Johann Christoph Gottsched und die 'philosophische' Predigt: Studien zur aufklärerischen Transformation der protestantischen Homiletik im Spannungsfeld von Theologie, Philosophie, Rhetorik und Politik 9783161510618, 9783161500145

Andres Straßberger untersucht erstmals die biographischen, geistes- und kulturgeschichtlichen sowie politischen Zusammen

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German Pages 662 [663] Year 2010

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Widmung
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Einleitung
1 Forschungsinteresse, Problemstellung, Quellen
2 Gottsched und die »philosophische« Predigt: ein interdisziplinärer Forschungsüberblick
3 Aufbau der Arbeit
KAPITEL 1 Gottscheds biographische Synthese von Theologie, Philosophie und Literatur: Entwicklungslinien bis zum Erscheinen der Erste[n] Gründe der gesammten Weltweisheit (1733/34)
1 Königsberg: von der Theologie zur Philosophie
1.1 Der Theologiestudent
1.2 Der Bruch mit der orthodoxen Theologie
1.3 Die Hinwendung zur Philosophie
2 Leipzig: vom Magister zum Professor der Philosophie
2.1 Die Leipziger Habilitation (1724): die Theodizee-Frageim Spannungsfeld von Theologie und Philosophie
2.2 In der »Gesellschaft der Aufklärer«
2.3 Aberglaubenkritik und Tugendpropaganda: »bürgerliche Volksaufklärung« in Gottscheds moralischen Wochenschriften
2.4 Vom Lehrer der Poesie zum Professor der Philosophie (1734)
2.5 Krypto-Deist und geheimer Vorläufer der Neologie?
2.6 Gottscheds Erste Gründe der gesammten Weltweisheit: der Übergang zur Popularphilosophie
KAPITEL 2 Gottscheds Theorie der »philosophischen« Predigt
1 Die homiletischen Frühschriften
1.1 Zum Wandlungsprozeß des decorum in der Aufklärungshomiletik: die katholische Barockpredigt im Geschmacksurteil Gottscheds – ein Gelegenheitsgedicht (1724)
1.2 Die Priorität des Denkens vor dem sprachlichen Ausdruck: ein Beitrag in den »Vernünftigen Tadlerinnen« (1726)
1.3 Predigttheorie als Teil der Rhetorik: das erste rhetorische Lehrbuch (1728)
1.3.1 Die rhetorisch-philosophischen Grundlagen
1.3.2 Die theologisch-homiletische Begründung
1.4 Der »bunte Kram der orthodoxen Kunstmethoden«: die aufklärerische Kritik an orthodoxer Homiletik
1.4.1 »Die rechte Art zu predigen« (1730): ein weiteres Gelegenheitsgedicht
1.4.2 »Wider die homiletischen Methodenkünstler« und »wider die sogenannte Homiletik«: zwei satirische Reden
2 Die »Ausführliche Redekunst« (1736)
2.1 ». . . so sind die Regeln der Redekunst allgemein«: die Predigt – als Rede betrachtet
Exkurs: Die homiletische Lutherdeutung Gottscheds: Aufklärungals Fortsetzung und Vollendung der Reformation
2.2 ». . . die göttlichen Wahrheiten mit einer edlen Einfalt und Lauterkeit fortgepflanzet«: das homiletische Ideal der christlichen Antike im Rahmen von Gottscheds rhetorischem Klassizismus
2.2.1 Die ethische und ästhetische Vorbildfunktion der Kirchenväter
2.2.2 Die Rezeption französischer Vorbilder
2.2.3 Homiletikgeschichtliche Wirkungen: Andeutungen und Ausblicke
2.3 Die Praxis der »philosophischen« Predigt: eine Weihnachtspredigt Gottscheds (1729)
3 Der »Grund-Riß einer Lehr-Arth ordentlich und erbaulich zu predigen« (1740)
3.1 Axiomatik und Gliederung des homiletischen Systems: »Erbauung« als Strukturprinzip
3.2 Die Anthropologisierung des Erbauungsbegriffs
3.3 Reaktionen und Rezeptionen
3.3.1 Zeitschriftenpresse
3.3.2 Akademische Vorlesungstätigkeit
3.3.3 Literarisch-materiale Rezeption: drei Beispiele (Johann Matthias Cappelmann, Johann Melchior Goeze, Rudolph Graser)
3.3.4 Strukturelle Rezeption
KAPITEL 3 Die Propaganda der »philosophischen« Predigt im Gottsched-Kreis
1 Die Deutsche Gesellschaft zu Leipzig und ihre Tochtergründungen
1.1 Sitzungsreden
1.2 Predigtübersetzungen
1.3 Predigtpublikationen und homiletische Fachliteratur
2 Gottscheds Rednergesellschaften
2.1 Organisation, Mitgliederstruktur, Arbeitsthemen
2.2 Johann Adam Löw (1710–1775): zur kirchlichen Karriere eines homiletischen Gottsched-Schülers
3 Die »Gesellschaft der Wahrheitsfreunde« (Societas Alethophilorum)
3.1 Johann Gustav Reinbecks homiletische Synthese von Pietismus und Aufklärung
3.2 Die preußischen Kabinettsordern vom 7. März 1739 und 8. Februar 1740
3.2.1 Zur kulturpolitischen Vorgeschichte
3.2.2 Entstehung, Inhalt und Durchführung der Ordern
3.3 Graf Manteuffel als Predigtreformer und die Entstehung von Gottscheds Predigtlehrbuch
KAPITEL 4 Der kirchenpolitische und publizistische Streit um die »philosophische« Predigt
1 Die lutherische Orthodoxie
1.1 Sanktionen der kursächsischen Kirchenleitung
1.1.1 Das Verhör Gottscheds vor dem Dresdner Oberkonsistorium (1737)
1.1.2 Das Verbot der »philosophischen« Predigt (1742)
1.2 Zwischen Elenchuspraxis und Satirekritik: der publizistische Kampf der Orthodoxie gegen die »philosophische« Predigt – das Beispiel Gottfried Kohlreif(f)s
2 Pietismus und »philosophia eclectica«
2.1 Die Kritik der »hallischen Schule«
2.1.1 Joachim Lange (1735)
2.1.2 Johann Christoph Schinmeier (1737)
2.1.3 Johann Jacob Moser (1740/41)
2.2 Göttinger Interventionen
2.2.1 Die Stellungnahmen Joachim Oporins (1736–1741)
2.2.2 Von Rudolph Anton Brauns (1739) zu Christian Kortholt (1746)
KAPITEL 5: Die Krise der »philosophischen« Predigt
1 Die Herausforderung durch die »ästhetische« Predigt
1.1 Die Kritik Georg Friedrich Meiers (1753/54)
1.2 Reaktionen
2 Die Herausforderung durch die »moralische« Predigt
2.1 August Friedrich Wilhelm Sack (1750) und Johann Joachim Spalding (1761)
2.2 Ausblick
Schlußbetrachtung
Quellenanhang
1 Friedrich Wilhelm I. an die Pröpste Roloff und Reinbeck, 18. November 1736
2 Die preußischen Kabinettsordern vom 7. März 1739 und 8. Februar 1740
3 Friedrich Wilhelm I. an Johann Gustav Reinbeck, 8. Februar 1740
Quellen- und Literaturverzeichnis
1 Archivalien
2 Gedruckte Quellen bis 1800
3 Gedruckte Quellen und Literatur ab 1801
Personenregister
Sach- und Stichwortregister
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Johann Christoph Gottsched und die 'philosophische' Predigt: Studien zur aufklärerischen Transformation der protestantischen Homiletik im Spannungsfeld von Theologie, Philosophie, Rhetorik und Politik
 9783161510618, 9783161500145

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Beiträge zur historischen Theologie Herausgegeben von

Albrecht Beutel

151

Andres Straßberger

Johann Christoph Gottsched und die »philosophische« Predigt Studien zur auf klärerischen Transformation der protestantischen Homiletik im Spannungsfeld von Theologie, Philosophie, Rhetorik und Politik

Mohr Siebeck

Andres Strassberger, geboren 1968; Studium der Evangelischen Theologie in Leipzig und Prag; 1999 bis 2004 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig; 2007 Promotion.

e-ISBN PDF 978-3-16-151061-8 ISBN 978-3-16-150014-5 ISSN 0340-6741 (Beiträge zur historischen Theologie) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar. © 2010 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und straf bar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfi lmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen aus der Bembo-Antiqua gesetzt, auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.

In Erinnerung an meinen Vater Pfr. i. R. Eberhard Straßberger * 27. 3. 1942 – † 19. 11. 2009

Vorwort Vorliegende Studien entstanden während meiner Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für neuere und neueste Kirchengeschichte der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig sowie im ersten Jahr meiner Tätigkeit als Geschäftsführer des Landeskirchlichen Prüfungsamtes in Leipzig. Zahlreiche Rückschläge, deren schwerwiegendster der Tod meines ersten Doktorvaters Prof. Dr. Kurt Nowak (1942–2001) war, verzögerten sowohl Anfertigung als auch Publikation der Arbeit immer wieder. Dank der großartigen Unterstützung Prof. Dr. Albrecht Beutels (Münster), der die Anfertigung der Studien darauf hin entscheidend vorangetrieben hat, konnte die vorliegende Arbeit im Juli 2007 an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig als Dissertation erfolgreich verteidigt werden. Bei aller Freude über das Erreichen dieses Etappenziels lag über diesem Tag gleichwohl ein Schatten: Prof. Dr. Dr. h. c. Günther Wartenberg (1943–2007), zweiter Gutachter der Arbeit, erlag einen Tag zuvor überraschend einer schweren Krankheit. Meinen Dank für sein beobachtungsreiches Gutachten konnte ich ihm daher leider nicht mehr persönlich abstatten. Mit der Veröffentlichung dieser Studien haben meine Forschungen über Gottsched als Theoretiker und Popularisator eines auf klärerischen Predigtverständnisses ihren vorläufigen Abschluß gefunden. Für den Druck wurde die Untersuchung nochmals überarbeitet und um einige wenige, zwischenzeitlich neuaufgefundene Quellen ergänzt. Angesichts des langen Entstehungs- und Verschriftlichungszeitraums konnte es nicht ausbleiben, daß sich der Verfasser im Rahmen der verhandelten Sachzusammenhänge von anfänglichen »Sehepunkten« entfernte und sukzessive zu neuen Positionen gelangte, insbesondere hinsichtlich der historischen und theologischen Beurteilung des Auf klärungsprozesses in Deutschland. Die Beseitigung diesbezüglicher Ungleichmäßigkeiten erschien jedoch weder arbeitsökonomisch angemessen noch historiographisch notwendig zu sein. Denn auch ohne derartige Ausgleichsbemühungen kann sich jede interessierte Leserin und jeder interessierte Leser ein hinreichend anschauliches und vielgestaltiges Bild von jenem noch immer weithin »unerforschten Land« machen, über dessen »Erkundung« vorliegende »Reisebeschreibung« Bericht gibt. Meine Arbeit hat viele Mithelfer und Unterstützer, die im Großen und Kleinen einen Anteil an deren Gelingen haben. Neben Kurt Nowak, dem

VIII

Vorwort

ich die »Bekanntschaft« mit Gottsched und bis zu seinem Tod erhebliche Förderung verdanke, und Albrecht Beutel, dem ich nicht zuletzt auch für die Aufnahme dieser Studien in die Reihe »Beiträge zur historischen Theologie« zu großem Dank verpfl ichtet bin, ist vielen weiteren Personen und Institutionen herzlich zu danken. Stellvertretend seien genannt: Prof. Dr. Ernst Koch (Leipzig) für seine stete Ermutigung zum »Querdenken«; dem Münsteraner Kirchengeschichtlichen Oberseminar II für wichtigen Antrieb und kluge Impulse; den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Leipziger Universitätsbibliothek, insbesondere Frau Renate Rochler und dem Personal der Zweigstelle Theologie, für die stets freundliche und unkomplizierte Besorgung benötigter Primär- und Sekundärliteratur; verschiedenen staatlichen, universitären und kirchlichen Bibliotheken in Augsburg, Aurich, Erlangen-Nürnberg, Gotha, Greifswald, Hannover, Karlsruhe, Kremsmünster/Österreich, Mannheim, München, Passau, Rostock, Schwerin, Stuttgart und Tübingen für die heute keineswegs mehr selbstverständliche Gewährung von Fernleihen aus ihrem Altbestand bzw. die Überlassung kostenloser Kopien; Geschwistern und Freunden in Berlin, Braunschweig, Dresden, Göttingen, Halle/Saale, Hannover, Jena und Weimar für Unterkunft und Gastfreundschaft bei z. T. mehrwöchigen Bibliotheks- und Archivaufenthalten vor Ort; meiner Mutter Gerlinde Straßberger (Thalheim/ Erzgeb.) und Herrn Heinrich Löber (Karlsruhe) für tatkräftige Mithilfe beim Korrekturlesen; Frau Dr. Katrin Löffler (Leipzig) für erhellende literatur- und philosophiegeschichtliche Fachsimpeleien; Herrn Dr. Michael Beyer (Schönbach) für die zahlreichen Autofahrten von und zur Leipziger Fakultät, auf denen wichtige Klärungen zur Methodologie der Kirchengeschichte bzw. zur Stellung der Rhetorik in der Frühen Neuzeit erfolgten; Herrn Prof. Dr. Ludwig Stockinger (Leipzig) für sein ungemein wohlwollendes Drittgutachten; dem Verlag Mohr Siebeck, insbesondere Herrn Dr. Henning Ziebritzki, für alles freundliche Entgegenkommen bei der Publikation der Arbeit. Ganz besonders herzlich danke ich aber meiner Frau Anne, die das Werden, die Vollendung und die Publikation der Arbeit mit andauernder Ermutigung begleitet hat und »ihrem Kirchengeschichtler« dabei in allen erdenklichen (Lebens-)Lagen Geduld und tatkräftige Unterstützung angedeihen ließ! Die Drucklegung des Buches unterstützten in außerordentlich großzügiger und dankenswerter Weise die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands, die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland, die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens, die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Hannovers, die Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche sowie die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz.

Vorwort

IX

Am 19. November vergangenen Jahres meldete sich der Tod ein drittes Mal im Horizont der Arbeit. Nach kurzer, schwerer Krankheit verstarb mein Vater plötzlich und unerwartet. Auch wenn er mit dem Sohn in theologicis nicht immer übereinstimmen konnte, hat er das Entstehen und Erscheinen der Dissertation gleichwohl mit ebenso stetem wie regem Interesse verfolgt. Ich widme dieses Buch meinem Vater in großer Dankbarkeit für all das Gute, das wir über Trennendem doch in reichem Maß aneinander hatten. Großbothen, an Epiphanias 2010

Andres Straßberger

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VII XV

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

1 Forschungsinteresse, Problemstellung, Quellen . . . . . . . . . . 2 Gottsched und die »philosophische« Predigt: ein interdisziplinärer Forschungsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Auf bau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3 13 27

Kapitel 1: Gottscheds biographische Synthese von Theologie, Philosophie und Literatur: Entwicklungslinien bis zum Erscheinen der Erste[n] Gründe der gesammten Weltweisheit (1733/34) . . . . 33 1 Königsberg: von der Theologie zur Philosophie . . . . . . . . . 1.1 Der Theologiestudent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Der Bruch mit der orthodoxen Theologie . . . . . . . . . . 1.3 Die Hinwendung zur Philosophie . . . . . . . . . . . . . . 2 Leipzig: vom Magister zum Professor der Philosophie . . . . . . 2.1 Die Leipziger Habilitation (1724): die Theodizee-Frage im Spannungsfeld von Theologie und Philosophie . . . . . . 2.2 In der »Gesellschaft der Auf klärer« . . . . . . . . . . . . . 2.3 Aberglaubenkritik und Tugendpropaganda: »bürgerliche Volksauf klärung« in Gottscheds moralischen Wochenschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Vom Lehrer der Poesie zum Professor der Philosophie (1734) 2.5 Krypto-Deist und geheimer Vorläufer der Neologie? . . . . 2.6 Gottscheds Erste Gründe der gesammten Weltweisheit: der Übergang zur Popularphilosophie . . . . . . . . . . . .

33 34 46 56 63 64 77

84 89 94 105

XII

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 2: Gottscheds Theorie der »philosophischen« Predigt .

117

1 Die homiletischen Frühschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Zum Wandlungsprozeß des decorum in der Auf klärungshomiletik: die katholische Barockpredigt im Geschmacksurteil Gottscheds – ein Gelegenheitsgedicht (1724) . . . . . 1.2 Die Priorität des Denkens vor dem sprachlichen Ausdruck: ein Beitrag in den Vernünftigen Tadlerinnen (1726) . . . . . . 1.3 Predigttheorie als Teil der Rhetorik: das erste rhetorische Lehrbuch (1728) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Die rhetorisch-philosophischen Grundlagen . . . . . 1.3.2 Die theologisch-homiletische Begründung . . . . . . 1.4 Der »bunte Kram der orthodoxen Kunstmethoden«: die auf klärerische Kritik an orthodoxer Homiletik . . . . . 1.4.1 »Die rechte Art zu predigen« (1730): ein weiteres Gelegenheitsgedicht . . . . . . . . . . . 1.4.2 »Wider die homiletischen Methodenkünstler« und »wider die sogenannte Homiletik«: zwei satirische Reden . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Die Ausführliche Redekunst (1736) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 ». . . so sind die Regeln der Redekunst allgemein«: die Predigt – als Rede betrachtet . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Die homiletische Lutherdeutung Gottscheds: Auf klärung als Fortsetzung und Vollendung der Reformation . . . . . . 2.2 ». . . die göttlichen Wahrheiten mit einer edlen Einfalt und Lauterkeit fortgepflanzet«: das homiletische Ideal der christlichen Antike im Rahmen von Gottscheds rhetorischem Klassizismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Die ethische und ästhetische Vorbildfunktion der Kirchenväter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Die Rezeption französischer Vorbilder . . . . . . . . 2.2.3 Homiletikgeschichtliche Wirkungen: Andeutungen und Ausblicke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die Praxis der »philosophischen« Predigt: eine Weihnachtspredigt Gottscheds (1729) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Der Grund-Riß einer Lehr-Arth ordentlich und erbaulich zu predigen (1740) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Axiomatik und Gliederung des homiletischen Systems: »Erbauung« als Strukturprinzip . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die Anthropologisierung des Erbauungsbegriffs . . . . . . . 3.3 Reaktionen und Rezeptionen . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Zeitschriftenpresse . . . . . . . . . . . . . . . . . .

117

117 130 142 143 149 159 162

170 174 175 181

196 198 206 213 224 235 240 248 260 263

XIII

Inhaltsverzeichnis

3.3.2 Akademische Vorlesungstätigkeit . . . . . . . . . . . 264 3.3.3 Literarisch-materiale Rezeption: drei Beispiele ( Johann Matthias Cappelmann, Johann Melchior Goeze, Rudolph Graser) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 3.3.4 Strukturelle Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . 283

Kapitel 3: Die Propaganda der »philosophischen« Predigt im Gottsched-Kreis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Die Deutsche Gesellschaft zu Leipzig und ihre Tochtergründungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Sitzungsreden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Predigtübersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Predigtpublikationen und homiletische Fachliteratur . . 2 Gottscheds Rednergesellschaften. . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Organisation, Mitgliederstruktur, Arbeitsthemen . . . . 2.2 Johann Adam Löw (1710–1775): zur kirchlichen Karriere eines homiletischen Gottsched-Schülers . . . . . . . . . 3 Die »Gesellschaft der Wahrheitsfreunde« (Societas Alethophilorum) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Johann Gustav Reinbecks homiletische Synthese von Pietismus und Auf klärung . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die preußischen Kabinettsordern vom 7. März 1739 und 8. Februar 1740 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Zur kulturpolitischen Vorgeschichte . . . . . . . 3.2.2 Entstehung, Inhalt und Durchführung der Ordern 3.3 Graf Manteuffel als Predigtreformer und die Entstehung von Gottscheds Predigtlehrbuch. . . . . . . . . . . . .

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287 289 292 302 305 306

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330

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344 345 351

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367

Kapitel 4: Der kirchenpolitische und publizistische Streit um die »philosophische« Predigt . . . . . . . . . . . . . . . . .

379

1 Die lutherische Orthodoxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Sanktionen der kursächsischen Kirchenleitung. . . . . . . . 1.1.1 Das Verhör Gottscheds vor dem Dresdner Oberkonsistorium (1737) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Das Verbot der »philosophischen« Predigt (1742) . . . 1.2 Zwischen Elenchuspraxis und Satirekritik: der publizistische Kampf der Orthodoxie gegen die »philosophische« Predigt – das Beispiel Gottfried Kohlreif(f )s. . . . . . . . . . . . . . 2 Pietismus und philosophia eclectica . . . . . . . . . . . . . . . . .

379 385 385 397

403 425

XIV

Inhaltsverzeichnis

2.1 Die Kritik der »hallischen Schule« . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Joachim Lange (1735) . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Johann Christoph Schinmeier (1737) . . . . . . . 2.1.3 Johann Jacob Moser (1740/41) . . . . . . . . . . 2.2 Göttinger Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Die Stellungnahmen Joachim Oporins (1736–1741) 2.2.2 Von Rudolph Anton Brauns (1739) zu Christian Kortholt (1746). . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . .

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430 430 439 444 451 451

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467

Kapitel 5: Die Krise der »philosophischen« Predigt . . . . . . .

483

1 Die Herausforderung durch die »ästhetische« Predigt . . . . . . . 1.1 Die Kritik Georg Friedrich Meiers (1753/54) . . . . . . . . 1.2 Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Die Herausforderung durch die »moralische« Predigt . . . . . . . 2.1 August Friedrich Wilhelm Sack (1750) und Johann Joachim Spalding (1761) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

493 493 506 519

Schlußbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

535

Quellenanhang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Friedrich Wilhelm I. an die Pröpste Roloff und Reinbeck, 18. November 1736 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Die preußischen Kabinettsordern vom 7. März 1739 und 8. Februar 1740 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Friedrich Wilhelm I. an Johann Gustav Reinbeck, 8. Februar 1740 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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551

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551

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Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . .

559

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

631

Sach- und Stichwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

639

521 529

Abkürzungsverzeichnis Beim Zitieren lösen runde Klammern (. . .) Abbreviaturen des Originals auf oder bezeichnen Änderungen der Groß- und Kleinschreibung bzw. Wortumstellungen innerhalb eines Zitates. Eckige Klammern [. . .] notieren Korrekturen, Weglassungen oder Hinzufügungen, die vom Verfasser vorgenommen wurden. Bei zweifelhaften Schreibweisen affi rmiert ein Ausrufungszeichen in eckigen Klammern [!] die Schreibweise des davorstehenden Wortes. Kursivsetzungen in Zitaten geben – sofern nicht ausdrücklich anders vermerkt – einen Sperr-, Fett- oder Kursivdruck des Originals wieder. Die Abkürzung »ebd« (ebenda) ersetzt innerhalb einer Anmerkung die letzte bibliographische Angabe. Alle weiteren Abkürzungen richten sich nach Siegfried M. Schwertner: Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, 2. Auflage (IATG2 ). Berlin; New York 1992. Abweichend davon oder darüber hinaus gelten folgende Abbreviaturen: AKThG AR 1736 BLUWiG EA EdN ELAB GAW GdP GStA PK GV HWRh KVK LitLex PD SHStAD Sicul ThLZ.F ThULB u. a. T. UAH

Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte J. Ch. Gottsched: Ausführliche Redekunst, Reprografi scher Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1736, Hildesheim; New York 1973. Beiträge zur Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte Erstausgabe Enzyklopädie der Neuzeit/ im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) hrsg. von F. Jaeger Evangelisches Landeskirchliches Archiv in Berlin J. Ch. Gottsched: Ausgewählte Werke [in 12 Bänden]/ hrsg. von J. Birke; Ph. M. Mitchell Geschichte des Pietismus/ im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus hrsg. von M. Brecht Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz; Berlin Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums Historisches Wörterbuch der Rhetorik/hrsg. von G. Ueding Karlsruher Virtueller Katalog (Internetportal) LiteraturLexikon/hrsg. von W. Killy Ph. J. Spener: Pia desideria/ hrsg. von K. Aland Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden Ch. E. Sicul: (Neo-)Annales Lipsienses maxime academici (vollständige Bibliographie s. u. Lit.verz.) Theologische Literaturzeitung (Forum) Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek unter anderem Titel Universitätsarchiv Halle

XVI UAL UBL UN

WGW Zedler

Abkürzungsverzeichnis

Universitätsarchiv Leipzig Universitätsbibliothek Leipzig Unschuldige Nachrichten oder Sammlung von alten und neuen theologischen Sachen Büchern, Urkunden [. . .]/ [hrsg. von V. E. Löscher]; Fortsetzung u. d. T.: Fortgesetzte Sammlung von alten und neuen theologischen Sachen Ch. Wolff: Gesammelte Werke/ hrsg. und bearb. von J. École, Abt. I: Deutsche Schriften; Abt. II: Lateinische Schriften; Abt. III: Materialien und Dokumente Großes Vollständiges Universal=Lexicon aller Wissenschaften und Künste/ hrsg. von J. H. Zedler, Leipzig

»Was hat Athen mit Jerusalem zu tun? Was die Akademie mit der Kirche? [. . .] Unsere Lehre stammt aus der Schule Salomos, der auch selbst die Weisung hinterlassen hat, daß man den Herrn in der Einfalt des Herzens suchen müsse [Weish 1, 1]. [. . .] Wir brauchen keine sophistischen Spitzfi ndigkeiten seit Jesus Christus, und keine philosophische Untersuchung seit dem Evangelium. Wenn wir glauben, begehren wir sonst nichts, als zu glauben.«1 (Tertullian, † nach 213) »Vor der Erscheinung des Herrn war die Philosophie für die Griechen notwendig, um Gerechtigkeit zu erlangen. Jetzt aber ist sie zur Gottesverehrung nützlich. Sie ist eine Art von Vorschule für diejenigen, die durch Beweise zum Glauben gelangen wollen. [. . .] Die Philosophie ist also eine Vorbereitung für den, der durch Christus vollendet werden soll.« 2 (Clemens von Alexandrien, † um 215)

1

Tertullian: De praescriptione haereticorum 7, 9–13 (CChr.SL; 1); eigene Übersetzung unter Verwendung von Tertullian: De Praescriptione Haereticorum – Vom prinzipiellen Einspruch gegen die Häretiker/ übersetzt und eingeleitet von D. Schleyer. Turnhout 2002, 245. 2 Clemens Alexandrinus: Stromata I 28, 1–3 (GCS; 15); Übersetzung nach Clemens von Alexandrien: Eine Auswahl aus seinen Schriften/ zusammengestellt und übersetzt von W. Schultz, Berlin 1964, 19.

Einleitung 1 Forschungsinteresse, Problemstellung, Quellen a) Vor einigen Jahren hat Kurt Nowak die deutsche theologische Auf klärungsforschung der Nachkriegszeit bilanziert und in diesem Zusammenhang das Fazit gezogen: »Die Epoche der Auf klärung ist zwar keine terra incognita mehr, allerdings auch kein dicht besiedeltes Gelände.«1 Jeder und jede, der bzw. die sich selbst etwas mehr als nur oberflächlich mit der theologischen Auf klärung beschäftigt, wird früher oder später leidvoll feststellen müssen, daß es sowohl an flächendeckenden, problemorientierten und quellenbezogenen Einzeluntersuchungen als auch an darauf auf bauenden Gesamtdarstellungen fehlt.2 Dieses Defizit, das selbst durch die jüngste Behandlung des Themas aus der Feder Albrecht Beutels nicht grundsätzlich behoben ist,3 erklärt sich nicht zuletzt daraus, daß die oft als »theologiegeschichtliches Interim zwischen Pietismus und Schleiermacher«4 geringgeschätzte Auf klärung »für die historisch-genetische Selbstvergewisserung der verschiedenen theologischen und frömmigkeitspraktischen Grundströmun-

1 K. Nowak: Vernünftiges Christentum?: über die Erforschung der Auf klärung in der evangelischen Theologie seit 1945, Leipzig 1999, 11. 2 Methodisch unbefriedigend, weil beinahe ausschließlich ideengeschichtlich orientiert, ist die jüngere Darstellung von W. Gericke: Theologie und Kirche im Zeitalter der Auf klärung, Berlin 1989. Wesentliche Vorzüge eignen demgegenüber den zwar älteren, im Kern frömmigkeitsgeschichtlich interessierten und erstaunlich reich aus den Quellen gearbeiteten Darstellungen von F. W. Kantzenbach: Protestantisches Christentum im Zeitalter der Auf klärung, Gütersloh 1965; ders.: Geschichte des Protestantismus von 1789–1848, Gütersloh 1969. 3 A. Beutel: Auf klärung in Deutschland, Göttingen 2006. – Trotz der vorzüglichen Ausführung des Themas notiert die grundsätzliche Problematik der gegenwärtigen theologischen Auf klärungsforschung in diesem Zusammenhang zutreffend J. H. Claussen: Zwischen säkularer Moderne und christlicher Vormoderne: während die Erforschung der Auf klärungstheologie Fortschritte macht, bleibt die protestantische Orthodoxie ein weißer Fleck, FAZ vom 19. 12. 2007, Nr. 295, S. N3: »Es gibt Bücher, die auf Wissenslücken hinweisen, indem sie diese überbrücken. Indem sie einen Überblick geben, zeigen sie, was man alles noch genauer wissen könnte. Solch ein Buch ist Albrecht Beutels Geschichte der protestantischen Auf klärung im achtzehnten Jahrhundert [. . .].« 4 So die treffende Feststellung von A. Beutel: Lichtenberg und die Religion: Aspekte einer vielschichtigen Konstellation, Tübingen 1996, 1.

