und geht es mir auf, weil ich mich unter dem überbordenden Anspruch des mir Widerfahrenden nicht mehr mit mir, den Anderen und meiner Welt auskenne, weil mir alles das unverständlich, rätselhaft oder fremd geworden ist. Dafür kann es verschiedenste Anlässe geben, beispielsweise extreme Erfahrungen wie schwere Schuld, Wahnsinn, Leid und Tod oder die Erfahrung einer großen Liebe, eines ungeahnten Glücks, die Geburt dieses Mädchens oder dieses Buben. Da wird mir anders, ich bin wie verwandelt, außer mir (etwa vor Freude), kenne mich überhaupt nicht mehr in meiner Welt aus oder weiß nicht mehr recht, wer ich bin und wer du bist – bis hin zu Erfahrungen äußerster Entfremdung und Depersonalisation. Und auch, wenn wir nicht ins Extrem gehen: Werde ich jemals abschließend und fraglos wissen, wer du bist und wer ich bin? Da brechen die ohne abschließende Antwort bleibenden Fragen auf, die ich in einem untechnischen Sinne die ,philosophischen‘ nennen möchte: Warum bin ich, wie ich bin? Warum bin ich gerade diese/r hier und heute, statt anderswo und zu einer anderen Zeit zu sein? Warum bin ich nicht ein Anderer oder eine Andere? Warum bin ich überhaupt, statt nicht zu sein? Die Frage, ,warum ich Ich bin, ja überhaupt bin, statt nicht zu sein‘, mag sich in alle Höhen, Tiefen und Breiten des Daseins fortsetzen, aber eine Antwort auf 10 G. Pöltner (1972a), Schönheit, 194.
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diese Frage gibt es aus meinem unmittelbaren Sein nicht, auch nicht durch meine Eltern, denn dieselbe Frage trifft auch sie; und aus dem Werden des Kosmos kommt erst recht keine Antwort, zumal das Bedeutungsganze der Welt selbst in das ,Warum‘ stürzen kann. Aber auch du selbst kannst mir zur Frage werden: Ist es nicht erstaunlich und absolut unbegreiflich, dass du überhaupt bist und dass du du selbst bist, statt nicht zu sein? Oder anders – wohl dieselbe Warum-Frage, wenn mich ein schweres Unglück trifft: Warum gerade mich? Wäre ich nicht, träfe es mich nicht! Warum muss ich überhaupt sein, statt nicht zu sein? Stelle da ich die Frage und bestimme da ich, was das zu Erfragende ist, oder kommt mir das Fragen, weil ich am Ende selbst im Ganzen meines Menschseins und meiner Welt in Frage gestellt bin? Das klassische Beispiel für diese das Daseinsganze umfassende Frageerfahrung findet sich in Augustins ,Confessiones‘, die ja überdies ein einzigartiges Dokument fragenden Denkens sind. Was Augustin anlässlich der Erfahrung des frühen Todes seines liebsten Jugendfreundes durchgemacht hat, berichtet er Jahre danach: »Vom Schmerz darüber ward es finster in meinem Herzen, und was ich ansah, war alles nur Tod […]. Alles, was ich gemeinsam mit ihm erlebt hatte, war ohne ihn verkehrt zu grenzenloser Pein. Überall suchten ihn meine Augen, und er zeigte sich nicht. Und ich haßte alles [die ganze Welt], weil es ihn nicht barg und nichts von allem mir noch sagen konnte: ,Sieh, bald kommt er‘, so wie es ehemals gewesen, wenn er eine Weile nicht zugegen war. Ich war mir selbst zur großen Frage geworden ( factus eram ipse mihi magna quaestio), und ich nahm meine Seele ins Verhör, warum sie traurig sei und mich so sehr verstöre, und sie wußte mir nichts zu sagen.«11 Augustinus begegnet dem Tod als endgültiger Trennung von dem, den wir lieben. Dieser Tod eines Nahestehenden, der geradezu symbiotisch geliebt wurde (»eine Seele in zwei Leibern«12 ), veranlasst zwar ein ,Vorlaufen‘ zum eigenen Tod (diesen cursus ad mortem der Sterblichen13 ), unterscheidet sich aber von der (vorweggenommenen) Eigentoderfahrung, der man den Fremdtod entgegenstellt, der einen existenziell kaum betrifft. Eigentoderfahrungen haben nicht dieselbe Ursprünglichkeit wie die Todeserfahrung von einander Liebenden. Sie mag sich in der bangen Frage ,Wer von uns geht zuerst?‘ ankündigen oder wie hier bei Augustinus plötzlich mit aller Härte hereinbrechen. Im Todesereignis ist dann die im Füreinanderdasein gemeinsam gelebte Welt mitten entzweigerissen. Die mit dem Freund geteilte Welt, wie sie in einem selbst (im Herzen) und in ihm ist, ist es, die untergeht und in den Tod 11 Augustinus, conf., lib. 4, c. 4, 9. 12 A.a.O., c. 6, 11. 13 Augustinus, civ., lib. 13, c. 10.
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hineingerissen wird; daher bleibt dem Hinterbliebenen nichts als Schmerz, Bitterkeit und Trauer, überall nur unerträglich sich aufdrängende und auf alles ausbreitende Anwesenheit seiner unwiederbringlichen Abwesenheit. Der Aufschrei verzweifelter Gegenwehr und maßloser Aufruhr, die nicht wahrhaben wollen, was ist und was nicht ist, weil dieser Tod doch ganz und gar nicht sein dürfte, verkehren ihm die Welt in eine verhasste. Gegensätzlichste Affekte, Überdruss am Leben, weil er ohne seinen Freund ist, und Angst vor dem alles verschlingenden Tod belasten ihn. Dass die eigene Welt im Einander-Sichverstehen einem fremd, vernichtet und zur Todes-Welt wird, das kann doch nicht sein und ist völlig unfasslich. Wie ist dieser Widerspruch, diese Unmöglichkeit möglich, dieser Einsturz der Lebenswelt in die Todeswelt und dieser Einbruch der Todeswelt in die Lebenswelt? Augustinus spricht nicht nur von Fragen, die er hat, sondern er ist sich selbst völlig fraglos und ungefragt zur »großen Frage« geworden und damit in einen Wirrwarr von neuen Fragen gestürzt, die ihn umtreiben. In der ersten Unmittelbarkeit zum Tod, der wie ein Blitz aus heiterem Himmel einschlägt, gibt es keine Antwort etwa auf die Frage, warum er so traurig und verstört sei. Was Augustinus da gegensätzlich widerfährt, erfasst er als ihm Auferlegtes, das er durchzumachen und auszutragen hat. So steht er unter dem Anspruch, eine verlorene Welt zu ,rekonstruieren‘, sie menschlich durchzustehen und umfassend zu verstehen. Ursprüngliche Fragen brauchen ihre Zeit, um ausgetragen, ausgestanden und verstanden zu werden. Aus dem Verwundertsein, dieser Gestalt des Staunens eines in seinem Selbstund Weltverhältnis zutiefst Verwundeten und in seiner Erwartung völlig Enttäuschten, erwächst angesichts der fragwürdig gewordenen Lebenswelt die Frage, warum überhaupt Leben und warum nicht eher nichts, nichts als nur Tod? »Ich wunderte mich (mirabar), daß die übrigen Sterblichen noch lebten, da doch er, den ich geliebt hatte, als könnte er nie sterben, gestorben war, und mehr noch wunderte ich mich, daß ich selbst, da ich doch ein zweiter Er gewesen (quia ille alter eram), noch lebte, nun, da er tot war.«14 Und so erfährt er das eigene Menschsein, ja die mit dem Anderen untergehende gemeinsame Welt des Sichverstehens auf Sein und Nichtsein, in Frage gestellt. Das ist kein akademisches oder wissenschaftliches InFrage-Stellen mehr, sondern erlaubt nur ein existenzielles Weiterfragen. Dieses ,Sich-selbst-zur-Frage-geworden-sein‘ im Hinblick auf Leben und Tod, Sein und Nichtsein, ist nicht zu verwechseln mit der Frage von William Shakespeares Hamlet: To be or not to be. That is the question! Diese ist hier zwar eine Frage auf Leben und Tod, aber die Frage gewöhnlich nur, wo es um Leben oder Tod, um 14 Augustinus, conf., lib. 4, c. 6, 11.
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15 M. Heidegger, GA, Bd. 55: Heraklit, 276: Die Metaphysik fragt, wie es mit dem Seienden hinsichtlich seines Seins steht, aber nicht nach dem Wesen des Seins, nach dem Walten seiner Wahrheit in Abhebung gegen das Nichtsein und das Nichts: »Die Frage nach dem Sein selbst und nach dem Nichts reicht allerdings unendlich tiefer, d.h. in wesensmäßig andere Bereiche, als die Frage nach ,Sein oder Nichtsein‘ […] aus Shakespeares Hamlet […].«
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»Fortbestand oder Vernichtung des menschlichen Lebens« geht,15 also um das nackte Überleben des unmittelbar vom Tod bedrohten Menschen, wobei in unangefochtener Fraglosigkeit vorausgesetzt wird, dass es besser ist zu sein (und daher sich selbst zu behaupten) als nicht zu sein. Fragen wie ,Warum bin ich Ich selbst und warum nicht nur Nicht-Ich, warum bist du Du selbst und warum nicht Nicht-Du‘ sind keine ontischen kategorialen oder kausalen, die wir auf unsere ontische Vorgeschichte zurückführen könnten. Stellen wir sie jedoch radikal, dann wird unsere gesamte Mit- und Umwelt samt ihrer Vorgeschichte in sie einbezogen und sie weitet sich aus zur Grundfrage, ,warum überhaupt Seiendes ist und nicht nichts‘. Doch ist im Namen eines radikalen Personalismus ein anfängliches Fragen, das mindestens den Anschein erweckt, von einem bloß Es-haften Seienden ,ohne Antlitz‘ oder neutralen Sein auszugehen, als inhumaner und apersonaler Denkansatz denunzierbar. Unterbiete ich mit einem anonymen Sein nicht von vornherein deine und meine Fragwürdigkeit? Würde ein solches Denken, das sich im Horizont der Mitteilbarkeit an Personen vor möglichen ,Hörern des Wortes‘ – hier sind es Leser – entfaltet, nicht seiner dialogischen Ursituation widersprechen: ein Widerspruch zwischen Ausgesagtem (anonymem Sein) und Vollzug (dialogischem Sein)? Diese Überlegung ist von höchster Brisanz, weil sie darüber entscheidet, ob mit der Frage nach dem Menschen bzw. dem Denken des personalen Anderen statt wie meist traditionell mit dem Seinsverständnis (fundamentaler Ontologie) der Anfang in der Philosophie gemacht werden darf und auch soll. Seiendes jedoch, das bist auch du selbst und das bin ich selbst. Seiende sind wir alle. Die Frage ,Warum überhaupt Seiendes …‘ ist nur die auf alles Seiende, sei es personales oder apersonales Sein, ausgeweitete existenzielle und persönliche Frage, um deren Seinsverständnis es in der Ontologie geht. Personales Sein kann doch nicht seiner Fragwürdigkeit entzogenes Sein darstellen. Mit dieser Frage ist daher kein von vornherein inhuman-apersonaler Anfang gemacht, weil sie das ,personale Sein‘ zur Gänze mit einschließt: mich und dich, also den Seienden oder die Seiende, und zwar als die weit ausholend füreinander und für die Begegnung mit jeglichem Seienden im Offenen seines Anwesens selber Fragenden. An die Ontologie muss jedoch kritisch die Frage gestellt werden, ob nicht ihr Seinsverständnis (ganz im Widerspruch zu dieser Beteuerung) noch von abstrakt nivellierender Art ist, oder
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Sachprobleme systematischer Ortsbestimmung philosophischer Theologie
ob es auch (als fundamentale Ontologie) dieses Ausmaß an offener Weite und leibhaftiger Konkretion besitzt, die das personale Sein als Mit- und Füreinandersein unverkürzt (integer) sein lässt.
3.2 Die Grundfrage der Ontologie 16
Dritter Exkurs
Miteinander in der Welt zu sein, statt nicht zu sein, versetzt dich selbst (aus deiner Welt mir gegenüber), mich selbst (aus meiner Welt dir gegenüber) und uns (in Teilhabe an derselben Welt füreinander) in eine Nichtselbstverständlichkeit und Unverständlichkeit unseres Weltaufenthaltes, in der uns alles zur ,großen Frage‘ wird. Diese gibt uns nicht nur Was-Fragen auf, wie ,Was ist das so Unbegreifliche, ja bei noch so großer Vertrautheit je immer mehr Befremdliche, das da geschieht?‘ oder Dass-Fragen wie ,Dass es so etwas gibt, grenzt das nicht ans Unglaubliche!?‘. Fragen dieser Art können noch weithin unbedacht und unbeantwortet sein und schon in den Strudel der radikaleren Warum-Fragen gezogen werden oder aus ihm auftauchen: Es ist nicht einzusehen, warum ich gerade ich selbst und warum du gerade du selbst sein musst oder sein darfst? Warum sind nicht Andere an unserer Stelle? Und warum sind wir nicht nicht? Durch diese Fragen belästigt oder in staunender Empfänglichkeit entrückt, oder wie auch immer, können sie sich, wie wir schon gesehen haben, universell ausweiten und ziehen dann die ganze Welt (alles, was ist: das Seiende im Ganzen als solches) mit hinein: Warum ist und gibt es überhaupt etwas und warum ist nicht nichts, gar nichts, nicht etwas? Das ist die Frage. Und mit ihr ist die Fragwürdigkeit des Daseinsganzen auf das Höchste gesteigert, weil im Dasein ausdrücklich zum Durchbruch gekommen. Dem niemals zur Gänze ausschöpfbaren Reichtum an Fraglichkeit des Daseinsganzen verdanken wir geschichtlich verschiedene Fassungen und stimmungsmäßig miterschlossene Verständnisweisen der Frage. Mit einigen unter ihnen sei das Gespräch aufgenommen. Leibniz hat diese Frage in der Form »Warum gibt es eher (plustôt) irgendeine Sache als nichts?« nur beiläufig und erst spät, zwei Jahre vor seinem Tod, gestellt, und zwar als Ableitung aus dem ,großen Prinzip‘ (Grand Principe) seiner Metaphysik vom hinreichenden Grund, das sein Denken von Anfang an bewegt 16 Zum ganzen Folgenden richtungsweisend M. Heidegger, GA, Bd. 9: Wegmarken, Was ist Metaphysik?, 103–122, Zur Seinsfrage, 417 ff.; ders., GA, Bd. 40: Einführung in die Metaphysik, 1–39: »Die Grundfrage der Metaphysik«; ders., Bd. 66: Besinnung, »XXI. Die metaphysische Warumfrage (Übergangsfrage)«, 265–277; vgl. ferner K. Jaspers, Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, 406–414 (Leibniz, Kant, Schelling).
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17 Vgl. G. W. Leibniz in: Philosophische Schriften, Bd. 1: Kleine Schriften zur Metaphysik, die Notizen aus 1676: »Nihil est sine causa, quia nihil est sine omnibus ad existendum requisitis« (6), sowie die 1714 verfasste Einführung in sein System: Les principes de la nature et de la grâce fondés en raison. Hier die Frage: Pourquoy il y a plustôt quelque chose que rien? (nr. 7, 426 f.) 18 Ebd. 19 A.a.O., Bd. 3/2: Nouveaux Essais sur l’Entendement humain, lib. IV, c. 10, § 3, 430 f. 20 Vgl. a.a.O., § 1. 21 A.a.O., in Bd. 1: Kleine Schriften zur Metaphysik, Les principes de la nature et de la grâce, nr. 7, 426 f.; vgl. auch Monadologie, nr. 32, 452 f.: Es kann sich »keine Tatsache als wahr oder existierend, keine Aussage als wahr herausstellen […], ohne dass es einen zureichenden Grund (raison suffisante) dafür gäbe, warum es sich so und nicht anders verhält«. 22 Vgl. a.a.O., Les principes de la nature et de la grâce, nr. 8, 426 f.
Dritter Exkurs
hat.17 Jedes Seiende hat seinen Grund, wobei Grund (raison) sowohl Ursache als auch rationale (sinnvolle) Begründbarkeit bezeichnet. Wenn daher »nichts ohne hinreichenden Grund geschieht«, dann ist dieses »Nichts (le rien) einfacher und leichter [zu denken?] als irgendeine Sache (chose)«,18 denn ein absolutes Nichts ist ohne Grund und entzieht sich jeder Begründung und aus ihm kann nichts werden: »Kraft einer Erkenntnis durch einfache Anschauung wissen wir auch, dass das reine Nichts (le pur neant) ein wirkliches Wesen (un Estre reel) nicht erzeugen kann. Woraus mit mathematischer Evidenz folgt, dass von aller Ewigkeit her etwas (quelque chose) existiert hat, weil alles, was einen Anfang hat, von etwas anderem erzeugt worden sein muss.«19 So einfach und leichtverständlich erscheint Leibniz diese durch die Vernunft zu beweisende Wahrheit.20 Wenn nun irgendeine Sache (res) ist, dann ist es unmöglich, dass absolut nichts ist, dann muss Seiendes (Sein) sein, und zwar ist es mit (ihm eigener?) Notwendigkeit. Das Sein schließt das Nichts mit Notwendigkeit aus. »Angenommen, die Dinge müssen existieren, so muss man darüber hinaus den Grund angeben können, warum sie so existieren müssen, [und warum] nicht anders.« 21 Das Prinzip vom hinreichenden Grund ist es erst, das Leibniz ausdrücklich auf die weitere Frage bringt, warum es eher (plustôt) irgendeine Sache gibt als nichts. Warum existiert vielmehr (lieber) etwas und nicht nichts? Aber warum die kontingenten Dinge nicht nicht sind, die eher so oder anders da sind, als dass sie nicht sind, die eher überhaupt existieren und so existieren, wie sie existieren, als dass sie überhaupt nicht sind, das erfordert notwendigerweise einen »zureichenden Grund, der keines anderen Grundes mehr bedarf«.22 Dieser findet sich außerhalb (hors) der Reihe kontingenter Gründe und ist eine sich selbst verursachende Substanz bzw. ein notwendiges Seiendes (Etre necessaire), das der Grund seiner Existenz ist. Dieses begründet die Welt als die vollkommenste und beste aller tatsächlich schaffbaren Welten.
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Sachprobleme systematischer Ortsbestimmung philosophischer Theologie
Dritter Exkurs
Leibniz legt das Prinzip vom zureichenden Grund, das ihn auf die Grundfrage führt (oder diese in apodiktischer Form vorwegnimmt), als metaphysische Voraussetzung jedes Gottesbeweises frei. Das Prinzip, »ohne das man nicht zum Beweis des Daseins Gottes gelangen könnte«,23 gehört so in den Zusammenhang seiner Gottesbeweise, dass wir, wenn wir überhaupt einen Gottesbeweis führen wollen, ohne dieses Prinzip nicht auskommen können. Im Anschluss an Leibniz findet dann bei Christian Wolff das Prinzip vom hinreichenden Grund (nunmehr als durch die Grundfrage erfragtes Prinzip) Eingang in seine weit verbreitete systematische Ontologie: »Nichts ist ohne hinreichenden Grund, warum es eher sei, als nicht sei.«24 Was es denn phänomenal heißt, dass etwas von sich selbst her eher (= vielmehr, lieber: potius) ist, als dass es nicht ist, müsste geklärt sein, um überhaupt nach so etwas wie nach einem Grund fragen zu können. Dass es ihm im Überschwang seiner Fülle um es selbst geht, ist in einem positiven Sinn etwas ungeheuer Abgründiges, das uns noch zu denken geben wird. Auch Schelling ist in seiner Spätphilosophie auf die bekannte Grundfrage zurückgekommen, aber sein Zugang zu ihr ist ein anderer, ein vorphilosophischexistenzieller: Bei aller vergeblichen Mühe und Arbeit erscheint sich der Mensch »selbst das Unbegreiflichste« in der Welt zu sein, was ihn voller Verzweiflung zur »letzten« und »allgemeinsten« Frage treibt: »warum ist überhaupt etwas? warum ist nicht nichts?«25 Ohne jede Bevorzugung des in Frage Gestellten und des allein fragen könnenden Menschen wird die Frage nach dem Seienden als solchem ausdrücklich als Doppelfrage gefragt, die freilich auf den Menschen zurückfällt. Es droht hier alles in einer großen Verzweiflung in den »Abgrund eines bodenlosen Nichts« zu versinken, aus dem die Frage einen Ausweg suchen soll, denn sie stellt die Grundforderung, das Seiende als Gegründetes (in der Mächtigkeit unbedingter Potenzialität) zu begreifen. Die Grundfrage entzündet sich nicht am vorgefassten Leitfaden eines ontologischen Prinzips, am Satz vom Grund, sondern sie enthüllt sich als die Wesensbestimmung der Philosophie. Philosophie (als Philosophie der Offenbarung) ist vernünftige Ausarbeitung der Grundfrage, weil sie ihre ,letzte‘ und ,allgemeinste‘ sowie ihre erste und sie eröffnende, anfängliche Frage ist. 23 G. W. Leibniz, Die philosophischen Schriften, Bd. 7, 419, Leibniz’ fünftes Schreiben an Clarke: »J’ose dire que sans ce grand Principe [celuy du besoin d’une Raison suffisante], on ne sauroit venir à la preuve de l’existence de Dieu […].« 24 Chr. Wolff, Gesammelte Werke, Abt. 2, Bd. 3: Philosophia prima sive ontologia, §§ 70–71: Nihil est sine ratione sufficiente, cur potius sit, quam non sit. 25 Schellings Werke, Ergänzungsbd. 6: Philosophie der Offenbarung, 7 f., vgl. 242. Vgl. zur kritischen Erörterung der Grundfrage bei Schelling auch G. Pöltner (1983), Der Gottesbegriff beim späten Schelling.
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Wieder in eine völlig andere, vom ,Leben‘ bewegte Richtung weist Henri Bergson. Unser Dasein kann im Erstaunen als Wunder und als »Sieg über das Nichtsein« erscheinen. »Eigentlich, so sage ich mir, könnte, ja müsste überhaupt nichts da sein, und staune nun, dass etwas ist«, als wäre das leere Nichts »der Ursprung des ganzen Wunders«.26 Nach Bergson rührt die Unruhe der Frage daher, dass wir das Nichtsein wie ein Gebiet ansehen, auf dem das Sein erst nachträglich seine Eroberungen macht, etwa wie eine Unterlage oder Leinwand, der das Dasein eingestickt wird. Man meint irrtümlich, zuerst könnte, ja müsste nichts sein, und wundert sich dann, dass etwas da ist und nicht statt seiner das Nichts, Leere, die Abwesenheit von allem schlechthin. Zu Recht hält Bergson diesen Begriff des absoluten Nichtseins, wonach überhaupt nichts existiert, für einen spekulativen Pseudobegriff, der sich aus der Verdinglichung eines im gewohnten Handeln gespürten Mangels, dass etwas noch nicht existiere, sowie aus einer dem Handeln entsprechenden negativen Begriffsbildung herleitet. Noch dazu sei ein weiterhin existierendes Subjekt, dessen Gegenstand das ,absolute Nichts‘ ist, undenkbar. Damit erübrige sich für ihn die Grundfrage. Vollziehbar sei, dass etwas ist, nicht aber, dass absolut nichts ist. Aber ein durch Verneinung der Allheit des Seienden gewonnenes imaginäres Nichts ist kein Argument gegen die Grunderfahrung des Nichts, die Bergson angesprochen hat. Doch insofern sich im Phänomen des Nichts das Sein zu erfahren gibt, erfährt der Mensch mit Heidegger auf der Spur Bergsons »das Wunder aller Wunder: dass Seiendes ist«.27 Die Grundfrage lässt sich nicht abschieben, sie kann »in einem Jubel des Herzens« wieder auftauchen, »weil hier alle Dinge verwandelt und wie erstmalig um uns sind, gleich als könnten wir eher fassen, dass sie nicht sind, als dass sie sind«.28 Hier wird das Sichbefinden des Menschen im Ganzen des Seienden (= »alle Dinge«) in einzigartiger Weise unmittelbar eröffnet und damit das Fragen der Grundfrage möglich. Dasselbe kann auch in der Freude am Anwesen eines geliebten Menschen geschehen: »Eine andere Möglichkeit solcher Offenbarung [des Seienden im Ganzen] birgt die Freude an der Gegenwart des Daseins – nicht der bloßen Person [als ein seiendes Aktzentrums] – eines geliebten
26 H. Bergson, Schöpferische Entwicklung, 277–297, hier 278. 27 M. Heidegger, GA, Bd. 9: Wegmarken, »Nachwort zu: ,Was ist Metaphysik?‘«, 307. 28 M. Heidegger, GA, Bd. 40: Einführung in die Metaphysik (1929), 3. Vgl. dazu auch M. Scheler, Gesammelte Werke, Bd. 5: Vom Ewigen im Menschen (11920, 21922), 92–99, der die »eminente Positivität des Inhalts der Einsicht, dass überhaupt Etwas ist und nicht lieber Nichts«, als Erste in der »Ordnung der fundamentalsten Evidenzen« sowie als »Gegenstand der intensivsten und letzten philosophischen Verwunderung« hervorgehoben hat. (93) 29 M. Heidegger, GA, Bd. 9: Wegmarken, »Was ist Metaphysik?«, 110.
Dritter Exkurs
Menschen.«29 In der Liebe (und übrigens auf seine Weise auch in der therapeuti-
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Sachprobleme systematischer Ortsbestimmung philosophischer Theologie
schen Heilkunst) versammelt sich im Dasein das Ganze, das Gewesensein wie das Zukünftigsein, und vermag in die Fragwürdigkeit aufzubrechen. Anders als im Staunen und Jubel oder in Verzweiflung und Daseinsangst (Hineingehaltensein in das Nichts der Todeserfahrung) kann nach Heidegger die Grundfrage auch in der tiefen Langeweile, in der ,es einem langweilig ist‘, auftauchen. In ihr dehnt sich die leere, nicht durch Ereignisse gefüllte Zeit. Ausgeliefert an das Offene der »Zeithorizonte« und auf diese Weise an das Ganze des Seienden, wo alles gleich viel und gleich wenig gilt, findet sich das Dasein hingehalten und leer gelassen.30 Wo »die hartnäckige Gewöhnlichkeit des Seienden eine Öde ausbreitet«, mag sich die Frage erheben: ,Gleichgültig, ob das Seiende ist oder nicht ist, warum dann eigentlich, warum dann überhaupt …?‘ Heidegger ist dieser Frage, die er für die Grundfrage der Metaphysik hält, erstmals ausführlicher nachgegangen. Jedoch erblickte er in ihr eine »Übergangsfrage«, eine Frage im Übergang zur in ihr mitgefragten Seinsfrage.31 Diese lautet nun: »Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?«32 Hier ist mit Bedacht »Nichts« großgeschrieben. Gegenüber Leibniz und Schelling, die »nach der obersten Ursache aller seienden Sachen«33 als »der ersten seienden Ursache für alles Seiende«34 fragen, hat sich bei Heidegger die Frage gewandelt. Nicht mehr ,Warum ist vielmehr (eher, lieber) Seiendes denn nichts?‘ ist die Frage, sondern ihr Schwergewicht hat sich auf ,Warum ist nicht vielmehr Nichts?‘ verlagert. »Gefragt ist jetzt: woran liegt es, dass überall nur das Seiende den Vorrang hat, dass nicht eher das Nicht des Seienden, ,dieses Nichts‘, d.h. das Sein hinsichtlich seines [zeitwörtlich verstandenen] Wesens bedacht wird?«35
Dritter Exkurs
3.2.1 Erörterung der Grundfrage Als Grundfrage, welche in die Metaphysik im Übergang zum Denken des Seins einführen soll, wird die Grundfrage von Heidegger als die rangmäßig erste aller Fragen aufgewiesen. Sie ist das nicht in der Ordnung der zeitlichen Aufeinanderfolge 30 M. Heidegger, GA, Bd. 29/30: Die Grundbegriffe der Metaphysik, 199–249. 31 M. Heidegger, GA, Bd. 66: Besinnung, »XXI. Die metaphysische Warumfrage (Übergangsfrage)«, 265–277. 32 Vgl. zum ganzen Folgenden M. Heidegger, GA, Bd. 9: Wegmarken, Was ist Metaphysik?, 103– 122; Nachwort zu ,Was ist Metaphysik?‘ 303–312; Einleitung zu ,Was ist Metaphysik?‘, 365–383, und vor allem ders., GA, Bd. 40: Einführung in die Metaphysik, 1–39. 33 M. Heidegger, GA, Bd. 9: Wegmarken, Einleitung zu ,Was ist Metaphysik?‘, 382. 34 A.a.O., Zur Seinsfrage, 420. 35 Ebd.
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der Fragen, sei es im Aufbrechen des kindlichen Fragesturms, wo die Warum-Frage später kommt als die Was-Frage, oder innerhalb der Geschichte der Philosophie, wo es den Anschein hat, dass diese Frage erst gestellt werden konnte, nachdem ihr die biblische Lehre von der Schöpfung aus dem Nichts vorausgegangen war.36 Auch wenn nur wenige diese Grundfrage ausdrücklich (explizit) zustande bringen und eigens fragen, geht diese Frage jede und jeden einmal an: etwa durch sie flüchtig gestreift oder hart belästigt, kaum erfasst (implizit) oder auch verdrängt, abgewehrt oder als Scheinfrage oder Scheinproblem tabuisiert. Mir scheint, dass uns diese Frage ganz alltäglich bewegt, etwa wenn wir nicht nur gewohnheitsmäßig, sondern teilnahmsvoll fragen: ,Wie geht es dir?‘ Das heißt ,Wie befindest du dich bei dir selbst, mit den Anderen, bei den Dingen? Wie findest du dich stimmungsmäßig vor, d.h. wie bist du dir unmittelbar offenbar als dasjenige Seiende, das du selbst bist in deinem Sein?‘ Das besagt unausgesprochen, es muss ja nicht so gehen, wie es geht, es könnte anders, ja ganz anders gehen, schlechter oder auch besser, ja es könnte gar nicht mehr gehen – geht es uns auf diese Weise doch untergründig um unser Sein zum Tode, um das sich die Sorge bewegt. Man kann unangenehme Stimmungen, die solches hochkommen lassen, verleugnen und darauf empfindlich reagieren. Oder die Erkundigung wird abgeblockt, wir wollen nicht daran erinnert werden und versichern lautstark, es gehe uns gut, alles sei in Ordnung. Mindestens kann in diesem Fragwürdigwerden menschlicher Existenz ein Anlass zu ausdrücklicherem Fragen liegen.
Die Grundfrage erweist sich als die erste Frage dem Range nach vor allem deswegen, weil sie die weiteste und die tiefste ist. Die Frage ist die weiteste, weil sie am weitesten ausgreift und alles, was überhaupt ist, umgreift.37 Dabei ist nicht zu vergessen: Wir sind im Zuge der Ausweitung der uns als Menschen existenziell betreffenden Grundfrage auf diese Frage nach dem Ganzen gekommen, weil wir uns in der Zugehörigkeit zum Ganzen oder durch dieses in Frage gestellt erfahren. Wir befragen also nicht (mehr) eigens dieses oder jenes da und auch nicht der Reihe nach alles Seiende, indem wir etwa die Bereiche ihrer Entstehung nach durchgehen (Kosmogenese, Geogenese, Biogenese, Anthropogenese, Noogenese), sondern was uns in seiner Fragwürdigkeit überkommt, ist von vornherein überhaupt alles Seiende. Wir fragen nach allem in einem, und mit allem Seienden ist jedes einzelne 36 Dazu kritisch A. Zimmermann, Die »Grundfrage« in der Metaphysik des Mittelalters, 141 ff. 37 M. Heidegger, GA, Bd. 9: Wegmarken, Was ist Metaphysik?, 4.
Dritter Exkurs
a) Die Frage nach dem Ganzen und dem Grund als rangmäßig erste Frage
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Sachprobleme systematischer Ortsbestimmung philosophischer Theologie
Dritter Exkurs
Seiende mit in die Fragwürdigkeit gezogen. Aber Seiendes begegnet uns immer nur aus dem Ganzen (in der Welt), damit ist in jedem Seienden das Ganze fragwürdig und erst recht das Seiende im Ganzen als solches. Nicht nur das Ganze der Seienden in ihrer Mannigfaltigkeit zusammengenommen, sondern das Seiende im Ganzen, insoweit es seiend bzw. Seiendes ist, kommt in Frage. Fragen wir nach Grenzen dieses weitest ausholenden Fragens, so ist nichts von dem, was überhaupt ist, auszulassen. Das Ganze des Seienden schließt alles ein, was immer ist, nicht nur Gegenwärtiges, sondern auch vormals Gewesenes und zukünftig Seiendes. Die Grundfrage ist von so unüberholbarer Weite, dass alles, was nur nicht nicht ist, in ihren Bereich fällt. Somit hat sie an dem, was schlechthin nicht oder nie ein Seiendes ist, an diesem ,Nichts‘, ihre Grenze. Heidegger geht hier noch weiter: Am Ende fällt sogar das Nichts selbst in die Frage, »nicht deshalb, weil es Etwas, ein Seiendes, ist, da wir doch von ihm reden, sondern weil es das Nichts ,ist‘«.38 Fragen wir doch, »warum nicht Nichts ist«. Keineswegs steht das hinsichtlich seines ,Warum‘ (als Woraufhin der Frage) befragte Seiende im Ganzen zunächst einmal als ein Vorfragliches unbefragt fest, und dann wird ihm die Grundfrage äußerlich hinzugefügt. Vielmehr wandelt sich das Verständnis für das Ganze aus den verschiedenen Erfahrungen seines Gründens und Begründetseins. Das Befragte rückt voll und ganz in den Bezug zum Grund. Sein Verständnis muss für den Rückstoß der Antwort auf das Wesenhafte dieser Frage, das heißt, auf das wie auch immer verstandene Grundhafte, offen bleiben.39 Gefragt wird: Warum ist überhaupt Seiendes …? Warum, das heißt, welches ist der Grund?, und zwar in dreifacher Hinsicht gefragt: Aus welchem Grund kommt das Seiende (Herkunft, Hervorgang, Anfang, Ursprung)? Auf welchem Grund steht und geht das Seiende (Tragendes, Bauendes, Haltendes, Umgreifendes)? Zu welchem Grund geht das Seiende (Zukunft, Ausgang, Vollendung, Erreichtes, Untergang)? Inwiefern ist das Grundhafte eröffnet – jenes Grundhafte, das ,west‘, indem es schon gründet, d.h. Seiendes als solches sein lässt? Die Grundfrage fragt nicht partikulär nach diesem oder jenem Grund bei Seienden an, sondern universell nach dem Grund. Der am weitesten ausgreifenden Frage kann nur der tiefste Grund entsprechen. Wird das nicht beachtet, dann kann es zu fatalen Verwechslungen des universellen Grundes mit einem partikulären Grund (Bereichsgrund) kommen. Im Fragen nach dem Grund eröffnet sich 38 M. Heidegger, GA, Bd. 40: Einführung in die Metaphysik, 4. 39 Als Beispiel sei verwiesen auf die verschiedenen Möglichkeiten der Auslegung des Seienden im Ganzen bzw. des All-Einen (n p1nta) bei Heraklit, vgl. M. Heidegger, GA, Bd. 55: Heraklit, 242–266.
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der Bezug zum Seienden im Ganzen und damit zu allem und jeglichem Seienden. Grund und Ganzes gehören zusammen. Im Grund ist der Bezug zum Ganzen des Seienden eröffnet. Wir verstehen nur das, wofür wir den Grund kennen, und in dem Maß, als wir ihn kennenlernen und um ihn wissen. Das Ganze ist nur aus dem Äußersten seiner Grundhaftigkeit, der Grund nur im Begründen des Ganzen zu verstehen, das er sein lässt, durchragt, das in ihm ,ent-halten‘, gewahrt und entfaltet ist. Zwischen dem Ganzen und seinem Grund besteht ein Entsprechungsverhältnis: Je tiefer das Fundament, desto tragfähiger; je höher der Berg, desto aussichtsreicher. Je tiefer der Grund, desto umfassender das begründete Ganze. Das Ganze des Seienden ist überhaupt erst vom letzten Grund her ,wahr-zu-nehmen‘, der selber nicht mehr (iterativ) zu begründen ist.40 Das Fragen nach dem Grund kann sich als Suchen, Fordern, Voraussetzen verstehen; überkommt einen hingegen die Fragwürdigkeit des Ganzen, so entspricht dem ein Eingehen auf das Kommen des Grundgebenden, ein Sich-geben-Lassen und Übernehmen des Grundes: ein Sichgründen. Die dem Grund entsprechende denkende Entgegennahme des Grundes heißt Ergründen. Sie bringt das Ganze auf den Grund und baut auf ihn, das heißt sie begründet. Aber gerade hier steht alles auf dem Spiel, denn wie es um den Grund steht (mit dem Grundhaften des Grundes) und wie es mit ihm geht, das bleibt dem Fragen offen. Entspricht die Idee des Grundes einer Vorstellung, die sich aus einem höheren Bedürfnis herleitet, das mit der Gewissheit rechnen will, ein letztes, unzerstörbares Fundament zu haben? Dieses metaphysische Bedürfnis kompensiert die Unsicherheit und Unheimlichkeit der Erfahrung von Grund- und Bodenlosigkeit des eigenen Daseins. Analog zur ontotheologischen Idee des Höchstdenkbaren kann der Gedanke an einen Grund durch Idealisierung mühelos im Superlativ als Letztgrund angesetzt werden. Es kann daher keinesfalls von vornherein als ausgemacht gelten, dass der Grund ein wahrhaft gründender ist, ein Gegründetes hervorbringender Urgrund. Die ,Idee‘ eines Grundes samt ihrer ideologiekritischen Aufklärung muss auf den Boden unhintergehbarer Phänomenalität zurückgebracht werden. Diese Erscheinungsmannigfaltigkeit ist nun zu sichten. Erweckt der Grund einen beirrenden Anschein von Gründung und ist er so ein Ungrund? Enthüllt sich in diesem Grund nicht der Abgrund der Grundlosigkeit (im Sinne eines Mangels oder bodenloser Leere, Absurdität) – ein Misston für den gesunden Menschenverstand? Oder versagt der Abgrund nur die übereilte Gründung, insofern er sich dem suchenden Fragen entzieht, weil er Grund ist, 40 Vgl. L. Gabriel (1953), Einführung in indisches Denken, XI ff.
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Sachprobleme systematischer Ortsbestimmung philosophischer Theologie
der immer wieder in die Tiefe zurückweicht, die doch Grund (innige Weite) hat? Oder ist der Urgrund ,Ur-grund‘, weil er wahrhaft gründender Grund ist, und ,Urgrund‘, weil er selbst grundlos ist – grundlos aber nicht im Sinne eines Mangels oder Ausbleibens von Gegründetheit, sondern in abgründiger Gegründetheit die Überfülle des in sich Gegründetseins gewährend, die erfüllte Tiefe seines Grundseins unerschöpflich bergend, offenbarend und mitteilend? Die WarumFrage geht nur dann, wenn in ihr nach dem Grund von allem gefragt wird, in eine letzte Tiefe. Woher, woraus, wodurch, woraufhin ist das Ganze des Seienden und warum nicht nicht? Radikal nach dem Ganzen fragen heißt, der Wurzel des Ganzen nachgehen, ihm an die radix, die Wurzel, gehen. Doch weder die Wurzel (in der Einzahl) noch ein Rhizom (Wurzelwerk) wird gesucht, sondern das Verwurzeltsein im Wurzelgrund. Und hier gilt: Die Grundfrage ist nur »als die weiteste […] zugleich unter den tiefsten Fragen die tiefste«.41
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b) Die Grundfrage eröffnet der Philosophie den Anfang Unsere vorläufige Auskunft über Philosophie und ihre Grundfrage hat Philosophie bestimmt als den Versuch einer Besinnung auf das Ganze des Seienden im Bezug zum ersten, tiefsten und letzten Grund eben dieses Ganzen. Mit Heidegger ist hier noch ein Schritt weiter zu gehen, der sagt: »Das Fragen dieser Frage ist das Philosophieren.«42 In der Grundfrage fragen wir nach dem Ganzen und dem Grund. Das ist vermutlich die Frage, die der Philosophie ihren Anfang freigibt, d.h. sie im Ganzen eröffnet und auf ihren tragenden Boden bringt, aber nicht die Frage nach ihrem Beginn. Im Unterschied dazu bezeichnet der Beginn des Philosophierens nur verschiedene Weisen, wie philosophische Themen angeschnitten werden. Zu fragen ist also, ob die Grundfrage die Frage ist, welche solcherart das Philosophieren eröffnet. Womit soll die Philosophie anfangen? Diese Frage ist schon eine Frage der Philosophie, denn wir können nicht nach dem Anfang der Philosophie fragen, wenn wir nicht schon um Philosophie wissen und philosophisch fragen. Allein, vollziehen wir, was das Philosophieren anfangen heißt, zutiefst bewegt, von Fragen überwältigt? Oder ist uns das schon selbstverständlich geworden, sodass wir nur für sachlich später kommende Fragen etwas übrig haben, etwa nach dem methodischen Beginn oder nach dem Anfang der Philosophie als Wissenschaft? Die rangmäßig erste Frage kann nicht voraussetzen, was Philosophie (Erste Philosophie, Metaphysik, 41 M. Heidegger, GA, Bd. 40: Einführung in die Metaphysik, 5. 42 A.a.O., 14.
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Ontologie usw.) ist, und lauten: »Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich?« Nach Kant ist Metaphysik einfach »als gegeben anzusehen«, und zwar »als Naturanlage (metaphysica naturalis) wirklich«.43 Doch wie sollte nach der Bedingung der Möglichkeit ihrer Erkenntnis gefragt werden, wenn über die Art ihrer Erkenntnis bzw. ihres Gegenstandsbereiches, der bei Kant noch dazu als übersinnlich, dem reinen Vernunftvermögen entwachsen, vorausgesetzt wird, zu Recht kein Konsens mehr besteht? Müssen wir nicht im schlichten Rückgang auf das leibhaftige Anwesen in der Mit- und Umwelt (die unverkürzte »Naturanlage«) dieses selbstverständlich Gewordene als ,Selbst-Verständnis‘ erst erwecken? Das heißt, Philosophie muss in ihrem phänomenal gegebenen Anfang selber erst jeweils neu entdeckt werden. Wie aber entdeckt sie sich selber? Ist, um dies zu erfahren, nicht zu fragen, welche Frage zu ihr führt? Muss sie nicht mit der weitesten unter den weiten und der tiefsten unter den tiefen Fragen anfangen? Und ist dies nicht die Grundfrage: Warum ist überhaupt Seiendes? Und warum ist nicht nichts? Philosophie entdeckt sich in diesem Fragen als Philosophie. Kommen wir in diesem Fragen zur Philosophie und fängt die Philosophie also mit dem Seienden im Ganzen und dem Grund (Sinn von Sein) an,44 dann ist vermutlich die Grundfrage der Philosophie und die Grundfrage der Ontologie als der Ersten Philosophie dieselbe. Dass im Beginn der Ontologie sich das Wesen der Philosophie selbst enthüllt, weist uns darauf hin, dass in der Ontologie zu Recht der systematische Anfang der Philosophie als Erster Philosophie (prima philosophia) liegt. Doch stehen dem aus der philosophischen Theologie kommende Bedenken entgegen. Wurde von einer Zusammengehörigkeit von Grund und Ganzem gesprochen, so fragt sich, aus welcher Weise des Sichverhaltens wir für sie zugänglich sind. Hier ist zu vermeiden, dass im Gang zum Grund die Wege alternativ, widersprüchlich werden, wenn entweder von der Welt der Sinneserfahrung oder von der übersinnlichen Welt (der Vernunft bzw. transzendentalen Egologie) ausgegangen wird – zwei nachträglich isolierte Konstrukte. Auch ein schlechter Kompromiss führt hier nicht recht weiter. Was den Horizont des Ganzen in der ihm zugehörigen Tiefe unverkürzt freizugeben
differenzierte Bewährung durch eine Auseinandersetzung oder Einbeziehung anderer partikulärer Anliegen des Philosophierens steht hier aus, wie beispielsweise Liebe zur Weisheit statt Streben nach ihr, Einübung in den Tod, Lebens- und Existenzphilosophie, Wissen um ein gutes Leben und die glückliche Lebensführung, Begründung der Erfahrungswelt, Transzendentalphilosophie, Wissenschaftswissenschaft, Ideologiekritik, Motivanalyse der Diskurse mit Wahrheitsanspruch, Dekonstruktion der Metaphysikruinen oder besser: anfängliches Fragen nach ihren Anfangsgründen.
Dritter Exkurs
43 Kant, KrV, Einleitung, B 21 f. 44 Dass hier nur ein grober Vorbegriff von Philosophie geboten wird, versteht sich von selbst. Seine
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vermag, ist – wie schon in der Propädeutik der Philosophie phänomenologisch herausgearbeitet wurde – der Rückgang in die leibhaftige, gesammelte Weise unseres Anwesens als Mitmenschen im Horizont der offenen Weite der Welt und ihrer Tiefe.
Dritter Exkurs
c) Zum Versagen der Gründlichkeit der Grundfrage in der Metaphysik Das Versagen der Gründlichkeit meint nicht nur einen Mangel an Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit im Denken. Gründlich ist ein Fragen, das, indem es auf den Grund geht, das Fragen nicht vorschnell oder kurzschlüssig für beantwortet hält und abbricht, sondern den Grund in seiner vollen Fragwürdigkeit hervortreten lässt. Gefragt wird in der Grundfrage weder nach seienden Ursachen noch nach Bereichsgründen für das Seiende im Ganzen. Die Grundfrage (als Frage nach dem Seienden im Ganzen als einem solchen) kann selbst nicht wieder durch eine Ursache (oder Ursachen) beantwortet werden, die von der gleichen Art ist und auf der gleichen Ebene liegt wie die anderen Seienden. Ähnliches gilt für einen bestimmten Bereich innerhalb des Seienden im Ganzen.45 Schon gar nicht ist eine erste und letzte Wirkursache in der zeitlichen Reihe der Ursachen gesucht, da ja jedes mögliche Ganze des Zusammenhanges von Ursache und Wirkung (sei es endlich oder endlos vorgestellt) selber noch in der Frage ,Warum ist nicht überhaupt nichts?‘ steht. Die Grundfrage konnte und kann, ausgehend von seienden Wirkursachen, zu Recht als ein Scheinproblem erwiesen werden bzw. als unsachgemäße Frage erscheinen. Zwar ist jede seiende Ursache ein Grund, aber das gilt umgekehrt nicht in gleicher Weise, denn nicht jeder Grund ist eine Ursache und zudem ist nicht jede Ursache eine Wirkursache. Das gilt sogar im Bereich des Ontischen, beispielsweise verursacht die Fläche nicht die Farbe, aber sie gibt ihr Grund. Nach Heidegger 46 ist die Grundfrage auch nicht eigentlich gefragt, wenn man die Frage unter Berufung auf Sätze der biblischen Offenbarung (d. h. doch: an der Erfahrung der biblischen Offenbarung vorbei im Sinne eines bloßen Satzoder Buchstabenglaubens!) beantwortet ,glaubt‘: »Das Seiende, soweit es nicht Gott selbst ist, ist durch diesen geschaffen. Gott selbst ,ist‘ als der ungeschaffene Schöpfer.« Der fraglos als vorhanden vorgestellte Schöpfer im Sinne des höchsten Seienden hat also alles andere Seiende geschaffen, und darum ist es. Als in christlicher Theologie und Philosophie ,geglaubter‘ Satz stammt er bereits aus einer Übernahme der (einer?) griechischen Metaphysiktradition, die das Seiende 45 Auf die Abwegigkeit der Rückführung des Ganzen des Seienden als solchem auf bestimmte Bereichsbestimmungen (Materie, Leben, Geist, Idee, Wille usw.) und auf die ideologiekritische Bedeutung der Ontologie ist hier noch nicht einzugehen. Siehe unten 3.3.5. 46 M. Heidegger, GA, Bd. 40: Einführung in die Metaphysik, 8 f.
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als Seiendes im Allgemeinen und als Höchstes sich bloß vorstellt, aber »von der Erfahrung des Seins durch ihr eigenes Wesen ausgeschlossen« ist. Der geglaubte Satz (»Buchstabe«, der tötet) als Antwort »kann überhaupt keine Antwort auf unsere [Grund-]Frage darstellen, weil er auf diese Frage keinen Bezug hat. Er hat keinen Bezug darauf, weil er einen solchen darauf gar nicht nehmen kann.« Eine solche Philosophie wäre aus der Erfahrung des ursprünglich christlichen Glaubens heraus nach 1 Kor 1,20 eine Torheit, weil sie nichts als verschlagene ,Weisheit‘ (bzw. Ideologie) ist, wie sie der widergöttlichen Menschenwelt entspricht. Wenn Heidegger lapidar erklärt, was in der Grundfrage »eigentlich gefragt wird, ist für den Glauben eine Torheit«, so geht daraus nicht hervor, ob er nicht etwa meint, was in der Grundfrage der Metaphysik (und ihrer philosophischen Theologie) als bloß vorgestellter und postulierter Grund gesucht wird, stelle sich für eine theologische Theologie zu Recht als Torheit heraus. Das könnte dann nicht mehr für ein eigentliches Verstehen der Grundfrage als Übergangsfrage zum Seinsverständnis gesagt werden.47 Wie dem auch sei, ob und wie die monotheistischen Religionen in ihren Theologien die Grundfrage abweisen oder vielmehr von ihr als einer allgemein menschlichen Möglichkeit des Fragens mit in Atem gehalten werden, können sie nur selbst entscheiden. Hier steht jedoch diese Möglichkeit des Fragens als das ihnen eigene philosophische Vorverständnis (zu dem sie sehr wohl einen Bezug nehmen müssten) und nicht der Schöpfungsglaube als religiöser Glaube zur Diskussion. Mittelalterliche Denker haben die Grundfrage, die nur selten wörtlich gestellt wurde, überwiegend für eine Scheinfrage gehalten.48 Dieses Ergebnis war kaum eine Folge ihres christlichen Glaubensverständnisses, sondern vielmehr ihres abstrakten Verständnisses des Seienden. Umfasst das Seiende als solches und im Ganzen gemeinsam das endliche (geschaffene) und das unendliche (ungeschaffene) Seiende, also Gott und die Welt, dann ist es unlogisch und widerspruchsvoll, nach einem Grund (principium) oder nach Ursachen dieses Ganzen zu fragen, die ja selbst wiederum nur Seiende und im bereits vorgefassten Ganzen enthalten wären. Für die geschaffenen Seienden hingegen hielt man die Grundfrage durch die Annahme der Grund- bzw. Ursachelosigkeit Gottes für abschließend beantwortet, wenn nicht dem Nichtwissen um Gott das Übergewicht zugestanden wurde. Beispielsweise sagt der einflussreiche Siger von Brabant: »Wenn man die Gesamtheit alles Seienden zum Gegenstand der Frage macht, warum es in ihr überhaupt etwas gibt 47 Auf Heideggers Problematisierung des Schöpfungsverständnisses soll im Nachfolgeband eingegangen werden. 48 Vgl. A. Zimmermann, Die »Grundfrage« in der Metaphysik des Mittelalters.
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und nicht vielmehr nichts, so kann man keine Ursache dafür angeben; denn diese Frage ist mit der Frage identisch, warum überhaupt Gott und nicht vielmehr nichts ist. Für Gottes Dasein aber gibt es keine Ursache. […] Demgemäß hat also nicht jede Frage ein Erfragtes und nicht jedes Seiende eine Ursache.«49 Die Grundfrage ist also gegenstandslos, weil Gott ohne Ursache ist. Ein Zeugnis eines philosophischen Plädoyers aus der neueren philosophischen Theologie für die abschließende Beantwortbarkeit der Grundfrage durch das Schöpfungsprinzip formuliert Caspar Nink in gewohnter Klarheit: »Beim kontingent Daseienden geht […] das Nichtdasein dem Dasein voraus, und bei ihm ist zu fragen: Warum existiert es?, während es auch nicht existieren könnte. Bei Gott dagegen lässt sich nicht sinnvoll fragen: Warum existiert er und nicht vielmehr nichts? Die Existenz ist ihm wesensnotwendig und deshalb nicht von ihm trennbar. Daher ist das völlige oder absolute Nichts innerlich unmöglich. Das Warum ist mit dem Begriff des Seienden gegeben, das absolute Nichts hat weder einen Grund, noch kann es Seinsgrund sein.«50 Gewiss kann ein absolutes Nichts weder Grund noch Seinsgrund sein, denn aus diesem als absolut vorgestellten Nichts kann nichts entstehen und nichts entstanden sein. Man kann mit Thomas von Aquin sagen: »Wenn [einmal] nichts Seiendes war, dann war es auch unmöglich, dass etwas zu sein anfing, und auf diese Weise wäre [immer nur] nichts, was offenbar falsch ist.«51 Oder man versteht hier den bekannten Grundsatz »Aus nichts wird nichts« als Abwandlung des Prinzips vom zureichenden Grund und damit auch als Entfaltung der Grundfrage. Gewiss ist auch die WarumFrage mit dem Seienden aufgeworfen, wodurch erst fragwürdig wird: Wenn Seiendes mit (einer gewissen) Notwendigkeit ist, warum dann nicht überhaupt nichts? Aber abgesehen davon, dass es problematisch ist, die Alternative ,kontingentes oder notwendiges Sein‘ einfach auf Geschöpf und Schöpfer zu übertragen,52 bleibt jede Art von subjektbezogen-entworfener göttlicher Notwendigkeit stets fragwürdig: Warum und wie ist Gott die Existenz so wesensnotwendig, dass ihm ein absolutes Nichts innerlich unmöglich ist? Der erstaunliche (zur Frage motivierende) Quell 49 Siger von Brabant, Quaestiones in Metaphysicam, IV, ed. A. Graiff, Philosophes Médiévaux, Bd. 1, Löwen 1948, 185: Si vero quaeratur de tota universitate entium, quare magis est in eis aliquid quam nihil, non contingit dare causam, quia idem est quaerere hoc et quaerere quare magis est deus quam non est, et hoc non habet causam. […] Unde non omnis quaestio habet causam nec etiam omne ens. (Text und Übersetzung nach A. Zimmermann, a.a.O., 148). 50 C. Nink, Philosophische Gotteslehre, 167 f. 51 Thomas von Aquin, Sth I, q. 2, a. 3. Dazu vgl. die Reflexion zur legitimen Denkbarkeit des »absoluten Nichts« bei J. Schmidt, Philosophische Theologie, 132–138. 52 Vgl. dazu vom Verf. (1997c), Der dritte Weg des Thomas von Aquin – ein Kontingenzbeweis?, in: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Bd. 2, 279–303.
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der (seiner) Notwendigkeit ist niemals etwas ins Wissen Aufhebbares, keine endgültig beantwortete Frage, solange wir ihn aus dem Grundgeschehen des Daseins selbst schöpfen dürfen, um mystagogisch auf ihn zu verweisen, statt ihn aus einer vorher gefassten Gottesidee zu rekonstruieren. Kant hat bekanntlich die spekulative Beantwortbarkeit der radikalen WarumFrage, die sich eines absolut notwendigen Seienden versichern will, problematisiert. Dagegen ist für ihn der Satz vom Grund ohne Ausnahme in Geltung, und zwar als Erkenntnisbedingung eingeschränkt auf die Erfahrung der Dinge in der linearen Abfolge der Zeitmomente, aber keineswegs für Gott als Ding an sich.53 Darüber hinaus anerkennt er einen bloß spekulativ, d.h. ohne Sinneserfahrung gefassten Vernunftbegriff von Gott als die Idee vom All der ,Realität‘ (im Sinne von Sachgehalt, nicht Wirklichkeit!), dessen Existenznotwendigkeit er jedoch auf dem Weg der theoretischen Vernunft, die nicht auf die menschliche Praxis eingeht, für nicht erweisbar hält. Könnte man sie beweisen, so hätte man zu allem Warum das Darum. Weil überhaupt etwas ist und nicht nichts, muss etwas vorhanden sein, dessen Nichtsein absolut unmöglich ist, und das nicht (wiederum) durch irgendetwas bedingt ist, also ein absolut notwendiges Seiendes: »Die unbedingte Notwendigkeit, die wir, als den letzten Träger aller Dinge, so unentbehrlich bedürfen, ist der wahre Abgrund für die menschliche Vernunft. Selbst die Ewigkeit, so schauderhaft erhaben sie auch ein Haller schildern mag, macht lange den schwindelichten Eindruck nicht auf das Gemüt; denn sie mißt nur die Dauer der Dinge, aber trägt sie nicht. Man kann sich des Gedankens nicht erwehren, man kann ihn auch nicht ertragen: daß ein Wesen [d.h. vorhandenes Seiendes], welches wir uns auch als das höchste unter allen möglichen vorstellen, gleichsam zu sich selbst sage: Ich bin von Ewigkeit zu Ewigkeit, außer mir ist nichts, ohne das, was bloß durch meinen Willen etwas ist; aber woher bin ich denn? Hier sinkt alles unter uns, und die größte Vollkommenheit, wie die kleinste, schwebt ohne Haltung bloß vor der spekulativen Vernunft, der es nichts kostet, die eine [Vollkommenheit] so wie die andere ohne die mindeste Hindernis verschwinden zu lassen.«54 Mit dem Begriff des absolut notwendigen Wesens (ens necessarium) tut sich der Vernunft der unendliche Abgrund des absoluten Nichts auf. Auf die ,billigste‘ Weise lässt man alles, was ist, Gott und die Welt, durch einen bloßen Gedanken in das absolute Nichts verschwinden. Dieser »wahre Abgrund« ist ärger als eine Ewigkeitsdarstellung, die Schaudern statt Scheu, Schwindel statt erhabene Festigkeit hervorruft. Wäre der 53 Kant, KrV, B 246, sowie in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 8: 213, Anm. 54 Kant, KrV, B 641.
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Satz vom Grund und mit ihm die Grundfrage radikal stellbar, dann müsste man – Kant tut es nur fiktiv – Gott unterstellen, dass er sich selbst diese Frage stellt, was im Sinne einer reductio ad absurdum die Sinnlosigkeit dieses Vorgehens erweist. In Absetzung von Kant suchte der späte Schelling durch die Grundfrage dem ,Abgrund eines bodenlosen Nichts‘ zu entgehen und hat schon früh ihre Beantwortung durch die Notwendigkeit des Seins (als Existieren!) geltend gemacht. Das »Erste in der Philosophie ist die Idee des Absoluten«, in dem Wissender (Bejahendes) und Gewusstes (Bejahtes) dasselbe sind; durch sie »erkennen wir, dass nicht nichts ist, sondern dass nothwendig und ewig das All ist«.55 Die Idee Gottes ist Selbstbejahung Gottes durch sich selbst, die wir als Licht unserer Vernunft begreifen: »Jenes absolute Licht, die Idee Gottes, schlägt gleichsam ein in die Vernunft, und leuchtet in ihr fort als eine ewige Affirmation von Erkenntniß. Kraft dieser Affirmation, die das Wesen unserer Seele ist, erkennen wir, dass das Nichtseyn ewig unmöglich und niemals zu erkennen noch zu begreifen ist, und jene letzte Frage des am Abgrund der Unendlichkeit schwindelnden Verstandes, die Frage: warum ist nicht nichts, warum ist etwas überhaupt? – diese Frage ist auf ewig verdrungen durch die Erkenntniß, dass das Seyn nothwendig ist, d.h. durch jene absolute Affirmation des Seyns in der Erkenntniß. Die absolute Position der Idee Gottes ist in der That nichts anderes als die absolute Negation des Nichts, und so gewiß die Vernunft ewig das Nichts negirt, und das Nichts nichts ist, so gewiß affirmiert sie das All, und so ewig ist Gott.«56 Wir haben also in einer Art Vorgriff auf die Idee des Absoluten als Ermöglichungsbedingung unserer Erkenntnis eine abschließende Antwort auf die Grundfrage. Diese wird zurückgestoßen (bzw. der Fragepunkt verschoben: mutatio elenchi) durch die Erkenntnis, dass, wenn nicht nichts ist, Nichtsein unmöglich und Sein (von sich selbst her) notwendig ist: »Auf die Frage, die der am Abgrund der Unendlichkeit schwindelnde Verstand aufwirft: Warum ist nicht nichts, warum ist überhaupt etwas? ist nicht das Etwas, sondern nur das All oder Gott die vollgültige Antwort. Das All ist dasjenige, dem es schlechthin unmöglich ist nicht zu seyn, wie das Nichts, dem es schlechthin unmöglich ist zu seyn.«57 Das Fragen der Grundfrage wird durch die vorweggenommene Antwort, dass das Seiende im Ganzen geschaffen ist bzw. dass Sein mit Notwendigkeit das Nichtsein ausschließt, nicht erledigt, abgesehen davon, dass es problematisch ist, Gott in der gewohnten Weise als Seiendes, »das höchste unter allen möglichen« (Kant), und zwar in Analogie zum innerweltlichen Seienden und von daher zu einer inner55 Schellings Werke, Ergänzungsbd. 2: System der gesamten Philosophie, 85 (= SW VI 155). 56 Ebd. 57 Schellings Werke, Bd. 4: Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie, 108 (= SW VII 174).
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weltlichen Ursache universalisiert, zu denken. In der vorweggenommenen Antwort kehrt erst recht hartnäckig und geheimnisvoll die Grundfrage wieder: Wie steht es mit der Grundhaftigkeit Gottes? Warum ist er? Und warum kann er nicht nicht sein? Oder könnte er es? Ist noch ein Grund außerhalb seiner oder ist er sich selber Grund (a nullo)? Wie ist er grundloser Grund (principium sine principio, ϑeß 2narcß): ,grundlos‘, ohne Anfang? Abgründig, aber abgründig in sich gegründet? Ist nicht die Grundlosigkeit Gottes das, was die Grundfrage uns zuletzt oder, umgekehrt, was uns zuletzt die Grundfrage aufgibt? Oder ist es Anmaßung, so zu fragen? Mag auch die Schöpfungstheologie der Offenbarungsreligionen ohne (unmittelbaren und direkten) Bezug auf die Grundfrage sein, so wird doch die philosophische Theologie voll und zur Gänze in die Fraglichkeit dieser Frage einbezogen werden müssen: »Und was ,die‘ philosophische Frage nach dem Warum von Seiendem überhaupt betrifft, so bekommt sie doch erst, durch Offenbarung und Glauben weniger beschwichtigt als vielmehr entfacht, ihre äußerste Schärfe und Dringlichkeit angesichts des ganz und gar ,grundlosen‘ göttlichen Seins.«58 Wenn überhaupt – und das ist ja erst die Frage, ob und wie von Gott gesprochen werden kann –, ist uns die Grundlosigkeit der Göttlichkeit Gottes aber nur in ihrer Unergründlichkeit 59 und als diese eröffnet.60 d) Die Grundfrage ist die Frage aller Fragen 61
58 J. Pieper, Verteidigungsrede für die Philosophie, in: Werke in acht Bänden, Bd. 3, 151, vgl. 149 ff. 59 Dazu vgl. auch S. L. Frank, Das Unergründliche, 60–69. 60 Angesprochen ist hier ein Wissen um das absolute Geheimnis (Mysterium) als Erscheinung des unergründlich Bleibenden. Geheimnis ist nicht ein ,Unvermögen‘ oder eine ,Fehlform‘ menschlicher Erkenntnis, sondern dasjenige, das sich von sich aus, von seinem tragenden Fundament her, in seinem Erscheinen als je immer mehr und anders, als wir je von ihm erfahren und wissen können, erweist. Die Grundfrage ist demnach niemals abschließbar zu beantworten, sondern angesichts des Geheimnischarakters dessen, was ist, nimmt die Fragwürdigkeit bei noch so großer Einsicht eher zu als ab. 61 Vgl. dazu M. Heidegger, GA, Bd. 40: Einführung in die Metaphysik, 5–8.
Dritter Exkurs
In der Frage nach dem Seienden im Ganzen überschreitet sich der Fragende selbst, er ist sich als partikuläres Seiendes, das da oder dort vorkommt, nicht mehr wichtig und bevorzugt im Fragen der Grundfrage keines der Seienden. Er überschreitet sich selbst seinem seienden Bestand nach und tritt in das Offene und Freie des Bezugs zum Ganzen und zum Grund. Er vermag dieses Sichüberschreiten faktisch, weil sein Dasein die Seienden in ihrer Ganzheit immer schon überschritten hat, ja in diesem Geschehen am Offenbaren, Offenen, Unverborgenen teilnimmt bzw. ihm
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teilgegeben ist. Das sich aus dem Sein zum Sein Verhalten ist ein Teilnehmen und Teilgeben. »Der Mensch übersteigt um ein Unendliches den Menschen«, sagt Blaise Pascal.62 Darin besteht sein Menschsein. Er entfaltet sich also nicht selbstgenügsam aus einer in sich geschlossenen Anlage; auch verhält er sich nicht nur gelegentlich transzendierend zum Ganzen und zum Grund, wenn er danach fragt, sondern umgekehrt: Alle Weisen des Sichverhaltens wurzeln in diesem Überstieg – auch die Vielfalt der Fragen und das Fragen im Einzelnen. Transzendenz als ein Geschehen des Sichüberschreitens und immer schon Überschrittenhabens ist »die auszeichnende Wesensverfassung« des menschlichen Daseins.63 In der Sorge um sich selbst in seinem Miteinandersein in der Welt geht es dem Menschen als Transzendenz (als Sichüberschreitendes) um sein Sein, um dieses als möglichen oder ermöglichenden Grund. Beruht das Fragen auf dieser menschlichen Möglichkeit, sich überschreitend in der Zeit zu sein, so geht es im Vielerlei der Einzelfragen um das Überschrittene in seiner Mannigfaltigkeit (oder auch Zersplitterung), letztlich aber um dieses ,Daseinsganze‘ selbst, dessen fragwürdige Möglichkeit in der Grundfrage aufbricht. Das Warum der Grundfrage hat hierin sein Warum. Insofern im Fragen Ganzes und möglicher Grund für ein Vernehmen in Frage kommen, eröffnet sich dem Menschen dieses Ganze in Richtung des möglichen Grundes und wird es im Fragen offen gehalten. Dabei enthüllt sich eine durch Einzigartigkeit ausgezeichnete Beziehung unter allen Seienden. Aber der Mensch ist hier nicht auf der einen Seite ein Vernehmen-Könnender, ein offenständig ansprechbares Wesen, und auf der anderen Seite gibt es auch noch das Seiende im Ganzen, das möglicherweise einen Grund hat, sondern sein transzendierendes Offensein für das Ganze ineins mit seinem möglichen Grund ist das fragend Eröffnete. Die Grundfrage ist ja keine andere als die Frage, in der ein Mensch sich selbst zur großen Frage wird, aber nun in ihrer äußersten Weite und Tiefe, in der ihm die ihm eigene Weite und Tiefe seines Wesens zukommt. Im Fragen der Grundfrage eröffnet sich ihm das ihm eigene Verhältnis zur Frage als die Weise seines transzendierenden Offenseins und Vernehmens. Sein ihm eigenes Verhältnis zum Ganzen ist im Bezug auf sein Sichverhalten zum möglichen Grund in Frage gestellt. Der Warum-Fragende fragt nicht mehr ,akademisch‘ nach der Frage, er ist nun sich selbst als Fragender zur Frage geworden. Mit dem Gesagten hat das Fragen der Grundfrage erneut angefangen, insofern es auf den Fragenden zurückgestoßen ist. Gefragt wird damit: Warum geht diesem 62 Pensées, Fragment 434: l’homme passe infiniment l’homme, in: 531. Pascal, Pensées (L. Brunschvicg), 199. 63 M. Heidegger, GA, Bd. 9: Wegmarken, Vom Wesen des Grundes, 140.
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Fragen und gerade uns selbst im Fragen der Bezug zum Ganzen des Seienden und zu seinem möglichen Grund auf? Warum, ,aus welchem Grund‘, das Fragen? Warum das Warum? Warum überhaupt dieses Fragen? Was ermöglicht das Fragen überhaupt? Ermöglicht das nicht erneut ein ursprünglicheres Fragen? Ist das erst die Frage (oder das Fragen) nach der Frage, wie sie in der Grundfrage noch enthalten ist, oder ein Hinweis darauf, dass die erste aller Fragen noch in eine rangmäßig höhere übergehen wird? Vielleicht heißt philosophieren demgemäß, die Anfangsfrage immer anfänglicher zu denken. Dass wir im Verhältnis zum Seienden im Ganzen in der Grundfrage auf uns selbst zurückkommen, ist als Daseinsmöglichkeit ein herausragendes Geschehen, nicht weil das Fragen der Grundfrage alles andere als eine alltägliche Selbstverständlichkeit ist, sondern weil wir im Fragen nach der Frage aus der gewohnten Zuflucht, welche die alltägliche Verlorenheit und Zerstreutheit bietet, herausgerissen werden in den Spielraum des Wagnisses überhaupt: selbst sein zu können (im offenen Bezug zum Ganzen des Seienden und zu seinem möglichen Grund zu sein). Im Horizont solchen ,In-Frage-gestellt-seins‘ unseres Daseins bildet sich ein Zugang zum Phänomen der Freiheit. Wir erfahren jeden Augenblick an uns selbst, dass wir frei sind im üblichen Sinne des Wortes, weil wir die Möglichkeit des Anfangenkönnens, der Wahl- und Entscheidungsfreiheit, der Selbstbestimmung und des befreienden EinanderSein-Lassens im Mitsein besitzen. Aber das diese Freiheit in einem ursprünglichen Sinne erst Ermöglichende kann nicht das Verhaftetsein an eine artspezifische Umwelt, sondern nur das weltweite Offen- und Freisein hinsichtlich des Seienden im Ganzen und des möglichen Grundes sein, aus dem wir uns und zu dem wir uns selbst zu verhalten haben. Weil uns das Ganze unseres Seinkönnens und Verhaltens zur großen Frage werden kann, in der es um uns selbst (unser Seinkönnen) geht, können wir uns selbst verhalten, erfahren wir uns gehalten, können wir uns aus dem Grund (Warum?) zu diesem Grund (Warum?) verhalten – ein Sichverhalten, zu dem es alltäglich, wo immer das Daseinsganze mehr oder weniger auf dem Spiel steht, kein Gegenteil gibt. Weil uns im Fragen der Grundfrage unser Verhältnis zum Ganzen hinsichtlich des möglichen Grundes als wesenhafte Daseinsmöglichkeit eröffnet ist, sind wir alltäglich gehalten, nicht nur dieses unser Gesamtverhalten mitzuentscheiden und mitzubestimmen, sondern auch die Grundfrage mitzufragen. Gehen wir dem alltäglichen Fragen nach, so wird das besonders dort deutlich, wo wir uns zu entscheiden haben, dann fragen wir: Warum so und nicht anders? Warum dieses und nicht jenes? Warum dieses tun oder gar nichts tun? Diese Fragen sind jeweils im Blick auf
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das Vorfragliche fragbar, wenn bereits das Wassein, Wiesein, Wosein, Wannsein, Woraufhinsein usw. vorverstanden ist. Das verweist darauf, dass das Warum-Fragen seine letzte Begründung (»erst-letzte Urantwort«) im Seinsverständnis oder Sein findet.64 Doch vorerst kann nur so viel gesagt werden: Kein einziges Problem, keine einzige Frage erhebt sich aus dem, was sich von selbst versteht, oder aus dem, wo nichts zu verstehen ist. Wo wirklich gefragt wird, wo wir nicht in der Dumpfheit des Fraglosen verstummen oder uns neugierig den Anschein lebhafter Interessiertheit geben, dort wird notwendig die Grundfrage mitgefragt. »Unsere Frage ist die Frage aller wahrhaften, d.h. sich auf sich stellenden Fragen, und sie wird, ob wissentlich oder nicht, in jeder Frage notwendig mitgefragt.«65 Die Grundfrage ist daher die Frage aller Fragen nicht im Vergleich mit anderen Fragen, sondern weil alles Fragen auf ihr basiert oder sie mitfragt. Um irgendetwas daseinsmäßig zu fragen, muss zuvor das Ganze in seinem Bezug zu seinem möglichen Grund uns aufgegangen sein und sind wir gehalten, uns in diesem Bezug zu bewegen. Das geschieht freilich ausdrücklich und thematisch selten genug und noch seltener so, dass es uns zum Philosophieren, zum fragenden Durchdenken der Grundfrage motiviert.
3.2.2 Zur Entfaltung des Fragens der Grundfrage
Dritter Exkurs
Der aufgeschriebene oder mündlich verlautete Fragesatz ,Warum ist überhaupt Seiendes und nicht nichts?‘ ist an sich, wahrhaft und ernsthaft keine Frage, wenn das Fragen die Frage konstituiert; er dokumentiert nur eine Frage oder spricht sie aus. Was eine Frage ist, ist nur im Vollzug des Fragens lebendig, das ein Wonach des Fragens offenhält. Über der verdinglichenden Redeweise von der Frage, deren formalisierte (syntaktische, semantische, logische u.a.) Gesetzlichkeiten und allgemeine Beziehungen erfolgreich in elektronischen Datenverarbeitungsanlagen Verwendung finden können, darf das, was uns, also jemanden wahrhaft, eigentlich und ursprünglich zu fragen heißt und lässt, nicht vergessen werden. Also nicht, was fragen heißt im gewöhnlichen Sinn von bedeuten und benannt sein, sondern was uns zu fragen heißt, zu fragen aufgibt, daraufhin anspricht, dass wir fragen, führt uns in die Ursprungsdimension des Fragens.66 Was uns fragen heißt, ist die Fraglichkeit des Befragten im Vernehmen dessen, was uns fragen lässt: das 64 A.a.O., 169. 65 M. Heidegger, GA, Bd. 40: Einführung in die Metaphysik, 8. 66 Vgl. M. Heidegger, GA, Bd. 8: Was heißt Denken?: »Heißen meint: zurufend in ein Ankommen und Anwesen gelangen lassen; zusprechend daraufhin ansprechen.« (122) Weil Heißendes in ein Anwesen ruft, besagt und heißt dann das Geheißene auch selber etwas.
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Vorfragliche – und das immer, wie schon gesagt, aus einer so und so gestimmten Fragehaltung, fragenden Einstellung, aus fragender Gesinnung heraus. Im Fragen der Grundfrage geht es ja nicht um irgendeine Frage, ja nicht einmal um die großen Fragen und Probleme der Philosophie, sondern um die Frage aller Fragen, diese aber verstanden als ein einzigartiges Fragegeschehen, von dem wir, wenn es aufbricht, erfahren, dass wir es im Grunde selbst sind – also um ein »Grundgeschehen« (Heidegger) unseres Daseins. So wird die Fragehaltung selbst in die Fraglichkeit dieses Grundgeschehens gezogen, ob und inwiefern sie diesem zu entsprechen vermag. Das hat sich in der Rückwendung der Frage auf sich selbst, die fragt, Warum das Warum?, gezeigt. Damit nun das Fragen der Grundfrage ein wahrhaftes, eigentliches und ernsthaftes Fragen wird, ist auf die entsprechende Fragehaltung näher einzugehen, die uns die Grundfrage fragen lässt. Auch wenn wir zunächst nur mitfragen, geht es darum, selbst zu fragen, selbst zu denken, aus fragender Gesinnung selber zur Besinnung auf das der Frage Würdige eines möglichen Grundes zu kommen. Aber wie, auf welche Weise, in welcher Einstellung, Haltung, Gesinnung, Gestimmtheit sollen, können oder dürfen wir fragen? Bedarf es nicht immer wieder neuer Vorbereitung – der Sammlung – auf das ursprüngliche Fragen der Grundfrage? Wäre nicht alles fordernde WissenWollen von Grund oder Gründen, das zur Sicherstellung des Daseins im Verein mit Wissenschaft, Technik und Politik vorzustrecken ist, um der beängstigenden Bodenlosigkeit unseres Lebens Einhalt zu gebieten, hier Anmaßung, die, weil unangemessen, verlassen werden müsste? Wie sollten wir sonst dem Zuspruch des Fragwürdigsten anders als in einem horchenden Vernehmen ,ent-sprechen‘, wenn wir nicht das Fordern loslassen, zu dem verhohlene Angst oder verborgene Verzweiflung antreiben? Ist nicht eine Umkehr, ein Umdenken und anderes Denken notwendig, das Wahrheit nicht im Dienst von Sicherheit und partikulärer Gewissheit instrumentalisiert? Gehören nicht zur fragenden Gesinnung die Preisgabe der Sicherheit, die ein radikal zweifelndes Denken fordert, die aufgeschlossene Hingabe und ,ent-schlossene‘ Offenheit für das ,uralte‘ Neue, weil Anfängliche, und in diesem Sinne ein Noch-Lernen-Können, der Mut, den Schritt in das Dunkel, die Nachtseite des Daseins, zu tun, die Weckung des Sinns für das noch nicht Verstandene und Gewusste, Unbegreifliche, Unergründliche des Ursprungs, für das Wunderbare und Erstaunliche, das metaproblematische Geheimnis und ihm gegenüber Pietät, ausdauernde Dankbarkeit (ein Denken, das nicht nur etymologisch mit Danken zusammenhängt)? Soll sich ein solches Fragen nicht dem Verdacht purer Seinsromantik aussetzen, die sich ein stimmungsvolles Bad im Irrationalen erträumt, so müsste die Grundfrage gegenüber dem bewährt
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werden, was (oben unter 3.2.1 b) als problematische Fragehaltungen kritisiert wurde. Ich beschränke mich hier auf den Versuch, das Fragen der Grundfrage postulatorisch (a) und im Gegensatz dazu responsorisch (b) zu verstehen.
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a) Die Grundfrage als postulatorische Frage Die Frage ist, ob der Fragesatz der Grundfrage überhaupt korrekt formuliert ist. Er scheint zweigliedrig gebaut, aus zwei Fragesätzen zu bestehen: ,Warum ist überhaupt etwas? Warum ist nicht nichts?‘ Der erste Fragesatz enthält alles, was unbedingt zu einer gültigen Fragestellung gehört: erstens die bestimmte Angabe dessen, was in die Frage gestellt, was befragt wird (das Vorfragliche, das Befragte, ein bekannter Sachverhalt); zweitens die Angabe dessen, worauf hin das Befragte befragt wird, wonach gefragt ist (das Gefragte, ein noch unbekannter Sachverhalt). – Das Befragte ist das Seiende, das Gefragte ist das Warum, d.h. der Grund. Der zweite Fragesatz, ,Warum ist nicht nichts?‘, erscheint als sinnlose Rede, denn das Nichts, das nur die sprachlogische Negation von etwas meint, ist einfach nichts und kann weder in Frage gestellt noch auf einen Grund hin befragt werden. Es handelt sich also um eine Scheinfrage, eine syntaktisch sinnlose Frage. Der logische Junktor der Negation (¬) besagt ,es ist nicht der Fall, dass …‘. Er ist ein Ausdruck, der einen anderen Ausdruck oder Teilausdruck bestimmt, eine Prädikaten-Variable (x). Den bestimmten Ausdruck nennt man das Argument. In der Frage ,Warum ist nicht nichts bzw. nicht vielmehr Nichts‘ – abgesehen davon, dass es kein ,Vielmehr‘, kein Mehr oder Weniger an Verneinung (¬) geben kann – tritt aber ,Nichts‘ (¬) als Argument auf, d.h. ,Es ist nicht der Fall, dass es nicht der Fall ist‘ = ¬¬. Das ist offenkundig syntaktischer Unsinn. Daraus ergibt sich: Der zweite Fragesatz (?[x] ¬¬) ist eine unsinnige Leerformel. Vielleicht wollte der Philosoph doch etwas Sinnvolles sagen: ,Nicht für jedes x ist es der Fall, dass es dieses x hier und jetzt gibt‘ oder dergleichen, aber wir wissen das nicht. Man kann aber noch weiter versuchen, die Fragestellung vor dem Verdikt des syntaktischen Unsinns zu retten. Die Frage lautet doch: ,Warum nicht nichts?‘; ,nicht – nichts‘ (non – nihil) ist also ein Ausdruck für die doppelte Negation des Seienden, die einer einfachen Bejahung (Position) gleichkommt: non-nihil meint non-non-ens = ens = aliquid; wenn nihil eben non ens meint, dann gilt: x = ¬¬x. Der Philosoph hat nur die Angabe des Arguments (x) vergessen und wollte fragen, ,Warum ist nicht nicht etwas?‘ Dann lautet die Frage: ?L(x) à ? ¬¬L(x). Daraus folgt: ?L(x) ist äquivalent ?L(x) und das ist gleich ?L(x). Der zweite Fragesatz sagt also das Gleiche wie der erste aus, er ist tautologisch, sagt das Gleiche nur in der Form der doppelten
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Verneinung: ,Es ist nicht der Fall, dass es nicht der Fall ist, dass es ein x gibt.‘ Auf diese umständliche Ausdrucksweise können wir verzichten. Der zweite Fragesatz wiederholt also nur den ersten und ist daher eine überflüssige Redewendung. Es kommt somit nur auf den ersten Fragesatz an, der für sich genommen eindeutig und entschieden genug fragt: Warum ist das Seiende? Was ist sein Grund?! Nun ist zu prüfen, wie man gewöhnlich die halbiert übrig gebliebene Grundfrage zumeist unausgesprochen versteht. Wonach richtet sich der nunmehr richtig gestellte Fragesatz?
Achten wir auf den Tonfall der gesprochenen Frage, beispielsweise wenn man ein Kind lautstark anherrscht: ,Warum machst du das schon wieder?!‘ Die in diesem Tonfall ausgesprochene Frage will entgegen ihrem Wortlaut als Forderung, ja als versteckte Drohung verstanden werden. Man setzt dann nicht nur das Fragezeichen, sondern auch das Ausrufezeichen an das Ende des geschriebenen Satzes. Ein fordernder Ausruf ist eben keine echte und ursprüngliche Frage, sondern ein Imperativ. Was sich hier den Anschein einer Frage gibt, ist oft zweideutig: ,Warum ist das
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1. wird ein Grund gefordert (postuliert), fraglos angenommen und hypothetisch vorgestreckt, und es wird im Voraus gesetzt, dass ein solcher vorhanden sein müsse; der Fragende beansprucht im Namen des Seienden und seiner Selbstbehauptung einen Grund – sonst versinkt alles in den ,Abgrund eines bodenlosen Nichts‘. 2. wird nach einem anderen, höheren, ja ,seiendsten‘ Seienden gefragt und demzufolge werden Grund und (seiende!) Ursache einander gleichgestellt. 3. wird nicht nach dem Seienden im Ganzen als einem solchen (Welt), sondern nach diesem wird wie nach irgendeinem unter anderen bereits vorgegebenen Seienden gefragt. Das Seiende im Ganzen wird meist als summatives Ganzes, als die Gesamtheit dessen, was der Fall ist, als die Menge aller Seienden (L[x]) vorgestellt. Wird in diesem Sinne das Ganze auf der Basis innerweltlicher Seiender vorgestellt, so entspricht dem ein Grund, der wiederum nur als seiender vorstellbar wird. 4. hat schon Siger von Brabant darauf aufmerksam gemacht, dass es widersprüchlich wäre, wenn wir für das All der Seienden (das Gott und die Welt umfasst) noch einen seienden Grund einfordern wollten. Außerhalb der Gesamtheit aller Seienden kann es kein einziges Seiendes als Grund geben, das nicht zu diesem Ganzen gehört, weil sonst die Gesamtheit nicht die Gesamtheit wäre. Außer allem Seienden kann nur nichts sein, kein Seiendes unter allen anderen, eben nichts (nihil) und das ist ohne Grund (nihil est sine ratione), grundlos, bodenlos, ausweglos … Die Frage ist hier gar nicht am Platz; sie ist als nicht fragbar abzuweisen.
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Seiende? Was ist sein Grund?‘ Das kann, muss aber gar keine echte Frage sein, sondern kann Ausdruck einer Sehnsucht, eines Wunsches, eines ,metaphysischen Bedürfnisses‘ oder einer Forderung nach Selbstsicherung sein: Was ist der Grund! Ich will wissen, was der Grund ist! Ich will etwas haben, womit ich sicher rechnen kann, das Halt, Bestand und Grund gibt. Ich will mich behaupten: gefestigt sein! Ich stelle mir daher einen Grund vor, der ausreicht, das Sein sicherzustellen. Aber verdecken wir damit nicht nur notdürftig Angst und Verzweiflung, in die uns die Grundlosigkeit stürzt? Indem der sich vordrängend-fordernde Wille zum Grund an sich festhält, sich an sich selber orientiert, seinen Mangel aufheben und so sich selbst will, ist der Auslegung des Seins als Wille (Wille zum Willen als Grund) die Bahn gebrochen. Sein wird auslegbar als geistige Selbstsetzung, Wille zur Macht oder Wille des Es (Triebbedürfnis), Energie usw. Demgegenüber kann bei Ausfall eines metaphysischen Bedürfnisses auf die postulatorisch vorgehende Grundfrage ersatzlos verzichtet werden. Erscheint im metaphysischen Bedürfnis kein hinreichender Grund, die radikale Warum-Frage zu stellen, so verfällt sie ideologiekritischer Dekonstruktion. Auch der erste Fragesatz der Grundfrage wäre dann überflüssig. b) Die Grundfrage als responsorische Frage
Dritter Exkurs
Wir verlassen die Einstellung des fordernden Fragens, wenn wir uns sammeln und uns zurückrufen lassen in das erstaunliche Urphänomen, dass wir da sind, anwesend sind und nicht nicht sind, weil wir zu sein haben und uns zu sein gegeben ist (und zwar in jener prekären Zeit, die längst ihr Ende hätte haben können). Wenn wir darauf eingehen, dass wir uns selbst je und je gegeben sind, wandelt sich unser Verhältnis zum Grund. Aus dieser neu gewonnenen Einstellung ergibt sich, dass das zweite Glied der Grundfrage nicht als eigener Fragesatz zu isolieren, sondern im Zuge des Fragens der einen Grundfrage anders zu verstehen ist. Das zweite Glied der Grundfrage wehrt die oben unter 1 bis 4 angedeuteten Missverständnisse ab: 1. Der Grund ist nicht hypothetisch vorzustellen und zu fordern, um sich des Seienden zu versichern und seiner zu bemächtigen, sondern gefragt ist: Warum ist überhaupt Seiendes der Möglichkeit des Nichtseins entrissen? Warum fällt es nicht ohne Weiteres und ständig dahin zurück? Oder warum ist Anwesendes zum Anwesen freigegeben? Diesem sich ereignenden Freigegebenwerden denken wir nach. Das ist es, was zur Frage steht. 2. Wir fragen nicht auf der Ebene des Seienden (also ontisch) nach irgendeinem seienden Grund oder Gründen, nach seienden Ursachen oder Bedingungen ontischer Art, sondern nach dem Grund, warum überhaupt Seiendes ist und nicht
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vielmehr Nichts ist. Gerade das ist der Frage würdig: Dass Seiendes ist, weil es am Sein partizipiert, teilhat, teilnimmt, ihm teilgegeben ist. So fragen wir im Grunde nach dem Sein, nach dem Sein des Seienden, nach dem Sein, das Grund ist, das dem Seienden Grund gibt, aber letztlich selbst grundlos und abgründig erscheint. 3. Dass das Seiende als das, was es ist und wie es ist, auch nicht sein könnte, dass es der Möglichkeit des Nichtseins widerstanden und diese doch nie überholt und überwunden hat, belässt es in seiner Fragwürdigkeit. Das erstaunliche Wunder, dass Seiendes sein muss, sein kann, ja sein darf, geht uns in der Frage nach dem Grund auf. Das Seiende wird nicht von uns aus in Frage gestellt und Forderungen unterstellt, sondern umgekehrt: Wir sind in die Offenheit seiner Fragwürdigkeit im Bezug auf das Sein gestellt. Daher antworten wir schon immer, wenn wir wirklich fragen und auf den verborgenen ,Zu-spruch‘ und ,Anspruch‘ des Seins selbst horchen. Insofern kann die Grundfrage eine responsorische, ja ,dialogische‘ Frage genannt werden: Wir ,ent-sprechen‘ mit ihr der Abgründigkeit des Seins selbst. 4. Der zweite Fragesatz der einen Frage, ,Warum nicht vielmehr Nichts‘, hat nicht die durch Verneinung leichtfertig weggedachte Allheit zum Gegenstand – ein absolutes Nichts als spekulativ verdinglichtes Nicht-Etwas –, sondern geht dem Nichts nach, insofern es in der Mannigfaltigkeit seiner Bedeutungen phänomenologisch zum Thema eines ausdrücklichen Ausweises gemacht werden kann, und zwar insofern es uns als positives Phänomen gegeben und daher aufweisbar ist.67 Wir haben uns vor allem dem zunächst und zumeist verborgenen oder (durch die vorhergehende postulatorische Warum-Frage) verdeckten ,Abgrund eines bodenlosen Nichts‘ zu stellen, wovor man in einer Art Flucht oder Angst vor der ,Leere‘ (horror vel fuga vacui) für gewöhnlich zurückschreckt.
67 Vgl. dazu B. Welte, Gott und das Nichts. Entdeckungen an den Grenzen des Denkens, sowie vom Verf. (1997c), Das Nichts als ,Ort‘ der religiösen Erfahrung. Das Phänomen des Nichts und der Aufweis des Daseins Gottes, in: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Bd. 2, 305–344. 68 Vgl. vom Verf. (1998), »Das Denken ist ein Sprechen und dieses ein Hören«. Ein nachgelassenes Wort von Kant.
Dritter Exkurs
Im Fragen der Ontologie selbst waltet von Anfang an (wie übrigens in allem Denken68) ein antwortendes, ein dialogisches ,Ent-sprechen‘, wenn wir uns auf den Zu- und Anspruch des sich in allem selbst mitteilenden Seins in seiner Abgründigkeit einlassen. Wir scheuen uns zu Recht, dieses antwortende Entsprechen (schon) als personal-dialogisch zu verstehen; und doch sollten wir den Mut haben, uns einzugestehen, dass wir es möglicherweise schon im ersten
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Fragen der Grundfrage mit Göttlichem oder dem Gott (der Philosophie?) zu tun haben, freilich noch in verschwommener Anonymität und auf der Hut vor jeder Übereilung und Erschleichung. Hier ist es angemessen, sich schweigend, d.h. in der Stille horchenden Vernehmens zurückzuhalten, um der Erfahrung des sich uns Zusprechenden Schritt für Schritt besser Raum zu geben und die aufgetauchte Spur im Auge zu behalten. c) Zur Beantwortbarkeit der Grundfrage
Dritter Exkurs
»Warum ist überhaupt Seiendes und nicht nichts?« Kann diese erste aller Fragen nicht beantwortet werden, »so sinkt alles andere für mich in den Abgrund eines bodenlosen Nichts«, sagte Schelling. Er hielt die Frage für glatt beantwortbar: Gott (allerdings »weder seyend noch nicht seyend […] an sich selbst das Ueberseyende«) ist die überseiende Ursache alles geschaffenen Seienden.69 »Die Schöpfung ist keine Begebenheit, sondern eine [bewusste und sittlich freie] That.«70 Diese Tat Gottes ist »durch seinen bloßen Willen die ruhende Ursache«,71 d.h. nicht durch das Wollen des Urwillens in das Andere seiner selbst verstrickt. Gott agiert streng genommen auch nicht wie eine ontische Wirkursache, er ist »nicht durch seinen besonderen Willen, sondern durch sein bloßes Wesen Ursache des Anderen« oder »wesentliche« »Ur-Sache« der Schöpfung.72 Aber wir haben gesehen, dass damit die Warum-Frage nicht beschwichtigt, nicht beantwortet ist, sondern die so faszinierende theologische Antwort weicht der Frage aus, geht sie doch der Abgründigkeit des Seins von Seienden aus dem Weg. Doch kann sich dann überhaupt jemand anmaßen, die Grundfrage zu beantworten? Ist die Frage unbeantwortbar, weil wir mit ihr an die unergründlichen Grenzen unseres Denkens stoßen oder weil sie vielleicht doch falsch gestellt, eine Scheinfrage ist? Stellt nicht eine Frage, von der wir wissen, dass es auf sie keine sinnvolle Antwort gibt, ein Scheinproblem dar? Oder ist die Alternative ,Entweder ist die Frage sinnvoll, weil beantwortbar, oder sie ist sinnlos, weil unbeantwortbar‘, angesichts der Grundfrage ein Scheinproblem? Gewiss gehört die durch ihre Bezogenheit auf das Befragte vorgebahnte Möglichkeit der Antwort zum Wesen der Frage. Eine Antwort ist gegeben, wenn sie jemand weiß, auch wenn er sie nicht äußert. Eine wahre (zutreffende oder 69 Schellings Werke, Bd. 4: Die Weltalter, 632 ff. (= SW VIII 256 ff.). 70 A.a.O., Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, 288 (= VII 396). 71 A.a.O., Die Weltalter, 633 (= SW VIII 257). 72 A.a.O., 634 (= SW VIII 258): »Gott ist die Ur-Sache jenes Anderen, nicht die bewirkende, sondern die stille, die wesentliche, es bedarf nichts als jenes ins Wesen verschlungenen Seyns, damit das Andere sey.«
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73 Formallogisch lautet die korrekte und einfache Grundform einer solchen Entscheidungsfrage: »Ist es der Fall, dass p, oder ist es der Fall, dass non-p?, wobei p für eine beliebige Aussage steht.« Vgl. J. Walther, Logik der Fragen, 88. Alternativfragen können dagegen mehr als zwei Antwortmöglichkeiten enthalten, die überdies nicht in kontradiktorischem Gegensatz zueinander stehen müssen.
Dritter Exkurs
nicht zutreffende) Antwort im engeren Wortsinn kann man hier unterscheiden von fragebezogenen Entgegnungen wie der Gegen- oder Rückfrage (,Können Sie die Frage wiederholen? Hat Ihre Frage einen Sinn?‘), von der Erklärung der Unfähigkeit zu einer wahren Antwort, wenn man die Antwort nicht weiß, und von der fragebezogenen Erwiderung, welche eine Antwort ausdrücklich verweigert. Interrogative Logik konzentriert sich gewöhnlich auf abschließend beantwortbare Fragen im engeren Wortsinn, die wie passende Deckel auf den Topf passen. So sind zur Entscheidung gestellte oder in Alternativen vorgelegte bloß ontische Sachverhalte mit affirmativen oder negativen Aussagen zu beantworten.73 ,Intensionale‘ Fragen (mit Wer, Wie, Was, Wo, Wann, Wie viel, Warum usw. eingeleitete ,which-Fragen‘) enthalten Bedingungen ihrer Beantwortbarkeit, wenn sie wahr oder falsch beantwortbar sind und es mindestens einen Gegenstand oder Sachverhalt gibt, auf den das Prädikat der Frage zutrifft. Fragen so zu entwerfen, dass sie möglichst beantwortbar sind, ist ökonomisch, erschöpft aber nicht das Phänomen der Fragwürdigkeit des Daseins. Zu den philosophischen Fragen, welche die eine Grundfrage entfalten, gehört die ,Entgegnung‘, die Rückfrage nach ihrem Sinn, und es ist für sie kein Mangel, dass sie in einem gewusst durchlaufenen Nichtwissen niemals abschließend beantwortet werden können. Könnte uns nicht eine Frage in ein Erstaunliches, noch nicht Verstandenes, ja niemals zur Gänze Verstehbares führen, vor dem wir (zunächst) sprachlos, ohne Antwort bleiben, in ein schweigend-horchendes Sichaufschließen geschickt, aus dem sich der Erfahrungsraum weitet und wir einander tiefer verstehen? Wie, wenn vermeintlich Vertrautes in seinem Anderssein unverstanden, befremdend, uns vorenthalten und entzogen erscheint – aber gerade aus diesem Bereich heraus sich zu verstehen gibt? Verweisen wir einander auf den Sinn von Sein oder verschließen wir ihn? Dürfen wir nicht hoffen, dass sich nach und nach die Antwort reicher erschließt, weil wir schon im ,Vor-schein‘ eines noch zu Denkenden, eines noch Ungesagten stehen? Durch die Geschichte der Menschheit hindurch ist es ein und dieselbe Sache in ihrem unausschöpfbaren Reichtum, welche uns in ihrer Weite und Tiefe als das stets der Frage Würdige und Unergründliche in Anspruch nimmt. An diesem uns gemeinsam Angehenden und uns Umgreifenden beteiligen wir uns im epochen- und erdteileübergreifenden Gespräch der Philosophierenden.
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Nur woran wir hier miteinander Anteil haben, können wir einander ,mit-teilen‘. Die Worte, Begründungszusammenhänge und Systeme der Philosophen in ihrer Stimmenvielfalt sind dabei schon je für sich die Antworten, die immer provisorisch bleibenden Versuche, die eine Quelle zu fassen. Dieses wechselvolle Gespräch der sogenannten Denker miteinander, wie es vor allem seit der Achsenzeit mit ihren pluralen Ansätzen in Europa und Asien im ersten vorchristlichen Jahrtausend bis hin zum globalen Polylog der Weltphilosophie im Gang ist, erfüllt seine Aufgabe, indem es immer erneut auf dasselbe und gemeinsam sich uns Mitteilende verweist. Dieses Gespräch kann daher durch keine Philosophie jemals abgeschlossen werden. Endlichkeit der ,Systeme‘ besagt hier keinen Mangel, sondern kommunikative Offenheit, insonah sie nur der Sache selbst und nicht bloß Texten und Kontexten verpflichtet ist. Eröffnet die Grundfrage solches Philosophieren, dann kann es auf sie gar keine Antwort geben, durch welche sie fraglos und endgültig erledigt wäre. Würden wir einander durch eine vermeintliche Beantwortbarkeit oder Nichtbeantwortbarkeit der Grundfrage nicht trotzdem zur großen Frage werden? Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die Grundfrage wohl beantwortbar sein könnte; nur insofern sie abschließend und endgültig nicht beantwortet werden kann, ist sie unbeantwortbar. Die Aufgabe ihrer wahrhaften und ursprünglichen Beantwortung kann daher niemals in einer Fraglosigkeit versanden, wo wir bezüglich des Ganzen und des Grundes einander nichts mehr zu sagen haben.
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d) Die vorläufige Antwort und ihr Status Warum ist das Seiende im Ganzen, und warum ist nicht vielmehr Nichts? Geht uns diese Frage wahrhaft und ursprünglich nicht erst im Zuspruch der Fragwürdigkeit des Seienden als eines solchen und im Ganzen auf? Und ist uns nicht das Seiende im Ganzen fragwürdig, weil es die Gabe des Grundes ist, weil sich ihm Sein als Grund mitteilt, weil Seiendes ja immer schon in der Mitgeteiltheit von Sein gründet? Seiendes gründet – im Sein, weil es Sein gibt. Ist das nicht eine der vorläufig gebbaren Antworten? Aber geht dieser Antwort nicht geschichtlich voraus, was Parmenides aus tiefer Verwunderung im feierlichen ,Gesang‘ als sich ihm Zusagendes ausruft – sti g!r enai – ? »Es ist nämlich Sein« oder, stärker übersetzt, »Anwest nämlich Anwesen«.74 Und die Frage wird sein, ob Heidegger zu Recht sagt: »In diesem Wort verbirgt sich das anfängliche Geheimnis für alles [ursprüngliche] Denken.«75 74 Übersetzung M. Heidegger, GA, Bd. 9: Wegmarken, Kants These über das Sein, 479. 75 M. Heidegger, GA, Bd. 9: Wegmarken, Brief über den ,Humanismus‘, 334.
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76 Dazu zusammenfassend: H. Padrutt, Und sie bewegt sich doch nicht. Parmenides im epochalen Winter, 711 f.; vgl. 121, 697. t’ n mmenai: sti g!r enai […]. 77 DKV, Bd. 1, 232: 28. Parmenides, B. 6: cr t lgein te no e in
78 W. Röd, Geschichte der Philosophie, Bd. 1: Die Philosophie der Antike, Bd. 1, 116. 79 A.a.O., 109. 80 Ebd. 81 A.a.O., 118.
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Verweilen wir kurz bei diesem Wort. Seine philologische, philosophiehistori sche und philosophische Deutung ist strittig.76 Sucht man in sti g!r e nai eine grammatisch korrekte Urteilsbehauptung, so bietet sich als Satzsubjekt ,das Sein‘ an: »Nötig ist zu sagen und zu denken, dass nur das Seiende ist, denn Sein ist, ein Nichts dagegen ist nicht; das heiße ich dich wohl zu beherzigen!«77 Doch ein substantivierter und als Subjekt gesetzter Infinitiv ist für die Zeit des Parmenides äußerst unwahrscheinlich. Lassen wir diesen Anachronismus beiseite, dann bieten sich andere, philosophisch interessante Lösungen an. Die eine berücksichtigt, dass sti ,es ist möglich‘ (d.h. ,es kann sein‘) heißt und dass der Infinitiv ,sein‘ sich auf etwas bereits Genanntes, was eben zu sagen und zu denken ist, bezieht. Damit wird syntaktischer Unsinn vermieden. Wir haben es nach Wolfgang Röd also mit einer »Feststellung, man müsse sagen und denken, dass das Seiende ist, denn es [das bereits Genannte] könnte sein«, zu tun.78 Das Seiende, so darf hier ergänzt werden, meint wohl Seiendes überhaupt, mithin die Gesamtheit aller Seienden, also jegliches, von dem wir uns vorstellen können, dass es sei: Nur es kann sein. In diesem Sinn kann nicht nur, sondern (nach anderen Übersetzungen) muss das Seiende sein, ja es hat zu sein. Wir bewegen uns hier dem Anschein nach im Reich des denkbar Möglichen, das für alle Welten gilt. Parmenides sucht eine Methode apriorischer, d.h. erfahrungsunabhängiger Erkenntnis, die über die Sinneswelt (die Physis), in die wir gestellt sind, hinausgeht, also ,metaphysisch‘ ist und absolute Wahrheit beansprucht. Er findet sie in tautologischen, d.h. mit Bezug auf ihren Tatsachengehalt (oder die Erweiterung unserer Erkenntnis durch eine begründende Erklärung) nichts sagenden, aber apriori wahren Sätzen wie »Das Seiende ist« oder »Das Nicht-Seiende ist nicht«.79 Es wird ihm unterstellt, »implicite zwischen empirischer und Vernunfterkenntnis« zu unterscheiden. Mit ihm fange in der Philosophiegeschichte jene Meta-Physik an, die eine von der empirischen Erkenntnis, wie sie »durch Beobachtung vermittels der Sinne« zustande kommt, prinzipiell »erfahrungsunabhängige« Vernunfterkenntnis annimmt.80 Dabei hält er »die Beschäftigung mit dem Wesen der Wirklichkeit für wertvoller […] als die Bemühungen der Erfahrungswissenschaften, deren Ziel die Erklärung von Beobachtungstatsachen ist«.81
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Unter dieser Voraussetzung erscheint es nun »konsequent, aus der Denkbarkeit des Seins auf seine Wirklichkeit zu schließen«.82 Von da aus gelangt Röd zu einer bemerkenswerten neuen Lösung des Übersetzungsproblems, wo das ,Sein‘ (e nai) sich nicht auf etwas bereits Genanntes bezieht, sondern wörtlich als Zeitwort in seiner nicht näher bestimmten Form, d.h. als Infinitiv, zu lesen ist: »Es ist nämlich möglich zu sein«. Er übernimmt sie von Karl Bormann, der im Kontext folgendermaßen übersetzt: »Notwendig ist, was zu sagen und zu denken möglich ist, seiend; es ist nämlich möglich zu sein.«83 In diesem Satz erblickt Röd »die knappste Formulierung des so genannten ontologischen Arguments«. Damit macht er Parmenides zum »Wegbereiter« dieses Gottesbeweises, der »in der Geschichte der Philosophie von Anselm von Canterbury über Descartes, Spinoza, Leibniz und andere rationalistische Philosophen bis zu Hegel und schließlich zu Sartre eine beachtliche Rolle gespielt hat. Die Grundvoraussetzung dieses Arguments, dass der Inhalt des (begrifflichen) Denkens etwas Wirkliches sei«, was nach Röd irrig ist, findet sich also schon bei Parmenides.84 Röd setzt mit dem Gesagten völlig unbeabsichtigt für Parmenides die implizite Selbsterfahrung voraus, dass sich der Mensch schizoid (,ungesammelt‘) in zwei Welten bewegt, der Sinneswelt (der Gesamtheit beobachtbarer Tatsachen) und der das Vorhandene übersteigenden, nur vorgestellten und so übersinnlichen Welt des denkbar Möglichen. Durch diese Zweiheit einer meta-physischen Welt und ihres Gegenspielers, eines Weltzugangs, dessen Erfahrungsverständnis bloß auf Beobachtbares eingeschränkt ist, kommt das ursprüngliche Gewahren des leibhaftigen Anwesens des Menschen in der Welt nicht mehr in Frage und können dem entsprechend Sein (Anwesen) und Seiendes (Anwesendes) nicht gedacht und folglich nicht unterschieden werden. Schief liegt auch der Titel »Lehrgedicht« des Parmenides. Das feierliche Sagen dieses Gedichtes (wie ein orphischer Gesang?), das zu denken und zu sagen gibt, passt nicht zu einer in ein Gedicht verpackten Lehre. Eine Lehre ist nicht schon ein Weg. Der gangbare Weg des ,es ist‘ und der ungangbare des ,es ist nicht‘85 ist zudem keine metaphysische ,Lehre‘, sondern Wegweisung, die eher als grundlegendes Ethos einer Lebensführung zu verstehen ist, was der Sorge um das Ganzsein (Heile) des Daseins entgegenkommt und in späterer Zeit zum ethisch orientierten 82 A.a.O., 116. 83 K. Bormann, Parmenides, 37. 84 Vgl. W. Röd, Der Gott der reinen Vernunft. Die Auseinandersetzung um den ontologischen Gottesbeweis von Anselm bis Hegel, dort Parmenides, 39 ff. 85 Vgl. die Kurzformel in Fragment 8.16 in DKV, Bd. 1, 236: 28. Parmenides, B.
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86 Vgl. dazu a.a.O., 230, Fragment 1.28 ff. Die Göttin ist das göttliche Geschehen des Aufgangs in die Unverborgenheit. 87 M. Heidegger, GA, Bd. 15: Seminare (Seminar in Zähringen 1973), 397 f. (Übersetzung hier zusammengezogen). 88 Vgl. a.a.O., 134, und M. Heidegger, GA, Bd. 9: Wegmarken, Kants These über das Sein, 479. 89 M. Heidegger, Zur Sache des Denkens, 8. 90 M. Heidegger, GA, Bd. 9: Wegmarken, Kants These über das Sein, 479.
Dritter Exkurs
Philosophieverständnis im Sinne einer praktischen Lebensform werden konnte. Der in einem Urteil behauptete Sachverhalt, dass Seiendes ist oder irgendetwas existiert = $(x), oder auch die erklärende Begründung, weil zu sein denkbar (und real möglich) sei, existiere Seiendes und sei Sein wirklich, dürfte doch wohl kaum der für die Sterblichen ungewöhnliche, schwierig zu denkende Weg sein, den erst eine Göttin weisen muss (wie ihn Parmenides uns nahelegt). Die umstrittene Gestalt der Göttin meint keine fiktive Personifikation, der Parmenides seine ,Lehre‘ in den Mund legt, sondern sie ist im Sagen (als mythische Rede verstanden) dasselbe wie das, was sie kündet und offenbart: das nichtzitternd-ruhige Herz der Wahrheit im Sinne von Unverborgenheit (’A lϑeia), nämlich des Anwesens des Anwesens und des Anwesens des Abwesens.86 In diese Richtung scheint mir am besten der Übersetzungsversuch des späten Heideggers zu weisen: »Nötig ist das Sagen (das Sich-zeigen-lassen) und das Vernehmen (das sich mit ihm vollzieht): Anwesend Anwesen selbst – anwest nämlich Anwesen selbst.« 87 Gewiss wird hier dasselbe gesagt, aber es wird nicht Gleiches wiederholt, sondern das Selbe (,anwesen‘) wird als solches (ut sic), als es selbst (,anwesend‘), genannt. Wie wenig hier eine leere, nichts sagende Tautologie vorliegt, sondern vielmehr eine vollkommene, die alles für das Denken anfänglich und zukünftig Maßgebende sagt,88 wird deutlich, wenn wir auf in diesem Wort »Ungesagtes, Ungedachtes, Ungefragtes« achten. Damit ist die Fragwürdigkeit im Sagen desselben gesteigert: Was heißt das aus dem betonten ,es ist‘ (sti) heraushörbare »Es vermag«? – Sein als das Vermögende! Es »blieb der Sinn dieses Vermögens damals [im frühgriechischen Denken] und späterhin ebenso ungedacht wie das ,Es‘, das Sein vermag. Sein vermögen heißt: Sein ergeben und geben. In dem sti verbirgt sich das Es gibt [Sein und Zeit, zu sein].«89 Ob das philoso phiegeschichtlich völlig zutreffend ist, ist hier nicht zu erörtern. Wenn aber »im nai, Anwesen, eigentlich die ’A lϑeia spricht, das Entbergen, dann sagt das sti im betont vom nai gesagten Anwesen: das Anwesenlassen. Sein – eigentlich: das Anwesenheit Gewährende.«90 Es gibt (überhaupt nur als Eröffnen des Anwesenden im Ganzen) das abgründige Sein als (allem Seienden) Anwesenheit gewährend.
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Auf die mit »Es ist nämlich Sein« vorläufig beantwortete Grundfrage wurde nun keinerlei abschließende Antwort in Aussicht gestellt, doch sind wir auf das denkend-dichterische Wort des Parmenides gestoßen, welches das anfängliche Geheimnis für alles im Denken zu Sagende nennt. Dieses ist »weder Urteil, noch Beweis, noch begründete Erklärung«,91 sondern ein Denkanfang, der anfänglicherem Denken aufgegeben ist. Zum besseren Verständnis sei an Worte, die Anfängliches im Gespräch nennen, erinnert. Man denke nur an die Selbstaussage ,Ich bin es (da, hier anwesend)‘, mit der wir uns bei jemandem melden, die im Ernstfall nicht bestreitbar, weil nicht sinnvoll verneinbar ist. Ich kann mich auch nicht im Ernst jemandem zuwenden und behaupten ,Du bist nicht (da)‘; und umgekehrt kann niemand solches im Ernst zu mir sagen. Im Gegensatz zu gewöhnlichen präsentischen Urteilsbehauptungen sind für ,Ich bin (es) da‘ und ,Du bist (es) da‘ verneinende Aussagen sinnvoll nicht möglich. Zum Dasein im Sinne von (persönlich-leibhaftigem) Anwesen sowie Anwesen des Abwesenden (des Gewesenen und Kommenden) gibt es eben kein Gegenteil. Sie bringen Grundlegendes ans Licht. Und ähnlich (nicht ohne innere Zusammengehörigkeit zwischen dem Sein und unserer Teilhabe an ihm, der Selbst- und der Seinserfahrung) können wir das Wort ,Es ist nämlich Sein‘ nicht sinnvoll verneinen. Das Wort nennt einen Anfang, der das zu Denkende versammelt, das ,Prinzip‘ oder fundamentale ,Axiom‘ aller später kommenden Ontologie; wobei das, was hier Prinzip, Axiom oder Denkanfang (nicht bloß Grundsatz!) nennt, von einem Denken her, das dem Sein entspricht, fragwürdig wird und zu verstehen ist. Wichtig zur Beurteilung des Verhältnisses der Grundfrage zu ihrer möglichen Beantwortbarkeit ist hier der Status, der dem Sein ,wissenschaftstheoretisch‘ oder als die Sache des Denkens zugebilligt werden muss, ob mit ihm ein Rätsel aufgegeben, ein Problem gestellt, eine Aporie formuliert oder an ein zu denkendes Geheimnis gerührt wird. Das Rätsel umschreibt eine zu erratende Denkaufgabe und in diesem Sinne etwas zunächst Unbegreifliches (,Dunkles‘), hinter das man zu kommen trachtet oder das man für ewig unlösbar hält. Als Rätsel statuiert, gehört Sein nicht zu den ,Welträtseln‘, denn jedes Rätsel hat sein ,Sein‘, das selbst nicht zu enträtseln ist. Ein Problem ist in der begriffsgeschichtlichen Tradition »eine bereits elaborierte, in einem wissenschaftlichen Kontext gestellte Aufgabe mit einem gewissen Schwierigkeitsgrad«.92 Dieser Problem-Begriff wird heute durch den ausufernden Gebrauch des Wortes ,Problem‘ nivelliert und bezeichnet »eine belie91 M. Heidegger, GA, Bd. 15: Seminare, 399. 92 Vgl. den Artikel »Problem« von H. Holzhey in: HWP, Bd. 7, Sp. 1397.
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93 Ebd. 94 G. Marcel hat die meta-problematische Teilhabe am Seinsmysterium im Gegensatz zum Problem herausgearbeitet. Zu dieser Unterscheidung vgl. P. Kampits, Gabriel Marcels Philosophie der zweiten Person, besonders 61–69. Nach Marcels »Entwurf einer Phänomenologie des Habens« (in: Werkauswahl, Bd. 2: Metaphysisches Tagebuch 1915–1943, Sein und Haben 1928–1933, 153–256; hier die Eintragung vom 23. Dezember 1932, 228 f.) ist ein Problem etwas, »auf das ich stoße, das
Dritter Exkurs
bige Schwierigkeit, Aufgabe oder Frage […], die es zu lösen bzw. zu beantworten gilt«.93 Wenn es zum Beispiel an seelischer Gesundheit fehlt, geht man zum Psychotherapeuten. Man redet euphemistisch von den eigenen Problemen und erhofft (für seine Konflikte und schicksalhaften Verstrickungen) eine problemlösungsorientierte Hilfestellung. Oder für manchen Politiker ist es ,keine Frage, die Gastarbeiter sind das Problem!‘. Mit ,Wir haben zu viele Gastarbeiter in unserem Lande‘ wird ein Sachverhalt behauptet, der an sich kein Problem darstellt, doch ist es die Frage (die weder wahr noch falsch ist), ob diese eines Beweises bedürftige Behauptung zutreffend ist oder nicht. Zur Problemstellung gehört die Frage (beispielsweise die scholastische quaestio als Lehr- und Darstellungsform), aber diese reicht als Grundbewegung des Denkens weiter als das Problem. Wird die vollständig disjunktive Entweder-oderFrage durch einen Beweis entschieden, so gilt das Problem als gelöst. Eine Aporie dagegen kann ein Problem sein, bei dem nicht durchzukommen ist, weil die vernünftige Auflösung nicht gelingt; wir geraten gegenüber einer Unmöglichkeit in ausweglose Verlegenheit, Zweifel, Not, wobei die allenfalls verkehrte, falsche Fragestellung, die zum Problem gehört und mit der man Probleme vernichtet, nachzuweisen ist. So kann der ,Seinsbegriff‘ zum Problembegriff werden, wenn sich aus ihm im indirekten Beweis Scheinprobleme ergeben oder an ihm selbst ein sachlicher, semantischer oder syntaktischer Mangel erscheint. Aporetik wird so zur Problemwissenschaft. Als Aporie kann auch die meta-problematische Weglosigkeit, die aufgedeckte Not des Denkens (im Unterschied zur Not der vermeintlichen Notlosigkeit), bezeichnet werden, wo allenfalls, wenn es zulässig ist, im Wissen um das Nichtwissen erst Wege zu bahnen sind. Sie ist dann dem echten Geheimnis zuzuordnen. Das echte Geheimnis meint nichts Geheimgehaltenes, das preisgegeben oder verraten werden kann; es steht auch jenseits des Aberglaubens, der es vor dem Denken tabuisieren will und für etwas Irrationales hält, wobei sich mit seiner vernünftigen Aufklärung der Obskurantismus auflöst. Doch ein zu denkendes Geheimnis besagt, dass bei noch so großer ausweisbarer Offenbarkeit einer Sache sich deren je immer größer bleibende Verborgenheit als aktueller Grund eben dieser Offenbarkeit erweist. Die Entbergung und Offenbarkeit des Seins (die Wahrheit in einem ursprünglichen Sinn) verdankt sich immer seiner bleibenden Verborgenheit. Mit Gabriel Marcel sei hier vom Mystère de l’être gesprochen.94 Sein zeigt sich als ein Ge-
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heimnis und nicht als Problem, da seine Verborgenheit und seine Offenbarkeit in gleicher und nicht umgekehrter Proportion zunehmen. Zunehmende Offenbarkeit besagt daher nicht Schwund an Verborgenheit. Vielmehr macht gerade das nicht auszulotende Geheimnis eine Überfülle von Antworten möglich, die niemals abschließende, immer nur provisorische Antworten zulassen, die jenseits der abschließenden Beantwortbarkeit von Rätseln oder Problemen liegen. Nach dem Gesagten kann die Antwort auf die Grundfrage nicht wie die Auflösung eines Rätsels oder Problems ausfallen, welche das Fragen beendet oder sich aus der Fragwürdigkeit der eigenen Existenz heraushält. Nur so lange ist unsere Antwort eine wahrhafte, als sie die Grundfrage mit- und weiterfragt. Warum ist Seiendes und nicht eher das, was Seiendes nicht ist, das ganz Andere zum Seienden, nämlich das Sein? Was heißt Seiendes, was heißt (uns) Sein und was ,es gibt Sein‘? Entfaltet sich nicht die Antwort als Entfaltung der Grundfrage wie ein unabschließbares Gespräch? Bleiben wir nicht nur so lange im echten Philosophieren, als wir auf das Fragen der Grundfrage eingehen? Die Frage lässt sich nicht mit einer Behauptung (These) abtun, vielmehr beantwortet die ganze Ontologie (und nicht nur sie allein) die Frage nach dem Sein und dem Sinn von Sein, insofern und insonah es sich dem Seienden mitteilt, aber nur solange die Frage nach dem Grund und der Abgründigkeit des Seins wach bleibt. In dieser Situation des Grundverständnisses gilt es zu beherzigen, was Thomas von Aquin im Anschluss an Aristoteles vorsichtig komparativisch formulierte: »Das Geringste an Erkenntnis, das einer über die erhabensten Dinge zu gewinnen vermir gegenübersteht und das ich gerade deswegen umfassen und mir unterwerfen kann – während ein Mysterium etwas ist, bei dem ich selbst engagiert bin und das folglich nur als eine Sphäre denkbar ist, in der die Unterscheidung des In-mir [als einem Subjekt] und des Vor-mir [als einem intendierten Objekt] ihre Bedeutung und ihren Hauptwert verliert«. Die Unterscheidung von Problem und Mysterium ist eine von objektivierender Dar- und Vorstellung (exposition) und offenbarender Enthüllung (révelation): »Was wir haben, legen wir dar; was wir sind, enthüllen wir (teilweise, wohlverstanden).« (A.a.O., 242: Eintragung vom 27. Februar 1933 = Être et Avoir, 246 f.; vgl. auch: Werkauswahl, Bd. 1: Entwurf einer Phänomenologie des Habens, 87–103, hier 92; dazu a.a.O.: Das ontologische Geheimnis – Fragestellung und konkrete Zugänge, 59–86, hier 66; Position et Approches concrètes du Mystère ontologique, 56): Sein als sich offenbarendes Mysterium ist kein im bejahenden Urteil behauptetes Sein (être affirmé), sondern ein sich bejahendes, sich bekräftigendes, sich behauptendes Sein (être s’affirmant). Sein ist also niemals als vor mich (als Subjekt) hingestelltes und vorhandenes Objekt zu erkennen, als ein zu lösendes Problem, aus dem ich mich heraushalten könnte, indem ich es objektivierend vor mich bringe, sondern es ist als das anzuerkennen, woran ich persönlich ,partizipiere‘, d.h. engagiert beteiligt bin und in Hoffnung vertrauensvoll teilnehme – insbesondere an der Liebe. Das anzuerkennende Mysterium des Seins wird durch Problematisierung verkannt, veruntreut und verraten. Was als Grundvollzug existenziell-engagierten Denkens, das aus der Subjekt-Objekt-Beziehung und Aufsplitterung meines Seins (in mir/außer mir) zur Einheit meines persönlichen Innestehens und Aufenthalts im Mysterium führt, ist die Sammlung, die als Anwesendwerden im Sinne des zweiten Exkurses verstanden werden kann. Vgl. G. Marcel, Geheimnis des Seins. Siebente Vorlesung: Das Sein in der Situation, 173–200, hier besonders 175, 177 f., 181 ff.
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mag, ist ersehnenswerter als das sicherste Wissen von den niedrigeren Dingen.«95 Denn »das, was gemäß seiner Natur sicher (zuverlässig) ist, kann uns weniger sicher erscheinen, wegen der Unzulänglichkeit unseres Intellektes, der, wie Aristoteles sagt, ,sich zu den offenbarsten (greifbarsten) Dingen (der Natur) verhält wie das Auge der Nachteule zum Licht der Sonne‘«.96 Dinge, die von sich her fest stehen, zuverlässig gegründet und sicher sind, müssen nicht für uns in gleicher Weise sicher sein. Ein Maximum an Erkenntnissicherheit und -gewissheit ist in sich erstrebenswert, kann uns jedoch bezüglich der Sache des Denkens dort nicht leiten, wo es um Erkenntnis der erhabensten Dinge geht, die den sicher und gewiss erkennbaren Dingen vorzuziehen sind. Ein Zuviel an Licht kann uns als Erkennende in ein Dunkel versetzen, das phänomenal als Nichts erscheint, jedoch wegen der Bedeutsamkeit der Sache, um die es geht, wichtiger ist, als das, was man klar und deutlich demonstrieren kann.
3.3 Seiendes, Sein und Nichts als Hauptthemen der Ontologie
3.3.1 Zum Wissenschaftscharakter der Ontologie in Abhebung vom Gegenstandsbereich moderner Fachwissenschaften
95 Thomas von Aquin, STh I, q. 1, a. 5, ad 1: minimum quod potest haberi de cognitione rerum altissimarum, desiderabilius est quam certissima cognitio quae habetur de minimis rebus. Vgl. Aristoteles, De partibus animalium, lib. 1, cap. 5, 644 b 31–33. 96 Thomas von Aquin, a.a.O.: id quod est certius secundum naturam, esse quoad nos minus certum, propter debilitatem intellectus nostri, qui ,se habet ad manifestissima naturae sicut oculis noctuae ad lumen solis‘. Vgl. Aristoteles, Met. 1, A l, c. 1, 993 b 9–11. 97 Aristoteles, Met. 1, 1003a 21 f.: ϑ ϑ’
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Im Folgenden sei kurz erläutert, was Seiendes, Sein und Nichts nennt. Die erstmalige Angabe dessen, was dem Denken aufgegeben ist, um eine ,Wissenschaft‘ vom Seienden (Sein) zu entfalten, soll hier im Kontrast zu einem spezialwissenschaftlich bewährten Wissenschaftsbegriff erläutert werden. Dabei leitet mich der Gedanke, dass der Wesenscharakter der Wissenschaftlichkeit sich aus dem Verständnis der Eigentümlichkeit dieser Denkaufgabe bestimmt. Aristoteles ist es, der frühes mediterranes und südwestasiatisches Denken auf einen Gipfel führt, wenn er die Idee einer Wissenschaft, die man später Ontologie genannt hat, in elementarer Ursprünglichkeit entwirft: »Es gibt eine Wissenschaft (ein sachkundiges Sichauskennen), die das Seiende als Seiendes betrachtet (erschaut) und das, was ihm an ihm selbst zukommt.«97 Mit dem Seienden als Sei endes (seiend), dem ens qua ens, konstituiert sich die Ontologie als erste, anfängli-
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che Philosophie durch die Angabe eines einheitlichen thematischen Gegenstandes.98 Diese ist nicht in einer Reihenfolge von Sachgebieten die erste, sondern als Anfang aller Philosophie das dem ganzen Philosophieren erst den Grund legende Denken, welches alle Seienden, die Gesamtheit der Seienden, »die Seienden als Seiende« (t! nta nta),99 also das Seiende im Ganzen und nicht ein spezielles Gebiet (Gattung, Art oder Seinsregion) umfasst. Das Seiende ist insoweit ,als‘ Seiendes zu verstehen, als es ,seiend‘ ist, weil ,seiend‘ zu sein ihm zuteil wird und es in Bezug auf sich selbst (kaϑ’ at) durchwaltet, ja es von seinem Grund ausgehend durchherrscht (p1rcein). Was drückt nun das ,als‘ (griech. , lat. qua) aus? Zunächst ist das, was hier im Horizont des ,als‘ angesprochen wird und in diesem Ansprechen ,als Seiendes‘ offenbar gemacht wird, das Seiende im Ganzen. Dieses wird in seiner Mannigfaltigkeit und Ganzheit als überhaupt seiend, und zwar insonah und insofern es ist oder, besser gesagt im Hinblick auf sein Sein, angesprochen. Das wird zwar noch nicht explizit gesagt, kann aber als gegenwärtiges Anwesen thematisiert werden: also das Seiende in seinem gegenwärtigen Anwesen. Wir können vom Seienden gar nichts aussagen, ohne zuvor auf sein Sein, sein Anwesen, Währen und Gewähren des Seiende zu blicken, wodurch Seiendes uns gegeben und zugänglich ist. Die Bezugnahme auf diesen Seinsgrund des Anwesenden und jeweils Währenden umreißt der Ontologie ihren thematischen ,Gegenstand‘. Um die erste, d.h. die fundamentale Philosophie in ihrem Wissenschaftscharakter zwischen Weisheit (Dichtung) und geläufiger Wissenschaft angemessen zu bestimmen, muss sie von Spezial- und Fachwissenschaften abgegrenzt werden. Was eine (moderne) Fachwissenschaft begründet, ist die Vergegenständlichung des Seienden auf eine bestimmte Art und Weise: An ihm selbst ist Seiendes kein Gegenstand für ein Subjekt. Das Seiende wird vergegenständlicht, indem es als Forschungsbereich für die methodisch-systematische Beherrschung durch ein Subjekt, das sich dem Vorhaben entsprechend als kollektives konstituiert, entworfen wird. Dass Seiendes nun als ein dem forschenden Subjekt Entgegenstehendes erfasst wird, konstituiert es als Gegenstand. Die Gegenständlichkeit (Objekthaftigkeit) dieses Entgegenstehens ist näher zu erklären. Dabei kann eine in der scholastischen Philosophie allgemein anerkannte Unterscheidung hilfreich sein, nämlich die von Formal- und Materialobjekt. Das in den Fachwissenschaften Befragte ist das Seiende. Was in die Frage gestellt wird, das Befragte, wird dabei unthematisch-fraglos als gegeben (anwesend in seinem Anwesen) hingenommen. Es wird hier weder als solches (als Seiendes) 98 Thematischer Gegenstand meint alles das, wovon und worüber die Rede sein kann (,was angebbares Thema ist‘). 99 A.a.O., u.a. G 1, 1003b 15 f.; E 1, 1025b 3 f.
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Sterne, Wirtschaft oder sonst irgendeiner ist.100 Seiendes kommt erst auf Grund des Entwurfs (der Vorstellung des Bereiches, der Idee des Fachgebietes) für die spezialisierte Forschung in Frage bzw. gestattet, Nichtdazugehöriges auszuscheiden. Beispielsweise konnte dadurch Schritt für Schritt entschieden werden, ob Korallen in den Fachbereich der Mineralien, der Pflanzen oder Tiere fallen. Das, was auf Grund des Bereichsentwurfes erforscht wird, eine bestimmte Vielzahl von Seienden, ist ebenfalls Gegenstand der Wissenschaft, aber in einem bereits durch das Formalobjekt begründeten Sinn, also nur als sekundärer Gegenstand (obiectum per accidens), als Folgegegenstand, gewissermaßen als das ,Material‘, womit es die Wissenschaft faktisch zu tun hat, um das es geht (materia circa quam) – nicht zu verwechseln mit der (physikalischen) Materie, aus der etwas entsteht (materia ex qua). Das, was unter einer bestimmten Hinsicht 100 Darauf, dass solches wissenschaftliches Sichverhalten hier jeweils eine Haltung (habitus) generiert, die gesellschaftlich kollektive Bindungskräfte freisetzt, ist hier nicht einzugehen.
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noch uneingeschränkt in seinem Sein, sondern nur in einer bestimmten, eingeschränkten Hinsicht befragt. Mit dieser Hinsicht ist angegeben, worauf hin das Befragte befragt wird. Wonach gefragt ist, ist das Gefragte: die Fragehinsicht. Diese ist zu unterscheiden von dem, was unter dieser Fragehinsicht schließlich erfragt und erkundet werden konnte, das Erfragte. Mit diesem Unterschied von Gefragtem und Erfragtem ist die alte Unterscheidung von Formal- und Materialobjekt schon vorweggenommen und auf ihre Verwurzelung im fragenden Denken zurückgeführt. Nun besteht der primäre Gegenstand einer Fachwissenschaft im Entwurf eines Bereiches der Forschung bzw. einer zu erlangenden Erkenntnis, und zwar vermittels einer bestimmten Fragehinsicht. Man nennt die (gründende) Hinsicht, unter der etwas (so und genau so bestimmt) gesehen wird, unter der nach etwas gefragt wird, den formalen Gegenstand, terminologisch das Formalobjekt. Dieses ist nicht etwas bloß Formales (leere Äußerlichkeit), sondern gewissermaßen die wesenhafte ,Form‘, unter der etwas erblickt wird. Sie gibt an, als was etwas in Frage kommt. Unter Formalobjekt versteht man die vor- und vorausgreifende Hinsicht (die Ziel- und Systemidee, den allgemeinen Aspekt, Gesichtskreis, Gesichtspunkt, Bereichsentwurf usf.), unter der Seiendes als Gegenstand der Erfahrung und systematischen Erkenntnis in Frage kommen soll. Die jeweilige Fachwissenschaft wird durch diesen Grundakt der Vergegenständlichung konstituiert, der die Schaffung ihres Bereiches ermöglicht und im Voraus darüber entscheidet, welcher Bereich der Seienden für sie in Frage kommt, ob es nun der der Tiere, Pflanzen, Mineralien,
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dann auch (wirklich) erblickt und erfragt wird, nennt man Materialobjekt. Dieses hat man gewöhnlich im Auge, wenn man vom Gegenstand einer Wissenschaft spricht. An den vielen konkreten Seienden, die das Materialobjekt bilden, wird das Formalobjekt (obiectum per se) nur implizit miterfasst. Die für Wissenschaften konstitutive vergegenständlichende Repräsentation des Seienden wird daher oft übersehen. Seiendes ist aber von ihm selbst her niemals materiales Objekt berechnender Verfügbarkeit, sondern erst auf Grund des die Wissenschaft konstituierenden Formalobjekts. Im strengen Sinne des Wortes hat Philosophie (und das gilt umso mehr für die Ontologie als fundamentale Philosophie) kein spezielles oder partikuläres Formalobjekt, durch das ihr Gegenstandsbereich umgrenzt wäre und andere Bereiche ausgrenzen könnte. Sofern es in der Philosophie um das Seiende im Ganzen hinsichtlich seines Seins geht (Ontologie), hat sie streng genommen auch kein universell gemeinsames Formalobjekt, welches das Seiende (Anwesende) auf Vergegenständlichung hin anblickt, sondern sie sucht vor aller möglichen Vergegenständlichung das Anwesende in der es ermöglichenden Anwesenheit zu erfassen und methodischgeordnet aufzuweisen. Die Sorge des Philosophen kann nur sein, dass nicht etwa etwas von der ,Wirklichkeit‘ (vom Seienden im Ganzen und im Grunde) ausgelassen, übersehen, verschwiegen, vergessen, zugedeckt, entstellt oder verkehrt wiedergegeben wird. Philosophie ist daher auch Ideologiekritik, de- und rekonstruierend. Philosophieren heißt radikal im offenen Horizont denken, befremdet durch das Nichtgewusste, immer Wissen um das Nichtwissen (docta ignorantia) bleibend, niemals aus dem Staunen herauskommend, dass überhaupt Seiendes ist und dass nicht nichts ist. Das sachkundige (wissenschaftliche) Vorgehen der Philosophie kann ihr aufgrund ihrer prekären Stellung nicht von außen, niemals durch eine andere, spezielle Wissenschaft diktiert werden. Sie hat für Sinn und Charakter ihrer Wissenschaftlichkeit selber aufzukommen. Insofern sich Philosophie ihren thematischen Gegenstand, das Seiende als Seiendes, vor aller Vergegenständlichung geben lässt, ist sie im strengen Wortsinn gegenstandslos, aber das ist für sie kein Mangel, sondern darin besteht ihr Vorzug. Ihr phänomenologisches Aufweisungsverfahren ist daher nicht an anderen, auch nicht an den sogenannten exakten Wissenschaften zu messen, deren Wissenschaftler/innen (als Menschen) notwendig an der lebensweltlichen Kenntnis des Seienden hinsichtlich seines Seins teilnehmen, denen aber (als Fachleuten) gemäß der ,Natur‘ ihrer Wissenschaften das Seiende nur innerhalb ihres jeweiligen partikulären Horizontes unter methodischer Vergegenständlichung zugänglich ist. Überdies gilt auch für sie das Aristoteles-Wort: »Es ist Sache der Bildung, von je-
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dem Vorliegenden nur die Genauigkeit (Akribie) zu verlangen, die der Natur des Vorliegenden angemessen ist.«101
3.3.2 Das Seiende als das sich in seinem Sein Zeigende
101 Aristoteles, NE, I, 1, 1094 b 3–25. 102 Ein ursprüngliches Verständnis der Methode als Enthüllung der Sachen selbst, dessen Gang wir in seinem Sich-Fügen, differenzierenden Grundgeben denkend folgen, um so die Sache entsprechend zu ,ent-werfen‘, d.h. auseinanderzulegen, zu enthüllen und offenbar zu machen, lässt sich durch die Sache selbst leiten, die auf Grund ihrer Vernehmensmöglichkeiten den Erkenntnisweg im Voraus anbahnt und so durch ihr Zeigen hindurch den Weg vorausweist. Erst davon abgeleitet meint Methode das Aufzeigen des Denkverfahrens auf dem bereits vorgebahnten Weg, das angewandt wird, um zu einem Ergebnis zu kommen. Siehe oben 1. Kap., 2.3.1.2. 103 Goethes Werke, Bd. 12: Maximen und Reflexionen, 432.
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Um der Sache, mit der die Ontologie anfängt, näherzukommen, gehen wir von der Frage aus: Was ist das, das Seiende? Gemäß der phänomenologischen Zugangsweise ist Seiendes ein Phänomen im Sinne des Sichzeigenden, d.h. dasjenige, das sich selbst und von sich her zeigt, enthüllt und ins Unverborgene aufgeht. Man könnte auch sagen, Phänomenologie ist die Methode, die vom Verständnis des Seienden (der Sache selbst) her sich bestimmt. Dabei ist das, wofür wir von uns aus zugänglich sind, zu unterscheiden von der dem Phänomen eigenen Zugänglichkeit. Jedes Phänomen bahnt im Wie des Sichzeigens den Weg zu dem, als ,Was‘ es sich auf Grund seines Seins offenbart, und dies ereignet sich aus einer bestimmten Verbergung entspringend, wie aus einer Quelle. Die Vernehmbarkeit des Phänomens, der wir mit den aus unserem Sein geschöpften Vernehmensmöglichkeiten entsprechen, nimmt im Phänomen ihren Anfang.102 Seiendes ist keine Leitidee oder Arbeitshypothese, sondern ein ,Urphänomen‘, das nur in einem Verhalten, das sich für sein Vernehmen offenhält, hingenommen, aber weder ableitend bewiesen noch weitergehend erklärt werden kann. Denn das, wovon ein Beweis letztlich ausgeht, verstehen wir aus dem im Hinnehmen vernommenen Seienden, und was wir dem Seienden unterstellen, um es zu erklären, ist nachträglich, da es mit dem bereits vorgegebenen Seienden rechnet. Besonders für das Seinsverständnis, in dem wir Seiendes als ,seiend‘ verstehen, gilt, was Goethe im Blick auf die Urphänomene sagt: »Man suche nur nichts hinter [neben, unter oder über] den Phänomenen: sie selbst sind die Lehre.«103 Die Lehre ist zunächst das still (vor aller Oralität oder Textualität) uns Ansprechende. Das Urphänomen ist nicht hintergeh- und hinterfragbar, indes in dem, was es zeigt, fragwürdig; es bedarf ob seiner unscheinbaren Offenkundigkeit für das Hinnehmen keines Beweises, jedoch des Aufweises, der es methodisch mitsehen lässt.
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Stellen wir uns Seiendes bloß vor, statt es zur phänomenalen Begegnung von ihm selbst her zuzulassen, dann zeigt es sich (direkt) nicht selbst und von ihm selbst her. Hingegen ist das sich-selbst-zeigende Seiende, das sich von sich her als solches, d.h. gleichsam von Angesicht zu Angesicht, ,seiend‘ zeigen kann, so zugänglich, wie es als Seiendes ist und unmittelbar anwesend zu sein vermag. Seiendes als bloß vermittels einer Vorstellung (eines Begriffs) gedachte ,Entität‘, als zwischen mich (trotz aller weltoffenen Leibhaftigkeit meines Seins) und meine Erfahrung geschobene Vorstellung, stellt durch Vergegenwärtigung ein ,Schattenbild‘ von dem dar, was ist. Dadurch kann das, was ist, sich nicht ursprünglich von ihm selbst her geben. Die Weise seines Sichzeigen- und Begegnenlassens wäre dann nur eine abgeleitete, mittelbare, vermittels einer ,Re-präsentation‘ und damit von einem anderen her konstituierte. Von sich her ist Seiendes nichts anderes als selbst das in seinem Sein Seiende, das heißt, anwesend in seinem mitvollziehbaren Sichzeigen, Sichoffenbaren, Sichmitteilen, Sichgeben in aller Sprachlichkeit seiner Phänomenalität, denn Seiendes kann weder sein noch ist mitvollziehend denkbar, dass es ist, ohne dass es uns etwas sagt und bedeutet. Wir lassen also Seiendes in seinem Sein (Anwesen) zu, insofern und insonah es Seiendes ist: Du selbst bist es, ich selbst bin es oder dort das Fenster ist es usw.104 Vielleicht zeigt sich Seiendes gerade als selber Seiendes oder gar als ,Selbstseiendes‘ auf Grund seines personalen Seins in dem Maß, als es von sich selbst weg ein Zeigendes ist; und dadurch ist es gerade mit, durch und in Bezug auf Andere und aus diesen mehr es selbst als ohne sie. Das kann hier offenbleiben. Jedenfalls bildet Seiendes im Sichzeigen eine Mannigfaltigkeit von Mannigfaltigem, die auf vielerlei Weisen ihres Anwesens (in der Mannigfaltigkeit ihrer Seinsweisen) zugänglich ist. Seiendes wird hier als von ihm her und an ihm selbst sich Zeigendes verstanden. Als sich selbst Zeigendes zeigt es sich in Bezug auf sich, d.h. in der Weise des ihm eigenen Anwesens. Gerade wenn es sich im Bezug auf mich und für mich (uns) zeigt, zeigt es sich in seinem Anwesen selbst. Als erstlich Sichselbstzeigendes lässt es sich mindestens daraufhin freilegen. Das nehmen wir auch wahr, wenn es sich für Andere und für uns gemeinsam mit ihnen zeigt oder Andere es für uns mitsehen lassen. Wie anders sollte es sich sonst von ihm her und an ihm selbst zeigen, waltet doch in allem Von-sich-weg-Zeigen der Urbezug zum Sichzeigenden. Das Zeigen ist hier ein Sichenthüllen und Sichmitteilen und so Vernehmbarwerden 104 In abgeleiteter Hinsicht meint Phänomen die Erscheinung eines bereits Erschienenen. Diese erschienene Erscheinung vermeldet ein Dahinter oder lässt im Ungewissen, ob nicht nichts dahinter steckt. Auf diese Weise ist sie bloßer Schein im Gegensatz zum Sein. Im ursprünglichen Sinne ist das Phänomen die erscheinende Erscheinung, d.h. ihr Ins-Sein-Treten, Auftreten und Hervorkommen, ihr Aufgang in das Anwesen überhaupt.
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von Anwesendem in seinem Anwesen. Damit ist ausgeschlossen, dass das Seiende in seinem Sein ausschließlich aus dem subjektverhafteten Bezug des Fürmichseins missdeutet wird, beispielsweise als das, was ich anlässlich einer Erfahrung erlebe (nichts als meine Erlebniswelt), oder als die von mir vorgestreckte Rezeptionsweise bzw. die von mir erfundene Wirklichkeit (Konstrukt). Das von sich her sich selbst zeigende Seiende ist ursprünglich an ihm selbst sich Zeigendes und nicht bloß an (einem) anderen. Beispielsweise sind die uns aus der Philosophiegeschichte als Kategorien- oder auch Klassifikationssysteme bekannten Aussageweisen (Prädikamente) solche, durch welche wir Seiendes von etwas anderem her und auf dieses hin bzw. als an anderem Sichzeigendes durch den Vergleich begrifflich bestimmen, enthüllen, erklären u.Ä. Wir bringen es in unseren Gesichtskreis und sprechen es auf etwas hin an, das es mit anderem (mehr oder weniger abstrakt) gemeinsam hat, das heißt, wir bestimmen es begrifflich allgemein und definieren es (den Begriff entfaltend); wir bilden eingeschränkte Bereiche oder Sphären von Seienden, die einander ein- und ausgrenzen. Dazu ist auszublenden, dass alles so und so bestimmte und von anderen abgegrenzte Seiende immer nur als Seiendes (Anwesendes) ,seiend‘ (anwesend) sein kann. Was immer man als Seiendes begrifflich und definitorisch als Gattung, Art, spezifische Differenz bestimmt, ist in der Vielzahl der Bedeutsamkeiten des uns begegnenden Seienden vom Sein durchwaltet. Sein geht durch alle kategorialen Bereiche und Scheidungen hindurch und über sie hinaus, insofern wird es transzendental genannt.105 Beim kategorialen Bestimmen blicken wir auf solches, das sich nicht nur durch sich und von sich her, sondern in gleicher Weise auch an anderen Seienden zeigt: Als Seiendes bist du beispielsweise ein Mensch, und als dieser Mensch im ,Da‘ deines Weltaufenthaltes anwesend. Dieses Menschsein zeigt sich hinsichtlich seines Wasseins auch an anderen Seienden, die es unter der Unzahl von Seienden gibt, und die eben menschliche Individuen sind. Noch allgemeiner begriffen bist du als Lebewesen dem Tierreich angehörig, wobei hier vom Menschsein abstrahiert wird. Begrifflich noch weiter gefasst sind Lebewesen Weltkörper, selbstständige Seiende, zu denen du gehörst. Diese selbstständigen Seienden unterscheiden sich von dem, was jeweils nur mit dazugeraten oder ihnen mitgegeben ist und was nur an einem Selbstständigen vorkommt. Man hat diese Modifikationen der Seienden in ihrem Sein in selbstständige und in mitgegebene unselbstständige Seinsweisen bekanntlich Substanzen im
105 Der Sinn von Sein soll im zweiten Band dieser Philosophischen Theologie im Umbruch über das hinaus, was unter Sein unmittelbar zu verstehen ist, im Blick auf die ontologischen Transzendentalien traditioneller Ontologie weiter aufgeschlossen werden.
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Unterschied zu Akzidenzien genannt.106 Doch sind auch Akzidenzien, mitanwesende Seinscharaktere, an sich selbst wiederum eigenständige (aber nicht selbstständige!) Seiende, obgleich sie an und in einem Seienden ihr Sein haben, wie etwa dein schwarzer Haarwuchs, dein Gewicht, die Beziehungen, in denen du stehst, oder dein räumlich-zeitliches Situiertsein, Notwendiges und Zufälliges, ohne das du nicht sein kannst. Wenn wir Seiendes in seinem Sein zulassen, zeigt es sich selbst von ihm her und an ihm selbst; unter begrifflichen Hinsichten gefasst, ist es hingegen mehr oder weniger Allgemeines und im umgekehrten Verhältnis zum Abstraktionsgrad inhaltsleer. Das, wovon abstrahiert wurde (das Konkrete), ist, aber auch das abstrahierte Abstrakte ist auf seine Weise. Das in unausschöpfbarer Mannigfaltigkeit von Bedeutsamkeiten sich Zeigende enthüllt sich in einer Mannigfaltigkeit von Weisen seines Anwesens. Seiendes besagt in seinem Sein konkrete Fülle, niemals bloße Leere und Abstraktheit. Fragen wir, was das Seiende als Seiendes ist, dann fragen wir nicht, was dieses oder jenes Seiende oder Ereignis (ein Kristall, eine Orchidee, eine Schwalbe, ein Handy, ein Geldtransfer) ist; wir fragen auch nicht nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten oder danach, welche Bereiche (Welten) das Seiende im Ganzen ausmachen oder welche aufeinander nicht zurückführbaren höchsten Gattungsbegriffe (Kategorien, Prädikamente) es gibt. Wird nach den mannigfaltigen Weisen, wie man Seiendes kategorial differenziert begreifen kann, gefragt, so sieht man davon ab, dass kategoriale Ausdifferenzierungen und Ordnungen eine Mehrfaltigkeit von speziellen Seinsweisen des Seienden darstellen, aber den transzendentalen Sinn von Sein nicht erschließen. Fragen wir, was das Seiende als Seiendes ist, dann fragen wir nach allen und jedem Seienden, wie heterogen sie auch sein mögen und mannigfaltig in ihren Seinsweisen und Bedeutungen, wir fragen nach dem Seienden im Ganzen im Hinblick auf sein Sein. Das Ganze ist nicht die Summe aller Seienden (Tatsachen) plus ihren Wechselwirkungen. Welt ist nicht (analog zu innerweltlichen Seienden) als Megaseiendes vorzustellen, ist sie doch selbst kein Seiendes mehr, sondern ontologisch als die Offenheit des Seins alles Seienden der konkrete Offenheitsbereich der uns jeweils phänomenal zugänglichen Seienden.
106 Zur Substanzmetaphysik siehe den Exkurs gleichfalls im folgenden Bd. 2 der Philosophischen Theologie im Umbruch.
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3.3.3 Möglichkeit eines verbalen und nominalen Verstehens des Seienden und des Seins
Um besser zu verstehen, was ,das Seiende‘ (griech. t n, lat. ens) nennt, ist zu beachten, dass dieses Wort ein Participium praesens des Zeitwortes ,sein‘ (griech. t nai, lat. esse) ist. Ein Partizip ist ein Wort, das durch Teilhabe ausgezeichnet ist; es nimmt teil sowohl an der Wortart des Nomens bzw. Substantivs als auch an der Wortart des Verbums. Darüber hinaus stellt das Partizip eine Abwandlung des modus infinitivus des Zeitwortes dar. So bedeutet das ,Duftende‘ einmal das, was duftet, zum Beispiel die Rose, aber auch das Duften selbst, den Rosenduft, oder das ,Leuchtende‘ bedeutet einmal das, was leuchtet, zum Beispiel das Feuer, oder aber das Leuchten selbst, den Feuerschein. Wir können also das Wort ,Seiendes‘ sowohl substantivisch als auch verbal verstehen und fragen, was es ist, da es ja etwas ist und nicht nichts ist, oder wie es ist, d.h. hervorkommt und sich zeigt, sich gibt und sich zu eigen gibt, d.h. sich ereignet. Gewöhnlich denkt man das Seiende in substantivischer bzw. in nominaler Bedeutung, und zwar bevorzugt als etwas Vorhandenes, und konnte daher im substanziellen Seienden das Paradigma für Seiendes überhaupt erblicken. So konnte sich teilweise die Meinung durchsetzen, dass der Hauptgegenstand der Metaphysik die Substanz sei. Oder vom Seienden wird als allumfassender Vernunftidee gesprochen, da in ihr davon abgesehen wird, ob Seiendes wirklich ist oder nur sein könnte (ens ut nomen). Ursprüngliches Denken verhält sich zurückhaltend und kritisch zur grammatischen Substantivierung und ontischen Substanzialisierung, aber auch zu einer im reinen Denken begrifflich gefassten Seinsidee des Existierenkönnenden. Es achtet auf das Ereignishafte des Seienden, das im Vollzug seines Seins zustande kommt (ens ut participium). Trotzdem schließt es die substantivische oder nominale Bedeutung keineswegs von vornherein aus, zieht aber die verbale, zeitwörtliche, als die der Sache entsprechende ursprünglichere Bedeutung vor. Darauf, dass das verbale Verständnis des Seienden ein partizipiales Seinsverständnis ist, muss noch näher eingegangen werden. ,Sein‘ sagen wir im modus finitus (der gegenüber dem modus infinitus sprachgeschichtlich älteren Aussageform) aus: im verbalen ,ist‘-Sagen, verborgener auch im ,bin‘- und ,bist‘-Sagen, ja in jedem Zeitwort. Der ,In-finitiv‘ ist eine Aussageweise, die das Gedachte und noch zu Denkende im Unbegrenzten und Ganzen belässt. Durch Substantivierung wird der Infinitiv ,sein‘ zum gebeugten, deklinierbaren Infinitiv ,das Sein‘ (lat. [gelegentlich mit griech. Artikel tò] esse), dem Gerundium, das für das lat. Verb angibt, was ausgeführt werden, geschehen muss; es ist ebenso doppeldeutig wie das Partizip ,Seiendes‘.
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Ähnlich wie ,das Seiende‘ kann ,das Sein‘ verbal, aber auch nominal verstanden werden. Nach der Grammatik wird ,das Sein‘ als ein Verbalsubstantiv bestimmt. Ein Geschehen, das gewöhnlich durch ein Verbum (Zeitwort) ausgesagt wird, kann auch durch ein Substantiv ausgedrückt werden. Wenn zum Beispiel ,der Nachbar schläft‘, kann man vom ,Schlaf des Nachbarn‘ reden. Weil das Verbalsubstantiv ,Schlaf‘ ein Geschehen aussagt, spricht man hier auch von einem Nomen actionis. In diesem Sinne ist ,das Sein‘ vom Infinitiv des Zeitworts ,sein‘ her zu verstehen. Im und als Vollzug (actus) des Seienden ist es verbal zu verstehen. Das ,Sein‘, vom Infinitiv ,sein‘ her verbal verstanden, besagt dann: sich vollziehen und tätigen, andauern; sich ereignen, anwesen; währen und gewähren; sich mitteilen, sich geben und schenken; weilen und verweilen. Das ist im Sinne eines nominal-substantivischen Verständnisses nichts greifbar Vorhandenes, nichts Existierendes. Es kann aber statt des Geschehens das durch das Geschehen erreichte Ergebnis (das Getane = lat. actum) bezeichnen. Das Verbalsubstantiv dieser Art heißt Nomen acti. Statt mit der Geschehensbezeichnung hat man es hier mit einer Sachbezeichnung zu tun. Verdinglichend gebraucht kann ,ein Sein‘ auch irgendetwas, ein Ding, ein Subjekt, eine Substanz, ein Seiendes usw., bezeichnen. Spricht man dann das Seiende auf sein Sein hin an, dann kann man Sein auch in nominaler Bedeutung verstehen und lässig von einem vorhandenen ,Sein‘ reden. Sein und Seiendes werden austauschbar und durcheinandergebracht.107
107 Aus den bloßen grammatischen Feststellungen über den nominalen und verbalen Sinn von Sein wird hier nichts abgeleitet und bewiesen; sie stehen im Dienst der Verwahrung des Seinsdenkens und verdeutlichen, wie Sein zur Sprache kommen kann. Damit erübrigt sich der sprachrelativistische Einwand, Ontologie sei bloß sprachlich bedingt, weil in den indo-europäischen Sprachen verwurzelt. Um Sein oder Nichtsein geht es auch den Menschen, deren Sprache das indogermanische Zeitwort ,Sein‘ nicht kennt und die unser verbal verstandenes Sein, das nicht etwas Seiendes ist und als ,Nichts‘ erscheint, auf andere Weisen aussagen. Auf die Erörterung der interkulturellen Übersetzungsprobleme, die den Sinn für das Gesagte schärfen würden, muss hier verzichtet werden. Selbstverständlich kann aus der Grammatik der philosophisch-kritisch zu erhebende Sinn von Sein, die Bevorzugung der verbalen Bedeutung, niemals abgeleitet werden. Von der Sache des Denkens her bewegt, muss Philosophie gegen ihre eigene Sprache sprachkritische Bedenken anmelden. Das ist im Seinsdenken der Fall, wenn gegenüber der grammatischen Bestimmung von Haupt- und Zeitwort, wie K. Hemmerle sagt, »Das neue Hauptwort: das Verb« ist: Thesen zu einer trinitarischen Ontologie, 39. Eine »Phänomenologie der Liebe als Phänomenologie des Seins« müsste beim »Sich-geben«, »beim Geschehen, beim Vollzug« ansetzen. »Das Denken ist nicht Rückgang hinter den Vorgang, um ihn von einem isolierten Ursprungspunkt aus zu konstruieren. Vielmehr findet sich das Denken je schon bzw. allererst im Vorgang selbst. Das Hauptwort eines solchen Denkens ist nicht mehr das Substantiv, sondern das Verb. Vom Mitgang mit dem Vorgang aus eröffnet sich, was vorgeht, wer vorgeht, woher und wohin das Vorgehen geht.« (93 f.)
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3.3.4 Konstruktion und Problematik des nominalen Verständnisses des Seienden in seinem Sein
Worauf kommen wir, wenn wir in nominaler Bedeutung eine Antwort auf die Frage ,Was ist das Seiende?‘ suchen? Was ist dann das, worin und wodurch etwas ,seiend‘ ist? Was kann dann als das Sein dieses Seienden ausgemacht werden? Das Seiende, so wird substituiert, meint die Seienden in ihrem Sein, in dem, was sie als Seiende verbindet, was ihnen allen und jedem einzelnen Seienden gemeinsam zukommt: das Allgemeine, das Generelle oder Abstrakteste aller konkreten Wesen, ihre Wesenheit; und das ist die ,Seiendheit‘ des Seienden (die entitas entis). Dieses Kunstwort mit der Wortendung -heit ist ähnlich wie viele uns geläufige Wörter gebildet, beispielsweise wie Freiheit, die das nennt, was das Freie (das freien Menschen Eigene) ist und was es als solches auszeichnet, oder wie die Wesenheit, durch die man den Wasgehalt konkreter Wesen (Anwesender) im Allgemeinen hervorhebt. Fragen wir beispielsweise nach dem, was ein Volkswagen vom Typ ,VW-Käfer‘ ist, so ist das, was allen diesen Fahrzeugen gemeinsam ist, die VWKäferheit zu nennen. Allein diese bestand bereits vor aller Herstellung als zu Papier gebrachte Konstruktion, und sie überdauert jedes Fahrzeug dieses Typs, das anders als die Konstruktionsidee Treibstoff verbraucht, einen Parkplatz besetzt und am Ende verschrottet wird. Die VW-Käferheit ist also nicht nur das, worin alle einzelnen Fahrzeuge dieser Art vergleichbar übereinstimmen, sondern auch das sie Ermöglichende, das als Wertschöpfung jedes einzelne Fahrzeug an Wert übertrifft. Sie ist gewissermaßen das ,Sein‘ der Fahrzeuge dieser Art. In Anlehnung an dieses Gedankenmodell kann man sich das Sein des Seienden als Seiendheit verständlich machen. Die Seiendheit wird ausgehend vom Seienden (re)konstruiert, nicht von seinem Sein aus (durch Teilnahme an ihm) verstanden. Man denkt das Sein des Seienden durch Verallgemeinerung, konzentriert sich darauf, wie es gedacht wird, denkt aber nicht, was Sein selbst bedeutet, worum es da geht, wie es um seinen Sinn steht. Das Sein des Seienden wird zu einer Art ,Wesenheit‘ überhaupt verbegrifflicht. Was allen Seienden zukommt, das begrifflich allgemeinste Sein, ist gerade noch vorstellbar als etwas, das nicht nichts ist. Das ,gemeinsame‘ Sein (esse commune) ist unter dieser Voraussetzung nicht die grenzenlose Fülle des Seins, an der die Seienden teilhaben, kein Währen und Gewährtsein, das Seiendes im Ganzen ereignishaft ermöglicht, sondern es verbindet die Seienden als das Abstrakt-Allgemeinste, das man sich überhaupt vorstellen kann; es wird als der allen Dingen gemeinsame Charakter verstanden, der sie gerade noch nominal als Etwas-,seiend‘ verstehen lässt.
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Für diese gedankliche Konstruktion der Seiendheit wird ein für selbstverständlich gehaltener Vorrang des Seienden vorausgesetzt. Man kann sich doch nur auf das verlassen, was irgendwie fest steht, festzumachen, festlegbar und zu befestigen ist, was in seiner Existenz affirmierbar, bekräftigt, bestätigt und ponierbar, was als Tatsache vorhanden oder als Ressource verfügbar ist? Man weiß im Alltag flüchtig um das Sein wie um die Luft, die wir momentan atmen, aber als Boden und Grund gebraucht und verbraucht, bietet es keine verlässlich dienende Stütze. Auf diesen Boden, der ständig nachgibt, ist kein Verlass. Gerade das zeitwörtlich verstandene Sein versagt als Grund eine sichere Gründung, es erweist sich überallhin als nichtig, als der ,Ab-grund‘, in den alles wieder fällt und darin verschwindet. Wenn überhaupt etwas Halt, Zuflucht und Verlass bieten soll, so können es doch nur Verhältnisse sein, in denen Seiendes sicher- und festgestellt werden kann. So ruft alles nach der Vorherrschaft des Seienden. Und damit bleibt die Gabe der Zeit, die uns zu sein gegeben und daher verfügbar ist, das sich im ,bin‘ und ,bist‘ zeitigende Sein, verdeckt. Aber gerade Sein bleibt »im alltäglichen Verhalten nicht nur das Verläßliche, sondern es ist vordem schon jenes, was uns das Seiende überhaupt innewerden läßt und verstattet, daß wir inmitten des Seienden selbst Seiende sind«.108 Wird das Sein vom Seienden her und um willen des Seienden verstanden, dann verschafft man sich mit der Auslegung der Seienden (unter Einebnung ihrer Mannigfaltigkeit) als Seiendheit nur nachträglich ihr Allgemeinstes unter Ausblendung alles Konkreten. Die Seiendheit ist so der »Nachtrag und deshalb das ,Aprori‘«.109 Dass es unter dem Gesichtspunkt des Begriffs gedacht und ausgelegt wird, besagt: Das Seiende wird vom Denken aus zu dessen Gegenstand (das Objekt als Entwurf und Vorwurf) gemacht. Das Seiende (als Materialobjekt) wird als Seiendes im Begriffsgefüge eines Formalobjektes einer Wissenschaft ausgelegt, und zwar als der erste dem Denken angemessene Gegenstand, genauer: als die Gegenständlichkeit des Gegenstandes, das unüberbietbare Formalobjekt aller Materialobjekte. Wird nun Sein als Seiendheit in jeglichem Seienden angetroffen, dann hat jedes Seiende am anderen Seienden seinesgleichen: das Gleiche seiner selbst. Die unübersehbare Mannigfaltigkeit der Seienden wird in ihrer Heterogenität, Gleichursprünglichkeit ebenso wie in ihren Stufen, Rängen und Auszeichnungen ausgeklammert. Sie ist nicht gemeint, wenn das ,ist‘ durchgängig das allen Seienden Gemeinsame (esse bzw. ens commune) bezeichnen soll. Durch diesen Maßstab des immer Gleichen und Unterschiedslosen versinkt, was immer ist, sei es Mineral oder 108 M. Heidegger, GA, Bd. 51: Grundbegriffe, 66, vgl. § 12, 62 f.: »Das Sein ist das Verläßlichste und
zugleich der Abgrund.« 109 M. Heidegger, GA, Bd. 65: Beiträge, 174, 63 f., 183.
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Baum, Tier oder Mensch, Welt oder Gott, in eine nichtssagende Gleichförmigkeit. Das logische Instrument dieser Nivellierung des Seins ist der allgemeinste Begriff (communissimum simpliciter bei Johannes Duns Scotus). Sein ist der ausnahmslos allem und jedem gemeinsame, der allerallgemeinste Begriff, der kein Allgemeineres mehr zu seiner Bestimmung zulässt.110 Er umgreift daher die Totalität der Seienden. Als der all-umfassende Begriff ist Sein der inhaltsleerste, denn nach den Regeln der Logik gilt, dass ein Begriff, je umfassender er seinem Umfang nach ist, desto unbestimmter und leerer ist er seinem Inhalt (Sachgehalt) nach. Das verbegrifflichte Sein erweist sich gemäß dem Wesen des Begriffs als Gegenstandsbestimmung durch seine Bedeutung (seinen Inhalt). Diese, als Seinsbegriff verstanden, enthält einen Minimalinhalt, die völlige Unbestimmtheit als höchste, nicht mehr überschreitbare, hintergehbare und unaufklärbare Bestimmtheit. Der Seinsbegriff besitzt inhaltlich nur ein einziges Merkmal, das ,Ist‘, die ,Istheit‘ oder Seiendheit, und sonst ist von allem konkreten Inhalt abgesehen. Unter der Voraussetzung, dass Sein ein im Begriff zu Begreifendes ist, ist er der abstrakteste und leerste Begriff. Von dieser begrifflichen Auffassung des Seins her sind dann verschiedene, ja entgegengesetzte Deutungen möglich geworden.
3.3.5 Ideologiekritische Dekonstruktion des begrifflichen Seinsverständnisses
Dass dieser begriffslogische Ansatz der Ersten Philosophie obsolet werden musste, ist trotz des großartigen Rettungsversuches durch Hegel, auf den später einzugehen sein wird, verständlich. Fatal ist die verallgemeinernde Identifizierung des begrifflichen Seinsverständnisses mit dem metaphysischen Denken, das sich demnach eingestandenermaßen in abstraktesten und definitorisch unaufklärbaren Letzt- oder Grundbegriffen bewegt. Diese konnten aus neopositivistischer Sicht für bloße »Leerformeln« (Ernst Topitsch) gehalten werden, die so formal sind, dass sie mit jeglichem Inhalt gefüllt werden können. Ihre Leerheit provoziert geradezu eine ideologische Auffüllung, die jeweils Herrschenden dienstbar gemacht werden kann. ,Sein‘ ist die formalste und inhaltsloseste Leerformel der Metaphysik, eine nichts sagende Unbestimmtheit. Demgemäß ist Ontologie ein Sammelname für die leersten Scheinprobleme.111 Die ideologiekritische Bedeutung dieser Problematisierung des nominalen Seinsverständnisses ist nicht zu unterschätzen, denn tatsächlich kann das Seiende 110 Vgl. a.a.O., Bd. 51: Grundbegriffe, Frankfurt/M. 1981, 46, vgl. 45 f., 49 f., 69 f. 111 Vgl. O. Marquard (1980), Artikel »Leerformeln«, in: HWP, Bd. 5, Sp. 159 f.
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im Ganzen vom Sein irgendeines Gegenstandsbereiches her reduktionistisch erfasst und ausgelegt werden. Aus dem Begriff eines Sonderbereichs wird, wie Leo Gabriel in seiner Integralen Logik gezeigt hat, durch einseitige Verabsolutierung ein exklusives System der Welt bereitet: »Alles ist Materie« (Physikalismus), »Alles ist Leben« (Biologismus), »Alles ist Geist« (Idealismus) usw. Aber gerade nicht das Seinsdenken, sondern das ungezügelte Begriffsdenken führt zu einer verkehrten Ideologie, zu einem ,-Ismus‘.112 Als herausragend sei auf Nietzsches ideologiekritisches Potenzial verwiesen, der trotz seiner Nähe zum Biologismus ein bloß nominales Seinsverständnis in seiner Nichtigkeit dekonstruiert hat. Er beantwortet die leitende Grund-Frage der Metaphysik, was das Seiende (im Ganzen seinem Sein nach) sei, durch die Pluralität von Seienden, der Werdenden, die ihrem ,Sein‘ nach fließendes Leben, Kraftquanten, Aktion, Mehrwerdenwollen, die Willen zur Macht sind. Er verabsolutiert die sein Denken leitende Grund-Erfahrung des Lebens und denunziert von da aus das im Gegensatz zum Werden bestimmte Sein als etwas Erstarrtes, das aus dem Denken der Begriffslogik nur zum Gleichsetzen, Festmachen taugt. Dieses verfestigte Leben als Zurechtgemachtes, Verengtes, Einseitiges, Vereinfachtes ist nur scheinbar ,das Wahre‘, in Wirklichkeit jedoch Täuschung und Irrtum. Die eigentliche und einzige Realität ist vielmehr Leben als Scheinen, und zwar Schein als die Weise, wie das Seiende tätig ist. Nietzsche legt das Sein des Seienden nicht von ihm selbst her, sondern aus dem Gegensatz (zum ,Platonismus‘) von etwas anderem her, einem Grund-Begriff, aus, durch den man das Allgemeine eines Sonderbereichs bestimmt und somit begrifflich vereinfacht und verengt auslegt.113 In Entgegensetzung zu seinem Grundbegriff des konkreten Lebens karikiert Nietzsche dennoch äußerst treffsicher die ,höchsten Begriffe‘ der Metaphysik wie das Sein als »letzten Rauch der verdunstenden Realität«, die daher nicht »a l s Anfang [Grund]« zu nehmen seien.114 Das begrifflich-nominal gefasste Sein (im Sinne der Seiendheit des Seienden) ist hier ein unwirklicher Dunst, eine den Sinnen entschwindende übersinnliche Leere, ein Irrtum, der nichts Wirkliches, nichts leibhaftig Greifbares und Reales bedeutet.
112 Vgl. L. Gabriel (1956), Integrale Logik, 285 f, 291–296. 113 Vgl. vom Verf. (1996), Grundgedanken bei Freud und Nietzsche im Blick auf die Sachproblematik der Metaphysik des Willens. 114 Nietzsche, KGW, Bd. VI/3: Götzendämmerung, 70; vgl. dazu M. Heidegger, GA, Bd. 40: Einführung in die Metaphysik, 39; GA, Bd. 48: Nietzsche, 316; GA, Bd. 51: Grundbegriffe, 34, u.ö.
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3.3.6 Vorrang des verbalen Seinsverständnisses
Verstehen wir Sein verbal (zeitwörtlich), dann ist die Entgegensetzung von Sein und Werden, von Wahrem und Scheinbarem, von Statik und Dynamik, von Welt der ewigen Ideen und Welt im zeitlichen Wandel, von Sinnlichem und Übersinnlichem (wie im vulgären Platonismus) ein Missverständnis. Das Sein ist kein Etwas, kein Seiendes, auch nicht das Seiendste oder Höchste unter den Seienden oder das Seiende im Ganzen; als dieses Nicht-Seiende ist es auch kein vorgestelltes Nichts (das All der Seienden weggedacht), keine Abstraktion, die man beiseitelassen könnte, denn es erscheint (mindestens in der Todesangst) als Nichts, wo es sich entzieht und zu entschwinden scheint, und zwar als die Abgründigkeit des Seienden, aus der Seiendes entsteht und in die hinein es wieder vergeht. Wollen wir das Sein daran messen, ob es ein Seiendes ist oder nicht, versagt es sich und muss als Nichts erscheinen, da es ja kein Seiendes ist. Das Sein meint auch nicht die Seiendheit des Seienden (entitas entis), das abstrakt gesteigerte Wesensallgemeine der Seienden (analog zur Pferdheit, Baumheit, VW-Käferheit), sondern Sein nennt das Konstitutivum (das innerlich Begründende) jedes und alles Seienden, ohne sich darin zu erschöpfen. Denn das, wodurch überhaupt etwas – nämlich Seiendes – ist und nicht vielmehr Nichts ist, bleibt stets fragwürdig. Wir fragen nach dem Sein als Grund des Seienden, ja darüber hinaus nach dem Sein selbst und nicht nur nach der Bedeutungsmannigfaltigkeit und Wesensbestimmung des Seienden. Der Sinn des Seienden erfüllt sich vielmehr darin, dass es sich in seinem Sein zeigt, und insofern ist es das, was es selbst, um willen des Seins ist: Enthüllung und Mitteilung von Sein. Sein ist nicht ein abstrakter Charakter (die Seiendheit) oder eine allgemeine Eigenschaft (Qualität oder Zustand), den oder die Seiendes auch hat, etwa bloß ein auratisches Anwesendsein als eine Art sich verflüchtigender Dunstkreis (dust), also nur mehr eine Begleiterscheinung des Seienden, ein Epiphänomen, kein originäres Phänomen des Ins-Sein-Tretens von Seiendem. Das wird deutlicher, wenn wir uns erneut in das Phänomen vertiefen. Seiende sind uns in sinnenhafter Wahrnehmbarkeit gegeben. Wir gewahren sie beispielsweise wie die Fenster dort …, indem wir bei ihnen anwesend werden und sie in und aus ihrem Anwesen als seiende, d.h. ontische Phänomene hinnehmen. Aber weder unser für Fenster zugängliches Selberanwesen noch die sich in ihrem Sein (Anwesen) zeigenden Fenster sind als solche ontische Phänomene. Das Sein ist nicht, irgendwann und irgendwo als schon Anwesendes antreffbar oder als Vorhandenes vorstellbar, es ist überhaupt nichts Anwesendes, denn dann müsste dieses wiederum anwesen und so fort ins Endlose (im Sinne eines regressus ad infinitum), vielmehr werden wir nur dessen inne, d.h. wir
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nehmen es wahr und gewahren, erinnern und gewärtigen es in seinem Walten als das, wodurch Seiendes währt, uns gewährt wird und in die Unverborgenheit aufgeht. Das ontische Phänomen erweist sich damit als ontologisch fundiertes Phänomen. Dabei gilt es auf den verbalen Sinn von Sein zu achten, auf das Sichzeitigen unseres Daseins, auf unser Anwesen im Gewahren des Anwesens von Anwesenden. Wir verstehen hier Zeit nicht als chronometrische Zeit, wie man sie als Abfolge des Nacheinander misst. Gewiss, auch diese Zeit ist, jedoch nur, indem sie vergeht. Diese am Jetzt-Sagen gemessene Zeit vergeht ständig; kaum sage ich ,jetzt‘, ist dieses Jetzt nicht mehr, und bevor ich ,jetzt‘ sagte, war es noch nicht. Sie ist von einer eigentümlichen Nichtigkeit. Dagegen ist hier Zeit in ihrem verbalen (An-)Wesen verstanden, von der Zeit her, die wir zu sein haben, weil uns Zeit gegeben ist, jemand selbst zu sein. Sein ist daher zeitwörtlich Gabe des Anwesens, Seinsgeschehnis, auf das wir uns selbst verstehen dürfen. Aus diesem verbalen Seinsverständnis lässt sich phänomenal die Weite des Seins, die alles bloß jetzt gegenwärtige Seiende und Sein überschreitet und an der Seiendes teilnimmt, verständlich machen. Anders als anwesend ist Seiendes für uns als Seiende nicht zugänglich. Doch was die Anwesenheit hier und jetzt (gegenwärtig) steigert und weitet, ist die Anwesenheit von Abwesen – und daher auch das Abwesen alles Abwesenden einschließlich des Gewesenen, das wir in seinem Weltbezug behalten haben, sowie des auf uns zukommenden Künftigen, in das hinein wir uns immer schon entrückt erfahren. Aber auch gegenwärtig weit Entferntes kann eben als Entferntes anwesend werden und uns so nahe gehen wie das Schicksal eines Weltraumfahrers den Angehörigen, die – über den Bildschirm ,hier‘ – ,dort‘ bei ihm anwesend sind. Diese Weise phänomenalen Gegebenseins besagt nicht bloß Vertretenwerden durch eine (innerpsychische) Abbildung oder Vorstellung. Wir sind im Vergegenwärtigen der räumlich Entfernten wie beispielsweise der nicht leibhaftig vorhandenen Astronauten wirklich selbst bei ihnen, und zwar dort, wo sie leibhaftig sind (also nicht bilokal Anwesende!). Ebenso haben wir von dem, was gewesen ist, primär kein gedankliches Bild, keine Vorstellung, die uns, was war, nur mittelbar repräsentiert, sondern wir sind des Gewesenen unmittelbar inne als einem Gewesenen (gestern, damals …). Bleiben wir beim Phänomen, dann verstehen wir uns selbst auf das Sein als Anwesen, welches sowohl das gegenwärtige Anwesen (des Seienden) als auch das abwesende Anwesen (des Seienden) umfasst, so ungleichmäßig unser Aufenthalt im Gewesenen, Gegenwärtigen und Zukünftigen auch sein mag. Das Anwesen könnte gar nicht walten, wenn es sich nicht von ihm selbst her ins Offene und Freie bringen könnte. Dieses Walten und Währen des Anwesens (von Anwesenden) ist auf diese Weise ein im weitesten Sinn raum-zeitliches; es bildet
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115 M. Heidegger, GA, Bd. 51: Grundbegriffe, 71. 116 Man kann die Begrifflichkeit des Seins in einem abstrakt-eindeutigen (univoce) Sinn durch eine analoge Begrifflichkeit (conceptus analogus) retten wollen. Der Versuch, sich zwischen eindeutigem Sinn (Univozität) und verwirrender Vieldeutigkeit (Äquivozität) durch Analogie des Seins bzw. Seienden
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die Spannweite unseres jeweiligen Weltaufenthaltes. Doch das Sein (der Seienden) erschöpft sich nicht in ihm, sondern Welt (der aufgehende Aufgang und das Offene des Seins) hat in ihm jeweils seine phänomenale Zugänglichkeit. Mit dem Sein nennen wir etwas, das nicht seinesgleichen hat, das unvergleichlich, einzigartig, aber nicht einförmig ist. Das Sein ist ohne Plural; es gibt es nicht ein zweites Mal wie einen Doppelgänger. Es ist immer ein und dasselbe Ganze, das in den unterschiedlichsten Seinsweisen und Seienden waltet. »Es gibt unterschiedene Weisen des selben Seins, aber es gibt nicht verschiedenes Sein in dem Sinne, daß das Sein in das Mehrmalige und Vielmalige auseinander fallen könnte.«115 Gemeint ist mit der Einzigkeit des Seins nicht die Einheit des jeweiligen Seienden, sein Zusammengehören in einer Mannigfaltigkeit im Verhältnis zu anderen. Die ontischen Erscheinungsgestalten gründen im ,Eins-sein‘, nicht in einer abstrakten Einheit, indem sie in völlig unterschiedlicher Weise am selben Sein teilnehmen. In ihm ist alles miteinander verbunden, aber nicht einerlei. Daher ist das Sein allen Seienden gemeinsam, esse commune oder das communissimum, das (All-)Gemeinsamste, Universalste, worin alle Seienden kommunizieren; aber diese Gemeinsamkeit (communio) ist nicht die begrifflich-abstrakte Allgemeinheit des Generellen, der obersten Gattungsbegriffe oder der allen Seienden gemeinsamen Seiendheit, sondern Sein kommt als Dasselbe in seiner Einzigartigkeit den Seienden gemeinsam zu. In allen Aussageweisen, in denen Seiendes zur Rede steht, ob sie nun Haupt-, Bei- oder Zeitworte nennen, spricht sich der Bezug zum Sein in der Mannigfaltigkeit der Weisen seines Anwesens und Währens mit aus. Auch wenn wir uns schweigend zum Seienden verhalten, entscheiden, ob etwas sei oder nicht sei, so sei oder anders sei, wird das Sein ,gesagt‘. Selbst wenn wir weder etwas reden noch tun, sondern wach verweilen und anwesend sind, verhalten wir uns (ohne die Möglichkeit eines Gegenteils) zum Sein und lassen uns vom Sein auf diese Weise in Anspruch nehmen. Auch dieses bloße Anwesen sagt uns ,etwas‘, aber dieses Thematisierbare ist im Vergleich mit allem begrifflich Begreifbaren wesenhaft Vorbegriffliches. Das Sein ist unvergleichbar Einmaliges und Einzigartiges und als ein solches entzieht es sich der Möglichkeit, begriffen zu werden. Da es kein Fall eines Allgemeinen ist, kann es auch nicht durch einen Begriff für Singuläres bestimmt werden. Sein ist überhaupt nicht als Begriff auszusagen, auch nicht als transzendentaler Begriff (conceptus transcendentalis), der über alle kategorialen Bestimmungen, die ab- und ausgrenzen, hinausgeht.116
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Das Sein nennen wir. Als Urwort der philosophischen Sprache ist ,Sein‘ ein nennender Name.117 Im Nennen lassen wir Einmaliges und Einzigartiges zu Wort kommen, indem wir es in das Wort rufen. Nennen ist ein ,Her-vor-Rufen‘ der Sache selbst in ihrer Einmaligkeit und Einzigkeit, die von sich her im Ruf steht und uns in Anspruch nimmt. Aber genannt wird mit Sein nicht dieses oder jenes Nennbare, sondern das Gemeinsame aller Seienden, die an ihm Anteil nehmen, indem sie von ihm Anteil empfangen. So ist Sein unter den transzendentalen Namen (nomina transcendentalia), wie mannigfaltiges Einssein, Wahrsein, Gutsein, Schönsein, das Erstzunennende. Auf das primär im Nennen namentlich Gewordene können wir uns immer nur nachträglich durch Vollzüge des Ordnung stiftenden Begreifens, Beurteilens sowie begründenden Aufweisens und Mitsehenlassens beziehen. Überall ist dem Denken das namentlich Nennbare vorgegeben, das zu denken gibt. Zur unterschiedlichen Weise des Zugangs zu Name und Begriff kommt noch die unterschiedliche Weise des Sichverhaltens im Nennen und Begreifen: Um das Sein zu Wort kommen zu lassen, muss ihm im vernehmenden Vollzug des Daseins schweigend-horchend Raum gegeben werden, d.h. das Sein muss als Sein zugelassen werden. Diese Verhaltensweise ist dem Begreifen entgegengesetzt: »Im Be-greifen liegt nämlich die Verhaltensweise eines Inbesitznehmens«,118 welche der Wahrheit als geordnetem Besitz selbstgewisser Erkenntnis der Sache Herr zu werden sucht. Jedoch gehen wir im Nennen des Seins zurück auf die unvordenkliche Erstgegebenheit und den Anfang unseres ,Da-seins‘ und Denkens, was auch eine Grundlegung philosophischer Logik hinsichtlich des diskursiven Denkens zu berücksichtigen hätte.
hindurchzulavieren, ist zum Scheitern verurteilt. Gewiss besagt Analogie abgestufte Ähnlichkeit, Verwandtschaft in zusammenhängenden Bedeutungen, und kann solcherart Seiendes in seinem Sein zur Sprache bringen. Aber durch ihre begriffliche Fassung, die zum einen Teil die gemeinsamen gleichen und zum anderen Teil die ungleichen unterschiedlichen Bedeutungselemente des Seienden bezeichnet, wird ihre ontologische Sachintention einer differenzierenden Darstellung des sich ereignenden Seins im Seienden wieder rückgängig gemacht. 117 Vgl. dazu vom Verf. (1997c) die sprachphilosophische Untersuchung über das Wesen des Namens und das namentliche Sprechen: Sprachphilosophische Einführung zu einer Theologie des Namens Gottes, in: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Bd. 2, 159–217. Vgl. auch G. Pöltner (1972a), Schönheit. Eine Untersuchung zum Ursprung des Denkens bei Thomas von Aquin, 51, 78, 104, 124. 118 M. Heidegger, GA, Bd. 15: Seminare (Seminar in Zähringen, 1973), 399; vgl. den bedenkenswerten Hinweis von H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, wonach das Denken vermöge des Allgemeinbegriffs zur Herrschaft über die besonderen Fälle gelangt (152 ff.), wobei es zwei Arten von Herrschaft, eine repressive und eine befreiende, gibt (247). Es erscheint mir jedoch fraglich, dass vermöge einer einzig dem Begriff verhafteten Dialektik und Logik es zu einem befreienden, seinlassenden und so sachentsprechenden Denken kommen könnte.
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3.3.7 Ein Paradigma verbalen Seinsverständnisses: Thomas von Aquin
119 R. Schönberger, Die Transformation des klassischen Seinsverständnisses, 61–73. Insbesondere muss hier auf die neuplatonische Tradition verwiesen werden und deren reiche Entfaltung des Gedankens der Ausstrahlung und des Ausfließens aus dem Ureinen, die nicht im Sinne eines »Emanationspantheismus« auszulegen ist, dazu: K. Kremer, Die neuplatonische Seinsphilosophie und ihre Wirkung auf Thomas von Aquin, 2–7, 321–323. 120 R. Schönberger, Die Transformation des klassischen Seinsverständnisses, 65.
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Als Indikator für ein verbales Seinsverständnis in der Geschichte europäischer Philosophie kann Rolf Schönbergers Nachweis gelten, dass in der neuplatonischen und mittelalterlichen Tradition ,Sein‘ nicht selten durch erstaunlich häufig verbreitete Bildworte (»Metaphern«) oder sacherhellende Grundworte aus den Bereichen des Lichtes, des Fließens und personalen Gebens verstanden wurde. So ist das Sein gewährend, weil selbst Gewährtes, als Gabe – ja Geschenk und Gnade – gegeben, mitgeteilt, kommuniziert, und weiter: Das Sein teilt sich selbst mit (esse communicat), lässt Seiendes am Sein partizipieren und ,gibt‘ ihm wesenhaft teil. Das Sein ist Fließen (fluere) und Fluss (fluxus, effluxio) des Geschehens, geradezu als Sichereignendes und nicht als bloße Dauer eines Ablaufs verstanden; es ist Ausfluss (emanatio), Hervorgang (processus, productio), Ausgießen (diffundere, effundere), SichVerströmen (diffusivum sui). Schönberger spricht hier von Strukturelementen mittelalterlicher Ontologie. Spätere Philosophiehistoriker haben diese »Metaphern des Seins« weitgehend nicht beachtet, was eine bemerkenswerte Transformation des Seinsverständnisses anzeigt.119 Stattdessen stellt sich für das verbegrifflichte (zurecht als ,essenzialistisch‘ denunzierte) Seinsdenken (und zwar als Gegenbegriff zum Wesen der essentia) der anschauliche Gedanke des Setzens, der Position der Existenz bis hin zur bedeutungsfreien Faktizität (Tatsache) ein. Dazu kommt es, indem durch eine abstrakte Isolierung des Gegebenen (datum) vom Geber (dator) die Schlüsselerfahrung des Gebens (dare) übergangen wird. Darauf wird noch ausführlich einzugehen sein. Die Dinge sind dann nur »das ,Gegebene‘ (Sinnesdata), sie sind, was ,es gibt‘. Diese Fügung wird zum Inbegriff objektiver Vorhandenheit und deshalb theologisch und anthropologisch unbrauchbar.«120 Als Zeuge für ein Seinsdenken, das sich aus einem ausdrücklich als verbal dargestellten Seinsdenken entfaltet und in dem die radikalste Durchführung des Partizipationsgedankens gründet, wird im Folgenden Thomas von Aquin etwas ausführlicher behandelt. Die Beschränkung auf diesen einen unter den herausragenden Denkern will keinem Thomismus das Wort reden. Sie will eine bloß historische Auflistung ähnlich bedeutender Denker durch die hier gebotene geraffte Darstellung vermeiden und kann sich zudem auf eine breitere Forschung als die, die anderen
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Denkern zuteil wurde, stützen. Innerhalb der neuscholastischen Bewegung kam es gegen Mitte des vergangenen Jahrhunderts durch eine verständnisvollere Relektüre der thomanischen Ontologie zur Überwindung des bis in die Neuscholastik hinein tradierten, vielfach verzerrten Thomasverständnisses.121 Nur einige in diese Richtung weisende Denker seien hervorgehoben: der spätere Cornelio Fabro,122 Johannes B. Lotz,123 Albert Keller,124 Bernhard Welte,125 Gustav Siewerth,126 Ferdinand Ulrich,127 Josef Stallmach,128 Günther Pöltner 129 und Rolf Schönberger 130 und neuerdings Rupert Johannes Mayer 131.
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a) Thomas hat ausdrücklich eine Diversität zwischen Seienden und Sein hervorgehoben. Er beruft sich dabei auf die kurze Schrift ,De hebdomadibus‘ des Boethius:132 »Verschieden ist das Sein (esse) und das, was ist (id quod est)«,133 nämlich das Seiende, und zwar – eine wichtige Klärung – das jeweils am Sein partizipiert.134 Das heißt, »zwischen dem Akt des Seins und demjenigen, dem dieser Akt zukommt [dem Seienden], ist zu unterscheiden«.135 Der Unterschied – er besagt eine Diversität, 121 Die neue Würdigung ontologischer Texte des Thomas von Aquin, deren zeitwörtliches Verständnis des Seins dem epochalen Vergessen entrissen wurde, verdankt ihre Möglichkeit weitgehend dem Denken Heideggers, dessen eigene Thomas-Interpretation diesen hierin jedoch völlig verkennt. Vgl. vom Verf. (1999), Zu Heideggers Verständnis des Seins bei Johannes Duns Scotus und im Skotismus sowie im Thomismus und bei Thomas von Aquin. 122 A. Pieretti, Cornelio Fabro. 123 Vgl. die zahlreichen Arbeiten über die thomanische Ontologie in: »Bibliographie P. Johannes B. Lotz S.J. (1903–1992)« von J. De Vries/M. Nachleba. 124 A. Keller, Sein oder Existenz? Die Auslegung des Seins bei Thomas von Aquin in der heutigen Scholastik. 125 Vgl. u.a. die Beiträge von B. Welte über Thomas von Aquin in den Sammelbänden Auf der Spur des Ewigen (1965), hier besonders »Zum Seinsbegriff des Thomas von Aquin«, 185–196, sowie ders., Zeit und Geheimnis (1975), hier besonders »Thomas von Aquin und Heideggers Gedanke von der Seinsgeschichte«, 203–218. 126 U.a. von G. Siewerth besonders wichtig: Das Schicksal der Metaphysik von Thomas zu Heidegger. 127 F. Ulrich, Homo abyssus. Das Wagnis der Seins-Frage. 128 J. Stallmach, Seinsdenken bei Thomas von Aquin und Heidegger; ders., Der »actus essendi« bei Thomas von Aquin und das Denken der »ontologischen Differenz«. 129 G. Pöltner (1972a), Schönheit. Eine Untersuchung zum Ursprung des Denkens bei Thomas von Aquin. 130 R. Schönberger, Die Transformation des klassischen Seinsverständnisses. 131 R. J. Mayer, De veritate: quid est? Vom Wesen der Wahrheit. Ein Gespräch mit Thomas von Aquin. 132 Thomas von Aquin, Opuscula theologica, Bd. 2: In librum Boethii de hebdomadibus expositio, lect. 2, n. 27 f. 133 Thomas von Aquin, De ver., q. 1, a. 1, ad 3. 134 A. M. S. Boethius, De hebdomadibus, 10. Zur Textkritik und Sachinterpretation vgl. R. Huka, Das Seinsverständnis des Boethius in »De Hebdomadibus«. Ein Beitrag zur Geschichte der ontologischen Differenz. 135 Thomas von Aquin, De ver., q.1, a.1, ad 3: distinguitur actus essendi ab eo cui actus ille convenit.
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ein Abweichen voneinander – ist kein ontischer, d.h. zwischen Seienden, sondern ein ontologischer, ein Vorläufer dessen, was Heidegger terminologisch »ontologische Differenz« genannt hat.136 Jedoch ist hier nicht der Unterschied der ontologischen Differenz im Seins- und Ereignisdenken Heideggers gegenüber Thomas hervorzuheben, nämlich dass Heidegger diese Differenz ausdrücklich terminologisch als Austrag (von lat. differre) denkt,137 und zwar als geschichtlichen Austrag, den der Mensch in der Offenbarkeit des Seins, das Grund dieser Offenbarkeit ist, zu vollziehen vermag. Es geht nur darum, zu zeigen, dass Heideggers elementare Charakteristik der terminologisch gefassten ontologischen Differenz sich mit der des Thomas berührt: nämlich insofern als Seiendes von Sein unterschieden ist.138 Sein ist »das, was Seiendes als Seiendes bestimmt«,139 und Sein geht über jedes Seiende hinaus: »ist das transcendens schlechthin«.140 Denkt Heidegger das Sein so, dass es erst Sein und Seiendes austrägt und auseinandersetzt, so denkt Thomas diese Auseinandersetzung auf Grund des Seins als Partizipation. Der Unterschied von Sein und Seiendem stellt sich als wechselseitiger Austrag dar: als Seinsmitteilung an das Seiende, wodurch dieses sich überhaupt erst in Wirklichkeit vollziehen kann, und umgekehrt: Seiendes hat nun seinerseits Sein, weil es am Sein teilnimmt und in ihm seinen Grund hat.
136 M. Heidegger, GA, Bd. 9: Wegmarken, Vom Wesen des Grundes, 134. Vgl. dazu und zum Folgenden J. B. Lotz, Das Sein selbst und das subsistierende Sein nach Thomas von Aquin, 180 –194; ders., Martin Heidegger und Thomas von Aquin, 41–58. 137 Vgl. M. Heidegger, Identität und Differenz, 63: »Die Differenz von Sein und Seiendem ist als der Unter-Schied von Überkommnis und Ankunft der entbergend-bergende Austrag beider.« Aus dem Ereignisdenken über die ontologische Differenz hinausdenkend vgl. ders., Zur Sache des Denkens, 40 f., 45. 138 Vgl. M. Heidegger, GA, Bd. 2: Sein und Zeit, 230. 139 A.a.O., 6. 140 A.a.O., 54. Dort allerdings laut Anm. a) nicht griechisch-platonisch und in diesem Sinne scholastisch, sondern von der »Wahrheit des Seyns«, dem Ereignis, her gedacht. 141 Thomas von Aquin, De pot., q. 7, a. 2, ad 9: hoc quod dico esse […]. 142 Vgl. J. B. Lotz, Das Sein selbst und das subsistierende Sein nach Thomas von Aquin, 187, 190.