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gen [sc. des Protestantismus; A. S.] am ehesten entbehrlich zu sein«5 scheint. Es verwundert daher nicht wirklich, wenn die strategische Verteilung der Forschungsenergien innerhalb der historisch arbeitenden Fächer der Theologie – trotz jüngster Auf bruchserscheinungen beispielsweise im kirchengeschichtlichen6 und systematisch-theologischen7 Sektor – noch immer nicht der Bedeutung entspricht, die der Auf klärungsepoche für das Selbstverständnis des neuzeitlichen Christentums der Sache nach zukommt. Ein umfassendes, vor allem auch die neueren methodischen Aspekte und Entwicklungen der allgemeinen Geschichtswissenschaften8 berücksichtigendes Bild der theologischen Auf klärung liegt als Aufgabe interdisziplinärer Forschung weiterhin in der Zukunft. Entgegen der theologischen Geringschätzung der Auf klärung betrachtete jedoch bekanntlich schon Ernst Troeltsch Protestantismus und Auf klärung als Geschwisterkinder, die in christentumstheoretischer Perspektive in einem ebenso ambivalenten wie affi nen Verhältnis zueinander stehen.9 An der Schwelle zum 20. Jahrhundert ging Troeltschs Interesse zum 18. Jahrhundert zurück, weil er erkennen wollte, »wie unsere geistige Welt geworden ist«10. In dieser zeitdiagnostischen Haltung folgte ihm Emanuel Hirsch, der für das Christentum eine durch die Auf klärung ausgelöste »Umformungskrise« konstatierte,11 deren Nachwirkungen er in seiner eigenen Zeit auf Schritt und Tritt begegnete. Denn historisch wie systematisch gesehen setz5 Beutel: Lichtenberg, 2. – Beutel begründet diesen Befund ebd. wie folgt: »Pointiert und cum grano salis geredet, entdeckten und rekonstruierten die konfessionellen Spielarten in der Reformation, die fundamentalistisch-erwecklichen im Pietismus, die neuprotestantisch-liberalen schließlich in der überragenden Gestalt Friedrich Schleiermachers den historischen Ursprungsort ihrer theoretischen wie praktischen Orientierungssysteme.« 6 Die ersten beiden Jahrestagungen des im Jahr 2001 gegründeten Arbeitskreises »Religion und Auf klärung« dokumentiert der Sammelband: Religion und Aufklärung: Studien zur neuzeitlichen »Umformung des Christlichen«/ hrsg. von A. Beutel; V. Leppin, Leipzig 2004; die Referate und Vorträge der dritten und vierten Tagung liegen vor in: Christentum im Übergang: neue Studien zu Kirche und Religion in der Auf klärungszeit/ hrsg. von A. Beutel u. a., Leipzig 2006. 7 Vgl. beispielsweise U. Barth: Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004. 8 Zum Forschungsstand in der allgemeinen Geschichtswissenschaft und den dortigen Forschungsproblemen siehe zuletzt W. Müller: Die Auf klärung, München 2002; A. Borgstedt: Das Zeitalter der Auf klärung, Darmstadt 2004. 9 Siehe hierfür T. Rendtorff: Theologische Orientierung im Prozeß der Auf klärung: eine Erinnerung an Ernst Troeltsch, in: Auf klärung als Prozeß/ hrsg. von R. Vierhaus, Hamburg 1987, 19–33; zu Troeltschs der christlichen Auf klärung verpfl ichteten Theologie vgl. auch M. Baumotte: Theologie als politische Auf klärung: Studien zur neuzeitlichen Kategorie des Christentums, Gütersloh 1973. 10 E. Troeltsch: Zusätze und handschriftliche Erweiterungen, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 4: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, Tübingen 1925, 838. 11 F. Nüssel: Die Umformung des Christlichen im Spiegel der Rede vom Wesen des Christentums, in: Religion und Auf klärung, 15–17; vgl. zu Hirschs Auf klärungsdeutung auch Nowak: Vernünftiges Christentum?, 15–19.

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te der »Prozeß der Auf klärung«12 einen »Strukturwandel der Öffentlichkeit«13 in Gang, infolge dessen die von Theologie und Kirche zur Aufrechterhaltung der Gesprächsfähigkeit mit der Gesellschaft aufgebrachten Transformationsleistungen zu einer so tiefgreifenden Neudefi nition der Matrix religiös-theologischer Denk- und Existenzvoraussetzungen führte, daß ein ausgeprägtes historiographisches Interesse am Jahrhundert der Auf klärung14 theologischerseits damals wie heute ebenso notwendig wie unumgänglich erscheint.15 Mit dieser Einschätzung korreliert die Sicht der allgemeinen Geschichtswissenschaft, die zur Kennzeichnung des mit der Auf klärung verbundenen Transformationsprozesses, der alle Bereiche der abendländischen Kultur, nicht nur das Christentum, erfaßte, vor bereits mehr als 30 Jahren den vielbeanspruchten und mittlerweile schon beinahe abgenutzten Begriff der »Sattelzeit« in die Forschung eingeführt hat. Mit ihm sollte unter begriffsgeschichtlicher Perspektive die hermeneutische Voraussetzung markiert werden, wonach sich »seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts ein tiefgreifender Bedeutungswandel klassischer topoi vollzogen [hat], daß alte Worte neue Sinngehalte gewonnen haben, die mit der Annäherung an unsere Gegenwart keiner Übersetzung mehr bedürftig sind«16 . Damit aber wurde auch von allgemeinhistorischer Seite das 18. Jahrhundert zu jener epochalen Um-

12 R. Vierhaus: Einleitung: Auf klärung als Prozeß – der Prozeß der Auf klärung, in: Auf klärung als Prozeß, 3–7. 13 J. Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit: Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (1961). Mit einem Vorwort zur Neuaufl age 1990, Frankfurt am Main 51996. 14 Zum Problem der kirchengeschichtlichen Epochenabgrenzung der Auf klärung siehe K. Nowak: Epochengrenzen der neuzeitlich-modernen Christentumsgeschichte: Auf klärung und Französische Revolution, VuF 47 (2002), 63–81. 15 Vgl. orientierend W. Sparn: Vernünftiges Christentum: über die geschichtliche Aufgabe der theologischen Auf klärung im 18. Jahrhundert in Deutschland, in: Wissenschaften im Zeitalter der Auf klärung: aus Anlaß des 250jährigen Bestehens des Verlages Vandenhoeck & Ruprecht/ hrsg. von R. Vierhaus, Göttingen 1985, 18–57. 16 R. Koselleck: Einleitung, in: Geschichtliche Grundbegriffe: historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland/ hrsg. von O. Brunner u. a., Bd. 1, Stuttgart 1974, XV. – Zur begriffsgeschichtlichen Wende des Begriffs der »Illuminatio« und seiner deutschen Äquivalente »Auf klärung« bzw. »Erleuchtung« in der Zeit der Auf klärung siehe B. Hägglund: »Illuminatio« – »Auf klärung«: ein Beitrag zur Begriffsgeschichte (1992), in: ders.: Chemnitz – Gerhard – Arndt – Rudbeckius: Aufsätze zum Studium der altlutherischen Theologie/ hrsg. von A. Bitzel; J. A. Steiger, Waltrop 2003, 229–240, bes. 238: »Die Schlüsselbegriffe der Ideengeschichte verändern oft von Zeit zu Zeit ihre Bedeutung. [. . .] In hohem Grad ist dies der Fall bei dem Begriff illuminatio samt seinen Äquivalenten Aufklärung und Erleuchtung.« – Zur impliziten Kritik an Kosellecks Modell des für die Aufklärung proklamierten begriffsgeschichtlichen Wandels siehe allerdings J. M. Sawilla: »Geschichte« – ein Produkt der deutschen Auf klärung?: eine Kritik an Reinhard Kosellecks Begriff des »Kollektivsingulars Geschichte«, ZHF 31 (2004), 381–428.

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bruchszeit deklariert, »in der sich die Herkunft zu unserer Präsenz wandelt«17. Unter diesen Voraussetzungen versteht sich nun die vorliegende Untersuchung als (kirchen-)historiographischer »Beitrag zur Archäologie der Moderne«18 , der darauf zielt, einige derjenigen Wurzeln der theologischen Auf klärung freizulegen, die entsprechende offene oder versteckte Verbindungen zur theologischen Forschung und kirchlichen Praxis der Gegenwart aufweisen. Als kirchengeschichtlicher Unternehmung richtet sich das Forschungsinteresse dabei primär darauf, dem Thema zunächst auf historischem Weg zu seinem Recht auf unvoreingenommenes Gehör zu verhelfen – trotz oder gerade wegen seiner fortgesetzten (expliziten oder impliziten) Gegenwartsbedeutung. In Abwandlung eines Wortes, das der bekannte Lutherforscher Bernhard Lohse gelegentlich einer Buchvorstellung geäußert hat, steht das Vorhaben daher unter der historiographischen Prämisse, die Auf klärung in das 18. Jahrhundert zurückzuversetzen und sie da zunächst auch bleiben zu lassen.19 Mit einer solchen Herangehensweise verbindet sich die Auffassung, daß die moralisch-theologische Wertung, der auch kein Kirchenhistoriker ausweichen kann, von diesem jedoch »noch immer am besten auf historische Weise ausgedrückt« 20 wird. Dadurch soll nicht zuletzt der bekannten, in ihren Konsequenzen aber durchaus umstrittenen hermeneutischen Einsicht Rechnung getragen werden, daß historische Erkenntnis sich zwar stets interessengeleitet vollzieht, es dabei jedoch keineswegs gleichgültig ist, wie stark »der Gegenwart entstammend[e] Absichten und Inspirationen« 21 ein Forschungsvorhaben dominieren. Deshalb teilt die Untersuchung die Ansicht, »daß sich explizite moralische Urteile nicht in Theorie und Methodologie der Forschung einlagern« 22 sollten. Dies schließt nicht aus, daß der Arbeit eine theologische Position zugrunde liegt, die den Blick auf die Auf klärung prinzipiell positiv faßt und damit einen hermeneutischen Standpunkt einnimmt, der innerhalb des »protestantischen Grundkonfl ikts«23, der 17 Koselleck: Einleitung, XV; vgl. zur damit verbundenen Ansetzung der Neuzeit auch ders.: ›Neuzeit‹: zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe, in: Studien zum Beginn der modernen Welt/ hrsg. von dems., Stuttgart 1977, 264–299. 18 Nowak: Vernünftiges Christentum?, 95. 19 Gelegentlich der Publikation seines Buches über »Luthers Theologie« soll Lohse mit Blick auf sein historiographisches Interesse geäußert haben: »Ich möchte Luther in das 16. Jahrhundert zurückversetzen und ihn da bleiben lassen.«; zit. bei H. Ch. Knuth: Luthers Ruck: Dialog mit dem Reformator, Rez. Matthias Kroeger: Im religiösen Umbruch der Welt, in: Zeitzeichen: evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft 6 (2005), Heft 5, 65. 20 R. J. Evans: Fakten und Fiktionen: über Grundlagen historischer Erkenntnis. Aus dem Englischen von U. Speck, Frankfurt; New York 1998, 57 (Hervorhebung A. S.). 21 Evans: Fakten und Fiktionen, 186. 22 Evans: Fakten und Fiktionen, 57. 23 Nowak: Vernünftiges Christentum?, 19.

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Teil der bleibenden, aber auch umstrittenen Aktualität der Auf klärung ist, dezidiert Stellung bezieht. b) Das Thema der Arbeit lautet »Johann Christoph Gottsched und die ›philosophische‹ Predigt: Studien zur auf klärerischen Transformation der Homiletik im Spannungsfeld von Theologie, Philosophie, Rhetorik und Politik«. Diese Aufgabenstellung geht aus der Konkretisierung einer übergeordneten Fragestellung hervor, deren ursprüngliche Idee es war, die Vermittlerfunktion des Leipziger Philosophieprofessors und Literaturreformers Johann Christoph Gottsched (1700–1766) beim Transfer auf klärerischer Anschauungen an die sächsische Pfarrerschaft auf Grundlage des in der Universitätsbibliothek Leipzig auf bewahrten Briefwechsels24 zu untersuchen. Erste Stichproben in diesem umfangreichen und für die auf klärungspropagandistische Rolle Gottscheds ungemein aufschlußreichen Material,25 das bislang aber nur in Auszügen gedruckt vorliegt,26 ließen dieses Vorhaben aber als nicht durchführbar erscheinen. Denn der vorausgesetzte Auf klärungsbegriff erwies sich aufgrund einer auf der Hand liegenden Konzentration auf Gottscheds philosophische Wirksamkeit als zu einseitig auf philosophiehistorische Rezeptionsprozesse ausgerichtet. Dieser Fokus wurde aber von den untersuchten Briefen nicht unterstützt, weil in ihnen der auf klärungsphilosophische Faktor nur selten in expliziter, viel häufiger dagegen in impliziter Weise begegnete. Einige in diesem Zusammenhang gemachte Beobachtungen zu Gottscheds Beteiligung an der Konzeption und Propagierung der auf klärerischen Predigtreform führten daher zu der Idee, in Zuwendung zu diesem Teilaspekt der auf klärerischen Tätigkeit des Leipziger Philosophieprofessors möglicherweise zielgerichteter zu Antworten auf die Ausgangsfrage zu gelangen. Bestärkung erfuhr die auf die Homiletik (Predigttheorie) zugespitzte kirchenhistoriographische Frageperspektive vor allem durch die Tat24 Vgl. W. Suchier: Gottscheds Korrespondenten: alphabetisches Absenderregister zur Gottschedschen Briefsammlung in der Universitätsbibliothek Leipzig, Leipzig 1971. 25 Zur Bedeutung von Gottscheds Briefwechsel siehe zuletzt D. Döring: Johann Christoph Gottsched, in: Les grands intermédiaires culturels de la république des lettres: études de réseaux de correspondances du XVIe au XVIIIe siècles/ présentées par Ch. BerkvensStevelinck u. a., Paris 2005, 387–411. Döring resümiert ebd, 398 f: »Die Beschäftigung mit dem Briefwechsel Gottscheds erschließt uns die Kreise, die in der Mitte des Jahrhunderts zugunsten der Philosophie Wolffs und zugunsten der literarischen und sprachlichen Reformbewegungen Gottscheds tätig waren, läßt uns aber auch die Widerstände erkennen, die sich diesen Bestrebungen entgegenstemmten. Die Propagierung von Gottscheds Lehren und der Kampf gegen die im Laufe der Zeit auftretenden vielfältigsten Widersacher bildet einen bestimmenden Inhalt seiner Briefverbindungen.« 26 Th. W. Danzel: Gottsched und seine Zeit: Auszüge aus seinem Briefwechsel/ zusammengestellt und erläutert von Th. W. Danzel. Nebst einem Anhange: Daniel Wilhelm Trillers Anmerkungen zu Klopstocks Gelehrtenrepublik, Nachdruck der 2., wohlfeilen Ausgabe, Leipzig 1855, Eschborn 1998.

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sache, daß neben den erwähnten Briefen und einer Reihe von homiletischen Theoriebeiträgen Gottscheds auch Aktenmaterial vorliegt, das die (kirchen-)politische Dimension seiner Beteiligung am homiletischen Diskurs27 der Zeit dokumentiert. Auf einer solchen gemischten Quellenbasis erschien es vielversprechend, die Ausgangsfrage nach den vom Leipziger Philosophieprofessor vermittelten auf klärerischen Inhalten (Leitfrage »Was war Auf klärung?« 28 ) und ihren wichtigsten Vermittlungsinstanzen (Leitfrage »Wie vollzog sich Auf klärung?«) in die angedeutete Richtung zu lenken. Ausgehend von der Neubewertung, die die auf klärungspropagandistische Rolle Gottscheds in jüngerer Zeit in Literaturwissenschaft29 sowie Philosophiegeschichte30 gefunden hat und die forschungspolitisch durch die von der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig begonnene Edition des Gottsched-Briefwechsels untermauert wird,31 wurde deshalb die Ausgangsthese formuliert, daß Gottsched eine ähnlich dynamisierende Rolle bei der Ausbreitung reformhomiletischer Konzepte gespielt haben könnte, wie bei seinen übrigen auf klärerischen Aktivitäten. Damit aber setzt sich die 27

Wenn im folgenden vom »homiletischen Diskurs« die Rede ist, wird damit nicht auf die Diskurstheorie Michel Foucaults abgehoben, für die u. a. M. Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 71995, einschlägig wäre. Vielmehr ist damit der auf verschiedenen sozialen Ebenen und auf dem Hintergrund von verschiedenen theologischen Interessen sowie unter Einsatz verschiedenartiger kommunikativer Mittel und Medien sich vollziehende Kommunikationsprozeß gemeint, in welchem entsprechend dem mittellateinischen Wortsinn von »diskursiv« »fortschreitend erörternd« um die Ausformulierung sowie die akademische und gesellschaftliche Akzeptanz einer zeitgemäßen Predigttheorie gerungen wurde. Jede überlieferte schriftliche oder mündliche Äußerung, die in irgendeiner Weise einen Beitrag dazu leistete bzw. sich auf einen solchen Beitrag positiv oder negativ bezog, bildet dabei einen Teil des homiletischen Diskurses, der wesentlich durch die interessengeleiteten Interventionen seiner Teilnehmer konstituiert wird. Anders gesagt, beschreibt der Begriff im vorliegenden Zusammenhang den »Kommunikationsprozeß der homiletischen Auf klärung«. 28 Vgl. in allgemeingeschichtlicher Perspektive R. Vierhaus: Was war Auf klärung?, Göttingen 1995. 29 G. Ball: Moralische Küsse: Gottsched als Zeitschriftenherausgeber und literarischer Vermittler, Göttingen 2000. 30 G. Gawlick: Johann Christoph Gottsched als Vermittler der französischen Auf klärung, in: Zentren der Auf klärung III: Leipzig. Auf klärung und Bürgerlichkeit/ hrsg. von W. Martens, Heidelberg 1990, 179–204; D. Döring: Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz’ und die Leipziger Auf klärung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Leipzig 1999, 55–82 u. ö.; H. H. Holz: Johann Christoph Gottsched: Leibniz’ Integration in die Bildung der bürgerlichen Auf klärung, in: Leibnizbilder im 18. und 19. Jahrhundert/ hrsg. von A. Lewendoski, Stuttgart 2004, 107–119. – Die neueren disziplinären Perspektiven vereint der Sammelband: Gottsched-Tag: wissenschaftliche Veranstaltung zum 300. Geburtstag von Johann Christoph Gottsched am 17. Februar 2000 in der Alten Handelsbörse in Leipzig/ hrsg. von K. Nowak; L. Stockinger, Stuttgart; Leipzig 2002. 31 Die ersten beiden Bände der auf insgesamt 25 Bände angelegten Edition liegen nunmehr vor: J. Ch. Gottsched: Briefwechsel: unter Einschluß des Briefwechsels von Luise Adelgunde Victorie Gottsched/ hrsg. und bearb. von D. Döring; M. Rudersdorf, Bd. 1: 1722–1730, Berlin 2007; Bd. 2: 1731–1733, Berlin 2008.

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Arbeit zum Ziel, die Transformation der protestantischen Homiletik als Teil des theologischen Auf klärungsprozesses unter den Bedingungen des allgemeinen »Strukturwandels der Öffentlichkeit«32 zu analysieren, und zwar in Konzentration auf Gottscheds Partizipation daran. Mit einer so fokussierten Untersuchung der »Gottschedzeit«33 soll die Aufmerksamkeit jenem kirchenhistorisch eher selten erforschten Zeitraum der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zugewandt werden, der als erste Phase der theologischen Auf klärung 34 mit dem ebenso unspezifischen wie unattraktiven Begriff der »Übergangstheologie«35 belegt wird. Dabei hat schon der Kieler Kirchenhistoriker Hans von Schubert vor über einhundert Jahren die fast banale Ansicht geäußert, daß gerade die Übergangszeiten in der Kirchengeschichte zu den »interessantesten aller Zeiten«36 gezählt werden müssen, weil hier die Verstehensvoraussetzungen für die Entwicklungen der nachfolgenden Zeit zu suchen sind. Die »Übergangstheologie« aber beschreibt sachlich gesehen genau jenen Transitus von der orthodoxen zur neuprotestantischen Theologie (Neologie), dem Emanuel Hirsch unter theologiegeschichtlichem Gesichtspunkt hervorgehobene Bedeutung beigelegt hat.37 32 Eine lokale Studie über den Entstehungsprozeß der auf klärerischen Öffentlichkeit legte neuerdings A. Haller: Die Ausformung von Öffentlichkeit in Danzig im 18. Jahrhundert bis zur zweiten Teilung Polens im Jahr 1793, Hamburg 2005, vor. 33 In literaturgeschichtlicher Perspektive kann man den Zeitraum von ca. 1730 bis ca. 1750 als »Gottschedzeit« ansehen, an die die »Lessing-« bzw. die »Goethezeit« anschließen; Inspirator dieser literaturgeschichtlich orientierten Periodisierung ist H. A. Korff: Geist der Goethezeit: Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte, 4 Bde., Leipzig 1923–1954; Aner setzte in seiner Studie über die »Theologie der Lessingzeit«, die die zweite Etappe der Auf klärungstheologie, die Neologie, behandelt, mit der Zeit um 1740 ein und führte seine Darstellung bis auf die Zeit der Kantschen Vernunftkritik; K. Aner: Die Theologie der Lessingzeit, Halle 1929. 34 Vgl. zur dreistufigen Makrostrukturierung der Auf klärungstheologie Aner: Die Theologie, 1–4; zur vierphasigen Unterteilung der Auf klärung aus der Perspektive des Allgemeinhistorikers, die sich nicht ohne weiteres mit Aners Schema harmonisieren läßt, vgl. die für kirchengeschichtliche Zusammenhänge bedenkenswerten Ausführungen von W. Schneiders: Einleitung. Das Zeitalter der Auf klärung, in: Lexikon der Auf klärung: Deutschland und Europa/ hrsg. von dems., München 1995, 22. 35 Zur begriffl ichen und sachlichen Problematik des auf Johann Gottfried Eichhorn zurückgehenden Begriffs der »Übergangstheologie« siehe A. F. Stolzenburg: Die Theologie des Jo. Franc. Buddeus und des Chr. Matth. Pfaff. Ein Beitrag zur Geschichte der Auf klärung in Deutschland (Berlin 1927), Neudruck Aalen 1979, Vf (Vorwort); W.-F. Schäufele: Christoph Matthäus Pfaff und die Kirchenunionsbestrebungen des Corpus Evangelicorum 1717–1726, Mainz 1998, 4–10; K. Hammann: Universitätsgottesdienst und Auf klärungspredigt: die Göttinger Universitätskirche im 18. Jahrhundert und ihr Ort in der Geschichte des Universitätsgottesdienstes im deutschen Protestantismus, Tübingen 2000, 16 mit Anm. 44; die »Übergangstheologie« behandelt in einem separaten Kapitel E. Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie: im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Bd. 2, Gütersloh 31964, 318–390. 36 H. v. Schubert: Die heutige Auffassung und Behandlung der Kirchengeschichte: Fortschritte und Forderungen. Ein Konferenzvortrag, Tübingen; Leipzig 1902, 27 f. 37 Hirsch: Geschichte, Bd. 2, 6 betont: »Die Vertiefung in die so grob umrissene eigen-

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Zwei Hauptüberlegungen bestimmen in diesem Zusammenhang den modus operandi, mit dessen Hilfe die homiletikgeschichtliche Problemkonstellation »Gottsched und die ›philosophische‹ Predigt« kirchenhistoriographisch erschlossen werden soll. Erstens: Mit der »philosophischen« Predigt wird ein homiletikgeschichtliches Phänomen thematisiert, das aus der Synthese von evangelischer Theologie und philosophischem Wolffianismus38 hervorgegangen ist und das den fachwissenschaftlichen Diskurs der protestantischen Predigttheorie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nach Lage der Dinge maßgeblich bestimmt hat. Bei einer darauf bezogenen Untersuchung dürfte es unter dem Blickwinkel von Hirschs Transformationsparadigma spannend zu verfolgen sein, wie anhand des für protestantisches Selbstverständnis so außerordentlich zentralen Predigtbegriffs39 die predigttheoretische (homiletische40 ) Ausformulierung und Ausdifferenzierung der auf klärerischen Position(en) erfolgte, um nach dabei leitenden Motiven und Faktoren zu forschen. Die Frage nach der Genese und Ausbreitung der theologischen Auf klärung in Gestalt des theologischen Wolffianismus kommt auf diese Weise anhand von dessen homiletischer Konkretionsform in den Blickpunkt einer detaillierten Untersuchung. Homiletikgeschichtlich gesehen wird damit vor allem jene artige deutsche geistige und religiöse Entwicklung [sc. ist die Zeit zwischen Leibniz und 1740; A. S.] ist für das Verständnis der Geschichte der ganzen neuern evangelischen Theologie deshalb so wichtig, weil [. . .] in steigendem Maße von 1740 an es fast eine Nationaleigentümlichkeit deutscher Wissenschaft wird, daß wir unsre Kraft und Mühe mit einer andern Völkern unbekannten Vorliebe gerade auf die theologischen Fragen wenden.« 38 Im weiteren werden aus pragmatischen Gründen als (Leibniz-)Wolffi aner verschiedene Anhänger der Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz’ und Christian Wolffs bezeichnet, ohne daß damit genauerhin bestimmt ist, worin die Rezeption von deren Philosophie besteht und wie umfassend dieselbe jeweils war. Daher können auch solche Gelehrten und Literaten als (Leibniz-)Wolffianer angesehen werden, die sich in der Wolffkontroverse in dem einen oder anderen Punkt gegen Wolff erklärten, insgesamt aber seiner Philosophie einen wichtigen Einfluß auf die Wissenschaften bzw. die eigene Systembildung einräumten. Nach Aner: Theologie der Lessingzeit, 1–4 beschreibt der theologische Wolffi anismus unter theologiegeschichtlicher Perspektive die erste Phase der insgesamt dreiphasig strukturierten Auf klärungstheologie und ist mit der »Übergangstheologie« keineswegs identisch! 39 Vgl. die prägnanten Darlegungen bei J. Hermelink: Predigt III. Konfessionell. 3. Evangelisch, RGG4 6 (2003), 1595, der mit Worten Dietrich Rösslers notiert: »›Die Predigt gilt als Wahrzeichen des ev[angelischen] Christentums‹. Dies hat seinen Grund in der reformatorischen Lehre vom Wort Gottes, das v. a. in der P[redigt] ergeht. Daraus ergibt sich ihre eigentümliche Bedeutung für das kirchl[iche] Leben, die theol[ogische] Lehre und die Frömmigkeit des Protestantismus in Gesch[ichte] und Gegenwart.« 40 Unter Predigttheorie (Homiletik) wird im folgenden eine theoretische Reflexionsgestalt der Predigtverkündigung verstanden, die im Rahmen einer historischen Untersuchung jedoch nicht von der Praxis der Predigt getrennt werden kann. Denn aus ganz verschiedenen Gründen »greift die Geschichte der Homiletik als Predigttheorie auch in die Predigtgeschichte hinüber, ohne sie allerdings ganz in sich aufzunehmen«; H. M. Müller: Homiletik, TRE 15 (1986), 527, 41–43.

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kirchengeschichtliche Ursprungssituation analysiert, in der zum ersten Mal die »Kanzel als Katheder der Auf klärung«41 konzipiert wurde. Es ist klar, daß im Zuge der Rekonstruktion der hierfür relevanten Diskurse nicht nur die auf Gottsched bezogenen auf klärerischen Positionen in der Darstellung Berücksichtigung fi nden dürfen, sondern auch die Argumentationen der (historisch tatsächlich oder vermeintlich unterlegenen) orthodoxen, pietistischen und auf klärungsinternen Kritiker und Gegner. Denn im Anschluß an Martin Gierl42 lautet die hierfür vorausgesetzte These, daß der Prozeß der homiletischen Auf klärung sich wesentlich durch eben jenen Streit konstituierte, der um sie geführt wurde. Dabei ist aber nicht beabsichtigt, »den Gelehrtenstreit einseitig auf seine publizistische Dimension zu beschränken«43, sondern auch – soweit als möglich – das »Streiten darüber hinaus [. . .] in seinen sozialen, politischen und intellektuellen Implikationen zu erfassen und auf das Verhältnis dieser Dimensionen zu reflektieren«44. Zweitens: Der Pfarrerssohn Gottsched, der in jungen Jahren in Königsberg ein Theologiestudium absolviert hatte, bevor er als Vierundzwanzigjähriger nach Leipzig kam, wirkte zwar die meiste Zeit seines Lebens als Philosophieprofessor in Leipzig und schrieb in dieser Profession auch seine Homiletik, gründet seine historische Bedeutung bislang aber vornehmlich auf seine Verdienste als Literaturreformer vor Lessing. Seine homiletische Theorie stellt dabei – wie im einzelnen aufzuzeigen sein wird – den Anwendungsfall reformrhetorischer Überlegungen dar, die ihrerseits auf eine in der Philosophie vollzogene Denkreform zurückgingen. In Gottscheds Predigttheorie verbinden sich demnach drei außerordentlich eng zusammengehörende Aspekte von heute disziplinär getrennten Forschungsperspektiven, die jedoch für den Prozeß der homiletischen Auf klärung insgesamt konstitutiv waren: Theologie-Homiletik, Philosophie und Literatur-Rhetorik. Daß diese drei Komponenten zusammen mit den leitenden politischen Faktoren und Gegebenheiten als miteinander kommunizierende Teile einer gesamtkulturellen Matrix zu betrachten sind, innerhalb der sich der theologisch-homiletische Transformationsprozeß vollzog und der sich deswegen auch nur in einem 41

W. Schütz: Die Kanzel als Katheder der Auf klärung, in: WSA 1 (1974), 137–171. M. Gierl: Pietismus und Auf klärung: theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts, Göttingen 1997. Eine Einführung in die komplexen Zusammenhänge bietet jetzt auch ders.: Lutherischer Pietismus, Kirchenkritik und Öffentlichkeit, in: Les Lumières et leur combat: la critique de la religion et des Églises à l’épocque des Lumières – Der Kampf der Auf klärung: Kirchenkritik und Religionskritik zur Auf klärungszeit/ éd. par – hrsg. von J. Mondot. Berlin 2004, 57–70. 43 M. Friedrich: Die Grenzen der Vernunft: Theologie, Philosophie und gelehrte Konfl ikte am Beispiel des Helmstedter Hoffmannstreits und seiner Wirkungen auf das Luthertum um 1600, Göttingen 2004, 378. 44 Friedrich: Die Grenzen der Vernunft, 378 f. 42

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die verschiedenen Teilaspekte zusammenführenden Zugriff adäquat zur Darstellung bringen lassen würde, macht die zweite grundlegende Arbeitshypothese aus. Aus diesem Grund werden auch die maßgeblichen gesellschafts- und kirchenpolitischen Rahmenbedingungen sowie die in ideenund geistesgeschichtlicher Perspektive grundlegenden nichttheologischen Voraussetzungen der auf klärerischen Predigtreform in die homiletischtheologische Perspektive integriert, um die kulturelle Verankerung des Prozesses der auf klärerischen Predigtreform angemessen zu erfassen. Die Arbeit orientiert sich damit unter kirchengeschichtlichen Gesichtspunkten in gewisser Weise an der von Falk Wagner einmal beiläufig für die Theologiegeschichtsschreibung angeregten »mehrdimensionalen Verfahrensweise«45, indem sie eine Reihe von problemorientierten Teilstudien unter einer kirchen- und theologiehistorisch relevanten Leitfrage zusammenführt. c) Das bei der Untersuchung herangezogene Quellenmaterial umfaßt – wie bereits erwähnt – drei Gruppen in quantitativ allerdings ungleicher Verteilung: Neben einigen, teilweise auch gedruckt vorliegenden, Akten zu Gottscheds Verhör vor dem Dresdner Oberkonsistorium im Jahre 1737 bzw. zum Zustandekommen der preußischen Kabinettsorder vom 7. März 1739 sowie einer selektiven Auswahl von Briefen des noch weitgehend unedierten Gottsched-Briefwechsels 46 sollen vor allem Textdokumente des homiletischen Theoriediskurses zur Auswertung gelangen: Vorreden, Kasuallyrik, Sozietätsreden, Universitäts- und Schulprogramme, wissenschaftliche Abhandlungen, Rezensionen, Lehrbücher, Zeitungsnotizen etc. Im Zuge der Untersuchung schien zunächst eine möglichst vollständige Sichtung aller diesbezüglich homiletischen Theoriebeiträge47 wünschenswert zu sein, um den fachinternen sowie öffentlichen Diskurs um die »philosophische« Predigt bis in seine sekundären und tertiären Schichten ausleuchten und Gottscheds Partizipation daran differenziert beurteilen zu können. Dies konnte trotz einiger mittlerweile verschollener oder aus verschiedenen Gründen nicht einsehbarer oder nicht eingesehener Bücher und Beiträge auch nahezu vollständig geleistet werden. Freilich konnte dann nicht jeder untersuchte Beitrag Eingang in die Darstellung finden. Angesichts des dadurch gegebe-

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F. Wagner: Zur Theologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, ThR 53 (1988),

196. 46 Angesichts des über 2000 Einheiten umfassenden Brief korpus folgte der Zugriff auf das in der UB Leipzig auf bewahrte Material pragmatischen und nicht systematischen Erwägungen. Es steht zu erwarten, daß nach Abschluß der oben erwähnten Edition des Gottsched-Briefwechsels weiteres homiletikrelevantes Material zur Verfügung stehen wird, das von mir nicht berücksichtigt wurde. 47 Vgl. J. Dyck; J. Sandstede: Quellenbibliographie zur Rhetorik, Homiletik und Epistolographie des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum, 3 Bde., Stuttgart-Bad Cannstatt 1996.