Dritter Exkurs
b) Wichtig für das Seinsverständnis des Thomas ist der Vorrang des Seins vor dem Seienden. An einer für sein Seinsverständnis entscheidenden Stelle hebt er gleich dreimal betont hervor: »Das, was ich ,sein‘ nenne, […].« 141 Die Wendung macht deutlich, dass er sehr wohl um sein ihm eigenes, von anderen Denkern abweichendes Seinsverständnis wusste. Thomas hat von seinem Frühwerk Über das Seiende und das Wesen weg über das eine große Kommentarwerk Von den göttlichen Namen des Pseudo-Dionysios bis zu dem anderen, dem arabischen Liber de causis, einen gewissen Wandel im Denken vollzogen: vom Akt des Wesens oder der Seiendheit (actus essentiae) zum Sein als Akt (actus essendi), ja zum Sein selbst (ipsum esse):142 Das (nicht
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Sachprobleme systematischer Ortsbestimmung philosophischer Theologie
substantivierte, zeitwörtlich verstandene) ,sein‘ ist unter allem das Vollendetste, es ist die Vollendung aller Vollkommenheiten.143 Um seine Auffassung, die vom Neuplatonismus stark bestimmt ist, verständlich zu machen, geht Thomas gewöhnlich vom Seienden aus. c) Das Seiende ist für uns zunächst das, was ist:144 Das konkrete selbstständige Seiende, wie es uns als Wirkliches in der Erfahrung begegnet. Seine Selbstständigkeit ist vom Sein, jeweils seinem Sein her zu verstehen, denn es ist ein in seiner Selbstständigkeit Erstelltes, Aufgestelltes, das sich in sich zum Stehen bringt (subsistiert), und zwar auf Grund seines eigenen Seins: subsistens in suo esse.145 Es hat im Sein selbst das, wodurch es subsistiert,146 also den Grund seiner Selbst- und Eigenständigkeit so in sich, dass es in sich selbst (in se) und so durch sich selbst (per se) ist. Dieses von sich aus aufgehende Seiende wird das substanzielle genannt. Die Substanz hat ihren Sinn in der Selbstständigkeit147 und diese beruht auf dem Selbstständigsein. Das Seiende ist Insich- und Durch-sich-Seiendes, weil es im Sein gründet.
Dritter Exkurs
d) Das substanzielle Seiende kann zwar als ontische Kategorie substantivisch-nominal, muss aber primär dennoch verbal verstanden werden, und zwar erstens vom wiederum verbal zu verstehenden Sein her und zweitens (zusammen mit allem anderen) auf dieses Sein hin. Das Seiende ist also zunächst weder etwas Denkmögliches, das existieren kann, die Washeit, Wesenheit (res) oder Seiendheit (entitas rei148), noch eine aus der Denkmöglichkeit herausgetretene Wirklichkeit oder ein aktuell in die Existenz Gesetztes, sondern es konstituiert sich auf Grund des verbal zu verstehenden Vollzugs des Seins (actus essendi). Der Name ,Seiendes‘ leitet sich vom Vollzug (actus) des Seins ab.149 Das ist nicht bloß philologisch, sondern sachlich gemeint, insofern der Name die Sache selbst ins Wort ruft und nennt. Das Seiende ist also vom ,Akt‘ des Seins her und nicht umgekehrt ist Sein vom Seienden her oder als Hinzukommendes (Existenz) zu verstehen. Das Seiende subsistiert im Sein, es kommt ihm zu, sein Sein selbst zu vollziehen. Doch ist das agere dieses actus (primär jedenfalls) kein kategorial verdünntes Tun, Agieren, Wirken, 143 Thomas von Aquin, De pot., q. 7, a. 2, ad 9: […] esse est inter omnia perfectissimum […] hoc est perfectio omnium perfectionum. 144 Thomas von Aquin, In Boethii de hebd., lect. II, nr. 23: ens sive id quod est. 145 Thomas von Aquin, Sth I, q. 45, a 4. 146 Thomas von Aquin, De ver., q. 21, a. 1: esse i p s u m quo aliquid aliud subsistit […]. 147 Thomas von Aquin, Spir. creat., q. un., a. 5: Est autem de ratione substantiae quod per se subsistat. 148 Thomas von Aquin, Sth I, q. 48, a. 2 , ad 2. 149 Thomas von Aquin, De ver, q. 1, a. 1c: ens sumitur ab actu essendi, und dort ad 3: […] nomen autem entis ab actu essendi sumitur, non ab eo cui convenit actus essendi. Vgl. In I Sent., dis. 25, q. 1, a. 4: Nomen entis sumitur ab esse rei.
Zur Einführung in die Philosophie: Einführung in die Ontologie
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Herstellen, Machen als Kraftäußerung eines Wirkenden, auch kein Bewirken (efficere) einer ontischen Ursache, sondern ein Sichmitteilen (communicare), Sicherschließen und Hervorgehen. Die Natur des Aktes ist Selbstmitteilung gemäß seiner Möglichkeit.150 »Esse (agere, sub-sistere) besagt für das Seiende: Hervorkommen, Ek-sistieren, Sichgeben und so da sein.«151 Das ursprünglich gedachte Wesen des agere ist für Thomas »Freisetzen, Lösen, Entbinden, Sein-lassen«,152 sodass sich das Sein vergibt, verschenkt und Seiendes um willen der Mitteilung seiner selbst ist und in seinem Sein Gemeinschaft (als esse commune) communio stiftet. Das ,ens‘ Genannte ist demnach aus dem actus essendi als »kommunikativer Selbstvollzug« zu verstehen.153 Aus zahlreichen Texten und Beispielen wird deutlich, dass Thomas Seiendes und Sein verbal, ja geradezu ereignishaft versteht, wenn man unter Sichereignen versteht, dass etwas in sein Eigenes geschickt wird, ein Hervorkommen- und Verweilenlassen im eigenen Wesen, ein ins Offene Gelangenlassen des Anwesens (Seins), das wie das griechische Zeitwort 2lhϑeein ein nichtsubstantiviertes ,wahrheiten‘ (in die Unverborgenheit aufgehen lassen) mitbesagt. Der actus essendi ist demnach Hervor- und Aufgang des Seins selbst: Ereignung des Seienden.154 Einige wichtige Beispiele seien hier angeführt: »Das Sein selbst ist das, wodurch das Seiende ist, so wie das Laufen das ist, wodurch etwas läuft [ein Mensch, ein Hase oder sonst ein Lebewesen].«155 Gegen den gemeinen Hausverstand, der annimmt, dass ein Läufer jemand sei, der laufen kann bzw. die Fähigkeit besitzt, diese Tätigkeit, nämlich das Laufen, auszuüben, wird hier der Läufer phänomenologisch konkreter vom Lauf her verstanden, d.h. ein Läufer ist jemand selbst nur auf Grund seines Laufens als Laufender. Der Lauf (das konkrete Laufen) ist das eigentliche Sein des Laufenden, und zwar läuft der Läufer, insofern er sich dem Lauf unterzieht und an ihm selbst teilnimmt.156 Was ihn besonders bei einer sportlichen Veranstaltung, wenn er mit dabei ist, mit anderen Laufenden verbindet, ist das Laufen selbst. Es ist also nicht ein Etwas oder Jemand vorhanden (ein Lebewesen, ein Läufer), das oder 150 Thomas von Aquin, De pot., q. 2, a. 1: Natura cuiuslibet actus est, quod seipsum communicet quantum
possibile est. […] Agere vero nihil aliud est quam communicare illud per quod agens est actu […].
des Seins wird bei Thomas zwar an den entscheidenden Stellen seines Werkes ausdrücklich betont, bildet jedoch aufs ganze gesehen eher den unthematischen Hintergrund seines Denkens.« (122) 155 Thomas von Aquin, Quaest. disp. de an., 6c: Ipsum esse est quo aliquid est, sicut cursus est quo aliquis currit; vgl. ders., In Boethii de hebd., lect. II, nr. 22 f. Siehe dazu ausführlicher G. Pöltner (1972a), Schönheit, 37– 42. 156 Thomas von Aquin, In Boethii de hebd., lect. II, nr. 23: possumus dicere de eo quod currit, sive de currente, quod currat, inquantum subiicitur cursui et participat ipsum.
Dritter Exkurs
151 G. Pöltner (1972a), Schönheit, 43. 152 A.a.O., 128. 153 Vgl. dazu a.a.O., 43 f., 52. 154 Hierzu einschlägig G. Pöltner (2001c), Vorläufer des Ereignisdenkens: »Der Ereignischarakter
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Dritter Exkurs
der als Subjekt für eine Vielzahl von Bewegungen (Aktionen) angesehen wird, sodass dieses Subjekt die vorgegebene Hauptsache wäre, der gegenüber die Bewegungen bloß akzidentell, Nebensache, wären. Damit wäre bloß an eine Bewegungsmannigfaltigkeit im ontisch-kategorialen Bereich gedacht. Doch gerade das wie auch immer sich ontisch bewegende Seiende ist es, das, indem es überhaupt erst als solches zustande kommt, in einem ontologischen Sinn Bewegung ist, und zwar in seinem InErscheinung-Treten, sodass es ist und nicht nicht ist. Dass jemand läuft, dieser von ihm vollzogene Lauf, ist der Grund, weshalb jemand ein Läufer ist; er vollzieht sich selbst, vollbringt darin sein gegenwärtiges Anwesen als Sportler, er tritt darin aus sich heraus und in seinem Anwesen als Läufer hervor; dadurch kann er das und hat infolgedessen für sein (ihm eigenes) Können sein Maß – allenfalls für die Teilnahme am Wettbewerb ein einzigartiges. Das Beispiel vom Laufen veranschaulicht, dass es beim Sein anders ist, als man erwartet: Nicht wie man vom Laufenden sagt, er laufe, sagt man vom Seienden, es sei, sondern umgekehrt, Läufer ist er, weil er läuft, Seiendes ist es, weil es am Sein teilnimmt.157 Das Sein selbst ist es, wodurch Seiendes ist, d.h. überhaupt erst als es selbst anwesend ,ist‘ oder (wie man mit einem veralteten Wort sagen könnte) als Anwesendes ,west‘.158 Im Wodurch ist der Grund angesprochen. Das Sein als 157 Es wären hier noch andere Beispiele anzuführen: »Das Sein des Dings ist der Vollzug des Seienden, der sich aus den Gründen des Dings ergibt, wie das Leuchten der Vollzug des Leuchtenden ist: esse in re est actus entis resultans ex principiis rei, sicut lucere est actus lucentis.« (Sent. III, dis. 6, q. 2, a. 2) Nach dem gesunden Hausverstand machen wir vermittels eines Beleuchtungskörpers, der vorhanden sein muss, ,Licht‘, d.h. wir bringen ihn zum Leuchten – wir können das Licht auf- oder abdrehen, oder ist ein Lebewesen dasjenige, an dem Lebenserscheinungen erfassbar sind (Wachstum, Ernährung, Fortpflanzung), oder ein Auto ist fahrbereit, das sich in Bewegung setzen kann. Hier spricht sich der alltägliche Vorrang des Seienden vor dem, was vom Sein geblieben ist, aus: ein Akzidenz, Zusatz, Nachtrag, eine Funktionsmöglichkeit oder gar nur ein Schatten des Seiendsten, welches das Leerste ist, das man sich vorstellen kann. Aber der Beleuchtungskörper hat sein Sein nur in dem, weswegen er ist, im manifestierenden Licht, das er gibt. Eine Lampe kann defekt sein, dann gibt sie kein Licht. Aber eine ,Lampe‘, die nicht zum Leuchten da ist und auch nicht leuchten kann, mag eine Attrappe sein, doch eine Lampe ist sie eigentlich nicht. »Das Licht (lumen) ist der Akt des Leuchtenden [Sonne, Beleuchtungskörper]; nicht als ob das Leuchtende (lucidum) etwas für sich wäre ohne das Licht, sondern weil das Leuchtende durch das Licht leuchtend ist.« Dem entsprechend ist die Seele der Seinsakt des Körpers (Sth I, q. 76, a. 4, ad 1; vgl. III Sent., d. 6, q. 2, a. 2, resp.); oder: »Das Leben ist das Sein des Lebenden selbst (vivere est ipsum esse viventis, sicut dicit philosophus: vivere viventibus est esse).« (I Sent., d. 8, q. 5, a. 3, ad 3.) Mensch ist nicht je mand als lebender Körper mit typisch menschlichen Funktionsmöglichkeiten (Denken, Wettlaufen usw.), sondern seine Leiblichkeit bestimmt sich von seinem Sein her, aus seinen Bezugs- und Verhaltensmöglichkeiten in weltweiter Offenständigkeit zum Seienden in seinem Sein. Weitere, immer wiederkehrende, aus dem Neuplatonismus stammende Beispiele sind das ,Weißsein‘ oder das ,Warmsein‘, die sich wie das esse receptum bzw. participatum zum ens als dieser weiße oder dieser warme Körper verhalten: vgl. etwa De divinis nominibus, c. 5, lect. 1, nr. 629; Sth I, q. 3, 4c. 158 Das mittelhochdeutsche Wort ,west‘ für ,ist‘ (est) soll das Missverständnis, bloß Vorhandenes werde
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Grund ( principium) ist ja das, wodurch etwas ist (quo est), und von dem, was ist (quod est), zu unterscheiden.159 »Sein […] west anfänglich und wie ein Grund für [alles] andere [in ihm Gründende, Sein Empfangende], alles in sich voraushabend.« 160 Aber das Sein als Grund entlässt nicht das Seiende wie eine Wirkursache, die in ein Gewirktes übergeht, sondern gibt sich zum Vollzug dem Seienden als Grund zu eigen. Weil das Sein das ist, wodurch das Seiende selbstständig west, und so dem Seienden selbst Grund bietet, vermag das Seiende tragenden Grund im Sein zu nehmen. Seiendes west so grundnehmend im Sein und das Sein west grundgebend als Sein selbst im Seienden. In allem ist (inest) das Sein das Innerste und zugleich das Tiefste, ja Abgründigste.161 Erst aus dieser Tiefendimension des Seins selbst als Grund erschließt sich das Zentrum der Ontologie des Thomas, die ihm eigene Fassung des klassischen Gedankens der Partizipation, einem näheren Verständnis.
festgestellt, ausschließen. Thomas selbst sucht dieses Missverständnis für das Ist-Sagen vom Sein auszuschließen: »Wie wir nicht sagen können, dass das Laufen selbst (ipsum currere) läuft, ebenso können wir nicht sagen, dass das Sein (ipsum esse) sei« (In Boethii de hebd., lect. 2, nr. 23), sondern ,sein‘ ist eben Vollzug des Seienden, so wie der Laufende das Laufen vollzieht: Er läuft. Laufen ist das Sein des Läufers. 159 Thomas von Aquin, Quaest. disp. de an., 6c. 160 Thomas von Aquin, I Sent., d. 8, q. 1, a. 1: Esse […] primum est et quasi principium aliorum, praehabens in se omnia. 161 Thomas von Aquin, Sth I, q. 8, a. 1: Esse autem est illud, quod est magis intimum cuilibet et quod profundius omnibus inest. 162 Thomas von Aquin, Sth I, q. 7, a. 1, sagt vom Sein, es sei esse receptum in aliquo [sc. etwas Seiendem]. ,Rezeption‘ besagt nicht nur ein einfaches Empfangen (capere), sondern ein aufnehmendes Annehmen und Übernehmen des Empfangenen. Das Seiende empfängt das, wodurch es subsistiert. Indem es Sein übernimmt und wesen lässt, ist es anwesendes Seiendes. 163 Thomas von Aquin, Sth I, q. 3, a. 4: Illud quod habet esse […], est ens per participationem. 164 A.a.O., Sth I/II, q. 26, a. 4: ens simpliciter est quod habet esse.
Dritter Exkurs
e) Das Sein west als das, woran partizipiert wird (= das participatum), während das Seiende daran Anteil hat (= participans ist; die Seienden sind participantia). Seiendes ist überhaupt etwas und nicht nichts, weil und insofern ihm ereignishaft Sein zukommt (actus essendi […] convenit). Allein, ausschließlich und nur deswegen ist Seiendes; es empfängt ,sein‘,162 nimmt teil am ,sein‘ und hat daher an ihm Anteil (habet esse), indem es sein Selbstständigsein vollzieht. Was (zu) sein hat, partizipiert am Sein, ist ein Seiendes durch Partizipation.163 Die Übersetzung von participatio mit Teilhabe ist richtig, insofern das Seiende am Sein teilhat,164 d.h es ihm zu eigen gegeben ist, selbst zu sein; und zwar kommt ihm ,sein‘ auf eine eigentliche Weise zu, so dass ,Sein-haben‘ heißt, in seinem Sein subsistieren, eigen- und selbstständig zu sein,
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Dritter Exkurs
das Sein wahren und bewahren.165 Dennoch legt der Terminus ,Teilhabe‘ ein zweifaches Missverständnis nahe: Einmal, es handle sich um ein ontisches Haben von Teilen, die wie Tortenstücke zusammen ein Ganzes bilden, und weiter, dem Zukommen von Sein gehe ein empfangendes Subjekt voraus. Dabei dachte man beispielsweise an eine zu vervielfältigende Idee oder an begrenzte Wesensformen (ein esse essentiae), die dann durch ein hinzutretendes Sein im Sinne von Vorhandensein (esse existentiae) verwirklicht würden. Zunächst bringt participatio durch die Endsilbe -atio in das substantivierte Stammwort eine Beunruhigung, Verlebendigung und besagt eine Bewegung. Thomas findet in dem Wort das Begründungsgeschehen des partem capere:166 Übersetzt mit Teilhabe deutet man damit nur auf das Ergebnis eines Begründungsgeschehens hin, auf Besitz und Eigentum, über die verfügt werden kann.167 Doch gehen dadurch viele Bedeutungsnuancen des capere verloren, die hier zu berücksichtigen wären, wie empfangen und nehmen, bekommen und annehmen, fassen und übernehmen (recipere), (ja das, was reif ist,) pflücken. Das Seiende partizipiert am infiniten ,sein‘; dies heißt, es besteht in der selbst vollzogenen Mitgeteiltheit des sich mitteilenden, kommunizierenden Seins. Durch Partizipation sein (und so anwesen als Anwesendes), heißt erstens selbst- und eigenständige Teilnahme am Ganzen, zweitens das Ganze nicht auf die Weise des Ganzen (non totaliter),168 sondern nur teilweise (partialiter) sein169 und daher auch repräsentieren. Drittens lässt sich sagen: Das Seiende ist das Sein, an dem es teilnimmt, aber eben teilweise ( particulariter). Ähnlich wie die vielen Teilnehmer an einem einzigen Theaterstück die Aufführung als solche nicht vervielfachen, so wird das, woran vielfältig teilgehabt wird, nämlich das Sein selbst, nicht zerteilt, denn das Sein, woran teilgehabt wird, darf man sich nicht wie ein Seiendes vorstellen. Die ontologische Differenz ist eben keine ontische zwischen Seienden, sondern eine ontologische, zwischen dem einen Sein und der Vielheit der Seienden, zwischen dem Grundgebenden (principium aliorum) und dem Grundnehmenden.170 Das Sein ist nur eines, in ihm kommen alle Dinge überein: Es west als das allen Seienden gemeinsame Sein (esse commune),171 und zwar als das ihnen Innewohnende 165 A.a.O., Sth I, q. 45, a. 4: illi enim proprie convenit esse, quod habet esse; et hoc est subsistens in suo esse. 166 Thomas von Aquin, De hebd. II, nr. 24: Est autem participare quasi partem capere. 167 Thomas von Aquin, De pot. q. 2, a. 1, ad 2: recipere terminetur ad habere, sicut ad finem. 168 Thomas von Aquin, In I Metaph., lectio 10, nr. 154: Quod enim totaliter est aliquid, non participat illud, sed est per essentiam idem illi; quod vero non totaliter est aliquid, habens aliquid aliud adiunctum, proprie participare dicitur. 169 Thomas von Aquin, SG lib. I, c. 32, nr. 288: quod participatur […] partialiter habetur et non secundum omnem perfectionis modum. 170 Siehe oben Anm. 160. 171 Thomas von Aquin, Sth I, q. 4, a. 3: Ipsum esse est commune omnibus.
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(intimum), das ihnen näher ist als sie sich (in ihrer fragwürdigen Innerlichkeit) selbst. Nicht durch das Seinhaben unterscheiden sich die Dinge,172 sondern durch die Verschiedenheit ihrer Naturen, »durch die das Sein auf verschiedene Weise erlangt wird«.173 Insofern könnte man sagen, dass jedes Ding sein ihm eigenes Sein hat, und von einer ,Seinsmannigfaltigkeit‘ reden, welche alle Modifikationen des Seins umfasst. Das Sein selbst ist für alles der unhintergehbar letzte kommunizierbare Akt, insofern es selbst an nichts anderem mehr teilhat.174 Es ist im Hinblick auf das, was geschaffen wurde, so allumfassend (universalissimum),175 dass ihm nichts hinzugefügt werden kann, das ihm äußerlich wäre.176 Das Seiende empfängt alles aus dem Sein, dem nichts von außen hinzukommt – auch nicht das Wesen. Das Sein ist nicht wie ein knetbarer, durch Akte bestimmbarer Urbrei vorzustellen. Das Seiende verhält sich vielmehr in seiner Wesensbegrenzung zum Sein nur als Empfänglichkeit: Dieses Verhältnis ist dem von Potenz als Empfänglichkeit und Akt als Vollzugswirklichkeit des Seins vergleichbar.177 Das Sein enthält so in sich alle Vollkommenheiten auf die Weise des Grundes.
172 Thomas von Aquin, SG I, c. 26: Res ad invicem non distinguuntur, secundum quod esse habent, quia in hoc omnia conveniunt. 173 A.a.O.: Res propter hoc differant, quod habent diversas naturas, quibus acquiritur esse diversimodo. 174 Thomas von Aquin, Q. de anima, a. 6, ad 2: Ipsum esse est actus ultimus, qui participabilis est ab omnibus; ipsum autem nihil participat. 175 Thomas von Aquin, Sth I, q. 45, a. 5: Inter omnes autem effectus, universalissimum est ipsum esse. 176 Thomas von Aquin, De pot., q. 7, a. 2, ad 9: nihil autem potest addi ad esse quod sit extraneum ab ipso […]. 177 Thomas von Aquin, Sth I, q. 54, a. 3, ad 1: Comparatur ad ipsum ut potentia ad actum; SG lib. I, c. 38: Id quod est participare aliquid potest, ipsum autem esse nihil: quod enim participat potentia est, esse autem actus est. 178 Dazu vgl. zusammenfassend J. B. Lotz, Das Sein selbst und das subsistierende Sein nach Thomas von Aquin, 188 f. 179 Vgl. oben Anm. 143, 160, 176. 180 Thomas von Aquin, De pot., q. 7, a. 2, ad 9: Hoc quod habet esse efficitur actu existens.
Dritter Exkurs
f) Thomas denkt das esse nicht nur in Differenz zum Seienden, sondern auch allen Seienden vorweg als es selbst (esse ipsum).178 Es enthält und umfasst, virtuell sich vorweg, wie ein Grund (Anfang und Ursprung) schon im Voraus alles in sich. Es ,west‘ als das »Vollkommenste«.179 Der Superlativ meint keine vorstellbar höchste Steigerungsstufe zu einer erfahrbaren Grundstufe, sondern das erfahrbar Grundgebende, dem alles andere, weniger Vollkommene, sich verdankt. Daher ist ,sein‘ nicht mit feststellbarer Existenz oder dessen verbalem Existieren von Seiendem gleichzusetzen, zumal Seiendes erst durch das Sein zum aktuellen ,Ek-sistieren‘ kommt, d.h. in die Wirklichkeit heraus- und hervortritt.180 Die Seienden als Existenzen sind aus dem Sein selbst Herkünftige. Denken wir Sein nicht streng als Sein, so müssen wir
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uns das Sein erst recht wie ein Seiendes, wie eine selbständige Größe vorstellen. Das allen gemeinsame Sein ist nicht etwas außerhalb des Auftretens der Dinge.181 Das Sein schlichthin verstanden (simpliciter acceptum) west allem Seienden vorweg (nicht zeitlich, sondern indem es Grund gibt, teilnehmbar ist und teilnehmen lässt) als die grenzenlose Fülle und Vollendung, als das alle Vollkommenheiten (auch die der Wesensformen und Potenzen!) in sich Versammelnde (ineins mit dem Reichtum der Transzendenzien, die es als allgemeine Seinsweisen des Seienden an ihm selbst noch je anders explizieren!).182 Dem Sein selbst als dem im Grundgeben Erfahrbaren verdankt sich alles andere, weniger Vollkommene; dieses wird von ihm umfasst (includit). Als das alles Umfassende überragt ,sein‘ alle in Teilhabe stehenden Vollkommenheiten, denen es der Sache nach vorhergeht. Seiendes, dem immer nur teilweise Sein zukommt, muss und kann daher nie die ganze Fülle, die das Sein in sich vereinigt, aufnehmen.183 Gegenüber dem Überfluss und dem Hoffnungspotential des Seins bleibt also die Vollkommenheit jeder einzelnen Kreatur zurück. Diese Erfahrung schließt sich für Thomas im Verhältnis von Denken und Sein auf, und zwar als Vorrang des Seins vor dem Denken: »Es ist nicht wahr, dass das Denken vorzügli cher als das Sein ist, aber es wird vom Sein bestimmt, ja vielmehr: Sein ist ihm das Vorzüglichere.«184 Dass und wie das Sein dem Menschen nach Thomas zu denken gibt, lässt uns klärend zurückblicken auf sein Seinsverständnis. g) In unserer Erfahrung begegnet uns Anwesendes in seinem Anwesen: dieses oder jenes Seiende, dieses oder jenes in seiner Bedeutsamkeit (Wesensfülle). Aber das ist möglich, weil wir immer schon unter dem Anspruch der Anwesenheit von jeglichem Seienden stehen und für Seiendes überhaupt (die nicht-numerische Identität
Dritter Exkurs
mit allen Seienden: das ens ,uni-versale‘)185 zugänglich und offen sind: für das Seiende 181 Thomas von Aquin, SG I, c. 26: Multo igitur minus et ipsum esse commune est aliquid praeter omnes res existentes nisi in intellectu solum. 182 Thomas von Aquin, Sth I/II, q. 2, a. 5, ad 2: Esse simpliciter acceptum, secundum quod includit in se omnem perfectionem essendi, praeeminet vitae et omnibus perfectionibus subsequentibus; sic igitur ipsum esse praehabet in se omnia bona subsequentia. 183 Thomas von Aquin, Sth I, q. 2, ad 3: Non oportet, quod illlud, quod participat esse, participet ipsum secundum omnem modum essendi. Vgl. dazu die bemerkenswerte Übereinstimmung von M. Heidegger, GA, Bd. 51: Grundbegriffe, 49 f., 69 f., mit Thomas ohne jede Abhängigkeit: Das Sein ist »der Überfluß für alles Seiende, hinter dem jegliches Seiende jedesmal unendlich zurückbleibt« und »beschenkt wird mit der jeweiligen Wesensart seines Seins«. In allem, was ist (Seiendem), spricht sich ein Reichtum an Bedeutsamkeit, an Sinnfülle, eben an ,Sein‘ aus. 184 Thomas von Aquin, De ver., q. 22, a. 6, ad 1: non est verum quod intelligere sit nobilius quam esse; sed determinatur ab esse, immo sic esse eo est nobilius. 185 Thomas von Aquin, Sth I, q. 105, a. 4: intellectus […] movetur ab obiecto […] intellectus objectum est ens
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universale. Objekt ist hier nicht der dem denkenden Subjekt entgegenstehende Gegenstand, sondern das dem vernehmenden Denken ,Entgegengeworfene‘ (Objizierte) und so das im Vorliegen Vorgegebene. 186 A.a.O., q. 5, a. 2: ens est proprium obiectum intellectus. Das Objekt ist hier nicht neuzeitlich als Gegenstand eines Subjekts vor(sich)gestellt, als ein Etwas, das zum Gegenstand gemacht ist. 187 Ebd., q. 5, a. 2. 188 Vgl. M. Heidegger, GA, Bd. 51: Grundbegriffe, »Die Zwiespältigkeit des Seins und das Wesen des Menschen: Zuwurf und Verwerfung«, 78–84, 88–92.
Dritter Exkurs
in seiner Mannigfaltigkeit, das Seiende im Ganzen, das Seiende in eins gekehrt (unum vertere), der Einzigartigkeit des Seins zugekehrt. Thomas sieht Seiendes auf Grund seines Seins immer nur zur Gesamtheit der Seienden gehörig. In diesem Sinne ist das Seiende im Allgemeinen und Ganzen der dem menschlichen Denken zugeordnete Bereich (man möchte sagen, seine Welt), der das Denken allererst zum Denken macht und ohne den es nicht wäre. Was dem Menschen in seinem Denken als das ihm Eigentümliche vorgegeben ist, ist das Seiende als solches.186 Dieses obiectum ist dem Denken gegenüber sich ,er-eignender‘ Gegen- und Zuwurf, also nicht umgekehrt: der von einem ,Ich denke‘ aus vorgestellte Gegenstand. Das Seiende als solches ist daher das primum intelligibile.187 Als das Erste im Sinne des Anfänglichen eröffnet es dem hinnehmenden Denken (wie es dem vorausgreifenden Anfang entspricht) das Ganze des Denkbaren. Es gibt gar nichts anderes zu denken als Seiendes, das sich uns zugeworfen hat, in seinem Sein. Das heißt nicht, dass wir solches gewöhnlich ausdrücklich und reflex denken und nicht erst der ,Verwerfung‘, Verdeckung und Vergessenheit entreißen müssten.188 Das Seiende in seinem Sein ist das vom Anfang an und einzig zu Denkende, das sich zu vernehmen Gebende, das, was immerdar das Denken als denkendes Vernehmen, d.h. Vernunft, ermöglicht und fundiert; es gibt der Sache (nicht der zeitlichen Abfolge) nach zu denken und ist insofern das von Anfang an dem Denken Zugängliche, denn nichts kann dem Denken erschlossen sein ohne das Seiende in seinem Sein. Gedachtes wird wahrhaft nur aus der Denkbarkeit des zu Denkenden verständlich im Rückgang (resolutio) auf das Anwesende in seinem Anwesen. Das Denken als Vernunft ist hier aus seinem Ursprung gedacht, und zwar phänomennäher als die Vorstellung von einer seienden, autonomen, als Erkenntnisvermögen verdinglichten Vernunft, auf deren Vernünftigkeit man sich nur unter Vorbehalten als Kriterium der Erkenntnis berufen kann. Thomas geht von der Erfahrung des Vollzugs unseres Denkens (vom intelligere) aus und zeigt phänomennah (manifestum est), dass dieser einzelne Mensch (in leibhaftiger Anwesenheit!) denkt (hic homo intelligit), wahrnimmt, fühlt, entdeckt, lernt, usw., und zwar zusammen mit
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Anderen. So ist es ein und dasselbe, was von mir und von dir, wenn auch nicht auf die gleiche Weise, verstanden wird.189 Den Rückgang des Denkens auf seinen Ursprung hat Thomas ausdrücklich in De veritate, q. 1, a. 1, vollzogen: »Was die (menschliche) Vernunft zuerst als das gewissermaßen Bekannteste vernimmt und wohinein sie alle ihre Begriffe auflöst, ist das Seiende,«190 das verbal verstandene Seiende in seinem Anwesen, Walten, Währen und im Gewährtsein des Seienden. Das Bekannteste und Selbstverständlichste (notissimum) ist das in die Unverborgenheit Aufgehende, uns Offenbare und Ansprechende, eben das Seiende und erst recht das Seiende in seinem Sein; es muss keineswegs das am besten Erkannte sein und ist schon gar nichts neben anderem Erkennbares; es kann vielmehr das wegen seiner Nähe am meisten Übersehene oder vielleicht nur noch ,flüchtig‘ Zugängliche, das nichts-sagende Fade und Abgewohnte sein. Das Seiende kann als solches verdeckt und niedergehalten werden, d.h. das Nächste alles Nahen und Urvertrauten, das Anwesen dieses Anwesenden, wird vergessen. Deshalb bedarf es erst ausdrücklicher Thematisierung des Entschwundenen, eben einer methodischen Rückführung des Blicks auf das Seiende in seinem Anwesen. Es geht hier, wie Günther Pöltner pointiert formuliert hat,191 um den »Seinsbezug der menschlichen Vernunft. Sein ist nicht das Erst-Begriffene, sondern das ErstVernommene (quod primo intellectus concipitur).192 Das ,primo‘ meint nicht das zeitlich, sondern das sachlich Erste. Sein ist das ursprünglich Vernommene der Vernunft, d.h. die Vernunft ist nichts anderes als Seinsvernehmen. Nicht ist zuerst die Vernunft und gelangt dann noch irgendwie in den Seinsbezug, vielmehr macht dieser Bezug die Vernunft selbst aus.« Die Vernunft ist semper agens und vernimmt als intellectus agens stets nichts anderes als Sein; sie ist »seinsvernehmende Vernunft […], ein vernehmendes Empfangen (concipere), also keine Setzung«. Besteht das Wesen des Seins im Mitteilen, in der Seinsmitteilung (communicare esse), dann ist das Vernommene nicht überinterpretiert, wenn es als das sich der Vernunft Zusagende, Zusprechende, als das vor allem und in allem uns in Anspruch Nehmende bezeichnet wird. Damit sei verdeutlicht: »Nicht ergeht die Seinsmitteilung an eine schon seien189 Vgl. dazu die konkrete Sicht des Thomas von Aquin, De unitate intellectus, besonders nr. 216 und 257: unum quod intelligitur et a me et a te, sed alio intelligitur a me et alio a te. 190 Illud autem quod primo intellectus concipit quasi notissimum et in quo omnes conceptiones resolvit est ens. 191 G. Pöltner (2001c), Vorläufer des Ereignisdenkens, 114; vgl. ders. (1972a), Schönheit, 25–28. 192 Bei Thomas nimmt das Denken seinen Anfang nicht mit einem begrifflich-diskursiven Erkenntnisakt, auch nicht mit einem analogen Seinsbegriff wie im Thomismus, sondern alles diskursive und begriffliche Denken entspringt einem vorgängigen intuitiven Vernehmen der per se, d.h. von sich her (wie Samen), bekannten Prinzipien, Anfänge. Vgl. R. Schönberger, Die Transformation des klassischen Seinsverständnisses, 103.
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de Vernunft, vielmehr wird das Vernehmen des Seins in der Seinsmitteilung selbst allererst gestiftet. Die Vernunft verdankt sich als Vernunft dem Vernommenen, der Seinsmitteilung.«193 Der Mensch ist in seiner Leibhaftigkeit durch seine seinsverstehende Vernunft von seinem Wesen (der anima humana, der Geistseele) her offen für das Sein des Seienden, ja er ist gewissermaßen alles, das Seiende im Ganzen,194 und es ist ihm aufgegeben, mit dem Seienden vielfältig übereinzukommen (natum […] convenire cum omni ente), oder, wie wir auch sagen, seine Welt-Offenheit (als Übereinkunft: convenientia) zu vollbringen.
3.4 Abgründigkeit des Seins
193 G. Pöltner (2001c), Vorläufer des Ereignisdenkens, 114. 194 Vgl. Thomas von Aquin, De ver., q. 1, a. 1; De anima, lib. III, lect. 13, nr. 790: anima data est homini […], ut sit homo quodammodo totum ens, inquantum secundum animam est quodammodo omnia, prout eius anima est receptiva omnium formarum. Dieser auf Aristoteles (De anima, G 8; 431 b 21) zurückgehende Gedanke, dass der Mensch durch seine Seele (durch Fassungskraft und im Vollzug des Erkennens, Wahrnehmens, Strebens und Liebens) das Ganze des Seienden ist, kehrt bei Thomas öfters wieder, etwa a.a.O., nr. 787–789, oder lib. II, lect. 5, nr. 284. 195 Thomas von Aquin, Sth I, q. 44, a. 1, prol.: de processione (bzw. productione) creaturarum a Deo.
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Das Sein ist bei Thomas als das Abgründigste in allem Seienden (profundius omnibus inest) das Intimste (magis intimum). Abgründigkeit des Seins besagt nicht Bodenlosigkeit, sondern Unergründlichkeit, der eine endgültige Gründung und erst recht eine übereilte versagt ist, eine geheimnisvolle Dimension unermesslicher Tiefe und unvorstellbarer Weite. Es ist aber dennoch keine selbstständige Größe, kein Megaseiendes, keine Allsubstanz, die alles andere Subsistierende aufsaugt. Die vertraute Erfahrung, dass ein und dasselbe Sein jederzeit und überall anwest, sich in Existenzen ausbreitet und auseinanderlegt, dieses alles verbindende ,In-sein‘ (inesse) des Seinsgrundes könnte einen dazu verleiten, es zu substantialisieren und für den göttlichen Urgrund zu halten. Jedoch sollte die Abgründigkeit des Seins verhüten, es vorschnell mit Gott zu identifizieren. Der verbal-ereignishafte Begründungsmodus, der Seiendes partizipieren lässt, gibt uns ,sein‘ zu verstehen als das sich im ,Sichmit-teilen‘ (communicare) in die Selbstständigkeit (Subsistenz) des Seienden HineinGebende und das darin, ohne sich zu erschöpfen, Aufgehende. Das dem Seienden sich selbst auf das Innigste zu eigen gebende Sein enthüllt sich in diesem Sich-zusein-Geben als Hervorgang (processio)195 aus der Tiefe, als zu eigen gebende Gabe, als sich ereignende Mitteilung, die sich nicht anders verstehen lässt als aus einem Ursprung hervorgehend, dem selber nicht mehr zukommt zu sein und der auch
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nicht mit dem Sein selbst (esse ipsum), das den Seienden zukommt, identisch ist. Das Sein erweist sich als die diesem göttlichen Ursprung eigentümliche Wirkung196 und ist das Erste (das die Schöpfung im Ganzen eröffnende Anfängliche) von allem Geschaffenen.197 Warum das Sein selbst (esse ipsum, esse commune) nicht Gott ist, begründet Thomas ausführlich damit, dass Gott nicht als Substanz, die sich in Akzidenzien entfaltet, zu verstehen ist, also nach dem Modell eines innerweltlichen Seienden.198 Auch ist es unmöglich, dass Gott dasjenige Sein ist, durch das jedes Ding wie durch seine Form bzw. sein Wassein ist,199 denn durch die jeweilige Washeit unterscheiden sich die Dinge, die im Sein übereinkommen. Er ist daher nicht das allen gemeinsame Sein oder Wassein, das den Dingen zukommt.200 Anders wäre ein Monismus oder Pantheismus unvermeidlich.201 Wäre das Sein Gottes die Form und Washeit aller Dinge, so müsste Gott einfachhin eins und eines sein (simpliciter esse unum). Diese Einheit, die man als totalitäre charakterisieren müsste, würde die Verschiedenheit in den Weisen, das Sein zu erlangen, verunmöglichen. Zudem wäre Gott als das Sein aller Dinge nicht über (super) allem, sondern nur innerhalb (inter) von allem und damit ein bloßes Etwas von allem.202 Das Sein ist das sich dem Seienden zur Eigen- und Selbstständigkeit Gebende, Nicht-Subsistierendes (non subsistens), das den Seienden auf mannigfaltigste Weise zu eigen gegeben wird. Modern ausgedrückt: Das sich ereignende Sein ist ,das Zwischen‘ (inter) von allem Auseinanderliegenden. Gott wäre als das Sein selbst oder das gemeinsame Sein ein ungöttlicher Gott. Er ist nicht etwas im Sichereignen von ontologischer Differenz, sondern ihr Ursprung.
196 A.a.O., q. 8, a. 1: quod esse creatum sit proprius effectus eius; vgl. q. 45, a. 5. 197 Thomas von Aquin (In lib. de causis, prop. 4, lect. 4, 37) rezipiert hier auf seine Weise die viel zitierte, von Proklos inspirierte Kapitelüberschrift aus dem von einem arabischen Anonymus verfassten Liber de causis (siehe A. Fidora/A. Niederberger, Von Bagdad nach Toledo. Das »Buch der Ursachen« und seine Rezeption im Mittelalter, 46 f.): Prima rerum creatarum est esse et non est ante ipsum creatum aliud. »Das erste der geschaffenen Dinge ist das Sein, u nd vo r ihm ist nichts ande re s g e schaffe n .« Auf diese Metaphysik der Schöpfung wird am Ende des zweiten Bandes ausführlich eingegangen werden. Vgl. Sth I, q. 45, a. 4, ad 1. 198 Vgl. Thomas von Aquin, SG, I, c. 25: Quod Deus non est esse formale omnium. 199 A.a.O., c. 26: Impossibile est igitur Deum esse illud esse quo formaliter unaquaeque res est. 200 A.a.O.: Non est igitur Deus ipsum esse commune omnium bzw. das esse formale omnium. 201 Vgl. dazu vom Verf. (2009) in: Befreiung und Gotteserkenntnis, 223–234, Thomas von Aquin und die Überwindung pantheistischer (monistischer) Tendenzen. 202 Thomas von Aquin, SG, I, c. 26: Si igitur esse divinum esset formale esse omnium, oporteret omnia simpliciter esse unum […] Nam si divinitas est omnium esse formale, non erit super omnia, sed inter omnia, immo aliquid omnium. Wird hier nicht Heideggers Wort vorweggenommen: »Das ,Sein‘ – das ist nicht Gott […]«? In: GA, Bd. 9: Wegmarken, Brief über den »Humanismus«, 331.
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3.5 Übergang zur Seinsgeschichte
Wie lebensnah und konkret Thomas von Aquin das Verhältnis von Mensch und Sein denkt, zeigt eine beiläufige Überlegung: Eine vom Sein (der Realität) losgelöste Vernunft kann sich vorstellen, dass wir nicht sind (ähnlich wie wir sinnvoll denken können, dass wir einmal nicht gewesen sind). Dem steht die Ernsthaftigkeit des existenziellen Denkens entgegen, für das das eigene Nichtsein undenkbar ist, denn in dem, was es denkt, und das heißt so viel wie offen vernimmt (percipit), denkt es das eigene Sein.203 Und so kommt auch hier wieder der Vorrang des Seins vor dem Denken zum Vorschein. In der Ungebrochenheit seines Seinsdenkens hat Thomas die latente ,Dramatik‘ dieses Gedankens noch nicht wahrgenommen, wobei die Problematik der Verneinung und des Nichtseins vorläufig ausgeklammert sei. Achten wir nur darauf, dass wir uns aus dem Sein, wie es uns jeweils zu sein gegeben ist, zum Sein verhalten, ja zu verhalten haben – und dass wir gar nicht anders können. Ob wir nun an das Sein denken oder nicht, ja überhaupt denken oder nicht – zum Sein, aus dem wir uns zu verhalten haben, können wir uns überhaupt nicht nicht verhalten. Darum können wir im Ernst weder denken noch sagen ,wir sind nicht‘ bzw. ,ich bin nicht‘ oder ,du bist nicht‘. Aber dieses Geschehnis der Zugehörigkeit zum Sein aus dem Sein hat seine Geschichte, die als Wesen des Seins in einem ereignishaft-verbalen Sinn von ,wesen‘ sich enthüllt. Dieses Wesen meint also keine abstrakte Wesenheit, kein allgemeines Wesen des Seins, was es auch aufgrund seiner Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit gar nicht geben könnte, sondern das konkrete Anwesen, wie wir es selbst als Selbst-Anwesende kennen und vermögen. Der Bezug zum Sein, das wir (zu sein) ,haben‘, der uns (ver)braucht, indem er sich uns in die Verfügung gibt, ist unserer Sorge anvertraut und geschichtlich modifizierbar. Das heißt nicht, dass wir uns anmaßen könnten, über das Wesen des Seins zu verfügen, doch kommt gerade aus dem Sein das Vermögen, sich zu diesem Sein (das immer auch mit das Sein unseres eigenen Selbst ist!) offen verhalten zu können oder das Seiende so zu bevorzugen, dass wir uns (unfrei) an es verlieren. Diese geschichtliche und existenzielle Modifikation in Richtung Verdeckung, Vergessenheit, ja Verlust des Seins ist aber immer noch eine Weise des geschichtlichen Wesens des Seins, denn indem der Mensch am Sein partizipiert, gehört er ihm so zu, dass Verdecktsein, Vergessensein, Verlorensein Weisen des (seines!) Seins und nicht bloß Vollzüge eines Subjekts sind. 203 Thomas von Aquin, De ver., q. 10, a. 12, ad 7: nihil prohibet quod quis cogitet se non esse, sicut cogitat se aliquando non fuisse. […] nullus potest cogitare se non esse cum assensu: in hoc enim quod cogitat aliquid, percipit se esse.
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Ist das Gesagte zutreffend, dann muss sich die Weise, wie uns zu sein gegeben ist, selbst geschichtlich wandeln. Man kann dieses Grundgeschehen der Menschheit, das nicht auf die abendländische Metaphysikgeschichte einzuschränken ist, für eine globalisierte Welt Seinsgeschichte nennen und tritt damit epochal ein in die Möglichkeit einer nie da gewesenen Öffnung für das Gewesene und der Offenheit für den Advent des Seins. Seinsgeschichte meint nicht nur den geschichtlichen Wandel im Seinsverständnis, das dank der mühevollen Philosophiehistorie als Ansichten-Katalog dokumentiert wird, sondern das Verhältnis zum Sein in seiner Modifizierbarkeit uns gegenüber durch unsere Weise, persönlich und leibhaftig (d.h. selbst) dem Sein zu ,ent-sprechen‘. Dabei mag es uns entzogen erscheinen oder dieser Entzug sogar notlos verborgen sein. Das Sein ist das Schicksal des Menschen, das ihn kollektiv wie ein Sog zur Bevorzugung des Seienden bestimmt und von dem geschenkten Reichtum und der Tiefe des Seins abhält. Die Heidegger’sche Rede vom »Geschick« des Seins erscheint so weitgehend gerechtfertigt. Mit ihr ist selbstverständlich kein über den Menschen verhängtes Fatum, das die menschliche Freiheitsgeschichte zur Farce erniedrigt, und schon gar kein Appell zur irrationalen »Schicksalsergebenheit«, »Gehorsamsbereitschaft« gegenüber einer »unbestimmten Autorität« gemeint, welche »die Submissivität einer leeren Unterwerfungsbereitschaft« nahe legt und auf »blinde Submission unters Höhere« hinausläuft,204 denn wenn Freiheit nicht auf das handelnde Sichverhalten zum Seienden (als Selbstgesetzgebung) zu reduzieren ist, dann sind erstens wir selbst vom Sein her in die Auseinandersetzung von Sein und Seienden versetzt, zweitens ist uns so zu sein gegeben, dass wir uns selbst verantwortlich zum Sein verhalten können, sodass unsere Zugehörigkeit zu ihm existenziell zur Entscheidung steht, und drittens sind wir (befreit in die Zugehörigkeit zum Sein) in die Möglichkeit versetzt, inmitten der Seienden wahrhaft selbst zu sein. Das Seinsgeschick ist also nicht deterministisch vorzustellen, sondern es ergeht in immer neuen Herausforderungen (challenges) persönlichster und zugleich überindividueller Art, wobei die Antworten der Menschen mit-, für- oder gegeneinander, also auch ihr menschliches Versagen, in das sie beanspruchende gemeinsame Geschick eingehen. Hier ist keine Auseinandersetzung mit den Spezifika des Heidegger’schen Entwurfs der Seinsgeschichte beabsichtigt, sondern es gilt nur zu beachten, dass eine Seinsgeschichte ohne verbal-ereignishaftes, sich dieser gesamtmenschlichen Erfahrung verdankendes Seinsverständnis gar nicht denkbar ist. Wie das Sein sich 204 Wie J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 158–190, annimmt. Dazu kritisch vgl. E. Fräntzki, Daseinsontologie. Erstes Hauptstück, 57– 66.
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205 Thomas von Aquin im Vorwort zu: De ente et essentia, nr. 1: Quia parvus error in principio magnus est in fine [vgl. Aristoteles, De caelo I, 5; 271 b 8–13], ens autem et essentia sunt quae primo in intellectu concipiuntur […]; ideo primo, ne ex eorum ignorantia errare contingat, ad horum difficultatem aperiendam, dicendum est, quid nomine essentiae et entis significetur, et quomodo in diversis inveniantur […].
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an das Seiende weggibt, ist jeweils zeitwörtlich als Weise geschichtlichen Währens und ,wesenden‘ Gewährens zu verstehen. Die philosophische Ernstnahme von Weltgeschichte legt die Enthüllung dieses Grundgeschehens des verbalen Wesens des Seins als freigebendes und befreiendes Geschick nahe. Die Tragweite des verbal-ereignishaften Seinsverständnisses, das hier skizziert wurde, kann kaum groß genug eingeschätzt werden, um das epochale »Schicksal der Metaphysik« (Gustav Siewerth) mit ihrer philosophischen Theologie und ihrem teilweisen Versanden im Atheismus aus ihren Wurzeln zu verstehen. Philosophische Theologie und moderner Atheismus sind heute ohne Einbeziehung der Seinsgeschichte in ihrem geschichtlichen Wesen undenkbar. Mag für Thomas der Gedanke der Seinsgeschichte noch nicht an der Zeit gewesen sein, muss er dennoch einiges über Risiko und Tragweite des Seinsdenkens geahnt haben. Denn schon in seinem Frühwerk De ente et essentia hat er die Grundlegung seines Seinsverständnisses unter den Anspruch des alten Axioms gestellt: parvus error in principio magnus est in fine, d.h. ein kleiner Irrtum im Anfang, bei der Eröffnung des Denkens aus seinem Ursprung, wird am Ende zu einem großen.205 Und er setzt ohne Übergang mit einem Grundgedanken aus dem Beginn der Metaphysik (lib. I, c. 6) des Avicenna (= Ibn Sina: 980 – 037) fort: »Nun aber sind es Seiendes und Wesen [die ,Notwendigkeit‘ lässt er weg!], die als Erste durch unseren Intellekt vernommen werden.« Damit daraus kein Missverständnis und am Ende auch kein großer Irrtum erwachse, müssten ,Seiendes‘ und ,Wesen‘ als ontologische Namen entsprechend geklärt werden. – Vorausgesetzt, es wird folgerichtig gedacht, müsste ein kleiner Irrtum in der Interpretation des ontologischen Ausgangsphänomens sich am Ende zu einem großen Missverständnis auswachsen, von dem auch die philosophische Theologie mitbetroffen wäre. Was hier als Ausgangsphänomen vorgeschlagen und angemessen erschlossen wird, entscheidet über den Wahrheitsanspruch des Ganzen. Was bedeutet das dann ,am Ende‘ (im Ergebnis)? Gibt es dann eben Leute mit wahren und andere mit irrtümlichen Ansichten über etwas, das eingestandenermaßen nichts Seiendes, Handgreifliches ist? Und verbreitet sich dieses Aufblitzen von wahrer oder vermeintlicher Erkenntnis allenfalls nicht wirkungs- oder rezeptionsgeschichtlich? Oder ereignet sich in allem ein Sichentbergen des geschichtlichen Wesens des Seins, das, herausfordernd für uns, mit der entgegengesetzten
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Möglichkeit seines Unwesens befrachtet ist? Das an Platon anschließende Wort Heideggers über den dramatischen Kampf der Riesen, die »Gigantomachie über das Sein des Seienden«, der in der Antike entbrannt und im Blick auf die Seinsfrage und das Seinsverständnis weiter zu kämpfen ist,206 erscheint hier nicht übertrieben, entscheidet aber nicht über die Frage, ob den Denkern Epochales zu bahnen (auf) gegeben ist oder ob sie nur wie Seismographen das Beben anzuzeigen haben. Was uns heute ontologisch bestimmt, ist einer der bemerkenswertesten Umbrüche im Seinsverständnis, der sich im Mittelalter ereignet hat. Auf ihn wird noch zurückzukommen sein. Vorläufig seien zwei Texte ausgewählt, in denen entgegengesetzte Weisen der Erfahr- und Denkbarkeit des Seins zum Vorschein kommen. Während Thomas von Aquin, der neuplatonische Traditionen eigenständig rezipiert, im Sein das Vollkommenste von allem (perfectissimum omnium)207 und die Gott eigenste und eigentümliche Hervorbringung (proprius effectus) erblickt,208 deren überfließender Reichtum ihn, den Urgrund (die causa prima) selbst, darstellt (repräsentiert), hält Johannes Duns Scotus das Sein für das Gegenteil: Sein sei nicht der bevorzugte, edelste, sondern der unvollkommenste Effekt Gottes.209 Duns Scotus bestimmt das Sein im Ansatz, der sich weit über den Schulskotismus im engeren Sinn hinaus verbreitet hat, nicht nur zwiefältig, sondern zwiespältig: Einerseits ist da das bloß vorhandene Anwesende, Seiendes, insofern es existiert, aus dem in der späten Neuzeit die harten Tatsachen, die allein Geltung haben, werden. Andererseits, wenn nur Seiendes ist, dann fragt sich: Was ist mit ihm? Wie ist es möglich? Der Skotismus bahnt seinen Siegeszug in die neuzeitliche Philosophie damit an, dass er das Seiende als Vorhandenes durch den Rückgang auf das die quaestio facti ermöglichende ,Sein‘ und seine Denkbarkeit erst verstehbar zu machen sucht. Sein wird als Seiendheit zum Begriff gemacht, eine singuläre Begriffsbildung, extrem universalisiert, erster, allgemeinster und unumgrenzt ausgeweiteter Begriff, der abgewandelt auf den unendlichen Gott und das endliche Geschöpf, auf Substanz und Akzidens, Akt und Potenz usw. anwendbar ist. Dieses ,Sein‘, genauer: die Seiendheit des Seienden, ist bewusst durchreflektiert der abstrakteste und folge206 Vgl. auch M. Heidegger, GA, Bd. 3: Kant und das Problem der Metaphysik, vgl. auch 218–246. 207 Thomas von Aquin, Sth I, q. 4, a. 1, ad 3. Vgl. K. Kremer, Die neuplatonische Seinsphilosophie und ihre Wirkung auf Thomas von Aquin: Plotin 88–92, 123, 135–184, 202; Proklos 272, 290; Pseudo-Dionysios 295, 353, 446; Thomas 378, 397 f., 445 f. 208 Siehe oben Anm. 175 und 196. 209 J. Duns Scotus, Reportatio Parisiensis IV, d. 1, q. 1, nr. 7 (in: Opera omnia, Ed. Viv. XXIII, 535 a sq.): esse non est nobilissimus effectus Dei, sed imperfectissimus, quia per se includitur in effectu eius imperfectissimo; nihil enim est in universo ita imperfectum, quin includat esse, et omne agens quodcumque potens super aliquod, potest super esse.
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richtig der inhaltlich leerste aller Gedanken, folglich niemals das vollkommenste Geschöpf Gottes. Er leistet das als das Einsinnigste (univoce), das überhaupt (gleich einem dahinziehenden Schatten der Fülle) denkbar ist. Die Zwiefältigkeit von sinnlich-schauendem und begrifflichem Erkennen bestimmt das Seinsverständnis. Doch die Zwiefältigkeit im Seinsverständnis ist eine Zwiespältigkeit, ja Zerrissenheit im menschlichen Bezug zum Sein des Seienden. Die äußerst abstrakte Art des (vom Auslangen nach sicherer Gewissheit dominierten) begrifflichen Seinsdenkens wird von Duns Scotus für durch die erbsündig verletzte Vernunft bedingt gehalten, der ja im Pilgerstand auf Erden die volle, beseligende Schau (visio beatifica) abgeht. Für eine Grundlegung der Metaphysik ist dem intuitiv schauenden Erkennen unmittelbar nur das vorhandene Seiende sinnenhaft zugänglich, das zugleich Anlass (occasio) zu einer wissenschaftlichen Erkenntnis ist, deren erstes Formalobjekt die abstrakte Seiendheit ist. Die Geschöpfe haben Sein oder schließen Sein als Möglichkeit ein – eine Vollkommenheit, welche die geringste im Universum darstellt, »denn nichts ist im Universum so unvollkommen, dass es nicht Sein beinhalten würde«. Offenkundig ist für Duns Scotus das Anwesende selbst in der Fülle und Vollkommenheit seines Anwesens kein Thema.210 Versuchen wir uns dem Gesagten seinsgeschichtlich anzunähern: zunächst als etwas, das sich in unserer persönlichen Zusammengehörigkeit von Sein und Dasein ereignet, und dann als etwas, das sich im geschichtlichen Miteinandersein epochal enthüllt. Seinsgeschichte, epochal verstanden, ist Geschichte im Widerstreit von Offenbarkeit und Sichentziehen des Seins (als Seinsvergessenheit und Seinsverlust). Das Sein legt sich durch uns aus, indem es gibt, dass wir es selbst auslegen. Wir können es als das Zwingendste ansehen, zu dem wir verdammt sind, und uns nach Entlastung und Fluchtmöglichkeiten umsehen, oder als das Befreiendste, das uns aufruft, ganz selbst zu sein und uns das Können zur Teilnahme am Ganzen gibt.211 Das Sein ist entgegengesetzt deutbar: Es ist das Anziehendste, wenn schon nicht selbst das Göttliche, so doch das von Gott uns Zugeeignete und dadurch ,schlichthin‘ das Gegründetste, und zugleich das Abstoßendste, das Apersonalste, das es überhaupt gibt, das Ekel oder Grauen erregen kann, unsere Personalität einebnet, kurz: das Bodenlose schlechthin, das alle menschlichen Verhältnisse unterminiert. Sein kann also als das Unvollkommenste verworfen werden und sich wie Rauch in die Bedeutungslosigkeit verflüchtigen, oder es kann als das Vollkommenste, als Fülle und Überfluss, zur Würde der Beteiligung an ihm erheben. 210 Näheres dazu später. 211 M. Heidegger, GA, Bd. 51: Grundbegriffe, »Das Sein ist das Verzwingendste und zugleich die Befreiung«, 67 f.
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Damit wird deutlich: Es geht nicht um subjektive Ansichten, die man für wahr oder irrtümlich halten kann und die ohnedies nur auf einen kleinen Kreis von Menschen beschränkt sind. Vielmehr geht es hier um unser Sichverhaltenkönnen aus dem Sein zum Sein, unseren Bezug, aus der Welt sich zur Welt zu verhalten. Welt ist hier mit Heidegger als die »Offenheit des Seins«,212 der vom Sein selbst ausgebreitete Weltaufenthalt des Menschen,213 verstanden, als der Freiheitsspielraum schicksalhafter Beteiligung am geschichtlichen Wesen oder Unwesen des Seins. Gegen den Anspruch des Seins können wir nicht angehen. Rennen wir gegen das Sein an, dann nehmen wir es in Anspruch, aber auch dann, wenn wir uns auf das Seiende als letzten Halt werfen oder meinen, unseren Aufenthalt im Sein verleugnen zu können. Hier ist Irren noch nichts Wesenloses, sondern eine Weise des geschichtlichen Wesens bzw. Unwesens des Seins und ein Versuch, in seiner Wahrheit zu stehen. Es tut not, des Seins innezuwerden. Wir erinnern uns, dass wir dessen innewerden, wenn wir uns aus der Zerstreuung in die Vielfalt unserer Bezüge zu Seienden zurückholen, uns sammeln und wieder leibhaftig anwesend werden. Wir kommen damit auf das im propädeutischen Exkurs zur Phänomenologie der Sammlung Gewonnene zurück. Doch das Sein kann durch den Andrang des Seienden so verstellt sein und zur Bedeutungslosigkeit herabsinken, dass es vergessen wird, ja nicht einmal dessen Entzugserscheinungen mehr wahrgenommen werden. Von diesem Entzug ist die gegenwärtige philosophische Theologie betroffen. In den Möglichkeiten des Sichverhaltens zum geschichtlichen Wesen des Seins wird über die Möglichkeit einer theologischen Philosophie vorentschieden.
3.6 Das Sein und das Nichts 214
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Der Aufgabe, die mehrfachen Weisen (Bedeutungen) des Seins sowie auch die des Nichts zu klären – Aristoteles hat sie öfters formuliert –, ist die abendländische 212 M. Heidegger, GA, Bd. 9: Wegmarken, Brief über den »Humanismus«, 350: Welt als »In-derWelt-sein« bedeutet »überhaupt nicht ein Seiendes und keinen Bereich von Seiendem, sondern die Offenheit des Seins«. 213 M. Heidegger, GA, Bd. 51: Grundbegriffe, 85. 214 Ausführlichere Klärungsversuche zur Bedeutungsmannigfaltigkeit des Nichts sollen an einem geeigneten Ort zur Sprache kommen. Vgl. dazu vom Verf. (22003), in: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Bd. 2: Das Nichts als »Ort« der religiösen Erfahrung. Das Phänomen des Nichts und der Aufweis des Daseins Gottes, 305–344; dazu ergänzend T. Kobusch, Art. »Nichts, Nichtseiendes«, in: HWP, Bd. 6, Sp. 805– 835; B. Welte (2000), Gott und das Nichts.
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215 Vgl. hierzu W. Hübner, Scientia de aliquo et nihilo. Die historischen Voraussetzungen von Leibniz’ Ontologiebegriff, 34–54. 216 J. Schmidt, Philosophische Theologie, 141 ff., hier 141. 217 J. Pieper, Unaustrinkbares Licht. Das negative Element in der Weltansicht des Thomas von Aquin (112–152), in: Werke in acht Bänden, Bd. 2; darin auch ein Abschnitt »Thomas von Aquin: philosophia negativa« (137–140). 218 Thomas von Aquin, De causis, I, 6, nr. 168: ipsa actualitas rei est quoddam lumen ipsius. 219 Thomas von Aquin, De veritate, q. 18, a. 2, ad 5: creatura est tenebra inquantum est ex nihilo.
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Philosophie äußerst unterschiedlich nachgekommen. Die Bevorzugung sprachlich positiver Ausdrucksweisen wird heute besonders durch die Konfrontation mit süd- und ostasiatischer Philosophie deutlich. Das Nichts als Nichtseiendes oder Nichtsein (Nichtdasein) galt als der äußerste Gegensatz zum Seienden oder zum Sein (Dasein). Auch die Gegensätzlichkeit selbst, ob sie nun Ausschluss oder Zusammengehörigkeit besagt, musste fragwürdig werden. Schon vor Hegels begriffslogischer Fassung des Seins und des Nichts gab es Versuche, die Ontologie durch das ausdrückliche Bedenken des Nichts auszuweiten. Leibniz sprach von einer »Wissenschaft von Etwas und Nichts« (scientia de aliquo et nihilo).215 Josef Schmidt hat eine »Meontologie« (von griech. m n, nichts) zur Ergänzung der Ontologie vorgeschlagen.216 Josef Pieper sprach in Anlehnung an den Titel negative Theologie von einer negativen Philosophie bei Thomas von Aquin 217 und hob die Unergründlichkeit der lichtvoll erkennbaren Dinge (Seienden) hervor. Einerseits ist »das Wirklichsein der Dinge selbst ihr Licht«,218 aber als Kreaturen entspringen sie unzugänglicher Tiefe: »die Kreatur ist dunkel, sofern sie aus dem Nichts stammt«; 219 zugleich übersteigt ihre gottgegebene Lichtfülle unser menschliches Begreifen. Hat es Ontologie mit der Unergründlichkeit des Seienden in seinem Sein zu tun – dem Mysterium des Seins –, dann ist die ,Negativität‘ dieser Philosophie zu bedenken. Ein Stück solcher negativen Philosophie sei im Folgenden resümiert. Doch welcher Zusammenhang besteht zwischen ihr und der voraufgegangenen Einführung in die Ontologie? Erinnert sei daran, dass das hinsichtlich seines Seins befragte Seiende selbst in die Frage nach dem Sein hineingezogen worden ist. Sind wir dadurch seinem ,Wesen‘ auch näher gekommen, so hat dennoch seine Fragwürdigkeit zugenommen und ist die Grundfrage wieder aufzunehmen: Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr nichts, warum eher Seiendes als Nichts?‘ Das in der zweiten Hälfte der Grundfrage Befragte, das Nichts, ist bisher zu wenig beachtet worden. Aber das Befragte, das ,nichts‘ oder ,Nichts‘, wird selbst in das Fragen hineingezogen und damit fragwürdig. Muss nicht, um mit dieser Frage auch nur ein wenig weiterzukommen, gefragt werden, welche Bedeutungsmannigfaltigkeit dem Nichts zukommt? Darauf ist im Folgenden Schritt für Schritt einzugehen.
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Verlieren wir uns da nicht in nichtige Spekulationen? Ist dem nicht nüchtern entgegenzuhalten, dass mit dem ,Nichts‘ einfach ,nichts‘, d.h. nicht etwas und sonst nichts, gemeint sein könnte? Was könnte schon ein ,das Nichts‘ anderes sein als die illegitime Vergegenständlichung der Verneinung, die hier offensichtlich ohne ihr Verneintes – das in Abrede Gestellte – gegenstandslos und nichtssagend ist? Ein ,das Nichts‘ ist ein vergegenständlichtes bzw. eingebildetes Nichts, das auf das sprachlogische Nichts zurückzuführen ist. Daher ist die Forderung zu erheben, mit diesem ,das Nichts‘ endlich Schluss zu machen, denn solches ist nirgendwo und niemals vorhanden und kann auch nicht als ein Seiendes vorhanden sein, denn was ist, kann nicht (zugleich und in derselben Hinsicht!) vorhanden und nicht vorhanden sein, das wäre realistisch gesehen eine Unmöglichkeit. So etwas kann als Seiendes nicht vorkommen! Beispielsweise kann ich durch sprachlogische Negation nicht nur mich als Nichtseiendes wegdenken, sondern ausgeweitet das All ins Nichts versinken lassen: ,Wie, wenn überhaupt nichts wäre?‘ Die Sinnhaftigkeit und Vollziehbarkeit dieser radikalen Vorstellung, dass absolut nicht etwas sei (nihilum absolutum), mag strittig sein, ist jedenfalls kein Weg für ein Denken, das sich aus dem Vernehmen des Seins versteht. Behauptet wird damit gerade nicht, dass es dieses absolute Nichts (außer als meine Vorstellung) gibt, und erst recht nicht, dass es einem ontischen Phänomen gleichkommt. Weil Seiendes in seinem Sein west, gehört ein solches ,das Nichts‘ nicht nur zu den faktischen Undenkbarkeiten, sondern erscheint prinzipiell unmöglich, sinn- und sprachwidrig, kann es doch, solange wir offenständig auf das All bezogen sind, dazu kein kontradiktorisches Gegenteil geben. Nach dem Schöpfungsglauben der drei monotheistischen Religionen stellt die Schöpfung aus dem Nichts gerade eine Schöpfung aus einem ,das Nichts‘ als außergöttlicher Vorgegebenheit (ex nihilo subiecti) in Abrede und umgekehrt wird das Hineinverwickeltsein Gottes in seine Schöpfung (etwa durch Kompensation eines Mangels oder das Erleiden von Überfluss) verneint; die Schöpfung ist nicht in Bezug auf den Schöpfer aus ihm, sondern eben aus ,nichts‘ (ex nihilo sui). Gerade hier wird die Vergegenständlichung der Negation ferngehalten, also ein mysteriöses Nichts weder außer noch in Gott angenommen. Schöpfung ist nur aus dem Phänomen des sich selbst Gegebenseins der Seienden, und zwar der Freigabe zu selbstständigem Sein erkennbar. Darauf ist noch einzugehen. Das bloß eingebildete, terminologisch so genannte hypostasierte Nichts hört sich an wie ein Eigenname, der einen Gegenstand benennt und den man sich wie ein Seiendes vorstellt. Der Forderung, diesem Spuk aus Nichts ein Ende zu bereiten, kann nur zugestimmt werden. Dass man mit diesem Nichts nichts anfangen kann, gilt als konsensfähig. Doch endet daher unsere Besinnung mit dem Nichts, oder
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220 Man könnte hier methodisch anders vorgehen und zeigen, dass im Offensein für das Anwesen und das Abwesen erst die Möglichkeit liegt, etwas in Abrede zu stellen, ,nicht‘ und ,nichts‘ zu sagen, zu verneinen, ,nein‘ zu sagen. Doch sei dies zurückgestellt. Ich ziehe hier die retorsive Form der Argumentation vor, die den Vollzug der Ablehnung untersucht und mit dem Abgelehnten konfrontiert. 221 Vermutlich erschöpft sich das Wesen des Übels nicht in der Hinsicht auf das ontologische Gutsein, vielmehr müsste es im Blick auf sämtliche transzendentale Bestimmungen des Seins neu durchdacht werden.
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fängt sie erst richtig an? Wenn wir bedenken, dass sich diese Forderung gegen etwas Nichtssagendes wendet, mit dem angebliche Obskuranten Tiefsinn vortäuschen, taucht vielleicht eine weitere Bedeutung des Nichts auf, die des nichtigen Nichts.220 Das hypostasierte Nichts beruht auf einem Denkfehler, dessen beklagtes Sinndefizit an einer korrekten sprachlogischen Ausdrucksweise gemessen wird. Dem Ausdruck fehlt etwas, es bleibt der Sinn aus und geht ihm ab. Fehlen, Ausbleiben, Wegsein, Abwesenheit von Sinn sind nicht Seiendes, sondern Nichtseiendes, und zwar Erscheinungen des Nichtigen, das Ärger über den Nonsens provozieren kann. Damit ist ein bestimmtes Phänomen des Nichts angesprochen, die Abwesenheit (privatio) von Sinn, von erfüllter Anwesenheit, um die es jeweils geht. Wir begegnen hier dem, was man ein nichtendes Nichts nennen kann. Ein solches ist das Übel (das Destruktive, Schlechte, Böse), das traditionell als privatives Nichts (nihil privativum), näherhin als Privation des Guten (Mangel an dem, worum es geht) bestimmt wurde.221 Das verbale ,Wesen‘ des Übels wird als eine Art des Nichts (species negationis) bestimmt. Damit ist es keineswegs verharmlost, sondern ein Phänomen angesprochen – beispielsweise die Entdeckung, dass man den Haustorschlüssel verlegt hat und nicht mehr ins Freie kommt. Im Falle eines Brandes können davon Leben und Tod abhängen. Ist man über die Aufdringlichkeit dieses Abwesens, Wegseins (kein Wassein!), höchst aufgebracht, so ist dies dennoch, seinem verbal verstandenen ,Wesen‘ nach, ein nichtiges Nichts. Ein privatives Nichts ist sprachlogisch geurteilt kein Seiendes, weder die bloße Abwesenheit des Seienden noch das bloße Nichtzuhandensein des Seienden, mit dem man das Haustor öffnen könnte. Das Fehlen, der Mangel, die Beraubung werden aus ihrem Verhältnis zu Seinsbestimmungen des Bewandtnisganzen verstanden. Gefangen in der versperrten Wohnung schleicht sich in das Zuhausewohnen-Können eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit als lebensbedrohliche Unmöglichkeit ein. Diese unmöglich gewordene Möglichkeit drängt sich phänomenal als Gegebenheit auf. Das privative Nichts kann phänomenal also sogar von höchster Aufdringlichkeit sein. Oder denken wir an den schmerzlichen Verlust eines Menschen, den wir geliebt haben, der uns in tiefe Traurigkeit, ja depressi-
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ve Verstimmung stürzen kann. Phänomene des Weg- und Ausbleibens können aber auch unauffällig wie Verblendungszusammenhänge bleiben. So sehr Übel sich aufdrängen, wie das Getrenntsein von Geliebten und das Zusammensein mit Ungeliebten, so ist das Übel zu Recht in seinem ,Wesen‘ als eine Art von Nichts bestimmt worden, denn es geht einem dabei etwas ab, das fehlt, nämlich das Zusammenleben mit Geliebten und Getrenntsein von Ungeliebten. Wir erfahren uns von Weisen erfüllter Daseinsmöglichkeit ausgeschlossen und in Unmöglichkeiten gedrängt. Es kann sich in einen Sachverhalt, in eine Beziehung usw. eine bedrückende Unmöglichkeit einnisten, oder wir zerbrechen am Unmöglichen (an Fehleinschätzungen, verfehlten Idealisierungen, Widersprüchlichkeiten), das wir irrtümlich für möglich halten und erstreben. Unmöglichkeit und Unmögliches zählt man in der Ontologie zu modalen Seinsbestimmungen, was strittig ist, weil es doch, wie schon die Wörter sagen, so etwas gar nicht geben kann, doch zumeist gehören sie zu den denkwürdigsten Weisen des phänomenal Nichtigen. Diese stellen sich aber wohl nicht immer als jene Nichtigkeiten heraus, die man als wertlose Kleinigkeiten oder Nebensächlichkeiten entlarven kann. Im Fall nichts mehr von dem da ist, das einem zuvor lebensnotwendig beansprucht oder gar als unmöglich zu Leistendes überbeansprucht hat (Distress), können sie tödlich enden. Steht uns mit diesen Unmöglichkeiten, denen auszuweichen ist, die zu lassen oder zu bewältigen sind, eine letzte »eigenste« und »unüberholbare« Möglichkeit bevor?222 Diese bringt das Dasein vor die »Unmöglichkeit der Existenz überhaupt«,223 vor das Nichts des Todes. »Das Nichts, davor die Angst bringt, enthüllt die Nichtigkeit, die das Dasein in seinem Grunde bestimmt, der selbst ist als Geworfenheit in den Tod.«224 Da es uns um unser ,Da-sein‘ gegen das ,Nicht-sein‘ geht, erfahren wir uns »durch und durch von Nichtigkeit durchsetzt«. Dieses nichtige Nichts ist nicht mit etwas Nichtigem zu verwechseln, das uns auch gleichgültig sein kann, wie das Nichtmehrvorhandensein in chronologischer Zeit, mit dem man rechnet, wenn man ein vernünftiges Testament macht. Nichtiges, das etwas Seiendes ist, das weg sein und fehlen kann, ist nicht das, wovor wir primär Angst haben, sondern es ist die stets bevorstehende und anwesende Möglichkeit der Vernichtung des Daseins im Tod. Vor diesem Ende packen einen Entsetzen und Schrecken. Nicht der Ausfall von innerweltlichen Seienden, sein Zerfall in das Bestandlose, auch nicht das 222 M. Heidegger, GA, Bd. 2: Sein und Zeit, 349 f. 223 A.a.O., 348. 224 A.a.O., 409, vgl. 404 und 406: Das Dasein ist der von seiner Nichtigkeit durchherrschte Grund (das »nichtige Grund-sein«) seines Todes.
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Fehlen und nicht mehr Vorhandensein, jagt uns Angst ein, sondern der Absturz in je mein, je dein anwesendes Nichtsein, das unheimlich ohne Ende und als immerwährendes Totsein phänomenal ,west‘. So wie es Sein gibt, das west und nichts ist, so gibt es auch dieses Nichts, das west und nichts ist. Doch verschließt diese zusammenschnürende Enge der Angst nicht eher als sie öffnet? Angst, Entsetzen, Schrecken machen angesichts des Nichts ,kopflos‘, sind Gesten der Abwehr. Ein Weg aus ihnen kann sich nur im Lassen und Zulassen des Nichts auftun. Die hier aufgegebene Frage ist: Braucht es das Seiende und seine Beseitigung, damit das Nichts des Endes west, oder braucht es das vielmehr als etwas Nichtiges, das so nicht abzustoßen wäre? Die Entscheidung dieser Frage kann, wenn sie überhaupt möglich ist, nur aus dem Phänomen selbst geschöpft werden. Dabei ist bemerkenswert, dass diese Frage, echt und eigentlich gefragt, nicht zu den Fragen gehört, die wir beliebig stellen können, vielmehr überkommt sie uns in verschiedenen Gestalten. Sie heißt uns nicht, im Dunkel nach einem Licht zu schielen, sondern verzichtet darauf, Licht von außen ins Dunkel zu bringen, das da hellen Schein zu verbreiten hätte, und meint das »Licht des Nichts«,225 das einzig aus der Phänomenalität des Nichts selbst erweckte Verständnis für das sich Lichten des Nichts und das Freiwerden für den Ursprung und dessen Unergründlichkeit.226 Im Vorübergehen sei noch auf die bedrängende Erfahrung des nihilistischen Nichts eingegangen, dessen Konstruktionsgesetz auf dem Boden des nichtigen, privativen Nichts durchschaubar wird. Nihilistisch wird ein Nichts aus der Erfahrung, dass es mit dem Sein nichts (nihil) ist, genannt, und zwar weil dieses verdeckt und verkannt wird durch die Voraussetzung höchstdenkbarer Vollkommenheit, Sinnund Werthaftigkeit. Durch sie muss grundsätzlich alles andere, was immer es auch sei, als unvollkommen, mit einem Sinndefizit belastet erscheinen. Mit dem Durchschauen der maßlos verklärenden Kraft dieser subjektiven Idealbildung kommt es zum Einsturz des Höchstdenkbaren. Damit ist der Nihilismus offen da. Nach dem bisher Gesagten geht es darum, dass wir beim Denken des Nichts uns an nichts anderes als an das Phänomen des Nichts halten und uns nicht durch spekulatives Wegdenken des Seienden oder Seins oder gar durch eine Substantivierung der sprachlogischen Negation ein Nichts konstruieren, das man zu Recht desavouieren kann. Dass es sich beim Nichts zunächst um etwas phänomenal Gegebenes handelt, wird ja gewöhnlich beeinsprucht, denn wie sollte es etwas geben, das nicht etwas, sondern Nicht-Seiendes ist? Ein spekulativ-hypothetisches 225 Vgl. B. Welte, Abhandlung »Das Licht des Nichts«, in: Gott und das Nichts, 27–87. 226 Zur Phänomenologie des Nichts der Frageerfahrung vgl. auch vom Verf. (1997c), Das Nichts als »Ort« der religiösen Erfahrung, in: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Bd. 2, hier 327 ff.
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Nichtvorhandensein scheint hingegen mühelos nachvollziehbar: ,Was wäre, wenn ich überhaupt nicht wäre?‘ Immerhin war ich einmal (als innerweltliches Seiendes am Leitfaden des messbaren Zeitablaufes gemessen) nicht und werde einmal nicht sein. Es wurde schon gesagt, dass ich nicht ernsthaft denken kann, ich sei nicht. Gerade darum bleibt die Frage offen, warum ich bin und nicht überhaupt nicht bin. Doch die großen Tragödien menschlichen Lebens scheinen die Frage abzuschneiden, denn dem im Leiden am Dasein Ohnmächtigen oder dem am Dasein Schuldiggewordenen enthüllen sie seine ,Wahrheit‘, dass Nichtsein (Nicht-Geborensein) für ihn besser wäre als Sein. Doch diese Abkehr vom Sein steht immer noch unter dem Maß und ,Gericht‘ des Seins; und darüber hinaus könnte wohl noch die Einsicht obsiegen, dass das sich entbergende und mitteilende Sein besser ist als Nichtsein (Aristoteles).227 Beachten wir, dass hinter dieser Entgegensetzung von Sein und Nichts, Dasein und Nichtdasein (als Seiendes!) nur jene Überlebensfrage steht, die uns schon in der Form des ausschließenden Entweder-Oder begegnet ist. Die Frage ,Warum nicht Nichts?‘ ist damit noch nicht berührt. Wie steht es mit dem Sein, das nicht und nirgendwo als Seiendes vorkommt? Ist es nicht selbst phänomenal ein ,Nichts‘, nicht weil es kein Seiendes ist, sondern weil es als non subsistens im Anwesen des Anwesenden (selbstständigen Seienden) zur Erscheinung kommt? Ist dann mit ,Nichts‘ die erfahrbare Abgründigkeit des (An-)Wesens zur Sprache gebracht? Dann wäre es mit dem Sein im Sinne des Nihilismus nicht nichts, sondern Sein und Nichts wären dasselbe. Doch wie können wir dem Sein in seiner Vollkommenheitsfülle eine solche ,Leere‘, die die leerste wäre, zumuten? Bringt uns die Rede vom Sein als Nichts phänomenal weiter? Wir wenden uns erneut dem ,Nichts‘ als einem Phänomen zu. Insoweit es sich durch eine positive Erfahrbarkeit auszeichnet, ergibt sich eine neue Bedeutungsmannigfaltigkeit des Nichts. Ein leichter zugängliches Beispiel für dieses ,Nichts‘ als Phänomen kennen wir aus unserem wahrnehmenden Weltaufenthalt. Es kann der Fall eintreten, dass wir in leibhaftiger Anwesenheit wach und offenständig eksistieren, aber nichts sehen oder nichts hören. Gemeint ist nicht, dass wir irgendetwas, sei 227 Dazu vgl. R. Schönberger, Die Transformation des klassischen Seinsverständnisses, 87. – Diese prekäre Einsicht kann durch verschiedenste Schicksalsschläge verstellt sein. Beispielsweise weist E. Drewermann (Lieb Schwesterlein, laß mich herein, 43–101, hier 51) in seiner tiefenpsychologischen Auslegung des Grimm’schen Märchens vom »Marienkind« auf ein typisches Schicksal von Kindern und besonders Frauen hin, die sich in einem unerträglichen Maß an äußeren und inneren Entbehrungen zur Rücksichtnahme auf die Notlage ihrer Eltern gedrängt fühlen: »Gewiß gibt es kein schrecklicheres Gefühl für ein Kind als das Empfinden, seinen Eltern bereits durch sein bloßes Dasein lästig zu sein, denn es bedeutet, im Grunde unberechtigt auf der Welt zu sein, und je mehr die Eltern sich aus Liebe, Verantwortungsgefühl oder Ehrgeiz Mühe geben, die objektive Notlage zu überbrücken, desto mehr kann dieses Gefühl unter Umständen sogar erst recht dramatische Formen annehmen.«
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es erwartet oder nicht, nicht sehen bzw. nicht hören, sondern an Stelle von solchem Gesehenen oder Gehörten zeigt sich uns etwas positiv, nämlich: nichts. Wir sehen ins Dunkle, aber da zeigt sich überall nichts als Dunkelheit, undurchdringliche Finsternis. Der Presslufthammer vor dem Fenster hat endlich aufgehört zu rattern; wir horchen in die uns umringende Stille, und da: Wir erhorchen keinen Laut, nichts; was hier waltet, ist wohltuende Stille. Ein Nichts sehen und ein Nichts hören ist hier zu unterscheiden von der bloßen Negation des Sehens und des Hörens. Beispielsweise sieht der Videorecorder nicht und hört nicht, aber er kann niemals Nichts sehen oder Nichts hören, weil ihm der Bezug zum Offenen abgeht. Die Weise unserer leibhaftigen, wahrnehmend-vernehmenden Offenheit für begegnendes Seiendes ist hier angesprochen, jene Offenheit, die als solche nicht selbst als Seiendes irgendwo vorkommt, sondern als Nichts west. Vielfältig sind die Bedeutungen des Nichts als das Leere oder das Leersein, beginnend mit der Leere des Vakuums, des Abstands zwischen Seienden, über die raum-zeitliche Leere und Unerfülltheit, die Aufnahmefähigkeit, bis hin zur Offenständigkeit sowie zum Offenen in der Mehrfältigkeit seiner Bedeutungen, die auch das Freisein und Zwischen umfasst. Hier bedarf es einer wichtigen Unterscheidung: Einige Phänomene des Nichts ergeben sich aus dem Anspruch, etwas zu sein, und dem, was faktisch anwesend ist. So wird das privative Nichts aus der Nichterfüllung eines Anspruchs, etwas Sinnvolles, Wahres, Gutes usw. zu sein, bestimmt. Faktisch erweist sich das Angesprochene im Horizont dieses Anspruchs als schlecht: nichtssagend, nichtswürdig, widersprüchlich, unmöglich, mangelhaft. Das Abwesendsein in Anspruch genommener Seinsvollkommenheit kann sich einem aufdrängen. Das nihilistische Nichts erscheint als Generalisierung dieses privativen Nichts, das, absolut gesetzt, alles, alle Menschen und alle Welt, unter einem absoluten, idealen Vollkommenheitsanspruch durchfallen lässt. Denselben Unterschied zwischen Anspruch und Erfüllung finden wir auch in Phänomenen, die nicht als Privation missdeutet werden dürfen. So wird ein räumlich-zeitlicher Abstand im Horizont eines Entwurfs leerer Möglichkeiten der Messbarkeit bestimmt, sei es die Zeitspanne zwischen Ereignissen oder der Zwischenraum beispielsweise zwischen Mond und Erde. Was dazwischen ist, erweist sich als leer, tatsächlich ohne Erfüllung durch etwas Faktisches; es zeigt sich, dass da nichts ist und west, und doch sogar ein rechnerisch bestimmbares Nichts ist, was wiederum nicht mit einem durch Negation bestimmbaren Etwas zu verwechseln ist. Ähnlich wird ein Gefäß, das man gewöhnlich vom Aussehen, seiner Form und Handlichkeit her beurteilt, in seinem Wesen von der Leere her entworfen, beispielsweise wird ein Krug von dem her bestimmt, was er, durch Einschenken an-
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gefüllt, nun fassen soll. Das Gefäß wird von diesem Nichts der Leere her, die es fasst, bestimmt. Hier wurde eine erfüllbare Leere entworfen. Das Beispiel eines leeren, offenen Gefäßes wie eines Weinkrugs, der viele Anwesende verbindet, wenn er ausgeschenkt und so entleert wird, führt uns weiter. Er spricht uns als Symbolon an. ,Symbolon‘ meint hier das konkrete In-Erscheinung-Treten dessen, worin Menschen in mehrfacher Weise Zusammenhaltende sind.228 Es geht um die Leere als Fassungsvermögen (Kapazität) und um Teilhabe, um das Offene oder Zwischen, worin Menschen als Empfangende und Gebende zusammenhalten. Die Leere als ursprüngliches Nichtsphänomen ist hier nicht im Horizont der Erfüllbarkeit (Fassungsvermögen) oder Nichterfüllung eines Anspruchs bzw. Entwurfs zu bestimmen, sondern als eine Weise des Seins, als das Offene oder Zwischen. Die Offenheit ist zunächst eine kommunikative Aufgeschlossenheit des Menschen für den Menschen und damit eine Offenheit des Anwesenheitsbereiches zwischen Menschen in ihrer leibhaftigen Anwesenheit. Das bedeutet unbesetztes Frei- und Offensein des Herzens, ein Sichöffnen im Sinne des Leer- und Zunichtewerdens für ein weites und tiefes, aus dem Gewesenen in das Kommende hineingehendes Vernehmen. Solche Offenheit hat die Spannweite der Welt und ihres Zeit-Spielraums, sie entspricht der Welt als der vom Sein her eröffneten Offenheit und Offenbarkeit. In ihr waltet die Offenheit zwischen dem Ding und dem Menschen, sowohl als Offenheit (Zugänglichkeit) des Menschen selbst für das Ding als auch als unverstellte Offenheit vom Ding her so, dass das Leere, Freie, Durchscheinende das für ein leibhaftiges oder körperliches Erscheinen Durchlässige ist. Diese mehrfältigen Weisen der Leere und Offenheit, das Hin und Her zwischen den Mitmenschen und zwischen den Dingen und uns, walten in sich als eine einzige Offenheit. Hebt man das Zwischen oder Inzwischen (lat. inter) hervor, dann darf es nicht unterbestimmt werden. Unter Intersubjektivität oder Interaktion (Wechselwirkung) stellt man sich vorher bestehende Subjekte (Individuen, Seiende) vor, die unter den kategorialen Gesichtspunkten von actio und passio oder in technomorphen Modellen wie input und output, encodierender Sender und decodierender Empfänger und dergleichen aufeinander einwirken. Aber das Zwischen besagt nicht nur das, was sich zwischen ihnen (inzwischen) abspielt, sondern auch, was sich aus dem Sein als Abgrund heraus so ereignet, dass es die Seienden in Zusammengehörigkeit herausdifferenziert und fügt – so wie ein Gespräch sich ereignet und fügt, dessen Verlauf und Ausgang niemand völlig in der Hand hat. Das Offene fungiert da nicht wie ein bereits bestehender Megabehälter, son228 Zum ursprünglichen Verständnis des Symbols vgl. vom Verf. (2001), Philosophische Vorüberlegungen zum Symbolverständnis in der Psychotherapie.
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229 So die wertvollen phänomenologischen Analysen von B. Waldenfels (Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, 240, 284–304, hier 286) zur Zwischenleiblichkeit als Verschränkung von eigenem und fremdem Leib; Waldenfels denkt die Leiblichkeit des Selbst allerdings nicht aus dem Offenständigsein gegenüber den Begegnenden, auch unterscheidet er nicht zwischen Fremdbezug und Bezug zu Nahestehenden bzw. deren Zusammengehörigkeit, wobei überdies die pränatale Situation der ,Verschränkung‘ ausgeblendet bleibt.
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dern es währt selbst nur als gewährter Aufgang aus dem Verborgensein, als Sichereignen des Offenen, als geeinte »Sphäre der Differenzierung«,229 die ihrerseits als Freigabe zu ursprünglichem Miteinandersein und zur Begegnung der Seienden untereinander einigt. Das Offene in den Weisen des Offenseins ist nichts Seiendes, so sehr es nicht ohne Beteiligung des Seienden west; es ist das Abgründige, es gibt es nur im Aufgang, im Sichereignen von Unverborgenheit (Wahrheit) aus dem Verborgenbleiben des sich im Inzwischen ereignenden Austrags von Sein und Seiendem. Hier ist der Gefahr zu begegnen, den Gedanken spekulativ zu verstehen und seinem unmittelbaren Vollzugssinn auszuweichen, indem man vom Unverborgenen auf dahinter verstecktes oder verdecktes Verborgenes, ja auf überhaupt Verborgenes (Seiendes an sich) schließt. Es ist vielmehr der verbale ,Wesensfluss‘ der Verbergung, das Sichzeigen des Sichnicht-Zeigenden, jenes abgründigen Grundes, der das Sichzeigen wesenhaft trägt und entspringen lässt. Beispielsweise bleiben wir einander bei noch so großer Offenbarkeit und Nähe in unserer Wesenstiefe die einander Verborgenen, Unbekannten, Fernen (homo abyssus), und verweisen so einander in die Tiefe und Abgründigkeit unseres gemeinsamen Daseins als die Zueinandergefügten. Im Sichereignen des Austrags (der ontologischen Differenz), in diesem Geschehen des Freigebens zu selbstständigem Sein des Seienden, erscheint daher das Nichts der Verborgenheit des Seins unauffällig mit, deshalb können Sein und Nichts dasselbe genannt werden. Phänomenal gibt es dieses Austragen und Tragen des Seienden zur Teilhabe als Miterscheinung des Unscheinbaren, des verborgen erscheinenden Nichts. Doch mit dem Gang vom Nichts als dem Offenen zum Nichts der Verborgenheit des Seins ist der Weg nicht zu Ende. Er geht aus von der Ontologie und weiter zur theologischen Philosophie. Wenn wir darauf achten, wie dieser Austrag von Sein und Seiendem als ein ereignishaftes Inzwischen sich gibt und ab-gründig währt, dann gibt es hier keinen Abschluss unseres Denkweges, sondern die Fragwürdigkeit nimmt zu. Das weiteren Fragens Würdige ist an dieser Stelle: Seiendes ist; es ist, indem es sich phänomenal gibt, Sein wesen lässt, weil es teilhat am Sein; es gibt sich so zurück an das Sein. Aber Sein ist kein in sich stehendes Sein als ständiges, immer sich selbst ,gleiches‘ Anwesen (Idee), welches das Werden in den Bereich des Uneigentlichen zurückstößt, sondern Anwesen, das Gewesenes je immer neu in das Zukünftige hinaufhebt, also solcherart ein Sichereignen. Insofern hat es sich und substituiert es
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Dritter Exkurs
nicht, sondern ist es sich gebendes Sein, doch darin abgründig; es gibt sich aus seinem verborgenen Anfang heraus. Wie steht es um diesen? Gibt das Sein her, was es von sich her gar nicht haben kann, weil es dies als Ausstrom, Überschwang, überströmende Fülle aus seinem Urquell empfängt? Scheint die in diesem Geben wesende Gabe des Seins nicht als das Verborgenste des Verborgenen mit auf: sein unergründlicher Ursprung und Anfang? Zeigt sich uns dieser Ursprung in einzigartiger Unaufdringlichkeit im Entsprungenen Mitanwesender? Ruft dies uns in ein angemessenes Entsprechen, zum Vollzug einer Umkehr im Verhältnis zu allem uns aus dem Ursprung Begegnenden? Erst nachgeordnet ist die Frage: Lässt sich dieser Ursprung, dieses Ursprungsgeschehen aufzeigen, aufweisen und nachvollziehbar mit sehen lassen? Gemeint ist mit dem letzten Ursprung nicht ein ,seiendstes‘ Seiendes, keine höchste Idee über allem Sein, sondern das aus seiner Unergründlichkeit Seiendes zum Sein ,Frei-gebende‘ und in diesem Geben Mitanwesende. Was in diesem Sinne (als Sein?) in und über allem Sein west, wird in der Tradition der negativen Theologie von der Weise seines Erscheinens her, von dem als Verborgenbleibendes zur Offenbarung Kommenden, vielfach paradox benannt: als absolutes Nichts, dunkles Licht der Gottheit, letzte Finsternis, »überlichthaftes Dunkel«,230 »überseiende Sturm-Nacht (gnfoß), weg-verborgen unter allem Licht dessen, was west« (Pseudo-Dionysius Areopagita 231).
230 Pseudo-Dionysius Areopagita, De mystica theologia, II, 1: […] tn prfwton […]. n toß osi 231 A.a.O., II, 14 f.: […] tn perosion […] gnfon tn p pantß tou fwtß 2pokruptmenon (Übersetzung: E. Przywara, Was ist Gott?, 32).
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4. ,Metaphysik‘ als Ort des Grunddenkens theologischer Philosophie
4.1 Philosophische Theologie – Annex oder zentrale Thematik der Philosophie?
Wo steht Metaphysik heute? Nimmt man an, dass Philosophie radikal nach einem letzten Sinn, einer endgültigen Wirklichkeit oder nach dem Grund und Ursprung des Seienden im Ganzen hinsichtlich seines Seins (das ,Es gibt‘) fragt und diesen Grund als etwas Göttliches auslegt oder als den Gott der Religionen identifiziert, dann wäre in ihr die philosophische Theologie das zentrale Thema: Es geht in ihr um das Erste und das Letzte als das Allesüberragende in unserem Dasein. Als der eigentliche Ort philosophischer Theologie gilt traditionell die Metaphysik; ja MetaPhysik wurde sogar mit philosophischer Theologie gleichgesetzt. Inzwischen ist es strittig geworden, ob den metaphysischen ,Hypothesen‘ dieser Theologie mehr Raum als nur ein fakultativer Anhang zur Philosophie zuzubilligen sei. Falls man heute noch an ,Metaphysik‘ festhalten will, wäre an ihr bestenfalls nur die ontologische Fragestellung und Thematik haltbar, denn das Fragen nach einer übersinnlichen Letztwirklichkeit fällt in den Bereich überholter Spekulation. Die Gründe für die Zurückweisung der Metaphysik sind zahlreich: Verlässliche Grund- bzw. Gotteserfahrungen für das Denken scheinen heute auszubleiben. Uns beirrt eher Grundlosigkeit. Kritische Philosophie ist (wie etwa bei Sartre) durch einen Atheismus motiviert oder geriert sich angesichts der Anarchie religiös aufgeheizter Ideologien, Fundamentalismen und Weltanschauungs- und Kulturkämpfe antitheistisch. In einer anderen Variante ist sie überhaupt in dem Sinne postatheistisch, dass sie voller Zurückhaltung einen methodischen Atheismus oder Agnostizismus bevorzugt, oder sie behauptet postmodern einen Pluralismus heterogener Wirklichkeiten, der es überhaupt überflüssig macht, letzte absolute Grundannahmen zu erörtern. Die Einwände sind vermehrbar und verdienen ernst genommen zu werden. Dennoch halten sich viele Philosophierende für von einem unergründlichen Ersten und Letzten so betroffen, dass sie darüber eine vernünftige Rechenschaftsablage nicht schuldig bleiben wollen. Auch weist man darauf hin, dass man ohne die Annahme eines Absoluten oder uns unbedingt Angehenden überhaupt nicht auskommt, denn wenn man es ignorieren will, kehrt es verkappt wieder. Mitunter sind es bestimmte Lebensideale, Seinsweisen oder Bereiche, die absolut gesetzt werden, zum Beispiel der Mensch (Anthropologismus, Soziologismus) oder die Welt (Kosmologismus), Geist (Idealismus) oder Materie (Materialismus) bzw. Natur (Biologismus, Naturalismus). Die kritische Umdrehung totalitären Einheitsdenkens setzt die Mannigfaltigkeit ab-
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solut (postmoderner Pluralismus), die ohne ,Zusammengehörigkeit‘ gar nicht gedacht werden kann. Doktrinäre Verabsolutierungen wiederum nähren skeptische Kritik an solchem Anhalt an einem wie auch immer Höchstdenkbaren. Immer geht es um das Ganze des Daseins und das, was es im Grunde bestimmen mag, und sei es, dass uns im Bezug darauf die Sinnlosigkeit und Nichtigkeit von allem (Nihilismus) beirrt. Philosophie ist radikales Denken, das auf das Ganze und ihm auf den Grund geht.1 Das Grunddenken eröffnet der Philosophie überhaupt erst ihren Anfang.2 Sie ist Wissenschaft von den Anfängen, Ursprüngen und Wurzeln, von der innersten Tiefe der Sache selbst, ihren Wurzeln und ihrem Quellgrund.3 Sie hebt sich selber auf, wenn sie sich aus dem radikalen Fragen nach dem Ganzen und dem Grund verabschiedet bzw. zur realitätsfernen Metatheorie herabsinkt, methodisch orientiert an Spezialwissenschaften und auf partikuläre Bereichsperspektiven versessen, und von da aus vermeint, Realitätsannahmen und -zuweisungen kritisch überprüfen zu können. Wo sie grundsätzlich jedes Denken des Ganzen und des Grundes negiert, bezieht sie sich in der verborgenen Form der Negation noch auf ein vorverstandenes, eben für grundlos gehaltenes Ganzes und dessen Grund. Dennoch lässt sich nicht bestreiten, dass das mit dem Mittel des ausgrenzenden Begriffs endgültig für bewältigt ausgegebene Ganze stets das Unwahre ist (Adorno) oder dass ein panoptischer Anspruch eine Täuschung darstellt (Lévinas). Macht Philosophie trotzdem ihrer Sache nach den Anfang mit dem Denken des Grundes des Seienden im Ganzen, so ist in ihrem Grunddenken (dem Seinsdenken) das Denken des Ursprungs dieses Anfangs, d.h. die ausdrücklich ontologische Auslegung des Grundes, von der theologischen sorgfältig zu unterscheiden. Jeder Kurzschluss ist hier zu vermeiden; er würde philosophische Theologie im Ansatz obsolet machen. Es lässt sich plausibel machen, dass die philosophische Zurückhaltung gegenüber philosophischer Theologie ernst zu nehmende Sachgründe hat, die untrennbar 1 Als Beispiel für die hier angesprochene fundamentale Auffassung des Philosophierens wäre zu nennen: M. Heidegger, GA, Bd. 29/30: Grundbegriffe der Metaphysik, §§ 1–15; ders., GA, Bd. 31: Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung in die Philosophie, § 2: »Philosophie als Hineinfragen in das Ganze. Das Aufs-Ganze-Gehen als das An-die-Wurzel-Gehen«, 17 ff.; ders., GA, Bd. 27: Einleitung in die Philosophie, § 1: »Menschsein heißt schon philosophieren«, 1–4. 2 Dazu siehe oben im dritten Exkurs: 3.2.1. 3 Es geht hier nicht um eine bloße Information über Philosophiegeschichtliches, sondern vielmehr um die kritische Prüfung von Wegen, die der Freilegung der Sache am besten gedient haben, und um das Vermeiden von Irrwegen. Nicht vergessen sei E. Husserls Mahnung (Philosophie als strenge Wissenschaft, in: Husserliana, Bd. 25, 3– 62, hier 61): »Nicht von den Philosophien, sondern von den Sachen und Problemen muß der Antrieb zur Forschung ausgehen. Philosophie ist aber ihrem Wesen nach Wissenschaft von den wahren Anfängen, von den Ursprüngen, von den izmata p1ntwn [Wurzeln des Ganzen]. Die Wissenschaft vom Radikalen muss auch in ihrem Verfahren radikal sein, und das in jeder Hinsicht.«
,Metaphysik‘ als Ort des Grunddenkens theologischer Philosophie
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mit dem Schicksal der Metaphysik und ihres Grunddenkens verbunden sind, die verschiedenste Abwandlungen des Baugefüges von Ontologie und philosophischer Theologie erfahren haben. Versteht man heute unter Metaphysik vielfach eine Art von Platonismus, tendenziell eine Zweiweltenlehre oder gar sinnlose Weltverdoppelung, so wird verständlich, dass Philosophie metaphysikfrei verbleiben will. Unter Anpassung an diese Tendenz wird eine metaphysikfreie philosophische Theologie gesucht. Hält man philosophische Theologie für eine sinnvolle Möglichkeit, dann ist die Frage, ob und wie metaphysisch oder metaphysikfrei sie sein sollte, von größter Bedeutung. Um welche Art von ,Metaphysik‘ handelt es sich und von welcher ,Metaphysik‘ sollte sie sich befreien und frei sein? Zur genaueren Ortsbestimmung philosophischer Theologie im Ganzen der Philosophie bedarf es hier einer Orientierung über das mit dem Titel ,Metaphysik‘ vieldeutig Gemeinte, die wenigstens skizzenhaft auf deren geschichtlich gewachsene Bedeutungen eingeht, auch um vor verwirrenden Äquivokationen zu bewahren (4.2). Weiter ist zu fragen: Inwiefern konnte philosophische Theologie Thema der Metaphysik sein? Zur Klärung dieser Frage sei auf die wichtigsten Metaphysikentwürfe der Verbindung von Ontologie und philosophischer Theologie eingegangen (4.3). Sollte sich herausstellen, dass radikales Grunddenken der Ontologie zu einer Theologie führt, die sich als angemessene thematische Explikation des ontologischen Grundes darstellt, erhebt sich die Frage, inwieweit Philosophie in ihrem Gang zum Grunde aus diesem Ursprung durchgehend bestimmt ist (4.4).
4.2 ,Metaphysik‘ als Denken des Ganzen hinsichtlich seines Grundes
Philosophiegeschichtlich gilt »Metaphysik« bekanntlich als Titel für Schriften des Aristoteles, von denen er selbst betont sagt, es gehe in ihnen um »Erste Philosophie« filosofa, prima philosophia).4 Erste Philosophie ist nicht eine numerisch (pr wh erste, auf die eine zweite, dritte usw. folgen könnte, sondern die von der Sache her gesehen anfängliche, die für alles weitere Philosophieren grundgebend (fundamental) ist, also auch nicht von einer anderen philosophischen Disziplin abgelöst oder überholt werden könnte. Philosophisches Denken nimmt eben mit ihr seinen Anfang. Das Vernehmen des aufgehenden Ganzen kommt in ihr auf sein Fundament. Metaphysik wäre demnach die philosophische Grundwissenschaft, welche die tragenden Gründe oder den Wurzelgrund des Ganzen freizulegen sucht. 4 Siehe auch oben 1. Kap., 1.2.2.5.
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Wie weit und nicht verbaut Aristoteles hier denkt, zeigt sich, wenn er der Philosophie frühgriechischer Denker zubilligt, »Erste Philosophie« zu sein; doch »sie schien« ihm, wie er sagt, per p1ntwn, d.h. »über alles [über das Ganze, die Gesamtheit, das All] nur [wie ein Kind] stammelnd zu reden«.5 Doch gerade sie (die Physisdenker) waren ihm Denker des Grundes bzw. der Gründe, der Ur-Sachen und der Wahrheit des Ganzen.6 ,Metaphysik‘ in der sehr weiten Bedeutung eines Grunddenkens anfänglicher Philosophie gab es also nach Aristoteles längst vor ihm und vor diesem Titel, und zwar insofern die Denker vor Aristoteles über Physis in ihrem Anfang und Ursprung nachgedacht haben. Es fragt sich aber, wieso die zwölf Bücher der Ersten Philosophie des Aristoteles, die an dieses Physisdenken (als Grunddenken) der Voraristoteliker anschließen, ,Metaphysik‘ genannt wurden.
4.2.1 ,Metaphysik‘ als Ausdruck bibliothekarischer Verlegenheit Der Titel ,Metaphysik‘ entstand im ersten vorchristlichen Jahrhundert, als Philosophie im Schulbetrieb bereits in Logik, Physik und Ethik als Sachbereiche aufgegliedert war. Eine geplante Aristoteles-Gesamtausgabe (Sammlung und Neuordnung) umfasste das Organon (die Logik), Physik, Ethik und Politik. Die Physik handelt vom Kosmos, vom Ganzen aller Seienden und von deren Grundbestimmungen, der Bewegung, dem In-Erscheinung-Treten und dem Werden und kann wie ein einziger Gottesbeweis gelesen werden, geht also darin schon über die Physis hinaus.7 Außerdem fand man Abhandlungen ohne Titel mit ähnlichem Inhalt wie jener der Physik. Worum es in ihnen, die Physik ergänzend, im Besonderen ging, kann in drei Themenbereiche aufgegliedert werden: (1) Die Erste Philosophie ist Wissenschaft vom Seienden als Seiendem (vom Seienden als seiend, n n, ens qua ens) und von den ihm zukommenden Eigentümlichkeiten.8 Das Seiende wird hier nicht nur als ,Dieses da‘, als das jeweils Einzelne, verstanden, sondern in seiner ganzen Mannigfaltigkeit, und zwar nicht abstrakt im ,Allgemeinen‘, sondern ,gemäß dem Ganzen‘, ,vollständig‘ (kat’ lo) – und was sollte dieses Ganze anderes sein als die Physis? Jedenfalls hat die Erste Philosophie die Gesamtheit aller Seienden als seiend im Blick. Das, woraufhin das Seiende im Ganzen angesprochen wird, ist das Seiende als Seiendes, insofern es ist, d.h. hinsichtlich seines 5 6 7 8
Vgl. Aristoteles, Met. I, A, c. 3, 983 a 24 – 993 a 10 b 17. A.a.O., 983 a 8. Siehe oben 1. Kap., 1.2.2.5. Met. IV, , c. 1, 1003 a 21–25; XI, K, c 3, 1060 b 31–32.
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Seins anwesend ist. Mit dem Seienden ist primär weder bloß Vorhandenes, für uns Feststellbares, noch von uns aus bloß Vorstellbares gemeint. Das Seiende wird verbal (partizipial) verstanden, eben als seiend, d.h. es ist jegliches Sichzeigende, von sich her Aufscheinende, Anwesende, das uns durch sein Anwesen in Anspruch nimmt. Erste Philosophie ist Wissenschaft im Sinne eines sachverständigen Sichauskennens hinsichtlich des Seienden in seinem Sein. (2) Von der Wissenschaft, die Aristoteles im ersten Buch darzulegen beabsichtigt, sagt er, sie sei die höchste Wissenschaft und Weisheit, da es in ihr um die ersten Ursachen und ersten Gründe gehe.9 Diese Bestimmung hängt mit der vorhergehenden zusammen: »Wir suchen (erfragen) die Gründe und Ursachen der Seienden, offenbar aber als seiender.«10 (3) Der letzte Themenbereich wird durch die Frage eröffnet, was das Seiende im Ganzen (den Kosmos bzw. die Physis) am vorzüglichsten durchwaltet, durchherrscht und bestimmt und was für alles Seiende den Grund gibt, denn »allen gilt, dass der Gott eine der Ursachen und in gewisser Weise Grund sei«.11 Dieser ist nichts Stoffabhängig-Bewegtes, sondern das aus seinem eigenen Bereich her Scheinende (cwristn) und unter den Anwesenden das der Verehrung Würdigste (t timitaton), das Göttliche bzw. der Gott, der in der «theo-logischen«, d.h. Gott sagenden, Wissenschaft zur Sprache kommt,12 die man ja erst später physische, natürliche Theologie genannt hat. Aristoteles hat den thematischen Gegenstand der Metaphysik nicht eindeutig bestimmt. Daher stellte sich die Frage, wie man die Abhandlungen, welche diese Themenbereiche enthalten, einordnen soll: Sie sind nicht Logik, kein Teil der Physikvorlesung und auch nicht Ethik. Andronikos von Rhodos (um 70 vC) soll diese Schriften »nach« (met1, post) den Schriften über die Physis eingeordnet haben, gewissermaßen als Anhang oder als Nachtrag zur Physik, da sie Exkurse und sogar Wörterbuchartiges im Blick auf Letztere enthalten. Die Abhandlungen beinhalten unterschiedliche Arbeitsunterlagen für den mündlichen Unterricht. So gesehen wäre der Titel ,Metaphysik‘ ein bibliothekarischer Ausdruck für eine Verlegenheit in der Sachbestimmung: die Bücher, die nach (meta) der Physik stehen.
9 10 11 12
Met. I, A, c. 1, 982 a 1–3; 982 b 9–10. Met. VI, E, c. 1, 1025 b 3– 4; vgl. IV, G, c. 1, 1003 a 26 –32; VI, E, c. 4, 1028 a 3– 4. atwn p sin Met. I, A, c. 1, 983 a 8 –9: te g!r ϑeß doke t wn enai ka rc tiß. Met. XI, K, c. 7, 1064 a 33– b 6.
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4.2.2 ,Metaphysik‘ als Sachtitel für eine platonistische Schuldisziplin Es gibt noch eine andere, viel wichtigere, weil geschichtsmächtigere Worterklärung für »Metaphysik«, die inhaltliche,13 wobei auch eine Umdeutung der bibliothekarischen Worterklärung in einen Sachtitel in Frage kommt. Nach Kant ist der Name »Metaphysik« nicht ohne guten Grund entstanden – weil er so genau zu ihr passt: »denn fsiß heißt die Natur, und zu den Begriffen der Natur gelangen wir nicht anders als durch die Erfahrung. Was auf die Naturwissenschaft folgt, ist eine Wissenschaft, die jenseits des Gebietes der Physik liegt: meta, trans und fsika ergibt Meta-Physik.«14 Metaphysik im Sinne dieses Sachtitels ist, tendenziell völlig unaristotelisch, das, was über alle Gebiete des sinnlich erfahrbaren Seienden und alle diesbezüglichen Fragestellungen hinaus liegt, was jenseits des Physischen ist. Physisch ist dann, was sinnlicher Erfahrung zugänglich ist: der Bezirk der Sinnenwelt (mundus sensibilis); metaphysisch ist das Jenseits der sinnlichen Erfahrung, die Erkenntnis des Über- oder Unsinnlichen (mundus intelligibilis), d.h. erfahrungsfreie Vernunfterkenntnis aus bloßen Begriffen oder Ideen (Idealismus), der Bereich des (reinen, absoluten) Geistigen im Gegensatz zur Materie. Das bedeutet in der platonistischen Tradition Ausstieg aus der Sinnenwelt, in die wir gestellt sind, hinaus zur Welt der Ideen, zur Schau der geistigen Wesenheiten als dem eigentlichen Sein alles Seienden, unter denen Gott als das Höchstdenkbare gedacht wird. Es ist also ein Denken, das diese unsere Erfahrungs- und Lebenswelt zur uneigentlichen herabsetzt oder, kritisch gewendet, unsere Lebenswelt verdoppelt und dadurch eine illusionäre Überwelt bildet. Damit muss die andere Möglichkeit einer ,metaphysischen‘ Tradition versiegen: ein Denken, das auf das ungeteilte Ganze unseres Daseins miteinander geht und sich darin auf den Grund oder Grundcharakter, der alle Seienden phä13 Greifbar schon beim Peripatetiker Alexander von Aphrodisias, der 189 –211 v C in Athen lehrte (vgl. HWP, Bd. 5, Sp. 1187, 1202 f.) und Aristoteles in Richtung Substanzmetaphysik einengend ausgelegt hat. Die inhaltliche Deutung der anfänglichen Philosophie als Meta-Physik verkennt die Physik des Aristoteles. Auch die »theologische Philosophie« des Aristoteles ist physische Theologie, Theologie der Physis und in diesem Sinne theologia naturalis (natura hier noch nicht als Schöpfung und im Unterschied zur »Übernatur« ausgelegt). Siehe oben 1. Kap., 1.2.2.5. Noch im Beginn der mittelalterlichen Rezeption galt der aristotelische Text der Metaphysik als Teil der »philosophia naturalis« im Unterschied zur Logik und Ethik, vgl. A. Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik?, 4. 14 I. Kant, Gesammelte Schriften, Bd. 28: Vorlesungen, Bd. 5/1: M. Heinze, Vorlesungen Kants über Metaphysik aus drei Semestern, 174: »Was den Namen der Metaphysik anbetrifft, so ist nicht zu glauben, dass derselbe von ohngefähr entstanden, weil er so genau mit der Wissenschaft selbst paßt: denn dass fsiß die Natur heißt, wir aber zu den Begriffen der Natur nicht anders als durch die Erfahrung gelangen können, so heißt diejenige Wissenschaft, so auf sie folgt, Metaphysik (von met1, trans und fusik1). Es ist eine Wissenschaft, die gleichsam außer dem Gebiete der Physik, jenseits derselben liegt.«
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nomenal zugänglich und erfahrbar durchragt, besinnt. Das ontologische und erst recht das dieses vertiefende theologische Verständnis könnte ja aus dem praktischen Selbstverständnis des Menschen im Austrag der Offenständigkeit seiner Welt (des Seienden im Ganzen) mit Anderen geschöpft werden.15 Über der inhaltlichen Deutung der Metaphysik wurde aus ihr 1. eine Schuldisziplin (ein Unterrichtsfach), die sich 2. zumeist im Sinne eines Platonismus verstanden hat. Metaphysik konnte bzw. kann daher schlagwortartig als ,Platonismus‘ gelten. In Verbindung mit dem christlichen Gottes- und Schöpfungsverständnis hat platonisierende Metaphysik mit ihrem Ineinander zweier Welten weitgehend die mittelalterliche und noch viel mehr die neuzeitliche Metaphysik bestimmt. Andere, originäre Verständnisweisen der Metaphysik wurden dadurch verdeckt. Neuere und neueste historisch-kritische Mittelalterforschung weist auf die tiefgehende Krise und neue Bahnungen philosophischen Denkens im lateinischen Westen innerhalb des Zeitabschnitts vom 12. bis zum 14. Jahrhundert hin, die sich »ex post als ,Ursprünge‘ der Moderne […] erweisen«.16 Mit dem neuerlichen Bekanntwerden und der Rezeption griechischer Werke der Philosophie, insbesondere der aristotelischen samt ihren arabischen und jüdischen Kommentatoren von Rang, erwacht die Frage nach der eigentlichen Thematik und dem Sachbereich der Metaphysik (dem subiectum metaphysicae) erneut, von vielen Denkern systematisch dargelegt und voneinander abweichend beantwortet. Diese Diskussion ist für uns von größter Bedeutung, nicht nur wegen ihres philosophischen Niveaus (wenn sie zum Beispiel die Auslegungsbahnen der Kommentierung des Aristoteles ausdrücklich reflektiert), sondern weil sich durch sie auch die maßgebenden Grundkonzeptionen neuzeitlicher Metaphysik sowie Einschätzungen der Metaphysik insgesamt herausgebildet haben, mit denen eine Auseinandersetzung unumgänglich ist.
4.3 Zur Typengeschichte der Ortung philosophischer Theologie innerhalb der Metaphysik vom Mittelalter bis zur Neuzeit
Beachtet man den engen Zusammenhang der drei Hauptthemen aristotelischer Metaphysik (Seiendes im Ganzen – Gründe – Göttliches), dann lässt sich der Anreiz ver15 Es scheint, dass sich Aristoteles den Gott seiner Metaphysik nicht als weltjenseitigen Beweger vorgestellt, sondern als das in ethischer Praxis zunächst erfahrbare Worumwillen alles guten Handelns sowie aller zwischenmenschlichen Liebe und Freundschaft verstanden hat. Siehe dazu oben 1. Kap., 1.2.2.5. 16 L. Honnefelder, Woher kommen wir? Ursprünge der Moderne im Denken des Mittelalters, 15.
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Sachprobleme systematischer Ortsbestimmung philosophischer Theologie
stehen, sie zu einem eigenständigen und einheitlichen Unterrichtsfach auszuarbeiten. Problemgeschichtlich kam es hierbei zu einer fragwürdigen Reduktion auf eine Zweipoligkeit zwischen Ontologie und metaphysischer Theologie, die sich Heidegger wie folgt aufgedrängt hat: »Diese doppelte Charakteristik der prth filosofa enthält weder zwei grundverschiedene, voneinander unabhängige Gedankengänge, noch darf die eine zugunsten der anderen abgeschwächt bzw. ausgemerzt werden, noch läßt sich gar die scheinbare Zwiespältigkeit vorschnell zu einer Einheit versöhnen.«17 Unter dem Gesichtspunkt der Doppel-Charakteristik, Ontologik und Theologik, gab es im Mittelalter eine erstaunliche Vielfalt gründlich diskutierter (und nicht bloß konstatierender) Auffassungen über das sogenannte »Subjekt« der Metaphysik. Wir würden heute eher vom Gegenstand bzw. vom Gegenstands- oder Sachbereich der Metaphysik reden, doch war damals mit subiectum (pokemenon) das unserem Erkennen Voraus-, Vor- und Zugrundeliegende gemeint. Von den arabischen Quellen ausgehend hat Albert Zimmermann die ganz erstaunlich voneinander abweichenden und zugleich variantenreichen Lösungsrichtungen der Frage nach dem Gegenstand der Metaphysik für den Zeitraum des 13. bis 14. Jahrhunderts gründlich erforscht.18 Diese Lösungsansätze lassen sich als Paradigmen bzw. Typen systematischer Ortsangaben philosophischer Theologie innerhalb der Philosophie und näherhin der Metaphysik verstehen. Die mittelalterlichen Kommentatoren der aristotelischen Metaphysik teilen nach Zimmermann »die Ansicht, die Metaphysik sei diejenige Wissenschaft, die das Seiende als solches oder das Seiende im allgemeinen zum Subjekt hat. […] Metaphysik
17 M. Heidegger, GA, Bd. 3: Kant und das Problem der Metaphysik, 7 f. Heidegger spricht in der Einleitung zu »Was ist Metaphysik?« (GA, Bd. 9: Wegmarken, 379) terminologisch noch ganz unspezifisch vom »onto-theologischen Wesen der eigentlichen Philosophie«, der Ersten Philosophie des Aristoteles, anders in »Identität und Differenz« (51): »Nun ist aber die abendländische Metaphysik seit ihrem Beginn bei den Griechen […] zumal Ontologie und Theologie«, und zwar ist sie »ihrem Wesen nach zugleich Ontologie im engeren Sinne und Theologie«. »Offenkundig handelt es sich nicht erst um einen Zusammenschluß zweier für sich bestehender Disziplinen der Metaphysik, sondern um die Einheit dessen, was in der Ontologik und Theologik befragt und gedacht wird: Das Seiende als solches im Allgemeinen und Ersten in Einem mit dem Seienden als solchem im Höchsten und Letzten.« Das Seiende (im Grunde seinsvergessen) als begrifflich Allgemeines und zum höchsten Ideal genommen als eigentliches Seiendes entspricht freilich einer bestimmten Auslegungstradition. Vgl. hierzu auch das für Heideggers Metaphysikdeutung maßgebende Ontologielehrbuch von C. Braig, Vom Sein. Abriß der Ontologie (1896), das Heidegger als Gymnasiast intensiv studiert hat. Nach Braig bildet den »Abschluß« der Ontologie das Grundthema der metaphysischen Theologie, deren Idee und Ideal des Vollkommenen aus der Welt der endlichen Vollkommenheit erwächst (156 ff.). Zur Fragwürdigkeit der aristotelischen Ersten Philosophie als Ontologie und Theologie: M. Heidegger, GA, Bd. 19: Platon: Sophistes, 221–224; ders., GA, Bd. 24: Die Grundprobleme der Phänomenologie, 38. 18 A. Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik?.
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ist also – in der heute geläufigen Terminologie ausgedrückt – Ontologie.«19 Die zentrale Frage ist jedoch, welchen Bereich das Seiende als Subjekt der Metaphysik umfasst und welches Verhältnis Gott zu diesem Subjekt zugeschrieben wird. Hier gibt es im Wesentlichen zwei Antworten, die als Typenbegriffe zu verstehen sind, denen wesenhaft eine Unschärfe eignet: 1. Metaphysik ist (nur) »insofern Theologie der Philosophen, als sie Gott als die Ursache ihres Subjekts, des Seienden als solchem und im allgemeinen, erschließen kann. Gott wird also außerhalb des Subjekts der Metaphysik gedacht.«20 Dieses Metaphysikverständnis, dessen Wurzeln sich bei Avicenna (Abû ‘Alî Ibn Sînâ) finden, ist somit ein ontologisches. 2. Nach der am häufigsten angenommenen Lösung »gehört Gott zum Betrachtungsbereich dieser Wissenschaft, weil er als das höchste Seiende im Seienden im allgemeinen enthalten ist und darum unter ihr Subjekt fällt«. Dieses Metaphysikverständnis ist also ein onto-theologisches bzw. theologisches. Die Metaphysik droht in theologische Philosophie aufzugehen. Richtungweisend soll hier Averroes (Abû l-Walîd Ibn Ruschd) gewesen sein, der jedoch die Beweise für den ersten Beweger der Physik entnehmen wollte. Von den zahlreichen Vertretern der beiden für unser Vorhaben (einer Ortsbestimmung philosophischer Theologie als thematischer Gegenstand innerhalb der Philosophie) wichtigen Antworttypen seien einige in aller Kürze, ohne auf ihre Ontologien näher einzugehen, vorgestellt: Zunächst gehe ich auf den erstgenannten Typus ein, wonach Gott als Grund des Subjekts der Metaphysik in Frage kommt (4.3.1)21, und danach auf die zweite, wirkungsgeschichtlich bedeutsamste Antwort: In ihr ist Gott entweder eines von mehreren Subjekten (4.3.2)22 oder im Subjekt der Metaphysik mitenthalten (4.3.3)23.
19 A.a.O., 415. 20 A.a.O., 418.
21 A. Zimmermann, a.a.O., untersucht hier neben anonymen Kommentatoren der Metaphysik des Aristoteles die Lösungsvorschläge von Albert dem Großen, Richard Rufus von Cornwall, Thomas von Aquin, Franziskus von Marcia und Richard von Clive, die annehmen, dass Gott Ursache des Subjekts der Metaphysik ist. 22 Hier werden die Auffassungen von Roger Bacon, Gottfried von Aspall, Aegidius von Rom, Petrus Aureoli, Wilhelm von Ockham, Johannes Buridan u.a. untersucht, die annehmen, dass Gott eines von mehreren Subjekten der Metaphysik ist. 23 Von den Auffassungen, die Gott als Teil des Subjekts der Metaphysik ansehen, werden neben anonymen Kommentatoren untersucht: Augustinus Triumphus von Ancona, Petrus von Alvernia, Johannes Quidort von Paris, Alexander von Alexandrien, Johannes Duns Scotus, Antonius Andreas u.a.
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4.3.1 Gott als Grund des Subjekts der Metaphysik
Thomas von Aquin stimmt mit vielen Kommentatoren aristotelischer Metaphysik im 13. und 14. Jahrhundert in der Auffassung überein, dass das Subjekt der Metaphysik das Seiende (ens universale, ens commune) ist.24 Er versteht darunter aber nicht das (als Materialobjekt vorliegende) Seiende in seiner Gesamtheit, alle Seienden, und schon gar nicht das abstrakte Wesen des konkreten Seienden, die Seiendheit, sondern das Seiende, insoweit es seiend ist, d.h. das Seiende in seinem Sein (esse). Dem Seienden kommt Sein jeweils ereignishaft zu und es nimmt an dessen grenzenlosem Reichtum vielfältig teil. In Abhebung von der Physik, die es nur mit materiellem Seienden zu tun hat, wäre demnach die überkommene Metaphysik die wissenschaftliche Ausarbeitung des uns vorgängig immer schon mitgegebenen Seinsverständnisses, sei es des Materiellen oder Immateriellen. Schon dieser Ansatz, der mir ontologisch richtungweisend erscheint, lässt nicht zu, dass Gott im eigentlichen Sinn als ein Seiendes vorgestellt wird, ist es ja doch angemessener zu sagen, »dass Gott über allen Seienden als [dass er] ein Seiendes sei«.25 Da nach Thomas, der hierin seinen Lehrer Albert den Großen weiterführt, Gott keines der Seienden ist, kann er weder Subjekt noch Teilsubjekt der Metaphysik sein. Dann aber stellt sich die Frage, wie Gott in die Metaphysik kommt. In der Diskussion um ihr Subjekt berücksichtigt Thomas (wie auch andere Kommentatoren) im Anschluss an Aristoteles wissenschaftstheoretisch bedeutsame Sachzusammenhänge, die als Vorfragen zur Subjektsbestimmung geklärt sein müssen, nämlich erstens dass das eigentliche Subjekt unseres Erkennens, d.h. das der Wissenschaft und ihrem Beweisverfahren zugrunde liegende, ihr zuvor zugänglich und bekannt sein muss. Daher kann eine Wissenschaft nicht ihr eigenes Subjekt beweisen, sie muss dieses als vorgegeben hin- und annehmen. Auch sollte zweitens das Subjekt einer Wissenschaft nur ein einziger Sachbereich sein, der in seinen Eigentümlichkeiten sowie hinsichtlich seiner gemeinsamen Prinzipien zu erforschen ist. Der Bildung einer einheitlich zusammenhängenden Wissenschaft darf daher nur ein Subjekt bzw. ein Bereich (genus) zugrunde liegen, von dem her sie zu verstehen ist. Im Rahmen der Subjektsbestimmung der Wissenschaft ist drittens von besonderer Bedeutung, dass Wissenschaft als eine Haltung, als ein Sich-Halten und Gehaben (habitus)26 verstanden wird, d.h. als eine Weise, sich in etwas und zu etwas ,ent24 Zum Folgenden vgl. vor allem A. Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik?, 7 f., 11 f., 200 –223. 25 Thomas von Aquin, De nat. gen., c. 1: Licet verius sit, Deum esse super omnes ens quam esse ens. 26 Zum Habitus-Begriff bei Thomas von Aquin vgl. A. Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik?, 201–207; P. Nickl, Ordnung der Gefühle. Studien zum Begriff des habitus, 36–53. Die HabitusPhilosophie des Thomas geht auf Aristoteles zurück: A. Zimmermann, a.a.O., 127–130; M.
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schlossen‘ verhalten zu können, das wir gegenwärtig da haben und aufzuschließen vermögen. Inwiefern? Unter Habitus versteht Thomas in Anschluss an Aristoteles (allgemein kategorial bestimmt) eine Qualität, eine Weise des Wie-Bestimmtseins eines Vermögens (potentia), durch das jemand selbst zu etwas fähig ist, und zwar dazu, etwas gut oder schlecht zu tun. Tugenden oder Laster sind solche Haltungen. Durch sie wird ein Mensch gut oder schlecht. Sie sind also nicht nur Handlungserleichterungen, wie man später meinte, vielmehr wird die Natur seines Trägers vervollkommnet (oder fehlerhaft). Der Habitus ist also nicht nur das Vermögen, wodurch wir etwas können, d.h. jeweils imstande sind, etwas Bestimmtes zu tun, sondern darüber hinaus ist er eine Haltung, die wir zu unseren Vermögen (in und bei ihnen) einnehmen, eine Weise des Verfügenkönnens über die uns gegebenen Möglichkeiten zu sein, kurz: ein Sich-(ver)halten-Können des Daseins zu sich selbst aus der Entsprechung zu dem, was ist. Unsere Haltung kann uns geben, was wir zu tun vermögen: unsere Möglichkeiten ausbilden und so vervollkommnen, aber sie kann Nickl, a.a.O., 19–36. M. Heidegger erschließt in GA, Bd. 18: Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, 172–191, die xiß (hexis; habitus) als ganz fundamentale Seinsbestimmung des eigentlichen Seins bezogen auf den Menschen, der emotional außer Fassung gebracht wird, in verschiedene Lagen gerät, gefährliche Situationen durchmacht, sich selbst aber fasst und wieder seine Fassung findet. Exiß ist ein Haben im Vollzug (enérgeia) des Gegenwärtigseins, und zwar ein »Haben als Haben des Habenden und Gehabten«, »die Bestimmung der Eigentlichkeit des Daseins in einem Moment des Gefaßtseins für etwas«, »eine Seinsmöglichkeit, die in sich selbst auf eine andere Möglichkeit bezogen ist, auf die Möglichkeit meines Seins, dass innerhalb meines Seins etwas über mich kommt, das mich aus der Fassung bringt« (176 f.). In der Sorge um sich selbst ist Hexis ein Sichstellen (Gestelltsein) zum Gehabten, und zwar orientiert am jeweiligen Augenblick (an der Situation) und im Ergreifen der jeweiligen Lage. Das Gefasstsein ist auszubilden durch Offensein für die Situation in Umsicht, durch wirkliches Entschlossensein zu handeln, und hält so die Mitte, auf dass die Sache (im Blick auf die Stimmungen und Missstimmungen) uns »nicht zu viel und nicht zu wenig tut« (186). Das ist dann Tugend (2ret: ein »Gefaßtsein im Sichentschließenkönnen« (xiß proairetik, vgl. EN, B 6, 1106 b 36 ff.). Diese Hexis bringt uns durch ein Öfter-Durchmachen in eine bestimmte Seinsmöglichkeit. Wir haben sie daher nicht von Natur aus. Wenn wir sie auch durch Eingewöhnen einüben und erwerben, ist sie keine Fertigkeit, die wir uns aneignen, um die Überlegung zu entlasten, nicht Betrieb, Routine, also keine starre Gewohnheit (oder moderner ausgedrückt: kein konditioniertes Verhalten). Hexis »ist ein Verfügen über die Echtheit des Verhaltens zu andren und zu sich selbst«, ein wahrhaftiges und unverstelltes ,Da-sein-können‘, das sich so gibt, spricht, denkt und handelt, wie jemand ist – im Gegensatz zum Sichverbergen oder Sichverstellen (264 ff.). Aristoteles bezieht die Hexis nicht nur auf das Handeln und Sein des Handelnden, sondern auch auf das Wissen, die Sachkenntnis (epistéme). Diese ist eine bestimmte Hexis, »ein Gestelltsein zu den daseienden Sachen als solchen«, in der Weise, dass ein konkretes Wissen inhaltlich, in einem bestimmten Ausmaß dauerhaft ausgebildet wird (190). Er unterscheidet zwei Arten der hexis theorias, der theoretischen Haltung: erstens die Sachkenntnis über ein Gebiet (epistéme) und – noch wichtiger – zweitens die Sicherheit im Wie der Behandlungsart (paideía, Ausbildung), das Verfügen über das Reden aus dem rechten Grundverhältnis zur Sache, d.h. aus einem rechten Offensein für den der Sache, ihrem Gehalt und Gebiet entsprechenden methodischen Umgang (209 f.).
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sie auch nehmen. Im Tun des Guten vervollkommnen wir uns, indem wir unsere Möglichkeiten ausbilden und dadurch zum Äußersten dessen gelangen, was wir sein können (ultimum potentiae). Nun können wir auch hinsichtlich des Erkennens einen Habitus ausbilden: Wissenschaft wird als ein Habitus bestimmt, der sich auf das Vermögen des Verstandes (intellectus possibilis) bezieht, da in ihr Einsicht (Weisheit) durch Beweisverfahren hervorgebracht wird. Sie bezieht sich nur auf das, was vom Intellekt natürlicherweise erkannt werden kann. Unser jeweils erkennendes Sichverhalten (habitus) zum vorgegebenen Subjekt einer Wissenschaft entwirft sich hierbei seinen Gegenstand, d.h. den Gesichtskreis (das obiectum formale) der Wissenschaft, innerhalb dessen das Erblickte (obiectum materiale) verstanden werden soll. Hierbei korrespondiert eine Weise des Sichverhaltens einem einzigen Gesamtsubjekt der Wissenschaft, wodurch der Unterschied zu einer anderen Wissenschaft bestimmbar wird. Der wissenschaftliche Habitus ist in einem größeren Zusammenhang zu sehen: Es geht um das, was wir jeweils selbst als Wissende sein können. Thomas versteht den Menschen in der Weite seines ganzen Wesens und Seins aus der Einzigartigkeit seines Sichverhaltens und Bezugs zum Seienden im Ganzen;27 ja der Mensch ist sogar seinem Sein nach in einer bestimmten Weise (quodammodo) selbst dieses Ganze (totum ens), und zwar insofern er sowohl seiner Kapazität nach als auch dem Vollzug nach für dieses Ganze offen ist und sich für es offenhalten kann: Er erkennt das Wahre und lässt sich frei in seinem liebenden Streben von dem, worum es im Daseinsganzen geht, vom Guten, bewegen. Dieser Bezug zum Daseinsganzen ist jedoch kein bloß übersinnlich geistiger, nur intellektueller und willentlicher, sondern er ist nur möglich und vollziehbar durch die sinnliche und leibhaftige Daseinsweise. Die Wahrheit des Ganzen geht einem also nicht ohne das sinnenhafte Gewahren und Wahrnehmen von Seienden auf, die partikulär und partizipativ dem Ganzen angehören und es anwesend werden lassen und darstellen. Aber auch das Streben vervollkommnet sich in den uns leibhaftig-sinnlich bewegenden Leidenschaften der Seele (animae passiones), die wie Zorn oder mitleidiges Erbarmen auch einander (das Sein miteinander) betreffen können. Diese Leidenschaften sind der Stoff (die materia circa quam), aus dem die Tugenden sind. Es besteht also nicht die Aufgabe, die sinnlichen Emotionskräfte zurückzudrängen oder abzutöten, 27 Der wesenhafte Seinsbezug des Menschen wird von Thomas von Aquin öfters angesprochen; beispielsweise hebt er in der 13. Vorlesung des dritten Teils seines Kommentarwerkes zu De anima (nr. 790) hervor: Anima data est homini […] ut sit homo quodammodo totum ens, inquantum secundum animam est quodammodo omnia, quod eius anima est receptiva omnium formarum. »Dem Menschen ist die Seele gegeben […], damit der Mensch gewissermaßen das Ganze des Seienden sei, insofern die Seele gewissermaßen alles ist, weil sie für alle Formen [Wesensgestalten] aufnahmefähig ist.« Vgl. auch a.a.O., nr. 787–789, 284 f., sowie De veritate, q. 1, a. 1, u.ö.
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sondern vielmehr sie zu integrieren. Wird Tugend als ein präsentes Sichhalten im Guten (habitus bonus) verstanden, so eignet ihr wesenhaft eine Leibhaftigkeit. Im Blick auf die angesprochene Sachlage impliziert das Gesagte, dass wir uns zum Dasein im Ganzen (zur Um- und Mitwelt) immer nur in unserer und durch unsere leibhaftig-konkrete Daseinsweise verhalten, und zwar durch ein »System zusammenwirkender Habitusformen«, sodass phänomenologisch das Phänomen Habitus, ausgehend von leibhaftig-gesammelten Haltungen sowie der emotionalen Bewegtheit, zu erkunden ist.28 Diese Haltungen sind selbst Weisen unseres lokalen und situativen Weltaufenthaltes, unseres Sichverhaltens zum Seienden im Ganzen, dem Gegenstandsbereich der ,Metaphysik‘. Dieses leibhaftig und lebensweltlich wahrgenommene Seiende ist aufgrund seines unausschöpfbaren Seins dasjenige, mit dem wir nach Thomas anfänglich schon Bekanntschaft gemacht haben und ein Vorverständnis für alles andere mitbringen, sodass es deshalb auch jeder nachfolgenden Wissenschaft zugrunde liegt und vorgegeben ist. Metaphysik erwächst also nach Thomas aus einem einheitlichen Subjekt und gesamtmenschlichen Sich(ver)halten, zumal der Mensch und nicht ein Denken denkt.29 Nur so genügt sie einem wissenschaftlichen Anspruch. Zu fragen ist nun, wieweit eine solche Metaphysik auch philosophische Theologie (scientia divina) sein kann. Gehört sie nicht zur Vollendung dieser Wissenschaft? Gewiss gehört dazu, dass die Wissenschaft über sich hinaus auch die Ursachen und Prinzipien ihres Sachbereiches (subiectum, genus) erforscht, aber diese können nicht ihr eigentliches Subjekt bilden. Auf diese Weise kommen die »göttlichen Dinge« (res divinae) thematisch (als res consideratae) in den Blick, und zwar aufgrund des Seins, das den Seienden jeweils zuteilgegeben wird. Als anfängliche ,Ursache‘ (causa prima), der es eigen ist, Seiendes zu sein freizugeben, ist Gott oder das Göttliche ganz anders als alle (wirkenden) Ursachen anwesend; er ist »über allen Ursachen«, d.h. im eigentlichen Sinn gar keine Ursache. Er ist Urquell und Anfang des Seins (essendi principium) und wird von da her nur mit ausdrücklichem Vorbehalt causa genannt 30 und 28 Zum Begriff des Habitus und zu den zusammenwirkenden Habitusformen vgl. K. Baier (2008), Spiritualität und religiöse Identität, 196 ff., der die situative Weltlichkeit des Habitus hervorhebt: »Ein Habitus ist als Vermögen des leiblichen Einwohnens und Gestaltens einer Situation immer korrelativ: eine bestimmte Weise leibhaftiger Situationsauffassung verbunden mit der ihr entsprechenden Haltung des Habitus-Trägers. […] Über den Habitus wird die Situation im Praxisfeld durch eine bestimmte Form leiblich affektiven In-ihr-Seins präreflexiv offen gehalten. Er ist eine ganzheitliche Form des Verständnisses, nicht nur eine Denkweise, sondern auch ein System des Fühlens und der Gestimmtheit, das sich in Mimik, Körperhaltung und Gebärden manifestiert.« (196) 29 Thomas von Aquin beruft sich immer wieder auf unsere unmittelbare Erfahrung, dass jeweils dieser Mensch (ich, du, wir) es ist, der denkt; vgl. u.a. Sth I, q. 76, a. 1; De unitate intellectus, c. 3, nr. 216 f., 257 f. 30 Thomas von Aquin, SG l. II, c. 15, nr. 925: Omnibus autem commune est e ss e . Oportet igitur quod supra omnes causas sit aliqua causa sit dare esse. Prima autem causa Deus est; vgl. Sth I., q. 65, a. 3.
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als die nur analog zu verstehende causa universalis des Seins von Seienden erschlossen, also eben nur als Prinzip oder Urgrund, aber nicht seiner eigenen Natur nach. Nun gibt es ja auch eine andere, zweite »Theologie« oder »göttliche Wissenschaft«, die in der Heiligen Schrift überliefert ist. Diese betrachtet die göttliche Natur, wie sie sich von sich aus offenbart. Aber in der Metaphysik, deren Erkenntnisquelle ja nicht die christliche Offenbarung als solche sein kann, kommt Gott nicht als von sich her unmittelbar und direkt offenbares Subjekt vor, wie es vorgängig zu einer wissenschaftlichen Ausarbeitung bekannt sein könnte, sondern das Göttliche ist dem menschlichen Erkennen unumgänglich nur durch das Sein des Seienden und nicht an ihm vorbei zugänglich. Nur die Fragwürdigkeit dessen, was ist, und des Beteiligtwerdens des Seienden am Sein (für uns missverständlich Gottes »Wirkungen« genannt) hat die Philosophen zur philosophischen Theologie geführt, die der theologischen Theologie christlicher Offenbarung vorausgeht. Zusammenfassend lässt sich nun sagen, wie Thomas die drei oben genannten Themen aristotelischer Metaphysik wissenschaftlich zu einer Einheit versammelt sieht, die er in der Vorrede zu seinem Metaphysik-Kommentar31 verdeutlicht: Subjekt der Metaphysik ist das Seiende als Seiendes; jede Wissenschaft sucht aber Gründe; letzter Grund von allem ist Gott; die drei Namen metaphysica (vom Seienden als Seiendem), prima philosophia (von den Ursachen) und theologia (scientia divina: Wissenschaft vom Göttlichen) bezeichnen so ein und dieselbe Wissenschaft. Wenn Gott im Subjekt der Metaphysik nicht enthalten ist, ergibt sich nach dem Gesagten nicht, dass es nach Thomas eine philosophische Theologie als einheitliche, selbstständige und am Ende ontologiefreie Wissenschaft geben könnte, sondern philosophische Theologie gibt es nur aufgrund weiterer radikaler Aufschließung des ontologischen Grundes, wodurch allerdings die Metaphysik erst vollendet wird. Gott ist also weder Subjekt oder Teilsubjekt noch eines von mehreren Subjekten der Metaphysik. Von ihrem Subjekt her lässt sich Metaphysik nicht in Ontologie und natürliche Theologie aufspalten. Metaphysik verfährt auch nicht zirkulär, indem sie vom Seienden als einem Geschöpf (ens creatum) ausgeht, was die Annahme eines Schöpfers voraussetzen würde. Sie geht überhaupt nicht von Gott aus, sondern radikal vom Seienden, und führt zu einer Gotteserkenntnis, die in ein eigentümliches wissendes Nichtwissen um sein Wesen mündet.
31 Thomas von Aquin, In XII Metaph., prooemium.
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4.3.2 Gott als eines unter mehreren Subjekten der Metaphysik
Wie spektakulär die Grundlösung ist, die vor allem Thomas von Aquin vom Subjekt der Metaphysik ausgearbeitet hat, wird deutlich, wenn man beispielsweise die Auffassung des heute in den Blickpunkt der Forschung gerückten Dietrich von Freiberg danebenstellt, die sich nicht weit weg vom Strom christlich-platonistischer Metaphysikdeutung bewegt: »Die Metaphysik betrachtet in erster Linie und hauptsächlich das göttliche Seiende, das aufgrund seiner Wesenheit göttlich ist, nachfolgend aber das andere [Seiende].«32 Hier werden einfach Haupt- und Nebenthema aufgrund des Rangunterschiedes ihrer Betrachtungsgegenstände auf einer Ebene zusammengestellt, wobei Dietrich zwischen der Ordnung der naturhaften göttlichen Vorsehung als dem Subjekt der Philosophie und den göttlichen Willensanordnungen der Vorsehung in der Welt als dem Subjekt der Theologie eine Verbindung sieht. Ähnlich, jedoch mit aller systematischen Gründlichkeit, verfährt Aegidius von Rom. Dieser »getreueste Schüler« des Thomas von Aquin hat, wie Jean-François Courtine feststellt, offenkundig die »grundlegende Inspiration« der Ontologie seines Lehrers verkannt33 und ihm gegenüber »eine völlig neue Gestalt der Ontologie entworfen«, und zwar durch die Weise, »wie er Gott als deren Subjekt in die Metaphysik einbezogen« hat:34 Das eigentliche Subjekt der Metaphysik (principaliter in se et primo) ist das Seiende, insoweit es Seiendes ist. Durch diese Betrachtungsweise ist wiederum die Einheit dieser Wissenschaft gewährleistet. Doch sie umfasst Gott und das Geschaffene. Obgleich die beiden voneinander so entfernt sind, ist ihnen eines gemein: dass sie Seiendes sind. Gott fällt also unter das Seiende, welches das primäre Subjekt der Metaphysik ist. Aber dass Gott als bloßes Seiendes in das Subjekt der Metaphysik einbezogen wird und man einwenden könnte, er entgehe dadurch nicht dem Sinngehalt von Seienden (quod deus non effugiat rationem entis), ist kein Nachteil für ihn, im Gegenteil, da sich bei ihm der Sinn von ‚Seiendes‘ in höchster Ausprägung findet (potissime reservatur ratio entis). Zwar nicht an sich, aber infolge dessen ist Gott das hauptsächliche Subjekt (subiectum principale) der Metaphysik. Die Annahme des Seienden als Hauptsubjekt der Metaphysik hat also zur 32 Dietrich von Freiberg, Fragmentum de subiecto theologiae, 3 (9), in: Opera Omnia, Bd. 3, 281 f.: metaphysica considerat enim primo et principaliter de ente divino, quod est divinum per essentiam, consequenter autem de aliis. Näheres dazu bei K. Flasch, Dietrich von Freiberg, 502–514.
33 Vgl. zur Geschichte der »Ersten Philosophie« bis in die Gegenwart J.-F. Courtine, Suarez et le système de la métaphysique, 136: »en méconnaissant totalement l’inspiration fondamentale de l’ontologie thomiste.« 34 A.a.O., 129: »C‘est donc bien une figure entièrement nouvelle de l’ontothéologique […] qui […] intègre Dieu à la métaphysique à titre de sujet.« Vgl. dazu zustimmend A. Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik?, 12 f., und dessen eingehende Textinterpretation: 168 –185.
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Folge, dass damit ein zweites Hauptsubjekt in den Vordergrund der Betrachtung rückt. Nach Zimmermann versteht Aegidius Romanus die Metaphysik »als Ontologie, die ihrem Wesen nach [natürliche] Theologie ist«,35 und er weist darauf hin, dass Courtine dem Aegidius bescheinigt, »den Konflikt, der sich unmittelbar aus der Dualität der Subjekte (ens secundum ens – Deus) ergibt, nicht befriedigend« auszutragen.36 Die sich hier bereits anbahnende neuzeitliche Trennung von »Ontologie stricto sensu« und »rationaler Theologie« hat erst Hegel in grandioser Weise kritisch zu überwinden versucht, indem er Gott spekulativ als das wahre, d.h. sich selbst denkende Subjekt der Metaphysik konzipierte, das sich selbst im allgemeinsten Sein begrifflich zum Gegenstand macht und diese Selbstentzweiung in sich dialektisch versöhnt. Eine Lösung, welche die keineswegs nur scheinbare Zwiespältigkeit einer Metaphysik mit zwei konkurrierenden Primärsubjekten, Ontologik und Theologik, völlig unterläuft, sei wegen ihrer Geschichtsmächtigkeit noch erwähnt: die Wilhelm von Ockhams.37 Auch er nimmt dem Wortlaut nach als Subjekt der Metaphysik das Seiende im Allgemeinen und Gott als Subjekt natürlicher Theologie an. Aber er entgeht der Problematik konkurrierender Subjekte durch seine wissenschaftstheoretisch (und im Grunde auch anthropologisch) völlig andersartige Auffassung vom wissenschaftlichen Sichverhalten, die er schon bei Johannes Duns Scotus andiskutiert vorfand:38 Ein 35 A.a.O., 12. 36 Ebd., 12. Vgl. J.-F. Courtine, Suarez et le système de la métaphysique, der bei Aegidius auf die folgenschwere, von Thomas abweichende Einbeziehung Gottes in das Subjekt der Metaphysik hinweist (129): »C’est […] méme principal, sans que le conflit, qui résulte immédiatement de cette dualité de sujets (ens secundum quod ens – Deus) ne soit résolu de maniére satisfaisante […].« 37 A. Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik?, 14 f., 389–398. Vgl. auch J. P. Beckmann, Wilhelm von Ockham, 48–134, und ders., Nihil notum nisi complexum. Von der Sach- zur Satzwissenschaft am Beispiel der Metaphysik. Für die Differenz von Sach- und Satzwissenschaft bezieht sich Beckmann (267) auf Ockhams Unterscheidung: »Das [Subjekt], was gewußt wird (id quod scitur), ist nicht dasselbe wie dasjenige, worüber oder wovon etwas gewusst wird (id, de quo scitur aliquid). Ersteres sind Sätze, letzteres Sachverhalte oder Dinge. Gewußt im eigentlichen Sinne werden nicht Dinge, sondern Sätze.« Daher der Denkgrundsatz: »Nichts [ist] gewusst, wenn nicht als complexum.« Complexum ist das Ergebnis der Verwendung von Begriffen als Terme und ihrer Verknüpfung im Satz. Realwissenschaft (scientia realis) hat es dem entsprechend »nicht mit Dingen, sondern mit den für sie stehenden Gedanken zu tun«. Beckmann urteilt: »Mit dieser Verschiebung der Referenz von Dinglichem auf Gedankliches etabliert sich ein neues semantisches Problemniveau: Die Frage nach dem Wirklichkeitsbezug der Erkenntnis wird möglich und aktuell im Medium des Begriffs und unter Rekurs auf die Sprache.« Schon zu Beginn des 14. Jahrhunderts erreicht die Entwicklung der »Metaphysik auf modallogischer und semantischer Grundlage« ihren Höhepunkt. (279) – Der moderne linguistic turn und mit ihm die sprachanalytische Philosophie beruhen auf einem metaphysikgeschichtlichen Ereignis, das mit Ockham seinen großen Anfang nimmt. Unter Abkehr von dem, was vorprädikativ zur Rede steht und sie möglich macht, rückt der sprachlogisch angemessene Ausdruck in das Zentrum philosophischen Interesses. 38 A. Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik?, 303; zum Verbleiben Ockhams innerhalb der
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Habitus des Erkennens ist immer nur einer einzigen Schlussfolgerung zugeordnet und gehört gar nicht immer notwendig zur selben Wissenschaft. Er erstreckt sich auf den jeweils bewiesenen Schlusssatz als Ganzen. Subjekt kann in einer Wissenschaft nur das grammatische Subjekt des gewussten Satzes sein. Damit wandelt sich Wissenschaft, wie Jan P. Beckmann ausgeführt hat, »von der Sach- zur Satzwissenschaft«. Der Metaphysik bleibt nur mehr die Möglichkeit, »von den die kategoriale Begrifflichkeit übersteigenden Fundamentalprädikaten«39 her gebildet zu werden. Die Gemeinsamkeit ihrer Prädikate ist der hinreichende Grund, Aussagen (propositiones), in denen sie vorkommen, ein und derselben Wissenschaft zuzuordnen. Ist Metaphysik nicht mehr Wissenschaft von dem, was ist, so stellt sich die Frage, wie die allgemeinen Aussagen, die über Dinge gemacht werden, beschaffen sind. Metaphysik wird zur »Wissenschaft von den Bedingungen der Möglichkeit der Rede von Seiendem, und d.h.: des Gebrauchs des transkategorial verwendbaren Begriffs ,seiend‘. […] Theorie der Prädikabilität von ,seiend‘ […].«40 Sie hat kein vorgegebenes Subjekt; sie entspringt nicht daraus, dass der Mensch in seinem Gesamtverhalten und Sagen dem Sein entspricht. Ihr Gegenstand ist nicht mehr das Seiende als Seiendes (ens qua ens), sondern das Seiende, insofern es als ein Seiendes (ens inquantum est ens) ausgesagt wird.41 Sie gilt nur mehr als Theorie der Grammatik des Prädikats ,seiend (ens)‘. Aussagen von der Art »Socrates est ens« besagen nicht, Sokrates sei ein weltoffenes Seiendes oder ein Seiender, sondern einfach, dass über Sokrates gesagt wird, er existiert, es gibt ihn, er kommt vor (in der Geschichte).42 Alle diejenigen Sätze gehören zur Metaphysik, in denen der Begriff (terminus) »seiend« verwendet wird. Seiend sagen wir auch von Gott, der nicht nicht-sein kann, aus.43
Struktur des skotischen Metaphysikkonzeptes vgl. auch L. Honnefelder, Woher kommen wir?, 133–154; P. Nickl, Ordnung der Gefühle, 96–115: »Die Aushöhlung des habitus-Begriffs bei Scotus und Ockham.« Entsprechend der gespenstischen Annahme der absolutistischen Allmacht Gottes (potentia Dei absoluta) wird dem Menschen eine Art potentia absoluta zugedacht; er ist wesentlich aktiv, nur innengeleitete Freiheit, nur willentliche Selbstbestimmung, wenn auch noch in Verbindung mit der passiven, weil von außen, durch Objekte bestimmten Vernunft. Insgesamt wird so die menschliche Natur depotenziert und einem tieferen Verständnis des habitus der Boden entzogen. 39 J. P. Beckmann, Nihil notum nisi complexum, 279. 40 Ebd. 41 A.a.O., 275 f. 42 Vgl. J. P. Beckmann, Wilhelm von Ockham, 127, 72, 90 f. 43 Im Rückblick auf die Metaphysik als Satzwissenschaft mag sich nicht zu Unrecht der Verdacht regen, dass die allgemeinsten und dem Umfang nach weitesten Begriffe der Metaphysik, wie Sein und Seiendes, nur nichtssagende Leerformeln sind, die mit jedem beliebigen Inhalt ideologisch aufgefüllt werden können und nichts anderes darstellen als Hypostasierungen der Kopula ,ist‘ zu platonistischen Entitäten.
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Wenn wissenschaftliches Sichverhalten immer jeweils nur einen gewussten Schlusssatz zum Subjekt hat, besteht jede Wissenschaft aus einer Vielzahl von Subjekten, und zwar sind es so viele, wie sie eben Gegenstände zählt, von denen etwas bewiesen wird. Wissenschaft ist die geordnete Menge solcher gegenstandsbezogener Verhaltensweisen. Ihre Einheit – und das gilt auch für die Metaphysik – kann deswegen nicht einmal durch das Aggregat ihrer zahlreichen Verhaltensweisen gebildet werden, sondern notwendigerweise durch etwas anderes: durch die spezielle gegenseitige Ordnung, in der von einer Wissenschaft die Rede ist, die sich aus dem Sprachgebrauch ergibt. Ihre Einheit ist die eines Kollektivs (unitas collectionis): eine Ansammlung oder Mengenbildung, für die Ockham Bürgerschaft, Volk, Heer, Reich, ja sogar Welt als Beispiele anführt. Eine Wissenschaft hat so viele Subjekte, wie sie Teile hat. Das Seiende, nunmehr eindeutig als »Begriff« gefasst, bezeichnet Gott und die Geschöpfe auf univoke Weise, und so bildet die Metaphysik eine Ordnung der Prädikation und Attribution. Die Seienden können auch unter dem Gesichtspunkt der Vollkommenheit betrachtet werden. Innerhalb der Ordnung der Vollkommenheiten des Seienden muss dann Gott als ihr erstes Subjekt bezeichnet werden. Innerhalb der metaphysischen Ordnung der Prädikation und Attribution, die mit dem Terminus »Seiendes« das umfangslogisch weiteste und so erste begriffliche Subjekt bildet, ist Gott das erste Subjekt der Vollkommenheit. Gott, der ein Teilsubjekt (subiectum partiale) der Theologie ist, ist (auch) unter dem Seienden enthalten, das ein Teilsubjekt der Metaphysik ist.44
4.3.3 Gott als Teil des Subjekts der Metaphysik Das herausragende Ontologie- und Metaphysikverständnis des Johannes Duns Scotus ist für unsere systemimmanente Ortung philosophischer Theologie von größter Bedeutung, da es sich, wie vor allem Ludger Honnefelder aufgewiesen hat, um einen epochenübergreifenden neuen und völlig eigenständigen Entwurf von Metaphysik handelt, der neben Thomas von Aquin und über ihn hinaus geradezu zu einem »zweiten Anfang der Metaphysik«45 im 13. und 14. Jahrhundert wurde und über Francisco de Suárez zu den einflussreichsten Deutungen der Ersten Philosophie im neuzeitlichen Denken bis zur Gegenwart gehört. Man begegnet in Duns Scotus einem kühnen konstruktiven Denker mit einer von Phänomenen nahezu unbeschwerten Behändigkeit argumentativer Kraft. Wie der neue Anfang sich langsam und noch 44 A. Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik?, 397 f. 45 L. Honnefelder, Der zweite Anfang der Metaphysik.
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recht uneinheitlich im Laufe der Lehrtätigkeit des zu Recht Doctor subtilis Genannten auch in der Frage nach dem subiectum metaphysicae herauskristallisiert hat, wurde von Honnefelder46, Zimmermann u.a. sorgfältig erschlossen, sodass hier nur auf die Ergebnisse einzugehen bleibt. Subjekt der Metaphysik ist bei Duns Scotus wie bei den anderen Kommentatoren aristotelischer Metaphysik das Seiende. Aber dieses Seiende wird nicht wie bei Thomas von Aquin reduplikativ als seiend, dieweil ihm Sein ereignishaft zukommt, ursprünglich verstanden, sondern mit Blick auf den das Existierende ermöglichenden Wasgehalt. Wie jedes Ding gemäß seiner Washeit betrachtet werden kann, so kann auch »das Seiende im Allgemeinen« gemäß seiner Washeit ganz allgemein (überkategorial) betrachtet werden. Dadurch erhält man den Begriff der Seiendheit (entitas) des Seienden.47 Das Seiende, insoweit es Seiendes ist (ens in quantum est ens), wird als Seiendheit washeitlich spezifiziert. Der ,Sinn von Sein‘ (die formelle ratio entis) wird damit verbegrifflicht und in äußerster Abstraktheit festgehalten: Die Seiendheit ist etwas widerspruchsfrei gerade noch Denkbares und nicht nichts. Man könnte meinen, die Seiendheit sei nichts als eine leere Gedankenkonstruktion, doch besitzt der Gedanke der Seiendheit 1. den Vorteil, etwas, wenn auch nur minimal, doch immerhin Gewisses für den Anfang des Denkens erreicht zu haben, 2. ist mit der Seiendheit des Seienden die Denkbarkeit des Seienden im weitesten Sinne vorentworfen und damit wird 3. die Gegenständlichkeit aller widerspruchsfrei denkbaren Gegenstände als der Bereich der Ersten Philosophie abgesteckt, d.h. das allererste und adäquate subiectum metaphysicae ist damit gewonnen. Die Seiendheit als der allerallgemeinste Erstbegriff der Metaphysik ist so umfassend, dass in ihm Gott und alles von ihm Geschaffene zu denken sind. Der Begriff ist zugegebenermaßen derart inhaltsleer und abstrakt, dass von jeglicher weiteren Bestimmung abgesehen werden muss, aber dadurch kann er einsinnig (univok) und in gleicher Weise von Gott und dem Geschöpf ausgesagt werden. Der Begriff der Seiendheit ist dem entsprechend in sich einfach und unauflösbar (was auch die Einheit dieser ersten Wissenschaft gewährleistet). Eine analoge Gotteserkenntnis würde dagegen, wie Scotus es sieht, neben den Begriff Gottes den Begriff des Geschaffenen stellen. Dann hätte man zwei Begriffe und das leidige Problem von zwei Subjekten 46 Neuerdings zusammenfassend: L. Honnefelder, Johannes Duns Scotus, 48–55; ders., Woher kommen wir?, Kap. 5: »Wie ist ,Erste Philosophie‘ möglich? Der zweite Anfang der Metaphysik im Mittelalter«, 85–113. 47 A. Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik?, 324. J. Duns Scotus, Quaest. super Elench., Q. 1, c., ed. Viv., Bd. II, 1 b: Nam philosophia prima considerat ens inquantum ens est, unde considerat rem secundum suam quidditatem, et quia quidditas rei est entitas per se rei, ideo philosophia prima […] considerat ens secundum suam entitatem.
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der Metaphysik würde sich erneut ergeben. Dass hingegen der Begriff des Seienden als Seiendheit univok ist, besagt, er bedeutet weder Gott noch das Geschaffene, sondern er ist in Gott und im Geschöpf, im Unendlichen sowie im Endlichen eingeschlossen. Die Frage ist, wie sich Gott näherhin zum Subjekt der Metaphysik verhält. In der Theologie ist der Gott der Offenbarung das Subjekt. Das ist er aber nicht in der Metaphysik, die eine auf natürliche Weise erworbene Wissenschaft ist. Hier ist Gott wohl Betrachtungsgegenstand und die Seiendheit Ausgangspunkt der natürlichen Gotteserkenntnis. Nun gilt, dass das erste und adäquate Subjekt einer Wissenschaft virtualiter die Erkenntnis aller Wahrheiten, die in ihr Gegenstand der Betrachtung sind, unmittelbar oder mittelbar erkennbar enthält. Also muss die Seiendheit als Subjekt der Metaphysik die Erkenntnis Gottes virtualiter einschließen. Die bloß ontologische Begrifflichkeit wird Gott nicht gerecht, sondern begreift ihn nur in unbestimmter Weise (confuse), und zwar so, wie durch den Begriff des Sinnenwesens der Mensch erkannt wird. Um Gott in seiner Besonderheit zu erkennen, muss dann etwas hinzukommen, das aber den Begriffsumfang des Subjekts der Metaphysik nicht überschreiten kann. Der philosophische Gottesbeweis zeigt es, nämlich »dass es etwas in Wirklichkeit unter den Seienden gibt, das schlechthin Erstes in der Ordnung der Wirkursächlichkeit« ist.48 Die Metaphysik betrachtet viele Eigentümlichkeiten, die Seienden unmöglich zukommen können, wenn sie nicht von der ersten Ursache dieser Seienden her stammen (wie Endlichkeit, Abhängigkeit, Nicht-Notwendigsein). Daher kann Metaphysik beweisen, dass Gott als erste Ursache (causa prima) aller übrigen Seienden existiert. Gott kann aber nicht Prinzip oder Ursache des Subjekts der Metaphysik sein, weil er als Seiendes unter Seienden und neben den geschaffenen Seienden unter das unüberholbare Subjekt der Metaphysik fällt. Damit schließt sich Duns Scotus der damals am häufigsten vertretenen und dem System philosophischer Wissenschaften immanenten Ortsbestimmung natürlicher Gotteserkenntnis an: »Die Auffassung, nach welcher Gott irgendwie im Seienden als dem Subjekt der Metaphysik eingeschlossen gedacht wird, gewinnt bei Skotus ihre folgerichtigste und auch geschichtlich wirksamste Gestalt.«49 Mit der neuen Subjektbestimmung der Metaphysik wandelt sich auch der theoretische Habitus, er wird intellektualisiert und unterminiert. Peter Nickl spricht von einer »Aushöhlung des Habitus-Begriffs bei Scotus«:50 »Die Leidenschaften werden nicht 48 A.a.O., 327. J. Duns Scotus, Ord. I, d. 2, pars 1, q. 2, nr. 41, ed. Vat., Bd. II, 149, l. 13–15: ostendam, quod aliquid est effectu inter entia, quod est simpliciter primum secundum efficientiam. 49 A. Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik?, 329. 50 P. Nickl, Ordnung der Gefühle, 55–96.
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im sinnlich, sondern im vernünftig strebenden Seelenteil – also nicht im appetitus sensitivus, sondern im Willen« primär angesiedelt.51 Es sind vom Körperlichen abgeschnürte passiones spirituales, geistige Leidenschaften. Das hat für den Habitus-Begriff die Folge: »Die Sinnlichkeit rückt an den Rand des ethischen Interesses […].«52 »Für Scotus ist der Mensch wesentlich nur Freiheit, die allenfalls die Sinnlichkeit an sich partizipieren läßt.«53 Da die menschliche Natur hinter dem geistigen, dem freien Akt der Selbstbestimmung zurücktritt, verlagert sich in der Folge das ethische Interesse »von der Güte des handelnden Subjekts zur Güte der Handlung. Habitus und Tugend als ausgezeichnete Seinsweisen der menschlichen Natur verlieren an Bedeutung«.54 »Eine auf Kant vorausweisende Wende in der Moralphilosophie kündigt sich an: Nicht Menschen sind in erster Linie gut oder schlecht, sondern Handlungen.«55 Nicht die Natur des habitus-Trägers vervollkommnet sich, sondern alles ist auf den Akt konzentriert, auf die willentliche Wahl einer Handlung als einer die Handlung selbst qualifizierenden Tätigkeit.56 Duns Scotus und der Skotismus wurden dem in der Neuzeit vorherrschenden Entwurf der Metaphysik weitgehend zum Schicksal. Dessen Metaphysik hat nicht zunächst das Seiende als das, was ist, zu ihrem thematischen Hauptgegenstand, sondern die neu, als existenzunabhängig verstandene Sachheit (res) hinsichtlich ihrer Wesenheit oder Washeit (quidditas), und zwar sofern sie eine innere Eignung zum Existieren besitzt. Das Seiende als solches als der Primärgegenstand der Ersten Philosophie ist das widerspruchsfrei Denkbare und somit das in sich logisch Seinsmögliche. Diese Washeit der Sache ist ihre Seiendheit (entitas). Mit der Seiendheit ist das Seiende in seiner allgemeinsten, washeitlichen Bedeutung erfasst, nämlich insofern es noch irgendwie ein Etwas und nicht nichts ist. Dieses nur begrifflich-abstrakt vorstellbare Allerallgemeinste der Seienden kann nun univok, völlig indifferent gegenüber allem und jedem, unterschiedslos und farblos von Gott und Geschöpf, von allen möglichen und wirklichen, ja sogar von idealen Dingen ausgesagt werden. Aus diesem seiner Herkunft nach skotistischen Seinsentwurf und vor dem Hintergrund der ungelöst verbleibenden Spannung, die Gott als höchstes Seiendes unter die Seienden im Allgemeinen zählt, kristallisiert sich für das Unterrichtsfach Metaphysik eine folgenschwere Systemaufgliederung heraus.
51 A.a.O., 55. 52 A.a.O., 57. 53 A.a.O., 96. 54 A.a.O., 77. 55 A.a.O., 60. 56 Ebd., 60 ff.
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Der Primärgegenstand der Metaphysik ist jetzt das denkbar Generellste – bei Duns Scotus das »schlechthin Allerallgemeinste« (communissimum simpliciter) –, das inhaltlich-thematisch speziellere Anwendungen finden kann. Unter dieser Vorgabe konnte man später eine Metaphysica generalis (allgemeine Metaphysik oder Formalontologie) von den möglichen Hauptfällen ihrer speziellen Anwendung, der Metaphysica specialis (inhaltliche, materiale Metaphysik), unterscheiden. Die spezielle Metaphysik gliedert sich nun nach ihren drei Hauptthemen Gott, Mensch und Welt (bei Kant die Ideen der reinen Vernunft) in drei Disziplinen: Theologia naturalis, Psychologia rationalis (die spätere philosophische Anthropologie) und Cosmologia (die spätere Naturphilosophie). Man kann schematisch das aristotelische und das ,skotistisch‘ beeinflusste Paradigma einander gegenüberstellen. Die Pfeile im aristotelischen Schema (links) deuten die Richtung des Grunddenkens an. Das Dreieck im skotistischen Schema (rechts) deutet inhaltlich auf die Verbindung der metaphysischen Gegenstände (Gott – menschlicher Geist – Natur) hin, die unter das formale abstrakte Seinsverständnis subsumiert werden:
Anthropologie, Kosmologie Mensch Welt
Ontologie Sein, Ursachen, Grund
allgemeine Metaphysik
(= Formalontologie)
spezielle Metaphysik (= Materiale Ontologie) Gott (natürliche, rationale Theologie)
theologische Philosophie
Gott
Geistseele (rationale Psychologie)
Welt, Natur (Kosmologie)
Im neuen Disziplinenentwurf hat das Weltverständnis eine Verengung erfahren. Die Welt wird ontisch verstanden als Verknüpfung endlicher, von Gott geschaffener Dinge. Diesem Weltbegriff geht die antike lebensweltliche und christlich-existenzielle Bedeutung ab, die er etwa bei Augustinus oder Thomas von Aquin noch hatte. Damit zeichnet sich die Bruchlinie zwischen Geistsubjekt und Natur (Materie) ab, vor allem aber auch die Bruchlinie zwischen der formal ausgehöhlten Ontologie und der zu einem Gegenstandsbereich unter anderen herabgesunkenen philosophischen Theologie. Die allge-
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meine Metaphysik reduziert sich auf ein abstraktes, formales Begriffsdenken oder »synthetische Urteile apriori« bei Kant; sie mutiert »von der Sach- zur Satzwissenschaft« (J. P. Beckmann). Gott wird zu einem Sonderfall unter den anderen als möglich denkbaren Seienden oder Gegenständen. Vorgezeichnet ist damit, dass die philosophische Theologie als »rationale« Subdisziplin innerhalb spezieller Metaphysiken zur Sonderthematik für Liebhaber herabsinkt, was zu ihrem Einsturz beitragen musste. Rückblickend kann im Metaphysikverständnis des Thomas von Aquin etwas Richtungsweisendes gesehen werden, insofern die Fragwürdigkeit des Seienden in seinem Sein für ein Grunddenken offen ist. Vor allem darf das, was Philosophie theologisch thematisiert, nicht zu einem monströs vorgestellten Seienden unter anderen herabgesetzt werden, welches als die höchstdenkbare seiende Wirkursache das ,Sein‘ erklären soll. Das Sein, das so als hergestellt (ins Sein ,gesetzt‘) vorgestellt wird, verkommt zum bloßen Existieren des faktisch Vorhandenen, das mindestens ,meta-physisch‘ irrelevant erscheint. Dieses bloß Faktische, das Tatsächliche bzw. Nur-Vorhandene wird nun systemkonform vom ontologisch relevanten Erkennen ausgeklammert, das sich kontrafaktisch mit dem Möglichen, insofern es sein kann, befasst. Folgerichtig kann die Bedeutsamkeit der Jeweiligkeit des Seienden von seinem Sein (d.h. Anwesen und ereignishaften Gewährtsein) her nicht zur Sprache kommen. Sogar das ,Ek-sistieren‘ ist kein ab alio sistere mehr, kein Heraus- und Hervortreten, Wirklichwerden und so phänomenales Auftauchen des Seienden in Teilnahme am Sein. Das sich zeigende Seiende ist kein von sich her In-die-Erscheinung-Tretendes, kein zum eigenen Sein im Sinne von Anwesen Kommendes, das so aus der ihm verliehenen Ursprünglichkeit zum Bestehen kommt. Das ereignishafte Begründen und Begründetsein des Anwesenden in seinem erfahrbaren Anwesen gerät außer Sicht. Was solchem Denken damit entgeht, ist, dass darin jeweils alles liegt und sich der Erfahrungsweg eines verlässlichen theologischen Grundverständnisses öffnen kann. Überhaupt kann die Dimension des Abgründigen und Unergründlichen des Seinsgrundes selbst, insoweit es dem Seienden im Ganzen Grund gibt – eben zu sein –, doch kein Thema sein, das man neben Anthropologie und Kosmologie so betreiben kann, dass man irgendeine Berechtigung hätte, es vom Fragwürdigsten der Metaphysik im Ganzen abzutrennen und in eine »spezielle Metaphysik« abzuschieben.57 Soll metaphysisches Denken einen Sinn haben, so darf man es nicht (wie paradigmatisch im skotistischen Ansatz) von der Seinserfahrung, der Erfahrung ungeteilter Gegenwart der Seinsfülle (und damit grundsätzlich von unserer Daseins- und Selbsterfahrung in der Leibhaftigkeit unseres Bezugs zu Anderen in der Welt), losreißen. 57 Vgl. dazu W. Brugger, Summe einer philosophischen Gotteslehre, 28 f.
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Es wäre vielmehr die ontologische Grund-Erfahrung weiter auszulegen (,weiter‘ auch unter Einbeziehung der Praxis der Religionen) in dem, was sich in ihr ursprünglich mitzeigt und auf-geht. Erweist sich diese Grund-Erfahrung des Seins (das nicht kurzschlüssig zu vergöttlichen ist!) nun weiter auslegbar in ihrer ,Tiefe‘ als das unendlich Heilige, Göttliche oder Gott, so expliziert philosophische Theologie den Grund der Ontologie; sie denkt ihn noch ursprünglicher und vollendet so die Ontologie. Es dürfte daher zutreffend sein, dass philosophische Theologie die Ontologie weiterführt, oder – will man doch (wenngleich missverständlich) von Metaphysik reden – dass sie die Ontologie im Sinne einer Ersten (d.h. anfänglichen und ursprünglichen) Philosophie, die auf das Ganze und den diesem entsprechenden Grund geht, vollendet.
4.4 Die ganze Philosophie als im Grunde philosophische Theologie?
Philosophische Theologie sucht nicht eine Frage, die es neben anderen Fragen auch gibt, zu beantworten. Sie besteht nicht in einer Ansammlung von unzusammenhängend aufgerafften Einzelargumentationen (Gottesbeweisen), die zu den vielen Gegenständen des Denkens eben auch diesen ,übersinnlichen‘ hinzufügen möchte. Sie bildet keinen innerphilosophischen Fachbereich neben anderen, der den übrigen Fächern der Philosophie wie das angestückelte Ende eines schlecht gebauten Dramas angehängt werden könnte. Vielleicht kann aus der Philosophie Hegels, wie aus kaum einer anderen, gelernt werden, dass es in der ganzen Philosophie um nichts anderes als um Gott selbst geht. Überhaupt ist für Hegel jede Philosophie (auf ihre Weise) das Sich-selbst-Erfahren und Sichbegreifen des Absoluten, das daher dem Philosophen nicht etwas Fremdes sein kann: »Hegels Philosophie ist selbst ein einziger systematischer Gottesbeweis und will als solcher verstanden werden.«58 Man muss mit Hegels ontotheologischem Grundgedanken und totalitaristischbegriffslogischer Systementfaltung nicht übereinstimmen, um dieses Motiv einer inneren Zusammengehörigkeit der philosophischen Sachgebiete aus einem gemeinsamen Ursprung würdigen zu können. Auf eine gewisse Weise kann die ganze Philosophie als der Gottesbeweis, d.h. Aufweis des grundgebenden ,An-wesens‘ eines unendlich Heiligen, Göttlichen oder Gottes, verstanden werden. Es geht innerphilosophisch, trotz der Aufgliederung in einzelne Disziplinen, immer nur um dasselbe Ganze und denselben Grund eben dieses Ganzen (jedoch nicht um Selbigkeit im Sinne begrifflich-allgemeiner Identifizierbarkeit!), andernfalls würde 58 J. Flügge, Die sittlichen Grundlagen des Denkens. Hegels existentielle Erkenntnisgesinnung, 120.
,Metaphysik‘ als Ort des Grunddenkens theologischer Philosophie
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Philosophie in isolierte Fachbereiche zerfallen. Wenn auch die Tendenz zur Aufspaltung in Einzeldisziplinen besteht, kann philosophische Theologie doch nicht als Sonderdisziplin Bestand haben. Im Grunde und aus dem Grunde des Ganzen durchdringen alle philosophischen Sachgebiete einander. Sie verweisen daher alle auf den einen und letzten Grund, ohne dass die Verständnisweisen dieses Ganzen damit festgeschrieben wären. Schon methodisch ist Philosophie als Phänomenologie ursprünglicher Erfahrung ein Einweisen in die ursprüngliche Erfahrung der Sache, die (sich) unausschöpfbar zu denken gibt, und so ist sie auch ein Denken des Ursprungs der Erfahrung selbst, letztlich denkende Mystagogie in das Mysterium des Seins. Entfaltet Ontologie das Seinsverständnis des Seienden, so doch insofern Seiendes am Sein teilnimmt und im Sein abgründig gründet. Philosophische Anthropologie thematisiert mit der Weltoffenheit des Menschen sein ,Ek-sistieren‘, d.h. Hinausstehen miteinander in den Offenheitsbereich des Seienden in eben dieser abgründigen Gegründetheit des Seins. Ethik bedenkt das Ursprüngliche der Aufgabe bzw. des Anspruchs, der uns ins Sein miteinander und in die dem entsprechende Weltverantwortung ruft. Sprachphilosophie bedenkt das Unsägliche im ursprünglich sagenden Wort der Sprache. Ja sogar philosophische Logik (nicht Logistik!) hätte die integrale Systemgestalt des Grunddenkens darzustellen usw.59 Alle philosophischen Sachgebiete verweisen so auf ihre Weise in den Grund und somit in das Unsagbare des Ursprungs. Aus dem Gesagten ergibt sich, dass philosophisches Denken auch dort, wo es nicht ausdrücklich-reflex von Gott spricht, sozusagen ,anonym‘ auf das Unergründliche und den letzten Ursprung als das, was bleibend zu denken gibt und daher dem Denken immer bevorsteht, bezogen ist.60 Philosophische Theologie erwächst so aus der Philosophie als Vollendung und Krönung der gesamten philosophischen Denkbewegung und ist in ihr gewissermaßen der Gottesbeweis, insofern er ausdrücklich-reflex thematisiert wird. Daher kommen für ein angemessenes Verständnis der Fragen philosophischer Theologie nicht nur wie bisher hervorgehoben Ontologie, sondern sämtliche anderen philosophischen Sachgebiete mit in Frage; besonders aber sind es Religionsphilosophie und Ethik, die in ihrem Verhältnis zur philosophischen Theologie noch besondere Berücksichtigung finden sollen. 59 Zur Logik des Grunddenkens siehe unten 6.4.3.2 f). 60 Bemerkenswert ist hier die Auffassung des Thomas von Aquin, SG, lib. III, cap. 25, nr. 2063: philosophia tota [sic!] ordinatur ad Dei cognitionem. Die Hinordnung der gesamten Philosophie (des gesamtmenschlichen Erkennens) auf die Gotteserkenntnis besagt, dass in allem Erkennbaren diese Gotteserkenntnis impliziert ist, vernünftige Wesen diese aber explizit erfassen können: De ver., q. 22, a. 1: omnia cognoscunt implicite Deum in quolibet cognitio, und De ver., q. 22, a. 2, ad 5: sola creatura rationalis est capax Dei, quia ipsa sola potest ipsum cognoscere et amare explicite.
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5. Philosophische Theologie in enger Nachbarschaft zur Religionsphilosophie bzw. zu den Religionswissenschaften Das topologische Problem, um das es hier geht, besteht darin, wie das Verhältnis von philosophischer Theologie und Religionsphilosophie zu bestimmen ist. Die damit aufgeworfenen Fragen sind für die Gesamtperspektivierung einer zukünftigen philosophischen Theologie von größter Bedeutung, weil ja angenommen werden kann, dass mit Religionen und Religiosität jene Phänomene in bevorzugter Weise zum Vollzug kommen und angesprochen werden, denen philosophische Theologie inhaltlich begegnet und denen sie ihrem Wesen nach auf den Grund zu kommen sucht. Wenn Menschen in den Religionen das Geheimnis ihres Daseinsgrundes verehren oder dessen inne zu werden suchen, was philosophischer Theologie zu denken gibt, dann verändert und weitet sich deren Aufgabe radikal, sobald sie in der globalisierten Welt der Vielzahl von Religionen gerecht werden will. Damit erhebt sich die Frage, ob philosophische Theologie sich nicht überhaupt in eine andere, neuere Disziplin, nämlich die Religionsphilosophie, zu verlagern hat. Religionsphilosophie hat sich schon seit der europäischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts als »Philosophie der Religion« geradezu in Nachfolge der Rationaltheologie zu einer Teildisziplin der Religionswissenschaft herausgebildet, die heute im weitesten Sinn neben Religionsgeschichte ontisch-deskriptive Religionsphänomenologie, Religionssoziologie, Religionsethnologie, Religionsgeographie und -statistik, Religionspsychologie, Religionsökologie, Religionsökonomie, Religionsästhetik etc. umfasst.1 Religionsphilosophie kann und muss hierbei im Sinne einer wichtigen »Brü ckendisziplin« zu diesen religionswissenschaftlichen Einzeldisziplinen verstanden werden, die in ihnen nicht als bloße Teilwissenschaft aufgeht, sondern sie mit der Philosophie und ihrem Grunddenken verbindet.2 Religionswissenschaft entspricht dadurch in einer globalisierten Welt den Anforderungen der Interdisziplinarität. Philosophische Theologie begegnet uns auch innerhalb der Religionswissenschaften, und zwar als ein zur theoretischen Kultur bestimmter Religionen gehöriger ,Gegenstand‘ (heute v.a. im Christentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus). Sie wird aber dadurch nicht von Religionswissenschaften beiseitegedrängt, sodass sie als eigenständige Disziplin verschwinden müsste, vielmehr rückt sie in die Mitte religionsphilosophischen Interesses, insofern auch sie sich mit Prinzip und Wesen der Vielfalt von Religionen auseinandersetzen muss. Die externe Sichtweise (das bishe1 Dazu einschlägig vgl. die Einleitung in die Religionswissenschaft von J. Figl in: Handbuch Religionswissenschaft, 17– 80. 2 A.a.O., »Religionsphilosophie als Brückendisziplin«, 48–51.
Philosophische Theologie in enger Nachbarschaft zur Religionsphilosophie
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rige ontisch-historische Vorkommen philosophischer Theologie) widerspricht nicht der erweiterten internen Sichtweise (ihrem philosophischen Prinzipienstatus), die hinsichtlich ihres Gegenstandsbereiches unabgeschlossen ist: Religionen sterben ab, wandeln sich und entstehen neu. Dennoch bliebe zu klären, ob philosophische Theologie der Religionsphilosophie einfach als Teilgebiet einzugliedern ist oder ob sie für diese nur unter bestimmter Hinsicht unentbehrlich ist, aber auf Grund ihrer ontologischen Fundierungsmöglichkeit aus ihr herausfällt. Wenn auch von der Gesamtperspektivierung beider Disziplinen her durchaus eine Differenz der Aufgaben herauszuarbeiten ist, zeigen sich die beiden Disziplinen als Gesprächspartner doch engstens verbunden. Zur Klärung dieser topischen Fragen ist eine Gemeinsamkeit in der Thematik zu erzielen: Das religionswissenschaftliche Verständnis des Gesprächspartners ist zu erheben (5.1). Dann kann auf Differenz und Überschneidung der Interessen einer theologisch zentrierten Philosophie und einer Philosophie, die in einer multikulturellen Weltsituation auf Religionen und Religiosität ausgerichtet ist, eingegangen werden (5.2). Die Unumgänglichkeit der fundierenden Ontologie, welche die Eigenart theologischer Philosophie bestimmt, spielt (wie überall in den Wissenschaften) auch in die Religionswissenschaften hinein, und zwar in Gestalt zumeist unthematisierter und unreflektierter Vorgegebenheiten. An einem brisanten Paradigma typisch religionsphilosophischer Fragestellung, der Problematik interreligiöser Kommunikationspraxis angesichts der Geltungsansprüche der Religionen, wird jenseits von Totalitarismus und extremem Pluralismus auf die Notwendigkeit eines integralen Ganzheitsverständnisses im Verhältnis von Eins- und Vielessein hingewiesen. Dieses Verständnis ist ontologisch auszuweisen (vgl. den vierten Exkurs) und zugleich von höchster Bedeutung für Fragen sowohl philosophischer Theologie als auch der Religionsphilosophie.
5.1 Zum religionswissenschaftlichen Religionsverständnis
Eine grundlegende Aufgabe der Religionsphilosophie ist die Klärung ihres Gegenstandsbereiches innerhalb der Religionswissenschaften und zusammen mit ihnen. Ihr ,Religionsbegriff ‘ soll ja als gemeinsame Gesprächsgrundlage die interdisziplinäre Forschung verbinden. Ohne Klärung des gemeinsamen Religionsverständnisses können Teilresultate religionswissenschaftlicher Fachwissenschaften nicht wissenschaftlich fundiert einander ergänzend zusammengeführt werden. Die Problematik dieser Begriffsbildung beginnt schon damit, dass das Wort religio kein adäquates Äquivalent in anderen Sprachen besitzt. Nicht einmal seine Etymologie ist eindeutig gesichert, wenngleich anregend: so die Ableitung von religio aus relegere, mit gewis-
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Sachprobleme systematischer Ortsbestimmung philosophischer Theologie
senhafter Sorgfalt beachten, und zwar: immer wieder ,lesen‘ (legere), durch- und zusammennehmen. Dieser etymologischen Ableitung kommt ein gewisser Vorzug zu. So wurden nach Cicero diejenigen, »die alles, was mit der Verehrung der Götter (ad cultum deorum) zu tun hatte, sorgfältig ausübten und gleichsam immer wieder erwogen (relegere), als religiosi (gottesfürchtig?) bezeichnet«.3 Vermutlich ist vornehmlich im Sinne römischen Rechtsdenkens an kultische Verpflichtungen und deren gewis4 senhafte Beobachtung gedacht. Sehr wichtig erscheint auch die Ableitung des »christlicher Cicero« genannten Laktanz, der u.a. Lehrer von Crispus, des ältesten Sohnes Konstantins, in Trier war. Er lehnte Ciceros Ableitung von religio von relegere ausdrücklich ab: »Unter dieser Bedingung nämlich werden wir geboren, dass wir dem Gott, der uns generiert hat, rechten und schuldigen Gehorsam erweisen, ihn allein anerkennen und ihm folgen. […] Wir sagen, der Name Religion ist vom Band der Frömmigkeit herzuleiten, weil Gott den Menschen an sich gebunden und durch Pietät mit sich fest verbunden hat.«5 Religio besagt demnach re-ligare, zurückbinden. Jüdisch-christliches Verständnis assoziiert mit dem Band (vinculum) den Bundesschluss Jahwes mit seinem geliebten und auserwählten Volk. Daran knüpft die heute noch geläufige Sachbedeutung von Religion als Verbundenheit des Menschen mit Gott oder dem Göttlichen an, die häufig, ausgehend vom Sichbinden des Menschen, diese als Zurückbindung des (gefallenen) Menschen an Gott ausgelegt hat.6 Die Schwierigkeit des wissenschaftlichen Religionsverständnisses liegt darin, eine befriedigende Bestimmung des Gegenstandsbereiches des Faches zu finden, die auf eine nicht-eurozentrische Weise den verschiedensten Religionen gerecht wird. Dabei wird 3 M. T. Cicero, De natura deorum II, 72 (lat.-dt. Ausgabe, 226 f.): omnia quae ad cultum deorum pertinerent, diligenter retractarent et tamquam relegerent, sunt dicti religiosi ex relegendo […]. 4 Es mag als Frage offenbleiben, inwieweit mit relegere der religiöse Grundakt angesprochen wird: Legere,,lesen‘, besagt zunächst ,sammeln‘, Stück für Stück wegnehmen, (mit den Händen) zusammennehmen, weit ausholend etwas zusammenbringen (wie im Deutschen Trauben-, Ährenlese), hier jedoch als religiöser Grundvollzug: sich behutsam sammeln, sich immer wieder zurückholen lassen, hellhörig und gegenwärtig werden und so erneut offen für die Nähe des uns als Numen (göttliches Geheiß, Walten der Gottheit) Angehenden. 5 L. C. F. Lactantius, Divinae Institutiones, IV, 28 (CSEL, Bd. 19, 388 –391): hac enim condicione gignimur, ut generanti nos deo iusta et debita obsequia praebeamus, hunc solum noverimus, hunc sequamur. […] Diximus nomen religionis a vinculo pietatis esse deductum, quod hominem sibi deus religaverit et pietate constrinxerit […]. 6 Schon der späte Augustinus (Die Retractationen in zwei Büchern. Retractationum libri duo, I, 12, 9) geht für die Deutung von religio nicht von Gott, sondern vom Menschen als Subjekt der Religiosität der Religion aus: »Streben wir doch hin zu dem einen Gott, […] um unsere Seelen mit ihm allein zu verbinden (religantes animas nostras), woher, wie man glaubt, auch das Wort Religion abgeleitet ist.«
Philosophische Theologie in enger Nachbarschaft zur Religionsphilosophie
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1. ein Spagat angestrebt zwischen der geschichtstheologischen und religionsphilosophischen Bestimmung der Religion als einer Realisierung transzendenter Wahrheit auf der einen Seite und auf der anderen Seite jener Geschichts- und Kulturphänomene, die primär humanwissenschaftlichen Disziplinen zugänglich sind. Religionen können sich einerseits als besondere Gaben Gottes oder des Göttlichen an die Menschheit bzw. als relativ verpflichtende Heilswege erfahren und erscheinen andererseits als allzu menschliches Machwerk: »Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen.«7 2. Zwar erscheinen Versuche seit der frühen Aufklärungsphilosophie, eine Art »natürliche« Religion zu rekonstruieren, indem sie ein abstrakt-allgemeines Ensemble von zu realisierenden Lehren als die »wahre« Religion herauszudestillieren suchten, als völlig überholt. Damit sollten konfessionelle Auseinandersetzungen der Offenbarungsreligion unterlaufen werden. Die Entgegensetzung kehrt jedoch in neuer, nunmehr erfahrungsgesättigter Gestalt in der Spannung von Natur-, besser: Elementarreligionen und politisch gewendeten Stifter- und Offenbarungsreligionen wieder, wobei sich die definitorischen Grenzen zwischen den beiden Größen verschieben können. Als extremes Beispiel für die Verwerfung aller anderen Religionen außer der eigenen als Naturreligionen sei die mimetische Religionskritik und -theologie angeführt. Aus ihrem Verständnis christlicher Offenbarung wirft sie den rein natürlichen Religionen vor, sie sakralisierten die Gewalt. Erst durch die christliche Menschwerdung Gottes werde die natürliche Religion aufgelöst. Dieser ordnet Gianni Vattimo im Anschluss an René Girard auch noch die ,Metaphysik‘ zu.8 Da Metaphysik in der ,natürlichen‘ Theologie gipfelt, wäre damit ihr Schicksal besiegelt. In Weiterführung des alternativen Slogans, ,Religionen sind Menschenwerk, nur christliche Offenbarung ist Gotteswerk‘, wird jedoch verkannt, was Religionen einander kritisch zu sagen haben und ihrerseits positiv bringen können.9 Prekäre Absolutheitsansprüche und vorschnelle Verallgemeinerungen stehen vorurteilsloser Feldforschung historischer und rezenter religiöser Phänomene anderer Kulturen in der Vielfalt ihrer Erscheinungen im Wege und umgehen sie. 3. Dennoch bleibt der Spannungsbogen, und zwar der zwischen substanzialistischem und funktionalistischem Religionsverständnis. Er bietet einen guten Ansatz zur diffe7 K. Marx/F. Engels, MEGA2, Abt. I, Bd. 2: Zur Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie. Einleitung (1982), 170. 8 G. Vattimo, Glauben – Philosophieren, 33, 41, 45, 48, 54, 60, 62, 65, 82, 96, 100, 102, 111; neuerdings R. Girard/G. Vattimo, Christentum und Relativismus. 9 Vgl. hierzu U. Tworuschka (Hg.), Die Weltreligionen und wie sie sich gegenseitig sehen.
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Sachprobleme systematischer Ortsbestimmung philosophischer Theologie
renzierten Vermittlung des Definitionsproblems. Diesseits von substanzialistischem bzw. essenzialistischem Religionsbegriff besteht der Anspruch, das Wesentliche (Essenzielle) bzw. Wesen und ,Unwesen‘ religiöser Phänomene inhaltlich zu erfassen. Religion als gesamtmenschliches Sichverhalten des Menschen10 wird von dem her definiert, worauf sie bezogen ist: nicht primär auf Vorstellungen über die Erfahrung, sondern auf die zur Erfahrung kommenden überlegenen Mächte und Gewalten (Übermächte), auf das numinos Waltende, auf das Heilige und Göttliche, das fasziniert und erschüttert, auf das einen unbedingt Angehende, woran alles liegt (des Absoluten), oder auf das Allumgreifende, in dem wir sind und das uns zugleich überschreitet (des Transzendenten), weiter: auf die (tiefste) Tiefe im Antlitz der Welt, die zugleich größte Weite schenkt, und auf das Erhabenste (Hehre, Herrliche), das uns erhebt – auf den (höchsten) Himmel, den Strahl der Ewigkeit im Augen-Blick usw.11 Zur Religion gehören des Weiteren die Weisen, in denen Menschen über die alltäglichen Verrichtungen hinaus diesen Widerfahrnissen entsprechen und auf sie selbstständig kreativ zu antworten vermögen. Ihnen verdanken sie so die Möglichkeiten zu Meditation, Gebet, kultischen Festen und Feiern mit Dichtung und Gesang, Musik und Tanz, Opfer etc. Was sich dem Menschen im Grunde seines Daseins als ein Uranfängliches und Letztes zeigt, dem entspricht er in einer Mannigfaltigkeit der Weisen der Einstellungen, des Durchstimmtseins und der Haltungen: in das Unaussprechliche versunken, überwältigt, hingerissen, bewundernd; er wirft sich zu Boden oder umarmt seinen Nächsten; er betet an, klagt und fleht, er musiziert und tanzt, er deutet seinen Glauben und erkundet ihn so. Die Lebenswelt der Religion bildet die unüberholbare Basis, die in und außerhalb der verschiedenen Religionen philosophisch und auch theologisch bedacht wird. Auf dieselbe Basis beziehen sich die Fachwissenschaften, welche die Religionen partikulär aufgesplittert in einem multi- und interdisziplinären Großunternehmen zum Gegenstand machen. Durch sie ergeben sich andersartige, eben spezielle, fachgebundene Verständnisweisen und Vorschläge zur Definition der Religion. Sie bestimmen die Religion zumeist von der Funktion her, die sie für den Menschen innerhalb seiner Kultur 10 Zur Gesamtmenschlichkeit gehört, dass wir im religiösen Ergriffensein immer eine Leibes-Haltung einnehmen. Ritualisiert kann sie das Interesse der Forschung so nach sich ziehen, dass die Gefahr besteht, über der Antwort das, worauf geantwortet wird, zu vernachlässigen. Hier ist nicht der Ort, das Wesen des religiösen Habitus zu durchleuchten, dem allgemeine Überlegungen zur Leibhaftigkeit jedes menschlichen Anwesens ,unter dem Himmel‘ vorhergehen müssten. Dazu vgl. K. Baier, Sitzen. Zur Phänomenologie einer spirituellen Grundübung, 245–254. 11 Die Frage, wie die vielen Namen das eine namenlose und unaussprechliche Geheimnis nennen, ist hier nicht weiter zu erörtern, vgl. dazu J. Figl, Gibt es eine transkulturelle Einheit der verschiedenen Gottesvorstellungen? Universalreligiöses Selbstverständnis und religionsphilosophische Deutung.