1 Forschungsinteresse, Problemstellung, Quellen

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nen Übergewichts homiletischer Quellentexte mag es auch gerechtfertigt erscheinen, wenn den homiletik- und rhetorikgeschichtlichen Aspekten der Aufgabenstellung aufs Ganze gesehen ein größerer Raum eingeräumt wird als den biographischen, kommunikationsgeschichtlichen oder kirchenpolitischen.

2 Gottsched und die »philosophische« Predigt: ein interdisziplinärer Forschungsüberblick Wegen der »in der Auf klärungstheologie nicht mehr nur reflektierten, sondern programmatisch beförderten Interdependenz von Religion und Kultur«48 sucht die vorliegende Untersuchung – anders als die meisten bisherigen Arbeiten zu einzelnen Vertretern der »Übergangstheologie«, wie z. B. Johann Franz Buddeus49, Christoph Matthäus Pfaff 50, Johann Lorenz von Mosheim 51, Siegmund Jacob Baumgarten 52 , Georg Bernhard Bilfi nger 53 oder Johann Hinrich Pratje54 – gezielt den Anschluß an die problemgeschichtliche Einordnung der (homiletischen) Auf klärung in Theologie-, Philosophie- und Literaturgeschichte, um zu dem angestrebten vertieften Verständnis des theologisch-homiletischen Auf klärungsprozesses zu gelangen. Das Desiderat einer in diesem Sinn »kulturgeschichtlichen«, d. h. kirchen-, theologie-, philosophie- und literaturhistorische Aspekte verschmelzenden Untersuchung wird dabei zuletzt offen beklagt.55 Der Forschungsbericht könnte deshalb kurz gehalten werden, da sich bislang keine einzige Arbeit mit der 48

Beutel: Lichtenberg, 3. F. Nüssel: Bund und Versöhnung: zur Begründung der Dogmatik bei Johann Franz Buddeus, Göttingen 1996; vgl. auch W. Sparn: Auf dem Wege zur theologischen Auf klärung in Halle: von Johann Franz Buddeus zu Siegmund Jakob Baumgarten, in: Zentren der Auf klärung I: Halle. Pietismus und Auf klärung/ hrsg. von N. Hinske, Heidelberg 1989, 71–89. 50 Vgl. Stolzenburg: Die Theologie. 51 K. Heussi: Johann Lorenz Mosheim: ein Beitrag zur Kirchengeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, Tübingen 1906; Johann Lorenz Mosheim (1693–1755): Theologie im Spannungsfeld von Philosophie, Philologie und Geschichte/ hrsg. von M. Mulsow; u. a., Wiesbaden 1997. 52 M. Schloemann: Siegmund Jacob Baumgarten: System und Geschichte in der Theologie des Übergangs zum Neuprotestantismus, Göttingen 1974. 53 H. Liebing: Zwischen Orthodoxie und Auf klärung: das philosophische und theologische Denken Georg Bernhard Bilfi ngers, Tübingen 1961. 54 H. Otte: Milde Auf klärung: Theologie und Kirchenleitung bei Johann Hinrich Pratje (1710–1791), Generalsuperintendent der Herzogtümer Bremen und Verden, Göttingen 1989. 55 Beutel: Lichtenberg, 3. – Schon Horst Stephan monierte im Rahmen eines Lexikonartikels vor rund 100 Jahren: »Der Eroberungszug der Wolffschen Theologie läßt sich aus Mangel vor allem an landesgeschichtlichen Vorarbeiten [. . .] nicht skizzieren«; H. Stephan: Wolff, Christian (gest. 1754) und die Wolffi sche Theologie, RE3 21 (1908), 461. 49

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Einleitung

Konstellation »Gottsched und die ›philosophische‹ Predigt« in der angezeigten Weise befaßt hat. Dennoch bieten selbstverständlich eine ganze Reihe von qualitativ und quantitativ sehr unterschiedlichen Beiträgen aus homiletik-, literatur- und allgemeingeschichtlicher Perspektive eine Vielzahl von Einsichten in die verschiedenen Aspekte der zur Diskussion stehenden Zusammenhänge, an die die vorliegende Arbeit anschließen kann. Während die homiletikgeschichtliche Literatur das Phänomen der »philosophischen« Predigt bislang unter weitgehender Ausklammerung Gottscheds behandelt hat, wurde in literaturgeschichtlicher Perspektive die homiletikgeschichtliche Bedeutung Gottscheds für den Wandel des literarischen Geschmacks im Auf klärungsjahrhundert nachdrücklich betont, aber nie monographisch aufgearbeitet. Eine im weitesten Sinn kulturhistorisch interessierte Gottschedforschung unterschiedlicher Fächerzuordnung hat zudem in meist nur schlaglichtartiger Weise die auf klärungspropagandistische Rolle von Gottscheds predigtreformerischen Aktivitäten und die darauf reagierenden Widerstände der Auf klärungsgegner notiert, ohne die Beobachtungen in den Zusammenhang der homiletikgeschichtlichen oder auf klärungstheologischen Entwicklung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in heutigen Ansprüchen genügender Weise zu bringen. 1. In der homiletikgeschichtlichen Forschung spielt Gottsched bislang eine eher marginale Rolle. Zwar fi ndet die Phase der »philosophischen« Predigt in der einschlägigen Literatur durchgängig Erwähnung, jedoch wird der Leipziger Philosophieprofessor und Literaturreformer aufgrund einer traditionellen theologischen Engführung der Predigtforschung nur selten in direkte Verbindung mit der Geschichte der Homiletik gebracht. Wenn sich von Seiten der theologischen Bachforschung Walter Blankenburg einmal in einem kleinen, predigttheoretisch und -geschichtlich aber wenig ergiebigen Aufsatz mit Gottscheds Homiletik auf Grundlage der Ausführungen in dessen Ausführlicher Redekunst befaßt hat,56 muß dies als Ausnahme von der Regel gelten. Die homiletikgeschichtliche Ignoranz Gottscheds könnte dabei aber fast als Glücksfall bezeichnet werden, denn der Ruf der »philosophischen« Predigt war über lange Zeit so schlecht, daß diejenigen Predigttheoretiker, die mit ihr in Verbindung gebracht wurden, gleichsam homiletikgeschichtlich »stigmatisiert« waren. Dabei wurde jedoch zu keinem Zeitpunkt auch nur der bloß zaghafte Versuch unternommen, die der »philosophischen« Predigt zugrunde liegende homiletische Theorie einmal genauer und vor allem unbefangen zu erkunden. Abgesehen von einigen predigt- und homiletikgeschichtlichen Untersuchungen zu Gottscheds Zeitgenossen Jo56 W. Blankenburg: Auf klärungsauslegung der Bibel in Leipzig zur Zeit Bachs: zu Johann Christoph Gottscheds Homiletik, in: Bach als Ausleger der Bibel: theologische und musikwissenschaftliche Studien zum Werk Johann Sebastian Bachs/ hrsg. von M. Petzoldt, Berlin 1985, 97–108.

2 Gottsched und die »philosophische« Predigt

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hann Lorenz von Mosheim (der bislang jedoch nicht als klassischer Vertreter einer »philosophischen« Predigt angesehen, sondern ihr vielmehr entgegengestellt wird),57 überwiegen Arbeiten zur auf klärerischen Predigt und Homiletik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in denen die »philosophische« Predigt naturgemäß nur summarische Erwähnung findet, und zwar als Voraussetzung der fortgeschrittenen Auf klärungspredigt.58 Obwohl über das Phänomen bis heute keine genaue, quellenmäßig ausreichend abgesicherte Kenntnis besteht,59 herrschte in der Forschung lange Zeit der Eindruck vor, es bei ihr mit einer befristeten »Modetorheit« zu tun zu haben, von der sich die Homiletik der Auf klärung selbst bald distanzierte, weshalb eine intensivere Beschäftigung mit ihr doppelt unnütz schien. Unter solchen Voraussetzungen wurde die »philosophische« Predigt von den historisch arbeitenden Vertretern der praktisch-theologischen Fachwissenschaft als »absurde Predigtweise, die aus Wolffs Defi nitionsmethode entstand« 60, belächelt und in den einschlägigen Darstellungen entsprechend rasch übergangen. Richard Rothe billigte ihr – bedingt durch ihre prinzipiell auf klärerische Natur und ihrem daraus resultierenden Reformpotential – zwar auch eine »vortheilhafte Seite« zu, die seiner Ansicht nach jedoch die nachteiligen Einflüsse nicht aufzuwiegen vermochte.61 Seine grundsätzlich polemische Sicht, die als repräsentativ für die Auffassung des 19. Jahrhunderts gelten kann, bewegte sich am Rand einer Karikatur: »Ihr [sc. die »philosophischen« Prediger; A. S.] Hauptsteckenpferd war die sogenannte demonstrative Lehrart, bei welcher sie von den von ihnen so genannten 57 Auf die Forschungsliteratur zu Mosheims Predigt(theorie) wird am gegebenen Ort einzugehen sein. 58 So beispielsweise bei R. Krause: Die Predigt der späten deutschen Auf klärung (1770–1805), Stuttgart 1965, 13. 59 Hammann: Universitätsgottesdienst, 227 in Anm. 27: »Wie weit die philosophische Predigtmethode tatsächlich verbreitet war, läßt sich nicht mehr exakt feststellen.« 60 G. v. Zezschwitz: Geschichte der Predigt, in: Handbuch der theologischen Wissenschaften in encyklopädischer Darstellung mit besonderer Berücksichtigung auf die Entwicklungsgeschichte der einzelnen Disciplinen/ hrsg. von O. Zöckler. Bd 4: Praktische Theologie. Dritte, sorgfältig durchgesehene, teilweise neu bearbeitete Aufl age. München 1890, 346. 61 R. Rothe: Geschichte der Predigt, von den Anfängen bis auf Schleiermacher, aus Rothe’s handschriftlichem Nachlaß/ hrsg. mit Anmerkungen und Anhang von A. Trümpelmann, Bremen 1881, 404, urteilte über die »philosophische Predigtweise« wie folgt: »Dieser Einfluß, wiewohl er auch seine vortheilhafte Seite hatte, war doch im Allgemeinen überwiegend ein nachtheiliger. Der Wolfi sche Scholasticismus war auf der Kanzel im Wesentlichen kein geringeres Uebel, als der aristotelische, und die Materie der Predigt litt unter der Herrschaft des ersteren noch mehr als unter der des letzteren. Die sogenannten philosophischen Prediger verloren zum Theil den Zweck der Predigt, die christliche Erbauung und das Bedürfniß der Gemeinden, wieder ganz aus dem Auge und waren nur darauf bedacht, daß ihre Vorträge einen philosophischen Klang hatten. Daher brachten sie am liebsten ganz abstracte Materien auf die Kanzel und am allerseltensten die positivchristlichen Lehren.«

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Einleitung

natürlichen Grundwahrheiten ausgingen und mit diesen die in ihrem Text enthaltenen Wahrheiten in Verbindung setzten, um diese dadurch unumstößlich zu begründen. [. . .] Ihre Vorträge hatten ganz das Ansehen trockener und zugleich magerer und geistloser philosophischen Abhandlungen. Alles wurde darin nach dem mechanischen Formalismus der Schullogik mit der ganzen dazu gehörigen philosophischen Schulterminologie abgehandelt. [. . .] Am allerunerträglichsten machten sie sich durch die lächerliche Defi niersucht, die sie Wolf und seiner Schule abborgten.« 62

Solche und ähnliche Verdikte erschienen in Zeiten gesellschaftlich sanktionierter Auf klärungsfeindlichkeit doppelt plausibel, so daß die (oft fälschlich Johann Gustav Reinbeck zugeschriebene) Homiletik Gottscheds sogar zum Exponenten eines kirchengeschichtlichen Irrwegs erklärt werden konnte.63 Obwohl die noch aus spätauf klärerischer Zeit stammende Darstellung Philipp Heinrich Schulers ein relativ ausgewogenes Bild der »philosophischen« Predigt gezeichnet hatte,64 griffen die Predigthistoriker des 19. Jahrhunderts nahezu komplett und ausschließlich auf seine kritischen Passagen zurück, die sich auf pietistische Polemik oder innerauf klärerische Kritik, etwa eines Herder, stützten.65 Eine einigermaßen objektiv-historische Sicht auf die Auf klärungspredigt bahnte sich erst im Zusammenhang mit der liberaltheologischen Auf klärungsforschung nach 1900 an, die jedoch keine Gesamtdarstellung hervorbringen konnte, die das Bild der »philosophischen« Predigt nachhaltig rehabilitierte. Lexikonartikel, wie der Martin Schians in der Realencyklopädie, in dem auch auf »Gottscheds ›Ausführl. Redekunst‹ 1736 und seine Opposition gegen die Leipziger Predigtmethode« hingewie-

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Rothe: Geschichte der Predigt, 405. Christian Gotthilf Ficker, Pfarrer in Michelwitz in Sachsen, kommentierte die Bemühungen Reinbecks, die Grundsätze der Wolffi schen Philosophie »auf der Kanzel [. . .] zu verbreiten, weil er dieselben zugleich für geeignet hielt, die christliche Beredsamkeit zu heben«, mit der folgenden vernichtenden Bemerkung: »Vgl. Reinbecks [d. i. Gottscheds; A. S.] Grundriß einer Lehrart ordentlich und erbaulich zu predigen, nach dem Inhalt der Königl. Preuß. Cabinetsordre, Berlin 1740. – So tief war die Kirche in jener Zeit gefallen.«; A. Saintes: Kritische Geschichte des Rationalismus in Deutschland von seinem Anfange bis auf unsere Zeit. Nach dem Französischen [. . .] mit Anmerkungen und Excursen dogmatischen und dogmengeschichtlichen Inhalts/ hrsg. von Ch. G. Ficker, Leipzig 1847, 58 mit Anm. *). 64 Ph. H. Schuler: Geschichte der Veränderungen des Geschmacks im Predigen, insonderheit unter den Protestanten in Deutschland, mit Actenstücken im Auszug belegt, Tl. 2: von Speners Zeiten bis auf die Erscheinung der Allg. Deutschen Bibliothek und des Journals für Prediger, Halle 1793, 103–113. 65 Vgl. beispielsweise C. G. F. Schenk: Geschichte der deutsch-protestantischen Kanzelberedsamkeit von Luther bis auf die neuesten Zeiten. Mit Biographien der berühmtesten Kanzelredner und mit Predigt-Skizzen versehen, und nach den besten Hülfsmitteln bearbeitet, Berlin 1841, 130–132. 63

2 Gottsched und die »philosophische« Predigt

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sen wurde,66 markierten zumindest die Richtung der grundsätzlich gewandelten Beurteilung.67 Eine erste größere positive Würdigung der »philosophischen« Predigt lieferte nach dem Zweiten Weltkrieg Alfred Niebergall, der mit seiner Sicht die unpolemische Beurteilung der liberalen Theologie fortführte.68 Obschon seine Deutung mit der Auf klärungssicht einer das Feld nun weithin beherrschenden Barthschen Restaurationstheologie in Spannung stand, setzte sich – nicht zuletzt unter dem Druck des Problems der »modernen Predigt«, zu dem Niebergall selbst positiv Stellung bezog69 – seine Sicht in der Folgezeit durch.70 Auffällig an der von Niebergall vorgenommenen Umwertung war der forschungsstrategisch wenig befriedigende Umstand, daß sie so ganz ohne neue homiletikgeschichtliche Quellenforschung erfolgte, sondern lediglich auf gewandelter theologischer Beurteilungsgrundlage eine Neuinterpretation des bislang bekannten (spärlichen) Materials bot. Das Phänomen der »philosophischen« Predigt war damit zwar theologisch-homiletisch prinzipiell rehabilitiert. Jedoch war ihre fundierte historische Interpretation im Rahmen einer Geschichte der Auf klärungspredigt und -homiletik mangels anschauungsformender Masse noch immer schwierig. Das Wissen um die Gestalt und Form der ersten Etappe der Auf klärungspredigt verblaßte daher nicht selten zum bloßen Schlagwort, mit dem zu späteren, vermeintlich wichtigeren Etappen der Entwicklung übergeleitet wurde. Undeutlich blieb deshalb auch oftmals das Verhältnis des homiletik- und predigtgeschichtlich vielbeachteten Mosheim in seiner Stellung zu Gottsched und zur »philosophischen« Predigt.71 66

M. Schian: Predigt, Geschichte der christlichen, RE 3 15 (1904), 691. Schian: Predigt, 691 »Das Zeitalter Mosheims forderte Anpassung auch des Inhalts der Predigt an das Zeitbedürfnis. [. . .] Das allgemeine Interesse bekam daher mehr und mehr philosophische Richtung. Das geschah [. . .] besonders durch das heimische Gewächs der streng demonstrativen, mathematisch philosophischen Methode von Leibnitz und Wolff, die bald die deutschen Hochschulen beherrschte. Durch sie lernten die Prediger wohl Deutlichkeit der Begriffe, Ordnung, Gründlichkeit, regelrechtes Defi nieren und Demonstrieren; aber sie übten die neue Kunst auch da, wo sie gar nicht nöthig war (z. B. Mt 8, 1 ›Berg ist ein erhöheter Ort‹).« 68 A. Niebergall: Die Geschichte der christlichen Predigt, in: Leiturgia: Handbuch des evangelischen Gottesdienstes/ hrsg. von K. F. Müller; W. Blankenburg, Bd. 2: Gestalt und Formen des evangelischen Gottesdienstes, I. Der Hauptgottesdienst, Kassel 1955, 306 f. 69 Niebergall: Die Geschichte, 314 interpretierte den Zusammenhang von Auf klärungs- und Gegenwartspredigt als »Problem der modernen Predigt« (im Original kursiv). 70 Vgl. Krause: Die Predigt, 13; W. Schütz: Geschichte der christlichen Predigt, Berlin; New York 1972, 159 f. 71 Eine Interessengleichheit von Mosheims und Gottscheds Reformstreben im homiletischen Sektor sieht Müller: Homiletik, TRE 15, 537,36–48, wobei die »damit [sc. die durch Mosheim oder Gottsched oder aber durch beide?; A. S.] eingeleitete Phase der sog. ›philosophischen‹ Predigt« nach Müllers Auffassung »durch Spalding in ihrer vorbildlichen 67

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Einleitung

In jüngerer Zeit setzten sich die Tendenzen fort, die »philosophische« Predigt als homiletikgeschichtliche Erscheinung zu begreifen, die durch Wolffs Demonstrationsverfahren herausgefordert wurde und der sich die zeitgenössische Predigttheorie »nicht entziehen konnte«72 . Als hervorragender Vertreter wird – im Konsens mit der älteren Forschung – der Berliner Propst Johann Gustav Reinbeck genannt, der als Anhänger der Philosophie Wolffs in Fragen der Predigttheorie und -praxis den gewandelten gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Anforderungen durch deutliche Begriffl ichkeit und vernünftige Beweisführung Rechnung tragen wollte.73 Hans Martin Müller meinte in diesem Zusammenhang, daß Reinbecks Predigtweise und sein Grundriß einer Lehrart erbaulich zu predigen (d. i. Gottscheds Homiletik!) durch die Sanktionierung einer Preußischen Kabinettsorder aus dem Jahr 1740 »in Preußen maßgebenden Einfluß auf die Kandidatenausbildung«74 gewonnen hätten, eine Ansicht, die sich auf bislang nie näher untersuchte Behauptungen der älteren Literatur stützte. Zuletzt wies der mit den kirchengeschichtlichen Vorgängen in Preußen zur Zeit Friedrich Wilhelms I. intensiv befaßte Hallesche Kirchenhistoriker Udo Sträter in lexikalischer Kürze auf Gottscheds Rolle innerhalb der auf klärerischen Predigtreform hin, wobei der von ihm gesehene Zusammenhang von theologischem Wolffianismus, Predigt- und Rhetorikreform, auf klärerischem Sozietätswesen, Kirchenpolitik sowie literarischem Streit die kirchenhistoriographische Notwendigkeit eines multiperspektivischen Blicks auf die »philosophische Predigt« implizit unterstreicht.75 Form verkörpert« wird. – Anders Schuler: Geschichte, Tl. 2, 126, der beim Streit um die »philosophische« Predigt für Mosheim eine »goldene Mittelstraße« behauptet hatte, die in der Folgezeit auch von der Forschung ganz überwiegend für den Helmstedter Homileten angenommen wurde; vgl. z. B. D. Fleischer: Einleitung, in: Johann Lorenz von Mosheim: Anweisung erbaulich zu predigen (1763)/ neu hrsg. und eingeleitet von D. Fleischer, Waltrop 1998, 56 (»Mittelposition«). 88 (»Mittelweg«); nach Fleischer, ebd, 88, habe sich Mosheim sogar von der (einmal mehr Reinbeck zugeschriebenen) Homiletik Gottscheds distanziert. 72 H. M. Müller: Homiletik: eine evangelische Predigtlehre, Berlin; New York 1996, 88. 73 So bereits Zezschwitz: Geschichte der Predigt, 348; vgl. auch A. Beutel: Evangelische Predigt vom 16. bis 18. Jahrhundert, TRE 27 (1997), 305,46–50: »Als ein Repräsentant der von Wolff beeinflußten Kanzelberedsamkeit hat Johann Gustav Reinbeck zu gelten, diese ›verkörperte Vermittlung zwischen Theologie und Philosophie‹. Mit Gottsched in freundlichem Umgang stehend, sind seine Predigten durch einen sorgfältig disponierten und vom Hörer mühelos nachzuvollziehenden Fortschritt der Gedanken geprägt.« 74 Müller: Homiletik: eine evangelische Predigtlehre, 88. 75 U. Sträter: Predigt III, HWRh 7 (2005), 74: »Einen Flügel der Übergangstheologie in der ersten Hälfte des 18. Jh. bildeten die teils aus dem Pietismus kommenden theologischen Wolffianer, die auch die Wolffsche Demonstriermethode auf die Kanzel brachten. Das Interesse J. G. Reinbecks an der philosophischen Demonstration der christlichen Lehre verband sich mit Bestrebungen Gottscheds um eine vernunftgemäße Poesie und Rheto-

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Wenn Gottsched in der homiletikgeschichtlichen Literatur in der Vergangenheit explizite Erwähnung fand, dann beinahe ausschließlich als ein Lessing vorausgehender Sprach- und Rhetorikreformer,76 der in dieser scheinbar sekundären Funktion von lediglich indirekter Bedeutung für die Predigt seiner Zeit war. Doch selbst die Beurteilung seiner diesbezüglichen Verdienste fiel in Abhängigkeit von einer lange Zeit stark auf die Weimarer Klassik fi xierten Literaturgeschichtsschreibung keineswegs durchgehend positiv aus.77 Gerhard von Zezschwitz formulierte unter dem Vorzeichen idealistischer Geschichtsschreibung noch vergleichsweise positiv, wenn er meinte: »Fast dreißig Jahre vor Mosheims Tode erschien Gottscheds ›Ausführliche Redekunst‹ (Hannover 1728, Leipzig 1736),78 welche zwar in sich selber weniger wertvoll, doch als Erinnerung an die Anfänge nationalen Selbstgefühls und deren unmittelbare Rückwirkung auf rednerische Leistung noch heute bedeutsam ist« 79.

Der Leipziger Literatur- und Sprachreformer und die von ihm beinflußten Deutschen Gesellschaften sowie Gellert, Winckelmann und Lessing standen in Zezschwitz’ Sicht dabei für eine Entwicklungslinie, mit der »(. . .) für Deutschland eine Epoche des geläuterten Geschmacks zu tagen (begann)« 80, die auf die Höhepunkte deutscher Nationalkultur im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts hinführte.

rik. Unter beider Einfluß (die in der Alethophilen-Gesellschaft miteinander verbunden waren) wurde 1739 eine preußische Kabinettsordre für die (reformierten) Kandidaten der Theologie erlassen, die die Forderung einer klar gegliederten, präzise formulierten und argumentierenden P[redigt] ohne Anhäufung von Bibelzitaten, mystischen Redensarten und Allegorien erhob. Um die Berechtigung der philosophischen Lehrart als Predigtmethode erhob sich in den folgenden Jahren eine literarische Auseinandersetzung.« 76 Vgl. beispielsweise Schuler: Geschichte, Tl. 2, 204 f.; Zezschwitz: Geschichte der Predigt, 371; Schütz: Geschichte der christlichen Predigt, 160. 77 H. Hering: Die Lehre von der Predigt, Berlin 1897, 161 f.: »Und neben dem philosophischen Demonstrator [sc. Christian Wolff; A. S.] wurde der sprachliche Diktator Gottsched, welcher sogar die Poesie nur von der Wissenschaft der Regeln abhängig wusste, Mitbegründer der Nüchternheit der Prosa. Die Spuren hiervon hat die Predigt lange Zeit über unsere klassische Epoche hinaus an sich getragen, obgleich das Wunderbare in der Poesie, das Gemäldeartige in der Prosa, schon von Bodmer wieder aufgedeckt worden war. Aber nicht sofort fanden die Kanzelredner das Geheimnis, die der Begeisterung so lange sorgsam verschlossene Thür wieder zu öffnen.« 78 Diese Angabe ist irreführend, wie das Beispiel bei Müller: Homiletik, TRE 15, 537,46 zeigt, der Gottscheds Ausführliche Redekunst in mutmaßlicher Verkürzung der von Zezschwitz’ gemachten Angaben im Jahr 1728 erscheinen läßt. Tatsächlich erschien die Ausführliche Redekunst erst 1736, während der Grundriß einer vernunfftmäßigen Redekunst (1728) auf 1729 vordatiert publiziert wurde; es handelt sich bei beiden Publikationen um zwei völlig eigenständige Bücher. 79 Zezschwitz: Geschichte der Predigt, 371; vgl. eine ähnliche Einschätzung bei Rothe: Geschichte der Predigt, 423. 80 Zezschwitz: Geschichte der Predigt, 371.