Philosophische Theologie in enger Nachbarschaft zur Religionsphilosophie
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einnimmt (beispielsweise Religion als gemeinschaftsstiftend, als die Gesundheit fördernd oder als Mittel zur Kontingenzbewältigung). Von daher lassen sich auch noch religionsähnliche bzw. -analoge Gebilde (beispielsweise in Politik, Sport, Werbung, Geldwesen) erschließen. Resultate fachwissenschaftlicher Religionswissenschaft können durch multidimensionale Definitionen der Religion nicht ohne Weiteres synthetisiert werden und so einander unvermittelt ergänzen, da zur ,Er-gänzung‘ fachwissenschaftlicher Sichtweisen erst ein Vorblick auf das von ihnen ausgeklammerte Ganze und Wesen notwendig ist. Es wäre unwissenschaftlich, diesen Vorblick der bloßen Intuition zu überlassen und auf die Möglichkeiten wissenschaftlicher Ausarbeitung dieses Gesamtverständnisses, wie es der Philosophie und Theologie der Religion eigen ist, zu verzichten. Religion wird in der funktionalen und kontextuellen Methodik spezieller Religionswissenschaften (wie Religionssoziologie, -psychologie) »nicht aus sich selbst heraus bestimmt, sondern von dem her, was sie [ihrem Wesen nach] nicht ist, im Ausgang von den gesellschaftlichen oder individuellen Zusammenhängen, in denen sie steht«.12 Eine Reduktion der Religion auf ihre Funktionen (als -Ismus der Funktionen, reduktionistischer Funktionalismus) wäre daher unwissenschaftlich, weil sie die phänomenologische Maxime ,Zu den Sachen selbst‘ willkürlich einschränkt. Ein meines Erachtens tragfähiger Definitionsvorschlag von Johann Figl verbindet Religionen im substanzialen und funktionalen Sinn integral (nicht integralistisch!). Er weist auf eine Gemeinsamkeit der beiden Zugangsweisen hin: Es geht in beiden Fällen um Erfahrungen, »die die gewöhnliche (alltägliche) Erwahrungswelt transzendieren und als solche in einer letzten Bedeutsamkeit (ultimate concern) erlebt werden. Der Unterschied zwischen beiden definitorischen Zugängen besteht darin, dass die erstere Transzendenz- bzw. Absolutheitserfahrung im Zusammenhang mit Religionen und Religiosität im herkömmlichen Sinn geschieht, während Letztere ohne direkten Bezug dazu, also außerhalb von institutionellen Religionen erfahren werden kann, die gleichwohl ,religiösen‘ Charakter […] haben.«13 Das gestattet die Unterscheidung einer expliziten und einer impliziten Religion, wobei Letztere gewissermaßen »freischwebend«, nicht institutionalisiert ist. Im Blick auf das Wesen wie auch auf die sich stets wandelnde Mannigfaltigkeit konkreter Religionen setzt Figl bei der »Religiosität« der Religion an: beim »existentiellen Bezug zu einer transzendenten Wirklichkeit«, von der als einer Art Faszinosum der Mensch angezogen wird.14 Konstitutiv für Religion sind noch die zusätz12 D. Pollack, Was ist Religion? Problem der Definition, 178. 13 J. Figl, Handbuch Religionswissenschaft, 76. 14 J. Figl, Universalistische neureligiöse Bewegungen. Prolegomena zu einem angemessenen Religionsbegriff, in: Fides quaerens intellectum, 70.
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lichen Merkmale: 1. (lehrmäßige) Interpretation, 2. kultische bzw. soziale Praxis und 3. soziale (institutionell-gemeinschaftliche) Strukturierung und Tradierung. Der Bezug zur lebendigen Wirklichkeit des Gottes bzw. Göttlichen wird als »Transzendenzerfahrung« angesprochen. Unter dieser ist »zunächst und allgemein das Erfahren einer Wirklichkeit gemeint, die die Normalwelt bzw. die durchschnittliche, die alltägliche Erfahrung dieser Welt übersteigt« und freilich immer »auch im Zusammenhang mit der ,faktischen‘, der vorgegebenen Realität erfahren wird«.15 In diesem Definitionsvorschlag erscheint mir wichtig, dass Figl für das Religionsverständnis nicht von der ,Selbsttranszendenz‘, dem wesenhaften Sich-Überschreiten des Menschen (zu irgendetwas, das höheren Sinn macht), ausgeht und die reflexe Erfahrung dieses Transzendierenden nicht von vornherein subjektivistisch verankert, sondern dass er von der Erfahrung einer »Wirklichkeit« (oder vorsichtiger: »letzten Bedeutsamkeit«) ausgeht, welche die Gegebenheiten unserer eigenen Welt übersteigt bzw. uns anzieht und zu sich erhebt. Es überkommt uns ein Anspruch, dessen Eigenart, uns in Anspruch zu nehmen, mannigfaltig zur Sprache kommen kann. Spricht man von Religion, so ist weiter zu klären, was unter transzendenter Wirklichkeit näherhin zu verstehen ist, wobei die oben genannten Zusatzmerkmale der Religion zu beachten sind.
5.2 Differenz und Zusammengehörigkeit von philosophischer Theologie und Religionsphilosophie
Mit diesem religionsphilosophischen und für die interdisziplinäre Arbeit offenen Definitionsvorschlag stellt sich das Problem der Einbeziehung philosophischer Theologie in die Religionsphilosophie (und damit in die Religionswissenschaften) oder umgekehrt, der Einbeziehung religionswissenschaftlicher Resultate (über die Brücke der Religionsphilosophie) in die philosophische Theologie, erneut. Ein beachtenswerter Entwurf, die philosophische Theologie in die Religionsphilosophie einzubringen, um so die Religionsphilosophie auf ihre philosophischtheologische Grundlegung hin zu erweitern, stammt von Bernhard Welte.16 Er ist systematisch insofern bestechend, als er das Verhältnis von Gott zum Menschen und vom Menschen zu Gott in seiner Untrennbarkeit zur Darstellung bringt, sodass nicht mehr nur in direkter Hinsicht von Gott und nur beiläufig vom Menschen die Rede ist oder umgekehrt, nicht mehr nur in direkter Hinsicht menschliches Sichverhalten 15 Ebd. 16 B. Welte, Religionsphilosophie.
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(Einstellungen, Verhaltensweisen und Gestaltungen) unter der Bedingung, dass der Mensch sich zu etwas Höherem verhält, in die Mitte rückt. Doch ist diese glatte Lösung, welche die philosophische Theologie der Religionsphilosophie eingliedert, problematisch. Philosophischer Theologie kommt nicht unmittelbar die Aufgabe zu, zu fragen, worum es eigentlich in den Religionen geht und was Religion letztlich begründet, sondern sie fragt, worum es im Grunde dessen, was überhaupt ist, geht. Philosophische Theologie überschreitet so wesentlich jede Religionsphilosophie. Religiös sein und Religion haben ist in all seinen Facetten eine Möglichkeit, die im Bezug des Menschen zum Sein gründet. Dieser Allbezug des Menschen ist nicht kurzschlüssig zu überspringen. Philosophische Theologie als Weiterentfaltung der Ontologie hat es notwendig mit ontologischen Implikaten bzw. Vorgegebenheiten zu tun, die unmittelbar kein Thema der Religionsphilosophie sind, wie beispielsweise deren Rede von einer ,letzten Wirklichkeit‘, die (elaborierbare) Kenntnis ontologischer Realität voraussetzt. Die in den Religionen brisanten Fragen nach einem letzten Wahrsein, Gutsein, Schönsein, nach Zusammengehörigkeit und Differenz, Einssein und Vielfältigsein der Religionen etc. zehren implizit von einem ontologischen Vorverständnis. Die Frage nach dem Grund des Seins des Seienden bzw. nach dem Menschen als dem für das Sein der Welt offenen Wesen überschreitet nicht nur die vom Reichtum der Religionen bestimmte Aufgabenstellung der Religionsphilosophie, sondern geht ihr sachlich voraus. Philosophische Theologie ist in einem nachbarschaftlichen Verhältnis zur Religionsphilosophie systematisch zu orten. Sie erschöpft sich nicht als Teilbereich der Religionsphilosophie, weil sie durch ihre ontologische Fundierung durchaus eigenständig ist. Das enge nachbarschaftliche Verhältnis der philosophischen Theologie zu den Religionswissenschaften ist freilich für sie nicht ohne Folgen. Es ist dialogisch wahrzunehmen. Philosophische Theologie kann an der heterogenen Mannigfaltigkeit religiöser Erfahrungen der Menschheitsgeschichte und an deren ontologischen Implikaten nicht vorbeigehen. Ihre Thematik wird daher auch indirekt durch das, worum es in den Religionen eigentlich geht, bestimmt. Aus der Nachbarschaft mit der Religionsphilosophie (sofern diese den Religionswissenschaften zugezählt wird) müsste daher auch die Aufgabe der philosophischen Theologie neu durchdacht werden. Vermutlich hat philosophische Theologie ihre Aufgabe nur teilweise erfasst, wenn sie sich überwiegend dem Erbe antiker Philosophie verpflichtet weiß und es ursprünglicher zu denken sucht. Durch die weltumspannende Makroökumene der Religionen wächst der philosophischen Theologie eine neue, sie ausweitende Aufgabe zu. Sie müsste konstruktiv und nicht ängstlich abwehrend mitbedenken, worum es eigentlich in den verschiedenen Religionen geht, beispielsweise im Erlöschen des
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Nirvâna, im allumfassenden Brahman, im Weg des Tao. Philosophische Theologie müsste sich als Gesprächspartner des Religionsphilosophen mit Erfahrungen, Daseinsdeutungen und Lebenspraktiken der Religionen auseinandersetzen. Sie ist damit in die brisante Problematik der ,Geltungsansprüche‘ der Religionen in ihrem Verhältnis zu- oder gegeneinander hineingezogen, die unmittelbar nicht ihr Thema sind: in die Modellrekonstruktionen des Pluralismus/Superiorismus/Inklusivismus/ Exklusivismus der Religionen und Religiositäten.17 Lassen sich religiöse Traditionen global als Teile oder Teilbereiche eines Systems rekonstruieren, die selbst wiederum systembildend und -transformierend weiterwirken, dann kommen grundsätzlich verschiedenste Möglichkeiten, im Verhältnis von Ganzem und Teil, Einssein und Mannigfaltigsein, in Frage. Auf diese Problematik sei kurz eingegangen, denn es lässt sich paradigmatisch leicht zeigen, dass in ihr unausweichlich ontologische Weisen eines Vorverständnisses – nicht ohne praktische Brisanz – walten.
5.3 Religionsphilosophisches zur Hinterfragbarkeit interreligiöser Kommunikation und Geltungsansprüche
Zunächst seien (etwas schematisiert) drei der wichtigsten religionsphilosophischen und -theologischen Grundmodelle interreligiöser Einheit und Vielheit vorgestellt, wie sie zur interreligiösen Kommunikation als maßgebend angesehen werden, und danach wird eine vierte Möglichkeit der integralen (nicht integralistischen!) Wahrung und Entfaltung ihrer legitimen Anliegen (Wahrheitsansprüche) erörtert. 1. Der theoretisch-ideologische Exklusivismus in gemäßigter Form nimmt an, dass der eigenen Position alle Wahrheit und positive Heilsrelevanz zukommt, mag es auch außerhalb der einzig wahren Religion individuelles Heil (ausnahmsweise oder auf außerordentliche Weise) geben. Der Exklusivismus, radikaler gefasst, hegt einen Absolutheitsanspruch. Aus ihm folgert man, dass die anderen Religionen überhaupt in der Unwahrheit stünden und ihre Mitglieder vom Heil ausgeschlossen seien. Jedenfalls seien die anderen Religionen nichts als (mitunter respektables) Menschenwerk. Auch können sie faktisch ignoriert werden oder unbekannt sein, aus dem religiösen Vollzug ausgeblendet (pragmatischer Exklusivismus) oder überhaupt im fundamentalistischen Größen-, Eifersuchts- und Verfolgungswahn als zu bekämpfende Übel angesehen werden. 17 Vorerst sei hier übergangen, dass zu ihnen wohl auf sie bezogene Phänomene, die unter ,Atheismus‘ oder Religionsverlust zu subsumieren sind, wie skeptische Atheismen oder nicht-antitheistische Agnostizismen gezählt werden müssten, aber auch atheistisch oder religiös motivierte Religionskritik und Religionspathologie.
Philosophische Theologie in enger Nachbarschaft zur Religionsphilosophie
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2. Der Inklusivismus billigt anderen Religionen ursprüngliche Wahrheit und echte Heilsmöglichkeit zu, die als eigene Teilwahrheiten angesehen oder vereinnahmt werden. Zunächst lassen sich Religionen bei Berücksichtigung der jeweiligen religiösen Sozialisationssituation für Einzelne als existenziell verbindliche und (relativ) unersetzliche gemeinsame Heilswege verstehen, weil in ihnen jeweils die Wahrheit des Ganzen im Fragment (oder ,Gotteswort im Menschenwort‘ und in menschlicher Institutionalisierung) gegeben ist. Dass die eigene Religion in einem alle anderen Religionen überbietenden Höchstmaß Wahrheit und Heilsmöglichkeit besitzt, nähert den Inklusivismus der Position eines gemäßigten Exklusivismus an, insofern zwar nicht an dessen Absolutheitsanspruch, aber doch an einem Superioritätsanspruch festgehalten wird. Die Intoleranz ist im Inklusivismus beachtlich gemildert, da nicht nur das Gewissen Anderer, sondern auch der ihnen eigene Bezug zur Wahrheit respektiert und ihren religiösen Wegen Heilsrelevanz zugebilligt wird. Ja in der Position eines sehr gemäßigten Superiorismus wird anerkannt, dass andere Religionen bestimmte Wahrheiten besser als die jeweils eigene Religion erkannt haben und auch authentischer leben. 3. Im Pluralismus wird die Mannigfaltigkeit der Religionen als eine ,gottgewollte‘ oder letzte Realität vermittelnde kontingente Gegebenheit verstanden. Alle Religionen (mindestens die großen Weltreligionen) bilden so in gleicher Weise sich kulturell unterschiedlich manifestierende bedeutsame Heilswege: »Religiöser Pluralismus ist das Ergebnis der göttlichen Selbstmitteilung im Wort und den vielfältigen Weisen, in denen Menschen auf das Göttliche antworten. Weil die Menschen von Natur aus gesellschaftliche Wesen sind und in der Geschichte stehen, können wir sagen, dass die verschiedenen Religionen verschiedene gesellschaftliche und historische Antworten auf die göttliche Manifestation im Wort sind. Der religiöse Pluralismus ist daher kein Übel, dessen wir uns entledigen müssten, sondern eine unausweichliche Situation, die es zu tolerieren gilt. Die anderen Religionen haben einen bleibenden Wert, der eher anerkannt, bewahrt und gefördert werden muss, denn abgeschafft werden dürfte.«18 Die positive Hinnahme der Pluralität der Religionen impliziert die Folgerung, dass keine Religion berechtigt sei, einen Superioritätsanspruch oder gar Absolutheitsanspruch zu erheben und andere Religionen herabzumindern. Denn absolut ist nur das Absolute, um das es in allen Religionen geht, und dieser Bezug zum Unbedingten ist ihnen nur auf mannigfaltige Weise (nach ihrer kontingenten Aufnahmefähigkeit) gemeinsam. Daher kann wenigstens prinzipiell keine Religion ihre Wahrheit (und Praxis) auf Kosten der Wahrheit (und Praxis) der 18 J. Kavunkal, Mission in the Context of Other Religions, 918.
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anderen behaupten. Der Pluralismus kann Religionen nur als kulturgeschichtliche, mehr oder weniger nur bedingt verbindliche Manifestationen ein und desselben an sich unfassbaren Unbedingten bzw. der transzendenten Realität verstehen. Plädiert die religionsphilosophische Position des Pluralismus für die unbedingte Hinnahme kultureller Diversitäten, dann entgeht ihr leicht der kritische Blick für Entstellungen der eigenen Religion in Theorie und Praxis, ebenso die ständige Aufgabe der läuternden Selbstkritik der eigenen Religion sowie der kritischen Hilfestellung der Religionen im Gespräch miteinander. In seiner relativistischen Abwandlung bringt der Pluralismus die Gefahr eines panoptischen Relativismus mit sich, der metatheoretisch eine Gleichwertigkeit und gleiche Gültigkeit der Ansprüche der Religionen behauptet und so in eine Gleichgültigkeit im Sinne teilnahmsloser Beliebigkeit des Verhaltens abzugleiten droht. Er kann sich auch selbst als eine Art die Religionen überschwebende und durchschauende Überreligion verstehen. Dem Pluralismus geht es um die unverkürzte, irreduzible und unhintergehbare geschichtliche Mannigfaltigkeit. Er wird ihr nicht gerecht, wenn er die Religionen wie ein vorhandenes Symbolkapital oder Weltkulturerbe eines globalen Marktes betrachtet und verkennt, dass wir es heute unausweichlich mit einem globalen Ineinander der Religionen zu tun haben, deren Koexistenzmodus uns neue, sensible und existenziell relevante Probleme aufgibt. In der heutigen Diskussion werden diese drei Standpunkte, die man wohl nicht zufällig als -Ismen (Exklusiv-ismus, Inklusiv-ismus, Plural-ismus) bezeichnet, meist gegeneinander ausgespielt und für unvereinbar gehalten. Dadurch scheinen mir die Integrationsmöglichkeiten der unveräußerlichen Wahrheit jeder dieser drei Positionen eher unterbelichtet. Sie könnten aber im Licht der jeweils anderen Wahrheit sich neu vertiefen und so gewinnen. Dazu kommt, dass die interreligiöse Begegnung in ihrer ganzen Breite, vom Gespräch (kein neuer -Ismus, auch kein »Dialogismus«!) bis hin zu verantwortbaren Weisen der Teilnahme am religiösen Vollzug miteinander (der sogenannten communicatio in sacris bzw. in spiritualibus), ein Reichtum wäre, der bedenkenswerte Mannigfaltigkeit entbirgt. Zunächst müsste das berechtigte Anliegen des Exklusivismus gewahrt werden, aber ohne ihn wiederum auf der Theorieebene als -Ismus zu vertreten. Ich gehe davon aus, dass es heute für die Mehrheit der Menschen faktisch noch eine eindeutige Herkunftsreligion gibt und nicht überall der Religionsverlust die Ausgangslage bildet. Hat jemand seine Herkunftsreligion eindringlich als einen verpflichtenden Heilsweg erfahren, dann kann sein Religionswechsel wie ein Ausweichen, eine Flucht und Prothesenbildung erscheinen und man kann sagen, dass er dadurch in einer anderen Religion kaum unbefangen sein Heil wird finden können. Es kommt nicht darauf an, was alles religiös interessant ist, sondern was existenziell von Interesse ist.
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Das ist die existenziell-praktische Wahrheit des Exklusivismus. Ich übersehe dabei nicht, dass der Religionswechsel bei Ausschluss einer doppelten Religionszugehörigkeit eine Notmaßnahme sein kann. Vorrangig geht es im Exklusivismus um eine Vertiefung bereits bestehender eigener Verwurzelung, um Festigung des Wurzelwerkes und dessen verwandelnde Weitung. Erst durch eine Verwurzelung in der eigenen Religion kann einem aufgehen, dass und wie andere, ja überhaupt alle Religionen einander (keimhaft, anonym) enthalten und wie sie in Dialog und kritischer Auseinandersetzung einander immer mehr durchdringen könnten, indem sie die Wahrheit des Inklusivismus bejahen, die vom Exklusiven des Exklusivismus befreit, sodass er aufhört, nur das Eigene zu suchen. Die Entdeckung der Zusammengehörigkeit einiger, ja aller Religionen bringt die eigene nicht in eine Konkurrenzsituation, sondern in ein neues Licht und lässt ihre Weite erkennen. Wesentlich ist, dass die Angehörigen der eigenen Religion nicht aus der berechtigen Sorge um die wahre Verehrung des Göttlichen, Heiligen, Absoluten oder Unbedingten zu nur mehr sich selbst zelebrierenden wahren Verehrern ihrer eigenen Gruppe mutieren. Ihnen könnte vielmehr aufgehen, dass die Wahrheit des Ganzen in ihrer Unergründlichkeit nur im Fragment, im ,Stückwerk‘ (rätselhaft wie in einem Spiegel oder als ,Gotteswort im Menschenwort‘ sowie menschlich institutionalisiert), gegeben ist. Beachten wir mit den Pluralisten, dass Religionen (insbesondere Stifterreligionen) geschichtlich einzigartige Heilswege (in selbst wieder kulturell mannigfaltigen Ausprägungen, beispielsweise Konfessionen) sind, die insgesamt auf dem Weg der Menschheitsgeschichte deren Heilsgeschichte darstellen. Ihre Vergleichbarkeit untereinander erscheint dann nur sehr begrenzt, was sich theoretisch in der Schwierigkeit widerspiegelt, einen nicht-analogen und eindeutigen Religionsbegriff sowie interreligiöse Fallstudien komparativer Theologie zu erstellen. Darin liegt kein Mangel der Religionswissenschaften, sondern hier wird deutlich, dass Religionen nicht die Verwirklichung eines abstrakten Allgemeinen darstellen, sondern so etwas wie singuläre Gebilde sind, die wie berühmte Berggipfel unserer Erde einander überragen. Sie überragen einander aber nicht durch ihre messbare Höhe, sondern qualitativ durch ihre Einzigartigkeit, die ihre Vergleichbarkeit einschränkt, weil sie einen unersetzlichen, einzigartigen und einander ergänzenden Reichtum tradieren und kreieren. Sucht man die religiöse Vielfalt und den Reichtum der Religionen ernsthaft zu würdigen, dann kann man auch keinen -Ismus des Pluralen (Pluralismus) vertreten, denn eine Absolutsetzung der großartigen Pluralität ist ihr ebenso abträglich wie die Absolutsetzung einer einzigen Religion, da die dadurch erstellte totalitaristische Einheit auf dem Weg synkretistischer Verschmelzung oder durch uniformierende Unterordnung (Subordination) schließlich in einen Beliebigkeitspluralismus verfällt.
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Kann anerkannt werden, dass das Ganze der Wahrheit aller Religionen in jeder einzelnen nur fragmentarisch anwesend ist, dann wird verständlicher, dass keine Religion auf die Dauer nur für sich bestehen und auf eine Begegnung mit anderen Religionen verzichten kann. Religionen sind vielmehr einander gegeben, um einander in die je immer größere Heilswahrheit einzuweisen. Sie können dann bei voller gegenseitiger Anerkennung ihres unersetzlichen, geschichtlich einzigartig gewachsenen Andersseins (und das wäre die unverzichtbare Wahrheit des Pluralismus!) nicht mehr statisch, unverändert, gleichgültig nebeneinander koexistieren oder einander exkommunizieren, sondern müssten sich (ohne ihre Eigenständigkeit synkretistisch im pejorativen Sinne globaler Nivellierung und Vermischung einzubüßen) reinigen, erneuern und verwandeln, und zwar aus jener Liebe, die nicht (nur) das Eigene im Fremden sucht, sondern dieses bei noch so großer Annäherung immer Fremdbleibende wahrhaft bejaht und aktiv sein lässt. Und so mag sich Teilnahme aneinander, ja ,Mit-teilung‘ (communio) sowie Wandlung im Wesen – wie zwischen Freunden und Freundinnen – ereignen.19 Was eine Freundschaft im Grunde lebendig hält, ist ja nicht Anpassung oder Angleichung, ist nicht ein ozeanisches Gefühl der Verschmelzung, ist auch nicht bloß funktionale Ergänzung oder Austausch (gar an kapitalistischer Warenzirkulation orientiert), sondern dass die in Freundschaft Verbundenen einander in ihrem Wesen freizugeben vermögen. Dadurch verweisen sie einander bei noch so großer Nähe zueinander in die je immer größere Ferne und Unergründlichkeit ihres Wesensursprungs als den Quell, aus dem heraus sich Nähe ereignen kann. In diesem Sinne kann sich je nach Begabung in freundschaftlicher Kommunikation im Sicheinigen und Einswerden von Religionen und ihren Mitgliedern Wandlung im Wesen ereignen, die das Eigene nicht preisgibt, sondern im Gegenteil zu integraler Entfaltung bringt. Religionen könnten, ohne einander zu beeinträchtigen, zusammenwachsen, indem sie in verstehender Begegnung zusammen wachsen, d.h. auch einander zur Vertiefung verhelfen. Synkretismus gewinnt dann einen positiven Sinn.20 Beispielsweise 19 Vgl. hierzu R. Bernhardt/P. Schmidt-Leukel (Hg.), Multiple religiöse Identität. Aus verschiedenen religiösen Traditionen schöpfen. 20 Dazu vgl. a.a.O., 297–290: R. Bernhardt, »Synkretismus« als Deutungskategorie multireligiöser Identitätsbildungen, unterscheidet drei Grundtypen (Symbiose, Fusion oder Amalgamierung und Integration der Elemente der einen Tradition in die Grundorientierung einer anderen). Bernhardt schlägt vor, an Stelle des schillernden Synkretismusbegriffes von »interreligiöser Relationierung« zu sprechen. In religiöser Mehrsprachigkeit lebende Personen müssten ihre authentische Grundhaltung im Glaubensverständnis wahren. Sie führen interreligiös einen Dialog, »der sonst zwischen verschiedenen Personen und Gemeinschaften stattfindet, in sich« (290). Die Identität ihrer Grundhaltung (gedacht ist besonders an die Identität des Christlichen) tritt damit umso deutlicher heraus.
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könnte sich dann eine Konversion im Sinne eines Übertritts von einer Religionsgemeinschaft (falls jemand zuvor ernsthaft in ihr gelebt hat!) in eine andere als überholt, ja u.U. als moralisch fragwürdig erweisen, wenn das Hineinwachsen in eine andere Religionsgemeinschaft die verwandelnde Beibehaltung und Vertiefung der eigenen, der Herkunftsreligion ausschließen sollte.21 Keinesfalls dürfte jemand in die Zwangslage geraten, die eigenen Wurzeln ab- oder ausreißen zu müssen. Ihre dankbare Vertiefung und Erweiterung in der Herkunftsreligion erscheint mir angesichts verwirrender und entwurzelnder Superioritätsansprüche jeweils anderer Religionen eine moralische Forderung. Ein Kriterium der Echtheit der eigenen Religionsausübung ist die unbefangene und liebende Anerkennung anderer (aller) Heilswege der Menschheit, weil sie letztlich derselben Quelle entspringen wie die eigene. Abschließend sei noch auf die diese Überlegung tragende Aussageabsicht hingewiesen: Die umstrittenen Geltungsansprüche der Religionen entstammen einem Vorverständnis hinsichtlich unterschiedlicher Verhältnisbestimmungen von Einssein und Mannigfaltigkeit. Sie sind auch dort, wo sie unter selbstbezogener Ausnützung eines in Religionen waltenden Anspruchs des Absoluten vorgetragen werden, streng genommen nicht aus einer Religion als solcher (im Extrem selbst gegen das Zeugnis ihrer Ursprungstexte) ableitbar, sondern Religionen entfalten sich in geschichtlich-anthropologischen Rezeptionsvorgaben, die hinsichtlich ihrer ontologischen Grundlagen hinterfragbar sind.
21 Dieses Hineinwachsen meint nicht notwendig das, was im Rahmen christlicher Ökumene eine fragwürdige communicatio in sacris, sondern was eine communicatio in spiritualibus bedeuten würde.
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6. Vierter Exkurs: Integrale Zusammengehörigkeit des Einen und Vielen im Sein (Walten) des Ganzen jenseits von Totalitarismus und Pluralismus
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6.1. Annäherungen an einige Hauptfragen 6.1.1 Zur Unumgänglichkeit der Frage nach dem Eins-, Vieles- und Ganzsein für eine philosophische Theologie
Das Vorhergehende sollte und wollte keinen Grundriss der Philosophie der Religionen im Plural bieten; auf das Mit- und Zueinander der Religionsgemeinschaften in ihrer geschichtlichen Einzigartigkeit und die Unumgänglichkeit einer Makroökumene wurde vor allem deswegen eingegangen, weil uns in diesem Bereich das uralte Menschheitsproblem von Einheit und Vielheit, von Totalität und Pluralität beispielhaft und als Zündstoff für Konflikte entgegentritt. Es durchdringt alle Bereiche des Daseins und ist für philosophische Theologie von besonderer Bedeutung. Religionsgemeinschaften gelten als soziokulturelle bzw. moralische Einheitsbildungen von menschlichen Personen, die sich von einem Ziel (Worumwillen ihres Zusammenschlusses) her, das sie gemeinsam in Atem hält, als zusammengehörig erfahren. Was sie religiös erfahren und motiviert, legt sich ihnen als äußerste Möglichkeit, ganz zu sein und aus dem Daseinsgrund zu leben, aus, sei es durch Vielfalt in Polytheismen, durch Einheit bzw. Dreifaltigkeit in Monotheismen oder jenseits beider im »Nichts« versunken. Diese Gestalten des Ganzseins kehren in den Religionsgemeinschaften auch als eigenste Möglichkeiten des Dialogs und Zusammenschlusses wieder, und zwar als ein Geschehen der Einigung und Entfaltung in Vielfalt oder als Widerstreit, wo es erst recht um ,Sein oder Nichtsein‘ zu gehen scheint. Ihr Verhältnis zueinander und zum gemeinsamen Ziel beruht weitgehend auf ontologischen Vorentwürfen bzw. Implikaten, nicht ohne beirrenden Widerstreit in der Frage nach dem Einssein in unverkürzter Entfaltung von Vielfalt, was uns zu denken geben muss. Dieselben Implikate sind nicht nur mitbestimmend für das Gottesverständnis, sondern gleichfalls im Rahmen philosophischer Theologie auch im Hinblick auf eine später zu erörternde Philosophie der Schöpfung. In ihr ist auf eine Klärung des Verhältnisses von Einssein und Mannigfaltigsein oder von Einheit und Vielheit wenigstens in seinen Grundzügen zu dringen. Ist Schöpfung der Welt nicht eine der großen weltanschaulichen Erzählungen aus grauer Vorzeit, die der totalitären Denkform eines Ursprungs- und Einheitsdenkens entspringt, das sich seines Grundes zu
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bemächtigen sucht? Ist ihre Idee nicht angesichts des postmodernen Pluralismus hoffnungslos unhaltbar geworden? Wäre aber Welt doch so etwas wie Schöpfung, gewänne dann nicht ihre (in sich nicht reduzierbare) Vielheit des Mannigfaltig- und Einsseins im Ganzen und im Grunde höchste Fragwürdigkeit? ,Wieder-holt‘ dann Schöpfung im Reichtum der Diversitäten, Differenzen und Mehrdimensionalitäten die grenzenlose Fülle ihres Ursprungs? Oder steht ihre Mannigfaltigkeit im Gegensatz zur Einfachheit des Ursprungs, und sind Werden, Vielheit, Einzelseiendes, Begrenztes demgegenüber gemindertes Sein, Abfall? Versteht man Einheit als Einfachheit, die Mannigfaltigkeit aufhebt oder ausschließt, dann hätte Schöpfungsphilosophie eine haltbare Antwort auf die Frage zu geben, wie eine Vielheit aus einer letzten transzendenten Ureinheit hergeleitet werden könnte.1 Oder dasselbe in umgekehrter Richtung gefragt: Ist der sogenannte henologische Gottesbeweis ontologisch solid durchgeführt, wenn er vom wichtigen Gedanken der Grade des in Vielheit Auseinanderliegenden und des zu immer größerer Einheit Zusammengezogenen, also von Seinsstufen in der Welt, ausgeht und diese auf eine zugrunde liegende Ureinheit (griech. n, das Eine) zurückführt, die über aller endlichen Vielheit und Begrenztheit angenommen wird? Doch lässt sich überhaupt und grundsätzlich Einssein auf Vielfalt oder umgekehrt Vielfalt auf das Einssein zurückführen? Liegt nicht schon im alternativen Ansatz der Fragestellung ein Verkennen der implizierten ontologischen Sachverhalte vor? Gehören nicht vielmehr Vielheit im Einssein und Einssein in der Vielheit korrelativ so zusammen, dass eine Herleitung des einen aus dem anderen unmöglich ist? Kann überhaupt etwas sein, das nicht in irgendeiner Weise sowohl vielfältig als auch eins ist? Um solches sachgerecht zu erörtern, muss versucht werden, sich der Fragestellung unter In-Blick-Nahme der ontologischen Dimension von Einssein und Vielessein anzunähern.
6.1.2 Ausweitung einer Ontologie der Vielheit ontischer Einheiten (Entitäten)
Ein erster Schritt der Annäherung soll den Standards sprachanalytischer Ontologie entnommen werden. Diese Ontologie oder Allgemeine Metaphysik beschränkt sich methodisch auf das Seiende (im Modus innerweltlicher Vorhandenheit) und seine Zusammenhänge (Funktionen) oder allgemeiner gesprochen auf Entitäten (Seiendheiten) als allumfassendem ontologischen Begriff. Wenn sie Einheit und Vielheit expliziert, verwendet sie die kategorienübergreifenden Begriffe Entität und 1 Vgl. beispielsweise die Auswahl von Texten des Neuplatonismus: A. Fidora/A. Niederberger (Hg.), Vom Einen zum Vielen. Der neue Aufbruch der Metaphysik im 12. Jahrhundert.
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Einheit füreinander. Der allumfassende und überall verwendbare Begriff der Entität als Einheit unterläuft alle kategorialen Einteilungsbegriffe (wie Mensch, Lebewesen, physischer Körper). Er überschreitet, transzendiert sie und steht zutreffend für jedes Individuum, eben für jede Entität. Damit knüpft diese Ontologie an das klassische Lehrstück der transzendentalen Namen an, wo Sein (ens, entitas) und Einheit (unum) als konvertibel (d.h. als einander vertretbar und daher füreinander eintauschbar) angenommen werden:2 »Alles hat Einheit, wie auch alles Sein hat; alles ist ein Eines (wenn auch nicht unbedingt ein teillos Eines), wie auch alles ein Seiendes ist.«3 Wir haben es hier mit einer allgemeinsten Charakterisierung zu tun, die man von kategorialer Einteilung unterscheiden muss. So verschieden Seiende (Entitäten) aller Kategorien sind, sie sind immer Einheiten. »Als Entitäten haben alle Individuen ein gewisses Maß an Einheit, so dass man sie – wie alle Entitäten – als Ganze, als Einheiten bezeichnen muss.«4 Individuen haben in mannigfachen Weisen echte Teile, als deren Einheiten sie sich darstellen. Diese Teile können selbst wiederum Individuen, Ereignisse, Eigenschaften oder Sachverhalte sein. Hierbei drückt die allgemeinste Charakterisierung des Individuums durch den Ganzes-Teil-Begriff keine allgemeinste eigenschaftliche Charakterisierung des Seienden aus, sondern charakterisiert es relational, »denn es wird ja immer eine Beziehung ausgesagt, wenn man eine Teil-Ganzes-Aussage macht«.5 Meixners Ontologie beschränkt sich ausdrücklich auf die explanatorische Deskription des Ontischen, wie sie häufig als Standard analytischer Ontologie reklamiert wird. Als nächster Schritt der Annäherung an unser Vorhaben ist eine vertiefende Weitung des Ontologieverständnisses nötig. Methodisch ist dazu erst die Beschränkung auf die explanatorische Deskription zu dekonstruieren, und zwar insofern sie die fundamental-ontologische Konstitution des Seienden und damit den Sinn von Sein nicht genügend berücksichtigt. Auch eine noch so scharfsinnige Orientierung am Vorhandensein von Individuen als der (angeblich?) vertrautesten Kategorie des Seienden – weil ich solches Seiendes bin und weil du solches Seiendes bist – verdeckt, eingeschlossen im Horizont von abstrakter Seiendheit (Entität), dessen ontologische Herkunft aus der Arbeitswelt 6 und vermag daher das Vorhandensein als besonderen Seinsmodus des Anwesens von Anwesenden nicht erblicken. Darum 2 Auf dieses Lehrstück wird später ausführlich eingegangen. Vgl. auch dazu L. Oeing-Hanhoff, Ens et unum convertuntur. 3 U. Meixner, Einführung in die Ontologie, 22. 4 A.a.O., 45. 5 A.a.O., 25. 6 Einschlägige Überlegungen dazu siehe im nachfolgenden Band der Philosophischen Theologie im Umbruch.
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empfiehlt es sich, wie oben schon ausgeführt, vom Sein dieses innerweltlichen Seienden auszugehen, und zwar insonah und insoweit wir selbst dem Sein zu entsprechen haben, wir selbst zu sein haben und uns zu sein aufgegeben ist.7 Diese Aufgabe enthält auch, was uns hier bewegt: dass wir das Seiende in seinem Sein und (davon grundverschieden) das Sein selbst in seinem Grundcharakter des Anwesens und Waltens in der Mannigfaltigkeit seiner Weisen und Fügungen phänomenologisch zuzulassen (d.h. sich zeigen zu lassen) haben.
6.1.3 Zur Fragwürdigkeit der Rede vom Eins-, Vieles- und Ganzsein als Weise des Sichverstehens auf das Dasein
Wie und als was lassen wir die sich uns zeigende Erscheinung (ihr Offenbar- und Mitgeteiltsein) sein, damit wir dessen Seinssinn nicht verfehlen? Alles Einteilen als Kategorisieren und alles Definieren als Abgrenzen (sagen, was es ist und was es nicht ist) erfolgt immer schon als ein Sichverstehen auf das Eins-, Vielfältig- und Ganzsein von Seienden und aus ihm. Dieses vorgängige Sichverstehen gehört zur Weise, wie wir uns konkret, in gesammelter Anwesenheit auf Sein verstehen; es bildet so vorerst ein lebensweltliches Vorverständnis, das durch Reflexion nie adäquat einholbar, sondern nur in seinem Sich-Gewähren hinzunehmen und so phänomenologisch umschreibbar ist. Auch der Vorschlag, statt einer strengen Wesensdefinition nur eine umschreibende Definition (definitio descriptiva) zu verlangen, verkennt die Gegebenheitsweise des Seienden hinsichtlich seines Seins, zu der dessen Unbegreiflichkeit wesenhaft gehört, denn über alle Abgrenzungen und Einteilungen hinaus und durch alle hindurch bringt das Eins-, Vielfältig-, Ganz-, Anderssein eine notwendige Alleigenheit, einen transzendentalen Grundzug des Seins und des Seienden zum Ausdruck, und dieser Grundzug ist unzertrennbar mit dem Sein gewährt. Er begleitet das Sein in allen seinen Abwandlungen, was Einteilungsversuche der Weisen des Eins-, Vielfältig- und Ganz- und Anderseins nicht ausschließt, sondern auf den Plan ruft. Aber das Eins-, Vielfältig-, Ganz- und Anderssein als solches ist keine begrifflich fass- und einteilbare ,Entität‘. Es ist daher kein Mangel, wenn der Versuch, einen generischen oder spezifischen Einteilungsunterschied zu bilden, scheitern muss, sucht er doch vergeblich, das transzendentale, alles Kategoriale überschreitende und zugleich 7 Erst ein näheres Eingehen auf das Sichverstehen auf das Sein erschließt eine über die deskriptive Haltung hinausgehende ursprünglich ethische Dimension der Ontologie (Metaphysik). Siehe dazu unten über Metaphysik und Ethik den Abschnitt 7.
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durchwaltende Währen dieser Urphänomene aufzuheben. Aber nicht mit Ur- oder Grundbegriffen fängt das Philosophieren an, sondern mit der Offenheit für den Anspruch anfänglicher Phänomene; es besteht wesentlich im Aufschließen der Urphänomene und hängt nicht von begrifflichen Vorentwürfen oder Voraussetzungen ab. Fragwürdig ist auch, warum wir diese Erfahrung des Vielfältigen sowie des Einsseins des Seins von Seienden machen. Liegt es an der Eigenart des Anwesens des Anwesenden selbst oder an uns, den Menschen, dass wir alles so sehen und entsprechend handeln müssen? Oder liegt es weder nur am Sein des Seienden noch nur an uns, den Menschen? Und dann woran? Wenn uns (in unserem weltoffenen Dasein!) das Sein des Seienden nicht anders zugänglich ist denn als Offenbarkeit des Seienden als solchem im Ganzen unseres Daseins, so liegt es an unserer Erfahrung, dass wir uns als Menschenwesen in der sich ereignenden Entsprechung und unmittelbaren Zusammengehörigkeit (convenientia) mit dem Sein erfahren. Wir sind immer, wenn auch mitunter flüchtig (in die Vogelperspektive oder panoptische Phantasie ausweichend), unseres Daseinsganzen inne; wir erfahren uns so als für das Sichmitteilen und Offenbarwerden des Seienden im Ganzen freigegeben und diese Offenbarkeit als für alles Erfassen vorgegeben. Im konkreten Ek-sistieren in Weltoffenheit lassen wir Anwesendes sein (d.h. anwesen, währen und gewähren), was es als in Mannigfaltigkeit Versammeltes ist. Dazu gehören wir auch oder vor allem selbst als solche, die in Offenheit zum Walten der Welt mit Anderen Anwesende sind. Sein, Einssein und Mannigfaltigsein sowie ihr Ganzsein sind (in ihren analogen Abwandlungen) daher nicht als apriorische Urbegriffe (Kategorien, Verstandesbegriffe) oder Ideen der Vernunft zu verstehen, sondern ursprünglicher als Weisen des Sichverstehens auf das Dasein (im Selbst-, Mit- und In-der-Welt-sein). Die Weise, wie wir uns vernünftig auf das Sein in seinem Eins- und Vielessein verstehen, ist ein unmittelbares Offenbar- und Erschlossensein des Seinsganzen – anwesend in der pluralen Konstitution und Komposition der Seienden. Was ursprünglich Vernunft ist und besagt, ist aus unserem Vernehmen, aus dem verstehenden In-Empfang-Nehmen des Seienden in seinem Sein, zu bestimmen, ohne das überhaupt nichts und niemals etwas verstanden werden könnte. Vernehmendes Gewahren (d.h. der Zugänglichkeit inne sein) und Sein (Offenbarkeit) sind freilich dem Bestand nach keineswegs dasselbe, nicht identisch. Aber man kann unter Wahrung der Nicht-Identität von vernehmender Offenheit einerseits und Offenheit des Seins (der Welt) andererseits von einer vorgegebenen Identität des Bezugs sprechen, wodurch überhaupt erst ein Nennen, Begreifen, Aussagen in Begründungszusammenhängen und Mitteilen von Sein als Ganzem im Eins- und Vieles sein möglich ist. Mit anderen Worten: Sein ist immer Ganzsein als Einssein im Vielfältigsein; es
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bildet ein irreduzibles Urphänomen, das uns in unüberschaubarer Mannigfaltigkeit von Abwandlungen lebensweltlich schon bekannt ist und zu noch zu diskutierenden Einteilungsversuchen angeregt hat. Ein eindringlicher Hinweis Günther Pöltners erscheint mir vorweg wichtig: »Einheit kann niemals erzeugt oder hergestellt, sie kann immer nur hervorgerufen, ins Spiel gebracht werden. Und dazu ist es notwendig, dass sie sich als Einheit zuvor gezeigt hat.«8 Dem Kontext nach geht es darum, dass Einheit von Lebewesen nicht durch Zusammenstückung hergestellt werden kann. Dasselbe ist wohl überhaupt vom Aufgang des Ganzen in die Mannigfaltigkeit des Einsseins zu sagen. Dieser kann nie bloßes menschliches Konstrukt sein, denn alle Konstruktion setzt deren Zeigbarkeit im Offenen voraus, die sich als solche aber nicht machen lässt. Was das Hervorrufen und Ins-Spiel-Bringen des Ganzseins in Mannigfaltigkeit betrifft, so ermöglicht und gewährt dies erst jeden Herstellungsprozess, jede Hochtechnologie. Hier geht es methodisch aber nur um das Hervorrufen von Eins-, Vielfältig-, Ganz- und Anderssein in die Offenbarkeit des ins Wort Gerufenen, das primär (im Sinne von grundlegend) ein Nennen (durch An- und Zurufen) und erst sekundär ein Begreifen in seinen Seinsweisen ist. Solches Nennen lässt ins Ankommen und Anwesen gelangen, ohne das Abwesen aufzuheben; ja An- und Abwesen steigern einander, weil, was aus der Ferne im Ruf steht und in die Nähe gerufen wird, die Ferne nicht aufhebt, sondern in sie zurück zeigt.9
6.2 Grundriss einer Ontologie der Einheit und Mannigfaltigkeit bei Thomas von Aquin10
8 G. Pöltner (1972a), Schönheit. Eine Untersuchung zum Ursprung des Denkens bei Thomas von Aquin, 59. 9 Zum Unterschied von Name und Begriff vgl. vom Verf. (1997c), Sprachphilosophische Hinführung zu einer Theologie des Namens Gottes, in: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Bd. 2, 159–217. 10 Vgl. hierzu besonders J. A. Aertsen, Medieval Philosophy and the Transcendentals. The Case of Thomas Aquinas, 5. Kap.: One as Transcendental, 201–242.
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Ein weiterer Schritt der Annäherung sucht aus der Fragwürdigkeit des thomasischen Verständnisses jedwedes Seienden als Eins- oder Einessein in Korrespondenz zur Vielheit zu lernen. Er knüpft an den Grundriss der Ontologie des Thomas von Aquin in den Quaestiones disputate de veritate (q. 1, a. 1) an, einem vor allem aristotelisch inspirierten Text, der wirkungsgeschichtlich von größter Bedeutung gewesen ist. Um nicht in dem einschlägigen Artikel etwas unnötig zu vermissen, ist zu beachten, dass
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es in diesem Werk insgesamt nur um die Wahrheit (de veritate) geht. Diese ereignet sich in der wechselseitigen Übereinkunft (convenientia) von Sein und Menschenwesen als ,Wahr-sein‘, aber auch im Bedeutsamsein, was für Thomas u.a. Anteilgewähren und Vervollkommnen des Anteilnehmenden (,Gut-sein‘) besagt.11 Der Artikel geht von dem aus, was ist (id quod est): von allem und jedem Seienden (omne ens) in seiner Offenbarkeit und den Weisen seiner Zugänglichkeit für uns. Mit der Nennung von omne ens taucht ein Nest von Schwierigkeiten auf, denn es ist hier mit omne ens das Ganze der Seienden in einer bestimmten Bedeutung angesprochen, und zwar als das Gesamte, die Allheit der Seienden, also alle zusammen, zusammenhängend, sowie alle miteinander einzeln als sämtliche Einheiten betrachtet. Gewöhnlich versteht man unter Welt die Gesamtheit der Seienden (alles zusammen, was es da so gibt) und spricht terminologisch vom natürlichen Weltbegriff. Nun ist ein Ganzes nicht ohne seine Teile denkbar und umgekehrt. Der natürliche Weltbegriff beschränkt sich auf die faktische Summierung der innerweltlichen Seienden, die wie Teile ein Ganzes bilden, denkt aber das Weltganze als solches nicht. Das Weltverständnis, wenn überhaupt es in De veritate als Implikat angesprochen werden darf, ist jedoch ein ontologisches. Das Ganze ist nicht als Menge oder als (fiktiv) Gezähltes, als bloße Summe seiner Teile genommen, denn die Seienden werden übersummativ als solche verstanden, die Anteil haben an der nicht aufteilbaren Totalität des Seins. Sie sind sie selbst und haben daher nicht Teile des Seins genommen bzw. zerteilen sie das Sein nicht quantitativ wie einen Kuchen, sondern gründen in ihm, sind innerlich durch Sein konstituiert. Das Seiende, insoweit es seiend ist (ens inquantum est ens), das heißt, ihm Sein zukommt, steht hier im Vordergrund und bildet damit den Anfang der Metaphysik: die Ontologie. Die Sichtweise auf das in seiner Konstitution sich Konstituierende (im Sichereignen Zeigende) ist von der Sicht auf das Konstituierte (das Ereignete) zu unterscheiden. Dazu in gebotener Kürze:12 Dass die Seienden teilweise (partialiter) und nicht auf die Weise des Ganzen (non totaliter) das Ganze des Seins sind, schließt nicht aus, dass sie ontisch auch quantitative Ganze sind. Jeder Teil eines ,ganzen‘ Liters Wasser ist zur Gänze Wasser, während ein Teil eines Menschen kein Mensch ist. Das heterogene, aus unähnlichen oder ungleichartigen Teilen bestehende Ganze ist dem homogenen, aus ähnlichen oder gleichartigen Teilen bestehenden Ganzen überlegen. Die verschiedenen Teile der Organismen, Glieder und Organe, »bestehen im Ganzen«, sind »im Ganzen verbunden«, können abgetrennt wie eine abgeschlagene Hand nur noch 11 G. Pöltner (2001c), Vorläufer des Ereignisdenkens, 14. 12 Vgl. dazu L. Oeing-Hanhoff, Ens et unum convertuntur, 155–163; ders., Art. Ganzes/Teil, in: HWP, Bd. 3, Sp. 6 ff.
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äquivok eine Hand genannt werden, weil der Teil nicht für sich tätig ist. Eigentlich handelt ja nicht der Teil, sondern das Ganze. Deshalb gilt: Die Grundlage menschlicher Handlungen ist nicht der Teil, sondern das Ganze.13 Überdies nimmt Ranghöhe, Vollkommenheit der Seinsmächtigkeit eines Organismus, mit der Differenziertheit von Struktur und Gliederung zur Ausübung verschiedener Tätigkeiten zu. Das bedeutet aber auch eine höhere Weise des Einsseins, der Individualität. Hingegen ist jedes selbständige Einzelwesen, jede Substanz an sich (abstrakt verstanden), ohne Quantität, denn erst (konkret verstanden) durch das wesensnotwendige Akzidens der Quantität ist sie ein ausgedehntes und teilbares Ganzes. Konstituieren Seinsgründe wie Wesensform und Materie (als Weisen des Vollzugs des Seins) das Seiende, so haben wir es eigentlich mit einer Weise des Teilnehmens des Seienden am Sein zu tun. Dieses besteht dann als ein wesenhaftes Ganzes (totum essentiale) aus nicht-quantitativen »Wesens-Teilen« ( partes essentiales), die je nach der Vollkommenheit des Seienden (durch Wesensqualität und Eignung der Materie) seinem Ganzsein entsprechen. Damit ist deutlich geworden, dass sich die Sicht auf das Ganze mit seinen ontischen Teilen und ontologischen Konstituenten mit der Sicht auf das Einssein in Vielfältigkeit nicht völlig deckt, sondern kreuzt, besteht doch jedes Ganze in einer Mannigfaltigkeit von Teilen, die in einer besonderen Weise eins bzw. geeint sind. Kehren wir wieder zum ursprünglichen ontologischen Weltverständnis zurück. Es hat nicht das Seiende an sich, das heißt ontisch abstrakt, vor Augen, sondern dieses in seiner Zugänglichkeit, die es zulässt und ermöglicht. Zugänglich ist es nur, wenn es in der Möglichkeit der Offenbarkeit (Wahrheit) steht, die das jeweils uns begegnende Seiende im Offenbarwerden seiner Teilnahme am Sein im Ganzen offenbart. Im ontologischen Weltverständnis geht es um die Offenbarkeit des in seinem Seinsganzen verstehbaren Seienden, um das Seiende in der Offenbarkeit und Offenheit seines Seins. Damit ist der von Thomas berührte, aber nicht ausdrücklich gemachte Welthorizont angesprochen: Was jeweils und was immer ist (omne ens), ist (seinem Sein nach) da, anwesend, und zwar für ein offenständiges Vernehmen unmittelbar offenbar und zugänglich. Das jeweilige Seiende hat Sein, weil es (durch Teilhabe) jeweils sein Sein und Wesen zu eigen empfängt. Das Geschehen, in dem das Seiende, auf seinen Grund (das Sein) gestellt, von seinem Grund aus sich er-eignet, sich darin ins Eigene schickt und so erstellt wird (das sogenannte Subsistenzgeschehen), wird als Hinzukommen und Hinzugabe (additio) und näherhin als expressive Seins13 Thomas von Aquin, Sth II/II, q. 58, a. 2: Actiones autem sunt suppositorum et totorum, non autem […] partium et formarum, seu potentiarum.
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weise (modus expressus) des Seienden ausgelegt: Was ist, sagt uns etwas. Hier ist von der lautlosen ,Sprache‘ des sich von seinem Sein her ereignenden Seienden zu reden. Die Seinsweisen (modi communes), die aus dem Sein des Seienden hervorgehen (generaliter consequens) und das Gefüge der Subsistenzbewegung bilden, sind das Seiende (ens), das Etwas bzw. Ding (res) und das Einssein (unum), diese drei.14 Die Wendung ,das Seiende als Seiendes‘ ist doppeldeutig. Sie lässt uns von der Sache her (nicht vom Text her!) sowohl auf ein einigendes als auch auf geeintes Einssein blicken: Das Seiende ,west‘ als ,seiend‘ vormodal entspringen lassendes Sein, das sich selbst gibt. Das Sein teilt sich selbst mit, geht von sich her auf und kommt einigend (konstituierend) als geeintes (konstituiertes) Seiendes in dessen Selbstvollzug (als actus essendi) zur Darstellung, zur Gestalt. Die Seinsweise, wie sich hierbei Seiendes vollzieht, in sein Anwesen gelangt, verdankt es der Freigabe in sein Wesen (essentia) bzw. Wassein (quidditas). Das Seiende ist und vollzieht, was es ist: sein Sein. Auf Grund seines Seins vollbringt es sich selbst als die geeinte Einheit aller unterschiedlichen transzendentalen Bestimmungen (die daher konvertibel sind), zu denen seine Essentia gehört; es schließt sich im Unterschied seiner selbst, im Unterschied von Sein und Wesen, zur geeinten Einheit zusammen. Aus der einigenden Ursprungseinheit hervorgetreten, ist es so eins mit sich, ist es da, ist es gegenwärtig, teilt es sich in seinem Seinsgehalt (Wassein) selbst mit und bringt sich im Offenen zur Darstellung. In der vom Sein ausgehenden Bewegung der Einigung von Sein und Wesen ist Seiendes ein Etwas, eine Sache, dieses (An-)Wesende (res), das mit sich selbst eins, dasselbe, identisch ist. Und dieses Einssein (unum) des Seienden in sich wird nun von Thomas ins Auge gefasst, doch merkwürdigerweise, ohne auf die einende Einigung, die Durchdringung und Entfaltung des Unterschieds zwischen dem sich weggebenden Sein selbst und der geeinten Einigung des gestaltbildenden Wesens, zurückzukommen. Thomas scheint hier einem anderswo herkommenden Zugang zum Einssein zu folgen. Seiendes bildet ja kein wirres Chaos, sondern ist jeweils da, geht als es selbst auf und sagt sich uns phänomenal von sich aus als »Eines« (unum) zu. Anders könnte man ja gar nicht von einem Seienden reden, wenn es nicht irgendwie eins mit sich selbst (idem) wäre. Nur mit sich in Bezug auf sich selbst kann Seiendes (dem Bestand nach!) eins sein. Was jeweils da ist, ist deswegen keine fensterlose Monade, es wird vorerst nur »absolut« aufgefasst, das heißt abstrakt, für sich bestehend, noch ohne Rücksicht auf andere Seiende, somit in sich geschlossen (nicht verschlossen!) – gewissermaßen als prägnante Gestalt, die sich in ihrem Anwesen enthüllt, ausspricht und mitteilt. Gerade indem zunächst nur berücksichtigt wird, was jedes der 14 Hierzu und zum Folgenden vgl. G. Pöltner (1972a), Schönheit, 49–56.
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Seienden unter den vielen Seienden betrifft, enthüllt sich, dass es nur es selbst ist, indem es von jeglichem anderen geschieden ist. Gewiss kann ein Seiendes mit Anderen verbunden sein, an ihnen Anteil haben, ja selbst das Glied einer umfassenderen Einheit sein, aber nur insoweit es ,es selbst‘ ist. Insoweit Seiendes ganz es selbst ist, ist es in einer doppelten Weise eins und Eines: Es ist nämlich nicht nur in Bezug auf sich selbst eins, sondern auch insofern es sich in Hinordnung zu anderen (secundum ordinem unius ad aliud) befindet; und da verhält es sich selbst gesondert von (allem) anderen (ab aliis divisum), aber zugleich auch als ein Anderes (aliquid) zu anderen.
6.2.1 Das Einssein des Seienden als Ungeschiedensein in sich
Betrachten wir zunächst, wie sich Thomas das Eines- oder Einssein des Seienden in ihm selbst zeigen lässt. »Das Seiende wird ,eines‘ genannt, insoweit es in sich nicht geschieden ist« (ens dicitur unum in quantum est indivisum in se).15 Für das Einssein wird nur eine negative Umschreibung gefunden: indivisum in se. Das ist ein facettenreiches Wort: das Ungeschieden-, Ungeteilt-, Unzerteilt-, Ungetrenntsein des Seienden in sich. Diese bloß negative Umschreibung wurde oft für eine ungenügende oder sogar mangelhafte Bestimmung gehalten, worauf noch einzugehen ist. Mag sie sich auch als äußerst problematisch oder als ergänzungsbedürftig herausstellen, so ist hier doch das Bemühen um einen phänomennahen Zugang zu berücksichtigen,
15 Thomas von Aquin, De ver., q. 1, a. 1; vgl. auch In X Metaph., lect. 4, nr. 1985. Aristoteles, Met. X, Kap. 2, erblickt unter den mehrfachen Bedeutungen des Einen und Vielen das Wesen der Einheit im 2diareton, das ein Nichtauseinandernehmbares bzw. Nichtauseinandergenommenes im Gegensatz zum Auseinandernehmbaren bzw. Auseinandergenommenen, dem Zerlegten, ist. 16 Vgl. dazu Thomas von Aquin, In X Metaph., lect. 4, nr. 1991, 1995–1998; Sth I, q. 11, a. 2, ad 4.
Vierter Exkurs
auf den Thomas anderswo hinweist:16 Was wir zunächst gewahren, ist solches, das ist, also Seiendes, und zwar dass dieses Seiende (hoc ens) nicht jenes andere (aliquid) ist, und damit eignet ihm das Geteiltsein (divisio) von vielen. Erst dieses anfänglich Wahrgenommene führt uns weiter zur Erkenntnis des Einsseins als Freisein vom Geteiltsein und schließlich dazu, dass das Einssein in Mannigfaltigkeit konstituiert ist. Von der Ordnung der Sinneserkenntnis her ist das ontisch Geteilte und Teilbare (divisum, divisibile) das, womit die Erkenntnis eigentlich anfängt. Von der Ordnung der Sache her (secundum ordinem naturae) hingegen ist das Einssein (und nicht das Geteilt- und Zerteilbarsein) der Vielen das Erste. Nach dem Gesagten zeigt sich Seiendes im Gang zur Erkenntnis zunächst nicht in seinem Ungeteiltsein, sondern im privativen Anwesen der Vielen, d.h. mit ihnen, von ihnen her, im Getrennt- und Geschiedensein von ihnen. Thomas wählt als Beispiel
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den Punkt, der als das definiert wird, was keine Teile hat bzw. das Prinzip der Linie ist. Doch um die negative Definition des Punktes zu verstehen, muss uns, was ein Punkt heißt, schon bekannt und vorgegeben sein. Hierbei wäre der Wesensunterschied zwischen einem lebensweltlich erblickbaren Punkt, einem kleinen (kreisrunden) Tupfen oder Fleck, einem typographisch punktförmigen Zeichen im Kontext und dem nur geometrisch vorstellbaren Gebilde elementarer Art zu beachten. Thomas scheint an Letzteres zu denken. Der geometrische Punkt gehört als Mittelpunkt zum Kreis oder er verbindet als Punkt Q die Koordinaten x und y oder er wird als mögliche Schnittstelle durch Linien generiert usw. Dieser Punkt ist absolut allein nicht verständlich, sondern nur in Verbindung mit einem metrischen Gebilde (einem in sich zur Einheit verbundenen Ganzen). Das Beispiel ist also höchst prekär. Seiendes begegnet primär (diffus) als Etwas (res) in der Fülle seiner Bedeutungen als Bewandtnisganzheit, als Wassein und Wesen. Was wir hermeneutischen Zirkel nennen, scheint Thomas hier auszuschließen: dass das Erkennen zwischen dem, was für uns früher ist, und dem, was von der Sache her später für uns kommt, hin und her geht: aus der Vielheit erkennen wir die Einheit, aus dem Geteilten das Ungeteilte – und umgekehrt.17 Versuchen wir nun, das als in-divisum gesichtete Einssein des Seienden zu verstehen: Es negiert zwar die divisio, ist aber dennoch keine begriffslogische Negation der Vielheit, also als solches kein Nicht-Vieles-Sein, auch nicht das durch eine doppelte Negation gegangene Aufgehobensein der Vielfalt und des Vielerlei. Es schließt vielmehr Vielheit (multitudo) nicht aus; ja es wird von dem, was uns da ringsum im Auseinandersein vorliegt, von der divisio der Vielen aus überhaupt erst entdeckt. Aber trotz dieses Entdeckens springt Thomas mit der negativen Bestimmung des Einsseins vom Entdeckten weg und achtet nicht auf das Einssein und das (jeweilige) Ganzsein, das ein Umgriffenes umgreift oder als Zusammenhalt verbindet. Bloßes Ungeteiltsein verbindet nicht, entfaltet und durchdringt nicht das Vielessein positiv (als positive Vollkommenheit), sondern es wird nur negativ als das In-sich-Freisein vom Geteiltsein in das Viele zugelassen. Immerhin kommt kein spekulativer Ausgang, sei es von der Abwesenheit oder von dem Aufgehobensein innerer Vielfalt, in Frage.18 Dieses In-sich-Einssein, inso17 Vgl. a.a.O., In Met., nr. 1995. 18 Thomas von Aquin, Sth I, q. 30, a. 3, ad 3: unum non est remotivum multitudinis, sed divisionis […]. Das indivisum des als solches (absolut) verstandenen Einsseins besagt für Thomas ein privatives Freisein von einer divisio und nicht die privative Ermangelung, das Fehlen der Mannigfaltigkeit, also keineswegs Unvollkommenheit. Weitere Belege bei L. Oeing-Hanhoff, Ens et unum convertuntur, 127 f. Meist wird übersehen, dass das lat. privatio ontologisch einen anwesenden Modus von Abwesenheit und so ein sich bekundendes Weg- oder Ausbleiben und nicht bloß ein Nichtvorhandensein (eine einfache Negation) besagt. Privation kann ein Fehlen, einen Mangel (ein
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Übel), aber auch ein ,Befreitsein‘ von einem Mangel (Schmerzen) oder einfach das ,Freisein von …‘ bedeuten. 19 Thomas von Aquin, De pot., q. 9, a. 7: Unum […] non addit supra ens nisi negationem divisionis, non quod significet ipsam indivisionem tantum, sed substantiam eius cum ipsa: est enim unum idem quod ens indivisum.
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weit es ein in sich Unzerteiltsein des jeweiligen Seienden ist, dürfte jedenfalls nicht selbst wie ein Seiendes (verdinglicht oder hypostasiert) vorzustellen sein, denn Thomas betont, es ist nichts zum Seienden Hinzugefügtes. Ein solches würde ja dann eine neue Einheit mit dem Seienden erfordern – und so weiter ins Endlose. Das In-sich-Einssein ist jedenfalls auch kein äußerliches Band der Einheit, vielmehr – hier meldet sich wieder die Sache – durchwaltet das Einssein vom Phänomen her gesehen das ganze Seiende: »Das Eine […] fügt dem Seienden bloß die Negation der Teilung [im Sinne einer Privation] hinzu; nicht dass es nur die Ungeteiltheit selbst bezeichnen würde, sondern die Substanz des Seienden mit ihr [der Ungeteiltheit] selbst. Es ist nämlich das unum dasselbe (idem!) wie das ungeteilte Seiende.«19 Nun ist für Thomas Identität das volle Einssein mit sich selbst. Damit durchwaltet das Einssein das ganze selbstständige Seiende. Was eins ist, ist das jeweilige Ganze. Aber dieses müsste sowohl ein aktiv einigendes als auch ein passiv geeintes Einssein umfassen. Die bloß negative Umschreibung des Eins-seins durch das Ungeteiltsein kann dazu niemals ausreichen. Somit ist mit der Ungeteiltheit des Seienden sachlich viel mehr angezielt, als die negative Bestimmung hergibt. Dass Seiendes nur als Ungeschiedenes es selbst und mit sich identisch ist, ist übrigens nicht mit abstrakter Ununterschiedenheit im Sinne von begrifflicher Unbestimmtheit zu verwechseln, aber auch nicht, wie schon angedeutet, mit der Annahme leeren Einerleis. Im Gegenteil, Seiendes ist im Aufgang seiner selbst (wie ein Same sich entfaltet) da – also vernehmbar; es enthält sich selbst, enthält als res sein Wassein (quidditas), sein Wesen (essentia) in Fülle. Die Unzerteiltheit in sich (indivisio in se) verneint zwar (solange es besteht) die Zerlegtheit oder Zerlegbarkeit des jeweiligen Seienden in ein Vielerlei (divisio ipsius in multa), schließt aber keineswegs das Haben von Teilen, von Akzidenzien einer Substanz oder der Möglichkeiten der Entfaltung zur Wirklichkeit, ja überhaupt innere Vielheit (multitudo intrinseca) aus. Einssein und Vielfältigsein schließen einander innerhalb eines Ganzen eben nicht aus. Nur insofern das Seiende in sich eine Mannigfaltigkeit versammelt, eins ist und (eigentlich ein geeintes) Ganzes ist, kann es nicht zugleich und in derselben Hinsicht ein (wie Schlachtvieh) Zerteiltes, ein in sich Zertrenntes, Zersplittertes oder Auseinandergenommenes sein, das ja andere Seinsweisen angenommen hat.
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Gleich ob sich ein Ganzes aus Teilen zusammensetzt oder in sich Seinskonstituenten versammelt (und eine divisio essentialis der Prinzipien des Seienden ermöglicht), es ist seinem Seinssinn nach notwendig mehr als diese Teile, mehr als die Akzidenzien eines selbstständigen Seienden oder mehr als dessen Seinskonstituenten (alle diese abstrakt nur für sich in ihrem Eigensein genommen). Es ist als Ganzes es selbst und als solches mit sich (samt seiner inneren Vielfalt) ungeteilt eins. An dieser Stelle müsste der Gedanke über Thomas hinaus positiv gewendet werden. Ein Ganzes ist eins und eines im Zusammenhalt und im Zusammengehören der Teile oder Konstituenten, also eins nicht trotz, sondern gerade mit und wegen des Vielfältigseins und durch dieses (im Sinne einer Vermittlung). Einssein ist nur in einer bestimmten Wesensfülle als Einssein des Mannigfaltigen und in Mannigfaltigkeit (in jedem Teil ganz anwesend) und in geeinigter und zum Miteinigen gebrachter Vielfalt zu verstehen.
6.2.2 Das Anderssein des Seienden
Vierter Exkurs
Kehren wir wieder zur thomasischen Sicht des In-sich-Einssein des Seienden zurück. Hierbei darf man den ersten Artikel von De veritate nicht überstrapazieren. Er bietet keine Ontologie des Einsseins in (innerer) Mannigfaltigkeit. Es geht Thomas um etwas anderes, um das Seiende (in seinem Sein), das primär auf sein Anderes (ad alterum), auf den das Sein gewahrenden Intellekt (intellectus concipiens) bezogen ist. Näherhin geht es um die Wahrheit und das Gute als Übereinkunft des Seienden mit der menschlichen Seele. Daher geht es ihm nicht um Vielheit (multitudo) als solche, vielmehr um das Übereinkommen des Seienden mit dem Seienden.20 Wir verfolgen aber dennoch exkursartig dieses Nebenthema und fragen, ob und wie sich am jeweiligen Seienden der Bezug zur Vielheit oder umgekehrt von der Vielheit her zeigt oder zeigen müsste. Wenn Thomas die Einheit des jeweiligen Seienden betont, so hebt er doch zugleich hervor, dass das Seiende etwas ist, das von allen anderen unterschieden (aliquid in quantum est ab aliis divisum) ist. Thomas redet von »zwei Negationen«, durch welche die Vielheit von in sich ungeteilten Dingen angesprochen wird, »insofern nämlich etwas in sich ungeteilt und von den anderen abgeteilt ist. Dieses Geteiltsein 21 besteht darin, dass das eine von ihnen nicht das andere ist.« Gesagt ist also nur, 20 Vgl. die Klärung der Aussageabsicht bei G. Pöltner (1972a), Schönheit. Eine Untersuchung zum Ursprung des Denkens bei Thomas von Aquin, 60– 65. 21 Thomas von Aquin, De pot., q. 9, a. 7: cum unum addat supra ens unam negationem, secundum quod aliquid est indivisum in se, multitudo addit duas negationes, prout sciliet aliquid est in se indivisum, et prout est ab alio divisum. Quod quidem dividi est unum eorum non esse alterum.
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dass dieses Eine (von Vielen) eben nicht jenes Andere (von den Vielen) ist, sondern jedes ist jeweils es selbst und unter Wahrung der Unterschiede mit sich dasselbe. Alles Weitere in ihrem Verhältnis ist damit noch präzisiv offengelassen. In der Schulsprache wird die Ungeschiedenheit in sich selbst innere Einheit (ad intra) genannt und gilt als primäres Element der Einheit. Die Geschiedenheit von allem ringsum anderen, von der Umgebung, wird äußere Einheit (ad extra) genannt und gilt als sekundäres Element der Einheit, das aus dem ersten folgt. Dass und wie hier das Einssein gedoppelt zum Abschluss kommt, steht in dieser Einteilung außer Frage. Man kann sie außerdem leicht überinterpretieren, indem man das Grenzphänomen der Gestalt nicht für das kommunikative Wesen des ganzen Seienden, sondern primär für eine Be- und Abgrenzung gegen alles Äußere und wesensfremde Andere eines Seienden hält, die darin gründet, dass es sich selbst (seine Identität oder Individuation) behauptet. Damit wäre eine individualistische Position bezogen, die ja von großer Nachhaltigkeit war und den (post)modernen Pluralismus vorbereitet hat. Aus anderen Prämissen kann die Be- und Abgrenzung des Seienden deswegen auch dialektisch als geschehende Ausgrenzung der Anderen als Negation interpretiert werden, die ihrerseits (also doppelt) negiert zur Aufhebung oder zur verschmelzenden Einigung ihrer Unterschiede führen, aber auch mit totaler Vernichtung des Anderen enden könnte. Die an die Sache des Textes gehaltene Interpretation kann auch in eine andere als die individualistische Richtung weisen. Gewiss würde das, was sich nicht selbst im Aufgang der Gestalt zusammenhält, ins Grenzenlose zerfließen und würde dann nichts enthalten. Somit unterscheidet sich das Seiende von anderem, weil es nur so es selbst sein kann. Doch es kann nur sein, was es ist, wenn es durch seine Erscheinungsgestalt nicht nur in sich geeint, sondern auch von anderen unterschieden ist, sein Wesen zeigt und entfaltet. Aber was es ist, könnte es gleich ursprünglich nicht nur für sich, sondern für sie (die anderen Seienden) sein und umgekehrt die anderen für es. Das Sich-Unterscheiden im Austrag des Geschiedenseins von anderen geschieht immer auch um willen anderer und unter Wahrung des Einsseins mit anderen, und zwar so, dass das Einssein die Identität des Bestandes über sich hinaus zur Identität des Geschehens im Bezug wölbt, denn nur wenn Seiendes mit sich (dem Bestand nach) eins ist, kann es mit anderen (im Bezugsgeschehen) eins werden, ja eins sein (anwesen) in (Selbst-)Mitteilung (communicatio), in Teilnahme (participatio) und Übereinkunft (convenientia, consonantia) mit- und aneinander. Ein und dieselbe Grenze, die von anderen trennt, macht für andere berührbar, bringt in Kontakt. Daher das französische Sprichwort distinguer pour unir: Unterscheiden, um zu vereinigen. Die konkrete Gestalt des anwesenden Seienden ist Versammlung
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der inneren Fülle des Seins und konstituiert den kommunikativen Sinn des Seins in Grenzen mit. Sehen wir nun den Text genauer an, so will Thomas gar nicht nur sagen, dass jeweils das Eine nicht irgendein Anderes von vielen ist und umgekehrt. Das Seiende ist nach Thomas nicht nur faktisch jeweils eines unter vielen, das von den anderen getrennt vorhanden ist, sondern ist als solches wesenhaft selbst in Hinordnung auf viele da (ens in ordine ad aliud). Das konkrete Geschiedensein des Einen im Hingeordnetsein auf das Andere bzw. die und den Anderen hin (secundum ordinem unius ad alterum) und – ein neuer Gedankenschritt – des Einen von ihm gegenüber getrennten Anderen her (secundum divisionem unius ab altero) drückt nach Thomas der Name aliquid (irgendein anderes oder irgendetwas anderes von Mehreren) aus, was so viel heißt wie ein aliud quid, ein anderes Etwas (Was), ein anderes Anwesendes sein. Jenes Andere ist getrennt, nicht identisch mit diesem Seienden (hoc ens).22 Dennoch ist auch jenes Seiende ein Anderes, sofern es für Andere und von ihnen aus gesehen zu den von ihnen Verschiedenen, Geschiedenen und Getrennten gehört. Aliquid ist hier einer der transzendentalen Namen des Seienden, die mit ihm ,konvertibel‘ sind und es erläutern.23 Alles und jegliches Seiende ist also (vom anderen her gesehen) gleichfalls ein anderes Wesen, ein Anderes zu Anderen, und daher seinem Sein nach als Anderes konstituiert; es besteht seinem Anderssein nach als Anderes aus dem Bezug der Anderen zu ihm. Jedes Seiende ist nicht nur eines unter Anderen (singuläres Individuum), sondern es ist anders als alle Anderen und so ist es in seinem Anderssein ein Anderes. Es ist zwar deiktisch von außen (mit dem Zeigefinger, der es bezeichnet) aus einer Vielzahl als Dieses identifizierbar, aber primär ist es mit sich selbst Ein-und-dasselbe, von sich her dieses Andere, was einschließt, diese Andere oder dieser Andere (Jemand, Person) selbst zu sein.24 Das verharmlosend mit »irgendein Etwas« oder »ein anderes Etwassein« übersetzte aliquid versperrt den Blick für den grundstürzenden Ortswechsel der Blick22 Vgl. auch Thomas von Aquin, Opuscula philosophica: De natura generis, cap. 2, nr. 481: Aliquid namque idem est quod aliud quid, quod idem est quod n o n-h o c : omne namque ens est aliquid, ita quod non nisi illud solum. Die Authentizität des Werkes ist allerdings nicht gesichert. 23 Das Aliquid wird allerdings sonst (außer a.a.O., nr. 478, wo sechs Transzendenzien aufgezählt werden: ens, res, aliquid, unum, verum, bonum) nicht genannt. 24 Wichtig wäre hier die Unterscheidung zwischen Singulär- und Diesessein. Seiendes ist immer irgendeines unter vielen seiner Art, aber jedes Seiende ist auch einmalig. Es kommt ihm zu, Dieses (ja Diese oder Dieser da) zu sein. Sein gibt dem Soseienden Grund, eines unter anderen zu sein, aber so, dass es Grund jedes besonderen Individuums ist. Sein als Grund für Soseiendes, eines zu sein, ist Einzelheit, Konkretheit, Individualität, Singularität. Sein als Grund der einzigartigen Besonderheit des Individuums ist Diesessein, es besitzt nicht bloß das abstrakte Moment der Diesesheit (haecceitas). – Zum personal verstandenen Anderssein der/des Anderen siehe unten den fünften Exkurs: 7.3.
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richtung, der hier im Vorbeigehen angebahnt ist. Die Rezeption lief in der Bahn des Essenzialismus und hat das Wassein eines jeden Seienden hervorgehoben, jedoch sein kategorial nicht reduzierbares Anderssein unterschlagen. Wenn ThomasInterpreten das aliquid überhaupt unter den Transzendentalien anführen, so wird es meistens nicht als eigenständiges nomen transcendens aufgefasst, sondern (oft auch zusammen mit res) auf das im unum immer schon Mitgesagte reduziert. Was jedoch der ontologische Gedanke des aliud quid impliziert, wird deutlicher, wenn wir ihn existenziell wenden: Ich bin nicht nur inmitten aller Seienden (bei aller Wesensauszeichnung) ein Seiendes, sondern immer schon gleich ursprünglich unter den Vielen jeweils ein Anderer, ein Anderer im Verhältnis zu Anderen und, solchem Sichverhalten zuvor, von Anderen her. Ich bin meiner Herkunft nach von Anderen her primär und wesenhaft Mitmensch, wenngleich auch gleich ursprünglich mit ihnen dieser Mensch (sui generis, eigener Herkunft, einzigartig, heterogen in meinem Sein). Das würde aber implizieren, dass ein Ausgang nur von mir selbst (in exklusiver Subjektivität) seinswidrig wäre. Erst von Anderen her bin ich und kann ich ganz ich selbst sein, sofern diese Anderen mich in mein Eigenstes freigegeben und in meinem Anderssein zugelassen haben.
6.2.3 Transzendentale Vieleinheit der Seienden und Seinskonstituenten
Zusammenfassend wird in De veritate gesagt: »Wie daher ein Seiendes [seinem Sein nach] ,eins‘ genannt wird, insoweit es in sich ungeteilt ist, so wird es [ein anderes] ,etwas‘ genannt, insoweit es von anderen abgeteilt ist.«25 Als unum gehört das Seiende zu den transzendentalen Namen, die das Seiende »absolut« kennzeichnen, und als das jeweils andere Etwas zu denen, die es ,relativ‘, das heißt in Hinordnung auf Anderes und von Anderen her, charakterisieren. Als Anderes zu Anderen und nicht zuletzt als in sich selbst ontologisch differenzierte Einheit ist es daher notwendig in Vielheit gegeben.26 Die Übersetzung von divisum mit ,Geteiltsein‘ spricht unbeabsichtigt die Teilhaftigkeit eines Ganzen an. Einheit in Vielheit ist ja das Ganze aller Seienden (omne ens) im Sinne eines Gesamten, einer Allheit, zu der alles, was es da zusammen und füreinander gibt, auf dem Grund ihm zukommenden Seins gehört. 25 De ver., q. 1, a. 1: Unde sicut ens dicitur unum, in quantum est indivisum in se, ita dicitur aliquid, in quantum est ab aliis divisum. 26 Thomas von Aquin, De pot., q. 3, a. 16, ad 3: Non enim ex hoc quod aliquid dicitur esse unum, negatur quin aliquid sit extra ipsum quod cum eo constituat multitudinem.
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a) Vielheit als transzendentale Eigenheit des Seienden
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Von da aus war es naheliegend, der Vielheit den Rang und die Würde transzendentalen Seins zuzugestehen.27 Mit der Thematisierung der Vielheit überschreiten wir das im Beginn von De veritate textlich Gesagte, kaum aber die dort gedachte Sache. Die Vielheit entfaltet den inneren Sinn von Sein; sie gehört zwar zur Seinsmannigfaltigkeit der Transzendentalien, fügt aber dem Seienden nichts hinzu außer der Verschiedenheit (distinctio), durch die das eine der Seienden nicht das andere ist.28 Ihr Ursprung wird nicht vom Sein als Sein, sondern von der Konstitution des Seienden her gedacht, die sich freilich aus dem Sein, an dem Seiendes durch sein Wesen partizipiert, versteht: Die Vielheit entspringt dem Geschiedensein der Wesensformen (divisio formalis) und nicht einer stofflichen Aufteilung. Sie kommt durch Gegensätze oder unterschiedliche Formen zustande: »[…] und aus dieser Geschiedenheit folgt die Vielheit (multitudo), welche nicht zu irgendeiner Gattung, sondern zu den Transzendentalien gehört, insofern das Seiende durch Eines und Vieles unterteilt wird.« 29 Aber mit einer solchen Unterteilung, die ja keine kategoriale Einteilung sein will, ist philosophisch nicht viel gesagt, wenn nicht ihr Hintergrund, ihre Herkunft, der Grund ihrer Differenzierung mit in Frage kommt. Die Entfaltung der Frage, woher Seiendes seinem Seinssinn (ratio) nach immer Eines und Vieles sein soll oder was ein solches ,und‘ zu bedeuten habe, wird durch die negative Unterbestimmung des Einsseins beeinträchtigt; denn sobald nach dem Grund der Entgegensetzung von Eines- und Vielessein gefragt wird, zieht sich Thomas systemkonsistent auf die Ungeschiedenheit (indivisibilitas) als Sinn des unum und die Geschiedenheit (divisio) als Sinn der Vielheit zurück.30 Die Entgegensetzung ist aber nicht kontradiktorisch, sondern privativ zu verstehen: »Das Eine, das mit dem Seienden konvertibel ist, steht der Vielheit auf die Weise einer Privation entgegen wie das Ungeteilte dem Geteilten.«31 Privation ist hier nicht Mangel, Fehlen, sondern das Freisein von Geteilt27 Im krassen Gegensatz zur Hervorhebung des unum scheint mir bei Thomas von der multitudo nur mit einer gewissen Zurückhaltung die Rede zu sein. Doch obwohl das Wort transcendens erst im 13. Jahrhundert terminologisch verwendet wurde und bei Thomas nur vierzehnmal vorkommt, handelt die Hälfte dieser Stellen von der Vielheit (multitudo); vgl. dazu J. A. Aertsen, Medieval, Philosophy and the Transcendentals, 91, 225. 28 Thomas von Aquin, De pot., q. 9, a. 7. 29 Thomas von Aquin, Sth I, q. 30, a. 3: […] est diviso formalis, quae fit per oppositas vel diversas formas: et hanc divisionem sequitur multitudo quae non est in aliquo genere, sed est de transcendentibus, secundum quod ens dividitur per unum et multa. Ähnlich auch Sth I, q. 11, a. 1, ad 2: […] ens dividitur per unum et multa, quasi per unum simpliciter, et multa secundum quid. »Das Seiende wird durch Einssein und Vielessein unterschieden, gleichsam durch das einfache Einssein und in bestimmter Hinsicht Vielessein.« 30 Vgl. Thomas von Aquin, Sth I, q. 11, a. 2, s.c.: […] ratio unius consistit in indivisibilitate: ratio vero multitudinis divisionem continet. 31 Vgl. Thomas von Aquin, Sth I, q. 11, a. 2: Unum vero quod convertitur cum ente, opponitur multitudini per modum privationis, ut indivisum diviso.
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heit (Pluralität), das irgendeine Weise des Mitanwesens von Geteiltheit nicht ausschließt. Das im Seienden gründende Einssein ist jedoch durch das Mitanwesen der Geteiltheit in bestimmter Hinsicht (secundum quid) eingeschränkt und nicht einfachhin (simpliciter) als Eines zu verstehen; in einer bestimmten Hinsicht des Erblickbaren stellt es ein Vieles dar und umgekehrt sind auch einfachhin viele in gewisser Hinsicht eins oder kommen in Einem überein.32 Daher finden wir im Bereich des Seienden Einheit und Vielheit, doch so, dass das Seiende als einfachhin Eines nur in etwa (secundum quid) durch die Vielheit unterteilt wird. Das Viele wäre nicht im Seienden enthalten, wenn es nicht auf irgendeine Weise im Einen enthalten wäre.33 Ist hier ein Gefüge der Unterordnung – Sein, Einssein unter dem Seienden (sub ente) und Vielheit unter dem Einen (sub uno) – ausgesprochen oder bleibt nur offen, wie das Eine in sich differenziert ist? Einheit und Vielheit bilden bei Thomas nicht (immer) eindeutig einen echten, einander einschließenden und ergänzenden Gegensatz. Das Sachmotiv einer Weise des Sich-Offenbarens und -Mitteilens der Seinsfülle durch ein Einssein, das eint, indem es differenziert, und das Differente zur Entfaltung bringt, indem es eint, scheint unter der Dominanz des negativ bestimmten unum zurückzutreten.
In seiner sachlichen Tragweite ist es von kaum zu überschätzender Bedeutung, dass Vielheit (multitudo) nicht auf irgendeine Gattung (Kategorie, Prädikament) zurückgeführt, sondern als den Transzendentalien zugehörig erblickt wird. Wir sind (mindestens) seit Kant eher daran gewöhnt, dass in der Kategorien-Trias der Quantität der apriorische Verstandesbegriff der Vielheit zwischen Einheit und Allheit steht und Einheit zusammen mit Vielheit die Allheit (Totalität) bildet, wobei die Kategorie der Quantität eine der transzendental-logischen Begriffsformen darstellt, die zu den apriorischtranszendentalen Bedingungen der Denkbarkeit der in der Anschauung gegebenen Gegenstände gehört und sie aus Teilen zusammengesetzt erfahr- und zählbar macht. Hingegen vom konkreten Phänomen her dürften wir wohl zuerst in Mannigfaltigkeit gegebenes Anwesendes in seiner bedeutungsvollen Offenbarkeit erfahren. Um mit dem Messen und Zählen anfangen zu können, müssen wir das Anwesende erst als Gegenstandsbereich für ein handelndes Subjekt entwerfen. Um zu dem von Thomas Gemeinten vorzudringen, vergegenwärtigen wir uns vorerst den Zugang zur aristotelischen Kategorienmannigfaltigkeit, um den Un32 A.a.O., ad 1: […] remotio unitatis fundatur in aliquo uno. […] quod multitudo est quoddam unum […] quod est unum simpliciter, est multa secundum quid; et e converso. 33 A.a.O., a. 1, ad 2: […] ipsa multitudo non contineretur sub ente, nisi secundum quod aliquo modo contineretur aliquo modo sub uno.
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b) Zum Unterschied von transzendentaler und kategorialer Vieleinheit
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terschied zur transzendentalen Vielheit (der Seinsmannigfaltigkeit alles Seienden) zu verdeutlichen. Kategorien bilden notwendig eine Vielheit, weil sie allgemeinste Einteilungsgesichtspunkte darstellen, auf die hin Seiende (Individuen), die am Sein teilnehmen, ansprechbar sind und durch das, woraufhin sie angesprochen werden und hinsichtlich ihres Seins (das immer Eines und Vieles ist) ins Offene, Öffentliche und Offenbare gestellt werden. Zum Beispiel erblicken wir ein Hochhaus und sagen: »Das Haus ist so und so viele Meter hoch.« Wir sagen über es ,hoch‘ aus, wobei wir auf etwas Allgemeines wie Größe, Ausdehnung, in Metern gemessene Höhe – also auf Quantität, die sich von anderen Kategorien unterscheidet – geblickt haben. In analogen Abwandlungen wird ein gattungshaft-spezielles (generisches und spezifisches) Sein von Seienden innerhalb jeder Kategorie (als einer Hierarchie allgemeiner begrifflicher Differenzierungen) und durch alle hindurch beim kategorialen Beurteilen des Seienden mit ausgesagt. Die Vielheit geht wie das Sein und mit dem Sein und auf Grund eben der Seinsmannigfaltigkeit durch alle nach Gattung und Art begrifflich artikulierten Bereiche des Seienden hindurch, übersteigt, transzendiert sie und bildet so eine in diesem Sinne transzendentale Eigentümlichkeit des Seins. Das Axiom »Seiendes und Einssein sind konvertibel« (ens et unum convertuntur) müsste daher ergänzt werden: ,Seiendes und Vieleinheit sind konvertibel‘ (omne ens est unum multiplex).34 Seiendes ist ein in mannigfachen und mannigfaltigen Abstufungen und Abwandlungen ineinander Verfügtes.35 Beachten wir, dass Seiende in verschiedenen Graden ganz, und das heißt zugleich in verschiedenen Graden eins und vielfältig sein können, dann korrespondiert dem Einssein jeweils eine ihm entsprechend geeinte und ihm zugehörige Vielheit.36 Den wesentlich verschiedenen Stufen der Verwirklichung des Seienden und der Teilnahme am Seinsganzen entspricht eine der nichtquantitativen ,Höhe‘ des Einheitsgrades angemessene Vielheit. Das besagt, dass selbst noch, oder besser: erst recht, in der einfachsten Einheit, im Einssein Gottes als des Urhebers aller Seinsvollkommenheiten, in einem analogen Sinn die Seinsweise des Vielen in höchster Weise gewahrt ist. Eine transzendentale Vielheit, die dem, worüber sie ausgesagt wird, lediglich ein Nichtgeteiltsein hinsichtlich der Einzelnen hinzufügt, kann auch von Gott ausgesagt werden.37 Was in sich selbst geteilt und entgegengesetzt ist, ist 34 Zu diesem Axiom Caspar Ninks siehe unten 6.4.3.2 c). 35 In multiplex ist plecto enthalten, d.h. flechten, ineinanderflechten und -fügen. Der Gedanke des Schicksalhaften schwingt hier mit, vielleicht auch der der Vernetzung. 36 Zur multitudo correspondens uni vgl. Thomas von Aquin, De pot., q. 9, a. 7. 37 Thomas von Aquin, Sth I, q. 30, a. 3, ad 2: tantum multitudo transcendens […] non addit supra ea de quibus dicitur, nisi indivisionem circa singula. Et talis multitudo dicitur de Deo.
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38 Thomas von Aquin, Sth I, q. 4, a. 2: Cum ergo Deus sit prima causa effectiva rerum, oportet omnium rerum perfectiones praeexistere in Deo secundum eminentiorem modum; ad 1: […] quae sunt diversa, et opposita in se ipsis, in Deo praeexistunt ut unum, absque detrimento simplicitatis ipsius. De divinis nominibus; cap. V, lect.1, nr. 641: […] omnia causata […] in seipsis oppositionem habent et diversitatem, in Deo autem conjunguntur simul. 39 Zum Folgenden vgl. über die »Pluralität im Kontext des thomistischen Partizipationsgedankens« G. Pöltner (2005), Radikale Pluralität: »3.1 Partizipation als Einheit-Differenz« und »3.2 Freigabe der Vielheit durch Einheit«, 81– 85.
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in Gott eins, es präexistiert in ihm ohne Beeinträchtigung seiner unbegreiflichen Einfachheit und ist in ihm zugleich verbunden.38 Thomas geht jedoch nicht kurzschlüssig (ohne einen angemessenen Erfahrungsweg) von einer solchen Gottesvorstellung aus, sondern er orientiert sich zunächst am selbstständigen, in seinem Sein subsistierenden Seienden (der Substanz). Insoweit substanzielles Seiendes ist, hat es Sein; und es hat Sein, weil ihm Sein zukommt und ihm zu sein gegeben, mitgeteilt, kommuniziert ist.39 Seiendes partizipiert dadurch an der absoluten und einzigartigen Wirklichkeitsfülle des Seins. Teilnehmend am Sein ist das Seiende das Ganze des Seins, aber es ist dies eben nur teilweise (partialiter); es bringt in den unzähligen Abstufungen und Abwandlungen der Vielfältigkeit den Reichtum des Seins ins Anwesen, und zwar so, dass jedes Seiende das Sein wesensgemäß partikulär (particulariter) repräsentiert, darstellt und offenbart. Nun sind in der Teilnahme am Sein die Seienden jeweils selbst auf ihre ureigenste partikuläre Weise die Seinstotalität selbst und repräsentieren diese einander ergänzend mit- und füreinander. So ermöglicht gerade die Seinstotalität Pluralität durch Teilgabe des Seins. Im Sein kommen alle Seienden überein und sind auch zugleich voneinander verschieden und in sich differenziert. Jedes Seiende stellt sich selbst dar, es repräsentiert und enthüllt daher auf seine eigene Weise die innere Seinsmannigfaltigkeit, das Sein in Einheit und Vielfältigkeit, mit Anderen und von ihnen her. Demgemäß sind ontische Stufen, Ränge der Selbstständigkeit des Seienden und Abwandlungen seines Einsseins, aber auch darüber hinausgehende Weisen der Seinsmannigfaltigkeit oder Einheitsbildung (wie beispielsweise logische Einheiten) zu unterscheiden. Thomas differenziert sie systemkonsistent mehr vom Einssein als vom Ganzsein her. Diese terminologischen Festlegungen der Einteilung des Einsseins (dem jeweils eine Vielheit korrespondieren müsste) rückten in der Schulphilosophie in den Vordergrund. Einteilungen des Einsseins können als hilfreiche typologische Provisorien ohne Anspruch auf ein panoptisches System gelten. Philosophisch gesehen ist ihr Herkunftsbereich stets fragwürdig. Ohne näher auf diese phänomenologischen Bemühungen um die Einteilungen einzugehen, ist hier doch auf Probleme mit weltanschaulicher Tragweite zu verwei-
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sen. Die Frage ist nämlich, welchem Typus des Einsseins welcher Typus der Vielfalt korrespondiert. Wie ist jeweils das Vielfältige eins und der Eigentümlichkeit seines Einsseins gemäß in Vielfalt entfaltet? So korrespondiert der Charakter der Vielheit eines Sandhaufens oder einer Gesteinsformation nicht dem Einssein eines Lebewesens, das wesenhaft durch sich selbst zustande kommt. Oder negativ formuliert: Sind organismische Prinzipien der Selbstorganisation nicht in sich selbst mit hinzukommenden Einheiten und Zufallsbildungen kompatibel usw. Die Verwechslung und Vertauschung des Einheitsgrades oder der Art von Mannigfaltigkeit verschiedener Seinsstufen kann fatale Irrtümer zur Folge haben. Besonders eine dieser Irrtumsmöglichkeiten verkehrter Zuordnung hat Thomas in kritischer Auseinandersetzung mit Avicenna (Abû ‘Alî ibn Sînâ, 980 –1037) hervorgehoben, wenn er die Gleichsetzung von transzendentaler und prädikamentaler (kategorialer) Einheit sowie die These, dass jede Vielheit das Resultat quantitativer Teilung sei, zu widerlegen suchte.40 Thomas hebt den Unterschied zwischen dem Einen als transzendentaler Eigenheit des Seienden (unum quod convertitur cum ente) und dem Einen als Prinzip der Zahl (unum principium numeri) hervor. Dieser Unterscheidung entspricht der Unterschied zwischen transzendentaler Vielheit (multitudo transcendens) und zahlhafter Vielheit (multitudo numeralis).41 Die Gattung (Kategorie) der Quantität enthält der Art nach die Zahl (discretum) sowie die ungeteilte Ausdehnung bzw. Dauer (continuum), welche die Bestimmung der Ordnungen des Nebeneinanders und Nacheinanders ermöglicht. Die Zahl (das Gezählte, die Summe) ist eine durch das unum gemessene Vielheit oder eine Vielheit von Einheiten. Das Messen vollzieht aber der Mensch vermittels seiner erkennenden und imaginierenden Seele. Besteht das gezählte Ding auch unabhängig vom Menschen, so ist die Zahl als solche doch von der geistigen Seele (von jemanden der zählt) abhängig. Das unum principium numeri gehört zur Gattung des Mathematischen und mit quantum und continuum ist der Gegenstandsbereich (das Formalobjekt) der Mathematik bestimmt. Die Zahl entsteht aus der Teilung des Kontinuums. Man stelle sich eine Linie vor, deren Abschnitte durch einen Punkt geteilt sind und die weiter auf diese 40 Dazu Thomas von Aquin, Quaestiones Quodlibetales X, q. 1, a. 1, nr. 195. Zu diesem Unterschied vgl. L. Oeing-Hanhoff, Ens et unum convertuntur, 131–140; J. A. Aertsen, Medieval Philosophy and the Transcendentals, 212–231, der auf die Fragwürdigkeit der Avicenna-Rezeption des Thomas näher eingeht. In der Folge war vermutlich die Annahme von Johannes Duns Scotus wirkungsgeschichtlich bedeutsam, der das transzendentale Eine nicht für wesentlich vom Einen als Prinzip der Zahl unterschieden hält (Quaestiones subtillisimae super libros Metaphysicorum Aristotelis, in: Opera omnia, ed. Viv., Bd. IV, q. 2, n. 17). 41 Thomas von Aquin, Sth I, q. 30, a. 3: Multitudo [transcendens] autem sic accepta hoc modo se habet ad multa de quibus praedicatur, sicut unum quod convertitur cum ente ad ens.