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Anders als solche wiederholt geäußerten Hinweise auf Gottscheds weithin unumstrittenen Anteil an der literarischen »Geschmacksreform« und den damit in Zusammenhang stehenden Impulsen auf die zeitgenössische Predigt(theorie), wurde in der predigtgeschichtlichen Literatur von seinen direkten predigreformerischen Aktivitäten seltener Notiz genommen. Schulers Predigtgeschichte hatte dabei als erste an den »ehemals berühmte[n] Gottsched als Gegner [der] Leipziger Predigtmethode« 81 erinnert, als der er mit zwei satirischen Reden in seiner Ausführlichen Redekunst in Erscheinung getreten war. Die spätauf klärerische Erinnerung an diese direkte Einwirkung Gottscheds auf den homiletischen Diskurs hielten von hier ausgehend Lentz,82 Schenk83 und andere Predigthistoriker in späterer Zeit wiederholt fest. Obschon bereits Danzel in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf Grundlage des Gottsched-Briefwechsels nachgewiesen hatte, daß der Leipziger Sprachund Literaturreformer zweifelsfrei der Verfasser des 1740 anonym erschienenen Grund-Risses einer Lehr-Arth ordentlich und erbaulich zu predigen 84 war,85 wurde in der homiletikgeschichtlichen Literatur aufgrund der Unkenntnis von Danzels Werk und im Anschluß an Schulers Predigtgeschichte nicht selten Reinbeck weiterhin als Autor geführt.86 So kam selbst dort, wo über Gottscheds Grund-Riß einer Lehr-Arth Überlegungen angestellt wurden, sein Anteil an der homiletischen Diskussion nicht angemessen in den Blick. Eine weitreichende Wirkung entfaltete in dieser Hinsicht eine einschlägige Studie Martin Schians, die zwar auf Gottscheds sprach-, rhetorik- und predigtreformerische Aktivitäten mit ungewöhnlichem Nachdruck verwies und dabei dem von ihm (Gottsched) anonym veröffentlichten homiletischen Lehrbuch eine kaum geringere Bedeutung für die auf klärerische Predigtreform als dem Mosheims beimaß,87 jedoch seine Verfasserschaft in Frontstel81 Schuler: Geschichte, Tl. 2, 116 f., Zitat 116. – Zu Gottscheds Kritik an der orthodoxen »Leipziger Predigtkunst« siehe jetzt auch A. Strassberger: Die »Leipziger Predigerkunst« im (Zerr-)Spiegel der auf klärerischen Kritik: Plädoyer für eine geschichtliche Betrachtung orthodoxer Homiletik, in: Die Theologische Fakulät der Universität Leipzig: Personen, Profi le und Perspektiven aus sechs Jahrhunderten Fakultätsgeschichte/ hrsg. von A. Gößner, Leipzig 2005, 162–218. 82 C. G. H. Lentz: Geschichte der christlichen Homiletik, ihrer Grundsätze und der Ausübung derselben in allen Jahrhunderten der Kirche, Tl. 2, Braunschweig 1839, 145. 83 Schenk: Geschichte der deutsch-protestantischen Kanzelberedsamkeit, 133 f. 84 [ J. Ch. Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth ordentlich und erbaulich zu predigen nach dem Innhalt der Königlichen Preußischen Cabinets-Ordre vom 7. Martii 1739. entworffen. Nebst Hrn. Joh. Gustav Reinbecks [. . .] Vorbericht und kurtzen Einleitung wie eine gute Predigt abzufassen sey, Berlin 1740. 85 Danzel: Gottsched und seine Zeit, 40–48. 86 Schuler: Geschichte, Tl. 2, 195. – Vgl. aus der späteren Literatur zur Fortschreibung dieses Irrtums beispielsweise Hering: Die Lehre von der Predigt, 163; Schütz: Geschichte der christlichen Predigt, 160. 87 M. Schian: Orthodoxie und Pietismus im Kampf um die Predigt: ein Beitrag zur

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lung zu gegenteiligen Ausführungen August Tholucks kategorisch ausschloß.88 Im Anschluß an Schians Argumentation ist daher noch in jüngerer Zeit Gottscheds Autorschaft für den Grund-Riß einer Lehr-Arth verneint worden.89 2. Den Anfang der literaturgeschichtlichen Würdigung von Gottscheds Verdiensten als Predigtreformer machte noch ein unmittelbarer GottschedSchüler. Der Mathematikprofessor Abraham Gotthelf Kästner (1717–1800) betonte in seiner Gedenkrede auf den verstorbenen Lehrer vor Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft zu Göttingen bereits 1767: »Nachdenkliche Wahrheiten faßlich und selbst angenehm vorzutragen, ist seit ihm gewöhnlicher geworden. Auch in andern Theilen der Gelehrsamkeit änderte sich die Einkleidung, [. . .] und geistliche Reden, die es sind, und die es seyn sollen, würden wir schwerlich jetzo so viel haben, wenn nicht Gottsched, unbesorgt ob die Homileten ihn verketzerten, behauptet hätte, daß der Lehrer der Beredsamkeit den Prediger bilden müsse.« 90

Damit wurde von Kästner eine gerechtere Beachtung von Gottscheds Rolle als »Lehrer der Beredsamkeit« für die auf klärerische Predigtreform angemahnt. Doch die lange Zeit modische, schon vor Gottscheds Tod die Literaturgeschichtsschreibung erfassende Gottsched-Verachtung ließ es für beinahe einhundert Jahre nicht zu, den von Kästner angedeuteten Zusammenhängen nachzugehen. Nach den Vorarbeiten Theodor Danzels91 in der Mitte des 19. Jahrhunderts brach sich erst um 1900 eine veränderte Beurteilung Gottscheds auf breiter Front Bahn. Trotz beeindruckender Quellenerschließung ist die in diesen Zusammenhang entstandene Darstellung des Predigtreformers Gottsched bei Eugen Reichel ausgesprochen problematisch,92 weil der von ihm bis ins Unerträgliche gesteigerte Gottsched-Kult den Leipziger Auf klärer zum Schöpfer der deutschen Kulturnation verklärte und dabei nicht nur homiletikgeschichtlich jedes rechte Beurteilungsmaß vermissen ließ. Ein unbestreitbares Verdienst Reichels bestand allerdings darin, auf das vielseitige Spektrum der homiletischen Textproduktion Gottscheds hingewiesen und damit der Forschung den Weg zu den Quellen gewiesen zu haben. Schon in weitgehender Abkehr vom nationalistischen Forschungsansatz Reichels arbeitete dann die Rhetorikforschung in den 1930er Geschichte des endenden 17. und des beginnenden 18. Jahrhunderts, Gießen 1912, 128– 131. 153 u. ö. 88 Schian: Orthodoxie und Pietismus, 160 in Anm. 2. 89 Hammann: Universitätsgottesdienst, 59 f. in Anm. 30. 90 A. G. Kästner: Betrachtungen über Gottscheds Charakter: in der deutschen Gesellschaft vorgelesen den 12. Sept. 1767, in: ders.: Vermischte Schriften, Tl. 2, Altenburg 1772, 85. 91 Danzel: Gottsched und seine Zeit. 92 E. Reichel: Gottsched, 2 Bde., Berlin 1908–1912; zur Homiletik Gottscheds ebd, Bd. 2, 85–101.

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Jahren Gottscheds Rolle als eben jenes auf klärerischen Redelehrers heraus, der in der von Kästner angezeigten Weise Einfluß auf eine ganze Generation von jungen Predigern gewann.93 Bei dem vorrangig rhetorikgeschichtlichen Interesse fanden sich Aussagen zur historischen Verortung Gottscheds in den Kontext der auf klärerischen Predigtreform jedoch oft nur am Rande. Unter religionskritischem Vorzeichen richtete die germanistische Gottschedforschung in der DDR ihre Aufmerksamkeit auf die predigtreformerischen Aktivitäten des Leipziger Auf klärers. Sie interpretierte diese als Ausdruck des Kampfes progressiver Kräfte gegen Klerikalismus und Absolutismus auf dem Weg zur bürgerlichen Gesellschaft.94 Trotz offenkundiger ideologischer Engführungen beim Blick auf theologische Zusammenhänge sah Marianne Wehr gleichwohl zutreffend, daß der »Prediger (. . .) für Gottsched ebenso wie der Schulmann Erzieher der Gemeinschaft (ist); beide haben nicht nur Philosophen, sondern auch Redner zu sein« 95. Unter diesem Vorzeichen stilisierte sie aber in marxistisch-antiklerikaler Attitüde »Gottsched zum Anziehungspunkt der oppositionellen antiorthodoxen Prediger in allen Teilen Deutschlands« 96 , eine Behauptung, die sie durch die überlieferten Briefe der vielen Pfarrer an Gottsched belegt sah. Damit wurde von ihr zwar auf eine nicht zu leugnende Ausstrahlungskraft Gottscheds als homiletischer Auf klärer hingewiesen. Sie unterstellte aber Gottsched und seinem Kreis mit der behaupteten Kirchenfeindschaft nicht nur einen antiklerikalen, sondern letztlich auch antireligiösen Affekt, der der deutschen Aufklärung nach gängiger Auffassung nur in Ausnahmefällen zukam.97

93 Dies gilt besonders für die Arbeit von B. Grosser: Gottscheds Redeschule: Studien zur Geschichte der deutschen Beredsamkeit in der Zeit der Auf klärung, Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät der Universität Greifswald, Greifswald 1932, bes. 45 f. 151–163; vgl. aber auch die stärker systematisch angelegte Arbeit von G. Wechsler: Johann Christoph Gottscheds Rhetorik, InauguralDissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Hohen Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg, Lucka 1933. 94 M. Wehr: Johann Christoph Gottscheds Briefwechsel: ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Frühauf klärung, Diss. masch. Leipzig 1966, 26–31. 114 f. 134–148; W. Rieck: Johann Christoph Gottsched: eine kritische Würdigung seines Werkes, Berlin 1972, 59–61. Vgl. auch den entsprechend motivierten Abdruck von J. Ch. Gottsched: Rede wieder die so genannte Homiletik, in: Johann Christoph Gottsched: Reden, Vorreden, Schriften/ hrsg. von Marianne Wehr, Leipzig 1974, 73–82. 95 Wehr: Johann Christoph Gottscheds Briefwechsel, 27. 96 Wehr: Johann Christoph Gottscheds Briefwechsel, 115. 97 Vgl. das bekannte Scholder-Zitat bei Nowak: Vernünftiges Christentum?, 38, wonach sich die Auf klärung in Deutschland »weithin nicht gegen die Theologie, sondern mit ihr und durch sie vollzogen« hat. – K. Scholder: Grundzüge der theologischen Auf klärung in Deutschland, in: Geist und Geschichte der Reformation: Festgabe Hanns Rückert zum 65. Geburtstag dargebracht von Freunden, Kollegen und Schülern, Berlin 1966, 460–486.

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Im Anschluß an die ältere Gottsched-Forschung brachte der Herausgeber von Gottscheds Ausgewählte[n] Werke[n] (GAW), Phillip Marshall Mitchell, den Konsens der jüngeren Literaturwissenschaft schließlich dahingehend auf den Punkt, daß er einen wichtigen Einfluß von Gottscheds Homiletik auf die deutsche Rhetorik- und Predigtreform für unbestritten hielt.98 In diesem Zusammenhang wies er darauf hin, daß das »kritisch nie verwertete und in diese Ausgabe [sc. ist GAW; A. S.] auch nicht aufgenommene Werk Gottscheds über die Kunst des Predigens [. . .] mit der Redekunst in Verbindung«99 steht. Damit affi mierte er einmal mehr die Priorität rhetoriktheoretischer Erwägungen für Gottscheds homiletisches Konzept. Auf dieser Linie würdigte zuletzt auch der Rhetorikforscher Gerd Ueding Gottscheds Verdienste um die Reform der Kanzelberedsamkeit,100 so daß es nicht verwundert, daß Hermann Stauffer in der jüngsten rhetorikgeschichtlichen Studie zu Gottscheds Redetheorie dessen Ausführungen zur geistlichen Beredsamkeit bereits vergleichsweise breite Aufmerksamkeit schenkte.101 Gleichzeitig vertrat Stauffer aber auch die Auffassung, daß eine genauere Analyse des predigtreformerischen Verdienstes Gottscheds »(. . .) eine eigene Untersuchung wert (wäre)«102 , die er selbst zu leisten sich im Rahmen seiner Untersuchung nicht im Stande sah. Den gegenwärtigen Stand der germanistischen Gottsched-Forschung repräsentiert Michael Schlott, der Gottscheds Homiletik »im Grunde genommen [als] eine Adaption seiner weltlichen Redekunst und der Erkenntnisse der Wolffschen Vermögenslehre an die Predigt«103 interpretiert und damit den konstitutiven Zusammenhang von Rhetorik und Philosophie für Gottscheds Predigttheorie explizit benennt. 98

[Ph. M. Mitchell:] Zum Leben Gottscheds, GAW XII, 446. [Mitchell:] Zum Leben Gottscheds, GAW XII, 446; vgl. auch R. Scholl: Nachwort des Herausgebers, GAW VII/3, 246 f. 100 G. Ueding: Auf klärung, HWRh 1 (1992), 1236 f.: »Es waren in Deutschland die Wolffsche Schule, Gottsched und seine Anhänger, die der auf klärerischen Kanzelberedsamkeit gegen die verzierte, prächtige und emblematisch verbildlichte Predigt zum Siege verhalfen. [. . .] Gottsched betont im wesentlichen die Zuständigkeit der allgemeinen Redekunst auch für die Predigt (. . .) und verweist im übrigen auf das vortreffl iche Exempel: ›Hat uns nicht Herr Abt Mosheim dergleichen Muster gegeben, die einem jeden zeigen können, wieweit die Regeln einer vernünftigen Beredsamkeit, eine gekünstelte Homiletik übertreffen?‹ Mosheims Lehre ist ein Produkt auf klärerischen Denkens, der Prediger soll Wissen, Erfahrung, philosophische Erkenntnis zur Glaubensdarlegung benutzen, und die Belehrung des Verstandes geht der Erbauung des Willens voran.« 101 H. Stauffer: Erfi ndung und Kritik: Rhetorik im Zeichen der Frühauf klärung bei Gottsched und seinen Zeitgenossen, Frankfurt am Main 1997, 54–62. 102 Stauffer: Erfi ndung und Kritik, 62 in Anm. 29. 103 M. Schlott: »Einer meiner damaligen geschicktesten Zuhörer«: Einblicke in Leben und Werk des Gottsched-Korrespondenten Abraham Gottlob Rosenberg (1709–1764), in: Johann Christoph Gottsched in seiner Zeit: neue Beiträge zu Leben, Werk und Wirkung/ hrsg. von M. Rudersorf, Berlin 2007, 155–337, Zitat 171; zu Gottscheds Predigtlehrbuch ebd, 171 f. 99

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3. In der übrigen, im weiteren Sinn kulturgeschichtlich ausgerichteten Forschung unterschiedlicher Fächerzuweisung wurde Gottscheds Rolle als Predigtreformer bislang unter recht verschiedenen Gesichtspunkten und Fragestellungen Beachtung geschenkt. Ausgehend von Danzels Werk beurteilte erstmals Tholucks Geschichte des Rationalismus die kirchengeschichtlichen Zusammenhänge, in die Gottscheds Homiletik seiner Meinung nach eingebunden war.104 Danzels Impulse fanden auch Aufnahme im umfänglichen Gottsched-Artikel Heinrich Dörings in der Allgemeine[n] Encyclopädie der Wissenschaften und Künste, wo Gottscheds Verhör in Dresden und seine Verfasserschaft des o. g. homiletischen Lehrbuchs vergleichsweise breit referiert werden.105 In einer noch immer instruktiven, kulturgeschichtlich angelegten Studie Eugen Wolffs wurde schließlich »Gottscheds Feindschaft gegen die herrschende geistliche Beredsamkeit« im Zusammenhang mit den auf klärungspropagandistischen Aktivitäten der Alethophilengesellschaft behandelt.106 Kurz danach wurde von Gustav Waniek der noch immer unübertroffene Versuch unternommen, die literaturgeschichtliche Bedeutung Gottscheds in der Vielzahl ihrer kulturhistorischen Zusammenhänge aufzuarbeiten. Dabei fanden seine Verdienste um die Reform der Kanzelrhetorik ausdrückliche, wenngleich nur kurze Berücksichtigung.107 Waniek war vermutlich auch der erste, der mutmaßte, daß die preußische Kabinettsorder vom 7. März 1739, die den reformierten Theologiestudenten und Kandidaten u. a. Wolffs Philosophie zur Vorschrift in der Predigtvorbereitung machte, »mit den homiletischen Reformen Gottsched’s in kausalem Zusammenhange«108 stand. Wie diese Zusammenhänge sich näher gestalteten, führte er aber nicht aus. Bereits vor Waniek skizzierte Ferdinand Frensdorff im Zusammenhang einer Edition von Briefen Friedrich Wilhelms I. an den Halleschen reformierten Hofprediger Hermann Reinhold Pauli vergleichsweise ausführlich, von der einschlägigen Forschung aber kaum wahrgenommen, die Entstehung der Kabinettsorder sowie (in Kenntnis der Arbeit Danzels) die homiletikgeschichtliche Bedeutung von Gottscheds darauf gerichteten Predigtlehrbuch. Allerdings verlie104 A. Tholuck: Geschichte des Rationalismus, 1. Abt.: Geschichte des Pietismus und des ersten Stadiums der Auf klärung, Berlin 1865, 143: »Eine neue Homiletik wurde selbst unter königlicher Sanktion – eben des Königs, der Wolff von Halle vertrieben – in Preußen den Candidaten vorgelegt und Gottsched war es, der anonym als Lehrmeister dieser Homiletik auftrat.« Zur auf klärungspropagandistischen Rolle von Gottscheds philosophischem Lehrbuch ebd, 130 f. 105 H. Döring: Johann Christoph Gottsched, AEWK, Sect. 1, Bd. 76 (1863), 188 f. 191 f. 106 E. Wolff: Gottscheds Stellung im deutschen Bildungsleben, Bd. 1, Kiel; Leipzig 1895, 190–195, Zitat ebd, 190. 107 G. Waniek: Gottsched und die deutsche Litteratur seiner Zeit, Leipzig 1897, 284– 288. 561 f. 108 Waniek: Gottsched, 285.

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fen Frensdorffs Recherchen nach Gegenbriefen bzw. weiterem, die Kabinettsorder betreffenden Archivmaterial seinerzeit ins Leere, so daß bestimmte Zusammenhänge von ihm falsch eingeschätzt oder gar nicht gesehen wurden.109 Im Sog der um 1900 auf blühenden Gottschedforschung entwickelte sich auch in der kirchengeschichtlichen Forschung ein Beurteilungsumschwung, der insbesondere die auf klärungspropagandistische und multiplikatorische Rolle des Leipziger Philosophieprofessors und die darin eingebetteten homiletischen Aktivitäten in ihrer Bedeutung für die theologische Auf klärung – wenn auch nur knapp – würdigte.110 Die hier greif baren Ansätze liberaltheologischer Auf klärungsforschung, die von einem eminenten Interesse am historischen Zusammenhang von Religion und Kultur gekennzeichnet waren, gerieten aber in den späteren, neuerlich auf klärungsfeindlichen Zeiten des 20. Jahrhunderts wieder in Vergessenheit.111 Lediglich die bereits erwähnte, partiell von zeitgenössischer Kulturgeschichtsschreibung (Karl Lamprecht) beeinflußte theologiegeschichtliche Würdigung Gottscheds durch Karl Aner hat es als eines der wenigen Ergebnisse jener kirchenhistoriographischen Auf bruchszeit vermocht, die Zeiten zu überdauern. Indem Aner auf Gottscheds Bedeutung als des maßgeblichen philosophischen Lehrers des Auf klärungstheologen Johann Friedrich Wilhelm Jerusalems (1709– 1789) hinwies, hielt er ihn im Gedächtnis der theologiegeschichtlichen Auf klärungsforschung.112 Vielleicht in Kenntnis der Arbeiten Aners und anderer sowie auf Grundlage eigener Forschungen äußerte außerdem der 109 Briefe König Friedrich Wilhelms I. von Preussen an Hermann Reinhold Pauli/ hrsg. und eingel. von F. Frensdorff, Göttingen 1894, 46–51; seine vergebliche Recherche in GStA PK berichtet Frensdorff ebd, 47 bei Anm. 3. Die Edition der 14 Briefe des Königs an Pauli erfolgte aus dem Nachlaß des am 3. Juni 1882 verstorbenen Göttinger Historikers Reinhold Pauli. 110 Vgl. L. Zscharnack: Gottsched, Johann Christoph, RGG1 2 (1910), 1600 f.; ebd, 1601: »Seine sprachreinigende Arbeit (. . .) gibt ihm auch eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Homiletik der Zeit; er hat die übliche Leipziger Predigtmethode und die trockenen philosophisch-demonstrierenden Predigten der Wolffschen Geistlichen bekämpft und außer seiner allgemeinen ›Ausführlichen Redekunst‹ auch den speziell den Theologen geltenden, unter Reinbecks Namen gehenden ›Grundriß der Lehrart, ordentlich und erbaulich zu predigen‹ (1740) herausgegeben, nachdem er schon die eine tiefere Bildung der Theologen fordernde Kabinettsordre vom 7. März 1739 mit veranlaßt hatte.« – L. Zscharnack: Gottsched, Johann Christoph, RGG2 2 (1928), 1403 f.; ebd, 1404: »Als [. . .] Herausgeber [. . .] der unter Reinbecks Namen gehenden Homiletik (. . .) war er auch theologisch von großem Einfluß.« 111 In der dritten (1957–1965) und vierten Aufl age der RGG (1998–2006) ist auf die Aufnahme eines Gottsched-Artikels verzichtet worden. 112 Aner: Theologie der Lessingzeit, 195–201. In seiner kurz darauf erschienenen kleinen vierbändigen Kirchengeschichte fand Gottsched aufgrund seiner theologiegeschichtlichen Bedeutung ebenfalls an zwei Stellen ausdrückliche Erwähnung: K. Aner: Kirchengeschichte, Bd. 4: Neuzeit, Erste Hälfte (bis ca. 1830), Berlin 1931, 89. 91 f. – Zu Aners »kulturgeschichtlichem« Ansatz seiner Kirchenhistoriographie vgl. A. Strassberger:

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frömmigkeitsgeschichtlich interessierte Friedrich Wilhelm Kantzenbach die Ansicht, daß Gottsched »(o)hne Zweifel [. . .] erheblich auf Predigtstil und -inhalt« seiner Zeit »eingewirkt«113 hat, freilich ohne dies näher zu begründen und auszuführen. Welche überraschenden Verbindungslinien sich eröffnen, wenn Gottscheds Rolle als Predigtlehrer in den verschiedenen geistes- und kulturgeschichtlichen Zusammenhängen intensiver in den Blick genommen wird, verdeutlicht ein in jüngster Zeit von Ernst-Peter Wieckenberg vorgelegter Beitrag, der den homiletischen Einfluß des Leipziger Predigtreformers auf Johann Melchior Goeze, den als angeblichen »spätorthodoxen Eiferer« stigmatisierten Gegner Lessings im »Fragmentenstreit«, mit ungewöhnlichen Schlußfolgerungen für die literatur- und theologiegeschichtliche Beurteilung Goezes thematisiert.114 Die auf klärungspropagandistische Rolle Gottscheds und der dagegen gerichtete Widerstand der kursächsischen Orthodoxie führte im Jahr 1737 auf das bereits erwähnte, von den Gottsched-Biographen selten übergangenene Disziplinarverfahren vor dem Dresdner Oberkonsistorium, das die homiletischen Passagen der Ausführlichen Redekunst zum Ausgangspunkt hatte. Nachdem Danzel über diesen Vorgang erstmals mit Hilfe von Material aus dem Gottsched-Briefwechsel berichtet hatte, untersuchte ihn Agatha Kobuch unter zensurgeschichtlichen Aspekten als landesgeschichtlichen Beitrag zur Auf klärungshistoriographie, wofür sie auf einschlägiges Aktenmaterial des Dresdner Hauptstaatsarchivs zurückgriff.115 Dabei gelangte sie zu dem Urteil, daß Gottscheds Rhetorik »einen bis zu dieser Zeit noch nicht erreichten und von der Forschung bisher nicht gewürdigten Höhepunkt der Geschichte der Auf klärung in Kursachsen« markierte, der zugleich »einen Kulminationspunkt in Gottscheds äußerst progressiver Phase«116 bedeutete. Ohne die sich hier andeutenden ideologischen Engführungen marxistischer Geschichtsschreibung wurde das gegen Gottsched gerichtete Verhör neuerdings von Detlef Döring im Rahmen seiner für die Auf klärungsforschung wichtigen Studie zur Rezeption der Leibniz-Wolffschen Philosophie an der Frömmigkeitsgeschichte und Kulturgeschichtsschreibung: Überlegungen zur Kirchenhistoriographie Karl Aners (1879–1933), ZNThG 12 (2005), 175–207. 113 Kantzenbach: Protestantisches Christentum, 95; zu Gottsched ebd, 95 f.; zu Mosheim als »philosophischem« Prediger ebd, 93–95; zum »Wolffi anismus auf der Kanzel« (Überschrift) ebd, 96–98. 114 E.-P. Wieckenberg: Goeze und Gottsched: Frühauf klärung und protestantische Predigt, in: Buchkulturen: Beiträge zur Geschichte der Literaturvermittlung. Festschrift für Reinhard Wittmann/ hrsg. von M. Estermann u. a., Wiesbaden 2005, 233–263. 115 A. Kobuch: Zensur und Auf klärung in Kursachsen: ideologische Strömungen und politische Meinungen zur Zeit der sächsisch-polnischen Union (1697–1763), Weimar 1988, 158–160. 268–276. 116 Beide Zitate Kobuch: Zensur und Auf klärung, 160.

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Leipziger Universität und in Kursachsen abermals untersucht und dabei in die maßgeblichen philosophiegeschichtlichen und universitätspolitischen Zusammenhänge eingeordnet.117 Das »Inquisitionsverfahren« interpretierte er als durch Gottscheds »Vorstellungen über eine moderne Predigtweise« veranlaßt, indem sich seine Predigttheorie »vor allem [. . .] dem Weltbild und den Moralvorstellungen der Auf klärung verpfl ichtet weiß und die biblischen Texte entsprechend auslegt, was den Protest der Orthodoxen zwangsläufig hervorrufen mußte«118 . Gleichwohl schien es Döring verwunderlich, daß ausgerechnet die Homiletik und nicht sein Eintreten für die Wolffsche Philosophie den Anlaß boten, von kirchlicher Seite gegen Gottsched vorzugehen.119 In vielem kann die vorliegende Arbeit an Dörings profunde Forschungen anschließen, wird aber zugleich bemüht sein, über seine Erkenntnisse und Interpretationen hinauszuführen.

3 Aufbau der Arbeit Als Untersuchungszeitraum der Studie wird die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts ins Auge gefaßt. In fünf Kapiteln schlägt die Arbeit einen zeitlichen Bogen, der biographisch mit Gottscheds Geburt (1700) einsetzt und mit Überlegungen zur homiletikgeschichtlichen Entwicklung nach 1750 endet. Sachlich ergibt sich dabei eine Konzentration auf das zweite Viertel des 18. Jahrhunderts, die biographisch durch den Beginn von Gottscheds Leipziger Wirksamkeit (1724) und homiletikgeschichtlich durch Georg Friedrich Meiers Kritik an der »philosophischen« Predigt im Jahre 1753/54 markiert ist. Trotz der prinzipiell problemorientierten Vorgehensweise innerhalb der einzelnen Kapitel versucht die Arbeit einem chronologischen Ansatz zu folgen, um den »Prozeß der homiletischen Auf klärung« entwicklungsgenetisch erfassen zu können. Die inhaltlichen Schwerpunkte der einzelnen Kapitel ergeben sich dabei wie folgt: 1. Gottsched kam als überzeugter philosophischer Leibniz-Wolffianer nach Leipzig, und er blieb es bis zu seinem Tod. Auf welchen Wegen war er aber für die Philosophie der Auf klärung in Gestalt des philosophischen Wolffianismus gewonnen worden? Wie machte sich diese Weichenstellung in seinem Verhältnis zur Theologie und in seinem wissenschaftlichen und literarischen Schaffen bemerkbar? Wo sind dabei die biographischen und 117 D. Döring: Die Philosophie, 74–82; ebd, 141–152 bietet Döring eine Neuedition des bereits zuvor von Kobuch fehlerhaft abgedruckten Verhörprotokolls Gottscheds. 118 Beide Zitate D. Döring: Die Philosophie, 74 f. 119 D. Döring: Die Philosophie, 74: »Merkwürdigerweise liefert im folgenden nicht die ›Weltweisheit‹ bzw. die Philosophie Gottscheds den unmittelbaren Abgriffspunkt, sondern seine ›Ausführliche Redekunst‹ (Leipzig 1736) [. . .]«.