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Weise unendlich teilbar ist. Was hier mathematisch unsinnlich imaginiert wird, ist keine Vernunftwahrheit, geht auch nicht auf die sinnliche Anschauung zurück, sondern ist Produkt der Einbildungskraft. Die Bedeutung der Unterscheidung von transzendentaler Vieleinheit und kategorial-quantitativer Vieleinheit ist erstens von großer Aktualität, da sie deutlich die Grenzen berechnenden Denkens zu markieren sucht, was die Unmöglichkeit impliziert, die Wirklichkeit als solche berechnend in den Griff zu bekommen. Dabei ist nicht an ein Nebeneinander transzendentaler und kategorialer Bereiche der Vieleinheit gedacht, weil ja die diskrete (zahlenhafte) oder kontinuierliche Art von Quantität in der trans zendentalen Vieleinheit gründet, die ihrerseits wiederum die gesamte Kategorienmannigfaltigkeit durchwaltet; jedoch soll die transzendentale Vieleinheit nicht mit kategorial-quantitativer Vieleinheit verwechselt, auf diese reduziert und mit ihr gleichgesetzt werden. Zweitens ist mit der Erkenntnis wesensverschiedener und dennoch analoger Stufen der Zusammengehörigkeit der Einheit und Einfachheit einerseits und der ihnen entsprechenden Ausfaltung in Vielheit und Mannigfaltigkeit andererseits das Eine und Einfache auch dort nicht von der Vielfältigkeit des Vielen ausgesperrt, wo eine quantifizierbare Pluralität nicht mehr in Frage kommt; erblickt werden ein Einssein in nichtquantitativer Vielfalt und die quantitativ nicht beschränkte Vielfalt im Einssein. Rückblickend auf das über die transzendentale und kategoriale Vieleinheit Gesagte ist hervorzuheben, dass es uns selbst, unsere Seinsweise leibhaftigen Lebendigseins betrifft, welche die menschliche Seele genannt wird, durch die der Mensch in Welt-Offenheit anwesend und dazu bestimmt ist, mit allem Seienden und dessen Offenbarkeit übereinzukommen (natum […] convenire cum omni ente). Insoweit der Mensch im leibhaftigen Allbezug auf eine bestimmte Weise (des Erkennens und Strebens) alles (quodammodo omnia) ist, hat er keine quantitativ gesonderten Teile, keine Teilvermögen, sondern verhält er sich in seinen einzelnen Wesensvollzügen immer gesamtmenschlich. Thomas legt im Anschluss an Augustinus dar, dass die Seele (als Vollzugsform menschlicher Leiblichkeit) gemäß der Ganzheit des Wesens (secundum totalitatem perfectionis et essentiae) in jedem Teil des Körpers »ganz« anwesend sei, fügt jedoch hinzu: nicht aber gemäß der Ganzheit ihrer Kraft und Wirkfähigkeit (secundum totalitatem virtutis).42 Sie ist somit nicht gemäß ihrem »ganzen« Wirkvermögen in jedem Teil des von ihr beseelten und durch Organe gegliederten Körpers, denn sie erfordert, beispielsweise für ihre Seh- oder Hörkraft (und deren Ausübung), die Ausbildung verschiedener Organe. Im Sehen und Hören sind wir auf verschiedene Weisen und dennoch als ganze Menschen präsent und unserer Sinne 42 Thomas von Aquin, Sth I, q. 76, a. 8.
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mächtig. Die sogenannten »Seelen-Teile« oder »-Vermögen« sind daher als Wirkvermögen nichts quantitativ Teilhaftes, sondern ein Ganzes hinsichtlich des Selberkönnens (totum potentiale) und der Mächtigkeit des Ganzen (totum potestativum). c) Zur Notwendigkeit einer kritischen Weiterführung
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Vergegenwärtigen wir uns nochmals die thomasische Grundposition: »Wie nämlich das Eine das ist, was nicht teilbar oder nicht geteilt ist, so ist das Viele das, was teilbar oder geteilt ist.«43 In ihr ist deutlich geworden, dass die Einheit nur negativ und als solche rein nichts-sagend bestimmt wurde. Das betrifft auch die Vielheit als solche, da im Dunkeln bleibt, was Einssein und Vielfältigkeit positiv und konkret einander bringen. Ein einigendes Sichentfalten und Aufgang in eine geeinte Mannigfaltigkeit, ein Entspringenlassen in sich selbst durch Sichunterscheiden, wie wir es faktisch bei Thomas in der Frage der Subsistenzbewegung oder auf den verschiedenen Stufen des Einsseins in Mannigfaltigkeit finden, lässt sich streng genommen nicht aus der negativen Bestimmung der Einheit heraus denken.44 Man kann es nicht bei der Begründung bewenden lassen, dass wir um das in unser Verständnis rufbare Einssein intuitiv wissen, aber nicht sagen können, was es ist, weil es für transzendentale Bestimmungen grundsätzlich keine Wesensdefinition geben kann. Gerade die Rückkehr in das Mysterium des Einsseins ist nur möglich, weil Einssein sich konkret, im phänomenalen Aufgang seines gleichfalls unbegreiflich bunten Reichtums an Vielfalt, in Vielerlei und Vielzahl bekundet und offenbart und darin sich die Korrelationen zwischen dem Einssein des Erscheinenden und der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen als im Sein gegründet erweisen. Negative Philosophie darf nicht als Ausrede für einen Begründungsnotstand missbraucht werden. Die Frage ist zu stellen, ob die Bestimmung der Einheit als ,Ungeteiltheit‘ dekonstruktiv auflösbar ist. Wie es dazu kommt, dass Einheit als Ungeteiltheit gedacht wird, hat Edmund Husserl überzeugend gezeigt. Gehen wir nämlich von der Definition der Einheit aus, wonach »Eines ist, was geeinigt ist«, dann ist dazu eine letzte Steigerungsform des Einsseins, ein Ideal der Einheit denkbar. Das Ideal der Einigung ist die Unteilbarkeit und deren Ideal wiederum ist der mathematische Punkt.45 Dieser wird bei 43 Thomas von Aquin, Compendium theol. 1, cap. 60, nr. 105: Sicut autem unum est indivisibile vel indivisum, ita pluralitas est divisibile vel divisum. 44 Vgl. hierzu auch G. Pöltner (1972a), Schönheit. Eine Untersuchung des Ursprungs des Denkens bei Thomas von Aquin, 34–48. 45 E. Husserl, Gesammelte Werke, Husserliana, Bd. 12: Philosophie der Arithmetik, 154: »Eines ist, was geeinigt ist. Die Einigung läßt aber Vollkommenheitsgrade zu; sie ist um so vollkommener, je inniger sie ist. Das Ideal der Einigung ist aber Unteilbarkeit, das Ideal der Unteilbarkeit der mathematische Punkt – folglich kommt der ,strengen‘ Einheit Punktualität zu.« – Welch ein Gegensatz
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Thomas als etwas schlechthin Unteilbares gedacht, das über seine Einheit hinaus nur lageverschieden ist. Der Punkt ist als »Zeichen der Teilung« einer Linie lediglich die Privation einer kontinuierlichen Verbindung und so diskrete Quantität.46 Das metaphysische Einssein (indivisibile, indivisum) ist damit in Analogie zum mathematischen ,Punkt‘ gedacht. Doch gerade auf Grund der thomanischen Unterscheidung des mit dem Seienden konvertiblen Einen und des Einen als Prinzip der Zahl verbietet sich jedes metaphysische Konstruieren in Analogie zur als Grundlage genommenen Mathematik. Aber der Philosophierende selbst kann der Gefahr verfallen, von einem (sogar methodisch) reduzierten Seinsverständnis auszugehen, welches das Seiende von der Seiendheit (entitas entis) her versteht. Die Seiendheit ist streng genommen die InBlick-Nahme des Seienden hin auf sein abstraktes Wesen, eine Wesensabstraktion, die von der Seinsfülle absieht, also keine ontologische, sondern eine essenzialistische Fassung des Seienden. Man spricht meist ins Unreine von Einheit und Vielheit, von Vieleinheit und Ganzheit usw. Beim Wort genommen werden hier Einssein und Geeinigtsein (entsprechend dem Suffix ,-heit‘) abstrakt, wie ein Wesensallgemeines, als Einheit und ebenso wird die Vielfalt des Sichentfaltenden abstrakt als Vielheit bestimmt. Einheit und Vielheit sind so Bestimmungen der Seiendheit (allgemeinste Washeit) und nicht des Seins (Anwesens, Waltens, Sichereignens) des Seienden. Dazu kommt die Gefahr, sich Einheit und Vielheit wie vorhandene Seiende verdinglicht vorzustellen, wodurch Einheit und Vielheit in Konkurrenz zueinander geraten, die es ja auch faktisch gibt. Setzt man die abstrakte Einheit der abstrakten Vielheit entgegen, so ist ihre Unvereinbarkeit oder dem Anschein nach echte Antinomie vorprogrammiert. Auf diesen tragischen Widerstreit der Möglich- bzw. Unmöglichkeiten, ganz zu sein als Eines und zugleich als Vieles, muss näher eingegangen werden.
6.3 Zur aporetischen Dialektik der verschiedenen Auffassungen von Einheit und Vielheit, Ganzem und Teil (Totalitarismus und Pluralismus)
zur chinesischen Schriftkultur, wo das Zeichen für Einssein bzw. Einheit wie unser Bindestrich (,–‘) aussieht, der das Zusammengehörige verbindet, d.h. sammelt, und zwar als Waagrechte, Horizontale, die Breite des tragenden Weltgrundes anzeigend. 46 Vgl. L. Oeing-Hanhoff, Ens et unum convertuntur, 138 f.
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Die abendländische Philosophie (und nicht nur sie) erscheint uns heute vom Vorherrschen eines totalitaristischen Einheitsdenkens bestimmt und durch mitunter extreme Pluralismen konterkariert. Das Plurale wurde häufig pejorativ als Unvollkommenes, Beschränktes, Vorübergehendes, Abstieg, Privation verstanden und aus dem
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übergeordneten Einen hergeleitet, ja auch wissenschaftstheoretisch und politisch abgewertet: »Wo Vielheit ist, da ist Zwietracht (ubi pluralitas ibi discordia)«, seufzt Wilhelm von Ockham, einen alten Gemeinplatz aufgreifend.47 Oder das Plurale wird umgekehrt als irreduzible, sich in Differenzen behauptende Letztgegebenheit angesetzt, woraus dann erst Zusammensetzungen (Aggregate) resultieren – ein ,-Ismus‘ des Pluralen, der Pluralismus. Die einander widerstreitenden, alternativen Konzepte des Ganz- und Einsseins sowie der anarchischen Vielheit sind hier unter dem Titel von ,Totalitarismus und Pluralismus‘ zusammengefasst. Gezeigt soll werden, dass diese Konzeptionen uns nicht vor eine echte Antinomie stellen. Es handelt sich um sachlich begründete Anliegen in Gestalt extrem einseitiger Auffassungen, die den Wahrheitsgehalt der gegnerischen Position nicht zu wahren verstehen. Ihr Widerstreit lässt eine innere Logik erkennen, insofern Schwäche und Ausweglosigkeit der eigenen Position die entgegengesetzte provozieren. Die widerstreitenden Positionen beruhen auf Privationen einer ursprünglicheren Auffassung des plural verfassten und sich entfaltenden Ganzen. Vielleicht verhält es sich hier ähnlich wie beim Kranksein, aus dem wir vieles über das Wesen des Gesundseins lernen können, da dieses für den Erkrankten und Genesenden, dem die Gesundheit noch fehlt und abgeht, anders und ursprünglicher hervortreten kann als dort, wo Gesundheit selbstverständlich ist. So lässt sich aus den Deformations- bzw. Privationserscheinungen des Ganzen methodisch eine aporetische Dialektik erkennen, aus der viel über das ontologische Wesen des Ganzen zu lernen ist und eine ursprünglichere Bestimmung des Ganzen aufleuchtet. Die Ganzheitskonzepte kommen dabei typologisch als totalitäres (totalitaristisches) und als pluralistisches Ganzes zur Sprache, wobei Typen randunscharfe Idealisierungen darstellen, die zumeist in unterschiedlichsten Legierungen vorfindbar sind: 1. Das totalitäre Ganze, auch Holismus (von lon, das Ganze) genannt: Als hologen be-zeichnet man ein Ganzes, das einseitig von der Einheit her konstruiert wird. Dieses kommt in zwei Grundformen zur Sprache: Die Teile oder Konstituenten werden auf Grund eines den Teilen überlegenen (pseudo-teleologischen) Ordnungsprinzips in ihrer relativen Eigenständigkeit aufgehoben. Entweder wird die Einheitsform so dominierend angesetzt, dass das Plurale überhaupt unterdrückt wird (a) oder ein Teilbereich wird als Ganzes absolut gesetzt und die übrigen Teile werden durch Unterordnung unterdrückt (b). 2. Das pluralistische Ganze, Merismus (von mroß, Teil, Anteil, Teil eines Ganzen, Stück): Merogen wird eine Einheitsbildung, die aus Teilen entstanden ist oder rekon47 Wilhelm von Ockham, Dialogus III, 2, 1c, 1.
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struiert wird, genannt. Das Ganze wird elementaristisch, additiv und summativ verstanden, und zwar als die Summe der Teile plus der Gesamtheit ihrer Wechselwirkungen; die Einheit des Ganzen ist hier nur Ergebnis einer ,Ansammlung‘, die nicht ein Erscheinenlassen aus dem Einigenden her ist (a), oder im extrem radikalen und heterogenistischen Pluralismus wird Einheit nur als Verstandesform unter Bejahung in sich selbst vielfältiger Differenzen oder Diversitäten zugelassen (b).
6.3.1 Das totalitäre Ganze
Im Anfang war das Ganze. Das Ganze wird aus der absolut gesetzten Einheit bestimmt und hebt jeden inneren Unterschied auf. Vielfältigkeit, Vielheit, Vielerlei gelten als ontologischer Abfall vom Ursein im Doppelsinn von Abwendung und Weltmüll. Die mit dem einigenden oder geeinten Einssein gegebenen Unterschiede sind nicht gleich ursprüngliche innere Unterschiedenheiten, die am Ganzen ihren Anteil nehmen, sondern nur äußere Modalitäten der Einheit, bloße Erscheinung, Schein – bis hin zur Illusion. Idee und Begriff werden der Einheit, sinnliche Erscheinung und Anschauung werden der Vielheit zugeordnet, und mit ihnen stehen wir in uns selbst in einem extremen Spannungsverhältnis – in einer ,schizoiden Position‘, uneins mit sich selbst für Einheit votierend. Alles ist im Ursprung so sehr eins, dass jede Vielheit nur als Abfall und Unvollkommenheit, als Vorläufiges, Zu-Überwindendes und letztlich Verschwindendes, nicht aber als letzte Vollkommenheit des sich vermittelnden Einsseins erscheint. Daher ist kein konkretes Seiendes das, was es selbst ist, sondern nur die mangelhafte Kopie seines Urbildes oder Urzustandes, mit dem es wieder eins zu werden gilt. Zunahme der Einheit geht einher mit Abnahme jeglicher Pluralität, begrenzter Teilhaftigkeit und schmerzlicher Abgetrenntheit. Es geht in allem um Rück- oder Heimkehr aus der Zersplitterung zur Unendlichkeit des Ursprungs. Vielheit ist eine uneigentliche Wirklichkeitsweise, während die eigentliche die Einheit ist. Auf das unersetzbare Anliegen dieser Position, nämlich die Erweckung zum Einssein als ungeteilter Daseinsvollzug, den wir miteinander teilen dürfen, ist noch mehrfach zurückzukommen.48 Die Einheitsvorstellung setzt sich nicht ohne repressive Gewalt totalitär in der Aufhebung, Verschmelzung, Absorbierung ihrer zu bloßen Momenten, Modalitäten, 48 Auf diese Seinsweise wurde schon im Rahmen der Übung zur Sammlung verwiesen, vgl. den zweiten Exkurs.
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a) Totalitärer Ausschluss oder einschmelzende Aufhebung der Pluralität
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Aspekten oder Ansichten herabgedrückten Mannigfaltigkeit der einzelnen Teile, Konstituenten oder Individuen durch, die nur als das sich gegen die Einheit Behauptende und sich Auflehnende (stsiß) und daher das Ganze Negierende angesehen werden. Die Einheit ist das ewig in sich Ungeteilte, das Nicht-Viele, die Negation alles Negativen (des Pluralen) und damit auch wiederum ihre mögliche Sammlung und Aufhebung, Bewahrung, Rückführung und Rettung. Das formal Einigende der Einheit, ihre abstrakte Negativität allein, bleibt dennoch, innerlich durch ,nichts‘ unterschieden, unstrukturiert und undifferenziert zurück. Was auf diese Weise absolut unvermittelt und ununterscheidbar in sich verharrt, dem mangelt es an Transparenz, an Selbsterschließung (Wahrheit), Selbstmitteilung (Gutsein) und an überbordender Konsonanz in der Pluralität der Transzendentalien (Schönheit). Das Rückführungsprogramm von der Vielheit zur Einheit verdeckt das leere und langweilige Immer-wieder, in das sich das ursprüngliche Anliegen, dass alles in einer in die äußerste Mannigfaltigkeit gehenden Weise eins sei und nicht zu einem Brei zusammenschmelze, verflüchtigt hat. Wir begegnen diesem Denktypus bevorzugt in monistischen Pantheismen, die das Sein alles Seienden als das Ur-Eine, Gott oder Göttliche in allem auseinanderliegenden Dasein auslegen,49 aber auch in entpersonalisierenden Ideologien. Beispielsweise sehen evolutionistische Erklärungen im menschlichen Dasein nur einen höheren Organismus, dessen Funktionen auf Überleben und Reproduktion ausgerichtet sind, sodass man sagen kann, ,Du bist nichts, die Evolution ist alles‘ – ähnlich einem Propagandaslogan des Dritten Reichs: ,Du bist nichts, dein Volk ist alles.‘
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b) Totalitaristische Einheit durch Unterordnung (Subordination) Diese Ganzheitskonzeption bestimmt die Einheit des Seins nur eingeschränkt negativ zu allem, was Besonderheit, Unterschied, Geteiltheit, unvertauschbare JeEinmaligkeit besagen, sowie als etwas radikal Ungegenständliches und damit unbestimmbar Leeres. Sie setzt die Einheit als abstraktes Wesensallgemeines oder dieses als inhaltlich bestimmtes Element bzw. im Uniformismus und Konformismus als vereinheitlichende Form an. Es geht um die Herstellung einer umfassenden, geschlossenen Ordnungsgestalt des Denkens, die sich des Einzelnen weder differenzierend annimmt, noch eine partizipative Entfaltung der Teile in Richtung des Ganzen sowie unter- und füreinander zulässt. Versucht wird vielmehr das, was ist, zu 49 Man beruft sich für ein solches, die Vielheit ausschließendes und von ihr abstrahierendes Einheitsdenken gerne auf Parmenides, dessen Grundanliegen damit völlig verkannt sein dürfte. Darauf soll später noch eingegangen werden.
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begreifen, das Ganze des Seienden herrschaftlich in den Griff zu bekommen, das Chaos der Erscheinungen durch immer allgemeinere und umfassendere Prinzipien zu bändigen, um es einer letzten begrifflichen Einheit zu unterwerfen. Diese übergeordnete Einheit ist nicht in sich unterschieden entfaltet, sondern unterscheidet sich von allem anderen durch Sichfortbestimmen, durch Unter- und Überordnung, durch begriffslogische Subsumption unter ein Allerallgemeinstes. Die konkrete phänomenale Gestalt (das Individuum) wird durch eine übergeordnete Begrifflichkeit (Gattung und Art) definiert und identifiziert und damit wird ihre konkret-geschichtliche Anwesenheit ausgeblendet oder zur Nebensache. Das begriffslogisch verkürzte Denken minimiert die Verschiedenheiten zugunsten des übergeordneten Wesensallgemeinen und schaltet damit das Plurale gleich. Seine Einheitsbildung, die das Gemeinsame einer Pluralität für das eigentliche Sein hält, schließt zwar Pluralität oder Entfaltung der Einheit nicht aus, sagt aber das begriffliche Gemeinsame univok von allen Einzelnen samt deren Verschiedenheiten aus. Diese werden dadurch zu bloßen Fällen des übergeordneten Allgemeinen degradiert. Nun sagt einzig das Allgemeine, was etwas ist, es bestimmt das Wesen. Dieses Wesensallgemeine rückt zum unwandelbar Bleibenden, zum eigentlichen Sein auf. Damit wird das einer Vielheit gemeinsame Wesen zum umfassenden und logisch übergeordneten Ganzen und damit zum eigentlichen Gegenstand der Wissenschaft. Die Vielheit dagegen ist dem raum-zeitlichen Wandel unterworfen, ihr mangelt es am Sein, sie ist ein relativ Nicht-Seiendes. Weil die essentia als das Wesensallgemeine (bzw. die Idee) dominiert, spricht man von einem Essentialismus. Dieser ist im Grunde keine Seinsphilosophie, sondern eine abstrakte Wesensmetaphysik. Ein wirkungsgeschichtlich mächtiger Strom abendländischer Metaphysik, der Platonismus, kann grob als Essentialismus charakterisiert werden50 und wird uns noch in Anspruch nehmen. Eine Variante der Subordination konkreter Vielheit unter das Abstrakt-Allgemeine ist als besonders erfolgreich hervorzuheben, weil ihr die Auffüllung der Leere des begrifflich-abstrakten Seinsverständnisses durch einen konkret erfahrbaren Inhalt gelingt, der auf diese Weise ontologisiert und verabsolutiert wird. Ein Teil (Teilbereich, Konstituente, beispielsweise der Wille oder der begreifende Intellekt, Nationalität, ethnische u.a. Zugehörigkeiten o. Ä.) wird auf der Ebene des Pluralen zur vorherrschenden Einheitsform des Ganzen erhoben (pars pro toto). Das Ganze wird von einem ersten Teil her gebildet, der, wenn er in chronologischer Zeit als Anfang oder Ende angesetzt wird, die ganze Zeitgestalt durchgehend dominiert. Die Iden50 Zum Terminus vgl. den Art. Essentialismus von H. Schneider in: HWP, Bd. 2, Sp. 751 –753. Zur Kritik der Wesensmetaphysik vgl. B. Weissmahr, Ontologie, 101–112; G. Pöltner (2005), Radikale Pluralität, 75 f., 85.
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tität des Ganzen im Walten des Seins wird in ihrer Fülle auf das Bestehen von etwas Bestimmtem zurückgeführt und damit identifiziert. Der Unterschied zwischen Identität der konkreten Seinsgestalt in der Teilnahme am Sein und kategorial-logischer Identität (dem substantiellen Bestand, der Qualität, Quantität, Relation usw. nach) wird verwischt. Das Ganze wird nach Art eines ,Einparteiensystems‘ etabliert, das repressiv vereinheitlicht und alles Andersartige unter die Herrschaft seiner Ordnungsmacht zwingt. Zu diesem Typus totalitären Denkens gehören die sogenannten monistischen Tendenzen, Ideologien und Weltanschauungen, die das Sein des Seienden inhaltlich sehr verschieden, zum Beispiel als Materie (Materialismen, Physikalismen), als Leben (Biologismen, Naturalismen), als Geist (Idealismen), aber auch anders auslegen wie zum Beispiel in Historizismen, Psychologismen und Soziologismen.51 Insgesamt verhält sich das jeweils Untergeordnete zum Übergeordneten als bloße Ausgliederung, Emanation, inferiore Abbildung, Derivation usw.; Gleichmacherei, Nivellierung, totes Einerlei herrschen vor. Die Pluralität wird durch Uniformierung inhaltlich depotenziert. Alle Einheit ist absolut, alle Vielheit relativ auf diese Einheit, weil durch sie einheitlich bestimmt, von ihr abhängig und in ihrem Dienst sich verzehrend. Es mangelt diesem Systemdenken der Sinn für echte Subsidiarität, weil nichts Einzelnes wahrhaft als es selbst gelten kann. Die verschiedenen totalitären Systeme liegen miteinander im Widerstreit oder zerbrechen an der von ihnen unfreiwillig demonstrierten Anarchie und drängen zu radikal anderen Lösungen.
6.3.2 Das pluralistische und anarchistische Ganze
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a) Das elementaristische Ganze Statt mit dem Ganzen anzufangen, werden die Elemente für das Erstgegebene gehalten, womit man anfangen muss. Diese strenge, phänomenologisch nicht hinterfragte Alternative zum totalitären Ganzheitsdenken ist die Prämisse der elementaristischen Konstruktion. Der schillernde Ausdruck ,Element‘ besagt lateinisch als elementum zunächst Buchstabe, Laut und nimmt dann die Bedeutungen von griech. stoiceon an, das so viel wie Buchstabe, Laut, nicht weiter zerlegbare Grund- und Erstbestandteile, Beweisgrundlagen und oberste Allgemeinbegriffe bedeuten kann. Doch geht es hier nicht um elementare Bereiche unseres Weltaufenthaltes oder Ur51 Siehe dazu auch den dritten Exkurs (3.3.5): Ideologiekritische Dekonstruktion des begrifflichen Seinsverständnisses.
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52 G. Deleuze/F. Guattari (Anti-Ödipus, 53– 63), auf die noch einzugehen sein wird, radikalisieren diese antiholistische Version. Das Ganze wird »als Teil neben Teilen produziert«: »Wir glauben nur an Randtotalitäten. Und sollten wir auf eine solche Totalität neben den Teilen stoßen, so wissen wir, daß es sich um ein Ganzes aus diesen Teilen handelt, das diese aber nicht totalisiert, eine Einheit aus diesen Teilen, die diese aber nicht vereinigt, vielmehr sich ihnen wie ein neues, gesondert zusammengefügtes Teil angliedert.« (54) Oder noch radikaler formuliert: Zum Vielen (multiple) wird das Eine gar nicht mehr hinzugezählt, sondern die übergeordnete Dimension ist vom Vielen abzuziehen (G. Deleuze/F. Guattari, Rhizom, 11): »Das Eine [oder das aus einer Vielheit von Dimensionen mit einem Konsistenzplan faktisch Bestehende] ist nur dann ein Teil der Vielheit, wenn es ihr abgezogen wird.«
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stoffe (Erde, Luft, Wasser, Feuer u.Ä.). Gemeint sind vielmehr elementare Teilchen (Einheiten), aus denen sich alles zusammensetzt. Das elementaristische Ganze ist ein Ausdruck für eine Einheit, die durch die Bildung der Summe (Menge) tatsächlich vorhandener Einzelelemente (Individuen) sowie ihrer Wechselwirkungen gewonnen wird. Die Einheit des Ganzen kommt summativ oder enumerativ zustande. Das Ganze (Komplexe) bildet sich durch Summierungseffekte (summativ) oder Zusammenzählung (enumerativ) des unaufhebbar Pluralen. Es setzt sich aus ,A-tomen‘, elementaren Bestandstücken und Modulen zusammen, die durch bestimmte Funktionszusammenhänge oder Mechanismen Gesamtkomplexe bilden. Problematisch ist die Extrapolierung, die Meinung, dass alle Einheit summativ-aggregativ oder additiv-stückhaft auszulegen sei, d.h. analytisch auf die Summe ihrer Komponenten plus dem Effekt effizienter Wechselwirkungen zurückzuführen sei. Einheit und Einigung wären demnach immer nur nachgeordnetes Ergebnis der als Gesamtheit aufgefassten Zusammensetzung und des Zusammenwirkens – ein ens rationis, nichts Reales, niemals etwas Ursprüngliches. Das gilt auch vom Begriff ,Teil sein von …‘. Die durch die besonderen Eigenschaften der Individuen und ihrer Wechselwirkungen zu erklärende Gesamtleistung könne zwar etwas (sogar qualitativ) anderes als die bloße Summe unkoordinierter Einzelleistungen sein, bedeute aber nicht ein ursprüngliches Mehrsein (plus esse) auf Grund einigenddifferenzierenden Seins.52 Dies besagt, dass beispielsweise jeder Unterschied zwischen dem Einssein eines selbstständigen Seienden, das sich als in und durch sich einigende Einheit (unum per se) in geeinter Pluralität darstellt (unum simpliciter), und einer nur (nachträglich!) unter gewissen Rücksichten hergestellten Einheit (unum secundum quid) eingeebnet wird. Das heißt, geologisches Konglomerat, Sonnensystem, Haus und Computer sind im Hinblick auf den Charakter ihres Einsseins im Prinzip gleich Pflanze, Tier und Mensch gebaut; nur ihr Komplexionsgrad ist jeweils ein anderer. Der alle Weisen des Ganz- und Einsseins nivellierende Grundzug frappiert als verkappte Version eines totalitären Einheitsdenkens, aus dem sich folgerichtig die Forderung nach ei-
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ner »Einheitswissenschaft« erheben konnte. Führender Vertreter dieser um nachhaltige Klärung der Grundbegriffe bemühten Auffassung war Moritz Schlick, aus dessen Anregung bekanntlich der Wiener Kreis hervorging. Sein logischer Positivismus war in der Frage nach Ganzheit und Summe allgemein an dem für Einzelwissenschaften Beobachtbaren und an der zweckmäßigen bzw. brauchbaren Beschreibbarkeit im Interesse berechenbarer Lebensbewältigung orientiert.53 Durch die Rückführung von allem auf nichts als ein Gesamtverhalten von Elementen, Teilchen eines Systems in verschiedenen Kombinationen und Komplexionen, wird weder der unvertauschbar-einmalige Sinn des einzelnen Anwesenden noch dessen Entfaltung über sich hinaus aus dem erfahrbaren Anwesen im Ganzen des Seins berücksichtigt. b) Ganzheitskonzeptionen radikaler Pluralität
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Mit dem Schlüsselwort »Radikale Pluralität« bezeichnet Wolfgang Welschs brillantes Plädoyer den »Postmodernismus«. Die postmoderne Pluralität »schlägt auf eine Vielheit der Horizonte durch, bewirkt eine Unterschiedlichkeit der Rahmenvorstellungen, verfügt eine Diversität des jeweiligen Bodens. Sie geht an die Substanz, weil an die Wurzel. Daher wird sie als ,radikale Pluralität‘ bezeichnet.«54 Mit der Wurzelmetapher ist der Wesensbereich, aus dem etwas entspringt und zu verstehen ist (letzte Realität, Untergrund, Materie u.Ä.), angesprochen. Doch mit der Metapher ,An die Substanz und ihre Wurzel gehen‘ ist eine umfassende In-Frage-Stellung gemeint: Ins Schwanken kommt das, was man für substanziell wesentlich gehalten hat, das von unten her substanziell Aufragende (lat. ,sub-stare‘ ), das zur Erfüllung des von sich her aufsteigenden höheren Aktualitätsbereiches in den Wurzelgrund absteigen muss, weil es sich innerhalb seines vereinheitlichten Bezugs zum Grund (,Boden‘) und zum Ganzen (,Rahmen‘, ,Horizont‘) als differenziell erweist. Durch diese In-Frage-Stellung dringt das Konzept der Vielheit in bisher Grundlegendes vor. Beispielsweise kann sich das Selbstseiende, das cartesianische Subjekt als Systemprinzip, in einen Aggregatszustand auflösen. So meint Nietzsche (und vor ihm ähnlich der ,postmoderne‘ Spinoza): »Die Annahme des Einen Subjekts ist vielleicht nicht nothwendig, vielleicht ist es ebensogut erlaubt, eine Vielheit von Subjekten anzunehmen, deren Zusammenspiel und Kampf unserem Denken und 53 Vgl. M. Schlick, Über den Begriff der Ganzheit. Diese ist mit allen ihren Teilen und deren Beziehungen identisch, sodass »die Aussage, irgendein Geschehen werde durch das Ganze bestimmt, gleichbedeutend ist mit der Aussage, es werde durch alle seine Teile und deren Beziehungen untereinander bestimmt« (692). »Die vollständige Beschreibung des Verhaltens der Teilchen eines Systems enthält bereits die lückenlose Beschreibung seines Gesamtverhaltens […].« (694) 54 W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, 4.
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55 F. Nietzsche, KGW, Abt. 7, Bd. 3: Nachgelassene Fragmente (1884/5), 382; vgl. Abt. 6, Bd. 2: Jenseits von Gut und Böse I, 12 (1886), 20 f.: »Seele als Subjekts-Vielheit.« Diese depersonalisierende Konzeption des Menschen hat bereits Spinoza ausgearbeitet, für den bekanntlich das hoch komplizierte Körpersystem dem ebenso hoch differenzierten Ideensystem entspricht. In beiden Systemen ist der Mensch nur eine Teilwirklichkeit, die wieder aus Teilwirklichkeiten gefügt ist, die selbst wiederum wie eine der Mikrowelten in den Makrowelten zu verstehen sind. Obwohl keine direkte Brücke von einem System zu anderen führt, stellt der Mensch die partikuläre Wiedergabe eines und desselben Dings in zwei verschiedenen Medien dar, den beiden uns bekannten unter den unendlich vielen göttlichen Attributen. Da die identische res allein Gott ist, handeln wir und denken wir im Grund eigentlich nicht selbst in den uns eigenen Handlungen und Gedanken, sondern allein Gott handelt mit unseren Handlungen in sich und denkt mit unseren Gedanken in sich. So wird der Mensch, sub specie aeternitatis betrachtet, im Gott Spinozas zu seinem höheren Glück völlig zum Verschwinden gebracht. Das ontologische Fundament ist der Notwendigkeitsgedanke, wonach Gott seine unendliche Wesensmacht ausdrücken muss, und zwar sowohl in seinen unendlichen Attributen als auch in seinen zwei uns zugänglichen endlichen Attributen (Körper- und Ideensystem) auf unendliche Weise von den kleinsten bis zu den größten Dingen. Das macht Spinoza für die Konzeption eines radikalen Pluralismus und für eine meristische Rezeption interessant. Zu dieser vgl. G. Deleuze, Spinoza et le problème de l’expression. 56 G. Deleuze/F. Guattari, Rhizom, 41; vgl. 6. 57 A.a.O., 13. 58 Vgl. a.a.O.; W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, 141 f. 59 Vgl.: Schelling bemerkt in »Clara oder über den Zusammenhang der Natur mit der Geisterwelt« (Schellings Werke, Ergänzungsbd. 4, 139), »daß alles Göttliche hier nur Erscheinung, nicht Wirklichkeit ist, daß selbst das Geistigste nicht frei, sondern nur unter Bedingung hervorkommt,
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überhaupt unserem Bewußtsein zu Grunde liegt. […] Meine Hypothesen: das Subjekt als Vielheit […].«55 In diesem Sinne ruft uns Gilles Deleuze (1925–1995) zu: »Seid nicht eins oder viele, seid [im Sinne des Substantivs] Vielheiten!«56 Für ein depersonalisierend und pathologisch bewertetes und dadurch möglicherweise qualvoll negiertes Erleben, eine multiple Persönlichkeit zu sein (heute auch dissoziative Identitätsstörung genannt), kann man aus der Erklärung, dass Einheit nur ein Schein- und Trugbild (simulacrum) ist, rationalisierend Entlastung ziehen. Eine Retorsion, welche das Einssein als dem Erlebnis und der Selbstaussage der multiplen Persönlichkeit vorgängig anerkennt, weil der einheitliche Selbstvollzug der Person erst die Bedingung der Möglichkeit abgibt, sich als multiple Persönlichkeit zu erfahren und zu denken, kommt nicht in den Bereich des Fragens, denn »nur wenn das Viele (multiple) als Substantiv, als Vielheit (multiplicité) behandelt [also substantiviert] wird, hat es keine Beziehung mehr zum Einen als Subjekt und [zum Einen als] Objekt, als Natur und Geist, als Bild und Welt«.57 Verweilen wir einen Augenblick bei dem von Welsch als einem der Kronzeugen für die postmoderne Position angeführten Gilles Deleuze, dann gewinnt die Metaphorik der Wurzel ein durchdachtes Profil, das vielsagend deren ganze Problematik aufdeckt:58 Dass überhaupt der in der idealistischen Morphologie gemiedene Wurzelbereich in Frage kommt, ist schon beachtenswert.59 Doch geht es nicht um
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Wurzelfassung im tragenden Erdreich, nicht um ein Übernehmen gründenden Begründetseins, also nicht um ein Aufnehmen, Umwandeln und ein wurzelstandfestes Befestigen, um sich nach oben offen zur Sonne hin zu erheben, auch nicht um ein Sichgründen, Zustandebringen, das geerdet statt entwurzelt stehen lässt, sondern um einen spezifischen Typus pflanzlicher Ausbreitung, um die laienhaft für ,Wurzelstöcke‘ (griech. zwma: das Wurzelschlagen) gehaltenen Rhizome, die botanisch als Metamorphosen des Sprosses (ein Sprossensystem, das gelegentlich die Stelle der Wurzeln vertritt) und nicht im eigentlichen Sinne als Wurzeln gelten. Echte Wurzeln wie die tiefdringende Pfahlwurzel des herrlichen Löwenzahns oder die kleinen büscheligen Wurzelsysteme Samen bildender Gräser – werden ausgeschlossen. Keinerlei Artendiversität der Wurzelfassung kommt als Metapher für den angezielten Pluralismus in Frage. Das wird sofort durch das verständlich, was Deleuze zurückweist: alle binäre Logik, die nach dem Gesetz »aus eins wird zwei, aus zwei wird vier …« Baum oder Wurzel zum Modell nimmt.60 Hierher gehört vor allem das hierarchische Kategoriensystem, für das mittelalterliche Logiker im Anschluss an Porphyrios die Baummetapher verwendet haben. Der sogenannte porphyrische Baum (Arbor porphyriana) wird hier in einer Lesart, die Substanz und Akzidens nur univok statt (unter Bezugnahme auf die irreduzible Pluralität der nicht mehr definierbaren Individuen) primär analog aussagt, rezipiert. Damit wird eine Identität herstellende Subsumptionslogik mit ihren begriffslogischen Differenzen zurückgewiesen. Aber auch das zweite Modell, das »System der kleinen Wurzeln«, ist, ähnlich wie das Buch mit seinen Blättern als Bild der Welt, noch der Idee eines Gesamtzusammenhanges verpflichtet. »Der Baum und die Wurzel zeichnen ein trauriges Bild des Denkens, das unaufhörlich, ausgehend von einer höheren Einheit, einem Zentrum oder Segment, das Viele imitiert.«61 Anders steht es mit dem Rhizom, denn dieses ist keine vorgängige Einheit, d.h. keine Hauptwurzel, die Seitenwurzeln trägt; es ist überhaupt nicht wie Baum oder Pfahlwurzel zentriert (auch nicht polyzentriert), vielmehr ohne vorher festgelegte Verbindungen und ohne Ordnungsstruktur. Mit seinen Linien, Knollen, Knötchen, vernetzten Verästelungen und mit seinen ohne Unterschied unter- und oberirdisch wachsenden Sprossen sowie den Würzelchen ist es das Modell der Radikalität von Pluralität. Es bildet verschiedenartigste Verkettungen, aber auch Brüche mit bisherigen Anordnungen, Querverbindungen zwischen divergenten Entwicklungslidass es Blüthe, hie und da auch Frucht ist, aber nicht Stamm und Wurzel«. Dazu kritisch H. André, Vom Sinnreich des Lebens, 73, 153 f. sowie Kap. 6: »Wurzelfassung«, 199–279. 60 Vgl. G. Deleuze/ F. Guattari, Rhizom, 8 f., 14, 34. 61 G. Deleuze/ F. Guattari, Rhizom, 26.
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62 A.a.O., 11, 16. 63 G. Deleuze, Differenz und Wiederholung, 49 ff. 64 W. Welsch, a.a.O., 5. 65 Ebd. 66 Ebd.
67 Ebd. 68 Ebd.
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nien bei nicht-sesshafter, nomadisierender Ausbreitung, jedenfalls keine Einheiten in einer geordneten Mannigfaltigkeit von Dimensionen, sondern Vielheiten vieldimensionaler Konsistenzebenen, wo ein Spalten und Öffnen, ein Verlassen und Verbinden, ein Differenzieren und Synthetisieren zugleich statthat. Erzeugt werden also unsystematische, unerwartete und ständig fluktuierende Differenzen und Differenzfelder. Realität ist durch die Zirkulation der Zustände selbst (in der sich der Denkende bewegt) und nicht durch Strukturmodelle der Realität zu definieren. Zum Rhizom kommen bei Deleuze noch ergänzende Metaphern wie Wohnungsfunktionen, Vorratslager, Rangiergelände, Versteck und Ruine und das Gewurle der Rattenmeuten, Ameisen u. Ä., an denen das Rhizommorphe hervorgehoben wird.62 Pointiert wird das Differenz-Denken durch die Einseitigkeit der Unterscheidung, die man macht oder die sich macht. Sie besagt nicht Diversität, Verschiedenheit zwischen differenten Dingen, sondern ein Sich-Unterscheiden von etwas anderem, das selbst nicht von ihm unterschieden ist – gleich einem unbestimmten Untergrund, auf dem Linien gezeichnet sind.63 Pluralisierung will nach Welsch kein Auflösungsvorgang sein, sondern »eine zuinnerst positive Vision«,64 eine in Erfahrung gegründete allgemeine »Grundverfassung« der Gesellschaften, Kulturen, Welt- und Lebensanschauungen, philosophischer und wissenschaftlicher Grundlegungen und Methoden. Da ist keine Wahrheit, kein Licht mehr wie »die eine Sonne für alles und über allem«, sondern es gibt immer nur »Eigenlicht«.65 »Fortan stehen Wahrheit, Gerechtigkeit, Menschlichkeit im Plural.«66 Die Postmoderne plädiert für eine Vielheit heterogener Konzeptionen, Sprachspiele und Lebensformen. Sie bringt das unüberschreitbare Recht hochgradig differenter Wissensformen, Denktypen, Orientierungssysteme, Lebensentwürfe, Handlungsmuster, demokratischer Sozialkonzeptionen, Minderheiten usw. zur Anerkennung, soweit diese selber zu dieser Anerkennung fähig und bereit sind, und das alles nicht aus billigem Relativismus oder in oberflächlicher Beliebigkeit, sondern geradezu aus tiefmoralischen »Motiven der Freiheit«,67 deren positive Wesensbestimmung und Begründung man jedoch vergeblich sucht. Der Pluralismus ist prinzipiell, d.h. er erweist sich für alle Bereiche der Pluralität als »einheitlicher [sic!] Fokus«.68 Seine »prohibitive Konsequenz und Rückseite
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[…] ist seine anti-totalitäre Option«; er tritt »offensiv für Vielheit« ein und gegen alte und neue »Hegemonie-Anmaßungen«, gegen Verabsolutierungen eines »in Wahrheit Partikularen«, auf,69 wo struktureller und faktischer Terror »der einzig effiziente Weg zum Ganzen ist«;70 er ergreift »für das Viele Partei« und »wendet sich gegen das Einzige«, gegen Monopole, Monopolisierungen jeder Art.71 Er bricht mit allem, was auf Totalität hoffen lässt, aber nur totalitär eingelöst werden kann: »Einheitsträume, die vom Konzept der Mathesis universalis über die Projekte der Weltgeschichtsphilosophen bis zu den Globalentwürfen der Sozialutopien reichen«, aber ebenso mit der »Ideologie der Potenzierung, der Innovation, der Überholung und Überwindung« und »läßt die Dynamik der Ismen und ihrer Akzeleration hinter sich«72 und weiß sich somit ,nur‘ dem -Ismus des Pluralen verpflichtet. Der postmoderne Pluralismus löst einheitliche Wissenstotalitäten (die »großen Meta-Erzählungen«) auf und plädiert selbst im Ganzen – unter Wahrung seines strikt formalen und regulativen Charakters des Ganzen73 – für die Freigabe und Potenzierung der Vielfalt in ihrer »Heterogenität, Autonomie und Irreduzibilität«,74 die also positiv und in ihrem Wert gesehen wird. Der »Boden der Vielheit […] ist nun einmal fundamentaler als jeder einheitsbestimmte«.75 Die postmoderne Option für Pluralität verabschiedet sich jedoch nicht blind von holistischen Intentionen: den Ideen der Ganzheit und Einheit. Aber »Ganzheit [ist] nur via Differenz einlösbar«;76 denn wer Einheit fordert, bezieht sich auf Vielfalt. Überschaubare Einheit liegt auch »im eigenen Interesse der Vielheit« und »gehört zu den Produktions-, Wahrnehmungs- und Realisationsbedingungen der Vielheit«.77 Aber »aus strukturellen Gründen ist das Vielheitskonzept prinzipiell überlegen. Es ist das Ganzheitskonzept.«78 Doch bringt es nichts Inhaltliches zur Vielheit, sondern steht in ihrem Dienst, dient ihrer Freisetzung, steht also in umgekehrter Opposition zur absorbierenden In-Dienst-Nahme der Komponenten unter dem teleologischen Anspruch der Ganzheit. Dem Einwand, dass absolute Vielheit weder sein noch gedacht werden kann, wird stattgegeben; er trifft nicht die pluralistische Konzeption, insofern Vielheit nur in Differenzen besteht. Rigide Differenz 69 Ebd. 70 A.a.O., 62. 71 A.a.O., 5. 72 A.a.O., 6. 73 A.a.O., 62. 74 A.a.O., 33. 75 A.a.O., 177. 76 A.a.O., 60; vgl. 63. 77 A.a.O., 61. 78 A.a.O., 63.
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6.3.3 Dialektik der totalitären und pluralistischen Ganzheitskonzepte Die Ganzheitskonzepte befinden sich zueinander in einer dialektischen Opposition. In der pluralistischen Auffassung des Ganzen ist immer schon ihr Widerspiel, die totalitäre Auffassung, keimhaft enthalten. Sobald die Momente, Bestandteile und Konstituenten eines Ganzen voneinander getrennt sind und isoliert werden, kann sich ein Moment (Teil) zum Ganzen aufblähen und in ungebührlicher Weise die anderen Teilmomente unterwerfen und subsumieren wollen – nur um dem Einheitsmangel und Chaos ein Ende zu setzen. Wo die Individuen in absoluter Selbstständigkeit vorgestellt werden, grundlos, ohne Zusammenhang, abgetrennt von der Leben spendenden Beziehung zum Ganzen, gehen sie zugrunde oder sind sie nicht einander zur Bezugsidentität Freigebende, sondern werden zu bloßen 79 A.a.O., 142, unter Bezugnahme auf Jacques Derrida. 80 Vgl. dazu G. Pöltner (2005), Radikale Pluralität, 77 f.
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ohne Übergang und Verbindung würde sich selbst aufheben. Doch »die Einheit, die mit einem Differenzdenken kompatibel sein soll, muß selbst differentiell sein. Sie kann nicht den Charakter abschließender Präsenz haben.«79 Die strikte Bewahrung des inhaltlich leeren und nur regulativen Charakters des Ganzen richtet sich gegen jede Realwerdung einer Einheit80 mit ihren unterdrückenden, terroristischen und vernichtenden Konsequenzen. Es scheint, dass Ganzheit und Einheit hier als verdinglichte, der Vielheit übergestülpte und sie subordinierende Abstrakta rezipiert werden und daher grundsätzlich nicht als Weisen des Einsseins in entfaltender Verbundenheit und Durchdringung in Sichtweite kommen. Das bedeutet, dass der totalitäre Grundzug essenzialistischer Realisierung von Ideen bzw. Allgemeinbegriffen (nach dem Modell begriffslogischer Hierarchie der Kategorien) sensibel durchschaut und wohl nicht ganz zu Unrecht zurückgewiesen wird. Dass der Pluralismus selbst in verschiedenen extremeren und gemäßigten Positionen sich darstellt, versteht sich von selbst. Die positiven Anliegen sind die Anerkennung der Inkommensurabilität, der grundverschiedenen und mit keinem gemeinsamen Maßstab mehr messbaren Pluralität der Gesamtwirklichkeit, die nicht auf diverse Möglichkeiten der Gestalten des (gegenständlich oder ontisch) Selben rückführbar ist sowie ein dem entsprechendes ,an-archisches‘, herrschafts- und gewaltfreies Denken und Sichverhalten, das sich aus unterwerfender (subjektivierender) Totalisierung der Einzigartigkeit der Einzelnen bzw. Anderen zurücknimmt und diese zulässt.
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Momenten der Einheit verschmolzen und herabgesetzt. Wo dagegen Vielheit nur in Differenzen spielt, die sich aufeinander beziehen, untereinander dezentrieren, bewegliche Netze bilden und in nomadische statt monadische Distributionen übergehen, in Verschiebungen und Wiederholungen, keine logische, simulierte Identität mit exklusiver Negation mehr zulassen, dort ist weder alles, wie es ist, noch ist das, was anders ist, jemals ganz anders. Das drückt die gegen alle Dualismen in eine »magische Formel« gefasste Gleichung »PLURALISMUS = MONISMUS« aus.81 Aber ist dieser Monismus nicht ein neuer Totalitarismus? Werden Differenz an sich selbst und Wiederholung an sich selbst unabhängig von den Formen ihrer Repräsentationen durch Identitätslogik gedacht, so kann ein univok als Werden verstandenes Sein, das vom Differenten ausgesagt wird, in ewiger Wiederkehr zur Identität als das »Identisch-Werden des Werdens selbst« zur Macht gelangen. Diese »Identität der Differenz« ist dann »das Identische, das sich vom Differenten aussagt, um das Differente kreist« und dieses wiederholt.82 Damit gipfelt das Werk von Deleuze in dem großen Gedanken der ewigen Wiederkehr, die vom radikal, exzessiv Differenten und nicht vom begrifflichen Ganzen und Identischen her verstanden werden will: »Alles ist gleich und Alles kehrt wieder […].« Ja wir hören: »Ein und dieselbe Stimme für all das Viele, das tausend Wege kennt, ein und derselbe Ozean für alle Tropfen, ein einziges Gebrüll des Seins für alle Seienden. Wenn man nur für jedes Seiende, für jeden Tropfen und jeden Weg den Zustand des Exzesses erlangt hat, d.h. die Differenz, die sich verschiebt und verkleidet und wiederkehren läßt, auf ihrer schwankenden Spitze kreisend.«83 Dieses Abschlusswort von »Differenz und Wiederholung« lässt einen mit der Frage zurück, ob solche Wege in ein differenziell und ozeanisch gedachtes Ganzes nicht erst aus der Verstrickung in die Gegnerschaft zum spinozistisch-hegelianischen Ganzheitsdenken verständlich werden. So bleibt der Eindruck bestehen, dass über dem groß angelegten Versuch der unbedingten Rettung des Differenziellen der radikale Pluralismus in einen neuen Monismus umgekippt ist. 81 G. Deleuze/F. Guattari, Rhizom, 34. 82 Vgl. G. Deleuze, Differenz und Wiederholung, 58 – 66, hier 65. 83 A.a.O., 377. – »In der ewigen Wiederkunft ist das univoke Sein nicht nur gedacht und sogar bejaht, es ist vielmehr tatsächlich verwirklicht. Das Sein sagt sich in ein und derselben Bedeutung aus, diese Bedeutung aber ist die der ewigen Wiederkunft als Wiederkunft oder Wiederholung dessen, wovon es sich aussagt. Das Rad in der ewigen Wiederkunft ist zugleich Erzeugung der Wiederholung ausgehend von der Differenz, und Selektion der Differenz ausgehend von der Wiederholung«, und zwar beginnend mit einer »Art gekrönter Anarchie«, die mit der Umkehrung der »Rangordnung, […] mit der Unterordnung des Identischen unter das Differente beginnt«. (66)
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Wie im radikalen Pluralismus keimt auch aus dem Monismus verdeckt in der totalitären Auffassung von Ganzheit immer schon deren pluralistisches Widerspiel; denn in dem Maß, als man Plurales, Heterogenes, Je-Einmaliges unterdrückt und seiner Gleichursprünglichkeit beraubt, entleert man das verbindende und qualifizierende Einssein. Bei zunehmender Formalisierung der abstrakten Einheit können nun wieder die besonderen Momente zu unendlicher Bedeutung anschwellen, deren Zusammenordnung nun erneut Schwierigkeiten macht usf. Es ist wichtig zu durchschauen, dass die pluralistischen und die totalitären Auffassungen der Einheit in der verdeckenden Form gegenseitiger Negation voneinander abhängig sind, einander notwendig herausfordern, ineinander umschlagen und übergehen sowie sich miteinander legieren können, weil keine dieser Ansichten der partizipativen Eigenart des Seienden in seinem Sein gerecht wird. Zum besseren Verständnis des gegenwärtigen Widerstreites von totalitaristischen und pluralistischen Auffassungen kann ein Blick in die Vergangenheit hilfreich sein: Kann man die Ausbreitung der Menschheit als erste Globalisierung ansehen, so kann man die Bildung einer die Erde umspannenden, alle Erdteile ,vernetzenden‘ und durchdringenden menschlichen Sphäre (Teilhard de Chardins »Noosphäre«) seit ca. 500 Jahren die zweite Globalisierung nennen. Diese Globalisierung ist eigentlich eine Planetarisierung, da die Erde, die zunächst als dem Sternenhimmel angehörig bloß vorgestellt und erst viel später aus dem Weltraum her auch tatsächlich erblickt wurde, sich als der bläulich schimmernde Globus zeigte, auf dem sich nun alles zusammen- und gegeneinanderdrängt und gegenseitig durchdringt. Seit damals florieren (mit Blickbeschränkung auf die europäische Neuzeit) antithetische Tendenzen totalitärer und pluralistischer Auffassungen – anscheinend in Extremen wie noch nie zuvor. Erinnert sei nur an das grandiose Einheitsdenken Hegels, der den Spinozismus zur höchsten Vollendung gebracht hat, und die darin liegende Provokation zur Umkehrung seines geschlossenen Systems in ein Denken anti-hegelianischer Multiversität. Diese Gegenbewegung ist schubartig vor sich gegangen, vermutlich verstärkt durch den Schock kultureller, geographischer, biologischer und kosmologischer Diversitäten, und mündet in den postmodernen Pluralismus, der sich auf eine vollbesetzte Ahnengalerie berufen kann, man denke nur unter vielen an Max Stirners »Einzigen«, Kierkegaards »Einzelnen« und vor allem an Nietzsches Pluralität der Willenssubjekte. Mit dieser Bewegung koexistieren eine Renaissance des Ganzheitsdenkens, die wie die New-Age-Bewegung gleichfalls ihre Wurzeln in der europäischen Neuzeit hat,84 und (neben offenen, inkompatiblen Systementwürfen) ein 84 Dazu vgl. beispielsweise J. Figl, Ganzheitliches Denken am »Ende der Neuzeit«. Romano Guardinis These und die gegenwärtige New-Age-Diskussion.
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geschlossenes Systemdenken, dessen Komponenten abstrakt, unter System-Zwang auf ihre Funktion im Ganzen hin zurückgenommen werden. Im Gegenüber zum in vielen Lebensbereichen vorherrschenden, bürokratisch verwalteten, uniformierenden Systemdenken und Medienbetrieb kann deshalb die durch radikalen Pluralismus gekennzeichnete Postmoderne längst nicht mehr allein als eigenständiger Epochenbegriff fungieren. Heute sind die sich gegeneinander aufspreizenden Verhältnisse von Einheit und Vielheit, Ganzem und seinen Teilen, System und multiplen Komponenten, Struktur und Differenz, Selbstorganisation und Chaos zu Existenzfragen von globaler Tragweite und brisanter Aktualität geworden, und das in allen Lebensbereichen: in Natur und Kultur, Politik, Ökonomie und Ökologie, Wissenschaften, Künsten, Religionen usw.85 Allein schon theoretisch stehen die Extrempositionen des Totalitarismus und Pluralismus einander widersprechend gegenüber: Einerseits werden postmodern Recht und Notwendigkeit der Differenzen, der Heterogenität, des Widerstreits (différend), der kreativen Anarchie in Anspruch genommen. Der Einheit und Ganzheit kommt nur mehr der Status einer subjektiv-beliebigen regulativen Idee zu. Aber andererseits koexistieren mit dem sich als postmodern verstehenden Pluralismus die eine Entfaltung der Differenzen hemmenden Gegenkräfte. Unter zunehmendem Globalisierungsdruck wuchern in allen Lebensbereichen totalitäre Ideen, verdeckt innerhalb strukturalistischer, poststrukturalistischer und systemischer Konzeptionen und offenkundig im Holismus des New Age. Auf sie sei noch in einigen Beispielen hingewiesen. Man sollte die für die strukturalistischen, strukturalistisch inspirierten oder poststrukturalistischen Auffassungen klassische und richtungweisende Argumentation bei Ferdinand de Saussure nachlesen.86 Sie bildet die Prämisse für verschiedene Lösungsentwürfe der durch sie hervorgebrachten Probleme. Saussures Sprachverständnis ist zur Gänze der Linguistik verhaftet, sofern diese die Sprache als etwas zur fachwissenschaftlichen Erforschung Vorhandenes voraussetzt. Sie geht nicht vom paralinguistischen Sachverhalt aus, dass wir etwas zu sagen haben, weil etwas (eine res) zur Rede steht, und dass Sprache nur lebendig ist im Vollzug der Sprechenden, insoweit sie auf die lautlose Sprache des Erscheinenden hören.87 Den Anfang bildet für ihn das System der sprachlichen Zeichen (le langue). Diese werden durch Abstraktion vom Gesamt85 Vgl. hierzu O. Marquard (Hg.), Einheit und Vielheit. XIV. Deutscher Kongress für Philosophie (1987). 86 F. de Saussure, Cours de linguistique générale, hier besonders II. Teil, Kap. 4, §§ 3 und 4. 87 Vgl. vom Verf. (22003), Mensch und Wort: Zur phänomenologischen Grundlegung einer Philosophie der Sprache, in: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Bd. 1, 57–79.
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88 W. von Humboldt, Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues (1827–1829), 186. 89 F. de Saussure geht von einem fachwissenschaftlich eingeschränkten Sprachverständnis aus, das Sprache in der Hauptsache auf das synchrone (insgeheim vom Grammatikertraum graphischer Konservierung inspirierte) Zeichensystem reduziert. Er wirft zum Beispiel die ganze Welt der Zeichen, die Bedeutung haben, mit der Sprache des Begegnenden zusammen, die von den verschiedenen Alphabeten unabhängig ist. Haltungen, Bewegungen, Gebärden (auch Lautgebärden) eines Menschen sind bedeutsam und bedeutungsvoll, aber nicht alle bezeichnen etwas und sind Zeichen, die man jemandem macht und die etwas sagen sollen. Was sich als das Sich-Betragen bedeutsam zeigt, ist also deshalb nicht ein Etwas-Zeigen. ,Körpersprache‘ ist ein verschlamptes, mehrdeutiges Wort. Für Saussure ist nur das System der Zeichen (als ,Sprache‘, in der wir sprechen) linguistischer Hauptgegenstand unter Abstraktion vom Selberanwesen und von personaler Kommunikation der Sprechenden, insoweit sie unter dem Anspruch des zu Sagenden stehen. Mag die Wahl eines speziellen Gegenstandsbereiches für eine Fachwissenschaft legitim sein, Philosophie kann sie nicht begründen. Zu den solche fachliche Spezialisierung ermöglichenden Bedingungen der Literaturwissenschaft gehört vermutlich, dass Sprache im Weghören, im Sich-Abwenden von dem, worum es im Ernstfall geht, zu etwas Seiendem gemacht wird, und zwar indem sie als etwas am Menschen (vor allem oral ) Vorkommendes vergegenständlichend erfasst wird, was man inzwischen als Logozentrismus denunziert hat. Aber das erst ermöglicht, sie linguistisch zu erfassen, sie im visuellen Wahrnehmungsfeld handlich zu machen, sie verdinglichend zu verschriftlichen, um dann im Gegenzug zur Oralität einer ausgeweitet verstandenen Literalität einen Vorrang einzuräumen, wie sie faktisch unser Zeitalter prägt. 90 F. de Saussure, Cours de linguistique générale, 163 (Übersetzung: M. Wandruszka, Das Leben der Sprache, 253).
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phänomen Sprache (le language) unter Ausklammerung des tatsächlichen Sprechens (le parole) zum Hauptgegenstand seiner Linguistik (nicht einer Sprachphilosophie!) gemacht. Philosophisch geht es im Phänomen Sprache um ihr Wesen im Ganzen und im Grunde, um die Sprache des Phänomens. Aus philosophischer Sicht sei auch an ein Wort des gerade als Sprachwissenschaftler bewährten Wilhelm von Humboldt erinnert: »Die Sprache liegt nur in der [aktuellen] verbundenen Rede, Grammatik und Wörterbuch sind kaum dem Gerippe vergleichbar.«88 Was für Humboldt nicht einmal einem Knochengerüst gleicht, ist demnach Saussures System der sprachlichen Zeichen. Dieses reduziert er auf das zufällige, arbiträre Miteinander von bezeichnendem Lautbild (une image acoustique) und bezeichneter Vorstellung (un concept) und stellt seine wirkungsgeschichtlich einflussreiche und abwandlungsfähige These auf: Verstehbar sind die Zeichen einzig und allein dadurch, dass sie sich von anderen Zeichen desselben Systems kennzeichnend unterscheiden, also durch relevante Differenzen, durch Oppositionen innerhalb des Zeichensystems.89 Aus der Argumentation für diese These sei kritisch nur hervorgehoben: »Worauf es beim Wort ankommt, ist nicht seine Lautgestalt als solche, sondern sind die lautlichen Unterschiede (différences phoniques), die es erlauben, dieses Wort von allen anderen zu unterscheiden, denn diese Unterschiede sind es ja, die die Bedeutung (la signification) tragen.«90 Das Zeichen wird in lebensweltlich defizienter Weise nicht mehr aus dem lebendigen Zeigen im Sinne des Erscheinenlassens des Sichzeigenden
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verstanden, sondern als die von einer Umgebung gegenständlich abgehobene Gegebenheit (Laut, Schriftzeichen, Text usw.), welche angeblich die Bedeutung trägt und bezeichnet. Es wachsen nicht Laute den Bedeutungen zu, sodass Wörter, Wortprägungen, entstehen, sondern bedeutungslose Lautgebärden gewinnen gewissermaßen magisch übersinnliche Bedeutungen und mutieren zu ,Bedeutungsträgern‘. Unter dieser Voraussetzung gibt es (für den unmusikalischen Augenmenschen) »kein Lautbild (image vocal), das besser als ein anderes dem entspricht, was es besagen soll«91 – und nun kommt der Gedankensprung:92 Daher »ist evident, selbst a priori [sic!], dass niemals ein Fragment der Sprache letztlich auf etwas anderem begründet sein kann als auf der Nicht-Koinzidenz mit allen übrigen Teilen« des Zeichensystems.93 Aus dem Gesagten folgt beispielsweise: Wenn a für Nacht und b für Nächte steht, sind »die Termini a und b […] als solche grundsätzlich unfähig, in den Bereich des Bewusstseins zu gelangen, das immerzu nur [sic!] den Unterschied (la différence) a/b wahrnimmt«.94 Wenn wir schon nicht im Ernstfall von einer Nacht unter den Nächten hören oder das Ineinander von Ab- und Anwesen von Tag und Nacht gewahren, sondern uns nur (etwa im Sprachunterricht) auf das linguistische Abstraktum ,Lautbild‘ konzentrieren, so ist doch die volle Lautgestalt als etwas Eigenständiges wahrnehmbar und der Unterschied zu anderen Wörtern (und erst recht ein durch Laut- oder Buchstabenanalyse erfasster) tritt faktisch oft in den Hintergrund. Gewiss gilt formalisierend: a und ä sind wohl unterschieden als a/ä auffällig, jedoch nur unter diesem Gesichtspunkt sind »für sich allein genommen weder Nacht noch Nächte irgend etwas«.95 Ist jedoch im Ernstfall des Sprechens von Nacht und Nächten nicht so sehr die linguistische Opposition, sondern vielmehr die Beziehung zwischen beiden wichtig? Doch der Gedanke Saussures springt unvermittelt und kühn extrapolierend weiter: »also ist die Opposition innerhalb des Systems alles«. Dem entsprechend gibt es in der Sprache »nichts außer Unterschiede (différences)«. Differenz heißt hier das Zauberwort: »Alles bisher Gesagte läuft darauf hinaus, daß es in der Sprache nichts gibt außer Unterschiede. Mehr noch: Ein Unterschied setzt im allgemeinen positive Termini voraus, zwischen denen er besteht. In der Sprache gibt es dagegen nur Unterschiede ohne positive Termini. Ob man das Bezeichnete oder das Bezeichnende ins Auge fasst, die Sprache enthält weder Gedanken noch Laute, die schon vor dem linguistischen 91 Ebd. 92 Mit dem ,Sprung‘ oder ,Bruch‘ ist ein Übergang gemeint, der sich nicht sinnvoll auf das Vorausgegangene zurückbezieht und nicht zu verwechseln ist mit einer Frage, mit der jemand eine ungerechtfertigte Aufforderung beantwortet. 93 F. de Saussure, Cours de linguistique générale, 163. 94 Ebd. 95 A.a.O., 168.
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96 A.a.O., 166. 97 A.a.O., 167. 98 J. Derrida, De la grammatologie, 274: »Il n’y a pas hors texte.« 99 Vgl. dazu J. Derrida, Die Schrift und die Differenz: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen, 422–442.
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System vorhanden gewesen wären, sondern nur begriffliche und lautliche Unterschiede, die aus dem System hervorgegangen sind. Was ein Zeichen an Gedanken oder an Lautmaterial enthält, ist weniger wichtig als das, was in den umgebenden Zeichen enthalten ist.«96 Jedes Zeichen besteht aus einem Bezeichnenden und einem Bezeichneten. Diese Verbindung ist nicht negativ, sondern positiv. Die Zeichen sind darin nicht verschiedene (différents), sie sind nur unterscheidbar (distincts) und das ist weniger wichtig, aber zwischen den Zeichen »besteht nichts als Opposition«.97 Nichts ist, was es ist, sondern es ist nur das in Differenz(en) und Entgegensetzung zu dem, was es nicht ist (welches gleichfalls weiter die Differenz ist zu dem, was es nicht ist, usw.), vor sich Gehende. Damit ist durch eine Art von negativer Identität die Systemidee geschmiedet, die trotz aller Richtungsmannigfaltigkeit nahezu überall im klassischen sowie im Postund Neo-Strukturalismus in den Rang eines metaphysischen Axioms aufgerückt ist und zum Schlüssel aller symbolischen oder semiotischen Konfigurationen der Kultur gemacht wurde, auf die der Realitätsbezug zurückgenommen wurde. Was es gibt (und uns umgibt), ist angeblich nur die Welt der Zeichen, der auf (geistige) Signifikate hinweisenden (materiellen) Signifikanten. Oder man kann im Anschluss an Jacques Derrida jenes dualistische System in Frage stellen, das Intelligibles und Sinnliches einander entgegensetzt und in dem allein dieses zweiteilige Zeichenvon … funktioniert. Ist alles ein System solcher und ähnlicher Differenzen, Diskurssorten, unendlicher Austausch von Zeichen, dann gibt es kein Außerhalb des Systems, nur »Text« und »Schrift« im weitestmöglichen Sinn.98 Das linguistisch orientierte System ist totalitär, geschlossen, es kann systemkonform und folgerichtig in ihm »kein transzendentales oder privilegiertes Signifikat«, kein Zentrum, keinen Ursprung, kein unerschütterliches Fundament geben. Weder ein Signifikat noch ein Signifikant kommt dafür in Frage. Stellt man so die Metaphysik (gemeint ist die platonistische als Zweiweltenlehre oder in idealistischer Vermittlung) ebenso wie ihre Umkehrung (beispielsweise Nietzsche und Freud) in Frage, so bleibt als das zu Denkende nur mehr der gemeinsame Boden, die »différance« (mit phonetisch stummem a), diese unreduzierbare Differenz von Bezeichnendem und Bezeichnetem, die selbst nie gegenwärtig, präsentiert, wird.99 Die différance ist das metaphysisch Undenkbare, welches das Gleiche und das Unterschiedene, das Selbe und das Andere zusammen denken lässt, ohne das Andere vom Selben her in begriffslogischer Dialektik zu vereinheitlichen.
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Nach dem Gesagten wird die unüberbrückbare Kluft des Differenten, die distinkte Opposition, auf die Differenz der Opponenten zurückgenommen, als läge in ihr etwas Ursprüngliches, aber die Differenz ist nach Derrida nicht ein neuer einheitlicher Ursprung. Ursprung und Ordnung der Oppositionen werden zerbrochen, doch ohne ganz getrennt zu werden. Die différance durchbricht die Ordnung der metaphysischen Dualismen (wie Zentrum/Peripherie, Geist/Materie, Transzendenz/Immanenz) zur dekonstruktiven Offenlegung der Texte aus der Perspektive ihres jeweiligen »blinden Flecks«. Die différance (aus lat. differre und franz. différer) als ein aufschiebendes, zeitliches Auseinandertragen, Nicht-identisch- und Anders-Sein ist der Schlüssel zur Dekonstruktion der metaphysischen Begriffspaare und geht der Unterscheidung der Begriffe Identität und Differenz, Univozität und Äquivozität voraus. Sie weist damit auf eine ursprüngliche Ununterscheidbarkeit von begrifflich gefasster Identität und Differenz hin. Wird das in sich unterschiedliche, verschieden und differenzierend qualifizierende Ganzsein übersehen oder fällt es aus, so kann vor lauter Unterschieden kein Unterschied mehr da sein, der einen Unterschied und damit ein Zusammengehören und Einssein macht. In der soziokulturellen Praxis kann Pluralismus sich in eine Art Indifferentismus verkehren. Jean Baudrillard hat diese pluralistische Differenzbildung kritisch als gesellschaftliches Phänomen gigantischer Implosion allen Sinns im Übergang zu einer universellen Erzeugung von »Indifferenz« kommentiert.100 Ungebremste Vielfaltssteigerung vergleichgültigt in der globalen Kultur die durch sie hervorgebrachten Möglichkeiten. In unserer Informationsgesellschaft ist das Verhältnis zur Realität zunehmend unmöglich und sinnlos geworden, weil das Reale nicht mehr von Simulation, von der durch Information erzeugten Wirklichkeit unterschieden werden kann. Die Dialektik des in die Differenz Verschlagenen schlägt in Indifferenz, Wachstumsprogression des Gleichen, Selbstbespiegelung der Systeme um. Die mathematische Einheit des indivisum meldet sich mit zu Wort. Im pluralistischen Differenzdenken scheint sich ein unaufgebbares Anliegen (Ungesagtes) zu verbergen, welches vom additiv-stückhaften Denken verwischt wird, indem es das ,und‘ durch eine bestimmte, die mathematische Auslegung inhaltslos formalisiert. Es sei kurz angedeutet: Definiert bzw. unterscheidet man etwas traditionell durch die Angabe des nächsthöheren Gattungsbegriffs und der spezifischen Differenz, so erhält man einen Bestimmungszuwachs in Hinsicht auf das begriffslogische Allgemeine. Dabei wird (methodisch) nicht beachtet, dass jede (faktische) Differenz einen ,Abstand‘ zwischen den voneinander Unterschiedenen 100 Vgl. J. Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod.
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101 So sagt A. M. S. Boethius, In Isagogen Porphyrii Commenta, lib. 4, c. 2, CSEL, Bd. 48, 244: omnis differentia alterius ab altero distantiam facit. Vgl. S. K. Knebel, Art. Unterschied, in: HWP, Bd. 11, Sp. 311. 102 M. Heidegger, GA, Bd. 65, 299. Vgl. auch M. Theunissen, Art. Zwischen, in: HWP, Bd. 12, Sp. 1543–1549.
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bildet.101 Die sich fortschreibenden Differenzen tragen sich aus einem sich ereignishaft entfaltenden ,Zwischen‘ heraus aus, welches das Mysterium ihrer Heraufkunft im Ganzen verbirgt. Das ,Zwischen‘ kann räumlich-einräumend wie das zwischen Himmel und Erde Waltende und zugleich sich zeitigend verstanden werden, wie das ,Inzwischen‘, das zwischen der Zukunft und dem Gewesenen notwendig ist. Das in Differenzen Stehende bzw. die Glieder einer Relation treten nicht nachträglich zueinander in Beziehung, sondern sind ganz sie selbst überhaupt erst im Geschehen des Bezugs und mehr oder weniger von ihm selbst her. So erfahren wir uns zum Beispiel im unvorhersehbaren Prozess eines Gesprächs von der »Sphäre des Zwischen« überrascht und beschenkt oder es zeigt sich, dass Nähe in der Begegnung eine zugemessene, zureichende Distanz zur Annäherung braucht. Ontologisch lichtet nach Heidegger erst die Offenheit des Seins im Da das »,Zwischen‘, das vom Seyn selbst entfaltet wird als der offene Hereinragungsbereich für das Seiende [im Ganzen]«.102 Das pluralistische Differenz-Denken, wie es de Saussure vorgezeichnet hat, nimmt das Oppositionelle auf die distante Unterschiedlichkeit der Verschiedenen (difference, differance) in (vielfach legitimen) Übergängen (oder Brüchen) zurück. Im Geschehnisganzen des Wiederheraufholens und so der Wiederkehr des Differenziellen mag dieses gerettet erscheinen. Doch will mir scheinen, dass es den Differenzdenkern gegen ihre Intention nicht gelingt, die positive Identität des Heterogenen, des unableitbar Einzigartigen, des Je-Einmaligen mit sich selbst hinreichend zu wahren und schon gar nicht deren Entfaltung im Mit- und Füreinandersein sowie im ihr zukommenden Überschritt auf Andere und Anderes hin, und zwar, weil sie fixiert sind auf die Differenz, auf das bloße Auseinandergehen und -liegen. Dadurch unterbietet aber das Differenzdenken das Auseinanderliegende, insofern es dieses nicht sein lässt, was es in seiner jeweiligen Heterogenität positiv ist: etwas, das durch keinen gemeinsamen Maßstab mehr gemessen werden kann, also inkommensurabel ist. So ist dem Differenz-Denken ein grundsätzlich und geradezu systematisch das Phänomen verkürzender, und das heißt totalitärer Grundzug eigen, der die Pluralität zwar nicht einschmelzend aufhebt, aber doch auf ihr pures Auseinandergehen einschränkt. Gewiss ist dieser totalitäre Grundzug nicht überall gleich deutlich ausgeprägt. Zudem wendet sich dieses gerade um Pluralismus bemühte Denken vehement gegen Ordnungen der Unterordnung, Ausgrenzungen und Marginalisierungen und
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kann sich der Zustimmung sicher sein. Über der heftigen Abwehr des anderen Totalitarismus (des repressiv subordinierenden mit primordialer Struktur des Uranfangs) wird aber der eigene, das Plurale in sich verkürzende Totalitarismus nur verdeckt. Im pluralistischen Totalitarismus bzw. Monismus berühren sich die Extreme. Völlig gegenteilig scheint es sich beim heterogenistischen Pluralismus eines Jean-François Lyotard zu verhalten. Das Wort ,Heterogenität‘ im Gegensatz zur ,Homogenität‘ übersetzt man mit Uneinheitlichkeit, Ungleichartigkeit, Verschiedenartigkeit u.Ä., aber gemeint ist nicht irgendein verschieden Geartetsein und damit die Zugehörigkeit zu einer anderen kategorialen Artbestimmung, sondern ein Sein anderer Ab- oder Herkunft jenseits von Art, Gattung und Zahl: ein Anderswie-Herkünftiges. Der Zugang ist die strukturell und ereignishaft dem mitteilenden Menschen vorgängige Sprache, mit der man in die Akte des Sprechens eintritt. Und hier macht Lyotard die Grunderfahrung einer Heterogenität (Autonomie und Inkommensurabilität) der Satz-Regelsysteme und Diskursarten, die miteinander in Konflikt, in Widerstreit (différend) geraten. Im ersten Satz des »Merkzettels zur Lektüre« seines Hauptwerks »Le Différend«103 werden die Weichen gestellt: »Im Unterschied zu einem Rechtsstreit (litige) wäre ein Widerstreit (différend) ein Konfliktfall zwischen (wenigstens) zwei Parteien, der nicht angemessen entschieden werden kann, da eine auf beide Argumentationen anwendbare Urteilsregel fehlt.« Der Widerstreit (différend) ist injustiziabel; vom sprachtheoretischen Ansatz her ist ein gemeinsamer Boden für einen justiziablen Streit (litige) ausgeschlossen. Wolfgang Welsch kritisiert die Absolutheit des Autonomie- und Heterogenitätstheorems Lyotards als widersprüchlich, da dadurch jeder Widerstreit und Konflikt unverständlich werde, und plädiert für eine relative Autonomie des Heterogenen, welche die agonalen Diskursweisen und Satz-Regelsysteme der Opponenten zulässt und eine Ethik des Umgangs mit ihr erfordert. Weiters wäre zu sagen, dass kaum etwas anderes als eine zu Streit, Meinungsverschiedenheit, Konflikt ausgewachsene Differenz in Abwesenheit gemeinsamer Lösungsmöglichkeiten das Gemeinsame der Streitparteien hervortreten lässt, also ihr Einssein im Gegensatzpaar ,die Einen/die Anderen‘ voraussetzt. Die Partikularitäten, um deren Unvereinbarkeit es geht, sind ihrer Herkunft oder ihrem Herkunftsbereich nach verschieden und in ihrer Gegenläufigkeit auseinanderzuhalten. Aber ihr Einssein, ihre gemeinsame Wahrheit (als Offenbarwerden in der Setzung des einen aus dem anderen oder des einen gegen das andere), bleibt über der Auffälligkeit der Auseinandersetzung unthematisiert, wenn es offenkundig zu keiner Übereinkunft und Einigung kommt und schon gar nicht eine Einheit vorliegt. 103 J.-F. Lyotard, Der Widerstreit, 9.
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Die Verabschiedung der Vielheit totalitärer Einheitsgebilde soll Abschied von Herrschaft, Zwang, Terror bedeuten. Die Polemik steht aber in Gefahr, durch die Absolutsetzung der Heterogenität (des Autonomismus) das zu Recht Abgelehnte mit Gegenherrschaft, neuen Zwängen und Antiterror zu beantworten. Absolutsetzung ist ja als wesentliche Wurzel des Widerstreits und der Konflikte kaum zu verkennen. Die hierbei angesprochene Haltung der Zustimmung zur Pluralität wäre von kaum zu unterschätzender Bedeutung, würde sie nicht die Differenz von uneigentlichem und eigenstem Seinkönnen geradezu symptomatisch nivellieren. Die geforderte vorbehaltlose Zustimmung zum Heterogenen differenziert nicht zwischen dem Seinlassen der Möglichkeit eines nicht-totalitären Einsseins gerade zugunsten des Heterogenen einerseits und dem Bruch mit dieser Möglichkeit im Totalitarismus andererseits. Gleichfalls fehlt die Differenzierung zwischen der Bejahung und Bewunderung des uns ansprechenden Pluralen und der Flucht in die Zerstreuung und Zersplitterung des Daseins aus Angst vor dem eigentlichen Seinkönnen. In der Verzweiflung, dem eigenen Selbstsein (eins mit sich, den Anderen und der Welt) nicht zustimmen zu können, in Abwendung vor dem eigensten Seinkönnen, eröffnet sich als Ausweg in Neugier und Zerstreuungssucht eine neue Sicht der Welt. Im neugierigen Ausbruch aus der eigenen Mitte, dem Sichergießen in das Vielerlei, erscheint dann alles Sein und Einssein völlig undifferenziert zum totalitären Phantom und paranoid zum Verfolger aufgebläht. Der postmoderne Pluralismus ist, wie gesagt, als Gegenbewegung nicht der einzige Hauptstrom gegenwärtiger Philosophie. Er wird durchkreuzt von einem holistischen ,Megatrend‘, der weit davon entfernt ist, die echten Anliegen des Pluralismus zu entfalten. Gemeint sind nicht nur Zurückweisungen des radikalen Pluralismus von eher lokaler Bedeutung, wie beispielsweise die Kritik der Hegelrenaissance, die sich der die Teile aus sich heraussetzenden und aufhebenden Wahrheit des Ganzen verpflichtet weiß, sondern eine prinzipielle Abkehr von elementaristischen Ganzheitsbildungen in verschiedensten Kulturbereichen. So hat Fritjof Capra auf einen Paradigmenwechsel innerhalb der Physik verwiesen, der als Zeichen einer Zeitenwende holistischen Konzeptionen den Vorzug einräumt.104 Capra beruft sich auf Spinozas Leitformel »Deus sive natura« als tiefstem metaphysischen und spirituellen Grund für einen ökologischen Umgang mit der Natur sowie auf die spinozistische Anschauungsweise Goethes, der Gott in der Natur und die Natur in Gott erblickt.105 Gegen anthropozentrische Überheblichkeit wird die Einfügung in die 104 Vgl. dazu J. Figl, Ganzheitliches Denken am »Ende der Neuzeit«. 105 F. Capra, Wendezeit, 4, 6.
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große Harmonie der Natur wichtig. Alle Phänomene erscheinen »zwangsläufig als die untrennbaren Teile des kosmischen Ganzen, als verschiedene Manifestationen der gleichen letzten Wirklichkeit«.106 Die moderne Physik enthüllt »die grundlegende Einheit des Universums«, das ein »einheitliches Ganzes [ist], das bis zu einem gewissen Grad in getrennte Teile zerlegt werden kann, in Objekte, bestehend aus Molekülen und Atomen, die ihrerseits aus Teilchen bestehen. Doch hier, auf der Ebene der Teilchen, gilt der Begriff separater Teile nicht mehr.«107 »Auf subatomarer Ebene sind die Wechselbeziehungen und Wechselwirkungen zwischen den Teilen des Ganzen von grundlegenderer Bedeutung als die Teile selbst. Es herrscht Bewegung, doch gibt es letzten Endes keine sich bewegenden Objekte; es gibt Aktivität, jedoch keine Handelnden; es gibt keine Tänzer, sondern nur den Tanz«108 – eine Aussage für den subatomaren Bereich moderner Physik, die undifferenziert extrapoliert für ein Ganzheitsverständnis der Welt in den verschiedensten Bereichen Geltung haben soll. Capra verweist zustimmend auf Gregory Batesons Systemdenken: »Systeme sind integrierte Ganzheiten, deren Eigenschaften sich nicht auf die kleineren Einheiten reduzieren lassen. […] natürliche Systeme sind Ganzheiten, deren spezifische Strukturen sich aus den wechselseitigen Beziehungen und Abhängigkeiten ihrer Teile ergeben. […] Systemdenken heißt Denken in Vorgängen; Form wird mit Geschehen assoziiert, Zusammenhang mit Wechselwirkung, und Gegensätze werden durch Schwingungen vereint.«109 »Jedes Ding sollte nicht durch das definiert werden, was es an sich ist, sondern durch seine Zusammenhänge mit anderen Dingen.«110 Der Holismus erscheint gelegentlich gemäßigt, wenn beispielsweise bemerkt wird, dass die Ordnungen relativ autonomer, sich selbst organisierender Organismen »den Teilen keinen starren Zwang auferlegen, sondern Raum lassen für Variationen und Flexibilität, und genau diese Flexibilität ist es, die lebende Organismen in die Lage versetzt, sich neuen Umständen anzupassen«.111 Doch auch hier ist das Ganze nicht um willen der Erhebung der Teile, sondern sind die Teile nur um willen des Ganzen da. So liegt insgesamt der Schwerpunkt im Vorrang des Ganzheitsdenkens und kommt die Wahrung und Entfaltung der integren Identität der Teile in Anteilnahme an einer Totalität zu kurz.
106 A.a.O., 6 f. 107 A.a.O., 83 f. 108 A.a.O., 97, vgl. 295. 109 A.a.O., 294 f. 110 A.a.O., 84. 111 A.a.O., 297.
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6.4 Integrales und integratives Ganzsein
6.4.1 Ganzsein als Korrelation von Eins- und Vielfältigsein Vorerst geht es hier nur um die Wahrung sowohl des phänomenalen Einsseins als auch des phänomenalen Vielfältigseins: Keine Aus- und Entfaltung der Vielfalt ohne einigendes oder/und geeintes Einssein. Ihre konstitutiven Momente sind unableitbar einmalig, gleich ursprünglich sowie gleich wesentlich und nur in ihrem Miteinander- und Durcheinandersein ganz verstehbar. Eine Mehrursprünglichkeit des Ganzen wird also präzisiv (positiv) und nicht exklusiv (negativ) supponierend angenommen. Ganzsein in der Korrespondenz von Eins- und Vielfältigsein entfaltet sich als ein korrelativer Gegensatz, das heißt, dass hier Einssein und Vielfalt zwar sinnverschiedene und so gleich ursprüngliche, aber nur mit- und ineinander gegebene Phänomene darstellen. Der Gegensatz zwischen dem Einssein und der von ihm unableitbaren Vielfalt ist nicht ein ausschließender, sondern ein ergänzender. Das Einssein eines Ganzen enthüllt sich im Anwesenlassen einer Mannigfaltigkeit zusammengehöriger gleich konstitutiver Momente. Umgekehrt ist Vielfältigkeit auch immer nur im Mitund Durcheinandersein des Anwesenlassens eines Ganzen gegeben. Wer für das Differente oder Heterogene plädiert, spricht das Differieren, das Geschehen des Austrags, des nach verschiedenen Seiten Auseinandertragens (eines aus dem anderen) und somit eine Weise des Seins und der Offenbarkeit des Seins
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Das Ergebnis der bisherigen Überlegung hinsichtlich der gegensätzlichen Lager von Totalitarismus und Pluralismus lautet knapp zusammengefasst: Das totalitaristische Ganzheitsverständnis besagt, dass bei noch so großer Aufsplitterbarkeit in eine Pluralität je immer größere Einheit und Einfachheit vorherrscht. Im Gegensatz dazu besagt pluralistisches Ganzheitsverständnis, dass bei noch so großer Einheit das Ganze in je immer größere Pluralität, Differenzen oder Heterogenitäten auflösbar ist. Der zunehmende Widerstreit von gewalttätigen Totalitarismen und entsolidarisierenden Pluralismen mit ihren verheerenden Folgen im Zusammenleben der Menschen gibt erneut die Frage auf, ob und wie Einssein und Vielfalt, kommunikative Einigung und variierende Heterogenität ontologisch ursprünglicher gedacht werden können und für uns sein lassend, kreativ und befreiend vollziehbar sind. Dazu ist zu verdeutlichen, dass Eins- und Vielfältigsein nicht nur einen komplementären und korrelativen (1) sowie transzendentalen (2) Gegensatz bilden, sondern im integralen Ganzsein integrativ zur Entfaltung kommen (3).
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an; er weiß, wenn auch noch so unreflektiert, um ein Anwesen miteinander, also um Sein. Deswegen weiß er, dass Plurales pluraler zu denken ist, als er jemals können wird; ja selbst Heterogenstes kann weder sein noch ist es denkbar, ohne in einem Bezug des Andersseins als ein Gegenstrebiges eins zu sein. Mit dem Einssein wird nicht nur ein Wovon und Wofür des Einsseins, ein versammeltes Vielerlei- bzw. Vielessein innerhalb eines Ganzen ausgesagt, sondern auch die ontologische Ausfaltung in Vielfältigkeit sowie umgekehrt das Teilhaftigsein in Teilhabe an einem Ganzen. Die Weisen des Anwesens in der Vielfalt auseinanderstrebender Tendenzen scheinen hierbei bestimmten (und selber noch einmal in analogen Abwandlungen verschiedensten) Weisen des Einsseins im Verbundensein, Umgriffensein, Zusammenhalt und Ganzsein zu entsprechen. Das Ganze (distributiv verstanden) ist das jeweilige Verbundensein in einer Mannigfaltigkeit zusammengehöriger Momente. Das Ganze kann als Seinstotalität die Seinsmannigfaltigkeit der transzendentalen Eigenheiten des Seins umfassen (vgl. hier unten Abschnitt 6.4.2). Ein Ganzes kann auch das genannt werden, wovon die Seinsgründe das Seiende konstituierende Gründe (in der Seinsmannigfaltigkeit geeint) sind, oder das, wovon die Teile Teile sind. Einssein des Seienden und seiner Gründe ,west‘ nur im Aufgang von Unterschiedenheit, Verschiedenheit, Differenz (Fügen, Fügung, Gefügtheit) der Teile des Seienden, seiner Gründe, ihres Verhältnisses zueinander sowie zum Seienden selbst. Die Fügung, Gliederung, Strukturiertheit, Verbundenheit des Seienden zu einem Geeinten ist seinem ursprünglichen Seinssinn nach notwendige Folge (finis) der einigenden Einheit (Fügung) seiner Gründe in Teilnahme an der Seinstotalität. Miteinander korrespondierendes Einssein und Vielfältigsein kann selbst wiederum auf analoge Weise (graduell) mannigfaltig sein. Einssein kann aber nicht in ein und derselben Hinsicht mehrfach und vielfach (Vielfalt, Mannigfaltigkeit, Pluralität) sein, sondern ist seinem Seinssinn nach notwendig auf eine entsprechende Vielheit bezogen (korrelatives Einssein), auf das in sich differenzierend und differenziert Auseinanderliegende. Umgekehrt ist Vielheit in ihrem Mit- und Durcheinandersein notwendig auf ein Einssein so bezogen, dass sich Aufgang, Offenbarkeit und Worumwillen des Seins notwendig als Eins- und Vielfältigsein ereignen. Ganzsein eines Ganzen (dieses distributiv verstanden!) jeweils als vereinigte oder einend-geeinte Mannigfaltigkeit ist nicht monadisch, sondern besteht in einer Vielfältigkeit der Weisen von Teilnahme, Durchdringung, Kommunikation, Bezugsidentität an der Welt (der Offenheit des Anwesens), und zwar so, dass alles in jedes und jedes in alles geht, alles in alles wirkt, und weiter, dass alles einander durchdringt, alles in allem da (anwesend) und das All in allem da ist. Jedes Einzelne
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(als im Da Anwesendes) nimmt Teil am Weltganzen und ist so erst ganz es selbst als die kleine Welt, die es in der großen Welt ist. Dabei ist die Beziehung von Makround Mikrokosmos nicht als ein hierarchisches Abbildungsverhältnis vorzustellen, sondern besser als Mannigfaltigkeit der Partizipationsweisen (auch ,Wieder-gabe‘, ,Wieder-holungen‘, Spiegelungen und Perspektivierungen): als Weisen des Anwesenlassens des Ganzen und des anwesen lassenden Teilnehmens am Ganzen sowie des Teilnehmens aneinander bzw. des einander Anwesenlassens. Ich verweise hier, ohne andere Traditionslinien auszuschließen, auf den großen Gedanken des Nikolaus von Cues von der complicatio und explicatio des Ganzen,112 welches jedes Einzelne auf seine Weise unmittelbar zur Erscheinung bringt, versammelt und enthält, enthüllt und so repräsentiert. Das Universum (All) ist als universelle Einheit in der Vielheit (einander ergänzender und verschieden abgestufter Einzelner) die Explikation ihres absoluten Ursprungs. Was als Mannigfaltigkeit zum Vorschein kommt, als Explikation (»aus-einander-rollende Ent-faltung«), expliziert jedoch mehr als eine einfache Einheit den Ursprung. Weil im Ursprung selbst Pluralität (in nicht numerisch begrenzter Weise) und Singularität koinzidieren, drückt der Hervorgang (excessus) einer Mannigfaltigkeit eine größere Vollkommenheit des Seienden aus (als Simplizität). Jedes beliebige Ding (als Teil des Universums) begegnet wesenhaft als eine Viel-Einheit, weil es im Vollzug seiner Herkunft auf diese oder jene verschränkte (zusammengezogene, partikuläre) Weise das Universum ist. Weil das Ganze im Teil anwesend ist und erscheint, ist es durch jeden Teil in jedem anwesend, explizieren alle Einzelnen, alle einend-geeinten Vielen, das Ganze, und das meint (aus der ursprünglichen Erfahrung des Anwesens geschöpft) mehr und Ursprünglicheres als eine abstrakte Zuordnung von verstandesmäßigen Denkbarkeiten der Dinge: begrifflich-kategoriale Verknüpfung von Vielheit (Besonderheit) als geordnete Einheit (Allgemeinheit) zusammengenommen zur Allheit (Totalität).
6.4.2 Ganzsein als transzendentales Eins- und Vielfältigsein
Einssein und Vielfältigsein ist, wie schon ausgeführt, ein ontologisch-transzendentaler (d.h. mit dem Sein des Seienden konvertibler) Gegensatz. Geeintsein bedeutet in sich notwendig auch Geeint- und Vereinigtsein mit Anderen, besteht in Mannigfaltigkeit des Geeintwerdens. Vielfältiges kann ohne Zusammenhalt, Verbundensein, Zusammengehörigkeit, ,Durch-einander-sein‘ bis hinein in alle Gestalten der 112 Vgl. dazu Nikolaus von Kues, De docta ignorantia, lib. II, cap. 3– 6, in: Philosophisch-Theologische Schriften, Bd, 1, 330 – 355.