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geistigen Gelenkstellen für sein homiletisches Reformstreben auszumachen, das mit seiner Ausführlichen Redekunst (1736) einen ersten Höhepunkt erreichte und das mit der wenige Jahre zuvor erschienenen Weltweisheit (1733/34) seine entscheidende philosophische Grundlegung erfuhr? Anders ausgedrückt geht es im ersten Kapitel darum, Gottscheds biographische Synthese von Theologie, Philosophie und Literatur als hermeneutischen Hintergrund seines reformhomiletischen Handelns transparent zu machen. Dabei rechtfertigt es das Exemplarische seiner Biographie, das den ostpreußischen Pfarrerssohn als paradigmatischen Vertreter derjenigen Generation von Studenten und Gelehrten erscheinen läßt, die Christian Wolffs Philosophie zum Leitstern ihrer wissenschaftlichen Aktivitäten machten, den angedeuteten Fragen ein historiographisches Eigenrecht zuzubilligen, dem durch eine entsprechend breite Darstellung Rechnung zu tragen ist. 2. Das zweite Kapitel widmet sich detailliert Gottscheds Theorie der »philosophischen« Predigt. Die Anfänge ihrer Entstehung reichten dabei bis in die 1720er Jahre zurück. Seine Ausführlichen Redekunst (1736) bot mit einem die Predigt betreffenden Kapitel dann die erste umfassende Darlegung des reformhomiletischen Stoffes im Rahmen eines rhetorischen Lehrbuchs. Im Grund-Riß einer Lehr-Arth ordentlich und erbaulich zu predigen (2. Auflage 1743 u. d. T.: Grundriß einer überzeugenden Lehrart im Predigen) wurden seine Ansichten schließlich elaboriert entfaltet, in Form eines homiletischen Lehrbuchs. Da Gottscheds spätere Rezensionen homiletischer Literatur120 und ein die 120 Folgende ausgewählte homiletik- bzw. predigtrelevante Rezensionen Gottscheds sind besonders zu erwähnen (Aufstellung nicht vollständig): Rez. Blaise (Blasius) Gisbert, Die christliche Beredsamkeit nach ihrem innerlichen Wesen, und in der Ausübung vorgestellet [. . .], Leipzig 1740, in: Beyträge zur critischen Historie, Bd. 6 (1740), 434–445. – Rez. Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem, Sammlung einiger Predigten, Theil 1, Braunschweig 1745, in: Neuer Büchersaal, Bd. 1 (1745), 379 f.; Rez. J. Saurin, Predigten, 6. Teil, Leipzig 1746, in: Neuer Büchersaal, Bd. 3 (1746), 33–45; Rez. Johann Gottfried Herrmann, [Landtagspredigt], Dresden und Leipzig 1746, in: Neuer Büchersaal, Bd. 4 (1747), 89 f.; Rez. Johann Christian Stemler, Die Schicksale treuer Lehrer in Absicht auf die Wirkung ihres Amtes [Anzugspredigt], 1747, in: Neuer Büchersaal, Bd. 4 (1747), 90 f.; Rez. Johann Gottfried Herrmann, [Landtagspredigt 1749], in: Neuer Büchersaal, Bd. 9 (1750), 185 f.; Rez. Johann Christian Stemler, [Abschiedspredigt], 1748, in: Neuer Büchersaal, Bd. 9 (1750), 471; Rez. Johann Christian Stemler, Erster Segen des Evangelii Jesu [. . .], Altenburg 1749, in: Neuer Büchersaal, Bd. 9 (1750), 471; Rez. Jacob Saurin, Predigten über verschiedene Texte der heiligen Schrift (übers. von J. J. Schwabe), 10. Teil, in: Neuer Büchersaal, Bd. 10 (1750), 288. – Rez. Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem, Sammlung einiger Predigten, Theil 2, Braunschweig 1752, in: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, Jg. 1753, 586–593; Rez. Johann Melchior Goeze, Gedanken über die Ewigkeit, welche bey dem Sarge des [. . .] Gottlieb von Häseler [. . .] in einer Stand- und Trauerrrede vorgetragen worden, Magdeburg 1752, in: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, Jg. 1753, 638 f.; Rez. Pierre (Peter) Coste, Predigten, aus dem Französischen übersetzt von Johann Traugott Schulz, Leipzig 1755, in: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, Jg. 1755, 858–860; Rez. Johann Joachim Gottlob Am Ende, Die gute Sache des Glaubens [. . .] in sechs Predigten [. . .], Dresden 1757, in: Das

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Predigt betreffendes Kapitel seiner Akademischen Redekunst keine neuen Gesichtspunkte in die Diskussion einbrachten,121 bedürfen diese Textbeiträge keiner separaten Behandlung unter systematisch-homiletischen Gesichtspunkten. Ausgeklammert bleibt in diesem Zusammenhang auch eine homiletikgeschichtlich interessante, in der Vergagenheit gelegentlich Gottsched zugeschriebene Rezension, in der jedoch mutmaßlich nicht der Meister selbst, sondern einer seiner Schüler oder Anhänger das Wort ergriff.122 3. Für eine effektive Durchsetzung der von Gottsched betriebenen Homiletikreform war es von entscheidender Bedeutung, daß deren Propagierung von einer großen Schar gut organisierter Anhänger ins Werk gesetzt wurde. Den mit diesem Problemkomplex zusammenhängenden Fragen geht das dritte Kapitel in sozietätsgeschichtlicher Perspektive nach. In Betracht kommen hierfür insbesondere123 die von Gottsched 1727 reformierte und bis zu seinem Austritt (1738) als Senior geführte Deutsche Gesellschaft zu Leipzig, zwei von ihm gegründete Rednergesellschaften sowie die von Ernst Christoph Graf von Manteuffel geleitete Societas Alethophilorum (Alethophilengesellschaft), in der Gottscheds Predigtreformprogramm den Mittelpunkt der SoNeueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, Jg. 1757, 484–486; Rez. Johann Gottfried Körner, Sammlung etlicher Predigten, Leipzig 1759, in: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, Jg. 1759, 623–629; Rez. Johann Joachim Gottlob Am Ende, Christliches Denkmahl [. . .] in dreyen Predigten, Dresden 1760, in: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, Jg. 1760, 725–737. – Nicht autopsiert werden konnten die Angaben in zwei Fällen, da der fragliche Band der UBL als vermißt gilt: Gottsched: Rez. Christoph Wolle, Sieben heilige Reden über wichtige Wahrheiten des heiligen Evangelii [GV 158, 165: Christoph Wolle, Heilige Reden bey verschiedenen Gelegenheiten gehalten, Leipzig 1748], in: Neuer Büchersaal, Bd. 6 (1748), 280; Rez. Georg Jacobi, Zwey Predigten von der nothwendigen Vorbereitung zum Tode [. . .], in: Neuer Büchersaal, Bd. 6, 285. 121 J. Ch. Gottsched: Akademische Redekunst, zum Gebrauche der Vorlesungen auf hohen Schulen als ein bequemes Handbuch eingerichtet und mit den schönsten Zeugnissen der Alten erläutert, Leipzig 1759, 286–300 (Das XVI. Hauptstück. Von geistlichen Lehrreden, oder Predigten); ebd, Bl. *5r (Vorrede) bemerkte Gottsched zum Verhältnis dieser Ausführungen zu seinen früheren: »Da ich diese akademische Redekunst einen Auszug aus dem größern nenne: so kann ein jeder versicher seyn; daß sie das wirklich ist. Sie hält alle Hauptregeln in sich, so in der größern befi ndlich sind, und zwar in eben der Ordnung, in eben dem Zusammenhange, und aus eben den Gründen. Seit mehr als dreyßig Jahren, da ich über die Redekunst lese, habe ich noch keine Aenderung in ihren Grundsätzen zu machen nöthig befunden.« 122 Es handelt sich um eine anonyme Rezension von: Johann Riemers von aller Welt beweinter Maccabäus [. . .], Merseburg 1689, in: Beyträge zur critischen Historie, Bd. 7 (1741), 624–646. – E. Reichel: Gottsched, Bd. 2, 93 in Anm. 53 zitiert aus dem Text in der Meinung, Gottscheds Predigtverständnis zu referieren. Gegen die Verfasserschaft Gottscheds sprechen m. E. sprachliche Gründe. 123 Zur von Gottsched 1731 gegründeten und in diesem Kapitel nicht berücksichtigten Societas Conferentium s. u. Kap. 1, Abschn. 2.5. Die von Gottsched 1752 gegründete Gesellschaft der freien Künste bleibt hierbei vorerst auch ausgespart, da deren homiletische Aktivitäten bereits ganz im Zeichen des Kampfes der Gottschedianer gegen die Klopstock-Schule standen, worauf in Kap. 5, Abschn. 1.2 eingegangen wird.

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zietätsaktivitäten bildete. Die homiletische Propaganda der genannten Sozietäten wird dabei unter wechselnden methodischen Gesichtspunkten untersucht. Im Fall der Deutschen Gesellschaft wendet sich die Untersuchung zunächst gattungsspezifisch den in ihrem Umkreis publizierten homiletischen Reformschriften zu, um danach am Beispiel von Gottscheds Rednergesellschaften primär nach sozietätsorganisatorischen und prosopographischen Aspekten der reformhomiletischen Propaganda zu fragen. Um den verschiedenen kirchen- und gesellschaftspolitischen Zusammenhängen von Sozietätsaktivitäten und Predigtreform auf die Spur zu kommen, wird schließlich das Zustandekommen der preußischen Kabinettsorder vom 7. März 1739 und die Entstehung von Gottscheds Predigtlehrbuch nachgezeichnet, und zwar in Konzentration auf die zwei Hauptakteure der Alethophilengesellschaft, Propst Reinbeck und Graf Manteuffel. Insgesamt wird mit der homiletischen Propaganda der gelehrten Sozietäten somit ein zentrales positives Konstitutionsfaktum des »Kommunikationsprozesses der homiletischen Auf klärung«124 thematisiert. 4. In Komplementarität dazu analysiert das vierte Kapitel ein entscheidendes negatives Konstitutionsmerkmal für den »Strukturwandel der Öffentlichkeit« im Kommunikationsprozess der homiletischen Auf klärung, und zwar in theologiegeschichtlicher Perspektive: den kirchenpolitischen Streit um die »philosophische« Predigt und die literarischen Kritik an ihr. Denn die Gegner des homiletischen Wolffianismus lassen sich traditionell verschiedenen theologischen Lagern zuweisen: der aristotelisch beeinflußten Spätorthodoxie, dem von der philosophia eclectica partiell beeinflußten Pietismus und der – ebenfalls »eklektisch« eingestellten – »Übergangstheologie«. Für die beiden letzteren theologischen Gruppierungen gestaltet sich eine strikte theologiegeschichtliche Separierung schwierig, da der Pietismus im zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts nicht nur als abgrenzbare soziale Gruppe mit bestimmten theologischen Anschauungen, sondern auch als eine bestimmte Frömmigkeitsrichtung erscheint, die von der Gruppe der »Übergangstheologen« nicht trennscharf abgehoben werden kann: pietistische Frömmigkeit und theologische Auf klärung durchdringen sich gerade in der »Übergangstheologie« unter dem Vorzeichen der philosophia eclectica so vielfältig,125 daß sich – trotz aller herauszuarbeitenden Differenzen – eine zusammengefaßte Behandlung empfiehlt. 5. Im fünften und letzten Kapitel kommt schließlich die Krise der »philosophischen« Predigt in homiletikgeschichtlicher Perspektive in den Blick. In einem ersten Schritt wendet sich die Untersuchung der von Georg Friedrich 124 Die Formulierung erfolgt in Anlehnung an H. E. Bödeker: Auf klärung als Kommunikationsprozeß, in: Auf klärung als Prozeß/ hrsg. von Rudolf Vierhaus, Hamburg 1987, 89–111. 125 W. Sparn: Philosophie, in: GdP 4 (2004), 227–263.

3 Aufbau der Arbeit

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Meier (1718–1777), dem Halleschen Philosophieprofessor, vorgeschlagenen Alternative, »ästhetisch« zu predigen, zu. Dabei war seine im Gefolge von Weiterentwicklungen erkenntnistheoretischer Voraussetzungen der Wolffschen Philosophie entwickelte homiletische Konzeption nur ein Ansatz der von mehreren Seiten gleichzeitig in Angriff genommenen Reformbemühungen. Die stärker theologisch motivierte Alternative zur »philosophischen« Predigt, die Idee der »moralischen« Predigt, die in einem zweiten Schritt behandelt wird, wies dabei erhebliche ideengeschichtliche Schnittstellen mit Meiers Ansatz auf. Insgesamt zielten die lediglich verschieden begründeten homi letischen Alternativen beide auf die Überwindung »rationalistischer« Engführungen, ohne daß sie jedoch den homiletischen Grundkonsens der »phi losophischen« Predigt auf kündigten. Angesichts der neuen homiletischen Diskurssituation kann die Problematik freilich nur ausschnitthaft zur Untersuchung gelangen, da sie bereits Stoff für eine neue Arbeit liefert. Ein letztes Wort gilt einem formalen Aspekt: Wenn bei der Umsetzung der vorgestellten Aufgaben der Anmerkungsapparat einen recht beträchtlichen Umfang erreicht, dann v. a. auch deshalb, weil Textbelege aus den Quellen reichlich zitiert werden. Zur Rechtfertigung dieses platzraubenden Vorgehens schließe ich mich einer Bemerkung Gerhard Ebelings an, der im Blick auf eine seiner Publikationen einmal geäußert hat: »Dem Leser kommt die Arbeit leider nicht gefällig entgegen. [. . .] Anmerkungen [haben] z. T. den Text nahezu überwuchert. Neben Erläuterungen nehmen ausgeschriebene Zitate verhältnismäßig viel Raum ein. Sie sollen die Kontrolle und selbständige Durcharbeitung erleichtern. Bloße Stellenangaben, selbst wenn sie nachgeschlagen werden, nützen wenig, wenn mit ihnen das jeweils Gemeinte nicht genau zu umgrenzen ist.«126

Darüber hinaus wurde der Haupttext in den Anmerkungen mit zusätzlicher Information angereichert bzw. durch Querverweise mit anderen problemgeschichtlichen Zusammenhängen und Forschungskontexten vernetzt. Dieses Vorgehen wird einem an einer flüssigen Lektüre interessierten Leser hinderlich erscheinen; dem am Thema besonders Interessierten wird es aber zweifelsohne willkommen sein. Aus diesem Grund ist der Haupttext aber auch so formuliert, daß er ganz ohne Anmerkungen gelesen werden kann. So steht es einer jeden Leserin und einem jeden Leser frei, den Verästelungen des Themas im Anmerkungsteil zu folgen oder nicht. Freilich winkt denen, die sich den letzteren Mühen unterziehen, die Aussicht auf zusätzlichen Erkenntnisgewinn, einen Erkenntnisgewinn, den der Verfasser der Arbeit selbst hatte und den zu verschweigen er sich nicht entschließen konnte. 126

G. Ebeling: Theologie und Verkündigung: ein Gespräch mit Rudolf Bultmann, Tübingen 1962, VII f. (Vorwort).

Kapitel 1

Gottscheds biographische Synthese von Theologie, Philosophie und Literatur: Entwicklungslinien bis zum Erscheinen der Erste[n] Gründe der gesammten Weltweisheit (1733/34) 1 Königsberg: von der Theologie zur Philosophie Der am 2. Februar 1700 (Neuer Stil) im etwa fünf Kilometer pregelabwärts, westlich der Altstadt Königsbergs gelegenen Pfarrhaus von Juditten als erster Sohn von Christoph Gottsched (1668–1737) und der Pfarrerstochter Anna Regina, geb. Biemann (1671–1763), geborene Johann Christoph Gottsched1 wurde bereits im frühreifen Alter von 14 Jahren, am 19. März 1714, vermutlich an der Theologischen Fakultät der Königsberger Albertina, immatrikuliert.2 Wegen des jugendlichen Alters erfolgte die Aufnahme in den Schoß der alma mater nicht – wie üblich – durch Eid, sondern per Handschlag.3 Die Befähigung zum Studium verdankte der junge Gottsched seinem Vater, der ihn, wie später seine drei jüngeren Brüder auch, selbst unterrichtet hatte. Gottsched erinnerte sich dessen später wiederholt mit warmherzigen, zumeist poetischen Worten. Dankbar dichtete er: »Sein treugemeynter Unterricht, | Wies mir der freyen Künste Licht«4. Obwohl zum Theologiestudi1 Neben den einschlägigen Biographien von Waniek: Gottsched (1897); E. Reichel: Gottsched (1908/1912); Rieck: Johann Christoph Gottsched (1972) behandeln die Kinder- und Studienzeit Gottscheds insbesondere J. Reicke: Zu Joh. Christ. Gottsched’s Lehrjahren auf der Königsberger Universität, Königsberg 1892; B. Jähnig: Die Umwelt von Johann Christoph Gottscheds Kindheit und Jugend im Pfarrhaus zu Juditten bei Königsberg, in: Königsberger Beiträge: von Gottsched bis Schenkendorf/ hrsg. von J. Kohnen, Frankfurt am Main u. a. 2002, 1–16. – Die jüngste, recht schmale und unter Verzicht auf einen Anmerkungsteil gearbeitete Gottsched-Biographie von Philipp Marshall Mitchell, dem langjährigen Mitherausgeber der Ausgewählten Werken Gottscheds (GAW), enttäuscht auf der ganzen Linie, da sie an keinem Punkt über die vorgängige Gottsched-Forschung hinausführt; Ph. M. Mitchell: Johann Christoph Gottsched (1700–1766): Harbinger of German Classicism, Columbia 1995. 2 Zur (gelegentlich auch passiv wahrgenommen) Pfl icht, an einer der drei oberen Königsberger Fakultäten immatrikuliert zu sein, vgl. J. J. Fehr: »Ein wunderlicher nexus rerum«: Auf klärung und Pietismus in Königsberg unter Franz Albert Schultz, Hildesheim u. a. 2005, 52–54. 3 Vgl. Reicke: Zu Joh. Christ. Gottsched’s Lehrjahren, 4; Jähnig: Die Umwelt, 14. 4 J. Ch. Gottsched: Ode Als der Verfasser Sein Funfzigstes Jahr zurücklegte. Den 2

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Kapitel 1: Gottscheds biographische Synthese . . .

um bestimmt, riet der Vater zunächst zu sorgfältiger Ausbildung in den schönen Wissenschaften, der Philosophie und zur Vertiefung der griechischen und hebräischen Sprachkenntnisse; die theologischen Fächer gesellten sich im Studienprogramm des akademischen Eleven jedoch bald hinzu. In den ersten Studienjahren überwog deshalb vermutlich der Anteil der Theologie, bevor sich der Schwerpunkt der Interessen des Judittener Pfarrerssohnes – wie noch zu berichten sein wird – in den philosophischen Bereich verlagerte.5 1.1 Der Theologiestudent Aus Gottscheds Hand 6 und aus sekundären Nachrichten, die teilweise jedoch auf privat erteilte Informationen Gottscheds zurückgehen,7 sind die Namen derjenigen Männer überliefert, bei denen er studierte.8 Unter homiletischem Gesichtspunkt weckt insbesondere die Aufzählung seines Briefpartners,9 des Jenaer Professors für Politik, Gottlieb Stolle (1673–1744), Interesse, der zu berichten weiß, daß Gottsched sich bei »Doct. Hahnen und Prof. Wolfen in den Orientalischen Sprachen, Doct. Quandten in Theologia thetica, D. Lysium in der Exegesi, D. Langhansen in der Morale, und Doct. Masecovium und M. Lilienthalen in der Homiletic unterrichten«10 ließ. Bei dieser lediglich kursorischen Erwähnung von Lehrern Gottscheds11 bedürfte es ausgesprochen intensiver Ermittlungsarbeit, um zu erschließen, welche Febr. des 1750 Jahres, GAW I, 234,281 f.; vgl. auch Reicke: Zu Joh. Christ. Gottsched’s Lehrjahren, 2–4. 5 Vgl. Waniek: Gottsched, 10. 6 Gottscheds versah erstmals bei der 6. Aufl age seiner Weltweisheit (Praktischer Teil) (1756) diese mit einer Nachricht von des Verfassers eignen Schriften (abgedruckt in: GAW V/3, 247–286), die bis zum Jahr 1733/34 reicht und wichtige Informationen über seine Königsberger Studienjahre enthält. Bei der letzten, zu Lebzeiten veranstalteten Ausgabe der Weltweisheit ( 71762) überarbeitete Gottsched das bereits Mitgeteilte geringfügig und führte den Bericht bis ins Jahr 1745 fort: ders.: Fortgesetzte Nachricht von des Verfassers eignen Schriften, bis zum 1745sten Jahre, GAW V/2, 3–66. 7 Vgl. die Analyse des Quellenmaterials bei Reicke: Zu Joh. Christ. Gottsched’s Lehrjahren, 46–49 in Anm. 2. 8 Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 4–7; vgl. GAW V/3, 248–250; vgl. auch Reicke: Zu Joh. Christ. Gottsched’s Lehrjahren, 5 f. 9 Vgl. Suchier: Gottscheds Korrespondenten, 75. 10 Gottlieb Stolle: Ganz neue Zusätze und Ausbesserungen Der Historie Der Philosophischen Gelahrtheit, Jena 1736; zit. nach Reicke: Zu Joh. Christ. Gottsched’s Lehrjahren, 5 f. – Gottsched selbst erwähnte für sein Theologiestudium, mit Stolle weitgehend übereinstimmend, dieselben Namen, jedoch ohne Hinweis auf die studierten Fächer; Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 7,21–25; vgl. GAW V/3, 251,19–23. 11 Zu weiteren Lehrern sind die einschlägigen Biographien sowie Reicke heranzuziehen. Rieck: Johann Christoph Gottsched, 246 in Anm. 56 bietet zudem eine nützliche, wenn auch unvollständige Zusammenstellung der den Königsberger Lehrern gewidmeten kasuallyrischen Texte aus Gottscheds Feder.

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Inhalte dem jungen Theologiestudenten durch die Genannten vermittelt worden sein könnten. Leichter lassen sich dahingegen Aussagen gewinnen über die persönliche Wertschätzung einzelner Lehrer und Fächer, die von Einfluß auf seine Studien waren.12 Reicke, der intime Kenner der Umstände und Details von Gottscheds Studienzeit, faßte einen diesbezüglichen Eindruck wie folgt zusammen: »Geübt hat er sich in Königsberg, als Theologe, besonders, scheint es, in der geistlichen ›Wohlredenheit‹, durch häufiges Predigen; in der weltlichen gewiß hauptsächlich um der Pflege des Lateinischen Ausdrucks willen.«13 Auf den von Stolle erwähnten Homiletikunterricht, den Gottsched bei Lilienthal genossen haben soll, wird noch zurückzukommen sein. Gottsched betrieb, dem Wunsch des Vaters und vielleicht auch eigener Neigung entsprechend, sein Theologiestudium gewissenhaft: »Ich hatte«, schrieb dieser rückblickend, »die Theologie mit allem Fleiße studiret, und alle Theile derselben bey ihren vornehmsten Lehrern allda«14. Ebenso berichtete Gottsched 1740,15 er sei in Königsberg »unter den Candidaten einer der beliebtesten im Predigen gewesen«16 und habe bis zu Beginn der 1730er Jahre, als er mit der erlangten Philosophieprofessur in Leipzig das Predigen aufgab, »mehr als hundertmal und zwar auf den ansehnlichsten Kanzeln in Königsberg, Danzig und Leipzig geprediget«17. Ein früher Biograph Gott12 13 14

Vgl. Reicke: Zu Joh. Christ. Gottsched’s Lehrjahren, 6. Reicke: Zu Joh. Christ. Gottsched’s Lehrjahren, 18. Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 7,19–21; vgl. GAW V/3, 251,17–

19. 15 Als 1740 Gerüchte über den Tod des Königsberger Theologieprofessors und Hofpredigers Johann Jacob Quandt kursieren, erkundigt sich Gottsched am 20. Februar 1740 bei Graf Manteuffel in Berlin, ob er ihn nicht für die Wiederbesetzung seiner Stelle ins Gespräch bringen könnte; vgl. Waniek: Gottsched, 388. Gottsched, der bislang als Professor für Logik und Metaphysik gewirkt hatte, verwies dabei auf seine theologische Qualifi kation: »Man weiß überdas in Königsberg wohl, daß ich daselbst zehn Jahre lang ein eifriger Theologus gewesen«; zit. bei Danzel: Gottsched und seine Zeit, 22 in Anm. *). 16 Danzel: Gottsched und seine Zeit, 22 in Anm. *). 17 J. Ch. Gottsched: Ausführliche Redekunst (1736), GAW VII/3, 72,4–7; diese Aussage wird in dem erwähnten Brief an Manteuffel wiederholt; Danzel: Gottsched und seine Zeit, 22 in Anm. *). In den seiner Ausführlichen Redekunst beigegeben satirisch-polemischen Reden »wieder die homiletischen Methodenkünstler« und »wieder die so genannte Homiletik« fi ndet sich auch der Hinweis auf seine mehr als hundertfache Predigterfahrung (GAW VII/3, 124,22 f.; 133,27 f.), ebenso im Verhörprotokoll des Dresdner Oberkonsistoriums: »[. . .] er [sc. Gottsched] hätte selber Theologiam studiret, über Hundert Predigten gehalten, und sich iederzeit gehütet, nichts wieder Unsere Glaubenslehre vorzubringen«; Protokoll über das Verhör Gottscheds vor dem Oberkonsistorium am 25. September 1737, zit. nach D. Döring: Die Philosophie, 142. Noch im Jahr 1756 rechtfertigte sich Gottsched in: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, Jg. 1756, 514 f., gegen Zweifel an seiner Orthodoxie u. a. mit dem Hinweis: »Und wie sollte mir das in den Sinn kommen, da ich mehr als zehn Jahre lang aus der Theologie mein Hauptwerk gemachet, und selbst, theils in Königsberg, theils in Leipzig, über hundertmale geprediget habe?«

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scheds, der ebenfalls über Informationen aus erster Hand verfügte, wußte dabei von der Königsberger Zeit genauer zu berichten, daß Gottsched »in dieser grossen Stadt fast hundertmal zehn verschiedene Canzeln bestiegen« hat, um »seine Gaben im predigen zu üben«.18 Von einer Ausnahme abgesehen (einer Predigt aus der Leipziger Zeit) ist keine dieser Predigten handschriftlich oder im Druck überliefert.19 Wenn angesichts der spärlichen Informationslage überhaupt theologische Lehrer hervorgehoben werden können, die in besonderer Weise von Bedeutung für den jungen Studiosus theologiae waren, dann zunächst der zwar orthodox und antipietistisch gesinnte, aber gleichwohl der neuen Zeit zugewandte Johann Jacob Quandt (1686–1772),20 der von dem Jenaer »Übergangstheologen« Johann Franz Buddeus als einer seiner Gesinnungsgenossen betrachtet wurde.21 In späteren Jahren sehen wir Quandt, den nachmaligen Königsberger Hofprediger, und Gottsched miteinander in briefl icher Verbindung,22 eine Korrespondenz, die vorrangig im Zusammenhang mit der Interessengleichheit bei sprachreformerischen Bestrebungen stand.23 Quandt mag mit seinem, durch Buddeus vermittelten, philosophischen Eklektizismus24 befruchtend auf den wissenschaftlichen Eros des Studenten Gottsched gewirkt haben. Denn Quandt stellte seine Kollegs und Disputationen nicht unter ein praejudicium autoritatis25, sondern war nach Aussagen Gottscheds in 18

Beide Zitate G. W. Goetten: Joh. Christoph Gottsched, in: ders.: Das jetztlebende Gelehrte Europa Oder Nachrichten Von Den vornehmsten Lebens=Umständen und Schriften Jetztlebender Europäischer Gelehrten [. . .], Tl. 2, Braunschweig; Hildesheim 1736, 77. 19 Neben verschiedenen, gedruckt vorliegenden Parentations- und Leichenreden (eine leicht zugängliche Auswahl in: GAW IX/1, 213–366) fi ndet sich der einzig erhalten gebliebene Abdruck einer Textpredigt Gottscheds in seiner Ausführlichen Redekunst (GAW VII/3, 72–93). 20 Waniek: Gottsched, 9; L. Gilde: Beiträge zur Lebensgeschichte des Königsberger Oberhofpredigers Johann Jacob Quandt, Diss. phil. Königsberg 1933, 33 charakterisiert Quandt in kirchengeschichtlich problematischer Kontrastierung als einen Mann, der »(. . .) praktisches Christentum und Toleranz höher(schätzte) als die streitsüchtige, starre Orthodoxie«. 21 Gilde: Beiträge, 31. 22 Suchier: Gottscheds Korrespondenten, 59 verzeichnet zwölf Briefe Quandts an Gottsched aus den Jahren 1736 bis 1755. 23 Zu Quandt und der 1741 gegründeten Deutschen Gesellschaft in Königsberg, deren erster Präsident er war, vgl. G. Krause: Gottsched und Flottwell, die Begründer der Deutschen Gesellschaft in Königsberg: Festschrift zur Erinnerung an das 150jährige Bestehen der Königlichen Deutschen Gesellschaft zu Königsberg in Preußen, Leipzig 1893, bes. 6– 17 sowie im Register s. v. Quandt. 24 Gilde: Beiträge, 21. – Zu Buddeus’ Eklektizismus vgl. insbesondere Sparn: Auf dem Wege, 71–89; zur philosophisch-theologischen Eklekik der homiletischen Auf klärung s. a. unten in Kap. 4, Abschn. 2. 25 Vgl. dazu für Buddeus bei J. Reinhard: Die Prinzipienlehre der lutherischen Dogmatik von 1700 bis 1750 (Hollatz, Buddeus, Mosheim): Beitrag zur Geschichte der altprotestantischen Theologie und zur Vorgeschichte des Rationalismus, Leipzig 1906, 65. –

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Kontroversen stets bemüht, die Gegner mit wissenschaftlichen Gründen zu überwinden.26 Einiges Zutrauen in Quandts theologisches Urteilsvermögen sprach auch aus der Tatsache, daß er es war, dem Gottsched seine schließlich als heterodox eingeschätzte und deswegen nie verteidigte und gedruckte theologische Dissertation zur Rechtfertigungslehre zur Beurteilung vorlegte (s. u. Abschn. 1.2). Unter Quandt, einem rednerisch talentierten und erfolgreichen Prediger, übte Gottsched sich schließlich auch seit 1720 in der Redekunst.27 Ob die partielle Übereinstimmunge einiger homiletischer Prinzipien Gottscheds und Quandts auf eine Beeinflussung des ersten durch letzteren zurückgeht, wie Luise Gilde nahelegt,28 oder umkehrt (was mir wahrscheinlicher scheint),29 muß hier offen bleiben. Da Gilde für das von ihr herangezogene Quellenmaterial bedauerlicherweise kaum genaue Datierungen angibt,30 müßte man (sofern es überhaupt noch vorhanden ist) dieses erneut untersuchen, um die Frage der Abhängigkeit der beiden voneinander abschließend entscheiden zu können. Daß Quandt homiletisch wohl aber eher negativ auf Gottscheds rhetorische Ansichten gewirkt hat,31 Quandt wurde nach Gilde: Beiträge, 22 während eines Studienaufenthaltes in Jena 1707/08 Buddeus’ »Schüler«. 26 Mit Hinweis auf eine ungedruckte, antideistische Schrift Quandts, von der Gottsched durch eigenes Kolleghören offenbar Kenntnis hatte, lobte er: J. Ch. Gottsched: An Se. Hochw. Magnificenz, Herrn D. Johann Jacob Qvandten, [. . .] als er 1736. im Jul. durch Leipzig gieng, in: ders.: Gedichte, Leipzig 1736, 578: »Wie männlich konntest du die Gegner übermannen, | Die sich bisher bemüht, den Glauben zu verbannen.« Vgl. dazu auch E. Reichel: Gottsched, Bd. 1, 85. – Quandts theologische Arbeit erstreckte sich neben hebräischen Studien insbesondere auf antideistische Polemik; Gilde: Beiträge, 65. 27 Gilde: Beiträge, 92. – C. Hinrichs: Preußentum und Pietismus: der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiös-soziale Reformbewegung, Göttingen 1971, 235 meinte zu Quandts Predigttalent, daß »seine pompöse Kanzelberedsamkeit (. . .) ihm eine ungeheure Popularität bei Hoch und Niedrig (verschaffte)«. 28 Gilde: Beiträge, 92; auch Waniek: Gottsched, 9 nimmt einen erheblichen Einfluß Quandts auf Gottsched, vor allem in rhetorischer Hinsicht, an. 29 Über die Königsberger Deutsche Gesellschaft berichtet E. Wolff: Über Gottscheds Stellung in der Geschichte der deutschen Sprache, in: Festschrift zum siebzigsten Geburtstage Rudolf Hildebrands in Aufsätzen zur deutschen Sprache und Litteratur sowie zum deutschen Unterrichte, Leipzig 1894, 286 f.: »Flottwell meldet aus Königsberg wiederholt, daß der Generalsuperintendent Professor Joh. Jakob Quandt, der Präsident der Deutschen Gesellschaft, den Leipziger Meister [sc. Gottsched] als seinen autorem classicum lese.« 30 Gilde: Beiträge, 86 referiert z. B. aus einem interessanten homiletischen Manuskript Quandts De oratoria sacra, macht aber keinerlei Angaben zur Abfassungszeit des Texts; ebenso fi nden sich bei ihr ebd, 84 f. keinerlei Hinweise zur zeitlichen Einordnung eines weiteren homiletischen Manuskripts von Quandt, Jura Jehova. 31 In diese Richtung weist auch der von Gilde: Beiträge, 19 erwähnte, für Quandts Homiletik aber nicht weiter verfolgte Hinweis, daß er im Zusammenhang mit seiner Leipziger Studienzeit (1706/07) Christian Weise (1642–1708), dem späteren Rektor des Zittauer Gymnasiums und Spiritus rector der galanten Reformrhetorik, einen Besuch in Weißenfels abstattete und, wie es scheint, von diesem in den rhetorisch-homiletischen Ansichten beeinflußt wurde. Gottscheds Rhetorikreform dagegen war erklärtermaßen eine Absage an Weises Rhetorikkonzeption.