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Auseinandersetzung weder sein noch gedacht werden. Der transzendentale, alles Seiende überschreitende Verständnishorizont dieses ontologischen Urphänomens ist kein ideell-spekulativer, kein bloß quantitativ-kategorialer oder mathematischer, sondern durch unsere Teilnahme an der Welt eröffnet. Wir haben vom lebensweltlichen Bezug von Mensch und Welt auszugehen, von unserem ,Da-sein‘ in der Welt, wie sie uns konkret nur in Begegnung mit innerweltlichen Seienden aufgeht. Bli cken wir um uns und auf uns: Konkret verstehen und erfahren wir nicht nur Seiendes, sondern Seiendes in seinem Sein (das Walten von Offenbarkeit des Seienden in dem, worum es jeweils geht), und zwar in einer Vielfalt auseinandergefalteter Weisen und Fügungen, als Seinsvielfalt, Seinsmannigfaltigkeit in Sinn- und Bedeutungsmomenten. Seiendes (Anwesendes als das sich Zeigende und Mitteilende) ist uns nicht anders zugänglich und offenbar denn als etwas in irgendeiner Weise Eines, Geeintes und/oder Einigendes, korrelativ bezogen auf eine irreduzible und letztlich unabsehbare Mannigfaltigkeit im Anderssein Andersseiender. Aber dieses Walten von Offenbarkeit des Seienden ist wesenhaft ein weltbezogenes. Mit dem Hinweis auf die Weltzugehörigkeit der Seienden präjudizieren wir nicht einen abgehobenen Vorrang des Einsseins der Welt113 vor dem Vielfältigsein innerweltlicher Seiender, denn innerweltliches Seiendes verstehen wir nur in und von der Welt her als dem Offenen, der Offenbarkeit und Offenheit des sich in ihnen weggebenden Seins, also in dieser ontologischen Urdifferenz von Sein und Seiendem. Der eine lebensweltliche Bezug von Mensch und Welt geht uns in der jeweiligen Situation nur als ein in sich selbst vielfältiger auf – im Anwesen der Mannigfaltigkeit der Weisen und Fügungen des uns begegnenden Anwesenden. Der Ausgang vom Daseinsganzen (kollektiv verstanden) besagt also eine In-Blick-Nahme einer Mannigfaltigkeit der Weisen, sich zum Ganzen der Welt zu verhalten, und dieses Verhalten vollzieht sich konkret in unmittelbarer Kenntnisnahme des uns begegnenden Seienden und des Seienden, das wir inmitten anderer Seiender selbst sind. Der ontologisch tiefste Ansatz geht, wie gezeigt wurde, von der Partizipation des Seienden an der Seinstotalität aus, insoweit es selbst an der Totalität teilnimmt und diese Totalität in seiner ureigensten Weise ist und im Mitsein austrägt (differenziert).
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6.4.3.1 Zum integralen Ganzsein in aristotelischer Tradition
Insofern ein Ganzes zu sein angefangen hat, lassen sich Teile, Komponenten, Konstituenten usw. unterscheiden, in die das Ganze differenziert und gefügt ist. Ihre An113 Als ,Universum‘, das in eins Gekehrte, in eine Einheit Zusammengefasste, die ganze Welt (als Inbegriff aller Teile), das Weltall.
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teilhaftigkeit endet mit dem Untergang und Zerfall des Ganzen. Differierende Teile, Komponenten, Konstituenten usw. sind einzig nur im Walten eines echten Ganzen als ihrem einigenden Band da, lassen das Ganze (nicht zur Gänze, sondern eben teilhaft) anwesen und stellen es so dar. Damit ist die wichtigste jener mehrfachen Bedeutungen des Ganzen, die Aristoteles unterscheidet, in den Blick genommen: »Als Ganzes bezeichnet man das, dem keiner der Teile, deretwegen es ein der Natur nach Ganzes genannt wird, fehlt.«114 Heidegger umschreibt diese Bestimmung so: »Etwas ist ein lon, bei dem nichts abwesend ist, bei dem kein Teil, kein zugehöriges Bestandstück abwesend ist.« Er bedenkt das Gesagte zu Recht in der Spannung von An- und Abwesen, Da-sein und Weg-sein. Die griechisch gedachte Anwesenheit ist ontologisch und nicht bewusstseinstheoretisch oder linguistisch gedacht und daher nicht mit vorstellungsmäßiger Präsentation (Vergegenwärtigung von etwas) oder Repräsentation (auf sich zu- und zurückstellendes Vorstellen und so erst Gegenwärtigmachen und sich Präsentieren) zu verwechseln: »Positiv gesagt ist das lon die volle Anwesenheit des Seienden in dem, was [jeweils] zu seinem Sein gehört. Unser Ausdruck ,Vollständigkeit‘ gibt das ausgezeichnet wieder; das Seiende ist in seinem vollen Stand.«115 Was zu seinem vollen Stand, ja zum vollen Ende, zur Vollendung, gekommen ist, nennt Artistoteles das tleion, das Vollkommene.116 Heidegger macht noch darauf auf merksam, dass Aristoteles das Vollkommene (tleion) gleich dem Ganzen (lon) de finiert: »,tleion ist einmal das, bei dem auch nicht ein einziges Bestandstück außer halb ist.‘[117] Das lon bedeutet also […] die volle Anwesenheit der das Fertigsein eines Seienden ausmachenden Bestandstücke.«118 Das tleion ist das Seiende, das zu seinem
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114 Aristoteles, Met. V, 26, 1023 b 26 f. (Übersetzung: F. F. Schwarz): te δ ti . Gleich ob Ganzes oder Teil, Seiendes oder Rationalitätsformen der Vernunft usw., Aristoteles ist stets an den vielfachen Bedeutungen einer Sache interessiert, was ihm das Lob von W. Welsch einbrachte (Unsere postmoderne Moderne, 277–284, hier 277): »Aristoteles ist generell der traditionelle Philosoph der Pluralität – und sollte als solcher geschätzt werden.« Dennoch taucht bei Aristoteles in der Beurteilung von Grundstrukturen aller Lebewesen ein typisch subordinationistisches Ganzheitsverständnis auf: »[…] der Gegensatz von Herrschendem und Dienendem tritt überall auf, wo etwas aus mehreren Teilen besteht und eine Einheit bildet, seien die Teile nun kontinuierlich oder diskret. Und dieses Verhältnis der Über- und Unterordnung findet sich bei den beseelten Wesen auf Grund ihrer ganzen Natur« (Politik I, 5, 1254 a 28–32; Übersetzung: E. Rolfes, 9). 115 M. Heidegger, GA, Bd. 19: Platon: Sophistes, 79. 116 Wir hören das Wort heute nominal bzw. substantivisch. Eine verbale Bedeutung hatte auch das zum Substantiv »Vollkommenheit« gehörige, aber untergegangene deutsche Verbum »volkomen« im Mittelhochdeutschen. Ähnlich meint das Lateinische etwas durch und durch machen, etwas fertigmachen, durchführen, zu Stande (zum Stehen!) oder zu Ende bringen, vollenden. Perficio ist das Stammwort für perfectio (Ausführung, Vollendung, Vervollkommnung, Vollkommenheit) und für (dessen Ergebnis) perfectus. 117 Aristoteles, Met. V, 16, 1021 b 12. 118 M. Heidegger, GA, Bd. 19: Platon: Sophistes, 79.
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Sein und in sein Sein gekommen ist, das fertig da ist – also etwas durchaus Phänomenales, das uns alltäglich betrifft. Der Gedanke einer quantitativ-formalen, äußeren Vollkommenheit des Fertiggestellten ist hier nicht ausgeschlossen – einseitig weitergeführt finden wir ihn heute in der Idee technischer Perfektion, der alles, auch das Menschliche, unterworfen werden soll. Doch bei Aristoteles ist eher an eine qualitativinhaltliche Vollkommenheit im Sinne eines ,inneren‘ Vollendetseins zu denken, an eine Bestimmung menschlicher Fertigkeiten und überhaupt des Gutseins, um das es geht, ja auch des Schönen. Das Téleion ist dann nicht eine Eigenschaft des Seienden, sondern »ein Sein, eine Weise des Seins selbst […,] eine Bestimmung des Seins des Seienden […]«.119 Die primäre Bedeutung des tleion, des Grundzugs der Vollkommenheit von Seienden, ist für uns wichtig: Über das jeweilige vollkommene Seiende hinaus gibt es nichts (keinen einzigen Teil), ist nichts weiter da, was das Sein des betreffenden Seienden mit ausmachen würde. Bemerkenswert ist das Beispiel, das Aristoteles dafür anführt: Derart vollendet ist für ein jeweils Daseiendes die Zeit, außer der es nicht noch eine gewisse Zeit gibt, die jene mit ausmacht. Sagt man mit dem Buch Kohelet, »für alles ist eine [festgelegte] Zeit«,120 so ist diese Zeit, die es zu sein gibt, angesprochen. Der aristotelische Vollkommenheitsgedanke besagt zwar, dass etwas ganz und heil sein kann oder ist, hat aber mit heiler Welt im Sinne eines hierarchischen Gefälles von vollkommenem Urbild (übergestülpter Idee) und unvollkommenem Abbild nichts zu tun, weil das, was sich von ihm selbst her und an ihm selbst zeigt, gefragt ist. Im Grundzug der Vollkommenheit als das, worüber hinaus nichts anderes anwesend ist, ist eine »bestimmte Seinsmöglichkeit eines Seienden […] in seinem Sein eigentlich bestimmt«, und zwar so, dass »Seiendes hinsichtlich seiner Seinsmöglichkeiten zu seinem Ende gekommen ist«.121 Das zu seinem Ende Gekommensein des Seienden hat den ontologischen Charakter der Grenze,122 des Worumwillen etwas geschieht,123 der enthüllenden Gestaltwerdung, ja überhaupt des Gehens in das Äußerste (scaton), in die Eigentlichkeit des Daseienden, aber im übertragenen Sinn auch die Bedeutung des Seins zum Ende, zum Untergang und zur Vernichtung, 119 Vgl. M. Heidegger, GA, Bd. 18: Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, 80 –97, hier 89. 120 Vgl. 3,1–9. Das Buch ist übrigens zur Zeit des Aristoteles um die Mitte des dritten Jahrhunderts verfasst worden. 121 M. Heidegger, GA, Bd. 18: Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, 85. – Erst aus einem ontologischen Verständnis des vollkommenen Ganzen ist Teleologie (im Unterschied zur ontischen Teleonomie des intelligenten Designs) zu begründen und kann so etwas wie ein teleologischer Aufweis des Daseins Gottes in Frage kommen. 122 Vgl. dazu vom Verf. (1997c), Zur Erscheinung der Endlichkeit als Grenze. Ein Beitrag zur Atheismus-Forschung und zum Vorverständnis philosophischer Theologie, in: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Bd. 2, 117–138. 123 Siehe dazu unten den Abschnitt 7: Philosophische Theologie und praktische Philosophie.
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124 Vgl. beispielsweise Platon, Timaios, 32d –33a 1: In stetiger In-Blick-Nahme des Guten, Schönsten und unter dem Intelligiblen in jeder Beziehung Vollkommenen hat der Demiurg den Kosmos tleon) aus vollkommenen als ein »gänzlich vollständiges Lebewesen (lon ti m1lista z mer wn)« Bestandteilen (k telwn t wn gefügt. 125 Vgl. dazu vom Verf. (2007), Was besagt Privation? Zur Sprache der Abwesenheit. 126 Vgl. L. Oeing-Hanhof, Art. Ganzes / Teil, in: HWP, Bd. 3, Sp. 5–13. 127 Thomas von Aquin, Sth I, q. 73, a. 1. 128 Thomas von Aquin, III Sent., dis. 33, q. 3, a. 1, sol. 1 (nr. 268): integralis enim pars intrat in constitutionem totius, sicut paries (in constitutione) domus. Unter Teil eines Ganzen im eigentlichen Sinne versteht Thomas das, was unmittelbar zur Konstitution eines Ganzen führt (venit) – im Unterschied zum Teil eines Teiles: In peri hermeneias, lib. I, lec. 6 c, nr. 79.
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zum Tod. Nur das heile Ganze kann ein gebrochenes Ganzes werden. Es geht um das jeweils mögliche Ganzsein, nur darum, nicht um ein davon abspringendes Ideal an Vollkommenheit, um eine ideale Ganzheit. Da es hier um die konkrete Vollkommenheit im Ganzsein geht, wird darauf zu achten sein, dass und wie die Bestandstücke oder Anteile eines Ganzen selbst vollkommen sein müssen.124 Auch Art und Grade des äußeren bis innigeren Verbundenseins sind hierbei zu beachten und nicht für selbstverständlich zu halten. Solange ein Seiendes noch vorliegt, kann seine Vollständigkeit durch die Abwesenheit ,natur-notwendiger‘ Teile eingeschränkt und versehrt sein. Ontologisch gehören hierher die als privativ gekennzeichneten Seinsweisen des Abwesens,125 die sich im Da des Offenen als anwesend vielfach bekunden (freilich nicht als Anwesende, sondern in ihrem ,Weg‘sein), und zwar durch Wegnahme, Entziehung, Aufhebung, Verlust, Fehlen, Beraubung, Verstümmelung, Zerbrechen, Verneinung usw. dessen, was Seiendes (Waltendes) vom Sein (Walten), vom Aufgang seiner Natur her, seinem innersten Wesen und Gesetz nach ist. Mittelalterliche und neuzeitliche Metaphysik rezipierte weitgehend das differenzierte Ganzheits- und Vollkommenheitsverständnis des Aristoteles bzw. aristotelischer Philosophie.126 Für uns kommt hier besonders das Ganz- und Vollkommensein eines Ganzen auf Grund der Vollständigkeit der Teile in Frage, wenn beispielsweise Thomas von Aquin sagt, vollkommen ist ein Ding (res) bzw. selbstständiges Seiendes (substantia), wenn die Wesensform »aus der Integrität der Teile entspringt (quae ex integritate partium consurgit)«.127 Ein Ganzes, das in dieser grundlegenden Vollkommenheit besteht, wird terminologisch integrales Ganzes (totum integrum) genannt. Das lat. integer besagt unversehrt, unverletzt, unverstümmelt, unvermindert, ungeschmälert, unverkürzt, noch ganz, also heil und auch blühend. Die Integrität wird nicht nur vom anwesenden Ganzen, sondern auch vom Teil ausgesagt. Der integrale Teil (pars integralis) konstituiert das Ganze auf die Weise, wie die Wände das Gebäude mitkonstituieren, wobei der Umkehrschluss nicht zulässig ist: »Wenn Wände da sind, besteht [deswegen] kein Haus.«128 Das selbstständige Seiende ist mehr als die Summe eigenständiger Konstituenten.
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In der thomanischen Auslegung der berühmten Sentenzensammlung des Petrus Lombardus129 ist das integrale Ganze das, dessen Vollkommenheit in seiner Unversehrtheit aus den seiner Natur nach ihm zukommenden (An-)Teilen zustande kommt (integratur).130 Die Unversehrtheit des Ganzen beruht auf der Vollständigkeit der Teile; und dazu müssen diese selbst ,integer‘ sein, denn »integral« heißen ja »jene Teile, aus denen sich die Vollkommenheit eines Ganzen ergibt«.131 Die integralen Teile eines Ganzen sind gegenseitig aufeinander hingeordnet, »einige haben eine Ordnung nur in räumlicher Lage […], andere aber stehen darüber hinaus in einer Ordnung der Kraft nach, wie die Teile des Sinneswesens, deren erster der Kraft nach das Herz ist […]. In einer dritten Weise werden sie in einer Ordnung der Zeit nach geordnet«.132 »Ein integraler Teil kann das Ganze in sich enthalten, wenn [es] auch nicht gemäß seinem [ganzen] Wesen [gegenwärtig] ist. Denn das Fundament enthält gleichsam der Kraft nach das ganze Gebäude in sich.«133 Dass das Ganze in den integralen Teilen in gewisser Weise (»zugleich und in gleicher Weise gemäß der ganzen Kraft des Ganzen«)134 enthalten und anwesend ist, wird aus dem Partizipationsgedanken verständlich: Es gibt keine Vielheit, die nicht am Einssein des Seienden teilnimmt, denn alles Viele ist im Hinblick auf irgendetwas eins.135 Unterscheiden lassen sich: edlere (nobiliores) und weniger edle Teile, hauptsächliche und nebensächliche Teile (partes principales und secundariae), wesentliche und (im Blick auf die Wesensdefinition unwesentliche oder auf das reale Akzidens) akzidentelle Teile (partes essentiales oder accidentales).136 Zum Beispiel hält schon Aristoteles Kahlköpfe
129 Ebd.: »Jegliches Ganzes läßt sich auf drei Gattungen zurückführen, nämlich das universale, integrale und vermögensmäßige (potentiale) Ganze.« 130 Thomas von Aquin, In V Metaph., lec. 21. Nach der lateinischen Übersetzung nennt Aristoteles das ein Ganzes, cui nulla partium deest, ex quibus dicitur totum natura (dem keiner der Teile fehlt, abgeht, wörtlich ,abwest‘, auf Grund derer es ein naturwüchsiges Ganzes genannt wird). Dies kommentiert Thomas (in nr. 1098): Primo ponit rationem […] totius […] in hoc quod perfectio totius integratur ex partibus (der Sinn des Ganzen besteht vor allem in der Vollkommenheit des Ganzen, das aus Teilen gefügt wird). 131 Vgl. Thomas von Aquin, Sth III, q. 90, a. 3, s.c.: illae dicuntur partes integrales ex quibus integratur perfectio totius. 132 A.a.O., ad 3: omnes partes integrales habent ordinem quendam ad invicem. Sed quaedam habent ordinem tantum in situ […]. Quaedam vero habent insuper ordinem virtutis: sicut partes animalis, quarum prima virtute est cor […]. Tertio modo ordinantur ordine temporis […]. 133 A.a.O., ad 2: una pars integralis potest continere totum, licet non secundum essentiam: fundamentum enim quodammodo virtute continet totum aedificium. 134 A.a.O., ad 3: […] partibus subiectivis singulis adest tota virtus totius, et simul et aequaliter. 135 Thomas von Aquin, De Divinis Nominibus, cap. 13, lect. 2, nr. 975: nulla enim m u l t i t u d o e s t quae non participet uno, quia omnia multa sunt unum secundum aliquid. 136 Thomas von Aquin, IV Sent. dis. 16, q. 1, a. 1, ad 3 qu. (nr. 41); Sth I, q. 23, a. 7; SG I, c. 86, nr. 722; lib. 3, cap. 112, nr. 2859, 2863.
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137 Thomas von Aquin, In V Metaph. V, lect. 21, nr. 1118. 138 Vgl. u.a. Thomas von Aquin, Sth I, q. 74. a. 4; SG IV, 36, nr. 3741 f. 139 A.a.O., III, 112, nr. 2860: Manifestum est partes omnes ordinari ad perfectionem totius: non enim est totum propter partes, sed partes propter totum sunt. 140 A.a.O., nr. 2859: In quolibet toto partes principales propter se exiguntur ad constitutionem totius: aliae vero ad conservationem, vel ad aliquam meliorationem earum. 141 Vgl. dazu J. A. Aertsen, Medieval Philosophy and the Transcendentals, 225, 228.
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nicht für Verstümmelte oder Behinderte,137 denn ein Mensch kann ganz, heil und vollkommen sein, wenn ihm die Haare fehlen. Zur Integrität eines Menschen, der ein aus heterogenen Teilen gefügtes Ganzes darstellt, gehören beispielsweise das Sehvermögen oder der Wille (selbst wiederum als integraler Teil seines Wirkvermögens) oder Form und Materie, Seele und Leib als integrale Wesens-Teile.138 Wenn Thomas sagt, »offensichtlich sind alle Teile auf die Vollkommenheit des Ganzen hingeordnet: denn das Ganze ist nicht um der Teile willen, sondern die Teile sind um des Ganzen willen da«,139 erhebt sich die Frage: Berücksichtigt die Hinordnung aller Teile auf die Vollkommenheit des Ganzen die Eigenständigkeit und Eigenwesentlichkeit der Teile? Wenn die Teile um willen des Ganzen so da sind, dass sie teilweise das Ganze enthalten und es sind, ist dann nicht auch umgekehrt das Ganze um willen jedes und aller seiner Teile da? Waltet nicht das Ganze in der Liebe zum Detail, das zu ihm gehört? Immerhin gesteht Thomas gewissen Teilen eines Ganzen (so den intelligenten Kreaturen im Universum) zu, dass sie um ihrer selbst willen da sind: »In jedem beliebigen Ganzen sind die Hauptteile um ihrer selbst willen zum Aufbau des Ganzen erforderlich: die anderen [die Nebenteile] aber zu ihrer Erhaltung oder irgendeiner Verbesserung.«140 Diese Unterscheidung ist sicher wichtig. Immerhin drückt Vielheit als transzendentale Eigentümlichkeit des Seienden eine positive Vollkommenheit aus, die freilich zur Vollkommenheit des Universums erforderlich ist.141 Doch was in der Bestimmung des integralen Ganzen in dieser aristotelischen Traditionslinie zurücktritt, ist die Bedeutung des Ganzseins für das Teilsein, welches das eigenständige ,Erblühen‘ (Aufgehen) der Teile fördert, sowie die Bedeutung der Integrität der Teile selbst hinsichtlich des integrativen Moments ihrer eigenständigen Entfaltungsmöglichkeiten, ihres Andersseins (aliquid esse), ihrer Heterogenität, die sie dem Ganzen mitgeben. Das Schicksal der Eigenständigkeit der Teile bei ihrer ,Aufhebung‘ in ein größeres Ganzes ist genau zu beachten. Aufhebung kann positiv Einbeziehung und Eingliederung in ein Ganzes bedeuten. Aber hier schleicht sich leicht eine Zweideutigkeit ein: Meint hier Integration, dass die Teile zugunsten ihrer selbst verwandelt, höher qualifiziert und dadurch auch gewahrt werden, oder besagt Aufhebung, primär negativ verstanden, nur so viel wie Auflösung, Einschmelzung und einseitige
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Anpassung in holistischer Perspektive (Integralismus)? Das Walten der Integration ist keineswegs exklusiv als Vervollständigung (Er-gänzung) der Teile im Dienst des Ganzen zu sehen, wobei die Teile nicht um ihrer selbst willen und für sich, sondern nur von der Vollkommenheit und Vollständigkeit des Ganzen her bestimmt werden. Braucht beispielsweise jemand das Qualifiziertsein der Mitarbeiter nur für sich oder kommt es allen mit ihm zusammen Arbeitenden zugute? Das Ganze kann in seinem Sein nicht bewahrt und behauptet werden in der bloßen Nutzung der sonst gleichgültigen Teile. Hieße das Sein bewahren nichts anderes als nur die Einheit bewahren,142 dann würde es darauf hinauslaufen, dass die Teile nur um ihrer Dienlichkeit willen vollständig versammelt da sind. Wie es um die Teile als solche, um ihre Ergänzung untereinander, um ihren differenzierten Beitrag zur Ganzwerdung und ihre Anteilnahme am Ganzen steht, wäre dann nicht in gleich ursprünglicher Weise wichtig.
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6.4.3.2 Paradigmen zum neueren Verständnis des integralen Ganzen Aufgabe ursprünglichen Philosophierens ist es, (die) Phänomene zu retten (s zetai, lat. salvare, aber auch integrare) oder methodisch gesehen: der Phänomene in ihrer höchsten und tiefsten Erscheinungspotenz gewahr zu werden. Demnach kann man sagen, dass im umfassenden Ganzen das Einssein der Seinsfülle nicht nur gegenüber seiner Vielfältigkeit, sondern, weil es ihr zugeeignet ist, für diese Vielfältigkeit gerettet ist, und zwar damit Seiendes jeweils ganz es selbst sein kann; und umgekehrt wird gerade in der Ausfaltung und ,Ent-wickelung‘ der Vollkommenheitsfülle des Einsseins, in diesem Walten der mitteilenden (und nicht ,zer-teilenden‘) Verteilung, die Vielfalt vor dem Zerfall unversehrt bewahrt und gerettet – bekundet sich doch das eigentümliche Einssein des in sich zusammengenommenen Seins in der Freigabe des Seienden zu seinem Sein und Wirken in Selbstständigkeit. Das bedeutet, dass die Vielfältigkeit nicht nur an sich gegenüber dem Einssein, sondern auch füreinander und (dadurch) für das Einigende des Einsseins zu retten ist. Zur eigenständigen Würde der einzelnen Teile bzw. konstitutiven Momente eines Ganzen gehört die Bejahung ihrer optimalen Entfaltbarkeit und Entfaltung (explicatio) vermittels ihrer Einigung. Das Phänomen der Teilhaftigkeit sowie der Gleichursprünglichkeit der konstitutiven Momente eines Ganzen ist nicht hinreichend zugelassen (,gerettet‘), wenn es durch bloße Selbsterhaltungstendenzen vor dem Untergang bewahrt, verwahrt und kontrolliert wird – allenfalls durch absichtliche Expansion, Verlagerung in ein Mehr-sein-Wollen, in den Willen zur Macht. 142 Thomas von Aquin, Sth I, q. 11, a. 1: custodit suum esse, ita custodit suam unitatem.
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Die Formel ,Erhaltung durch Wachstum, durch Stärker-Werden‘ ist blind für ihren eigenen Wesensursprung, der erst aufgehen und wachsen lässt, was zu erhalten wäre. Im Gewähren überfließender Fülle heißt Sein konkret immer Mehrsein (plus esse), aber nicht mit dem Ziel oder der Absicht, sich dadurch exklusiv selbst zu ,behaupten‘, d.h. oben, im Haupt, bleiben zu wollen, und zwar unter Verweigerung des Rückgangs auf das ursprüngliche Wesen des Seins. Die Vollkommenheit eines Ganzen beruht daher nicht nur auf der Vollständigkeit der Teile oder konstitutiven Momente im Blick auf deren Einssein, sondern auch auf der Vollkommenheit des jeweiligen Teils bzw. des mitkonstituierenden Moments, der oder das am Ganzen mit ,teil-nimmt‘. Ist ein Ganzes das zur geeinten Mannigfaltigkeit des in sich Unterschiedenen Versammelnde, welches die Vollständigkeit und Selbstständigkeit des in ihm Unterschiedenen nicht nur unversehrt wahrt, sondern bewahrt, entfaltet und walten lässt, und ist umgekehrt das Ganze in seinem einigenden Einssein durch die ihm eigene Pluralität vermittelt und geeint, dann gehört auch das Vielfältigsein zur Seinsvollkommenheit. Also ist nicht nur das konkrete einigende Einssein eine positive Seinsvollkommenheit, sondern die Vollkommenheit eines Ganzen ist durch den Mannigfaltigkeitsreichtum des Geeinten wesensnotwendig mitkonstituiert. Nach dem bisher Gesagten ist das integrale Ganze durch die Integrierung und das Integriertsein von Eins- und Vielfältigsein zu charakterisieren. Auch wenn Einssein und Vielfalt als gleichwertig und als konvertibel mit dem Sein des Seienden, ja als transzendentaler Gegensatz verstanden werden, ist damit das integrale Verständnis der Vieleinheit noch nicht erreicht, solange man den Eindruck hat, es mit einer Kompromisslösung zu tun zu haben: einig trotz Vielfalt, vielfältig und trotzdem eins. Das integrale Ganze bildet jedoch kein Mittleres zwischen Extremen, sondern steht jenseits dieser Extreme oder Privationserscheinungen. Man müsste viel mehr sagen können: Eins, weil vielfältig, vielfältig, weil eins. Oder das integrale Ganze ist ein Sein ,durcheinander‘, aber nicht im Sinne von Dudens derzeitigem Wörterbuch der deutschen Sprache, das unter »Durcheinander« nur mehr Unordnung und Wirrwarr versteht anstatt einer Weise des Anwesens und Währens, in dem eines durch das andere erst ganz es selbst ist und wird. Hierbei muss aber genau beachtet werden, dass es zwischen Einssein und Vielfältigsein eine niveaugleiche Korrespondenz, ein niveaugleiches Entsprechungsverhältnis gibt. Die immer nur analogen Einheits- und Vielheitskonzepte verschiedener Wirklichkeiten und Bereiche dürfen nicht niveauverschieden zusammengeflickt werden. Zum Beispiel hat das geballte Gemisch eines Bruchsteins aus einem geologischen Konglomerat eine eigene und andere Weise des Einsseins und der Mannigfaltigkeit als etwa das Organ eines Lebewesens und erst recht das eines Menschen, dessen Magen bei-
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spielsweise (ob gesund oder krank) im Weltbezug des Menschseins mitschwingt und an dessen offenständigem Eksistieren – es mitverarbeitend – teilnimmt. Erst wenn solches gesehen und berücksichtigt wird, kann man sagen, je mehr geeinigt, desto reicher die Seinsfülle, desto komplexer, differenzierter, heterogener die konstitutiven Momente, und desto mehr durchdringen die Komponenten einander. Aus dem Anspruch des uns integral zu denken aufgegebenen Ganzen lässt sich das ontologische Axiom gewinnen: Die Korrelate der Gegensätze von Einheit und Vielheit, Alleinheit und Je-Einmaligkeit, Ganzem und Teil wachsen im selben und nicht im umgekehrten Verhältnis zueinander – freilich nur miteinander auf der gleichen Stufe der Wirklichkeit. Das Einssein und Mannigfaltigsein (Fülle) nehmen miteinander in gleicher und nicht in umgekehrter Proportion an Offenbarkeit, Würde und Vollkommenheit zu. Je höher das Einssein, desto mehr kategoriale Beschränkungen, negative Begrenzungen der Teile sind überwunden und es herrscht deren gegenseitige Durchdringung, Perichorese, Kommunion und Kommunikation vor. Erst aus dieser Sichtweise kann von einem integralen Ganzen im eigentlichen Sinne die Rede sein und es fällt das holistische oder totalitäre Missverständnis von einer die Teile negativ aufhebenden, verbrauchenden und absorbierenden Integration weg. Das Denken des integralen Ganzen zieht sich wie eine Goldader durch die Philosophiegeschichte und ist monographisch noch nicht aufgearbeitet.143 Im Hinblick auf die neuere Denkgeschichte des integralen Ganzen sei auf einige europäische Autoren verwiesen, insofern diese Einssein und Vielfältigkeit ausdrücklich korrelativ, integral und darüber hinaus meist transzendental-ontologisch verstanden haben. Ihre Denkansätze können das Gesagte vielfältig illustrieren.
143 Verwiesen sei in Bezug auf das frühe griechisch-kleinasiatische Denken (trotz möglicher Einwände) nur auf Heraklits Logos als das Ein und Alles, als Versammlung des in Auseinandersetzung Entstehenden und Sichzeigenden, etwa auf Fragm. 51, und zwar in Platons Kurzfassung: […] […] (to hen diapherómenon autò), d.h. die Physis ist das Eine in sich Unterschiedene, das einigend sich Differenzierende, das im durchgetragenen Austrag als das sich selbst Auseinandertragende waltet (zitiert nach Platon, Symposion, 187a, vgl. DKV, Bd. 1, 162). Oder a.a.O., 152, Fragm. 8: »Das widereinander Strebende zusammengehend; aus dem auseinander Gehenden [: diapheróntôn = eines aus dem anderen erbringend] die schönste Fügung [der Physis].« Fragm. 10: »Auch die Physis strebt wohl nach dem Entgegengesetzten und bringt hieraus und nicht aus dem Gleichen den Einklang () hervor […].«
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a) Johann Wolfgang von Goethe (1749 –1832)
144 J. W. Goethe, Die Schriften zur Naturwissenschaft, Abt. 1: Texte, Bd. 9: Morphologische Hefte, 8. 145 Ebd. 146 Ebd. 147 J. W. Goethe, Die Schriften zur Naturwissenschaft, Bd. 10: Aufsätze, Fragmente, Studien zur Morphologie, 128. 148 Brief vom 3. Mai 1927 an Christian Dietrich von Buttel, in: Goethes Briefe, Bd. 4, 231.
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Wirkungsgeschichtlich wichtig sind hier Goethes Hefte »Zur Morphologie« (1817– 1822).144 Er versteht das Seiende (das »Bewegliche«) als Vieleinheit: »Jedes Lebendige ist kein Einzelnes [kein abgeschlossenes Individuum], sondern eine Mehrheit; […] eine Versammlung von lebendigen selbständigen Wesen […]. Diese Wesen sind teils ursprünglich schon verbunden, teils finden und vereinigen sie sich. Sie entzweien sich und suchen sich wieder und bewirken so eine unendliche Produktion auf alle Weise und nach allen Seiten.« Für diese Werdegestalten entwickelt Goethe schon 1807 eine Art ,Axiom‘: »Je unvollkommener das Geschöpf ist, destomehr sind diese Teile einander gleich oder ähnlich, und destomehr gleichen sie dem Ganzen. Je vollkommener das Geschöpf wird, desto unähnlicher werden die Teile einander.«145 Die alte Unterscheidung des Ganzen, sofern es aus mehr homogenen Teilen oder aus mehr heterogenen Teilen konstituiert ist, wird hier anschaulich in einen Stufenzusammenhang je höherer Vollkommenheit der Darstellung des Ganzen gebracht. Doch statt für die Teile eine zunehmend intensivere Möglichkeit der Teilnahme am Ganzen und der Darstellung des Ganzen und so je immer größere Vollkommenheit (»Unähnlichkeit«) anzunehmen, hebt Goethe nur ihre gegenseitige Dienlichkeit hervor: »Je ähnlicher die Teile einander sind, desto weniger sind sie einander subordiniert. Die Subordination der Teile deutet auf ein vollkommeneres Geschöpf.«146 Goethes Axiom, welches das Verhältnis der Gestalt und ihrer Teile bestimmt, gehört seiner Morphologie an, die er als »die Lehre von den Gestalten und ihren Wandlungen oder Metamorphosen« bestimmt. Ihr phänomenologisch-ontologisch orientierter Ansatz ist zu beachten: Er »ruht auf der Überzeugung, dass alles, was sei, sich auch andeuten und zeigen müsse«.147 Es geht um das, was ist, um das Seiende, das als das sich selbst Zeigende zugänglich ist und sich von sich her in seinem Sein (Grund, Idee, Anlage) zeigt – daher ist Goethes »Urphänomen« auch kein »Grundsatz«, sondern »eine Grunderscheinung, innerhalb deren das Mannigfaltige anzuschauen ist«.148 Mit ihr halten wir uns nicht bei einem Erkenntnisbesitz auf, sondern stehen in reiner Durchsicht zur Sache, um die es geht. Goethes Axiom ist dem entsprechend kein selbstevidenter Grund-Satz, keine bloße Voraussetzung zum Arbeiten mit Werdegestalten, kein empirisch sich mehr oder weniger bewähren-
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des Einsichtigsein, sondern das im phänomenologischen Sinne aus der originären Selbstgegebenheit geschöpfte Offenbarsein eines Sachverhaltes. Das Axiom (als ontologisches!) artikuliert aus der Entsprechung zum Sinn von Sein das, was anfänglich zu denken gibt, was sich aus dem Verborgenbleibenden von sich her zeigt und offenkundig anwesend ist. So heißt Goethes Axiom: in gewisser Weise das Sein selbst als Einheit und Vielfalt erfahren zu lernen und zu verstehen. b) Franz Xaver von Baader (1765–1841)
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Für Baader ist jedes Seiende als solches (d.h. in seinem Sein) »nothwendig zugleich Vieleins und Einsvieles, weil nur das Viele Eines, nur das Eine Viele, d.i. nur jenes einfach, nur dieses ein Vielfaches, Mannigfaltiges sein kann«.149 Der Aufhebung der Vielheit, die im Gegensatz zu Hegels Konzeption primär keinen negierenden Sinn hat, entspricht die Aufhebung der Einheit: Jedes Lebendige, »das ein Vieleins ist«, »will die Vielheit seiner Kräfte und Qualitäten etc. in sich als Einheit aufheben, und sich als Einheit hinwieder in ihnen aufheben, um die Mitte beider sich zu halten, weil nur auf solche Weise Einheit und Vielheit, die vita communis und die vita propria der Glieder zugleich und einander bedingend bestehen«.150 »Aufheben« ist hier ein Sichbewahren und Wahren der Vielheit in der Einheit und der Einheit in der Vielheit in gleicher Ursprünglichkeit. Das ist freilich nur in Freiheit von Selbstsucht und subjektivistischer Selbstbehauptung möglich: »Indem das Glied sich dem Universellen gibt, erhält es vom Universellen seine vita propria zurück. Es ist ein Wechselprocess des Gebens und Empfangens. Das Glied muss sich beständig entselbstigen, und empfängt eben dadurch die Selbstheit als Spende zurück.«151 Erst so wird verständlich, dass »je inniger ein Wesen sich selbst [als anzunehmende Gabe] erfasst (attrahirt), um so freier entfaltet (expandirt) es sich.«152 Einheit und Mannigfaltigkeit widerstreiten daher in ein und demselben Wesen einander nicht: weder im trinitarischen Gott153, noch in den Geschöpfen.
149 F. X. Baader, Sämtliche Werke, Bd. 1: Vorlesung über religiöse Philosophie (1827), 317. 150 A.a.O., Bd. 2: Fermenta Cognitionis (1822–1824), 162. 151 A.a.O., Bd. 13: Aus Privatvorlesungen über J. Böhme’s Lehre (1829), 61. 152 A.a.O., Bd. 2: Fermenta Cognitionis, 163. 153 A.a.O., Bd. 10: Über die Vernünftigkeit der drei Fundamentaldoctrinen des Christentums (1839), 83 ff.
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c) Caspar Nink (1885–1975)
154 C. Nink, Ontologie, 207; vgl. auch Ninks innovatives Spätwerk: Fundamentalontologie, hier besonders das Kap. 2: »Das Seiende ein System der inneren Seinsvieleinheit. 1. Einheit und Vieleinheit«, 91–148. 155 Dazu W. Kern, Einheit-in-Mannigfaltigkeit, besonders 209, angeregt durch K. Rahner, der gleichfalls die korrelative, transzendentale und integrale Dimension im Verhältnis von Einheit und Pluralität herausgearbeitet hat. Dazu später. 156 C. Nink, Zur Grundlegung der Metaphysik, 157; vgl. ders., Fundamentalontologie, 5: »An erster Stelle ist das den Seinskonstituentien [des Seienden] innerliche, in seiner Innerlichkeit ihnen selbst vorgeordnete Sein, dieses selbst aber in seiner apriorischen Beziehung zu seinem nachgeordneten, aus ihm sich ergebenden inneren, apriorischen Grundsein, nicht weniger in seiner inneren, begründet-begründenden, vieleinheitlichen Beziehung zum Seienden, Dies- und Daseienden sachgemäß herauszuarbeiten.« Vgl. 186, Anm. 1., 327 f., Anm. 10, u.ö. 157 C. Nink, Ontologie, 206.
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Caspar Ninks aus dem Potenzial aristotelisch-scholastischer Metaphysik schöpfende Synthese scholastischer Seinslehre erschließt Einheit (Gestalt, Ganzheit) und Vielheit (Mehrheit) als wesensnotwendige transzendentale Seinsvollkommenheiten (Seinsattribute).154 Das ist besonders bemerkenswert, da in der scholastischen Tradition (fast durchgängig bis zur Aufbruchsbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts) die Vielheit als Unvollkommenheit unterbestimmt wurde, weil man in ihr notwendig Nichtsein, einschränkende Endlichkeit, wesentliche Relativität im Gegensatz zur Einheit erblickte.155 Nink geht es vor allem um ontologische Grundlagenerkenntnis: Die Ontologie ist erste, den anderen Wissenschaften vorgeordnete Wissenschaft. Sie »hat als erste, den anderen vorgeordnete Aufgabe die, das Seiende, insbesondere das kontingente Seiende, in seiner inneren Konstitution systematisch herauszustellen.«156 Jedes Seiende ist eine innerlich geordnete »Viel-Einheit« von formal unterschiedenen und verschiedenen Seinsprinzipien (essenzielle Washeit bzw. Wassein, Singularität bzw. Konkretsein, nicht wiederholbares Diesessein und Dasein bzw. Existenz), die in ihm real identisch sind. Nink rezipiert die skotistische »Formaldistinktion«, wenn er eine formale Unterschiedenheit und Verschiedenheit unter realer Identität für die allein nicht selbstständigen Seinskonstituenten annimmt. Mit dem realen Identischsein der inneren Gründe (»con-stituentia«) und Vollkommenheiten ist das Seiende logisch notwendig als Einheit (Etwas-, Konkret-, Dieses- und Daseiendes) gegeben. »Es gibt keine Einheit ohne Unterschiedenheit und formale Verschiedenheit oder Andersheit der die Einheit konstituierenden Prinzipien.«157 Hinzu kommt für das ens contingens, dass seine Konstitutionsgründe sich in der Entgegensetzung von Potenz und Akt zur Einheit ergänzen.
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Vierter Exkurs
Die »Einheit beruht so auf Einigung (Gestalt auf Gestaltung, Ganzheit auf Ergänzung)«;158 sie ist nicht ursprünglich einigende Einheit, sondern ungeteilte »geeinigte Einheit«.159 Hierbei ist die Einheit des Seienden jedoch »mehr als Verträglichkeit, Vereinbarkeit oder Zueinanderpassen seiner Elemente; die Elemente sind vielmehr dadurch zur Einheit vereinigt, dass sie real identisch sind« und in mannigfaltiger, innerlich geordneter Beziehung (einem sinnvoll-werthaft-finalen Verhältnis) zueinander stehen und einander ergänzen.160 Nink korrigiert damit ausdrücklich den scholastischen Grundsatz von der Konvertibilität der transzendentalen Seinsattribute ,Seiendes‘ und ,Einheit‘: »Mithin ist der Satz: Omne ens est unum, zu ergänzen: Omne ens est unum multiplex.«161 Besonders im Spätwerk wird herausgearbeitet, dass das Sein niemals »nur eine Abstraktion«, »nichts als das Minimum, das wir von jedem Seienden immer schon wissen« (im skotistischen Sinne), nicht primär »Begriff« (im nominalistischen oder konzeptualistischen Sinne), nicht bloß »Sein als solches« oder gar das »Sein selbst« (etwa im Sinne des Thomas von Aquin oder Heideggers) ist, vielmehr geht das vieleinheitliche Sein, das den Konstituenzien in ihrem Grundsein und Begründen vorgeordnet ist, durch sein innerliches Begründen und Begründetsein selbst völlig auf und manifestiert sich in allen Seienden, Individuell-, Dies- und Daseienden.162 Die Seinsgründe konstituieren das Seiende, weil »das jedem inneren Grund (Konstituens) innerliche, und zwar innerlich vorgeordnete Sein ursprünglich selbst, aber erst in innerer Nachordnung […] essentiell-individuell-diesesbestimmt-existentiell [ist]. Es ist infolgedessen […] vieleinheitlich vollkommen, geordnet ausgezeichnet durch alle transzendentalen Vollkommenheiten«.163 Sein ist dem Einssein vorgeordnet, und zwar durch sich (durch sein inneres, apriorisches Begründen) in apriorischer Folge und Nachordnung innerlich harmonisch eins, und zwar vieleinheitlich, immer aber zu seinem inneren, apriorischen Begründen nachgeordnet eins.164 Wichtig ist, dass nach Nink ontologisches Vor- und Nachgeordnetsein nicht mit Vor- und Nachrangigkeit verwechselt werden darf. Vor- und Nachgeordnetsein des gegenseitig Unersetzlichen begründet daher keinerlei Vor- und Nachrangigkeit.165 Wenn er das Sein des Seienden im metaphysischen Wesen (das Wassein in Realidentität mit dem Singulär- bzw. Konkretsein) erblickt, sucht er den platonischen Grundsatz, welcher 158 A.a.O., 206, vgl. 211. 159 A.a.O., 212. 160 A.a.O., 211. 161 A.a.O., 209. 162 C. Nink, Fundamentalontologie, 191. 163 A.a.O., 6, vgl. zur Abgrenzung: 72, 76 f.; vgl. 68, 76, 208, 250, 390. 164 Vgl. a.a.O., besonders 91 f., 94, 97 u.ö. 165 Vgl. a.a.O., 59, 189.
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166 Vgl. C. Nink, Zur Grundlegung der Metaphysik, Einheit und Vielheit, 101–110. 167 A.a.O., 104. 168 C. Nink, Ontologie, 211, Anm. 8. 169 C. Nink, Zur Grundlegung der Metaphysik, 52. 170 A.a.O., 33. 171 C. Nink, Ontologie, 210. 172 C. Nink, Philosophische Gotteslehre, 172. 173 A.a.O., 170; vgl. 170 –174; vgl. ders., Fundamentalontologie, 465 f.
Vierter Exkurs
der Einheit den Vorrang vor der Vielheit zuerkennt, in seinem ursprünglichen Sinn zu erhellen: Er hält das dem tiefsten Grund der Seinskonstitution entsprechende nachgeordnete Einssein des Seienden für das Ziel der Vielheit konstitutiver Seinsgründe und deshalb für sie innerlich vorgeordnet.166 Einheit ist jene »ontologisch erste Vollkommenheit […], durch welche die sinnvoll-finale Vielheit und Ordnung der Seinswesensgründe und ihrer Vollkommenheiten erst möglich (nämlich einheitlich) ist«.167 Dem entspricht, dass en passant anscheinend doch nur die Einheit als »Grundlage und Ziel der Liebe« anvisiert wird.168 Dennoch kommt »die Mehrheit (Unterschiedenheit und Verschiedenheit) […], nicht äußerlich und nachträglich zur Einheit des Wesens des Seienden und kontingent Seienden hinzu oder in sie hinein. Sie gehört vielmehr zu seiner Konstitution«.169 Das Seiende ist daher nicht die »Summe« der Seinskonstituenten, »ihr ,Zusammensein‘, ihr Neben-, In- oder Nacheinander«, sondern diese Gründe sind »in ihrem Sein, Geord netsein und geordneten Begründen« dem Seienden konstitutiv vorgeordnet.170 Einheit ist ein analoger Begriff und entsprechend der Stufung ihres Subjekts auch selber gestuft.171 Das könnte von der Vielheit auch gesagt werden. »Jedes Seiende ist eine logisch gegliederte Viel- und Ordnungseinheit, am meisten Gott.«172 »Bei den göttlichen Attributen besteht Identität in der Verschiedenheit im höchsten Sinne.«173 Ninks Fundamentalontologie bietet keine Ontologie der Welt als solcher, sie konzentriert sich auf von Gott geschaffenes kontingentes Seiendes, das er in seinem vieleinheitlichen innerlichen Grund- und Begründetsein systematisch freizulegen sucht. Welt ist demnach nur die Gesamtheit der in analogen Abwandlungen in Vielzahl vorkommenden Substanz-Akzidenz-Vieleinheiten, die zugleich als Subjekte und Objekte betrachtbar sind. Durch die, so weit ich sehe, für neuscholastische Denker typische Annahme eines Pluralismus der Seienden im Aufbau ihres Weltverständnisses wird die Sicht auf die Teilnahme jedes partikulären und partiellen Seienden am Universum eher verbaut als eröffnet. Das eine, einzige und einzigartige Ganze der Offenheit des Seins der Seienden und des Aufgangs aus dem verborgen bleibenden Seinsgrund des Universums kommt nicht in Frage. Dennoch kann in Ninks ontologisch-transzendentaler Konzeption der VielEinheit ein beachtlicher Ansatz zu einem integralen Verständnis des Ganzseins erblickt
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werden: »Das kontingente Seiende ist ein vieleinheitliches System des vieleinheitlichen, manifestierten Seins und a priori notwendigen Vollkommenseins.«174 Das von innen her strahlende Vollkommensein des jeweiligen Seienden stellt als harmonisch schön gefügte Viel-Einheit ein integrales Ganzes dar: »[…] das Sein und Seiende bilden ein vieleinheitliches, a priori notwendig geordnetes, harmonisches System.«175 »Die Vieleinheit, die jedes Seiende in apriorischer Folge, Vollkommenheit und Ordnung bildet, ist in apriorischer, unzertrennlicher Folge und Vollkommenheit vieleinheitliche Harmonie (Symphonie). Vieleinheitlichkeit des Seienden besagt seine vieleinheitliche Ungeteiltheit; Harmonie seine vieleinheitlich geordnete Ausgemessenheit.«176 d) Romano Guardini (1885–1968)
Vierter Exkurs
Eine besonders reiche Entfaltung im Denken des Ganzen von Einheit und Mannigfaltigkeit findet sich in Guardinis »Philosophie des Lebendig-Konkreten«. Alles LebendigKonkrete besteht nur als »geeinte Gegensätzlichkeit« und »in gegensätzlich aufgebauter Einheit«.177 Insofern die Gegensätze voneinander abgrenzbare, »letzte Allgemeinheitsstufen des Gegensätzlichen« darstellen, werden sie (im Anschluss an die aristotelischscholastischen Kategorien) kategoriale Gegensätze genannt.178 Kategoriale Gegensatzpaare sind zum Beispiel Teil und Ganzes (= Einzelheit und Ganzheit) oder Dynamik und Statik oder In-sich-Stehen und Sich-Überschreiten. Das »Faktum echter Gegensätzlichkeit an sich« beschreiben hingegen die (im ontologischen Sinne der scholastischen Transzendentalien) transzendentalen Gegensätze: Einheit und Mannigfaltigkeit (= Verbundenheit und Geschiedenheit, Zusammenhang und Gliederung) neben Verwandtschaft (Analogie) und Besonderung (Verschiedenheit).179 Im Lebendig-Konkreten stehen die Glieder (Momente, Seiten, Pole) der Gegensatzpaare in einem korrelativen, komplementären oder Ergänzungsverhältnis. Die Seiten sind in dem Sinne gleichwertig, als keiner an sich ein Vorrang zukommt. Jede Seite ist mit, an und in der anderen Seite sowie durch jene mitgegeben. Dem Grad der Aktualität nach sind die Größenverhältnisse der Pole ständig im Fluss; damit wandelt und verschiebt sich fortwährend die gegensätzliche Spannung. Die Bewegung kann somit von einer Seite zur Gegenseite übergehen und in einem agogischen 174 C. Nink, Fundamentalontologie, 488. 175 A.a.O., 433. 176 A.a.O., 144, vgl. 154, 529. 177 R. Guardini (1998, 11925), Der Gegensatz: Versuche zu einer Philosophie des Lebendig-Konkreten, 133. Vgl. dazu die Vorstufe aus 1914: Gegensatz und Gegensätze. Entwurf eines Systems der Typenlehre. 178 R. Guardini (1998), Der Gegensatz, 30 f. 179 A.a.O., 72 f.; vgl. 30 f. und 80 f. Vgl. dazu auch: (1914) Gegensatz und Gegensätze, 10 ff.
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180 R. Guardini (1998), Der Gegensatz, 49. 181 A.a.O., 133. Gegen die »hegelisch-romantische Aufhebung aller Wesensunterschiede in einer Mediationsdialektik« und die romantische Polaritätsauffassung vgl. 24, 40 (Anm. 11), 44 f., 49, 82, 133– 136. 182 A.a.O., 40. 183 A.a.O., 173 f. 184 Vgl. a.a.O., 24. 185 A.a.O., 138. 186 R. Guardini (1992), Liturgie und liturgische Bildung, 78, Anm. 57.
Vierter Exkurs
Rhythmus periodisch hin und hergehen. Das Leben kennt die divergierende Bewegung: die »integrierende und differenzierende Tendenz; [die] Richtung auf das Ganze und auf das Einzelne, auf das Allgemeine und das Besondere«.180 Doch hat die aktuelle Schwingungsbreite der Lebensbewegung zwischen den potenziellen Polen bestimmte immanente Grenzen: Der Versuch, einen Pol rein (absolut, autonomistisch) zu verwirklichen, das Ganze des Lebens nur auf eine einzige Seite zu stellen – ohne wenigstens ein Minimum der Gegensatzseite zuzulassen –, führt notwendig in den Untergang. Einheit kann daher nie ohne ein Minimum an Vielheit und Vielheit nie ohne minimale Einheit sein. Ein harmonisch-stationäres Gleichgewicht stellt ebenfalls eine Unmöglichkeit dar, weil es zur Auflösung und zum Auseinanderbrechen der Gegensatzeinheit führt. Nur im Vorübergang ist ein Ausgleich (innerhalb der Gesamtbewegung alles Lebendig-Konkreten) lebendig möglich. Das in der Spannung des Gegensatzes Auseinanderliegende ist daher weder ein bloß mechanisches, aus bloßen Teilen zusammengestücktes oder -gemischtes Nebeneinander, noch schlägt eine Seite in dialektischen Antithesen in die andere um. Eine auf Grund monistischer Tendenz »durch Vermengung erkaufte ,Synthese‘ in einem höheren Dritten« ist ausgeschlossen.181 Die sich in ununterbrochener Beziehung zueinander befindlichen Seiten des Gegensatzes können stets nur zugleich bestehen und bleiben so immer in ihrer qualitativen Eigenständigkeit und Sinnverschiedenheit gewahrt. Dieses eigenartige Verhältnis ist von solcher Ursprünglichkeit, dass Guardini von einem »Urphänomen« spricht.182 Das »Sein in Spannung« ist in diesem Sinne »ein Erstes, Ursprüngliches«, »das natürliche Mysterium des Lebendigen«.183 Die Gegensatzphilosophie führt in kritischer Rezeption die romantische (und insbesondere Goethes) Idee der Polarität fort.184 Der Gegensatzgedanke will »Morphologie oder Strukturlehre des Lebens« sein.185 »Die konkrete Gestalt ist immer die Einheit der Gegensätze«,186 und zwar der physisch-kategorial erfahrbaren (wie beispielsweise Fülle und Form) sowie der metaphysisch-kategorialen, in denen sich das Verhältnis des Quellgrundes zum Erfahrbaren auseinandertfaltet (wie beispielsweise Innewohnen und Darüberstehen, Immanenz und Transzendenz). Durch sie alle ist die konkrete Gestalt
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in der Erscheinung ihres Seins (der Innerlichkeit) bestimmt. Die darin enthaltene Gegensätzlichkeit als solche entfalten die transzendentalen Gegensätze. Alle Gegensatzpaare sind so miteinander verflochten, dass sie ein Gesamtsystem von Beziehungen darstellen. Hierbei bilden sämtliche Gegensatzpaare (unter Anspruch auf Vollständigkeit) ein System von aufeinander nicht mehr rückführbaren Reihen, deren Seiten in einem besonderen Verwandtschaftsverhältnis stehen,187 zum Beispiel Vielheit, Teil, Akt, Fülle und Produktion auf der einen Seite und Einheit, Ganzes, Bau, Form und Disposition auf der anderen. Sie bringen »die eigentlichen, grundlegenden ,Typen‘ des Lebens«, den »Grundgegensatz« oder die »Grundpolarität«, zur Sprache.188 Dass Einheit und Vielheit transzendentale Vollkommenheiten des Seins als solchem sind, führt Guardini nicht näher aus. Obwohl sie die Gegensätzlichkeit der Seinsgestalten an sich darstellen, werden sie in beide Reihen von Gegensatzpaaren eingeordnet, insofern diese die »Grundzüge eines Systems der Typologie« aller Bereiche des Lebendig-Konkreten zum Ausdruck bringen.189 Mit der morphologischen und typologischen Struktur des Lebendig-Konkreten wird jedoch keineswegs bestimmt, was etwas ist, und auch nicht, wie Personen als solche oder wie Seinsbereiche (zum Beispiel »Natur« und »Geist«) sich zueinander verhalten, sondern nur die allgemeinen Strukturen, der konkrete Vollzug des Lebendigseins alles Lebendigen bzw. aller Daseinsbereiche. Guardini geht hierbei vom menschlichen Bereich aus. Doch erstreckt sich die Gültigkeit der Gegensatzidee auf »alles, was ,lebendig‘ ist, Tier und Pflanze. In bestimmter Weise vielleicht alles, was ,Ding‘ [= »selbständiges Seiendes«190] heißt.«191 Darüber hinaus wird im Rahmen der platonisch-christlichen Sicht Guardinis zurückhaltend angedeutet, dass »das Urbild wie von allem Geschöpflichen, so auch von der Tatsache der Gegensätzlichkeit« in Gott liege.192 e) Wladimir Sergejewitsch Solowjew (1853–1900)
Vierter Exkurs
Der russische Religionsphilosoph und Paläontologe hat ausdrücklich die Idee des integralen Ganzen entwickelt, die sein ganzes Denken trotz neuplatonisch-idealistischer Ausrichtung bestimmt hat. Unter Idee versteht er das, »was an und für sich würdig ist, zu sein«, aber das ist »nur das allvollkommene oder absolute Wesen, das völlig
187 Vgl. R. Guardini (1998), Der Gegensatz, 88–92. 188 A.a.O., 139. 189 A.a.O., 163. 190 R. Guardini (1914), Gegensatz und Gegensätze, 15. 191 R. Guardini (1998), Der Gegensatz, 128. 192 A.a.O., 112 ff., Anm. 29.
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193 W. Solowjew, Schönheit als Offenbarung der All-Einheit, in: Deutsche Gesamtausgabe der Werke, Bd. 7: 117–189, hier 131. 194 A.a.O., 131 f. 195 Ebd. 132. 196 W. Solowjew, Der Sinn der Geschlechtsliebe, in: Deutsche Gesamtausgabe der Werke, Bd. 7, 201–272, hier 266. 197 Ebd.
Vierter Exkurs
frei von allen Beschränkungen und Mängeln ist«.193 Im Weltprozess werden die partiellen Existenzen auf Grund ihrer Beziehung zum integralen Ganzen der konkreten Idee dieses absoluten Seins teilhaftig, das sich allmählich in ihnen inkarniert. Einerseits ist das »einzelne Sein […] nur insoweit ideal und würdig [zu sein], als es das allgemeine Sein nicht verleugnet, sondern ihm in sich Raum gibt«, und andererseits ist »in gleicher Weise […] das [sowohl logisch als auch stofflich verstandene] Allgemeine soweit ideal oder würdig [zu sein], als es dem Partiellen in sich Platz einräumt«. Daraus ergibt sich für Solowjew die »formelle Definition der Idee oder der würdigen Art des Seins«: »Die Idee ist völlige Freiheit der Bestandteile in der vollkommenen Einheit des Ganzen.«194 Hierbei kann »Selbständigkeit der Teile oder der freie Spielraum des Seins« zusammen mit der »Einheit des Ganzen, das seinen Teilen diesen Spielraum gibt«, in einer komplexen Mannigfaltigkeit von Stufen mehr oder weniger vollkommen (verwirklicht bzw. verkörpert) sein.195 Die Richtung, in die der kosmische Prozess geht, ist durch das Axiom bestimmt, wonach »die größte Einheit des Ganzen sich in der größten Selbständigkeit und Freiheit der partiellen und einzelnen Elemente verwirklicht – in ihnen [den Elementen] selbst, durch sie und für sie«.196 Es ist ein Prozess der Integration, der das Plurale verschiedenster Elemente und Bereiche auf dem Weg des Einswerdens, der Wiederherstellung in absoluter Ganzheit (All-Einheit) zu sich freigibt. Integration (russisch: iscelenie = Heilung, zum Adjektiv: celyj = unversehrt, unvermindert, ganz, neu, lat. integer) besagt daher völlig anderes als die postmodern befürchtete totalitäre Aufhebung der Pluralität des Heterogenen und Mannigfaltigen: »Die vollkommene All-Einheit verlangt schon ihrem eigentlichen Begriff nach volles Gleichgewicht, volle Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung zwischen dem Einigen und Allem, zwischen dem Ganzen und den Teilen, zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelnen.«197 Der kritische Punkt der integralen Einheit ist das Verhältnis »der einzelnen Elemente der Welt zueinander und zum Ganzen«, das gegeben ist, »wenn, erstens, die einzelnen Elemente einander nicht ausschließen, sondern im Gegenteil sich gegenseitig eines im anderen setzen, solidarisch untereinander sind; wenn sie zweitens das Ganze nicht ausschließen, sondern ihr Einzel-Dasein auf der einen allgemeinen Grundlage behaupten; wenn schließlich drittens diese all-einheitliche
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Grundlage oder der absolute Urgrund die Einzel-Elemente nicht unterdrückt und nicht absorbiert, sondern, sich in ihnen entfaltend, ihnen vollen Spielraum in sich gibt«.198 f) Leo Gabriel (1902–1987)
Vierter Exkurs
Leo Gabriel hat (in eigenständiger Rezeption u.a. von Vladimir Solowjews integralem Denken199 und Michele Federico Sciaccas ontologisch fundierter Philosophie der Integralität200 den Gedanken des integralen Ganzen im Bereich der Grundformen der Erkenntnis sowie der Grundgestalten der Logik präzisiert und entfaltet.201 Es geht ihm um ein unabschließbares dialogisches Denken der »Teilhabe an der Wahrheit des Ganzen«,202 die unausschöpfbar ist. Dieses Denken entspricht der fundamental-ontologischen Differenz von Sein und Seiendem durch die fundamental-logische Differenz von Grund und Gegenstand, von systematischer Explikation der Totalität (Idee) und Identifikation des Wahrgenommenen im Begriff. Gabriel definiert das »integrale Ganze« als »eine die Teile integrierende Ganzheit, das heißt, die Teile bewahrende und entfaltende Verbundenheit«.203 »Das Ganze [hat] als Gestalt ein Gefüge in sich, [es] ist innen aufgetan, hat inneren Gehalt in der Ordnung seiner Teile, so daß die Teile nicht unterdrückt oder aufgelöst, sondern in ihrer spezifischen Eigenart im und durch das [schöpferisch sie qualifizierende] Ganze erhalten werden. Das Ganze verhält sich zu den Teilen integrierend oder ergänzend: als das aufbauende Gefüge der echten Synthese.«204 Integral heißt hier »Bedachtnahme auf das Ganze, ohne die Teile in ihrer relativen Eigenständigkeit aufzuheben, ohne einen Teil als Ganzes zu setzen, sondern in schöpferischer Wahrnehmung und Entfaltung der Teile«.205 Dazu ein transplantationsbiologisches Beispiel aus Gabriels Naturphilosophie: Einem Molchembryo werden die Anlagezellen zu einer Mundzähnepartie entfernt. An deren Stelle wird die Hautanlage eines Frosches eingesetzt. Aus den pluripotenten Zellen entwickelt sich, was mit 198 A.a.O., Schönheit als Offenbarung der All-Einheit, 176. 199 Vgl. Y. B. Raynova/S. Moser, Das integrale und das gebrochene Ganze. Zum 100. Geburtstag von Leo Gabriel. 200 L. Gabriel (1968), Der Einfluss des integralen Denkens Michele Federico Sciaccas auf die österreichische Philosophie. 201 Vgl. L. Gabriel (1954), Vom Brahma zur Existenz. Grundformen aller Erkenntnis und die Einheit der Philosophie; ders. (1949), Logik der Weltanschauung; ders. (1965), Integrale Logik. Die Wahrheit des Ganzen. 202 L. Gabriel (1976), Darstellung meines Denkweges, 242. 203 L. Gabriel (1954), Vom Brahma zur Existenz, 328. 204 L. Gabriel (1949), Logik der Weltanschauung, 22. 205 L. Gabriel (1954), Vom Brahma zur Existenz, 329.
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206 Vgl. L. Gabriel (1951), Das neue Weltbild II: Zeit und Leben, 331 f; vgl. H. Spemann, Experimentelle Beiträge zu einer Theorie der Entwicklung, 236 f. 207 L. Gabriel (1976), Darstellung meines Denkweges, 240. 208 Ebd. 209 L. Gabriel (1956) Integrale Logik, 48. 210 L. Gabriel (1954), Vom Brahma zur Existenz, 329. 211 L. Gabriel (1956) Integrale Logik, 48. 212 L. Gabriel (1965), Integrale Logik, 22. 213 Vgl. a.a.O., 247 ff., 420 f. 214 L. Gabriel (1965), Integrale Logik, 22, 72, 139, 156, 187, 196, 273, 356, 392. 215 L. Gabriel (1956), Integrale Logik, 48. 216 Ebd.
Vierter Exkurs
Rücksicht auf das Ganze des Lebewesens nötig ist – ein Gebiss. Aber, so stellt sich heraus, es ist ein Froschgebiss, das heißt, die Eigenart des Teiles, der innerhalb des Ganzen entfaltet wurde, blieb gewahrt.206 Das Wort integral »versteht sich in der integralen Logik von einem Ganzen her, das in sich integer, also ungebrochen in seiner Ganzheit gedacht ist durch Wahrung des Ganzen in logischen Gestalten«,207 aber dieses Ganze, zu dem wir uns verhalten, wird nicht totalitär absolut gesetzt, sondern: »Integralität akzentuiert die Integrität der Teile und [sic!] des Ganzen, das analytisch weder durch seine Auflösung in die Summe der Teile als ihr Aggregat, noch durch die Auflösung der Teile durch das Ganze als dessen Momente – also weder summativ noch dialektisch – erreicht werden kann.«208 Das Ganze ist somit deshalb integral, weil es die aufbauenden Teile (Teilbestände oder Teilkomponenten) »ungebrochen im Ganzen wahrt und sie darin zu integrer Vollständigkeit, zur vollen Erfüllung und Entfaltung bringt«.209 Integration als Vollzug des Ganzen ist daher als »Ordnung der Ergänzung« anzusprechen,210 und zwar »Er-gänzung«211 im Sinne einer »Ganzheitsfügung«, »Fügung zum Ganzen« oder »Integration«,212 als ursprünglicher Akt der (logischen) Gestalt oder, wie man auch sagen könnte, eines komplementären Gefüges. Deshalb ist auch das Ganze nicht einfach vor den Teilen (Aristoteles), weil ihm die Gestaltqualität der Übersummativität zukommt (Christian von Ehrenfels),213 und schon gar nicht ist es bloß in die Teile zerlegt (analytisch) darstellbar,214 sondern es ist vor allem »für die Teile. Es vollzieht deren integrierendes ,Zusammenwachsen‘ zu ,ihrem‘ Ganzen, deren Konkretion.«215 Gemeint sind in der Logik ursprüngliche Gestalten (nicht bloße formalisierte Formen!) der Darstellung, also konkrete Formen der ,ent-sprechenden‘ Darstellung eines Inhalts (wie Begriff, Urteil und systematischer Begründungszusammenhang). »Gestalt ist wesentlich […] das konkretisierende Gefüge des Ganzen [als Einheit des Mannigfaltigen] als integrierende Struktur, die die Eigenschaft hat, die Teile positiv über sich selbst hinaus, d.h. also transzendierend zum Ganzen zu fügen.«216 So sind
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sämtliche Teile »zu überlegener Entfaltung in dem ihnen entsprechenden Ganzen« zu bringen.217 Das Sachmotiv einer nicht auf die Einheit des Ganzen rückführbaren Pluralität, die »radikale«218 und »pluralistische Differenz«,219 wird von Gabriel längst vor dem postmodernen Pluralismus als »Prinzip der Differenz« erkannt: »Der Begriff der logischen Integralität bestimmt das Verhältnis von Identität und Differenz in der Weise, dass das ,principium exclusi tertii‘ ausgeklammert, das Prinzip der Differenz daher integer gewahrt wird.« 220 Der Begriff drückt widerspruchsfreie Identität aus, hingegen das ,Ur-teil‘ eine strenge Differenz, die zwischen Ja und Nein ein Drittes, Mittleres und Vermittelndes ausschließt. Wie sollte aber dann eine Verbindung (Korrelation) von Identität und Differenz möglich sein? Die Integration von Identität und Differenz ist konkret nur über sie hinaus, in einem anderen, in einer Totalität, logisch in einem Begründungs- und Deutungssystem möglich.221 Gabriel hatte ein tiefes Vertrauen in die den Menschen gegebenen realen und schöpferischen Gestaltungsmöglichkeiten, die das, was auf niedrigerer Ebene sich zu widersprechen scheint, auf höherer Ebene miteinander vereinigen können. Was auf tieferer Ebene unvereinbar ist, lässt sich oft schöpferisch auf höherer zusammenbringen. So gilt für ,Flachköpfe‘, die nur Ebenes kennen, die Quadratur des Kreises als absolut unlösbares Problem. Unter Hinzufügung einer neuen Dimension, also im dreidimensionalen Raum, ist es lösbar: in einem Zylinder mit quadratischem Mantel. – Das geometrische Gleichnis besagt nicht nur, dass die Elemente gewahrt werden, wenn sie sich vereinigen und beiderseitig wandeln, sondern auch, dass sie in ihrer Bedeutung für das Ganze einen beachtlichen Zuwachs erfahren, indem sie gemeinsam zu etwas beitragen, wozu sie isoliert gar nicht imstande wären. Die Elemente werden also weder beschnitten, gebrochen, dialektisch durch Negation zur Identität gezwungen noch in ihrem negativen Verhältnis zur Einheit als unvereinbare Differenzen behauptet, sondern unter Einführung in den erweiterten, umgreifenden Horizont eines ihnen entsprechenden Ganzen, unter Wahrung ihrer echten Differenzen und Identitäten, in ein positives Verhältnis gebracht. So entsteht ein integrales Verhältnis von Einheit und Vielheit, das »nicht eine Einheit des Gleichen in ihrer Identität, sondern des Mannigfaltigen, in sich Unterschiedenen in ihrer Differenz (als Bedingung der Möglichkeit konkreter Strukturen)« ist:222 Es ist also 217 Ebd. 218 L. Gabriel (1965), Integrale Logik, 123. 219 A.a.O., 385. 220 A.a.O., XI. 221 A.a.O., 270. 222 L. Gabriel (1976), Darstellung meines Denkweges, 240.
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223 Ebd. 224 L. Gabriel (1954), Vom Brahma zur Existenz, 328. 225 Gabriel (1954), Darstellung meines Denkweges, 240 f. 226 L. Gabriel (1965), Integrale Logik, 292.
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festzuhalten, »dass die Differenz weder formal-logisch in Identität aufgelöst, noch dialektisch ,aufgehoben‘, d.h. zur Identität zurückgeführt werden kann, vielmehr nur aufrecht bleibend konkrete Einheit des Ganzen in seiner lebendigen kreativen Entfaltung möglich macht.«223 Das Gesagte kann auch ideologiekritisch gewendet werden, und es erweist dann die besonders praxisrelevante Bedeutung des integralen Denkens durch das Aufzeigen seiner möglichen Gefährdungen in einer Theorie der Deformationen der konkreten Gestalten des Denkens, welche in der Praxis verheerende Folgen haben. Deformiert fällt das integrale Ganze, wie oben (6.3) in der Dialektik der Ganzheitskonzepte gezeigt wurde, in zwei einander kontradiktorisch ausschließende Extreme des elementaristischen (pluralistischen) und totalitären Ganzen auseinander: Das (merogene) elementaristische Einheitsdenken leitet das Ganze von Teilen ab. Das totalitäre Denken stellt das Ganze teleologisch als eine »von einem Ganzen her gestaltete Einheit (hologen) als den Teilen überlegenes Ordnungsprinzip« vor oder als »eine die Teile oder einen Teil unter einen anderen subsumierende Ganzheit«.224 Drei Arten von Deformationen logischer Gestalten werden unterschieden: Identisierung, welche Urteile ungerechtfertigt verallgemeinert und allgemeine Begriffe in einen Tatbestand umsetzt, Singularisierung, welche Totalität (Welt) und Identität in singuläre Tatsachen auflöst, und die falsche Totalisierung, welche die Identität (begrifflich bestimmte gegenständliche Begrenzung, Partikularität) in Totalität verwandelt. Totalisierung denkt das Eine nur als das sich selbst Gleiche, als formale, abstrakte Identität, ohne Rücksicht auf die Besonderheit der Teile, die Wahrung echter Differenz. Gabriel geht es ganz besonders um diese für die integrale Logik »entscheidende Differenz«225 von Identität und Totalität der Seinswirklichkeit. Ihr entsprechen Begriffsform und umfassender Begründungszusammenhang oder bei Kant Verstand und Vernunft. »Die Reduktion der Totalität auf die Identität – Strukturfälschung und Verkümmerung des rationalen Denkens – erzeugt totalitäre Systeme, die einen bestimmten Ausschnitt und partikulären Aspekt, ein bestimmtes Seiendes, mit dem Ganzen des Seins identifizieren und damit das Denken dem wirklichen Ganzen entziehen und vor ihm verschließen.«226 Wird »ein Teilaspekt totalitär zum Ganzen der Wirklichkeit aufgebläht«, dann kommt es zu einer »Horizontverengung«, die »den Fanatismus der Aggression gegen das ,andere‘ System hervorbringt […]. In solchen Verfahrensweisen werden idealistische, naturalistische,
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individualistische, kollektivistische Systeme, überhaupt die ,Ismen‘ ausgebildet, wo raus hervorgeht, dass totalitäre Systeme je immer in der Philosophie präexistent sind, bevor sie in der Politik ihre Wirkungsgeschichte erfahren.«227 Der Philosophie als Verantwortungsträgerin kommt die Aufgabe zu, »die totalitäre Systematik in ihrer Wurzel, in ihrem logischen Deformationskern zu überwinden«.228 Damit ist die eminent praktische Bedeutung der Logik eines Seinsdenkens, dessen ursprünglich ethischer Sinn uns noch zu denken geben wird, angesprochen. g) Pierre Teilhard de Chardin (1881–1955)
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Teilhard de Chardins besonderes Verdienst ist die Durchführung einer Phänomenologie und Metaphysik des integralen Ganzen aus der Erfahrung der Liebe, die einigend differenziert. Seine Phänomenologie, die vom menschlichen Phänomen ausgeht, ist von besonders hartnäckigen Missverständnissen umlagert und heute so gut wie verschüttet.229 Vom Beginn der Rezeption seiner Schriften an wurde der Unterschied zwischen den Aussageintentionen seiner natur- und spezialwissenschaftlichen und seiner phänomenologischen Werke nicht genügend beachtet. 230 Beispielsweise übersetzte man sein Hauptwerk »Le Phénomène Humain«, das keine (abstrakte!) Metaphysik, sondern eine »wissenschaftliche Abhandlung« (mémoire scientifique) sein wollte,231 irreführend mit »Der Mensch im Kosmos« und hielt aus einer falschen Erwartungshaltung heraus das Werk für eine methodisch äußerst fragwürdige Vermischung von Naturwissenschaft und Philosophie. Daher konnte man nicht erkennen, dass hier naturwissenschaftliche Ergebnisse keineswegs extrapoliert werden, sondern auf Grund einer (dort nicht ausdrücklich und reflektiert) dargelegten »Metaphysik« bzw. Ontologie der Vereinigung in einen höheren Zusammenhang übersetzt und integriert werden sollten. So wurde übersehen, worum es methodisch in »Le Phénomène Humain« geht, nämlich um »nichts als das [menschliche] Phänomen. Aber auch das ganze [menschliche] Phänomen« (so die »Vorbemerkung«). Das Werk will eine Art Phänomenologie des wesenhaft Menschlichen sein: der Mensch bzw. die Menschheit als Verständnisschlüssel für ihre Welt, für ihre Vorgeschichte 227 L. Gabriel (1965), Darstellung meines Denkweges, 241. 228 L. Gabriel (1965), Integrale Logik, 292. 229 Zum Folgenden vgl. vom Verf. (1997c), Zur Frage nach der Methode bei Pierre Teilhard de Chardin, in: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Bd. 2, 379 –394. 230 L’Œuvre Scientifique sammelt die weniger bekannten naturwissenschaftlichen Arbeiten von P. Teilhard de Chardins und umfasst elf Bände. Die französische Werkausgabe seiner nicht fachwissenschaftlichen Schriften umfasst 13 Bde.: Œuvres de Teilhard de Chardin (hier zitiert nach Band und Seitenzahl sowie nach der deutschen Ausgabe »Werke Teilhard de Chardins« mit dt.). 231 Vgl. die Vorbemerkung (Avertissement) der Œuvres de Teilhard de Chardin, Bd. 1, 21.
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232 Brief vom 1. Oktober 1936, in: C. Cuénot, Pierre Teilhard de Chardin, 264 (dt. 381). 233 Nachweise (auch für das Folgende) unter den entsprechenden Stichwörtern in: A. Haas, Teilhard de Chardin-Lexikon: Grundbegriffe – Erläuterungen – Texte. – Vgl. besonders Comment je vois (1948), in: Œuvres de Teilhard de Chardin, Bd. 11: Les Directions de L’Avenir, 177–223, hier die Dreigliederung der Abhandlung: 1. Physik (Phänomenologie), 2. Metaphysik und 3. Mystik, in welcher Teilhard de Chardin seine wissenschaftliche (scientifiques) und para-wissenschaftliche Sicht (»Weltanschauung«) dargelegt hat. 234 P. Teilhard de Chardin, Geheimnis und Verheißung der Erde: Reisebriefe, 21. 235 Œuvres de Teilhard de Chardin, Bd. 1: Le Phénomène Humain, 323, dt. 286.
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und Zukunft, für den Aufgang des Physis-Ganzen – also eine moderne Physis-Philosophie (»die wahre ,physiké‘ der Griechen«232), die Teilhard auch (zur Abhebung von naturwissenschaftlicher Physik und Biologie) »Ultra-Physik«, »Hyper-Physik«, »Hyper-Biologie« nannte und die er wiederum von seiner christlichen spirituellen Theologie unterschieden hat.233 Was uns hier interessiert, ist die Metaphysik des Einsseins, der schöpferischen Einigung des Vielfachen, in unbefangener Aufgeschlossenheit für die so erstaunlich »gewaltige Mannigfaltigkeit« des evolutiven Universums und die Notwendigkeit, für sein Werden »eine gemeinsame Achse zu finden«: »Das große und einzige Problem – das Problem des Einen und des Vielfachen – ist bei mir im Begriffe, rasch die ein wenig zu metaphysischen Zonen zu verlassen, wohin ich es verlegt hatte und wo ich es zu lösen versuchte. In der realen Menschheit sehe ich klarer seine Dringlichkeit und seine Schwierigkeiten.«234 Das evolutionäre Universum hat seine Erkenntnisgrundlagen im Phänomen »der realen Menschheit« und nicht in der spezial- und naturwissenschaftlichen Forschung. Mit Evolution sind primär gar nicht Abstammungshypothesen oder kausale Beziehungen gemeint, sondern der Gesamtzusammenhang der Kosmo-, Geo-, Bio-, Anthropo- und Noogenese als kosmische Dimension der Zeitlichkeit im Sinne von Dauer (durée). Daher die transzendentale Fragestellung, wie es überhaupt möglich ist, dass ein Universum besteht, welches das Fassungsvermögen hat, die menschliche Person (nicht bloß einen Beobachter der Welt!) aufzunehmen (capable de contenir la personne humaine).235 Das menschliche Phänomen ist der Erkenntnisgrund und Strukturschlüssel für das Verständnis der ,Evolution‘ in ihrer kosmischen Dimension. Eine briefliche Mitteilung erhellt blitzartig, was es heißt, »die ein wenig zu metaphysischen Zonen zu verlassen«, d.h. jene abstrakte Schulmetaphysik, die Sein nur als Möglichsein des singulären Seienden denkt, ohne auf die physischen Möglichkeitsbedingungen seiner Verwirklichung umfassend einzugehen. Von seiner Schiffsreise nach China im April 1927 berichtet Teilhard de Chardin: »Staunen vor der Ge stalt und dem wunderbaren Flug der Möwe. Wie ist dieses Vogelschiff entstanden?
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Die schlimmste Schwäche unseres Geistes ist, die größten Probleme nicht zu spüren, weil sie uns unter den vertrautesten Gestalten entgegentreten. Wie viele Möwen habe ich gesehen, wie viele Menschen haben Möwen gesehen, ohne das Geheimnis wahrzunehmen, das mit ihnen schwebt! […] Gott möge mir die Gabe verleihen, stets wie berauscht die unermeßliche Musik der Dinge zu hören und sie den anderen hörbar zu machen.«236 Alle verschwindende Partikularität ist in Solidarität, Teilnahme an der Unermesslichkeit des Ganzen, und das Ganze ist nur in der Unermesslichkeit der Vielheit, im kosmischen Prozess des Einigens, gegenwärtig. Dieser ist im Grunde ein ontologischer Prozess der Einigung oder des Vereinigtwerdens materieller Vielfalt und wird als Hauptbewegung des Wirklichen (mouvement principal du Réel) durch Vergeistigung (spiritualisation) und Entwicklung als Einrollung (enroulement) im Sinne von Verinnerlichung gekennzeichnet.237 Zu berücksichtigen ist, dass der qualitativ jeweils neue Zustand von Gestalten der Geist-Materie in je immer größerer geeinter Komplexität und in einander immer inniger angenäherten Elementen in weiteren Graden der Einswerdung mit einem Zuwachs an innerem Bewusstsein und Freiheit einhergeht. Daher muss die abstrakte »Metaphysik des Esse [Seienden]«, die weltlose metaphysica generalis, durch eine konkrete »Metaphysik des Unire (oder Uniri ) « mit der dem evolutiven Universum entsprechenden Mannigfaltigkeit ersetzt werden.238 So sehr der Prozess des ontischen Werdens von der ontologischen Konstitution streng zu unterscheiden ist, so ist doch das ontische Werden im Ganzen des Austrags der ontologischen Differenz von Sein und Seienden und darin als Teilnahme am Sein in seiner Ursprünglichkeit zu verstehen. Die damit angesprochene Seinserfahrung finden wir bei Teilhard de Chardin in seiner Metaphysik der Einigung artikuliert. Sein ist Mehr-Sein (plus esse) durch Viele, oder aus Vielen Geeinigtwerden, und zugleich Mehr-Sein im je immer mehr die Vielen Einigen. Dieses temporale Seinsverständnis (in passiver und aktiver Form) ist im Eigentlichen das, was von Teilhard de Chardin als Wesen der Evolution verstanden wird. Es ist in gar keiner Weise spekulativ, sondern aus der Erfahrung nicht-egoistisch Liebender geschöpft; und erst diese lässt uns das Werden, das Gewesene und ehemals Gewordene in seinen immer höheren und tiefer verinnerlichten Synthesen verstehen. Ist das menschliche Phänomen der Erkenntnisgrund und Strukturschlüssel für das Verständnis des kosmischen und auch des geschichtlichen Werdens (der »Auto-Evolution«), dann hat dieses 236 P. Teilhard de Chardin, Geheimnis und Verheißung der Erde: Reisebriefe, 94. 237 Zum Folgenden vgl. vom Verf. (1997c), Pierre Teilhard de Chardins Phänomenologie und Ontologie der Vereinigung, in: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Bd. 2, 394 – 420, hier 411 ff. 238 Œuvres de Teilhard de Chardin, Bd. 10: Comment je crois, 208, 271, dt. 213, 270.
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239 A.a.O., Bd. 6: L’Énergie Humaine, 80, dt. 83 f. – »Die Liebe ist nichts anderes als der konkrete [energetische] Ausdruck dieses metaphysischen Prinzips«: »Einigung differenziert.« (A.a.O., 189, dt. 206) 240 A.a.O., 81, dt. 85. 241 Vgl. u.a. Œuvres de Teilhard de Chardin, Bd. 1: Le Phénomène Humain, 291 f., dt. 255 f.; 344, dt. 307; Bd. 5: L’Avenir de l’Homme, 73–76, dt. 76 –79; Bd. 6: L’Énergie Humaine, 52, dt. 56 (supradifferenzieren); 80 – 82, dt. 84 f.; 84 f., dt. 88 f.; 86 f., Anm. 2, dt. 91, Anm. 9, 93, dt. 99; 103, dt. 111; 129, dt. 139; 179, dt. 185; 185, dt. 201; 188 f., dt. 205 f.; Bd. 7: L’Activation de l’Énergie, 122 f., dt. 356 f.; 269, dt. 135; Bd. 9: Science et Christ, 74, dt. 74; 178, dt. 184; 231f., dt. 241f. 242 Œuvres de Teilhard de Chardin, Bd. 5: L’Avenir de l’Homme, 75, dt. 78. 243 Dazu vgl. u.a. a.a.O., Bd. 6: L’Énergie Humaine, 93 ff., dt. 99 f.
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einen Realgrund, der sich erst aus einer Ontologie der schöpferischen Vereinigung in Liebe erschließt, die der agonalen Daseinsdeutung des (Neo-)Darwinismus entgegengesetzt wird. Das metaphysische »Strukturgesetz« für alle aufeinanderfolgenden Stufen der Einigung des Universums, mit dem Teilhard das ihm eigene temporale Verständnis von Sein und Einssein in Liebe ausspricht, lautet »Die Vereinigung differenziert«.239 Dies ist das »grundlegende Gesetz des Seins (la loi fondamentale de l’être)«.240 Das Vielfältige wird also nicht nur vereinigt, sondern zugleich differenziert. Differenzieren heißt (für die Wesen, die sich einander annähern) nicht nur den Unterschied wahren, sondern auch die Verschiedenheit austragen (vgl. lat. differre), einander zunehmend ins Eigene bringen, auszeichnen, einander sein lassen und das Wesen schenken, einander verstärken, vollenden, einander ergänzen, befruchten, verstärken, steigern und auf ein neues Niveau erheben.241 In der Selbsthingabe und -mitteilung der Liebe (l’amour) nähern sich zwei Wesen einander an und lassen sich voneinander anziehen, indem sie einander ins je Eigene freigeben, selbstständig machen, das Unterschieden-, Verschieden- und Anderssein nicht nur wahren, sondern vollenden. Die Liebe ist »die Vertiefung unseres innersten Ich in der belebenden menschlichen Annäherung. [… Sie] schließt die Liebenden enger zusammen, ohne sie zu verschmelzen, und die Liebe läßt sie in dieser gegenseitigen Berührung eine Erhöhung finden, die hundertmal mehr als jeder einsame Stolz dazu befähigt ist, in der Tiefe ihrer selbst die mächtigste und schöpferische Eigenständigkeit zu wecken.«242 Dagegen ist einander aufsaugen, verschmelzen, genießen und besitzen wollen oder narzisstische Verschließung in der Zweierbeziehung ein Zerrbild, die dialektische Zerfallsform der Liebe, aus der Abstoßung, Trennung, Isolierung, Rückfall in unverbundene Vielheit, Auflösung und Absturz in das Nichts folgen.243 Einigung, die in Liebe differenziert, ereignet sich überall. Sie differenziert nicht nur, sondern personalisiert, und zwar so weitgehend, dass sie ganz neue Zentren zu bilden vermag. Wenn Menschen sich wahrhaft lieben, geben sie einander in der Ein-
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zigartigkeit ihres personalen Wesens aktiv zu sein frei, sodass jeder – ganz als er selbst und mehr als er selbst allein – aus sich, aus ureigener Initiative hervortreten und auf dem Grund ihm neu entgegenkommender Möglichkeiten sich selbst zu überschreiten vermag. Aufgrund dieser Erfahrung, deren kosmische Möglichkeiten, die über sich in die Zukunft hinausführen, gegeben sein müssen, konnte von einem »Personalisationsfluss« und kann von »einer Welt, deren Formel ,zur Personalisation durch die Vereinigung‘ lautet«, die Rede sein, »in der die Kräfte der Liebe […] einen vorrangigen Platz einnehmen«.244 Ausdrücklich beruft sich Teilhard auf unsere Liebeserfahrung als das menschlichste der Phänomene, das ja den Ausgangsort seiner Metaphysik bildet: »Ist es nicht durch die tägliche Erfahrung bestätigt, dass die Vereinigung, die voll und ganz geschieht, als von Geist zu Geist, von Herz zu Herz, nicht nur differenziert, sondern auch ,Mitte‘ gibt (centrifie)?«245 Liebe im eigentlichen Sinn waltet keineswegs dort, wo Menschen privatisieren oder einander im Ich-Du-Verhältnis genügen oder sich im Gruppenegoismus behaupten, sondern wo die Verbindung der Liebenden sich öffnet und weitet, wo sie sich über sich hinausführen lassen, wo ihre Liebe eine gemeinsame Mitte bildet. Besonders in diesem Sinne ist die Vereinigung schöpferisch, indem sie über die sich (letztlich personal) zusammenschließenden Zentren hinausführt: Sie schafft neue, höhere Zentren, sie »überzentriert«, »exzentriert«, »superzentriert«, »superpersonalisiert«, »ultrazentriert« und »ultrapersonalisiert«.246 Das hat nichts zu tun mit einer ,transpersonalen‘ Verschmelzung oder Auflösung der Person. Die Person verschmilzt weder mit dem Anderen noch löst sie sich in ihm auf. Je immer größere Nähe differenziert, sie bringt uns in das je Eigene, indem sie uns radikal über uns hinausführt. Das Trennende der Individualität tritt so zurück, dass »wir nur ganz wir selber sein können, indem wir uns einander unter [dem allgegenwärtigen Konvergenzpunkt] Omega im Universellen totalisieren«.247 Nach dem bisher Gesagten muss das Universum von Stufe zu Stufe sich so entwickeln, dass unser personales Sein möglich wird; aber das jeweilige Mehrsein (und Bessersein) ist insgesamt nur möglich, wenn es unaufhörlich, von Anfang an und vom 244 A.a.O., Bd. 7: L’Activation de l’Énergie, 125, dt. 360. 245 A.a.O., Bd. 8: La Place de l’Homme dans la Nature, 164, dt. 122. 246 Vgl. u.a. dazu a.a.O., Bd. 5: L’Avenir de l’Homme, 152, dt. 160; Bd. 6: L’Énergie Humaine, 52, dt. 56; 81, dt. 85; 190, dt. 208; Bd. 7: L’Activation de l’Énergie, 55 f., dt. 61; 121, dt. 355; 123, dt. 357, sowie »Die Zentrologie« in Bd. 7, 103 –146, dt. 335–371; Bd. 9: Science et Christ, 178, dt. 184; 204 f., dt. 213; gut zusammengefasst in Bd. 11: Les Directions de l’Avenir, dort: Les trois temps de la personnalisation (Centration, Décentration, Sur-centration), 129 –135, dt. in: P. Teilhard de Chardin, Vom Glück des Daseins, 29 – 43. 247 Œuvres de Teilhard de Chardin, Bd. 7: L’Activation de l’Énergie, 125, dt. 359.
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248 A.a.O., Bd. 9: Science et Christ, 73, dt. 73 f.: Pour les éléments groupés par l’âme en un corps (et élevés par le fait même à un degré supérieur d’être) «plus esse est plus cum pluribus uniri». Pour l’âme ellemême, principe d’unité, «plus esse est plus plura unire». Pour les deux, recevoir ou communiquer l’union, c’est subir l’influence créatrice de Dieu «qui creat uniendo». 249 A.a.O., Bd. 10: Comment je crois, 30 f., dt. 29 f.
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Ende des Ganzen her, unter der schöpferischen Anziehungskraft der Liebe Gottes steht. Genau dies will die »Philosophie« bzw. »Theorie von der Unio creatrix« sagen, nämlich »daß in der derzeitigen evolutiven Phase des Kosmos (der einzigen uns bekannten) sich alles so vollzieht, als bilde das Eine [das im Kommen ist] sich durch aufeinander folgende Einswerdungen des Vielen – und als wäre es umso vollkommener, je vollkommener es unter sich ein umfassenderes Vieles zentralisiert (centralise)«. Zentrierung (centration) ist eine differenzierende Weise der Einigung. Sie bemisst den Grad ihrer Einigung an dem Grad der verinnerlichten Komplexität (centro-complexité). Sie hat daher mit einem Zentralismus, der Diversitäten uniformiert und sich organisatorisch unterwirft, nichts zu tun, sondern besagt hier erstens »Mehr sein« (lat. plus esse, franz. plus-être), Erhebung »zu einem höheren Grad des Seins«, d.h. immer besser mit Vielen vereinigt werden, und das gilt hier »für die durch die Seele in einem Leib gruppierten […] Elemente«, und zweitens ein »Mehr sein«, d.h. sich aktiv immer mehr mit vielen Elementen vereinigen, was hier auch »für die Seele selbst, das Prinzip der Einheit« gilt. Erfahren wir uns selbst so als Zentrum einer gegebenen Vereinigung, durch die wir ein Mehr an Sein empfangen haben und die uns zugleich in die aktive Möglichkeit versetzt, die Vereinigung mitzuteilen, d.h. ein Mehr an Sein zu stiften, dann »heißt, die Vereinigung zu empfangen oder mitzuteilen, den Schöpfereinfluß Gottes zu erfahren, ,qui creat uniendo‘ (der vereinigend schafft)«.248 Der jeweilige ontologische ,Zuwachs‘ wird also nicht dem Überschwang des Lebens oder der Willensexpansion zugeschrieben. Er versteht sich aus der Erfahrung der einigenden Anziehung der Liebe von vorne, nicht aus einem Gestoßen- und Getriebenwerden von hinten, was gegen ein unzureichendes Schöpfungsverständnis gesagt wird (das einen ersten Beweger, der in der Vergangenheit den Anstoß zur Schöpfung gab, annimmt, oder auch gegen einen reduktionistischen Evolutionismus). Mit der schöpferischen Einigung ist somit eine nach Teilhard de Chardin in der Scholastik nicht erkannte »Bewegung« definiert, nämlich die »schöpferische Transformation, die transformatio creatrix«. Sie geht vor sich in einem »Akt«, »der, indem er sich eines bereits existierenden Geschaffenen bedient, es in ein ganz neues Sein vergrößert. Dieser Akt ist wirklich schöpferisch, creatrix, denn er verlangt das erneute Eingreifen der ersten Ursache.«249
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Die ganze Kosmogenese ist so Freigabe zur universellen Amorisation (der einigenden und vollendenden Kraft personaler Liebe) und Personalisation (der zunehmenden Wahrung des Personalen in einem Universum der Konvergenz), die den letzten Grund aller kosmischen Einswerdung, die Liebe Gottes, transparent machen. Der letzte Grund ist nicht als Ursache zu postulieren, sondern er gibt sich im Geschehen schöpferischer Einigung selbst zu erfahren: Indem er den Vielen die Würde verleiht, sich selber schöpferisch an der Entstehung des Neuen durch Vereinigung zu beteiligen, schafft er und ruft er aus dem Nichts ins Dasein, eint er das Viele. Gott schafft, indem er gibt, schenkt, bzw. die Dinge so sein lässt, dass sie sich selbst schaffen. »Die erste Ursache mischt sich nicht unter die Wirkungen: Sie wirkt auf die individuellen Naturen und auf die Bewegung des Ganzen. Im eigentlichen Sinne gesprochen macht Gott nicht: er läßt die Dinge sich machen.«250
250 A.a.O., 38, dt. 36; vgl. Bd. 3: La Vision du Passé, 39, dt. 40; 217, dt. 225.
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7. Philosophische Theologie (Metaphysik) und praktische Philosophie (Ethik) Beabsichtigt ist nicht, das Verhältnis der Religionen zur religiösen, ethischen und soziokulturellen Daseinsgestaltung zu untersuchen, wozu wohl keine Monographie ausreichen würde, sondern sich mit einigen mir wichtig erscheinenden Hinweisen auf das Verhältnis einer ontologisch begründeten theologischen Philosophie zur Lebenspraxis und praktischen Philosophie zu bescheiden. Lebenspraxis meint hier den Vollzug des uns zu vollbringen aufgegebenen Daseins. Diesen bedenkt die praktische Philosophie, insbesondere die Ethik als philosophische Wissenschaft vom Ethos (im Sinne von ,Moral‘, der gelebten sittlich bestimmten Daseinsgestaltung). Im Hintergrund müsste dabei auch eine Kenntnis der Vieldeutigkeit und Differenziertheit allein schon des aristotelischen Praxisbegriffes stehen, dessen Mitte die sittlich-praktische Vollzugsweise bildet.1 Obgleich der Vorrang der Theorie gegenüber der Praxis im engeren Sinn bei Aristoteles betont wird, wird Theorie in einer bestimmten Weise als eine Form lebenserfüllender Praxis dargestellt. Aber auch das technisch-poietische Herstellungsvermögen, alles Machen, das ein vom Menschen ablösbares Werk hervorbringt, kann noch der Praxis im weitesten Sinne zugezählt werden. Das kommt unserem modernen Sprachgebrauch nahe, dessen Mittelpunkt die kapitalorientierte Arbeitswelt als ,eigentliche‘ Praxis bildet. Praxis im weitesten Sinne ist jede Weise, in der wir uns vollbringend und sorgend in der Welt umtun.2 Blicken wir nun zurück auf die drei klassischen Bedeutungen von Theologie: mythische, physische und politische Theologie, dann kann sich die Frage erheben: Ist die Aufzählung zufällig so gereiht oder liegt darin eine Zusammengehörigkeit und Entfaltung des Gott-Sagens, die zu beachten wäre? Der Mythos gehört ursprünglich zur religiösen Praxis, ja zur kultischen Feier, wo er göttliches Geschehen, das sich im Dasein verdichtet, verkündet. Die Weise seines ursprünglichen Vollzugs ist daher jedenfalls nicht die stumme Lektüre. Die physische Theologie ist ein Gott-Sagen, das dem zur Erscheinung kommenden Wesen des Göttlichen auf dem Wege des nachdenkenden Vernehmens, der ,Theorie‘, zu entsprechen sucht. Sie scheint sich von 1 Vgl. dazu den Artikel Praxis, praktisch/I. Antike von Günther Bien in: HWP, Bd. 7, 1277–1286,
dort auch Biens einschlägige Arbeiten zum Praxisbegriff des Aristoteles. 2 Pr axiß kommt von pr1ssein, das u.a. transitiv so viel wie besorgen, (einen Weg) zurücklegen, vollbringen, etwas zu Ende führen heißt; vgl. auch M. Heidegger, GA, Bd. 18: Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie: »Das In-einer-Welt-Sein ist gleichursprünglich Besorgen« – also Praxis, 66, vgl. 58 f., 70 ff., 353.