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legt eine Äußerung nahe, die Quandt in einem seiner homiletischen Manuskripte zu Papier brachte. Hier empfahl er als Anforderungen an einen zukünftigen Prediger, daß er »von den Weltberühmten Lehrmeistern auf solchen Akademien, wo die Leipziger Methode floriret«32 , lernen solle. Das entsprach nun aber keineswegs dem, was Gottsched allerspätestens seit Mitte der 1720er Jahre für eine brauchbare homiletische Ausbildung hielt! Und auch daß Quandt noch 1754 in einer Direktive im Rahmen seiner Pfarramtsrevisionstätigkeit für die Predigt die Jahrgangsmethode – einem Hauptangriffspunkt Gottschedscher Homiletikkritik – einforderte,33 belegt dessen nur zurückhaltende reformhomiletische Auffassung.34 Demgegenüber betonte Reicke – wie mir scheint zu Recht –, daß Gottsched sich an den Predigten und dem Lehrvortrag des früh verstorbenen Philosophieprofessors Johann Heinrich Kreuschner (1693–1730) 35 »vor andern hier in Königsberg gebildet«36 hat. Für Kreuschner, der als »(d)er erste Wolffianer in Königsberg«37 bereits 171738 nach den Grundsätzen der Wolffschen Logik Vorlesungen gehalten haben soll, verfaßte Gottsched 1730 anläßlich dessen frühen Todes eine Elegie,39 die überschwenglich das Exempel der »wahren Rednerkunst«40 des Verstorbenen auf dem Predigtstuhl rühmte, eine Kunst, die »kein frostig Spiel weit hergesuchter Sprüche«, »kein leerer Schall, dem Geist und Nachdruck fehlt«, »[k]ein thörichter Gebrauch ver32

Zit. bei Gilde: Beiträge, 85. – Zur Homiletik nach »Leipziger Methode« und Gottscheds Kritik daran s. u. Kap. 2, Abschn. 1.4.2. 33 Gilde: Beiträge 104. 34 Krause: Gottsched und Flottwell, 10 in Anm. 3 beurteilte ein in der Bibliothek der Deutschen Gesellschaft zu Königsberg befi ndliches Konvolut von 40 Mitschriften Quandtscher Predigten wie folgt: »Die Sprache ist deutlich und rein, sie meidet Fremdwörter; die Anordnung ist wohl durchdacht, bisweilen aber gar zu gekünstelt.« 35 Zur Lehrtätigkeit des frühverstorbenen und von Fehr als »Frühwolffi aner« bezeichneten Kreuschner an der Albertina siehe Fehr: »Ein wunderlicher nexus rerum«, 96–98; über Kreuschner als Prediger P. Konschel: Zur Geschichte der Predigt des Pietismus in Ostpreußen, Königsberg 1917, 24 f. 36 Reicke: Zu Joh. Christ. Gottsched’s Lehrjahren, 24; ebenso meinte E. Wolff: Gottscheds Stellung, Bd. 1, 122 über die nach der Magistrierung ausgeübte Predigttätigkeit Gottscheds: »Da übte er nun praktisch, was ihm von Kreuschner überkommen war«; zu Kreuschners Einfluß auf den jungen Gottsched vgl. auch Krause: Gottsched und Flottwell, 87 f. 37 Fehr: »Ein wunderlicher nexus rerum«, 96. 38 Vgl. neben Fehr: »Ein wunderlicher nexus rerum«, 96 auch C. G. Ludovici: Ausführlicher Entwurf einer vollständigen Historie der Wolffi schen Philosophie, Teil 2, Reprint der Ausgabe Leipzig 1737, Hildesheim; New York 1977, 411 f., von wo aus die Behauptung von Kreuschners »Frühwolffi anismus« Eingang in die Literatur gefunden hat; vgl. z. B. E. Wolff: Gottscheds Stellung, Bd. 1, 113. 39 J. Ch. Gottsched: Elegie. Ueber den frühzeitigen Hintritt Herr M. Joh. Heinr. Kreuschners, Predigers zu Königsberg, in: ders.: Gedichte, gesammlet und herausgegeben von Johann Joachim Schwabe, Leipzig 1736, 448–451; vgl. dazu auch Reicke: Zu Joh. Christ. Gottsched’s Lehrjahren, 24. 40 Gottsched: Elegie, 448.

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meynter Rednerschliche« war.41 In auffälliger Übereinstimmung mit eigenen rhetorisch-homiletischen Prinzipien pries er das dessen Predigten eigene »philosophisch Wesen«42 und wußte als Grund dafür zu nennen: »Das macht, er hatte sich in allen Weisheitslehren Der richtigsten Vernunft bey Zeiten fest gesetzt; Und wußte Gottes Wort, als Priester, so zu ehren, Daß Glauben und Natur einander nie verletzt.«43

Fast möchte man meinen, hier den Propagandisten Gottsched in eigener Sache sprechen zu hören. Jedoch hatte Gottsched bereits 1726 in seinen Vernünftigen Tadlerinnen Kreuschners Predigtweise als Vorbild einer Predigtreform hingestellt,44 so daß das Lob für den Verstorbenen wohl doch ehrlicher Überzeugung entsprang. Denn auch in einem Nachruf von anderer Seite wurden an den Predigten des Diakonus an der Domkirche, bei dem Gottsched auch philosophische Vorlesungen hörte,45 deren »auf klärerische« Qualitäten gerühmt: »Seine Art zu predigen war nicht gemein, sondern lebhafft, nachdrücklich und überzeugend. Die Grund-Wahrheiten der Christlichen Religion suchte er insonderheit vorzutragen, und seinen Zuhörern davon einen rechten Begriff beyzubringen; dabey auf ein thätiges Christenthum, mit grossem Nachdruck zu dringen.«46 Hält man gegen dieses sachbezogene und begründete Lob Kreuschners47 die übertriebenen, aber letztlich nichtssagenden, weil ganz offensichtlich der kasuallyrischen Konvention geschuldeten Lobesererhebungen, die Gottsched anläßlich der Durchreise Quandts 41

Alle Zitate Gottsched: Elegie, 449. Gottsched: Elegie, 449. 43 Gottsched: Elegie, 449. 44 Ausführlich dazu unten Kap. 2, Abschn. 1.2. 45 Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 6, 1 f. 46 Acta Borussica. [Tom. I:] Zweytes Stück. Königsberg und Leipzig 1730; zit. nach Reicke: Zu Joh. Christ. Gottsched’s Lehrjahren, 23. – Anhand eines postum publizierten Predigtbandes Kreuschners kommt Ludovici: Ausführlicher Entwurf, Tl. 2, 411 zu der Auffassung, daß »jene [sc. die Predigten] zur Gnüge darthun, daß Hr. Kreuschner die Wolffi schen Lehren öffentlich vorgetragen habe: ia selbst in diesen Predigten sind besonders die Erklärungen aus der Wolffi schen Weltweißheit entlehnet«; zu einem 1737 erschienenen Folgeband von Kreuschners Predigten siehe C. G. Ludovici: Neueste Merckwürdigkeiten der Leibnitzisch-Wolffi schen Weltweisheit, Reprint der Ausgabe Frankfurt und Leipzig 1738, Hildesheim; New York 1973, 237–240. 258. 47 Zu ergänzen ist eine von Gottsched an unverdächtiger Stelle geäußerte Inanspruchnahme Kreuschners als Predigtvorbild: In seiner 1736 erschienenen Ausführlichen Redekunst fi ndet sich die Bemerkung (GAW VII/3, 159 zu S. 121, 8–10): »[. . .] so würde ich sagen, daß mich zu Königsberg, in meinen akademischen Jahren, zweene sehr gelehrte und beredte Geistliche an der Thumkirche [d. i. Domkirche], Flottwell und Kreuschner, zur Nachahmung angefl ammet: Welche beyde ich ohne Verdacht der Schmeicheley hier rühmen kann und muß; da sie die beredtesten Männer gewesen, die ich noch zur Zeit gehöret habe«; der erwähnte Prediger Christian Flottwell ist nicht zu verwechseln mit seinem Sohn, dem Gründer der Deutschen Gesellschaft zu Königsberg und Weggefährten Gottscheds, Christian Coelestin Flottwell (1711–1759). 42

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durch Leipzig 1736 in einem Poetischen Sendschreiben48 über dessen Predigtgaben und die bei ihm genossene homiletische Unterweisung äußerte,49 dann wird die Beanspruchung Kreuschners als rhetorisches Vorbild für den angehenden Redner und Prediger Gottsched plausibel. Die von Gottlieb Stolle eingangs als homiletische Lehrer ins Spiel gebrachten Christian Mascov [Mas(e)covius] 50 (1673–1732) und Michael Lilienthal 51 (1686–1750), mit dem Quandt zusammen zeitweise in Jena und Rostock studiert hatte,52 bleiben gegenüber Quandt und Kreuschner in ihrem Einfluß auf die homiletische Schulung Gottscheds undeutlich.53 Als 48 Gottsched: An Se. Hochw. Magnificenz, Herrn D. Johann Jacob Qvandten, 577– 580; vgl. Reicke: Zu Joh. Christ. Gottsched’s Lehrjahren, 22 f. 49 Quandts Rede wird von Gottsched: An Se. Hochw. Magnificenz, Herrn D. Johann Jacob Qvandten, 578 schöner als Chrysostomus’, feuriger als Lassenius’ und klüger als Tillotsons Rednertalent gepriesen. 50 Als Gottsched 1722 im Namen der Königsberger Studenten Christian Mascov zu seiner Rektoratsübernahme gratulierte, äußerte er angesichts von dessen Predigten (C. Mascov: evangel. Glaubens-, Lehr-, Wahrnungs- etc. Gedanken, Königsberg 1716; Titel nach GV 93, 242) in anlaßbedingter Übertreibung, daß sein Predigtjahrgang »die meisten von seiner Gattung, wie ein Stern der ersten Größe, die unzählbahre Menge nebelichter Himmelslichter verdunkelt«; J. Ch. Gottsched: Glückwunsch an weil. Herrn D. Christian Masecoven, [. . .] als Derselbe 1722 den 4. Oct. das Rectorat zu Königsberg in Preußen zum erstenmal übernahm. Im Namen der dasigen Studirenden, GAW IX/2, 560,33– 561,2; zu Mascov bzw. Gottscheds Rede vgl. Reicke: Zu Joh. Christ. Gottsched’s Lehrjahren, 25 mit Anm. 48. 51 Zu ihm vgl. Reicke: Zu Joh. Christ. Gottsched’s Lehrjahren, 8–10; vgl. auch R. Knoll: Michael Lilienthal: ein Vermittler zwischen den Kulturen als Mitglied der Petersburger Akademie, in: Königsberg-Studien: Beiträge zu einem besonderen Kapitel der deutschen Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts/ hrsg. von J. Kohnen, Frankfurt am Main 1998, 329–343. G. Kessler: Altpreussische Briefe an Johann Christoph Gottsched, in: Altpreußische Geschlechterkunde: Blätter des Vereins für Familienforschung in Ostund Westpreußen 11, Heft 1 (1937), 12 meint – vielleicht von Stolle abhängig –: »Er war Gottscheds homiletischer Lehrer gewesen; dem Lehrkörper der Königsberger Universität hat er aber niemals angehört.« Reicke: Zu Joh. Christ. Gottsched’s Lehrjahren, 10 mit Anm. 31 äußert die Vermutung, daß der von Stolle erwähnte Homiletikunterricht sich auf ein Predigerkollegium beziehen könnte, das Lilienthal 1722 als Diakonus der Altstädter Kirche veranstaltete und das nicht nur von den Predigtamtskandidaten, sondern auch von Studenten der Theologie besucht wurde. – Vier Briefe Lilienthals an Gottsched aus den Jahren 1728/29 verzeichnet Suchier: Gottscheds Korrespondenten, 46 f. 52 Gilde: Beiträge, 23 f. 32. 53 Der berühmte Leipziger Theologe Johann August Ernesti, Mitglied der ersten Stunde in Gottscheds Nachmittäglicher Rednergesellschaft, nannte 1766 in seiner Gedächtnisrede auf Gottsched als dessen rhetorische Lehrer Quandt, Lilienthal und Kreuschner, wobei letzterer hervorgehoben erwähnt wird: [ J. A. Ernesti:] Memoriam Viri Amplissimi Atque Celeberrimi Io. Christophori Gotschedii [. . .] De Literis Et Academia Nostra Praeclare Meriti D. XII. Dec. A. C. M D CC LXVI. Rebus Humanis Exemti commendat Rector Vniversitatis Liter. Lips., Lipsiae [1766], VI: »[. . .] audierat [sc. Gottsched] enim Quandium, Lilienthalium, et, quem in primis laudare solebat, Kreuschnerum, disertos et elegantes oratores in Ecclesia Montis regii: [. . .]«; die Gedenkrede Ernestis ist auch abgedruckt in: J. A. Ernesti: Opusculorum oratoriorum. Novum volumen. Accessit elogium beati viri publice scriptum, Lipsiae 1791, 105–122.

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»meine[n] königsbergischen Lehrer der Beredsamkeit« bezeichnete Gottsched später schließlich auch Johann Jakob Rohde (1690–1727), wobei das Urteil über das bei ihm Gelernte höchst negativ ausfiel.54 Es ist schwer, zu entscheiden, wieviel des Tadels der Selbststilisierung des berühmten Leipziger Professors geschuldet ist, in derem Zusammenhang sie geäußert wurde.55 Unbeachtet blieb in der Forschung bislang als möglicher homiletischer Lehrer der für Gottscheds dichterisches Schaffen wichtige Poetikprofessor Johann Valentin Pietsch (1690–1733), und zwar vor allem hinsichtlich dessen Kritik an orthodoxer Predigt.56 Anläßlich des Todes des 1721 verstorbenen Königsberger Theologieprofessors Bernhard von Sanden verfaßte Pietsch eine Trauerode, die Gottsched zwar in einen, von ihm mit einem gewissen Zeitabstand publizierten Band der Gedichte seines verehrten Lehrers aufnahm,57 die ihm aber bereits in seiner Königsberger Zeit bekannt geworden sein dürfte. In diesem Gedicht schilderte Pietsch, daß von Sanden durch die Rhetorica ecclesiastica Melchior Zeidlers58 beeinflußt gewesen sei, einer barocken Regelhomiletik, die – wie dem Gedicht zu entnehmen ist – im ostpreußischen Raum offenbar ein ähnlich hohes Ansehen genoß,59 wie 54 Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 24,4–8; zu Rohde und seinem Unterricht vgl. Reicke: Zu Joh. Christ. Gottsched’s Lehrjahren, 10–13. 18. 31. 55 Bei J. Ch. Gottsched: Vorrede [zu: ders.: Versuch einer critischen Dichtkunst, 1730 (d. i. 1729)], GAW VI/2, 397,24 f. wird Rohde im Zusammenhang mit dessen poetischen Lehrstunden dagegen »ein sehr geschickter Mann« genannt. 56 Zu Pietsch siehe ADB 26 (1888), 123 f.; zu dessen Einfluß auf Gottsched vgl. Reikke: Zu Joh. Christ. Gottsched’s Lehrjahren, 31–38. 57 J. V. Pietsch: Bey dem Betraurens=würdigen Todes=Falle Hn. Bernhard v. Sanden [. . .] Ward das Amt eines Lehrers unter dem Bilde einer Uhr vorgestellet, in: Herrn D. Johann Valentin Pietschen, [. . .] Gesamlete Poetische Schrifften Bestehend aus Staats= Trauer= und Hochzeit=Gedichten, Mit einer Vorrede, Herrn le Clerc übersetzten Gedancken von der Poesie und Zugabe einiger Gedichte, von Johann Christoph Gottsched, Leipzig 1725, 129–139. 58 M. Zeidler: Rhetorica ecclesiastica, ad methodum oratoriae civilis, quam Aristoteles, Cicero et alii insignores oratores praescripserunt, adornata, Königsberg 1672 ( 21704). 59 Zeidlers Homiletik wurde vom Königsberger Pfarrer und Theologen Michael Lilienthal vom auf klärerischen Standpunkt als Paradebeispiel der Königsbergischen Predigermethode kritisiert: »Wer die ehmals in Preussen übliche Art zu predigen will kennen lernen, wird dieselbe darinn [sc. in Zeidlers Buch] in ihrer eigenen Gestalt antreffen, und wenn man des Autoris besonders gedruckte Homilien dazu nimmt, so wird man die in diesem Buch gegebene praecepta dadurch erleutert fi nden. Der Autor hat die Rhetoricam Aristotelis ad sacra appliciret. Er lehret zwar accurat disponiren, ist aber fast gar zu scrupuleus in dem Methodo, und wer einer freyen und ungezwungenen Lehrart im predigen sich bedienet, kann solcher Gängelwagen entbehren«; M. Lilienthal: Fortgesetzte Theologische Bibliothec, Das ist: Richtiges Verzeichniß, zulängliche Beschreibung, und bescheidene Beurtheilung der dahin gehörigen Vornehmsten Schriften welche in M. Michael Lilienthals [. . .] Bücher=Vorrath befi ndlich sind, Königsberg 1744, 794 f.; bei J. L. v. Mosheim: Anweisung erbaulich zu predigen (1763)/ neu hrsg. und eingeleitet von D. Fleischer, Waltrop 1998, 77 fällt die Kritik am Königsberger »Methodo« wie folgt aus: »Die königs-

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das Hodegeticum Johann Benedict Carpzovs60 in Kursachsen. Später sei von Sanden aber – wie es bei Pietsch weiter heißt – zur Einsicht gekommen, sich von den orthodoxen Regelkünsten freizumachen und einen eigenen Predigtstil zu pflegen, der nicht mehr einer als geistlos geschilderten »Methodenreiterei« verhaftet war bzw. sich nicht in Autoritätsgläubigkeit, Schriftvergessenheit sowie Register-, Konkordanz- und Kompendienwissen erging.61 Viele der von Pietsch rhetorisch-polemisch kritisierten homiletischen Kennzeichen der Orthodoxie62 kehrten später in Gottscheds Ausfällen geberger Predigermethode hatte unter denselben etwas ganz besonderes, und daher müssen wir derselben kürzlich gedenken. Sie weiset den Predigeren [!], wie sie über ein Wort eines Textes zwölf, ia zwanzig Predigten halten können. Eine herrliche Kunst!« Zur auf klärungshomiletischen Positionalität von Mosheims Kritik vgl. jedoch Strassberger: Die »Leipziger Predigerkunst«, 185–193. 60 Vgl. A. Beutel: Aphoristische Homiletik: Johann Benedikt Carpzovs ›Hodegeticum‹ (1652), ein Klassiker der orthodoxen Predigtlehre, in: Klassiker der protestantischen Predigtlehre: Einführungen in homiletische Theorieentwürfe von Luther bis Lange/ hrsg. von Ch. Albrecht; M. Weeber, Tübingen 2002, 26–47; zur »Leipziger Predigerkunst« unter Berücksichtigung Carpzov d. Ä. und d. J. vgl. Strassberger: Die »Leipziger Predigerkunst«, 162–218. 61 Pietsch: Bey dem Betraurens=würdigen Todes=Falle, 133–135: »Wie sich nun jede Uhr durch fremdes Stellen regt, Ward unser Sanden auch durch Zeidlers Hand bewegt, Eh sein Getriebe sich durch eignen Lauff gerühret: Er forschte wie den Text sein Vater ausgeführet, Wie Carpzov, dessen Schrifft der Sachsen Zungen lenckt, Die schwere Lehrer=Kunst recht zu erleichtern denckt. Doch Sandens Geist ward nicht durch Regeln angebunden, Was man bey andern sucht, hat er bey sich gefunden. Die ihr den Predigt=Stuhl nur mit Methoden stützt, Die Ordnung hilfft euch nichts, wen(n) ihr nach Regeln schwitzt. Schmückt das Gerippe nur durch angebrachte Sachen, So wird es Fleisch und Blut erst recht gefällig machen: Denn in das Todten=Bild der Disposition Fliest durch den Einfall Geist, der Ausdruck giebt den Ton. [. . .] Denn manchen hält man offt auf seinem Kirchen=Thron, Der so viel Väter nennt, vor aller Väter Sohn, Cyrill und Cyprian sind bald auf seiner Seiten, Doch dem Origenes will er die Meinung streiten, Gregor, Lactantz, Justin und Athanasius, Verstäckt den ersten Satz, Tertullian den Schluß: Und endlich fi ndet sich bey diesem bunten Wesen, Daß der gelehrte Mann nicht einen hat gelesen.« Diese Kritik Pietschs fand über eine Rezension seines Gedichtbandes in den Deutschen Acta Eruditorum 1725 weite Verbreitung, wo auch die von mir zitierte Passage zum Abdruck kam und als »reelle Gedancken« gelobt wurden; Deutsche Acta Eruditorum, 108. Theil, 1725, 897 f.; ein später Referenzbezug auf diesen Abdruck fi ndet sich noch bei Cappelmann: Beiträge, Tl. 2 (1743), 232 in Anm. 228; 368 f. in Anm. 323. 62 Zum Stand der Erforschung der Homiletik der Orthodoxie siehe Strassberger: Die

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gen die orthodox-barocke Predigtlehre wieder. Bei dieser Parallelität ist jedoch zu bedenken, daß die kritischen Topoi im bereits seit längerem geführten »Kampf um die Predigt« zwischen Orthodoxie und Pietismus63 kursierten und insofern keine rezeptionsgeschichtlich nachweisbare Originalität aufwiesen. Gleichwohl belegen Pietschs Ausführungen, daß Anfang der 1720er Jahre in Königsberg mehrere Prediger und Professoren sich darin einig waren, daß die Zeit orthodoxer Homiletik abgelaufen war. Der bald auf die Seite der entschiedenen Wolffianer wechselnde Gottsched fand, was diese Philosophie betraf, an der theologischen Fakultät kei»Leipziger Predigerkunst«, 163–170. – Aus der vorhandenen Literatur siehe insbesondere Schian: Orthodoxie und Pietismus, 10–33; Niebergall: Die Geschichte, 288–294; J. Dyck: Ornatus und Decorum im protestantischen Predigtstil des 17. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 94 (1965), 225–236; J. Kreslins: Dominus narrabit in scriptura populorum: a Study of Early Seventeenth-Century Lutheran Teaching on Preaching and the Lettische lang-gewünschte Postill of Georgius Mancelius, Wiesbaden 1992; J. A. Steiger: Rhetorica sacra seu biblica: Johann Matthäus Meyfart (1590–1642) und die Defi zite der heutigen rhetorischen Homiletik, ZThK 92 (1995), 517–558; Th. Kaufmann: Universität und lutherische Konfessionalisierung: die Rostocker Theologieprofessoren und ihr Beitrag zur theologischen Bildung und kirchlichen Gestaltung im Herzogtum Mecklenburg zwischen 1550 und 1675, Gütersloh 1997, 437–602, bes. 467–507; Beutel: Aphoristische Homiletik, 26–47. 63 Noch spärlicher als für die orthodoxe Homiletik fl ießen Studien zur pietistischen Predigttheorie, die fast ausschließlich über die Analyse von Predigtmaterial einzelner herausragender pietistischer Prediger (Spener, Francke u. a.) aufgearbeitet wird; vgl. u. a. P. Konschel: Zur Geschichte der Predigt des Pietismus in Ostpreussen, Königsberg 1917; Niebergall: Die Geschichte, 294–305; Schütz: Geschichte, 145–159; explizites predigttheoretisches Material bieten auch M. Schian: Johann Jakob Rambach als Prediger und Predigttheoretiker, BHKG 4 (1911), 89–149, bes. 104–113; Schian: Orthodoxie und Pietismus, 34–78; K. Lischka: Johann Jacob Rambachs Praecepta Homiletica, Diss. theol. Münster 1975 (die Arbeit leidet unter einem allzu vordergründigen praktisch-theologischen Interesse); A. Haizmann: Erbaulichkeit als Aufgabe der Predigt bei Philipp Jacob Spener, in: Klassiker der protestantischen Predigtlehre, 48–74. – Wichtig, aber theologischerseits leider noch immer zu wenig beachtet, ist H. Marti: Die Rhetorik des Heiligen Geistes: Gelehrsamkeit, poesis und sermo mysticus bei Gottfried Arnold, in: PietismusForschungen: zu Philipp Jacob Spener und zum spiritualistisch-radikalpietistischen Umfeld/ hrsg. von D. Blaufuß, Frankfurt am Main 1986, 197–294; vgl. dazu auch D. Blaufuss: Zur Predigt bei Gottfried Arnold, in: Gottfried Arnold (1666–1714): mit einer Bibliographie der Arnold-Literatur ab 1714/ hrsg. v. dems.; F. Niewöhner, Wiesbaden 1995, 33–54. Aufschlußreich für pietistisches Predigt- und Rhetorikverständnis sind die Beobachtungen von germanistischer Seite bei R. Breymayer: Die Erbauungsstunde als Forum pietistischer Rhetorik, in: Rhetorik: Beiträge zu ihrer Geschichte in Deutschland vom 16.-20. Jahrhundert/ hrsg. von H. Schanze, Frankfurt am Main 1974, 87–104; ders.: Pietistische Rhetorik als Eloquentia nov-antiqua, mit besonderer Berücksichtigung Gottfried Polykarp Müllers (1684–1747), in: Traditio-Krisis-Renovatio, FS Winfried Zeller, Marburg 1976, 258–272 (Auszug in: Rhetorik: Bd. 2: Wirkungsgeschichte der Rhetorik/ hrsg. von J. Kopperschmidt, Darmstadt 1991, 127–137); J. Dyck: Athen und Jerusalem: die Tradition der argumentativen Verknüpfung von Bibel und Poesie im 17. und 18. Jahrhundert, München 1977, 114–122; zum Verhältnis von Pietismus und Rhetorik vgl. auch D. Gutzen; M. Ottmers: Christliche Rhetorik III. Protestantismus, HWRh 2 (1994), 219 f.

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ne ordentlichen Professoren, von denen er Förderung und Unterstützung erfahren konnte.64 Vor der Mitte der 1720er Jahre, bevor es unter politischer Protektion Friedrich Wilhelms I. gelang, ein Übergewicht an pietistisch geneigten Professoren zu schaffen und eine damit verbundene pietistische Phase an der Königsberger Fakultät einzuläuten65 bzw. mit der Person Franz Albert Schultz’ (1692–1763) einen »pietistischen Wolffianer« aufzubieten,66 wandelte die theologische Lehre weitgehend in orthodox-theologischen Bahnen. Einblick in die theologischen Ansichten des Theologiestudenten Gottsched vor seiner entscheidenden Hinwendung zur Philosophie bietet ein Lehrgedicht, das er als Achtzehnjähriger verfaßte und das zu den frühesten erhalten gebliebenen Texten seines umfangreichen literarischen Œuvre zählt.67 Die Überschrift weist bereits die theologische Hauptaussagerichtung: Daß der Mensch selbst an seiner Verdammung Schuld sey.68 In diesem kurzen Gedicht werden krachende Donnerschläge, zuckende Blitze und dunkel-dräuende Gewitterwolken in physikotheologischem Denkzusammenhang als Weckrufe eines zornigen und strafenden Gottes vorgestellt,69 mit denen dieser sich bei laster- und frevelhaften Herzen Gehör verschaffen will, die auf dem rosenbestreuten Weg der ewigen Verdammnis, und nicht auf dem dornigen 64 E. Wolff: Gottscheds Stellung, Bd. 1, 112 suggeriert einen frühen philosophischen Einfluß durch den bereits erwähnten Prediger am Dom, später (ab 1719) Diakonus an der Altstädter Kirche, Michael Lilienthal, der Leibniz einmal persönlich begegnet war, was jedoch gar nichts bedeutet. 65 E. Riedesel: Pietismus und Orthodoxie in Ostpreußen: auf Grund des Briefwechsels G. F. Rogalls und F. A. Schultz’ mit den Hallischen Pietisten, Königsberg; Berlin 1937, 181 f.; ebd, 184 wird ein interessantes Aktenstück mitgeteilt (Beilage II: Der Universitätsreform-Vorschlag des Lysius von 1726), das u. a. die Einblick in die pietistische Reform der Homiletikausbildung gibt. 66 Vgl. die Studie von Fehr: »Ein wunderlicher nexus rerum«; sowie auch H. Langel: Die Entwicklung des Schulwesens in Preussen unter Franz Albrecht [!] Schultz (1733– 1763), Halle 1909 (die Falschschreibung des Namens wird im Text hartnäckig durchgehalten); W. Borrmann: Das Eindringen des Pietismus in die ostpreussische Landeskirche, Königsberg 1913; Gilde: Beiträge, 35–51; Th. Wotschke: Der Pietismus in Königsberg nach Rogalls Tode in Briefen, Königsberg 1929/30; Hinrichs: Preußentum und Pietismus, 248–271. 67 Gottsched-Bibliographie, GAW XII, Nr. 2; Waniek: Gottsched, 16 bezeichnet es als »[d]as älteste uns erhaltene Lehrgedicht« Gottscheds. 68 J. Ch. Gottsched: Daß der Mensch selbst an seiner Verdammung Schuld sey. Bey Gelegenheit eines Donnerwetters (1718), GAW I, 427 f.; der Text erschien zuerst in Gottscheds Gedichte[n] (Leipzig 1736 21751). 69 Innerhalb der verschiedenen Physikotheologien, die im Gefolge von Übersetzungen englischer Titel seit der Mitte der 1720er Jahre den deutschen Buchmarkt überschwemmten, widmete dem Gewitter ein ganzes Buch P. Ahlwardt: Bronto-Theologie oder vernünftige und theologische Betrachtungen über den Blitz und Donner, wodurch der Mensch zur wahren Erkenntniss Gottes [. . .] wie auch zu einem tugendhaften Leben und Wandel geführt werden kann, Greifswald; Leipzig 1745 (weitere Aufl agen 1746 und 1747; 1750 übersetzt ins Holländische).

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Weg »zum unverwelkten Leben«70 hineilen. Das »Donnerwetter« Gottes führt dabei aber nicht auf die Erkenntnis ererbter Sündenschuld, sondern auf die Größe des Richtergottes: »Und schließt: wie groß der sey, der euch mit seinen Wettern, | Der Mauren und Gewölb und Thürme kann zerschmettern.«71 Das darauf bauende moralische Memento der Zeilen, einen tugendhaften Weg zu gehen, um Gottes Strafgericht abzuwenden und stattdessen die Belohnung des ewigen Lebens zu empfangen, hat seine Mitte in der theologisch problematischen Behauptung menschlicher Willensfreiheit, die es dem Menschen ermögliche, das Böse meiden bzw. den Weg des Glaubens erwählen und gehen zu können: »Aus Huld verstattet er [sc. Gott] uns Menschen allzumal Die unumschränkte Macht, die mehr als freye Wahl, Den Rosen hold zu seyn, die Dornen auszulesen, Der Höllen zu zu gehn, und ewig zu genesen.72 [. . .] Verwegne! denkt dabey, was ihr für Gräuel thut! O! macht den Glauben rein, und euren Wandel gut; Sonst möchte Gott dereinst, mit gleichen Schwefelkeilen, Zum wohlverdienten Lohn begangner Sünden eilen: Ja schont die Langmuth hier; so wird doch jene Pein, Die unauf hörlich währt, der Laster Strafe seyn.« 73

Bereits an dieser Stelle zeigt sich, daß der von physikotheologischer Tugendlehre affi zierte Theologiestudent einer neuen theologischen Generation zuneigte, die sich geistesgeschichtlich nur bedingt mit ähnlichen Denkfiguren in der Orthodoxie in Gleichklang bringen läßt.74 Wer Gottsched in dieser 70

Gottsched: Daß der Mensch, GAW I, 427,11. GAW I, 428,31 f. 72 GAW I, 427,13–16. 73 GAW I, 428,33–38. 74 Es scheint mir ein Schwachpunkt der ansonsten verdienstvollen Studie von W. Philipp: Das Werden der Auf klärung in theologiegeschichtlicher Sicht, Göttingen 1957, zu sein, daß Physikotheologie und Wolffi anismus zu sehr voneinander separiert werden und stattdessen jede theologiegeschichtliche Äußerung von Naturfrömmigkeit ideengeschichtlich auf Raimund von Sabunde als geistigen Vater der »Physikotheologie« zurückgeführt wird. So ist es z. B. völlig irreführend, wenn Valentin Ernst Löscher wegen seines Predigtbandes Merckwürdige Wercke Gottes in den Reichen der Natur (1724 31753) von Philipp: Das Werden, 25 als »Physikotheologe« bezeichnet wird; vgl. auch die ganz ähnlich gelagerte Kritik von M. Greschat: Zwischen Tradition und neuem Anfang: Valentin Ernst Löscher und der Ausgang der lutherischen Orthodoxie, Witten 1971, 90 in Anm. 69. – Die Problematik von Philipps These, die Physikotheologie als Reaktion auf einen kosmischen Nihilismus (Kopernikus) des 17. Jahrhunderts zu behaupten, der die letzten Winkel barokken Denkens und der Kultur erschüttert haben soll, und gegen den Wolffi anismus kritisch auszuspielen, wird zugespitzt sichtbar im Referat seiner Thesen auf dem Theologentag 1956: W. Philipp: Die religiösen Triebkräfte der werdenden Auf klärung und der Philosoph Christian Wolff, ThLZ 81 (1956), 395–400. Hier (wie auch in seiner Studie) behauptet Philipp, daß Wolffs Physikotheologie Vernünfftige Gedancken von den Absichten der natür71

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Zeit mit der Physikotheologie in Kontakt gebracht hat, ist nicht ohne weiteres festzustellen. Dafür müßte sein Königsberger Umfeld intensiver durchleuchtet werden, als es im Rahmen dieser Arbeit erfolgen kann. 1.2 Der Bruch mit der orthodoxen Theologie Vermutlich im selben Jahr, also 1718, nach einem vierjährigen, allem Anschein nach ernsthaft der Theologie gewidmeten Studium, ist jene Weichenstellung zu suchen, die den Judittener Pfarrerssohn in der Folge dazu veranlaßte, seinen Wissensdurst nicht mehr an den Quellen der Theologie, lichen Dinge (1724) »eine Art Plagiat« nach älteren Vorbildern sei (ebd, 398), die als apologetische Reaktion zum Erweis seiner Orthodoxie innerhalb der Auseinandersetzung mit den Halleschen Theologen entstand. – Eine andere, m. E. nicht weniger problematische Interpretation der Physikotheologie als Ausdruck religiös-kirchlicher Indifferenz bietet am Beispiel Barthold Heinrich Brockes H.-G. Kemper: Norddeutsche Frühauf klärung: Poesie als Medium einer natürlichen Religion, in: Religionskritik und Religiosität, 79– 99. Das tendenziöse Gefälle seiner Interpretation läßt sich an einem ausgewählten Punkt illustrieren: Kemper kommt auf die Unterschiede der physikotheologischen Schriften vom Schlage des Nordhäuser Pfarrers Friedrich Christian Lesser und der Physikotheologie Christian Wolffs zu sprechen, »der sich« – nach Kempers Aussage – »in einem aggresiv gegen die Orthodoxie gerichteten Vorwort eine Einmischung der ›Offenbarung‹ in den Bereich der ›Weltweisheit‹ verbat« (ebd, 80). Überprüft man die in diesem Zusammenhang angeführte Belegstelle in Wolffs Vernünfftigen Gedancken von den Absichten der natürlichen Dinge (die wohl versehentlich statt auf Blatt 5v der Widmung auf Blatt 5v der Vorrede verweist), so fi ndet sich weder der »aggressive« Ton noch die »gegen die Orthodoxie gerichtete« Zielrichtung noch die Behauptung selbst bestätigt, daß Wolff sich eine Einmischung der Theologie in den Bereich der Philosophie verbeten habe. Tatsächlich ist zunächst festzustellen, daß Wolffs Ausführungen, die auf der Folie der zu dieser Zeit in Halle auf ihren Höhepunkt zusteuernden Auseinandersetzung um seine Person und Philosophie zu lesen sind (die Widmung Wolffs datiert Halle, den 30. September 1723, das Vorwort den 20. September), als Gegenüber die Halleschen Pietisten haben. Sodann behauptet Wolff an der angegebenen Stelle die Übereinstimmung von Vernunft- und Offenbarungswahrheiten und analysierte darauf auf bauend, wie zu verfahren sei, falls ein Widerspruch zwischen einem Satz der Theologie und Philosophie festgestellt wird. Wolffs Forderung, daß die Theologie im Streit nicht einfach Wahrheit per autoritativem Anspruch entscheiden könne (Ch. Wolff: Vernünfftige Gedancken Von den Absichten Der natürlichen Dinge, Den Liebhabern der Wahrheit Mitgetheilet, Halle 1724, Bl. ):( 4r [Widmung]), ist dabei keineswegs grundsätzlich theologiekritisch, sondern erinnert die pietistischen Gegner an die Verbindlichkeiten eines Diskurses, der wissenschaftlich-philosophischer Logik verpfl ichtet ist. Deshalb fordert er, daß im Streitfall eine Diskussion in sachbezogener Klärung der verwendeten Begriffe und Schlüsse (ebd, Bl. ):( 4v) geführt werden müsse, um den – aufgrund seiner Ausgangsthese – nur scheinbaren Widerspruch zwischen Theologie und Philosophie am Ende rational auflösen zu können. Unter wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten verbietet sich nach Wolff bei einer erkenntnistheoretischen Diskussion eine Einmischung der Theologie auch aufgrund seelsorgerlicher Motive (das meint: unter dem Blickwinkel pfarramtlicher Praxis). Insgesamt geht es Wolff also nicht um eine (säkularistische) Trennung von Philosophie und (gelehrter, wissenschaftlicher!) Theologie, sondern um die (Wieder-)Herstellung ihrer Einheit angesichts der von den pietistischen Theologen behaupteten Unvereinbarkeit beider.

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sondern der Philosophie zu stillen.75 Nach Gottscheds eigener Mitteilung hatte »die philosophische Art zu denken, die ich mir aus der cartesianischen, thomasischen und wolfischen Art zu philosophiren geläufig gemachet hat75 Obschon für die Beschreibung von Gottscheds Weg von der Theologie zur Philosophie alles andere als unerheblich, ist für das Folgende eine Datierung nicht mit Sicherheit zu gewinnen. Es handelt sich dabei um seine erste und einzige theologische Dissertation, die unter Heterodoxieverdacht eingezogen und daher nie gedruckt und öffentlich verteidigt wurde. Einzige Grundlage für die Rekonstruktion der Zusammenhänge ist die undatierte Selbstmitteilung bei Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 7,18–8,30 (vgl. GAW V/3, 251,16–252,29), mit der die Ausführungen zur Königsberger Studienzeit abgeschlossen werden. Grundsätzlich stellt sich zunächst die Frage nach der relativen Chronologie. Liegen die hier beschriebenen Ereignisse vor der ab 1719 nachweisbaren Hinwendung zur Philosophie Leibniz’ und Wolffs (s. u.) mit einer vorausgehenden Phase rastloser philosophischer Suche oder ist die Zeit der Abfassung der Dissertation nach 1719 zu suchen? Ist über diese Frage entschieden, stellt sich die Suche nach Anhaltspunkten für eine absolute Chronologie noch einmal gesondert. In der bisherigen Gottsched-Forschung ist darüber unterschiedlich geurteilt worden. Waniek: Gottsched, 9, Aner: Theologie der Lessingzeit, 195 und an letzteren anschließend W. Kuhlmann: Die theologischen Voraussetzungen von Gottscheds Critischer Dichtkunst, Diss. phil. Münster 1935, 57 datierten den Text der Dissertation ohne nähere Angabe von Gründen auf das Jahr 1718. Anders E. Reichel: Gottsched, Bd. 1, 90 in Anm. 35, der in kritischer Abgrenzung zu Waniek die Entstehung auf das Ende der Königsberger Zeit (1723/24) verlegt. Reichels Auffassung läßt sich dabei leicht anfechten: Zwar bildete Gottscheds Bericht den Beschluß seiner Darstellung der Königsberger Jahre, jedoch läßt sich aus dieser Zuordnung nicht auf eine innere Chronologie des Berichteten schließen. Denn er protokolliert in seinem Selbstbericht das Schicksal eines ungedruckten Textes innerhalb einer chronologischen Mitteilung der in Königsberg gedruckten Schriften. Aufschlußreich für die Diskontinuität des Berichts ist die Formulierung, mit der Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 7,14–19 (vgl. GAW V/3, 251,14–17) den Bruch zum bisher Erzählten markiert: »So weit hat sich meine Autorschaft in Königsberg erstrekket. [Absatz] Einer ungedruckten Schrift aber will ich doch noch gedenken, die ich daselbst ausgearbeitet habe.« Über den Zeitpunkt der Ereignisse ist damit gar nichts ausgesagt. Entscheidend für die Einordnung vor oder nach 1719 ist m. E. das Gefälle des insgesamt Berichteten. Nach der Ankündigung des Vorhabens, nun über eine ungedruckte Schrift zu berichten, kommt Gottsched in rechtfertigendem Duktus zunächst auf sein fleißiges Theologiestudium zu sprechen, wobei er die Namen seiner Lehrer aufzählt. Sodann folgt der Hinweis, daß »die philosophische Art zu denken, die ich mir aus der cartesianischen, thomasischen und wolfi schen Art zu philosophiren geläufig gemachet hatte« (GAW V/2, 7,25–28; vgl. GAW V/3, 251,23–26), bei ihm zu dem Interesse führte, »nach deutlichen Begriffen in theologischen Materien« (GAW V/2, 7,28 f.; vgl. V/3, 251,26 f.) zu suchen. Setzt dieser Hinweis (die »wolfische Art zu philosophiren«) eine Bekanntschaft mit der seit 1720 belegten Beschäftigung mit Wolffs Deutscher Metaphysik voraus, mithin also des Systems der Wolffschen Philosophie? Ich denke: Nein. Der substantiell gleichartige Hinweis auf die »philosophische Art zu denken« bzw. die »Art zu philosphiren«, die parallel aus Schriften Descartes’ (mathematische Methode; philosophischer Zweifel), Thomasius’ (Vorurteilskritik) und Wolffs Deutscher Logik (1713) geschöpft sein mochten, verweisen eher auf einen allgemeinen Einfluß der Philosophie im erkenntnistheoretischen Bereich und den Versuch seiner Anwendung im theologischen Fach. Möglicherweise bezeichnete der Hinweis auf die »wolfi sche Art zu philosophieren« auch nur die vor 1719 belegte Beschäftigung mit Wolffs Mathematik, die dem Wolff-Verehrer Gottsched im Rückblick als Erstbegegnung mit dessen »Philosophie« erschien; vgl. [ J. Ch. Gottsched:] Historische

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te«76 , zur Folge, daß der Theologiestudent begann, »begieriger nach deutlichen Begriffen in theologischen Materien«77 zu suchen. Da Gottsched – wie er in diesem Zusammenhang erwähnt – gern disputierte78 und dabei als Opponent »immer wahre, nicht aber verstellte Zweifel vor(trug)«79, trat er Lobschrift des [. . .] Herrn Christians, des H. R. R. Freyherrn von Wolff [. . .], Reprint der Ausgabe Halle 1755, in: Ch. Wolff: Biographie. Hildesheim; New York 1980 (WGW I/10), 85; da Gottsched an dieser Stelle auch Studien zu Descartes’ Philosophie und Thomasius’ Sittenlehre erwähnt, wäre dieselbe Troika bezeichnet, die inhaltlich das Feld der »cartesianischen, thomasischen und wolfi schen Art zu philosophiren« markiert. Im Fortgang berichtet Gottsched sodann, daß die Anwendung philosophischer »Denkart« bei den theologischen Lehrern Mißfallen erregte und seine ernsthaft vorgebrachten Zweifel einfach vom Tisch gewischt wurden. Erst an diesem Punkt wendet sich der Bericht der eigentlichen Entstehungsgeschichte seiner Schrift zu, die mit ihrer Einziehung durch einen Theologen endet. Liest sich unter diesen Gesichtspunkten nicht das Ganze wie der geraffte Bericht seines Theologiestudiums, das in ein Frustationserlebnis mündete? Als Reaktion auf diesen autoritär erlebten Akt wäre die Zuwendung zu intensivierten philosophischen Studien psychologisch einleuchtend. Inhaltlich liegt – wie noch darzulegen sein wird – der (verschollene) Text vermutlich auf der theologischen Linie des Lehrgedichts von 1718, d. h. daß die Formulierung des heterodoxieverdächtigten Inhalts zu dieser Zeit denkbar ist und nicht zwingend in Verbindung mit der späteren Beschäftigung mit Leibniz-Wolffscher Philosophie gebracht werden muß. Ein weiteres Indiz bewegt mich endlich dazu, die Dissertation auf 1718 zu datieren. Gottsched verteidigte im Juni 1718 unter dem Theologieprofessor Bernhard von Sanden (1666–1721) eine Dissertation, die thematisch in unmittelbarer Nähe zu seiner eigenen Dissertation stand und die einen Anstoß für einen selbständigen Lösungsversuch gegeben haben könnte. Das Thema lautete: De Sanctificatione & Glorificatione Fidelium per Spiritum Sanctum, Caput I. De sanctificatione & Glorificatione in genere; vgl. Reicke: Zu Joh. Christ. Gottsched’s Lehrjahren, 60 in Anm. 44. Gleichwohl muß auch darauf verwiesen werden, daß bei ein wenig anderer Interpretation und Gewichtung mit einer gewissen, wenn auch m. E. nicht so hohen Wahrscheinlichkeit an eine Abfassungszeit nach 1718 gedacht werden kann, dann mit entsprechend anderen Auswirkungen auf die von mir behaupteten Folgewirkungen der Ereignisse. 76 Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 7,25–28 (vgl. GAW V/3, 251,23– 26). 77 GAW V/2, 7,28 f. (vgl. GAW V/3, 251,26 f.). 78 Zu den »Spielregeln« der Disputation und deren Wandel im Zeitalter der Auf klärung am Beispiel der Reformuniversität Halle siehe den instruktiven Beitrag von H. Marti: Kommunikationsnormen der Disputation: die Universität Halle und Christian Thomasius als Paradigmen des Wandels, in: Kultur der Kommunikation: die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter von Leibniz und Lessing/ hrsg. von Ulrich Johannes Schneider, Wiesbaden 2005, 317–344. 79 Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 7,31 f. (vgl. GAW V/3, 251,29 f.). – Mit dieser Aussage hob sich Gottsched vom frühneuzeitlichen Gelehrsamkeitsideal ab und stellte sich in die Tradition des von ihm hochgeschätzten Baseler Professors Samuel Werenfels (1657–1740) und dessen Kritik am eingeführten Disputationswesen, dem dieser vorgeworfen hatte, meist nur Scheingründe vorzutragen und Wortstreitereien zu führen. Vgl. zur Sache W. Rother: Gelehrsamkeitskritik in der frühen Neuzeit: Samuel Werenfels’ Dissertatio de logomachiis eruditorum und Idée d’un philosophe, ThZ 59 (2003), 137–159; Gierl: Pietismus und Auf klärung, 554–556. J. Dyck: Ticht-Kunst: deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition. 3., ergänzte Aufl age. Mit einer Bibliographie zur Forschung 1966–1986, Tübingen 1991, 5 bemerkt: »Die Disputation [. . .] erscheint gegen Ende des 17.

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dabei offenbar engagierter als andere Kommilitonen auf und machte die enttäuschende Erfahrung, daß ihm die »Knoten mit unwilligen Antworten, mehr durchschnitten, als aufgelöset wurden« 80. Unzufrieden mit dieser Situation dachte er über die ihn beschäftigenden Probleme jedoch weiter nach. Dazu schrieb er: »Sonderlich quäleten mich die Lehren von der Gnade Gottes, in Bekehrung des Menschen; die in unsern Lehrbüchern allemal für zureichend ausgegeben wird, wenn sie gleich ihren Zweck nicht erhält. Ich glaubete etwas widersprechendes darinn zu fi nden; und las also alles, was ich von dieser Materie auf Bibliotheken fi nden konnte. Die großen Streitigkeiten, de auxiliis gratiae, darüber in der römischen Kirche eine eigene Congregation von Cardinälen niedergesetzet worden,81 konnte mir also nicht lange unbekannt bleiben. Die Lehren der Pelagianer und Semipelagianer, der Pajonismus,82 und die Meynungen der Arminianer 83 giengen Jahrhunderts nur noch als galantes Konversationsspiel und wird erst wieder zu Beginn der Auf klärung als Methode der Wahrheitsfindung ernstgenommen.« Interessant auch die Feststellung bei Fehr: »Ein wunderlicher nexus rerum«, 51 f., der für die Anfang der 1730er Jahre einsetzende Lehrtätigkeit Schultz’ an der Albertina notiert, daß es »(. . .) seinen Zeitgenossen als eine überraschende Neuerung auf(fiel), daß Schultz im Unterricht seine Studenten ermutigte, ihre Zweifel über die dogmatische Lehre zu äußern oder ihre Fragen heimlich per Zettel in einen Kasten einzureichen«. 80 Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 7,34 f. (vgl. GAW V/3, 251,32 f.). – Liegt hier möglicherweise eine konkrete Erfahrung im Zusammenhang mit der von ihm als Respondent verteidigten Dissertation von Sandens (De Sanctificatione & Glorificatione per Spiritum Sanctum) vor? Eine ähnliche, in dieselbe Zeit (vor 1719) fallende Negativerfahrung im Umgang mit seinen Zweifeln von Seiten der theologischen Lehrer berichtet Gottsched auch an anderer Stelle (GAW V/2, 8,31–9,19). Es ging dabei um seine Fragen nach dem Ursprung des Bösen, die eine für ihn abschließende Anwort in seiner Leipziger Dissertation fand; siehe dazu unten in Abschn. 2.1. 81 Der Kommentarteil zur Gottsched-Ausgabe bietet hierzu keine Erläuterung. Es handelt sich bei der erwähnten Congregatio de auxiliis gratiae um eine von Papst Clemens VIII. 1597 eingesetzte Kommission, die den von den Dominikanern erhobenen Vorwurf des Semipelagianismus gegenüber den Lehren des Jesuiten Ludwig Molina klären sollte. Eine Vielzahl von Sitzungen versuchte in der Folgezeit den Streit zu schlichten, der über die Frage um den Beistand der Gnade zur Bekehrung geführt wurde. Papst Paul V. löste 1607 die Kongregation ohne eine abschließende Entscheidung auf. Eine wichtige, zu dieser Frage um 1700 erschienene Schrift stammt von Augustin le Blanc [d. i. Hyacinthe Serry]: Historia congregationum de auxiliis gratiae. Moguntia 1699 u. ö.; dagegen veröffentlichte Theodorus Eleutherius [d. i. Livinus Meyer S. J.]: Historia controversarium de divinae gratiae auxiliis. Antwerpen 1705 u. ö. – Vgl. dazu J. R. van Pelt: Molina und der Molinismus, RE3 13 (1903), 256–260, bes. 258 f.; P. Tschackert (Reuchlin): Jansen, Cornelius, RE3 8 (1900), 589 f. 82 Der Hugenotte Claude Pajon (1679–1754) leugnete im Anschluß an Descartes den übernatürlichen Gnadeneinfluß; K. Otte: Gnade V. Neuzeit/Systematisch-theologisch, TRE 13 (1984), 499,54–500,2. Dabei bestand dessen Interesse darin, »das göttliche Werk der Bekehrung auf eine nicht mystische, sondern moralische Weise zu erklären«; E. F. K. Müller: Pajon, Claude, RE3 14 (1904), 555,19 f. Zur Gnadenlehre des Pajon siehe auch Hirsch: Geschichte, Bd. 1, 169 f. 83 Vgl. zur arminianischen Rechtfertigungslehre A. Ritschl: Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. 1: Die Geschichte der Lehre, Bonn 31889, 336–346.

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mir im Kopfe herum: und ich suchete allemal die Vorzüge der Lehren unserer Glaubensgenossen,84 ins Licht zu setzen. Als ich mir nun von dieser göttlichen Gnade in dem Sünder; und von der Art ihrer Wirkung, die nicht unmittelbar, durch Enthusiasterey, sondern mittelbar, durchs Wort geschehen soll, einen deutlichen Begriff zur Richtigkeit gebracht zu haben glaubete; schrieb ich eine akademische Dissertation: de Conversione hominis, & gratia Dei in eadem efficaci, & sufficiente. Ich ward fertig damit, und übergab sie einem berühmten Theologen, dem ich mehr, als andern zutrauete, zum Durchsehen, und bath mir sein Präsidium dabey aus. Allein, umsonst. Meine Meynung schien ihm nicht orthodox genug zu seyn; und ich bekam meine Abschrift nicht einmal wieder.« 85

Der Professor, dem Gottsched in dieser Angelegenheit sein Vertrauen geschenkt hatte, war – wie bereits erwähnt – Quandt.86 Die vorsichtige Haltung des Königsberger Theologieprofessors beim Umgang mit Gottscheds theologischem Erstlingswerk muß nicht unbedingt darauf hindeuten, daß der Inhalt eine »Ketzerei« im engeren Sinn war, mit der sich der Studiosus theologiae »in den schroffsten Gegensatz zur Orthodoxie« 87 stellte. Für einen solchen Schluß fehlt uns die Kenntnis dessen, was Gottsched eigentlich geschrieben hat. Er selbst charakterisierte das Gefälle seiner Argumentation lediglich als »nicht orthodox genug«.88 Da jedoch Quandt kaum als Ketzerund »Konsequenzenmacher« einzuschätzen ist, dürften die vorgetragenen Überlegungen immerhin nicht ganz der in den Bekenntnisschriften kodifi84 Die meistaufgelegte Schrift zur Sache verfaßte im lutherischen Lager der zunächst in Wittenberg, dann in Leipzig lehrende Theologe J. Hülsemann: Diatribe scholastica de auxiliis gratiae [. . .] Pontificorum, Calvinianorum & cumprimis Arminianorum erroribus opposita [. . .], Wittenberg 1638 (weitere Aufl agen mit z. T. verändertem Titel: 1652. 1655. 1677. 1705. 1706). 85 Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 8,1–25 (vgl. GAW V/3, 251,34– 252,24). 86 Vgl. zu dem ganzen Vorgang und seiner Interpretation u. a. E. Wolff: Gottscheds Stellung, Bd. 1, 117; Waniek: Gottsched, 9 f.; E. Reichel: Gottsched, Bd. 1, 89 f.; Gilde: Beiträge, 86 f.; Aner: Theologie der Lessingzeit, 195 f.; Kuhlmann: Die theologischen Voraussetzungen, 57. 87 Beide Zitate E. Reichel: Gottsched, Bd. 1, 90. 88 Seit Waniek: Gottsched, 9 f. wird in der Gottsched-Forschung die irrtümliche Auffassung vertreten, die Heterodoxie Gottscheds habe darin bestanden, daß Gottsched sich die Einwirkung nicht unmittelbar (Enthusiasmus), sondern mittelbar, gebunden an das Wort vorstelle, so z. B. E. Reichel: Gottsched, Bd. 1, 90; Gilde: Beiträge, 86 f.; in etwas abweichendem Sinn auch Kuhlmann: Die theologischen Voraussetzungen, 57. In Unkenntnis der theologiegeschichtlichen Sachverhalte wird übersehen, daß diese Vorstellung nichts anderes als die orthodoxe Auffassung formuliert und an der zitierten Stelle als Bezugspunkt von Gottscheds eigener, gerade nicht mitgeteilter Alternativdeutung fungiert! Das orthodoxe Gnadenverständnis läßt sich dabei mit Luther wie folgt auf den Punkt bringen: »Das Mittel, durch welches Gott die Gnade schenkt, ist das Wort (Galaterbrief von 1519, WA II, 509: verbum, inquam, et solum verbum est vehiculum gratiae)«; zit. bei O. Kirn: Gnade, RE3 6 (1899), 722, 11 f.; zum sakramentalen Wortcharakter vgl. auch R. Seeberg: Gnadenmittel, RE3 6 (1899), 723–727.

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zierten Auffassung 89 entsprochen haben, und vielleicht war dessen Angst, den Vorsitz bei der avisierten Verteidigung zu übernehmen, daher nicht ganz unbegründet. Mit aller gebotenen Vorsicht soll ein Rekonstruktionsversuch der für Gottsched offenbar persönlich wichtigen Abhandlung gewagt werden.90 Die Problemstellung, an der der Judittener Pfarrerssohn mit seiner Dissertation arbeitete, ist vergleichweise klar umrissen. Weitaus schwieriger sind Rückschlüsse auf den Inhalt der (ungenannten) Problemlösung zu ziehen. Soviel scheint zumindest deutlich zu sein: Unter der teils nachweisbaren, teils erschließbaren Beschäftigung mit der auf klärerischen Erkenntnistheorie eines Descartes,91 Thomasius92 und Wolff93 war mit der theologischen Erstlingsschrift offenbar der Punkt erreicht, an dem Gottsched kritisch-rational an die theologische Explikation der Rechtfertigungslehre herantrat. Laut seinen eigenen Worten fand er die Wirkung und Funktion der Gnade 89 Grundlegende Darlegungen zur Bekehrung als Gnadenakt fi nden sich z. B. in der Konkordienformel (Solida declaratio II: Vom freien Willen oder menschlichen Kräften; BSLK 866–912) mit der jeden Synergismus ausschließenden Behauptung, der unwiedergeborene Mensch sei in Heilsdingen ein »harter Stein« und »ungehobelter Klotz« (Solida declaratio II, 19; BSLK 879, 22. 24). 90 Nach Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 8,25 f. bewahrte er sich eine Abschrift seines »konfi szierten« theologischen Erstlings bis zuletzt auf, ein Hinweis auf die persönliche Wertschätzung des Textes und den Stellenwert innerhalb seiner Biographie. 91 Ab ungefähr 1716 hörte Gottsched cartesianische Philosophie; J. Ch. Gottsched: Widmung und Vorwort [zu: ders.: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit: Theoretischer Teil. Leipzig 1733], GAW V/3, 203,26–29; später (1717?) las er Gabriel Daniels Voyage du monde de Descartes (Paris 1691 u. ö.), was bei ihm Zweifel an Descartes Philosophie weckte (GAW V/3, 203,32). Interessant ist der von Rieck: Johann Christoph Gottsched, 12 gegebene Hinweis, daß ein Oheim Gottscheds, Johann Gottsched, der ab 1702 als ordentlicher Professor für Physik an der Königsberger Albertina unterrichtete, der cartesianischen Philosophie in Königsberg »zu wirksamer Geltung« verholfen haben soll. 92 Hier ist wohl vor allem an Thomasius’ Einleitung bzw. Ausuebung der Vernunfft-Lehre (1691 51719) mit ihrer durchgängigen Kritik am praejudicium autoritatis (Vorurteil der Autorität) und praejudicium praecipitantiae (Vorurteil der Übereilung) zu denken. Nach der bereits erwähnten Mitteilung seiner »philosophischen Bekehrung« käme auch eine Beschäftigung mit Thomasius’ Sittenlehre infrage; siehe [Gottsched:] Historische Lobschrift, 85. – Zum Vorurteil der Autorität im Zusammenhang mit der Aberglaubensdebatte bei Thomasius vgl. die instruktiven Ausführungen bei M. Pott: Auf klärung und Aberglaube: die deutsche Frühauf klärung im Spiegel ihrer Aberglaubenskritik, Tübingen 1992, 109– 113; vgl. auch M. Beetz: Transparent gemachte Vorurteile: zur Analyse der praejudicia auctoritatis et praecipitantiae in der Frühauf klärung, in: Rhetorik: ein internationales Jahrbuch 3 (1983), 7–33. 93 Nach [Gottsched:] Historische Lobschrift, 85 sind hier Studien zu Wolffs Mathematik denkbar sowie eine Beschäftigung mit dessen Logik: Ch. Wolff: Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes. Reprint der Ausgabe Halle [1713] 14 1754, Hildesheim; New York 1978 (WGW I/1). – Eine hervorragende Einführung in Wolffs Erkenntnistheorie samt ihren zentralen Prinzipien des Satzes vom Widerspruch und des zureichenden Grundes bietet H. W. Arndt: Einführung, in: Wolff: Vernünftige Gedanken von den Kräften, WGW I/1, 7–102.