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der Praxis vornehm abzuheben, da sie den gesamtmenschlichen Vollzug beschaulich bedenkt und sich kritisch-klärend auf die faktisch ,praktizierte‘ Vulgärreligion mit ihrer Mythologie, aber auch auf die Regelung des Gott-sagenden Kultes durch staatliche und religiöse Autoritäten bezieht. Die klassische politische Theologie erscheint der unmittelbaren religiösen Praxis enthoben, normiert aber zugleich die Praxis in der Sorge um die Erhaltung des Gemein- und Staatswesens. Das Gott-Sagen des Mythos spricht den Menschen im Bereich praktizierter Religion an. Politische Theologie regelt diese Praxis offiziell. Physisch bzw. metaphysisch begründete Theologie bedenkt hingegen das, wovon sich die Vollbringer der Religion bestimmen lassen; sie gilt als theoretische Disziplin der Philosophie, die nicht wie Ethik, Rechts- und Staatsphilosophie, Logik, Ästhetik u.a. normativ-praktisch ausgerichtet ist. Diese normativ-praktischen Disziplinen haben anscheinend mit philosophischer Theologie direkt nichts zu tun, außer über Fragen der privaten und öffentlichen Religionsausübung oder des wissenschaftlichen Ethos, beispielsweise der existenziellen Redlichkeit und Ernsthaftigkeit des Denkens. Man könnte die normativ-praktischen Disziplinen dem Bereich praktischer Anthropologie zuordnen, weil sie von spezifisch menschlichen Vollzügen handeln. Doch alles in normativ-praktischen Disziplinen thematisierte Sichverhalten des Menschen, das der Offenbarkeit des Seienden auf seine Weise antwortend entspricht, ist ohne Bezug auf Ontologie gar nicht hinreichend verständlich. Das sei im Folgenden besonders im Hinblick auf das gelebte sittlich-praktische Sichverhalten, das Ethos, und auf dessen wissenschaftliche Fassung, die Ethik, hervorgehoben. Allem Anschein nach sind jedoch Ethik und philosophische Theologie einander entgegengesetzt: In der Ethik geht es um das, was wir als Menschen sein können und dürfen und dem entsprechend konkret und situativ vollbringen sollen. Dazu gehört auch die rechte, die ,Geister‘ unterscheidende Religionsausübung. In der philosophischen Theologie geht es hingegen um eine Besinnung auf das, was eigentlich als das Göttliche in der Welt waltet und möglicherweise unsere Teilnahme am Sein der Welt bestimmt, aus dem dieses Sein überragenden Grunde. Sie hat den letzten Grund der Religionsausübung theoretisch um der Wahrheit willen zu klären und sagt mindestens direkt nichts über die Religionsausübung aus, beispielsweise über die ethische Relevanz religiöser Akte wie etwa Ehrfurcht und Scheu, Verehrung und Anbetung, Glauben, Hoffen und Lieben, Reue und Dank, die auch ethisch zu verantwortende und zu beurteilende Weisen unseres Sichverhaltens sind. Insofern religiöse Vollzüge Freiheitsvollzüge von Menschen sind, sind sie ethisch relevant, bewegen sie sich in der Grunddifferenz von Gut und Böse (bzw. Schlecht). Zur Religionsausübung gehört ein Ethos, ja Religionen beanspruchen ethische Kompetenz
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im höchsten Ausmaß. Anscheinend ist diese lebenspraktische Dimension nicht Gegenstand philosophischer Theologie. Aber ist das zutreffend? Gelten als Ziel der Ethik, ja überhaupt aller praktischen Philosophie, praktische Einsicht und Lebensweisheit im Hinblick auf die Möglichkeiten des eigenen Selbstseins und des entsprechenden Tuns und Lassens sowie auf Lebensgestaltung im Miteinanderleben und Miteinanderteilen der gemeinsamen Welt, sei es eine sittlich, rechtlich, politisch vertretbare oder sonst wie motivierte, so gilt als Ziel der Metaphysik letztlich nur etwas Theoretisches, das den Verdacht auf Realitätsflucht erregt. Ihr Denken steigt auf, empor zum Höchstdenkbaren und steigt nicht ab in die ,Niederungen‘ der Praxis. Weil sie jedoch solcherart anscheinend völlig ,unpraktisch‘ ist, konnte man sie (und besonders die philosophische Theologie) im offiziellen Betrieb der akademischen Philosophie für einen entbehrlichen Luxus halten, bestenfalls für eine Art Spezial- oder Nebenfach ohne obligatorischen Anspruch. Infolgedessen sind auch theonome oder gar supranaturalistische Ethikbegründungen, wie sie in die Philosophie Eingang gefunden haben, obsolet geworden. Trägt man dieser Situation Rechnung, so könnte man annehmen, dass philosophische Theologie allenfalls indirekt, durch ihre gesellschaftlichen Auswirkungen, praktischen (pragmatischen) Begründungskriterien unterwerfbar ist. Dazu bietet sich beispielsweise die Nützlichkeitskalkulation teleologischer (utilitaristischer) Ethik an, welche ausschließlich die Handlungsfolgen (,Früchte‘) berücksichtigt, d.h. jenen Beitrag, den eine Handlung zur Beförderung des Wohls aller von ihr Betroffenen leistet. Man kann nun hypothetisch annehmen, dass die Metaphysik mit ihrer Theologie einen solchen positiven Beitrag leistet. Dabei muss ihr spekulativer Charakter im Hinblick auf die faktische praktische Religionsausübung kein Einwand sein, weil sie wie jede bloße Weltinterpretation eine weltverändernde Wirkung hat, und wäre es nur eine konservierend-stagnierende. Bloß konstatierende Sätze gibt es ja streng genommen in einem Interpretationszusammenhang gar nicht, denn auch sie gehören zu einem performativen Handlungszusammenhang und sind praxisbezogen nie völlig indifferent. Man könnte also erwarten, dass ein für wahr gehaltener und plausibel gemachter Theismus in einem bestimmten soziokulturellen Milieu (noch/doch?) eine bemerkenswerte Verbesserung der Weltbewältigung durch Verstärkung der Religiosität gewährleiste. Zum Beispiel gilt: Je religiöser, desto gesünder; je unreligiöser, desto depressiver. Hierbei wird der Gottesglaube als stimmungsveränderndes Mittel betrachtet, das ähnlich positiv wie bestimmte Antidepressiva oder placeboartige Mittel wirkt oder zu Verhaltensänderungen führt, die dem individuellen und allgemeinen Wohl zugutekommen.
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Doch empirische (statistisch auswertbare) Belege der Religionspsychologie oder -soziologie sagen prinzipiell niemals etwas direkt über die Wahrheit oder Unwahrheit einer der faktisch vorfindbaren Religionsausübung zugrunde liegenden Auffassung aus. Alle Überlegungen, welche die Bejahung oder Verneinung eines philosophischen Glaubens an Gott nur von der praktischen Anwendbarkeit her rechtfertigen wollen, setzen voraus, dass der Grundzug einer solchen Philosophie ein weltenthoben-apraktischer ist (sei es ,akademische‘ Theorie, Ideologie, Weltanschauung, Welterklärungshypothese oder dergleichen), der nicht in sich (in seinem Wahrheitsbezug), sondern nur von seinen Funktionen bzw. Handlungsfolgen her zu beurteilen ist. Aber diese haben sich keineswegs immer nur als nützlich (beispielsweise Frieden und Freude bringend), sondern auch als äußerst schädlich, ja mitunter todbringend erwiesen.3 Sucht man das Verhältnis von Metaphysik und praktischer Philosophie, die in der Ethik gipfelt, zu bestimmen, so könnte es sein, dass die utilitaristische und auch leistungsorientierte technische Idee der Anwendbarkeit der Metaphysik auf die ethische Lebenspraxis und ihre Theorie sowohl den theoretischen Status der Metaphysik als auch den der Ethik als Wissenschaft verkennt, denn beide Sachgebiete sind philosophisch argumentative Theorien, die primär nicht der Praxis, sondern der Wahrheit verpflichtet sind, und zudem durchdringen sie einander und gehören in ihrem lebenspraktischen Sachbezug engstens zusammen. Man könnte methodisch (auf dem Boden einer philosophischen Anthropologie!) von der Ethik ausgehend zu den sie grundlegenden metaphysischen Vorgaben vordringen und umgekehrt – und das ist hier die These – eine fundamentale, »ursprüngliche Ethik« in einer anfänglicher gedachten Metaphysik entdecken. Ich komme damit mit dem überein, was Heidegger in seinem »Brief über den ,Humanismus‘« hervorgehoben hat: »Das Denken, das 3 Als gegenüber pragmatistischer Erfolgsbesessenheit zur Vorsicht mahnendes Beispiel sei die religionspsychologische Untersuchung des Zusammenhanges von Religiosität und Depressivität durch Anette Dörr, »Religiosität und psychische Gesundheit«, angeführt. Untersucht wurde die Selbsteinschätzung psychischer Beeinträchtigung hinsichtlich Depressivität, sofern sie auf eine klinisch relevante depressive Symptomatik hinweist. Dörr kommt zum Ergebnis, dass für die seelische Gesundheit nicht so sehr ihr konkreter Inhalt (Religiosität versus Areligiosität) stabilisierend wirkte, sondern vielmehr die Gewissheit einer Überzeugung. Denn zu beiden Extremen einer minimal und einer maximal ausgeprägten Religiosität hin nimmt das Maß an Depressivität ab, besonders deutlich aber zu starker Religiosität hin. Mit wachsender Religiosität geht also eine zunächst steigende Depressivitätsrate einher, die nach Erreichen ihres Gipfels deutlich abfällt. Mit anderen Worten: Die Nichtreligiösen sind im Durchschnitt in ihrer Depressivität eher unauffällig, ebenso erscheinen Menschen mit ausgeprägter Religiosität wenig depressiv. Doch die im Mittelfeld Stehenden zeigen ein Höchstmaß an Depressivität. Die methodisch sich auf religionswissenschaftliche Empirie einschränkende Untersuchung hat übrigens nur das depressiv verstimmte, nicht aber das oft damit zusammenhängende manisch verstimmte Weltverhalten in Betracht gezogen.
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nach der Wahrheit des Seins fragt und dabei den Wesensaufenthalt des Menschen vom Sein her und auf dieses hin bestimmt, ist weder Ethik noch Ontologie« im herkömmlichen Sinne, sondern die »andere Metaphysik«, die »in sich schon die ursprüngliche Ethik« ist,4 welche die konkrete Ausarbeitung einer dem Seinsdenken entsprechenden Ethik ermöglichen würde. Wenn hier philosophische Theologie eine Theorie im Sinne eines in die Sachursprünge zurückgehenden Denkversuchs genannt wird, so meint Theorie philosophisch verstanden nicht ein Wissen um des Wissens willen, und zwar unter der Voraussetzung, dass man Wissen auf ein Gesehen-Haben (dnai) von etwas reduziert versteht, das man dann wirklich ,hat‘, ,besitzt‘ und das dadurch einem zur Verfügung steht und wie Kapital vermehrt wird oder als toter Besitz verrottet. Zudem verteidigt man es als die jeweils ,meine‘ subjektive Ansicht und private Meinung, auf die man einen unbedingten Anspruch hat. Auf diese Weise wäre der Mensch in der ,grauen‘ Theorie dem Offenen des Daseins entfremdet und müsste sie (sauber gedacht als Arbeitshypothese) erst in der Praxis bewähren. Praxisbewährte Wissensakkumulation kommt jedoch hier nicht als Angezieltes in Frage, so wichtig sie heute sein mag. Gewiss dürfte ursprüngliches Wissen nicht ohne existenzielle Aneignung sein, diese aber kommt aus je größerer Übereignung an das Anwesen des Anwesenden in seiner Offenheit uns gegenüber, d.h. Theorie ist ein Weltverhältnis um willen der Wahrheit und des horchend-schauenden Beteiligtseins an ihr. Zum Verständnis des Theorie-Status philosophischer Theologie können auch etymologische Überlegungen zum griechischen Wort hilfreich sein.5 Theoria ist ein schauendes Wahrnehmen. Das theá, das mit wor verschmilzt, bedeutet Schau, Blick, wobei an ein Blicken zu denken ist, das nicht eine subjektive, auf Gegenstände gerichtete Tätigkeit ist, in der man im Hinsehen und Zusehen etwas (Seiendes) sich vorstellig macht und ergreift, sondern ein entgegenkommendes Antworten des Menschen auf den Anblick, in dem sich etwas darbietet und gibt, an dem der Mensch schauend Anteil nimmt und teilhat. Theorie heißt eine solche »Schau wahren«.6 4 M. Heidegger, GA, Bd. 9: Wegmarken, Brief über den »Humanismus«, 356 f.; vgl. ders., Zollikoner Seminare, 273: Das »Stehen« im Sinne des offenständigen Eksistierens »unter dem Anspruch der Anwesenheit […] ist der größte Anspruch des Menschen«, und das »ist ,die Ethik‘« – unter Anführungszeichen! Vgl. dazu R. Thurnher, Heideggers Denken als »Fundamentalethik«?; A. K. Wucherer-Huldenfeld (2003), Das ursprünglich Ethische im Ansatz von Heideg gers »Sein und Zeit«. 5 Vgl. hierzu W. Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, 180 ff. 6 Zum ursprünglich griechischen Theorieverständnis vgl. M. Heidegger, GA, Bd. 9: Wegmarken, Brief über den »Humanismus«, 314; ders., GA, Bd. 54: Parmenides, 152 ff. und 219 f., hier 153: »Das Blicken ist das Sichzeigen, und zwar als jenes Sichzeigen, worin das Wesen des begegnenden Menschen sich gesammelt hat, worin der begegnende Mensch ,aufgeht‘ in dem gedoppelten
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Nach der in der Antike angenommenen Wortverwandtschaft von Theoria mit ϑeß, Gott, bedeutet Theorie »einen Gott wahren«. Doch diese Ableitung von theo, wie in theós, kommt etymologisch heute nicht mehr in Frage. Dennoch besteht hier ein Sachzusammenhang. »Der theorós ist ein bestimmter Beamter, der als Abgesandter im Auftrag der Stadt zu den Götterfesten entsandt wird in verschiedenen Missionen, entweder um ein Orakel zu befragen oder einfach, um mit dabei zu sein und [um am ,Schau‘-Platz] den ritualen Akt durch seine Gegenwart zu begleiten. Eine Art Sakralgesandter also […]. Er hat irgendwie den Gott oder göttliche Dinge zu wahren. […] theoría ist also nicht so sehr eine Weise geistiger Tätigkeit, sondern vielmehr eine bestimmte Weise geistigen Seins, […] das schauende Beteiligtsein an einem derartig heilig-festlichen Geschehen.«7 Von hier lässt sich die Brücke zur lateinischen Übersetzung von Theoria mit contemplatio schlagen sowie zum Vorrang der vita contemplativa als der betrachtenden Lebensweise vor der vita activa als der tätigen Lebensweise. Dieses Dabeisein und Zuschauen, das aus allen Bezügen der Dienlichkeit herausgelöste, zweckfreie Anwesen, bestimmte das frühe philosophische Selbstverständnis als eine theoretische Existenz, die den vernehmenden Bezug des Menschen zum Sein nicht herstellt, sondern sich dem Bezug des Seins zum Menschen fügt. So lesen wir noch in der Übersetzung der aristotelischen Metaphysik, die Thomas von Aquin seinem Metaphysikkommentar zugrunde gelegt hat: theoria, id est contemplatio.8 Mindestens noch im Mittelalter war der Metaphysik mit ihrer theologischen Philosophie ein kontemplativer Charakter eigen. Das heutige Theorie-Verständnis schränkt folgerichtig den theoretischen Gebrauch der Vernunft ein und gibt der Praxis den Vorrang, weil Theorie nicht mehr als Erblicken des Seienden in der Offenbarkeit (Wahrheit) seines Seins, sondern als Leit- und Modellvorstellung zur praktischen Verwendbarkeit verstanden wird. Die ,bloß abstrakte‘ und ,rein theoretische‘ Theorie rechtfertigt sich in ihrem Wirklichkeitsbezug, wenn sie der herstellenden Durchsetzung eines Willens zur Bearbeitung des Seienden dient, sich bewährt bzw. wenn ihr Möglichkeitsentwurf als Hypothese verifiziert werden kann. Wird der Wesensbezug des Menschen zum Sein und erst recht zum Bereich des Göttlichen im modernen Sinn als Theorie gefasst, gerät er in ein Zwielicht, denn erst eine Nachrechnung seines praktischen Wertes für das Leben könnte diese ,bloße‘ Theorie bewahrheiten und rechtfertigen und bringt den HanSinne, dass sein Wesen im Blick wie die Summe seiner Existenz beisammen ist und dass dieses Beisammen und einfache Ganze seines Wesens im Blick sich aufschließt – aufschließt allerdings, um in dem also Unverborgenen zugleich das Verbergen und den Abgrund seines Wesens anwesen zu lassen.« 7 W. Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, 181. 8 Thomas von Aquin, In II Metaph., lect. 1; textus Aristotelis 993 a 30.
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delnden unter den Zugzwang einer Selffulfilling Prophecy, welche weithin die religiöse Orthopraxie irritiert (,Probiere es, es wird dir helfen!‘). Die Metaphysik kann dem allzu oft berechtigten Verdacht, eine überflüssige, ja mitunter schädliche und daher zu beseitigende Theorie zu sein, nur entgehen, wenn der ursprüngliche Daseinsvollzug, um den es geht, in ihr zur Sprache kommt. Dann würde der Einwand, dass Metaphysik eine unbrauchbare und unnütze Theorie sei, in sich zusammenfallen. Die Frage ist, ob und in welchem Sinne das dem Sein und seinem Ursprung entsprechende Denken von vornherein (a priori) ein praktisches ist. Der Anspruch, der sich aus dem Selber-sein-Können erhebt, dessen wir gewahr werden und das als solches anzunehmen und zu übernehmen ist, könnte hierbei dem Denken als Wegweisung dienen. Aus dem Gesagten geht hervor, dass hier nicht die Absicht verfolgt wird, die in philosophische Theologie mündende Ontologie den im herkömmlichen Sinn praktischen Disziplinen der Philosophie zu- und beizuordnen, sondern dass es nur darum geht, zu zeigen, dass sich der Gegenstandsbereich der ontologisch fundierten Theologie erst durch ein Aufschließen der ihm eigentümlichen Bedeutung, die ihm nie anders als in lebenspraktischer Ursprünglichkeit zukommt, konstituiert. Diese Vorgabe erst würde (im Rahmen philosophischer Anthropologie) eine Begründbarkeit und Entfaltungsmöglichkeit praktischer Philosophie, wie sie in der Ethik kulminiert, ermöglichen. Damit wird für das Folgende die Fragestellung auf das Verhältnis von Metaphysik und Ethik, nur präzisiv, nicht aber exklusiv, beschränkt. Worauf es ankommt, ist, das in einer Metaphysik des Gutseins ursprünglich grundgelegte Vorverständnis des Ethischen aufzuweisen, um damit ihren inneren Praxisbezug zu verdeutlichen (7.1). Dem steht aber die Abkoppelung der Ethik bzw. Moral von einem ursprünglichen Seinsverständnis im Weg, auf die kursorisch eingegangen werden soll (7.2). Abschließend sei versucht, das für die philosophische Theologie grundlegende ontologische Ursprungsphänomen praktischer Philosophie zu vergegenwärtigen und hinsichtlich der Moral und Ethik weiter zu klären (7.3).
7.1 Zur Grundlegung praktischer Philosophie in einer Metaphysik des Gutseins Kennt frühgriechisches Physis-Denken noch keine Unterscheidung von Physik und Ethik als zu sondernde Sachbereiche, so ist bei Aristoteles die Ethik bereits von der sogenannten Metaphysik bzw. Physik9 unterschieden, wenngleich sie eng zusam9 Ich schließe mich hier der sachlich weitgehend zutreffenden Auffassung Heideggers an (GA, Bd. 9: Wegmarken, Vom Wesen und Begriff der Fsiß, 242), dass die Metaphysik des Aristoteles »ebenso sehr ,Physik‘ ist als die Physik ,Metaphysik‘«.
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mengehören. In der platonisch-aristotelischen Ethik und ihrer relativ eigenständigen und vielfältigen Rezeption und Tradierung in der mittelalterlichen und neuzeitlichen Philosophie war Ethik immer noch (auch?) das systematische Bedenken der menschlichen Aufgabe, am Gutsein teilzunehmen, es seiner Mit- und Umwelt mitzuteilen und dem entsprechend im Handeln zu vollbringen. Ethik war nur im Weitblick jener Metaphysik des Guten begründet, der es um das Ganze und den Grund des Daseins ging. Darum konnte noch Spinoza seine Metaphysik »Ethica« nennen und Kant eine »Metaphysik der Sitten« verfassen. Ethik wäre demnach ein in der Metaphysik (als Ontologie samt der sie weiter ausfaltenden philosophischen Theologie) gegründetes systematisches Bedenken der dem Menschen eigenen Aufgabe, das sittlich Gute (auf Grund des Gutseinkönnens des Menschen) zu vollbringen. Ihr Grundgedanke ist, dass Sichverhalten oder Handeln nur gut ist, wenn das Sein nicht nur als Wahrsein offenbar wird, sondern Sein entsprechend dem Seinkönnen des Menschen zur ,Mit-teilung‘ kommt. Dieses Gutsein ist im Anschluss an Aristoteles10 nach der im Mittelalter meistgebrauchten Definition des Guten das, weswegen etwas geschieht, oder das Worumwillen alles Strebens, also das Gute als Ziel (finis) des Handelns, Sichverhaltens und überhaupt des Daseins verstanden. Das Gute ist das, worum es geht, und das, worum es geht, ist das, was ist,11 oder umgekehrt ist das, was ist, das, worum es geht, das Gute. Ist das, worum es im Grunde und auf Grund des Seins (Seienden) geht, das Gute, so ist dieses konvertibel mit dem Sein (Seienden) und der Wahrheit (Offenbarkeit) des Seins selbst,12 das heißt, wer Sein sagt, sagt immer auch Wahrsein und Gutsein mit aus und umgekehrt. Das Gute ist in der aristotelischen Tradition (in der immer auch die Platon-Re zeption des Aristoteles mitspricht) durch das, »worum willen« (o neka, lat. propter quod ) etwas geschieht (ist, west), charakterisierbar. Etwas geschieht um willen der Mitteilung, der Kommunikation, des Vollbringens von Sein, um das es im Grunde geht. Dem entsprechend beantwortet sich die Frage, worum willen jemand handelt (etwas anstrebt, bejaht, anerkennt, hervorbringt, wirkt, lässt usw.), ontologisch durch das Gutsein (und die Teilnahme am Guten) als zu vollbringendem Ziel. Wir eksistieren ja immer in gestimmter und vernehmender Offenheit für den Anspruch des 10 Vgl. Aristoteles, Met. D 16, 1021 b 28 f.: tloß d ka o neka scaton. Ende im Sinne von Vollendung heißt auch das, worum willen etwas ist. Das Worumwillen hat den Charakter des Äußersten. 11 Dass hier das, was in betonter Weise ist, nicht nur die Wirklichkeit des Hervorgebrachten, sondern die weiteren Modalitäten des Seins wie Möglich- und Notwendigsein umfasst, versteht sich von selbst. 12 Zum Sinn der Differenz und Konvertibilität von verum und bonum vgl. G. Pöltner (1972a), Schönheit, 159 –170.
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Anwesens von Anwesenden (jemandem, etwas) und erfahren uns immer aufgefordert, dem zu entsprechen, was uns da in Anspruch nimmt und was uns zu einem diesem Anspruch entsprechenden Verhalten bewegt und bestimmt. Dazu gehört wesentlich, dass sich die In-Anspruch-Nahme entsprechend dem Selbst-sein-Können aus dem Dasein erhebt. Der Anspruch ist der Beweggrund (das Motiv oder Quietiv) für das Entsprechen des Menschen, sein Verhalten, sein Handeln – auch in Zwangslagen. Diese In-Anspruch-Nahme durch das Sein ist phänomenologisch noch näher aufzuschließen. Man kann die Frage, worum willen jemand handelt, statt vom Sein her auch vom Erkennen (vom kognitiven Handlungsziel) des reflektierenden Subjekts ausgehend zu beantworten suchen. Ein Erkennen (gemäß den Ideen, Idealen, Werten) ist auf Verwirklichung im Handeln bezogen. Dann ist das, weswegen man erkennt, das zu verwirklichende Seiende, und so kann sich das Gutsein auf eine seiende Eigenschaft oder kategoriale Qualifikation bzw. Bewertung des Handelns (,dass es gut ist‘) reduzieren. Die menschliche Praxis ist aber immer mehr als ein bloßes Mittel zum Zweck der Selbstverwirklichung von Subjekten; sie ist ein solches Handeln, das Anfang und Ziel in sich selbst, im eigenen Menschsein, im Sichverhaltenkönnen zum Anspruch des Anwesens der Anwesenden selbst besitzt. Darüber hinaus ist zu beachten, dass dasjenige, weswegen der Mensch überhaupt handelt, nicht von einem partikulären oder speziellen Vermögen (Anlagen, Fähigkeiten) eines ich-zentrierten Subjektes her, das sich primär auf sich und nachgeordnet auf Andere/s bezieht, bestimmt werden kann, sondern von dem her, was der Mensch (als Mitmensch) gemäß dem ihm übereigneten prinzipiellen Seinkönnen ist und was er als ganzer Mensch vollziehen kann. Denn alle wesentlichen Möglichkeiten zu sein (vernünftig, bedürftig, strebend, in guter Gesinnung, gestimmt, fühlend, wahrnehmend usw.) bestimmen sich immer schon aus der ontologischen Möglichkeitsfülle. Eigenstes Selbstseinkönnen in der Welt ist das, worum es im Dasein geht. Es ist uns vorgängig als uns in Anspruch nehmende Offenheit des Seins (Welt) erschlossen. Überdies ist im Blick auf eine mögliche Ethik ein wichtiges, individualistisches Missverständnis auszuschließen: In der von Heidegger pointiert ausgesprochenen These, das »primäre ,Wozu‘«, »Worum-willen« oder »,Umwillen‘ betrifft […] immer das Sein des Daseins, dem es in seinem Sein wesenhaft um dieses Sein selbst geht«,13 sei nur das um sich besorgte Dasein Vereinzelter angesprochen, sodass dann doch der subjektive Selbstbezug (die Struktur der Reflexivität) den Vorrang habe. Doch Dasein besagt immer auch und schon Mitsein, Mitanwesen Anderer, Anwesen 13 M. Heidegger, GA, Bd. 2: Sein und Zeit, 113.
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miteinander. Wie immer wir uns zueinander existenziell verhalten, wir verstehen uns im Grunde so auf unser Anwesen (Sein), dass das Mitdasein Anderer uns immer schon innerweltlich als Mitanwesen von diesen her erschlossen ist. Das besagt, dass es sich im Offenen des »Da« und von sich her zeigt. Erst dadurch sind sittliches oder unsittliches »Für-, Wider-, Ohne-einandersein, das Aneinandervorbeigehen, das Einander-nichts-angehen«14 möglich. Daher ist auch noch in defizienten Weisen der Fürsorge Dasein als Mitsein »wesenhaft umwillen Anderer«,15 um willen ihres Seins da.
7.2 Über Schwundstufen des Ontologieverständnisses in den Ethiken
Ist das eigentliche Umwillen, Worumwillen oder Umzu des Menschseins das ihm übereignete Dasein in der Welt, so ist mit dessen Sein das Gute, nicht als Qualifikation für Seiendes, sondern als das alles gute Handeln in seiner Mannigfaltigkeit ermöglichende und in Bewegung haltende ,Gutsein‘ angesprochen. Was die Bedeutung und Tragweite dieser Konzeption verdeckt, sind verschiedene Defizite im Ontologieverständnis. Die an sich großartigen Aufbrüche in der Geschichte der Ethik erscheinen mir daher wachsend durch Aporien belastet, die sich dort eingestellt haben, wo das ,natürliche Sittengesetz‘ oder ,Naturrecht‘ (in Abhebung vom positiven, gesatzten Recht) in das Zentrum der durch Metaphysik begründeten Ethik gerückt wurde, ein Problemknäuel, dem gegenwärtige Bestrebungen der Wiederbelebung einer naturrechtlichen (will sagen: ontologischen, metaphysischen) Grundlegung der Ethik nicht entgehen können und der aufgearbeitet werden müsste. Auf einige mir wesentlich erscheinende Problemstellungen sei hier hingewiesen: Erstens: Wir stehen stets unter dem Anspruch des Daseinsganzen, um das es geht. Das heißt, es ist uns aufgegeben, gut zu sein. Das Gute überhaupt ist in der jeweiligen Situation (im entscheidenden Augenblick) zu vollbringen. Gerät dieser praxisbegründende Anspruch des Seins im Guten außer Sicht, so rückt stattdessen das in den Vordergrund, was die Seinsmöglichkeiten im Guten in der Spannung zur Einmaligkeit der Situation für den Handelnden vermittelt: das Regelwerk ethischer Gebote bzw. moralischer Gesetze oder praktische, d.h. handlungsanleitende Sätze. 14 A.a.O., 162. 15 A.a.O., 164. Freilich legt sich bei Heidegger das Problem nahe, ob der Ausgang vom mit dem Mitsein gleich ursprünglichen Selbstsein nicht tendenziell einen methodischen Solipsismus in der Begründung der Ethik nach sich zieht, sodass die Entfaltung des Mitseins als Quelle der Sittlichkeit zu kurz kommt.
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Diese sollen dann nachträglich zu ihrer Erstellung auf das Handeln in der jeweiligen Situation angewendet werden. Fragen nach der allgemeinen, objektiven und ,überzeitlichen‘ Gültigkeit oder nach argumentativ zu begründenden Verbindlichkeiten eines sittlichen Wahrheitsanspruches u.a. werden innerhalb dieses eingeschränkten Horizontes diskutiert. So sind beispielsweise in der neueren Diskurs-Ethik nicht die ontologischen Ermöglichungsbedingungen des Gutseins, sondern anwendbare Regeln gefragt, denn eine sittliche Handlung ist dann gegeben, wenn sie nach Regeln erfolgt, auf die sich kompetente Teilnehmer eines herrschaftsfrei geführten Diskurses hätten einigen können. Ein solches Handeln ist gewiss nicht nur vernünftig, sondern auf seine Weise gut. Aber ist es nicht deswegen vernünftig, weil es solcherart wahrhaft gut ist, zu sein? Die ontologische Frage nach dem Phänomen des ,Gut-seins‘, das unser Dasein in Anspruch nimmt, bleibt hier ausgespart. Zweitens: Man versuchte im Rahmen des Vordringens der Zweiweltenlehre des (vulgären) Platonismus die unbedingte Autorität des Naturrechts dadurch zu sichern, dass man es als eine überzeitliche (und das heißt ungeschichtliche) Wesensordnung und Willensäußerung Gottes hingestellt hat. Im Zuge des in der neuzeitlichen Metaphysik zur Vorherrschaft gekommenen Ansatzes skotistischer Ontologie, auf die noch wiederholt eingegangen werden muss, wird die das faktische Seiende transzendental ermöglichende Wesensordnung zum eigentlichen Sachgebiet der Philosophie. Das aus der Welt her situativ Anwesende verkommt zum bloß Vorhandenen (bzw. zu Gegenstand oder Tatsache) und scheidet damit als Quelle wesenhafter sowie sittlicher Erkenntnis aus. Mit der Ausklammerung des jeweils in seinem Anwesen ereignishaft zur Gegebenheit Kommenden wird das verbale Seinsverständnis dem nominalen untergeordnet. Durch diese Ausdünnung des Seinsverständnisses bahnen sich folgerichtig spätere vermeintlich ontologiefreie oder -überlegene Versuche der Ethikbegründung an. Im Gegenzug zur skotistischen Ontologietradition wird mit dem cartesianischen Ansatz des »Ich bin« zwar etwas vom partizipial-verbalen Seinsverständnis wiedergewonnen, jedoch auf das selbstgewisse »Ich denke mich denkend« eingeschränkt. Darüber hinausgehend war es die große Entdeckung des personal-dialogischen Denkens, dass abgehoben vom innerweltlich Anwesenden (als dem bloß Eshaften) der oder die mir gegenüber Anwesende (also jemand, der ich selbst nicht bin) mir vorgängig ethisch und ontologisch relevant erscheinen muss. Wenn es um das ,personale Sein‘ geht, so im Sinne der Begegnung (dem Anwesendwerden in der Gegenwart des Du). Zu bedenken wäre unsere Herkunft (die Herkunftsfamilie) im personal miteinander eröffneten Raum und damit das ontologisch Wesenhafte des relationalen Personverständnisses. Doch dieser generative Aspekt (in der transbiologischen Be-
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deutung von »Generation«) wurde von personal-dialogischen Denkern eher vernachlässigt: Nun sind es doch immer Andere in ihrer Mitmenschlichkeit, denen wir es verdanken, ,zur Welt‘ – und das heißt zum Offenen des Seins – gebracht worden zu sein, und zwar als Wesen, die solches wiederum selbst vermögen. Ohne Rücksichtnahme auf diese generative Rangordnung suchte Emmanuel Lévinas eine der Ontologie enthobene und ihr angeblich überlegene neue Sittlichkeitsbegründung, die sich auf den situativ unvermittelten Anspruch der Andersheit der/des leibhaftig begegnenden Anderen beschränkt, der mich selbst zur Verantwortlichkeit für ihn oder sie öffnet. Das sagt mir jemand (Lévinas), der im Blick auf Andere, unter denen ich selbst zufällig als sein Leser bin, die Verantwortung dafür übernommen hat, dass sein Appell an Andere, Verantwortung zu übernehmen, ankomme. Zu berücksichtigen ist hierbei: Immer schon waren es Andere, welche in der Verantwortlichkeit für dich, für mich und für uns standen – von denen wir verantwortlich zu sein gelernt haben. Und so waren und sind zunächst wir die Anderen, und zwar schon dort, im Schoß der Mutter, wo dein, sein, mein und unser aller Antlitz noch gar nicht direkt sprechen konnte: Lass mich sein! Gütig ist jemand, wenn er gut ist; er darf es zulassen und lässt es zu, dass es gut ist zu sein, gut ist, einander sein-lassen zu dürfen. Und das dürfen wir in alle später von uns aus verantwortbaren Begegnungen mit Anderen immer schon einbringen. Subjekt- oder personzentrierte Ansätze thematisieren meist ungenügend die je verschiedene Teilnahme an der gemeinsamen Welt, und zwar als dem Offenen des Seins, das in sich gut ist, gut füreinander, und weiter: die Möglichkeit der seinlassenden Freigabe des Daseins Anderer zu ureigenstem Sein. Diese umfasst die weltweite Spannweite ihres Wesens, ihr Mitdasein aus der Mitwelt im leibhaftigen Anwesen (Sein), um das es ihnen, den jeweils selbst Anwesenden, mit- und füreinander geht und ging. Der innige und teilnahmsvolle Bezug mit- und füreinander, um den es geht, d.h. der für uns gut ist, verdankt sich der Gabe des Gutseins: Daher sind Sein und Gutsein – dasselbe. Drittens: Dem Verlust des ontologischen Ethikverständnisses geht die radikale Unterminierung überlieferter Naturrechtsethik durch den im Spätmittelalter aufkommenden ,theologischen Absolutismus‘ voraus, eine theonome Ethik auf der Basis einer Metaphysik des schrankenlosen göttlichen Willens. Schon für Johannes Duns Scotus wird der Wille Gottes zur Norm der Sittlichkeit.16 Zwar unterstellt er dadurch Gott keine Irrationalität, meint aber dennoch, dass die Dinge nicht deswegen von Gott gewollt seien, weil sie gut sind, sondern dass sie gut sind, weil Gott 16 Duns Scotus, Ord. IV, d. 46, q. 1, n. 6: Opera omnia, ed. Viv., Bd. 20, 405 a: Voluntas sua [sc. Dei] est prima regula.
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sie will und liebt.17 Noch ist damit keine schrankenlose Willkür Gottes im Sittlichen behauptet, da der absolute göttliche Wille durch die logische Norm des Prinzips vom zu vermeidenden Widerspruch sowie durch Gottes Ideen und vor allem durch die Erkenntnis der eigenen göttlichen Wesenheit normiert ist. Auch ist es ein unveränderliches Prinzip der Ethik, dass Gott über alles geliebt werden muss.18 Gott könnte die ersten beiden Gebote des Dekalogs nicht willkürlich ändern. Aber alle übrigen Gebote, welche die Verhältnisse unter den Geschöpfen regeln, sind für den Willen Gottes disponibel.19 Daher habe man nach einem weiteren Grund, warum etwas Geschöpfliches gut oder nicht gut sei, gar nicht erst zu fragen.20 Diese supranaturalistische Begründung der ,natur‘-rechtlichen Moral verschärft sich bei Wilhelm von Ockham, der bekanntlich das natürliche Sittengesetz einzig und allein auf den Willen und Befehl Gottes zurückführt,21 wodurch es (unter Wahrung des Widerspruchsprinzips) »de potentia absoluta« veränderlich ist. So wäre es beispielsweise nicht widersprüchlich, wenn Gott dekretieren wollte, es sei gut, ihn zu hassen.22 Hier wird der Allmachtsglaube als kritische Instanz gegen die Sicherheiten der Metaphysik und der in ihr gegründeten Ethik eingesetzt. Die willkürliche Übermacht Gottes, bei dem durch besondere ,Offenbarung‘ alles immer noch anders werden kann, als es geschaffen wurde, verunsichert alles bodenlos. Diesem Schrecken der Verunsicherung durch Allmachtsphantasien setzt Spinoza den Gedanken der Seinsnotwendigkeit entgegen, welche Metaphysik und Ethik in eine grandiose Synthese zu zwingen sucht, wobei für den Menschen ,ethisch‘ gesehen nur bleibt, sich als endlicher Modus (unter den unendlich vielen endlichen Modi, die aus der göttlichen Substanz hervorgehen) und als notwendige Selbstauswirkung und -ausdruck eben dieser unendlichen Allsubstanz zu begreifen. Die Ethik wird in eine apersonale Substanzmetaphysik aufgehoben, welche die Substanz ontotheologisch für das Höchstdenkbare hält, sodass das Ethische naturalisiert, d.h. zu einem naturhaft notwendigen Seinsgeschehen wird (Deus sive natura naturans).
17 Duns Scotus, Ord. III, d. 19, q. un., n. 7: Opera omnia, ed. Viv., Bd. 14, 718 b: omne aliud a Deo ideo est bonum, quia a Deo volitum et non e converso. 18 Duns Scotus, Ord., Prol. pars 5, q. 2: Johannis Duns Scotus Opera omnia, ed. Balic, Bd. 1, 196; Ord. III, d. 36, q. 1, n. 13: Opera omnia, ed. Viv., Bd. 15, 631 a/b. 19 Duns Scotus, Ord. III, d. 37, q. un ., n. 5: Opera omnia, ed. Viv., Bd. 15, 826 a. 20 Duns Scotus, Ord. lib. I, pars 2, q. un.: Opera omnia, ed. Balic, Bd. 4, 324 f. 21 In Absetzung von einer abstrakten Wesensidee des Guten: Wilhelm von Ockham, Scriptum in librum primum Sententiarum, d. 35, q.5, in: Opera Theologica., Bd. 4, 48 f., vgl. Bd. 2, 321, u.ö. 22 Vgl. E. Hochstetter, Viator mundi, 14, mit einer Interpretation von Ockhams Quodlibeta, III, q. 14 f., die unterstellt, dass Ockham seine extreme These später korrigiert habe.
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Wird demgegenüber der Gedanke des willentlich und frei handelnden Subjekts geltend gemacht, dann kann die skotistische Scheidung von faktisch vorhandenem Seienden und der dieses ermöglichenden Wesensordnung, die im Willen Gottes verankert ist, die neuzeitliche Entgegensetzung von Sein und Sollen vorausbahnen. In seiner »Einführung in die Metaphysik« hat Heidegger versucht, diese Entgegensetzung durch Eingrenzungsschritte des frühgriechischen Seinsverständnisses verständlicher zu machen.23 Der Ausbildung der Schuldisziplinen Physik und Ethik in der Stoa24 geht die Auslegung der Physis (dem aufgehend-entbergenden Walten) als Idee voraus, die den Bezug zum Vorbildhaften, dann zum Ideal und schließlich zum Gesollten mit sich bringt. Die Herabsetzung des Seins wird dadurch wettgemacht, »dass etwas über das Sein gesetzt wird, was das Sein stets noch nicht ist, aber jeweils sein soll«.25 Die Scheidung von Sein und Gutem wird in der Scheidung von Sein und Sollen fortgesetzt, die sich bei Kant im kategorischen Imperativ als reinem Sollen vollendet26 und durch Fichte noch verschärft wird. Ihre Ausgestaltung im 19. und 20. Jahrhundert mündet in den Bruch zwischen der Welt der Tatsachen (bloß vorhandener Seiender) und der Welt zeitlos geltender Werte. Das Sein der Tatsache begründet kein Sollen, umgekehrt schafft das zu verwirklichende Sollen ,Tat-sachen‘, die an sich wertfrei sind. Seinsgeschichtlich kann der Bruch zwischen dem Sein und dem Sollen, ontischer Metaphysik und Ethik durch zwei radikale Positionen markiert werden: Durch die Spinoza nahestehende Aufhebung der Ethik in eine Metaphysik des Willens durch Nietzsche und durch die sich von der Ontologie des Spinozismus abhebende Ethik bei Lévinas. Nietzsche hat insofern zum Einsturz einer auf dem Wertedenken gründenden Ethik bzw. Moral beigetragen, als er diese reduktiv-genetisch auf eine letzte Pluralität der Willenskräfte zurückgeführt hat.27 Alle Seienden seien im Grunde jeweils als Wille-zur-Macht-Geschehen organisiert. »Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem!«28 Das Geschehen der unzähligen Willen-zur-Macht vollzieht sich in Interpretationen, in »perspektivischen Schätzungen« bzw. Ideal-, Horizont-, Sinn- und Wertsetzungen. Sie verfälschen das Werdegeschehen zum begrifflich-abstrakten Sein und geben diesen Schein für festgestellte 23 M. Heidegger, GA, Bd. 40: Einführung in die Metaphysik, 100 ff., 204–208, 211. 24 Vgl. M. Heidegger, GA, Bd. 29/30: Die Grundbegriffe der Metaphysik, § 10, 52–56. 25 M. Heidegger, GA, Bd. 40: Einführung in die Metaphysik, 206. 26 Dazu ausführlich M. Heidegger, GA, Bd. 31: Vom Wesen der menschlichen Freiheit, §§ 27, 28. 27 Vgl. dazu G. Abel, Nietzsche: Die Dynamik der [sic!] Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, sowie M. Heidegger, GA, Bd. 6.2: Nietzsche, 43–45, 47, 48, 50, und die noch immer wichtige Abhandlung über »Nietzsches Wort ,Gott ist tot‘«, in: GA, Bd. 5: Holzwege, 209–267. 28 F. Nietzsche, KGW, Abt. VII, Bd. 3, 339.
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Wahrheit aus. Allein die für unbedingt und überzeitlich gehaltenen Werte stellen sich als nichts anderes heraus denn als subjektive Blickbahnen, die durch Setzung neuer hermeneutischer Perspektiven und eines neuen Glaubens der Machtsteigerung und -erweiterung dienen.29 Mit dem Erwachen dieser Einsicht stürzt die angeblich auf diesem Glauben beruhende ganze europäische Moral ein.30 Insoweit die Zeitdiagnose zutreffend ist, wird damit ein verborgener Grundzug abendländischer Geschichte überhaupt offenbar: der Nihilismus. Dieser bedeutet, »dass die obersten Werthe sich entwerthen«; »es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das ,Warum?‘«.31 Gemeint ist der Einsturz der übersinnlichen ,meta-physischen‘ Welt des Platonismus, zu der Gott und die göttlichen Ideen als Grund und Ziel der sinnlichen, physischen Welt gehören. Mit ihr ist es nichts (nihil), sie existiert nicht: »Ein Nihilist ist der Mensch, welcher von der Welt, wie sie ist, urtheilt, sie sollte nicht sein und von der Welt, wie sie sein sollte, urtheilt, sie existiert nicht.«32 Nach Nietzsche mobilisiert das Willen-zur-Macht-Geschehen die Suche nach Werten (bzw. Sinn) und setzt sich diese als Wertgesichtspunkte zur Erhaltung und Steigerung der jeweiligen Kraftzentren voraus. Die von ihm versuchte »Umwertung aller Werte« aus dem Prinzip der neuen Wertsetzung, dem Willen zur Macht, die den Nihilismus vollenden sollte, zeigt indes nur, dass er in die abstrakte Wertvorstellung verstrickt blieb. Heidegger konnte hervorheben, dass das Werten als wertsetzendes Sichvorstellen so etwas wie eine Subjektivierung des Seienden ist, das nicht in seinem Sein gewahrt und gehütet, sondern nur als Gegenstand der Wertung, der Schätzung, zugelassen (bzw. dem Willen unterworfen) wird. Subjektive Bewertungen oder Wertsetzungen können den Menschen nicht binden und bleiben unverbindlich,33 auch beraubt das nur vom Subjekt aus Gewertete das Bewertete der eigenen Würde. Selbst Gott wird (in der Hierarchie der Werte) zum höchsten Wert herabgewürdigt, was nach Heidegger die Gotteslästerung schlechthin ist, der letzte, tödliche Schlag, der gegen ihn geführt wird.34
29 A.a.O., Bd. 1, 112. 30 Auf Nietzsches Dekonstruktion des Glaubens wird später eingegangen. Inzwischen erlebt man sich in der europäisierten Welt von einem grassierenden Einsturz des Wertedenkens bedroht, wobei der Werteverfall und die globale Forderung, die Werte wieder hochzuhalten, sich gegenseitig aufschaukeln. 31 F. Nietzsche, KGW, VIII/2, 14. 32 F. Nietzsche, KGW, VIII/2, 30. 33 M. Heidegger, GA, Bd. 9: Wegmarken, Brief über den »Humanismus«, 349, 361. 34 M. Heidegger, GA, Bd. 5: Holzwege, Nietzsches Wort »Gott ist tot«, 259 f.; ders., GA, Bd. 9: Wegmarken, Brief über den »Humanismus«, 349.
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Man kann Nietzsches Denken auf Grund einer Selbstdeutung als umgekehrten Platonismus ,meta-physisch‘ verstehen.35 Seine Anti-Metaphysik ist immer noch eine Metaphysik, und zwar eine Metaphysik des Willens,36 die im Gegensatz zu Schopenhauers Annahme der Welt als sich vorstellender Gesamtwille einen Pluralismus der Willenszentren vertritt. Mit dem Sein des Seienden als solchem ist es nichts (nihil), weil Nietzsche Sein nur statisch auslegt, als abstraktesten und leersten Begriff im Gegensatz zur lebendigen Dynamik des Werdens verkennt und es nicht als konkretes Anwesen und Konstituieren, Gewähren und Walten des Anwesenden versteht. Seine radikale Moralkritik beruht so auf der ihm eigenen Metaphysik, die in sich lebenspraktische Philosophie von anhaltender seismographischer Qualität ist. Es liegt auf der Hand, dass Nietzsches Seinsauslegung schon deswegen methodisch fragwürdig ist, weil sie das Unbekannte aus dem Bekannten zu verstehen sucht, das Sein von einem partikulären, innerweltlichen Phänomen (Willen, Energie, Macht, Leben usw.) her auslegt, dessen jemand inne ist. Die wesenhafte Unbekanntheit, welche die stets des Fragens würdig bleibende Quelle der Bekanntheit unseres Seinsverständnisses ist, wird damit verstellt. Mit dem Ausgang von einem speziellen Phänomen unseres Verhältnisses zum Sein für die Daseinsdeutung im Ganzen muss ein allenfalls sich zeigender ursprünglicher Seinssinn des Guten notwendig verstellt bleiben.37 Die entpersonalisierende und dehumanisierende Selbstauslegung, welche den Menschen auf das Ensemble einer Pluralität agonaler Willenszentren reduziert, scheint – ausufernd in Weltkriegen, kolonialisierender Versklavung und himmel35 Worauf später näher eingegangen werden soll. 36 Versteht man unter Meta-Physik den Sachtitel für platonistische Zweiweltenlehren, dann kann von dem als radikal anti-metaphysisch bekannten Denken Nietzsches höchstens metaphorisch gesprochen werden, insofern er den Platonismus bzw. die idealistische Metaphysik umgekehrt hat. Versteht man unter Metaphysik keinen derartigen Sachtitel, sondern ein Denken, das auf das Ganze unseres Daseins miteinander geht und auf den Grund oder Grundcharakter, der alle Seienden phänomenal durchragt, dann ist der Platonismus nur ein Deutungsstrang innerhalb der Metaphysik, die im weiteren Wortsinn für ein Denken von größter Weite und Tiefe steht. Willensmetaphysik ist dann eine der speziellen Ausgestaltungsmöglichkeiten dieser Metaphysik als eine Auslegung des Seins durch irgendeine Konzeption von Willen. Nun versteht Nietzsche das Willentliche der Willen als Befehlen, Herrschaftsausübung, Sichüberwinden der multiplen Persönlichkeit, Kraftexplosion, Auslösung und Ausströmen von Kraft, als einen Willen, der sich selber die Steigerungsbedingungen der Macht setzt. Damit kann mindestens im Sinne der zweiten Bestimmung von Metaphysik von einer Willensmetaphysik bei Nietzsche gesprochen werden. 37 Zur sachlichen Unhaltbarkeit des willensmetaphysischen Daseinsverständnisses vgl. A. K. Wucherer-Huldenfeld (1996), Grundgedanken bei Freud und Nietzsche im Blick auf die Sachproblematik der Metaphysik des Willens, 62 ff. Das Gesagte mindert nicht die hellsichtige Aktualität von Nietzsches Denken, das eine Welt beschreibt, die nur als Sichbemächtigenwollen, Herrwerden über etwas, vorsätzliches Sichdurchsetzen, Sicheinsetzen für etwas, Selbstexpansion usw. zugelassen wird.
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schreienden Genoziden – ihre politische Entsprechung bis in den Alltag hinein zu finden. Was nottut, wäre eine völlige Umkehr, eine Abkehr von einem Denken und Sichverhalten, das sich die Unbekanntheit des Anderen und seiner Welt unterwirft, hin zu einem Sichbetreffenlassen durch die uneinholbare »Anderheit« (altérité) des/ der Anderen. Darum geht es unübergehbar im Denken von Emmanuel Lévinas, doch leider in exklusiver Einseitigkeit, insofern er meint, das Anders-Se i n des ,bist‘ ausklammern zu können. Doch wie wäre die Erfahrung der Anderheit des Anderen möglich, die den totalen Herrschaftsanspruch universeller Subjektivität des transzendentalen Ichs umstürzt, wenn wir die grundstürzende Erfahrung des allen Seienden vorgeordneten und jeweils zueigenen Seins hintanhalten? Lévinas erblickt jedenfalls in der Anderheit des Anderen den konkreten Ursprung und hinreichenden Begründungsanspruch für eine neue Sittlichkeit, weil ihr die unbedingte Übernahme von Verantwortung für eben diesen Anderen entspringen soll. Sie scheint der Geschichte abendländischer Metaphysik abzugehen, wenn auch, um nur ein Beispiel zu nennen, viele mittelalterliche Denker die »Nicht-Mitteilbarkeit« (incommunicabilitas) für den wesenhaften Grundzug des Personseins gehalten haben, dem in Liebe zu entsprechen ist.38 Für Lévinas kann aber eine Ontologie mit ihrem totalitären, gewaltsam sich alles unterwerfenden und einverleibenden Denken niemals das grundlegende Geschehen enthüllen und die anfängliche, Erste Philosophie sein, sondern allem voran muss Philosophie mit der in die Verantwortung rufenden Berührung mit dem Anderen von Angesicht zu Angesicht anfangen. Daher wird die Stelle einer prima philosophia von der Ethik eingenommen. Der Vorrang des Subjekts des Anderen wird nicht durch die sich selbst behauptende Substanzialität, durch die universelle transzendentale Intentionalität und auch nicht durch das anonyme Seinsverstehen begründet und gewahrt, sondern durch die ethische Verantwortung. Was versteht Lévinas unter dem Sein der Ontologie? »Das Sein hat immer zu sein, das Sein ist conatus essendi – im [praktischen] Leben ist es sofort Krieg.«39 Conatus essendi ist ein Grundwort spinozistischer Philosophie. Bei Spinoza bringen die Dinge Gottes unendliche Mächtigkeit in unendlicher Mannigfaltigkeit auf endliche Weise durch den conatus zur Darstellung. Spinoza versteht darunter die dauernde Bedürftigkeit, Begehrlichkeit, das bewusste Streben, Wünschen und Wollen, und zwar als dauernden Versuch, sich im Sein und Handeln (agere) zu erhalten (conser-
38 Etwa bei Richard von St. Viktor und besonders in den Franziskanerschulen (Johannes Duns Scotus, Alexander von Hales u.a.). 39 E. Lévinas, Humanismus des anderen Menschen, 136.
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vare) und zu beharren (perseverare).40 Was zu sein hat, ist nicht das jeweilige Dasein, nicht jemand selbst, sondern ein vom conatus umgetriebenes Sein. Der conatus meint dabei kein psychologisches Vermögen, keine besondere Fähigkeit, ja überhaupt nichts, was einem Subjekt, einer Person oder einem Ding zu eigen sein könnte, sondern es verhält sich umgekehrt: Er ist dasselbe wie die Urmacht (potentia rei), die bestimmt, wodurch und was Seiendes ist. Daher halten wir etwas für gut, weil wir es betreiben, erstreben, wollen oder wünschen, und wir nehmen es nicht deshalb an, weil wir es für etwas halten, das in sich gut ist.41 Jedes Ding widersetzt sich der Aufhebung seiner Existenz. Selbstzerstörerisches hat das Ding nicht in sich, es weicht nur der Übermacht der Selbstbehauptung anderer. Was sich gegen die Selbstaufhebung richtet, das ist immer das Bestreben und die Anstrengung, im Existieren zu beharren – genau dies ist der conatus essendi; dessen Esse ist bei Spinoza existentia –, also nicht abgründiges Anwesen, das sich dem Anwesenden gewährt. Lévinas beruft sich auf diese von Spinoza markant formulierte Traditionslinie. Nietzsche hat sie durch den Gedanken der Selbstbehauptung durch Machtsteigerung (zum Zweck des Machterhalts) überbietend fortgesetzt.42 Das spinozistische Sein hat nun für Lévinas etwas Entpersonalisierendes und Anonymes. Lévinas weist also nur eine bestimmte Gestalt der sogenannten ,Willensmetaphysik‘ zurück,43 die er kaum verhüllt der ganzen abendländischen Ontologie (Metaphysik) zu unterstellen scheint. Sein großes Verdienst liegt darin, für den Zusammenhang von Metaphysik (Ontologie) und einer Politik der Gewalt gegen Andere sensibel gemacht zu haben. Die Ethikbegründung von Lévinas besticht durch ihre Lebensnähe und wird vor dem alttestamentarischen Hintergrund verständlicher. Die üblicherweise mit »Du sollst nicht töten!« übersetzte Weisung, nicht zu morden, wurzelt bei Lévinas vor aller Verallgemeinerung konkret im lautlos-flehenden Anspruch des Blicks, der einen ethisch bedrängt und sagt: »Du wirst mich [doch] nicht töten [wollen]!« 44 Mit 40 Spinoza, Ethica, pars III, prop. VI und VII, in: Opera, Bd. 2, 146. 41 A.a.O., prop. VIII–IX. 42 G. Abel, Nietzsche, 49–59 u.ö. 43 Auf seine Auseinandersetzung mit Sartre wird noch einzugehen sein. 44 E. Lévinas, Humanismus des anderen Menschen, XI. – Die biblische Weisung in Ex 20,13 und Dt 5,17 ist möglicherweise als persönlich gewendete beschwörende Bitte zu verstehen: Weil Du aus Ägypten, dem Sklavenstaat, zur Freiheit befreit wurdest (Ex 20,2; Dt 5,6), deswegen wirst Du als solcherart Befreiter, der Du bist, doch nicht töten! Aus demselben Grund ist dieser alttestamentlichen Weisung vorgeordnet: »Du wirst doch Deinen Vater und Deine Mutter ehren!«, die Dich zu ureigenstem Sein freigegeben haben, das Du, so lange Du lebst, ihnen verdankst. Zu bedenken wäre auch, dass die Freigabe zu ureigenstem Sein nicht im Horizont der Subjektivität, sondern als Antwort auf das Widerfahrnis des Andersseins des Anderen zu verstehen ist, wobei in einer lebendigen Beziehung Nähe und Fremdheit in gleicher und nicht umgekehrter Proportion miteinander wachsen.
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dieser Epiphanie des Blicks des Anderen sind wir weit entfernt von einer den Angriff hemmenden Unterlegenheitsgeste oder Demutsgebärde, die aus ethologischer Sicht automatisch (instinktiv) eine Aggressionshemmung bewirken, zum Beispiel wenn der Artgenosse des angreifenden Wolfs sein Gefrieß abwendet, um ihm den tödlich verletzbaren Hals zum Zubeißen zuzukehren. Doch das flehende Aufschauen eines Menschen, das kein Wegsehen, kein Senken des Blicks, kein Aufgeben und Sichgeschlagen-Geben ist, wehrt den Gewalttäter nicht automatisch oder instinktiv ab, und schon gar nicht, wenn Erwartungsangst oder Brutalität und Gier, Zerstörung oder Verfallen das Gesicht entstellen. Für manche ist ein befremdendes Anderssein Beweggrund genug, um zu töten. Vielmehr erhebt sich aus dem menschlichen Antlitz eine Forderung, die mich in absolute Verantwortung versetzt. Da ist etwas in dem nackten Gesicht, eine unantastbare Sakralität leuchtet im Antlitz auf, die mich unvermittelt gefangen nimmt und die als intentional Fassbares, als vorhandenes Sein, verkannt würde. Das Antlitz des Anderen wird in jüdischer Tradition von der Spur (trace) her gedacht, ist aber keine Spur, welche eine Fährte identifizierbar macht, sondern geschieht nur als Vorübergang, und zwar als Vorübergang des ,Oh, Er ist da‘ (Jahwe).45 Daher gibt es keinen Gottesbezug ohne den Anderen, ohne die Annahme des Anspruchs Gottes als ethisches Handeln. Anlässlich des Aufblitzens des Ewigen im Augen-Blick (mhd. blick = Blitz), das jedem Beobachten entgeht, verlässt einen Menschen die Gewaltbereitschaft und er weiß sich in die unbedingte Verantwortung für den Anderen genommen. Dass dies die sittlich stimmige Antwort ist, wird eigentlich vorausgesetzt und zehrt von einem faktischen Konsens als Vorverständnis für das, worum es da bedingungslos geht: Dass es gut ist, dass es mir nicht nur oder vorrangig um mein eigenes Sein geht, sondern (auch) um das Sein des Anderen, und zwar um seinetwillen. Die unbedingte Erfahrung und bedingte Beurteilung sittlicher Stimmigkeit solchen Verhaltens ist nicht dasselbe wie die Begründung einer Ethik, die solchem Verhalten gilt. Zudem ist der Anspruch des Anderen auch nicht ontologiefrei oder »jenseits des Seins«, musste der Andere doch als der Seiende oder die Seiende in seinem/ihrem irreduziblen Anderssein und in der Offenständigkeit seines/ihres Anwesens mir gegenüber vernehmbar gewesen sein. Der mich betreffende Mensch muss ja mir gegenüber aus dem Offenen seines und unseres gemeinsamen Weltaufenthalts heraus leibhaftig anwesend geworden sein, sonst könnte ich ihn gar nicht gewahren. Wie könnte er mich sonst etwas angehen? Auch ist das Sein des Guten kein abstraktes Prinzip, keine Idee; längst bevor ich es zulassen und Anderen in ihrer verletzlichen 45 Vgl. B. Waldenfels, Das leibliche Selbst, 297 ff.
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Würde zugestehen kann, ist mir dieses verletzliche Sein, das ich selbst bin, konkret leibhaftig durch Andere aus der Welt zuteilgeworden und gibt es mich und dich lebenslang immer schon als zum Sein freigegebene ,Dritte‘, nicht im Sinne rechnerischer Größen verstanden. Ich selbst verdanke dieses Geschenk meines Seindürfens Anderen und bin schon pränatal, längst bevor man mein Antlitz erblicken konnte, die/der Andere gewesen, und bin die/der im Anderssein Andere zu allen uns Begegnenden, und zwar habe ich mich, nicht ohne den sittlichen Anspruch konkreter Anderer, selbst entgegen- und anzunehmen. Die von Lévinas eingemahnte unpersönliche Namenlosigkeit im »Il y a«, ,Es gibt da‘ (entsprechend dem lat. habet) Sein/Seiendes im Sinne eines nivellierten Seinsverständnisses, nämlich eines Existierens im Allgemeinen, dieser bedrückende Nachtgedanke eines Schlaflosen sagt völlig anderes als Gegeben- und Gewährtsein des Seienden, das ich bin und das du bist‘.46 Das hier Waltende ,Es gibt‘ muss nicht von vornherein apersonal (unmenschlich), sondern könnte auch transpersonal verstanden werden, was eine eigene Erörterung verdiente. Sollte diese Kritik an Lévinas, welche die Untrennbarkeit von Sein und Gutsein einfordert, zutreffen, dann ist es nötig, nochmals auf unser verbales Seinsverständnis zurückzukommen, aus dem und auf das wir uns selbst verstehen. Erst eine weitere Freilegung unserer ursprünglichen Grunderfahrung des Seins lässt die Entscheidung zu, ob die Rede von einem ursprünglichen Ethos und von Ethischem und damit von einem Praktischwerden der Metaphysik, sofern sie phänomenal anfänglicher gedacht wird, zulässig ist oder nicht.
Fünfter Exkurs
7.3 Fünfter Exkurs: Das Gutsein als ontologisches Ursprungsphänomen praktischer Philosophie
Wenden wir uns nun uns selbst zu, dann können wir gewahren, dass wir unseres eigenen offenen Anwesens mit Anderen in der Welt inne sind und dass uns in ihr Zeit zu sein gegeben ist. Der Hinweis auf diese Grund- und Urerfahrung ist, wie wir wissen, nicht zu verwechseln mit der verdinglichenden Aussage, dass wir als faktische Gegebenheiten in der Welt antreff- und beobachtbar sind, denn nur innerhalb des uns vorgegebenen Offenseins und Miteinanderanwesens für uns ansprechbare Gegebenheiten des Anwesenden ist Beobachtung möglich. Das zeitwörtlich verstandene Sein (Anwesen der Anwesenheit) des Seienden, das ich bin, das du bist und das wir sind, währt als meines, deines und als Sein, das wir miteinander teilen, und dies 46 Vgl. dazu B. Klun, Das Gute vor dem Sein, 68 – 94, 149 –154, der die unmittelbar nicht synthetisierbare Differenz im Seinsverständnis von Lévinas und Heidegger sorgfältig herausarbeitet.
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nur dadurch, weil wir jeweils sind und zu sein haben. Dieses, dass je ich selbst zu sein habe, dass je du selbst zu sein hast und dass wir zu sein haben, ist als eine einzigartige Weise des Zuteilwerdens von Sein nichts bloß Allgemeines oder Individuelles, sondern jeweils eine einzigartige Bestimmung (Schicksal, Sichfügen) und ,Geschick‘, für das zunächst noch nicht entscheidbar ist, ob damit ein persönliches, apersonales oder transpersonales Bestimmtsein gemeint sein kann. Was unbestreitbar ist, ist nur, dass wir uns in die Erfahrung, dass wir sind und zu sein haben, jederzeit, solange wir sind, zurückrufen lassen können. Dieses Geschick tritt schärfer hervor, wenn wir denkend bei der Einzigartigkeit unseres Daseins verweilen und gewahr werden, wie fragwürdig es ist, dass es zu dieser Bestimmung kein kontradiktorisches Gegenteil gibt. Es können einen da Fragen überkommen wie: Warum bin ich ,ich‘, ich selbst, und nicht du? Warum bist du ,du‘, du selbst und nicht ich? Warum bin ich ,ich‘, diese oder dieser – könnte ich nicht ebensogut eine Andere oder ein Anderer sein? Warum bin ich nicht anderswo oder zu einer anderen Zeit oder in einem anderen kulturellen Umfeld zur Welt gekommen? Also warum bin ich gerade nur diese da oder dieser da und warum absolut keine Andere oder kein Anderer? Und warum die Unausdenkbarkeit dieses ,Warum‘? Das sind erregende Fragen, die uns, wenn wir sie zu beantworten suchen, kein Rätsel lösen, sondern uns nur vor das Faktische unseres Daseins bringen und es vergegenwärtigen lassen: Ich bin derjenige, dem unabwendbar dieser Ort zugewiesen ist, an dem ich standzuhalten habe, dem diese Zeit zuteilgeworden ist, um ich selbst zu sein und mein Dasein auszutragen, der unabänderlich im Empfang dieser Zeitspanne meines Seins existiert und nur dieser zu sein hat. Das ist je mein, je dein, je unser unhintergehbares Geschick, von dem man sich zwar abkehren kann, aber auch dann sind wir jeweils selbst der uns eigenen Anwesenheit überantwortet. Niemand kann der ontologischen Faktizität entrinnen, zu der es eben kein kontradiktorisches Gegenteil gibt. Kein innerweltlicher Kausalprozess, keine Evolution, macht diese Herkunft verständlich, sondern es verhält sich umgekehrt, meine evolutive und generative Herkunft habe ich nur als dieses innerweltliche Seiende da, weil es mich gibt und weil überhaupt allem, was ist, zu sein gegeben ist. Das menschliche Phänomen ist etwas, das aller gegebenen Möglichkeit des Machbaren, Herstellbaren, Produzierbaren dem Rang nach vorausgeht, etwas, das ,schlichthin‘ existenzielles Staunen hervorruft, sobald wir diesem beim Wort genommenen ,Zu-fall‘, der nicht durch Rekurs auf eine die Einzigartigkeit überfliegende Etikettierung mit blindem Zufall oder Kontingenz abzutun ist, in seiner Bedeutungsfülle nachgehen. Dieses Urphänomen, dass wir uns als Seiende mitten unter anderen Seienden in der Welt auf uns als solche verstehen, denen zu sein gegeben ist und denen Sein
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überantwortet wurde, hat bekanntlich Heidegger, vielleicht nicht sehr glücklich, »Geworfenheit« im Sinne von »Faktizität der Überantwortung« genannt. Diese besagt: »dass es [Dasein] ist und zu sein hat«.47 Die Faktizität ist besonders unmittelbar in der Befindlichkeit, in den Grundstimmungen und in eins mit ihnen im Selbersein-Können so erschlossen, dass wir selbst als diese Erschlossenheit ,ek-sistieren‘. Übrigens rühren wir alltäglich mit der Frage ,Wie geht es Dir?‘, an das Hintergründige dieser stimmungsmäßigen Selbsterschlossenheit. Wie steht es um dich, wenn es dir um das Dasein miteinander in der Welt selbst geht? Wir haben nun vergegenwärtigt, dass Dasein ist und zu sein hat; niemand kann ihm, solange es ist, was es ist, und sich ereignet, entrinnen; wir können uns davon abkehren, aber auch so sind wir ihm überantwortet. Diese Faktizität, dass Dasein ist und zu sein hat, ist keine reflexive urteilsmäßige Feststellung beobachtbarer Tatsächlichkeit meines/deines Vorhandenseins in nachträglicher theoretischer Distanz. Ontologisch abgründige Faktizität und ontisch hingewürfelte Tatsächlichkeit sind hier streng auseinanderzuhalten. Die Beobachtung, dass irgendjemand tatsächlich vorhanden ist und einen Seinsbestand besitzt, mit dem man rechnen muss, ist ja nur möglich, wenn dem Dasein, wie gesagt, schon zuvor erschlossen ist, »dass es ist und zu sein hat«. Nur für jemanden, der schon ist und zu sein hat, ist eine Selbstbeobachtung möglich. Die Distanz, die das Feststellenwollen schafft, ist aufzugeben und in eine horchend aufgeschlossene Haltung zurückzunehmen, um dem Zu- und Anspruch dessen, was ist, horchend zu ,ent-sprechen‘. Des Seins, das sich in einem lautlosen Zu- und Anspruch erhebt, werden wir nur in horchender Offenheit inne. Im Versuch, den Anspruch des Seins zuzulassen, erfahren wir uns offen für die unscheinbare Sprache dessen, was uns im Offenen des Seinsganzen angeht. Dabei können wir nicht von uns absehen, weil wir es ja selbst sind, die unter dem Anspruch übereigneten Anwesens stehen. Ohne unser Menschsein besteht gar kein solcher Anspruch, wenn nicht wir selbst es sind, die sich zu diesem Anspruch verhalten, dem Phänomen folgen, seine Forderung ,ge-horchend‘ vernehmen. Damit sind wir vorbereitet, einen weiteren Schritt zu tun. Gesagt wurde: Zu sein ist uns so gegeben und mitgeteilt, dass wir zu sein haben. Dieses Haben ist nicht possessiv gemeint im Sinne von ,es steht zur Verfügung‘, ,es steht zur Disposition‘, obwohl es den Charakter anzueignenden Gegebenseins nie verliert. Ontologische »Faktizität der Überantwortung« des Daseins besagt aber anderes. Achten wir auf den Tonfall, der im ,Du hast zu sein!‘ liegt. So ist aus dieser Faktizität des Zu-sein-Habens ein einzigartiger Anspruch herauszuhören: der 47 M. Heidegger, GA, Bd. 2: Sein und Zeit, 180.
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48 Dazu vgl. A. Camus, Essays, Bd. 1: Le Mythe de Sisyphe (1943), dort: L’absurde et le suicide, 99–104: »Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Sich entscheiden, ob das Leben es wert ist, gelebt zu werden oder nicht (Juger que la vie vaut ou ne vaut pas la peine d’être vécue), heißt auf die Grundfrage der Philosophie antworten.« Es ist »der Sinn des Lebens die dringlichste aller Fragen«. (Je juge donc que le sense de la vie est la plus pressante des questions.) (99) Hat es Sinn zu sein oder nicht, ist zu sein besser als nicht zu sein?
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schlichte Anspruch zu sein, die Herausforderung, die/der zu werden, die/der du eigentlich bist, und zwar auf Grund dessen, was nur du und niemand anderer an deiner Stelle zu sein vermag. Dass es Sein gibt und dass du dieses Sein in der Zeit zu sein hast, besagt, dass es dir aufgegeben, dass es ,Auf-gabe‘ ist – freilich immer mit Anderen, für sie und von ihnen her. So gewahren wir einen Anspruch, der uns an- und aufruft, dem, was uns gegeben ist, mit allen seinen jeweiligen Möglichkeiten und Notwendigkeiten zu ,ent-sprechen‘: ganz selbst zu sein und zu werden. Zu-sein-Haben nimmt uns in Anspruch wie ein Appell, eine Anforderung mit dem kategorischen Todernst des Unbedingten, der kein Wenn und Aber kennt. Solange wir zu sein haben, sind wir schuldig, dem uns überantworteten Sein und der damit erteilten Aufgabe zu entsprechen, was einschließt, dass wir auch im Sinne sittlicher Verfehlung schuldig werden können. Nicht ganz zu Unrecht stößt die Frage nach dem Selbstmord das Tor zur Philosophie auf.48 Aber der hier gemeinte Anspruch, der mich mit der Fragwürdigkeit des Sinns von Sein (Leben, Dasein) überkommt, entlässt uns zunächst in eine Art von vormoralischer Schuldigkeit im Sinne einer permanenten Aufgabe – ein leises Geheiß, ein lautloser Anruf, der nichts von einem diktatorischen Imperativ an sich hat, der unterwerfen wollte –, er ist also kein bloßes verbindlich gemachtes Sollen, aus dem erst ein Können (Sein!) zu postulieren wäre, kein aus dem Himmel gefallenes Sollen jenseits des Seins. Vielmehr verhält es sich umgekehrt: Es ist das Seinkönnen, das alles einbegreift, was wir dem Leben schulden. Persönlich gewendet: Du bleibst es dem Dasein miteinander ,schuldig‘, sinnvoll (nach optimaler Möglichkeit) zu sein und dem entsprechend zu handeln, und zwar immer, solange du bist, ohne dass dieses Schuldigsein etwas Unmoralisches oder ein sittlicher Mangel wäre. Du bist damit auch nicht zum Sein verdammt, als ob du unter einem kategorischen Imperativ eines Gesetzes (Regelwerkes) oder unter dem apersonalen Anspruch eines höheren Ideals stündest, das dich repressiv ,zu sein‘ verpflichtet, sondern freigegeben, erfahren wir uns zunächst als solche, die gewürdigt sind, sein zu dürfen. Dieses Sein-Dürfen besagt geheimnisvolle Ermächtigung, selbst sein zu können. Zu sein ist uns nicht nur gegeben, sodass wir zu sein haben, nicht nur aufgegeben, sodass wir uns zum Sein ermächtigt erfahren, sondern wir sind in ein entsprechendes Verhalten gerufen und dazu ermächtigt. Damit ist ein weiterer Schritt
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im denkenden Vernehmen des Seinsanspruches möglich. Das Sein (des Seienden) gewahren wir so, dass wir uns stets aus dem uns vorgegebenen Sein, das wir zu sein haben, zu diesem Sein verhalten können. Das geschieht freilich so, dass wir uns innerhalb eines situativ und örtlich gebundenen Weltaufenthaltes durch jeweils dieses und jenes Seiende angehen lassen, ohne dass der Seinsbezug auch in der Unmittelbarkeit der eigenen Befindlichkeit thematisch werden müsste. Wir können uns aus dem gegebenen Sein (dem Miteinander-Anwesen in der Welt) heraus zum Sein gar nicht nicht verhalten. Auch das ist unbestreitbar und es gibt kein kontradiktorisches Gegenteil dazu. Dem können wir nicht entrinnen, denn es gibt keine andere Wahl, die nicht unser Miteinander-Anwesen in der Welt sein würde, ja fast könnte man sagen, es habe uns ,erwählt‘. Jedoch ist unsererseits statt Über- und Annahme, deren Übung wir täglich dem Leben schulden, Abkehr oder Flucht, Abweichen oder Abbruch möglich. Aber auch so sind wir konkret dem Sein (in dieser Situation, an einem bestimmten Ort mit Anderen in der Welt) überantwortet. Das heißt, in die Verantwortung gerufen. Dabei ist zu beachten, dass unser Verhalten zum Sein nicht etwas außerhalb des Seins ihm gegenüber ist, sondern dass dieses Sich-selbst-zum-Sein-Verhalten ein aus der Teilnahme am Sein im Ganzen gegebenes Seinkönnen ist, dem Sein frei zu entsprechen, auf seinen Anspruch frei antworten zu können. Dieses aus dem Sein geschöpfte Verhältnis zum Sein kann vielfach verstellt sein, aber es herstellen, das können wir nicht, dies liegt unmittelbar nicht in unserer Verfügung. Nun besteht die Freiheit im Sich-selbst-verhalten-Können in der Mannigfaltigkeit der Möglichkeiten, jeweils selbst zu sein (mit Anderen, im Verhältnis zu Anderen und grundlegender von ihnen her), oder genauer gesagt: Freiheit ist in hier nicht weiter zu differenzierenden Gestalten als befreiendes Zum-Sein-Freigeben zugänglich und erfahrbar. Freigegebenwerden zur Freiheit und Befreien sind Grund-Erfahrungen unseres Mensch- und Personseins miteinander, die mit aufschließen, wer wir eigentlich sind, was wir können, worum es im Dasein geht (um das Gutsein) und welches unsere sittliche Aufgabe ist (die ethische Praxis, das Gewürdigtsein, sich selbst in freier Entschlossenheit gut statt böse verhalten zu können). Mit dem Phänomen des unbedingten In-Anspruch-Genommen-Seins durch das Sein, zu dem wir uns aus dem Sein, es freigebend, verhalten können, ist etwas genannt, das sich als etwas ursprünglich Ethisches erweist und einer wissenschaftlich ausgearbeiteten Ethik als ontologischer, metaphysischer Grund vorausliegt. Dieser Grund geht, als sachlich begründender sowie dem Rang nach, jeder Entzweiung in etwas Faktisch-Vorhandenes und in ein Sollen auf Grund sittlicher Ideale oder zu realisierender Werte voraus. Hier sind Sein und Sollen auf ein und denselben Ursprung
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zurückgenommen, was jedem naturalistischen Fehlschluss spottet. Denn dieser bestreitet zwar zu Recht, dass aus deskriptiv erschlossenen, bedeutungsfreien Fakten eine normativ-praktische Dimension der menschlichen Natur (Physis) erschlossen werden könne, d.h. aber nur, dass er den Schluss aus einem methodisch reduzierten ,Sein‘ (den bedeutungsnackten Tatsachen) auf ein Sollen oder aus Ist-Sätzen auf Sollens-Sätze für illegitim hält. Doch erst im Rückgang auf das unverkürzte Phänomen des Gutseins wird das, was Ethik begründet, das ursprüngliche Phänomen des Ethischen, erreicht. Das leibhaftige Sein im Da, in der offenen Weite, ist »Last«, »Joch«, das Aufgetragene und zu Tragende. Das muss nicht notwendig etwas repressiv Belastendes sein, sondern ist stets das ernsthaft Gewichtige, das dem Dasein überantwortet und übereignet ist. Daher ist es aus der Zugehörigkeit zum Sein selbst zu übernehmen. Dass wir, solange wir sind, niemals etwas anderes als nur zu sein haben, heißt dann erst: dass es dem Dasein um gar nichts anderes gehen kann als um dieses Sein des Daseins selbst,49 und zwar in allem, was es sein kann (Seinsverständnis, sich auf das Sein Verstehen, Seinkönnen), in allem, was es besorgt und worüber es für sich und Andere in Sorge ist. »Als Mitsein ,ist‘ daher das Dasein wesenhaft umwillen Anderer.«50 Ist nun das Gute das, worum willen jemand/etwas ,ist‘, dann heißt Anwesendsein »umwillen Anderer« mit anderen Worten: Wir sind aufgerufen, »das Miteinandersein gut zu vollbringen. […] Wir sind da, um auf gute Weise miteinander dazusein. […] Das Miteinander-Dasein, dessen Gestaltung uns anvertraut ist, ist bereits etwas Gutes. Es trägt seinen Sinn in sich selbst […, so, dass] Sein und Gutsein hier gar nicht zu trennen« sind.51
7.4 Das dem Sein entsprechende Ethos im Unterschied zur Ethik als philosophischer Wissenschaft
Mit dem Gesagten sind wir auf etwas anfänglich Ethisches, das Gutsein selbst, zurückgekommen, dessen wir inne sind, das wir in allem und jedem, das ist, gewahren 49 Vgl. M. Heidegger, GA, Bd. 2: Sein und Zeit, 113, 164. – Das Sein selbst ist hier freilich im Vollsinn gemeint, in seiner Tiefe und Herkunft, in seinen transzendentalen Eigentümlichkeiten, in der Konstitution der Seienden, als überbordende Gabe an das Seiende usw. 50 Ebd., 164. 51 G. Pöltner (1998b), Das Phänomen des Sittlichen, 34 f. Vgl. dazu auch Pöltners Studie über das »Mitsein bei Medard Boss« (1998a), das im Umkreis des Gesprächs von Daseinsanalytik und daseinsanalytischer Psychotherapie zu orten ist. Über die Zugehörigkeit des Gutseins zu den transzendentalen Eigen-tümlichkeiten des Seins wird im folgenden Band der Philosophischen Theologie im Umbruch noch zu handeln sein.
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können. Stets erfahren wir, dass wir anwesend zu sein haben und dass wir infolgedessen dies zur Kenntnis zu nehmen und anzunehmen haben. Anwesend zu sein ist uns aufgegeben, und zwar in aller nur möglichen Leibhaftigkeit anwesend, da im Offenen der Welt, ringsum offen für Begegnendes (Anwesen mit Anderen, Anwesen bei den Dingen, bei den Geschehnissen des Alltags usw.). All das kommt uns immer in und aus einer Welt zu, mit der wir irgendwie immer schon vertraut sind und in der wir uns jeweils in mannigfaltig sich wandelnden Bezügen und Weisen der Offenheit aufhalten, sodass wir sagen können: dein Weltaufenthalt, mein Weltaufenthalt, unser Weltaufenthalt usw. Nun nennt man im Griechischen den Aufenthaltsort, der uns zugewiesen ist zu sein, anwesend zu sein, zu wohnen und dem es aufrecht standzuhal ten gilt – Ethos ( ϑoß). Diesen zu bedenken ist die »ursprüngliche Ethik«,52 welche die Ausarbeitung einer eigenen Ethik im herkömmlichen Sinne nicht überflüssig macht. Ethos ( ϑoß) als Aufenthaltsort, wie er uns zugewiesen ist, oder als Charakter, der das Geschick des Menschen bestimmt, hat auch die Bedeutung von Wohnung, Wohnort, Gewohnheit, Brauch und Sitte.53 Im heutigen Sprachgebrauch umfasst Ethos Grundhaltungen, Wertmaßstäbe, Sinndeutungen und Handlungsregeln sowie deren Institutionalisierungen. Unter Ethos bzw. Moral (lat. mos) versteht man die konkret gelebte geschichtliche Gestaltung der Sittlichkeit einer Gruppe, Gesellschaft oder Epoche mit ihren praktischen Entwürfen, die einem gelingenden Leben Orientierung geben sollen. Dagegen ist Ethik nicht einfach die Verlängerung des moralischen Hausverstandes eines Menschen, sondern die methodisch-kritische Besinnung auf das Sichverhalten unter dem Gesichtspunkt der Findung, Klärung und Begründung der Alternative von verantwortlich und verwerflich, von Gut und Böse. Hier kommt es auf die Unterscheidung von ursprünglicher Ethik und Ethik als philosophischer Wissenschaft an. Ursprüngliche Ethik ist metaphysisches Bedenken der grundlegenden ethischen Aufgabe (wie sie aus dem Sein des zum Handeln aufgegebenen Guten kommt). Ethik als philosophische Wissenschaft (pistmh ϑik) vom Ethos ist als Schuldisziplin ein Teilbereich der Philosophie, und zwar der praktischen Philosophie. Berücksichtigt man aber das ursprüngliche Ethos, verstehen wir uns als Menschen aus dem uns zugewiesenen Aufenthaltsort und von unserer jeweiligen Aufgabe zu sein her, dann ist von ihrer ontologischen Grundlegung her die ganze Philosophie praktische Philosophie, dann wird verständlich, warum man Philoso52 M. Heidegger, GA, Bd. 9: Wegmarken, Brief über den »Humanismus«, 356. 53 Nicht zu verwechseln mit dem fast gleich lautenden Ethos (ϑoß), das nicht mit Eta (h), sondern mit Epsilon (e) geschrieben wird, und das Gewohnheit, Gewöhnung, Lebensgewohnheiten und damit auch Brauch und Sitte bezeichnen kann.
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phie überhaupt primär als Lebenslehre, Lebensweisheit, Lebenspraxis und Kunst der Lebensführung in einem begreifen konnte. Die undifferenzierte Alternative, wonach reine Theorie alle Praxisorientiertheit überschreite oder Theorie nur im Dienst der Lebenspraxis zu rechtfertigen sei, ist falsch, wenn Philosophie ihrem Wesen nach ein Sichöffnen für den Ursprung und Sinn der Praxis ist. Aus dem Gesagten ergibt sich aber, dass eine philosophische Grundlegung der Ethik nicht ontologiefrei oder in ein Jenseits der Ontologie verbannt werden kann. Dennoch ist der Versuch, sich von einer defizitären Ontologie bzw. Metaphysik zu lösen, als Sachmotiv berechtigt, denn Metaphysik steht in der Gefahr, in fernste Fernen weitab praktischer Lebenserfahrung zu entschweben. Wie oben gezeigt, impliziert jeder Fachbereich der Philosophie den Bezug zum Ganzen und zum Grund. Das gilt in besonderer Weise auch von der Ethik als dem Zentrum praktischer Philosophie. So gesehen ist es als Anliegen legitim, die Ethik zum Ausgangsort philosophischer Theologie zu machen, was im Rahmen der anthropologischen Gottesbeweise als »moralischer Gottesbeweis« noch zu diskutieren sein wird.54 Allein diese Versuche erweisen sich nur als haltbar, wenn ihre ontologischen Grundlagen nicht verkannt werden, die uns phänomenologisch zurück in »die Nähe des Nächsten«,55 das heißt hier zum Sein in seinen transzendentalen Eigentümlichkeiten des Wahr- und Gutseins, bringen. Diese Nähe des Nächsten meint nicht einfach das für unser Erfassen phänomenal Nächstliegende (Seiende), sondern das phänomenologisch, von der Sache her verstandene Nächstliegende, das Sein, welches als Wesensraum des Göttlichen, das näher als alles Nächste ist, zur Erfahrung und in Frage zu kommen vermag. Wir erfahren Sein als »die Nähe des Nächsten«, obwohl diese einem faktisch als fern liegend erscheinen kann. Zur Nähe des Nächsten gehört auch die Ferne des Fernsten, deren Anwesen und Abwesen, Unverborgenheit und Verbergung, Aufgang und Untergang. Wir suchen jedes die Erfahrung übersteigende, sich hinaufsteigernde und verstiegene und insofern erfahrungsferne Denken loszulassen. Denn wie sollte es etwas Gutes, das unser Dasein trägt, unter Abstraktion vom Sein und unter dieser Voraussetzung jenseits des Seins geben? Aber das Wort von der ,Nähe 54 Es ist hier in einer geweiteten Sicht auf Kants Anliegen einer »Ethikotheologie« (KU, § 86) oder »Moraltheologie« (im Unterschied zu einer »theologischen Moral«, die Gottes Dasein voraussetzt) einzugehen (vgl. KrV, B 660, 664, 842 ff.), welche das »Dasein eines Welturhebers« aus der »sittlichen Ordnung und Vollkommenheit« der Welt bzw. Kausalität der Freiheit erschließt, und zwar nicht bloß durch einen spekulativen, sondern auch durch einen praktischen Gebrauch der Vernunft. 55 Zu dieser Formulierung vgl. M. Heidegger, GA, Bd. 9: Wegmarken, Brief über den »Humanismus«, 352.
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des Nächsten‘ könnte man auch für eine Äquivokation halten, wenn man darunter entweder das Sein als das Nächste oder davon abgehoben den Mitmenschen als die oder den uns gegenüber Nächsten versteht. Gewiss, um diese mitmenschliche ,Nähe des Nächsten‘ geht es wohl immer, und wir sind aus ihr konkret in die Verantwortung gerufen, die Gegenwart der/des Anderen »von Angesicht zu Angesicht« (Lévinas) zuzulassen, ihr Raum und Zeit zu geben, wohlgemerkt: Raum und Zeit, um zu sein – anders ist jemand Anwesender nicht ohne weltweite Zeitlichkeit und Räumlichkeit seines personalen Seins (Anwesens) wahrnehmbar und denkbar. Freilich muss ich mich dazu aus einer Haltung zurücknehmen, welche die/den Andere(n) auf dem Weg analogisierender Einverleibung meiner Verständniswelt zu unterwerfen sucht, um stattdessen jener Selbstoffenbarung und Seinsmitteilung Anderer in meiner Welt Sein einzuräumen, wodurch sich jemand Anderer in Enthüllung je größerer Unähnlichkeit aus seiner Welt mir ähnlich macht. Abschließend sei nochmals der Zusammenhang der These verdeutlicht, dass die ethische Dimension nicht ohne die ontologische und umgekehrt denkbar ist. Dabei ist ein Kurzschluss zu vermeiden, denn Ethik ist eine Weiterentfaltung der Anthropologie und nicht unmittelbar der Ontologie. In der philosophischen Anthropologie geht es um den personalen Vollzug des menschlichen Verhältnisses zum Sein, um das personal zu vollziehende Sein des Menschen im Reichtum des Mannigfaltigseins, Wahrseins, Gutseins, Schönseins usw. Daher ist der menschlich Nächste (als sie selbst oder er selbst!) immer nur jemand Anwesender, jene Person, die teilhat und teilnimmt am offenbarend-verbergenden Sein, das dem Menschen (im Ereignen) wesenhaft zuteil gegeben und das ihm im Sein füreinander zu hüten aufgegeben ist. Was es mit der ontologischen »Nähe«, diesem »unaufdringlichen Walten« des Seins56 auf sich hat, ohne das mich kein Augen-Blick treffen und kein Gesicht in seiner verletzlichen Nacktheit in die Verantwortung rufen kann, sei nur angedeutet: Es ist nichts Bedrückendes, keine anstrengende Sorge (conatus essendi), keine anonyme Gefangenschaft, kein als totalitär zu identifizierendes Allerallgemeinstes. Das uns gegebene Sein (im Selbstsein, Miteinandersein, In-der-Welt-sein) entzieht sich jedem aufdringlichen Zugriff und ist zunächst in der Abgründigkeit seiner Herkunft verborgen, die als Bereich des Heiligen und Göttlichen für philosophische Theologie in Frage kommt. Nur darin erweist sich unsere Menschlichkeit, dass wir uns selbst und einander in dieser Zugehörigkeit zum Sein, wie es uns jeweils konkret möglich und zu eigen gegeben ist, aktiv zulassen. Das ethisch-praktische Existenzverständnis lässt sich 56 Ebd., 333.
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hier leicht heraushören, besagt ja jedes offenständige ,Ek-sistieren‘ ein Ausstehen, Durchstehen und sorgetragendes Übernehmen und Anteilnehmen am für uns Nächsten, am Sein, wie es uns zeitlich für einander in uneinholbarer Mannigfaltigkeit gegeben ist. Nur in der Zugehörigkeit zum Sein im Ganzen, der Welt-Offenheit, haben wir ( performativ und appellativ verstanden!) für einander zu sein. Dieses Sein ist in seiner Menschlichkeit das »personale Sein«, was das Menschliche (die humanitas) des konkreten Menschen und das Verhältnis der Menschen zueinander wesentlich bestimmt. Diese (vorläufige) Wesensbestimmung des Menschen gibt schon das entbehrte ,Maß‘ für den Unterschied zwischen dem Guten und dem Bösen, zwischen dem Sein und dem Schein und für den Vorzug des Guten vor der Irre und dem Bösen.57 Aber die Entfaltung dieser Unterscheidung für die menschliche Praxis ist kein Thema der Ontologie oder philosophischen Theologie, sondern der Ethik als einer eigenen philosophischen Disziplin, der epochal aufgegeben ist, aus der Dimension des Gutseins des Seins anfänglicher gedacht zu werden. Philosophische Theologie hingegen erwächst aus dem Wurzelgrund der Ontologie als der ursprünglichen Ethik. Sie ist von ihrem Wesen her praktisch orientierte Philosophie und mindestens über eine gründlichere Fassung des Theodizee-Pro blems ausdrücklich praktisch, haltungs- und handlungsanweisend. Diese sucht nicht das absolut Unvereinbare, das Übel in der Welt, mit Gottes allmächtiger Güte spekulativ zu versöhnen, was scheitern muss, sondern sie sucht freizulegen, dass wir selbst im Guten zu sein haben und dass wir uns selbst im Hervorbringen des Guten und im Überwinden von Übeln durch das Gute selbst ermächtigt erfahren, die Übel zu mindern. Diese uns in Würde erhebende Ermächtigung kann zu Recht als ontologische Erfahrung verstanden werden, in der sich ein göttlicher Ursprung und Urquell enthüllt. Denn die uns stets zugesprochene Möglichkeit, gut zu sein und gut zu handeln, erscheint als Gabe, die im Gegeben- und Entgegengenommenwerden wie ein Blitz die Weltnacht in Tageshelle taucht. Die Praxis aus und entsprechend dem Gutsein selbst könnte so als ein sich ereignender Selbsterweis des Daseins Gottes aufgewiesen werden – ein verlässlicher Gotteserweis, weitab von aller Spekulation. Daher der Rückgang in das Denken des uns zugewiesenen Aufenthaltsortes ( ϑoß), wo wir dem Sein, das es gibt (der Gabe des Seins), zu entsprechen haben, indem wir ihm einen Aufenthalt einräumen. 57 Der Einwand, dass die Annahme von so etwas wie einem »Seinsgeschick« irrational sei und fatalistische Irrnis, Schein und Böses impliziere, verkennt den im Seinsgeschick gestifteten Freiheitsbezug des Menschen (zu diesem vgl. G. Pöltner, 2001b, Nihilismus – Grundzug abendländischer Metaphysik?, 125 f.) sowie, dass alles Übel als Privatives nur am Sein (und dem, was wie Gutsein mit ihm konvertibel ist) zu messen und von ihm her erkennbar ist und überdies von den Kräften des Seins, insofern es gut ist, zehrt (vgl. G. Pöltner, 2001a, Das Böse – Wille zum Widersinn).
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Heidegger hat in diesem Zusammenhang auf Heraklits Fragment 119 hingewiesen: ~ ϑoß 2nϑrp damwn. Er übersetzt das mit: »Der (geheure) Aufenthalt ist dem Menschen das Offene für die Anwesung des Gottes (des Un-geheuren).«58 Hier, so ~ Heidegger, bedeutet ϑoß den »Aufenthalt, Ort des Wohnens. Das Wort nennt den offenen Bezirk, worin der Mensch wohnt. Das Offene seines Aufenthaltes läßt das erscheinen, was auf das Wesen des Menschen zukommt und also ankommend in seiner Nähe sich aufhält. Der Aufenthalt des Menschen enthält und bewahrt die Ankunft dessen, dem der Mensch in seinem Wesen gehört. Das ist nach dem Wort des Heraklit […] der Gott. […] der Mensch wohnt, insofern er Mensch ist, in der Nähe des Gottes.«59
58 M. Heidegger, GA, Bd. 9: Wegmarken, Brief über den »Humanismus«, 356. 59 A.a.O., 354 f.
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