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im Bekehrungsgeschehen innerhalb der überlieferten Dogmatik unzureichend dargelegt. Genaueres über seine Zweifel wissen wir nicht. Jedoch läßt sich auf dem Hintergrund der Beschäftigung mit den gegenteiligen, als Irrlehren behandelten Lehren vermuten, daß es insbesondere um das Verhältnis von rechtfertigender Gnade (iustificatio) und Bekehrung (conversio) in ihrem jeweiligen theo- bzw. anthropologischen Wirkzusammenhang im Rahmen des orthodoxen ordo salutis ging, wobei Gottsched daran lag, das beschriebene Problem mit »deutlichen Begriffen« 94 einsichtig zu machen.95 Um eine spätere Äußerung hinzuzuziehen: Seine Präzisierung dürfte dem Interesse geschuldet gewesen sein, Natur und Gnade bei der wissenschaftlich-theologischen Behandlung der Sachfrage zu trennen, um mittels Anwendung kritischer Philosophie zu rational plausiblen Aussagen zu gelangen. Das Spannungsfeld, in dem er sich dabei bewegte, war zweipolig markiert: Sollte Bekehrung primär als ein supranaturaler Akt gedacht werden, bei dem Gott als Handelnder sola gratia den sündhaften Menschen gerecht macht (Gnade als Sündenvergebung)? Oder war Bekehrung als ein moralischer Entschluß auf Seiten des Menschen zu verstehen, den Geboten Gottes Folge zu leisten? Da Gottsched bereits in seinem o. g. Lehrgedicht intentional letztere Auffassung verteten hatte, dürfte sich seine Argumentation in diese Richtung bewegt haben. Bei der ganzen Problematik darf man vielleicht auch davon ausgehen, daß es für den »Prediger Gottsched« um eine durchaus predigtrelevante Fragestellung ging, mit der er praktisch konfrontiert war. Denn: Wie können göttliches und natürliches Geschehen innerhalb der einzelnen Stufen des 94

Gottsched verwendet hier eine Formulierung, die die Arbeitsweise der Philosophie Christian Wolffs beschreibt, wie sie dieser für seine Deutsche Metaphysik (1720) reklamiert hatte. Wolff schreibt in der Vorrede (datiert Halle, 23. Dezember 1719) zu seinen Vernünftigen Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen (Deutsche Metaphysik), daß es bei den hier behandelten Materien bisher »an deutlichen Begriffen, gründlichen Beweisen und Verknüpfung der Wahrheiten mit einander gefehlet« habe; Ch. Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele der Menschen, auch allen Dingen überhaupt. Reprint der Ausgabe Halle [1720] 111751, Hildesheim; Zürich; New York 1983 (WGW I/2), Bl. )(3r. Dementsprechend möchte er »von keinem Dinge reden [. . .], davon ich nicht einen deutlichen Begrif vorgebracht hätte« (ebd.); ebenso möchte er keine Sache ohne Beweis annehmen, »denn alles, was ich behauptet, ist entweder in klaren Erfahrungen gegründet, oder durch tüchtige Schlüsse erwiesen« (ebd, Bl. )(3v-4r). Das wichtigste ist ihm aber: »Am allermeisten aber habe ich darauf gesehen, daß alle Wahrheiten mit einander zusammen hiengen, und das gantze Werck einer Ketten gleich wäre, da immer ein Glied mit dem andern, und solchergestalt ein jedes mit allen zusammen hänget« (ebd, Bl. )(4r). 95 Grundlegend zum Problemkomplex F. Wagner: Bekehrung II. 16.-20. Jahrhundert, TRE 5 (1980), 459–469; vgl. ferner Kirn: Gnade, 717–723; Otte: Gnade, 496 f.; für den größeren Zusammenhang im 18. Jahrhundert zur Orientierung noch immer empfehlenswert Ritschl: Die christliche Lehre, 347–428. – Zu den Modellen des Ordo salutis vgl. J. A. Steiger: Ordo salutis, TRE 25 (1995), 371–376; M. Matthias: Ordo salutis: zur Geschichte eines dogmatischen Begriffs, ZKG 115 (2004), 318–346.

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ordo salutis (vocatio, conversio, regeneratio, iustificatio, renovatio) als zusammenhängendes, untrennbares Geschehen96 unter dem Wort Gottes (Predigt) gedacht werden? Wie war demnach mit »vernünftigen Gedanken«97 der Rechtfertigungsvorgang eines Predigthörers mit den entsprechenden Implikationen für eine darauf ausgerichtete Predigtauffassung vorzustellen? Ein »enthusiastisch« gedachter Bekehrungsakt, bei dem gewissermaßen die Gnade Gottes sich als Folge intensiver Selbsterforschung und demütigen Gebetes un-vermittelt (immediate) in den bußfertigen Sünder ergießt, ihn erneuert und zum Tun des Guten befähigt (pietistische Auffassung),98 war für Gottsched – im Konsens mit der orthodox-kirchlichen Lehre – nicht einleuchtend. Ebensowenig kam für ihn aber auch ein – nach seiner Auffassung – quasi magisches, an das verbalinspirierte Wort geknüpftes Bekehrungsverständnis (orthodoxe Auffassung) in Betracht, das den nichtrationalen Gehalt der christlichen Botschaft mittels Schemen, Emblemen, Analogien, Sprachspielen und anderen Techniken homiletisch zur Geltung brachte.99 Wenn nun Gottsched versucht haben sollte, unter philosophischer Voraussetzung ein Problem der Theologie zu lösen, vollzog er unter wissenschafts- und theologiegeschichtlichem Gesichtspunkt damit nur einen Schritt, der innerhalb einer metaphysisch unterfütterten orthodoxen Dogmatik längst angelegt war.100 In struktureller Hinsicht könnte man in Gottscheds Fragestellung beispielsweise die Verlängerung eines calixtinischen Typs der Theologie sehen, demzufolge Theologie als rationale, allein an die fides historica gebundene Wissenschaft zu betreiben ist.101 Historisch lassen sich solche Zusammenhänge zwar derzeit nicht nachweisen. Doch bietet der 96 Vgl. beispielhaft für einen zeitgenössischen Lösungsversuch von dogmatischer Seite die Behandlung von Bekehrung, Rechtfertigung und Heiligung bei Johann Franz Buddeus: Nüssel: Bund und Versöhnung, 144–171. 97 Christian Wolffs auf Deutsch erschienene philosophische Hauptschriften wurden bekanntlich im Titel stets angekündigt als »Vernünfftige Gedancken von . . .«. 98 Für August Hermann Franckes und damit für die den hallischen Pietismus bestimmende Auffassung vgl. E. Peschke: Studien zur Theologie August Hermann Franckes, Bd. 1, Berlin 1964, 18–65; P. Kurten: Umkehr zum lebendigen Gott: die Bekehrungstheologie August Hermann Franckes als Beitrag zur Erneuerung des Glaubens, Paderborn u. a. 1985. 99 Vgl. dazu für V. E. Löscher bei Greschat: Zwischen Tradition, 88–98 (Kap. III.2. Die Wirklichkeit als Emblem). 100 Erhellend für das Ganze u. a. Reinhard: Die Prinzipienlehre; H. E. Weber: Die philosophische Scholastik des deutschen Protestantismus im Zeitalter der Orthodoxie, Leipzig 1908; ders.: Der Einfluß der protestantischen Schulphilosophie auf die orthodoxlutherische Dogmatik, Leipzig 1908; W. Sparn: Wiederkehr der Metaphysik: die ontologische Frage in der lutherischen Theologie des frühen 17. Jahrhunderts, Stuttgart 1976. 101 Vgl. J. Wallmann: Der Theologiebegriff bei Johann Gerhard und Georg Calixt, Tübingen 1961, 85–161; ders.: Zwischen Reformation und Humanismus: Eigenart und Wirkungen Helmstedter Theologie unter besonderer Berücksichtigung Georg Calixts, ZThK 74 (1977), 344–371.

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Sieg der calixtfreundlichen Partei an der theologischen Fakultät der Albertina im synkretistischen Streit Anhaltspunkte für eine solche Annahme,102 zumal damit nach gängiger Auffassung »der Übergang der Königsberger theologischen Fakultät von einer orthodox-lutherischen zu einer vornemlich dem Helmstedter Theologieprogramm Calixts verpfl ichteten ›synkretistischen‹ Lehranstalt«103 verbunden war. Ein anderer Hinweis Gottscheds zur inhaltlichen Charakterisierung seiner Schrift führt übrigens beim genaueren Hinsehen in die Irre. Wenn er mit der Bemerkung, »Hr. Abt Schubert und Hr. D. Bertling haben unlängst davon gestritten«104, seine Dissertation inhaltlich mit einer späteren Kontroverse parallelisiert, bezieht er sich auf einen Streit, in dem es um folgendes ging: Der Helmstedtische theologische Wolffianer Johann Ernst Schubert (1714–1774) 105 veröffentlichte 1753 eine Schrift, in der er die Ansicht vertrat, daß die Bekehrung des Menschen nicht mittels übernatürlicher Einwirkung, sondern als Folge vernünftiger Einsicht in den moralisch-pädagogischen Inhalt der Heiligen Schrift und einen daran ausgerichteten Lebenswandel bestünde: dies mache die bewegende und erneuernde Kraft des göttlichen Wortes aus.106 An Schuberts, auf dem Standpunkt des fortgeschrittenen theologischen Wolffianismus’ formulierten Thesen entzündete sich eine größere literarische Kontroverse,107 in der u. a. der Danziger Theologe Ernst August Bertling (1721–1769) mit einem 400seitigen Quartanten die orthodoxe Auffassung verteidigte.108 Sollte demnach Gottsched »die übernatürli-

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Th. Kaufmann: Theologische Auseinandersetzungen an der Universität Königsberg im 16. und 17. Jahrhundert, in: Kulturgeschichte Ostpreußens in der Frühen Neuzeit/ hrsg. von K. Garber; u. a., Tübingen 2001, 303–317. 103 Th. Kaufmann: Königsberger Theologieprofessoren im 17. Jahrhundert, in: Die Albertus-Universität zu Königsberg und ihre Professoren: aus Anlaß der Gründung der Albertus-Universität vor 450 Jahren/ hrsg. von D. Rauschning, Berlin 1995, 49 f. 104 Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 8,29 f. (der Hinweis auf Schubert und Bertling noch nicht in der ersten Fassung von 1756; vgl. GAW V/3, 252 nach Zeile 29); vgl. dazu auch im Kommentarteil GAW V/4, 198. 105 Zum theologischen Wolffi aner Schubert siehe DBA I 1144, 383–452; ADB 32 (1891), 635–637. 106 J. E. Schubert: Unterricht von der Göttlichen Kraft der heiligen Schrift, Jena; Leipzig 1753. 107 Vgl. z. B. die Publikation des Delitzscher Archidiakons Carl Samuel Krause: Erweis des Wahren Begriffs von der Kraft des göttlichen Worts, wobey zugleich das Lehrgebäude des Hochw. Hrn. Abt Schuberts zu Helmstädt [. . .] geprüft, und mit der Lehre des Pajons verglichen wird, Leipzig 1756. – Schubert sah sich genötigt, mit einer Verteidigungsschrift die gegen ihn erhobenen Vorwürfe zurückzuweisen: J. E. Schubert: Erörterung der Streitfrage von der göttlichen Kraft der Heiligen Schrift, [o. O.] [o. J.]. 108 E. A. Bertling: Deutliche und mit den eigenen Worten Orthodoxer Theologen Ausgefertigte Vorstellung Was die Lutherische Kirche von der Kraft der Heil. Schrift lehre und nicht lehre?, Danzig 1756. – Zu Bertling vgl. ADB 2 (1875), 514.

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chen Gnadenwirkungen bestritten«109 haben, wie verschiedentlich als Quintessenz seiner Dissertation behauptet wird?110 Nach meinem Dafürhalten muß eine grobe »Ketzerei« (E. Reichel) für die verschollene Dissertation nicht angenommen werden. Denn einerseits war der Hinweis auf die Schubert-Bertling-Kontroverse geeignet, rückwirkend ein ruhmvolles Licht auf den damals noch jungen Verfasser zu werfen, indem er als ein Theologiestudent vorgestellt wurde, der den Problemstellungen seiner Zeit vorausgeeilt war.111 Andererseits bedeutete eine (wie auch immer geartete) Rationalisierung und Moralisierung des Bekehrungsvorganges nicht den Ausschluß der Mitwirkung des göttlichen Handelns. Zumindest ist dies die Position von Gottscheds späterer Predigttheorie.112 Bei der vorliegenden Dissertation lief sein erklärtes Interesse außerdem nicht auf einen Angriff auf die orthodoxe Lehre hinaus, sondern verfolgte die vordergründige apologetische Intention, »allemal die Vorzüge der Lehren unserer Glaubensgenossen, ins Licht [zu] setzen«.113 Eine solche Haltung kennzeichnete auch seine Homiletik, mit deren Hilfe die theologischen Inhalte gegenüber der auf kommenden Religionskritik mit »deutlichen Begriffen« plausibel gemacht werden sollten.

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Aner: Theologie der Lessingzeit, 195. Auf Aner geht z. T. die von Kuhlmann: Die theologischen Voraussetzungen, 57 vertretene Ansicht zurück, derzufolge Gottsched in seiner Dissertation »die übernatürlichen Gnadenwirkungen ablehnte und statt dessen die natürliche Wirkung durch das Wort behauptete«. 111 Dies gilt in verstärktem Maß für die Erstfassung des Berichts, wo Gottsched noch nicht auf die Schubert-Bertling-Kontroverse hinwies, stattdessen aber betonte, daß der Aufsatz »auch für die jungen Jahre, darinn ich ihn ausgearbeitet, nicht so gar unrecht gerathen ist: ob ich gleich itzo allerley Zusätze dazu machen könnte, das damals vorgetragene noch mehr ans Licht zu setzen«; Gottsched: Nachricht, GAW V/3, 252, 25–29. 112 Ausführlich zum Verhältnis von »vernünftiger« Argumentation und Geistwirkung Gottes in der Predigt s. u. in Kap. 2, Abschn. 1.3.2. Hier vorerst nur ein kurzer Beleg aus Gottscheds Predigtlehrbuch von 1740: [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 30 f.: »GOtt erleuchtet uns nämlich heute zu Tage nicht unmittelbar, sondern durch sein Wort, und durch seine Diener. Was also ein geistlicher Lehrer aus dem Worte GOttes in seinen Zuhörern wirket, daß wird nicht durch ihre, sondern durch eine göttliche Kraft gewirket.« 113 Diesen Umstand scheint Aner: Kirchengeschichte, Bd. 4, 91 f. zu übersehen, wenn er den vermeintlichen Inhalt der Dissertation in folgender Zuspitzung charakterisiert: »Diesen Häresien war schon in Königsberg eine Dissertation vorangegangen, bei deren Verteidigung sein Lehrer Quandt das Präsidium zu übernehmen nicht gewagt hatte. Sie handelte auf Grund ungeheuren Lesefleißes ›de conversione hominis et gratia dei in eadem efficaci et sufficiente‹, klang einwandfrei, wenn sie die Wirkung der Gnade ausschließlich durch Gottes Wort sich vollziehen ließ, hatte es aber auf die Beseitigung des übernatürlichen Charakters der Gnadenwirkung abgesehen.« Woher aber weiß Aner das, obwohl doch über den Inhalt der Dissertation nichts näheres bekannt ist? 110

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Kapitel 1: Gottscheds biographische Synthese . . .

1.3 Die Hinwendung zur Philosophie Gottscheds schrittweiser Rückzug aus dem theologischen Fach114 mag auf dem Hintergrund dieser Vorkommnisse auch eine Folge schmerzhaft erfahrener Grenzen theologischer Denk- und Meinungsfreiheit gewesen sein. Eine Äußerung Gottscheds über die freiere Luft an der philosophischen Fakultät kann daher durchaus als Kritik an defi zitär empfundenen Zuständen während seines Theologiestudiums verstanden werden: »Mich hat in meinen Academischen Jahren, die grosse Freyheit zu philosophiren, die auf der Königsbergischen Universität damals herrschete, vor einer so sclavischen Art zu denken und zu lehren in Sicherheit gesetzet.«115 Die verstärkte Beschäftigung mit philosophischen Fragestellungen erscheint unter diesem Vorzeichen verständlich. Die Grundlagen für ein intensiviertes Eindringen in philosophische Zusammenhänge waren bei ihm früh gelegt worden: »Nachdem ich im Jahre 1714 und 1715 die Aristotelische Philosophie nach allen ihren Theilen durchgehöret hatte, fieng ich die Cartesianische an zu hören, und die Mathematic damit zu verbinden.«116 Durch Lektüren Gabriel Daniels (1649– 1728) und Johann Clericus’ (1657–1736) melden sich aber bald Zweifel an der Schlüssigkeit der rezipierten Theorien.117 Als Folge beharrlichen Weiterforschens schloß sich eine Phase an, die wohl am besten als eine »philosophische Odyssee« bezeichnet werden kann. Immer ausgedehntere Lektüren, die Locke, Wolff, Pufendorf, Grotius, Thomasius und viele andere einschlossen, derer der Leipziger Professor für Logik und Metaphysik rückblik114

Im Februar 1721 agiert Gottsched zum zweiten Mal als Respondent einer theologischen Dissertation, nun unter dem Theologieprofessor Christian Mascov [Mas(e)covius]. Bezeichnenderweise handelte es sich dabei um ein Thema aus dem Bereich der natürlichen Theologie, also dem klassischen Schnittpunkt von Theologie und Philosophie, und zwar inwieweit das Licht der Natur ohne die göttliche Offenbarung zum Glauben an die Unsterblichkeit genügt; Titel der Dissertation bei Reicke: Zu Joh. Christ. Gottsched’s Lehrjahren, 61 in Anm. 44. – Der von mir behauptete »Rückzug aus dem theologischen Fach« darf also nicht als Abbruch des Theologiestudiums verstanden werden, sondern ist als Folge einer verstärkten Hinwendung zur Philosophie zu sehen oder anders gesagt: als Prozeß einer Interessenverlagerung, etwa im Sinne des erwähnten Dissertationsthemas unter Mascov. Die bereits zitierte Selbstaussage Gottscheds, er sei in Königsberg »unter den Candidaten einer der beliebtesten im Predigen gewesen«, weist darauf hin, daß Gottsched sich selbst damals zu den Predigtamtskandidaten zählte. Außerdem verweist die fortgesetzte Predigttätigkeit Gottscheds bis kurz vor seiner Flucht aus Königsberg (und die Wiederaufnahme von Predigtdiensten in Leipzig) auf ein nach wie vor positives Verhältnis zur Amtskirche. 115 Gottsched: Vorrede [zur ersten Aufl age der Weltweisheit ], GAW V/3, 203,22–25. Hier bemerkte er auch ebd, 205,28–30 gleichsam beschwörend: »Die Freyheit zu philosophiren ist ein so herrliches Vorrecht unsrer Zeiten, daß man sich selbiges auf alle mögliche Weise muß unverletzt zu halten suchen.« 116 GAW V/3, 203,26–29. 117 Vgl. GAW V/3, 203,31–35.

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kend auf seine Irrfahrt »nicht einmal gedenken«118 mochte, verhalfen dem nach erkenntnistheoretischer Klarheit strebenden Studiosus nicht zum gewünschten Ziel. Immer drängender versuchte er, in den Lehren der einen oder anderen Philosophen »Trost zu fi nden; sahe aber, daß ich nirgends sattsame Gewißheit fand«119. Am Ende stand das Eingeständnis geistiger Orientierungslosigkeit, die von ihm selbst als Scheitern der Prinzipien des philosophischen Eklektizismus interpretiert wurde: »Und bey aller dieser Vermengung so verschiedener Ideen und Grundsätze wuste ich endlich selbst nicht wohin ich gehörte, konnte mich auch vielmals nicht entschliessen mit wessen Meynungen ich es halten sollte.«120 Der Versuch, die philosophischen Skrupel mit Hilfe alter und neuer Denker aufzulösen, war gescheitert.121 Das Ende der philosophischen Irrungen kam indes zufällig. 1719 erhielt Gottsched Gelegenheit, eine Dissertation des Königsberger Magisters Georg Heinrich Rast (1695–1726) 122 , nachmaligen außerordentlichen Professors für Mathematik, verteidigen zu helfen.123 Der Autor beschäftigte sich darin mit einem physikalischen Experiment Leibniz’, das dem philosophisch Heimatlosen »eine unverhoffte Gelegenheit [bot,] auf dieses grossen Mannes Schriften zu gerathen«124. Um dessen Theodicee zu lesen, fi ng Gottsched sogar an Französisch zu lernen.125 Auf Veranlassung Rasts beschäftigte er sich 118

GAW V/3, 204,12 f. GAW V/3, 204,1 f. 120 GAW V/3, 204,13–16. 121 Rieck: Johann Christoph Gottsched, 14 hebt – E. Reichel: Gottsched, Bd. 1, 68– 71 folgend – bei der Schilderung der philosophischen Studien (im Duktus materialistischer Geschichtsschreibung) den Einfluß von Christian Gabriel Fischer hervor, einem »zum Spinozismus und zu materialistischen Auffassungen tendierenden Lehrer Gottscheds«. Die von mir als »philosophische Odyssee« beschriebene Phase liest sich bei Rieck: Johann Christoph Gottsched, 14 in ideologischer Verbrämung wie folgt: »[. . .] und es zeichnet Gottsched besonders aus, daß er sich sehr früh selbständig in die progressive philosophische Literatur einliest«. – Der erwähnte Christian Gabriel Fischer (1686–1751) wurde zwar 1725 wegen seines Bekenntnisses zu Wolff durch königlichen Befehl aus Königsberg vertrieben, und Gottsched unterhielt nach seiner Flucht nach Leipzig zu ihm Kontak. Der behauptete Einfluß Fischers auf Gottsched dürfte aber weitestgehend in der Vermittlung cartesianischer Philosophie zu suchen sein, als deren entschiedener Anhänger Fischer noch 1721 gegen die Philosophie Leibniz’ und Wolffs auftrat; seine Hinwendung zu deren Ansichten wird erst 1723 greif bar; vgl. [Carl von] (?) Prantl: Fischer, Christian Gabriel, ADB 7 (1878), 49 f. In diesem Sinne ist wohl die Erwähnung Fischers als seinem philosophischen Lehrer in Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 5,35–6,3 (in einem Atemzug genannt mit Rast und Kreuschner) zu interpretieren. 122 Zu Rasts »Frühwolffianismus«, den er sich während eines Studiums zwischen 1716 und 1718 in Halle unter Wolff angeeignet hatte, siehe Fehr: »Ein wunderlicher nexus rerum«, 99. 123 Vgl. dazu Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 5,14–20; Gottsched: Vorrede [zur ersten Aufl age der Weltweisheit ], GAW V/3, 204,17–21. 124 GAW V/3, 204,21 f. 125 [Gottsched:] Historische Lobschrift, 85; anders der Bericht in Gottsched: Vorre119

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Kapitel 1: Gottscheds biographische Synthese . . .

nun auch mit Wolffs Philosophie; 126 ihn hatte der Theologiestudent bislang offenbar nur als Mathematiker (und vielleicht als Logiker) zur Kenntnis genommen. Die geeignete Einstiegslektüre bot die gerade erschienene Deutsche Metaphysik, die Gottsched 1720 zusammen mit Leibniz’ Theodicee durcharbeitete.127 Die Begegnung mit diesen beiden Philosophen mündete schließlich in eine Art philosophischer Erleuchtung: de [zur ersten Aufl age der Weltweisheit], GAW V/3, 204,22 f., wo kein gezielter Französischunterricht für die Lektüre der Theodicee erwähnt wird. 126 [Gottsched:] Historische Lobschrift, 85; anders auch hier seine Darstellung in Gottsched: Vorrede [zur ersten Aufl age der Weltweisheit], GAW V/3, 204,25–27, wo der Hinweis auf Wolffs Deutsche Metaphysik nicht ausdrücklich Rast zugeschrieben wird: »Ich lernte aber zu gleicher Zeit [sc. im Zusammenhang mit Rasts Dissertation] auch Herrn Hofrat Wolfs Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen kennen.« 127 So übereinstimmend [Gottsched:] Historische Lobschrift, 85 (»[. . .] zu einer Zeit, da ich eben mit Leibnitzens Theodicee beschäfftiget war [. . .]«) und Gottsched: Vorrede [zur ersten Aufl age der Weltweisheit], GAW V/3, 204,25 (»[. . .] zu gleicher Zeit [. . .]«). In einer Vorrede zur von Gottsched besorgten deutschen Neuausgabe von Leibniz’ Theodicee (datiert Ostermesse 1744) wird die Lektüre des Buchs, »welches nunmehr seit vier und zwanzig Jahren mein Liebling gewesen« (GAW X/1, 231,17 f.), indirekt auch ins Jahr 1720 verlagert. – Einen etwas anderen Hergang berichtet jedoch eine dritte, von der GottschedForschung bislang meist übergangene (nicht aber E. Reichel: Gottsched, Bd. 1, 78) Selbstmitteilung über die Begegnung mit der Philosophie Leibniz’. Sie fi ndet sich in Gottscheds Vorrede zum dritten Band seiner Übersetzung des Bayleschen Wörterbuchs (datiert Ostermesse 1743). Dieser Bericht tritt in eine gewisse Spannung zu den Parallelüberlieferungen. Die Schlüsselrolle von Rasts Dissertation fi ndet hier überhaupt keine Erwähnung. Ein gezielter Französischunterricht, um Leibniz lesen zu können, wird auch nicht erwähnt. Dagegen geht nach dieser Darstellung die ad-hoc-Lektüre (!) der Theodicee (in der lateinischen Übersetzung von 1719 oder der ersten deutschen Ausgabe von 1720?) auf eine Empfehlung des Mathematikprofessors David Bläsing zurück, der unter den von Gottsched aufgezählten Königsberger Lehrern sonst mit keinem Wort erwähnt wird. Lediglich in einem Gedicht zum Geburtstag seines Vaters (datiert 7. September 1727) wird in einer langen Aufzählung der Königsberger Lehrer sein Name einmal beiläufig genannt; GAW I, 328, 81; vgl. dazu auch die Notizen bei Reicke: Zu Joh. Christ. Gottsched’s Lehrjahren, 7. 55 f. in Anm. 17. Manche Interpretationsmöglichkeiten ergeben sich aus diesem Text auch für die Frage nach dem Verhältnis der »eingezogenen« theologischen Dissertation und der Leibniz-Lektüre, die von Gottsched in vager Erinnerung mit 1718 oder 1719 angegeben wird. Auch zum Verständnis von Gottscheds theologischer Position bieten die Ausführungen interessante Einsichten, die im folgenden zitiert werden sollen: J. Ch. Gottsched: Vorrede zu Herrn Peter Baylens [. . .] Historisches und Critisches Wörterbuch, nach der neuesten Aufl age von 1740 ins Deutsche übersetzt [. . .] von J. Ch. Gottsched, Tl. 3, Leipzig 1743, GAW X/1, 131,17–25: »Denn ich kann es wohl ohne Bedenken gestehen, daß ich mich schon vor vier bis fünf und zwanzig Jahren, als ich die Hörsäle der Gottesgelehrten mit Eifer besuchte, ihre Disputirstunden fleißig abwartete, und allerley Bücher, die mir vorgeschlagen wurden, nachlas, noch ehe ich etwas von Baylens Schriften gelesen, vielerley Zweifel angefochten, die mir, meiner Meynung nach, von niemanden recht aufgelöset wurden. Mitten in diesen Zweifeln fand ich bey dem sel. Professor Bläsing, bey dem ich Mathematik hörte, und der auch in philosophischen und theologischen Dingen eine tiefe Einsicht mit einer besondern Bescheidenheit verband, einmal die leibnitzische Theodicee, darinn er selbst gelesen hatte, auf seinem Tische liegen. Sogleich rührte mich der Titel dieses Buches, welches von der Güte Gottes, vom Ursprung des Bösen, und der Freyheit des Menschen zu handeln ver-

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»Ich las dessen Theodicee mit unbeschreiblichem Vergnügen, weil ich hundert Scrupel darinn aufgelöset fand, die mich in allerley Materien beunruhiget hatten. Ich lernete aber zur gleichen Zeit auch Herrn Hofrath Wolfs Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen kennen. Hier gieng mirs nun wie einem, der aus einem wilden Meere wiederwärtiger Meynungen in einen sichern Hafen einläuft und nach vielem Wallen und Schweben, endlich auf ein festes Land zu stehen kommt. Hier fand ich diejenige Gewißheit, so ich vorhin allenthalben vergeblich gesucht hatte.«128 »Alle meine Zweifel, womit ich mich vorhin gequälet hatte, löseten sich allmählich auf. Ich hub an, Ordnung und Wahrheit in der Welt zu sehen, die mir vorhin, wie ein Labyrinth und Traum vorgekommen war.«129

Man kann die Bedeutung der zwar mit knappen, aber plastischen Worten beschriebenen Wende im Leben des Theologiestudenten Gottsched nicht hoch genug veranschlagen,130 steht sie doch stellvertretend für das Erleben beinahe einer ganzen Generation, wie es aus einer Vielzahl von Berichten spricht.131 Die sprachliche Stilisierung des Berichteten erinnert – vielleicht sprach: [. . .]. Ich schaffte mir selbiges aufs schleunigste an, und las es mit einem unbeschreiblichen Vergnügen: weil ich nicht nur alle die Zweifel, die mich beunruhiget hatten, darinnen vorgetragen, sondern auch auf eine weit gründlichere Art beantwortet fand, als ich jemals für möglich gehalten, oder zu fi nden vermuthet hatte. Hier lernte ich die Schwäche der Schwierigkeiten einsehen, die mir, sowohl als Baylen, unauflöslich geschienen hatten. Hier begriff ich, daß die Größe Gottes sowohl, als seine Güte und Gerechtigkeit, ohne Tadel bleiben, wenn man seine höchste Weisheit recht einsieht. Hier sah ich endlich, daß es nichts, als ein feiner Anthropomorphismus sey, wenn sich die Menschen unterfangen, von Gott nach denjenigen Regeln zu urtheilen, wornach man Väter und Mütter, ja kleine Fürsten zu beurtheilen pflegt. Hauptsächlich aber lernte ich die despotischen Ideen gewisser Leute verabscheuen [eine nachträgliche Kritik an lutherischer Rechtfertigungslehre im Zusammenhang mit der eingezogenen Dissertation?; A. S.], die sich entweder einbilden, Gott handle mit seinen Geschöpfen nach einer willkührlichen und unumschränkten Macht; oder doch begehren, er solle dieselbe nur mit einer unbedingten, unüberlegten und unermeßlichen Güte verbinden, um alle seine Creaturen in gleichem Grade glücklich zu machen; so unfähig und unwürdig sie einer solchen unbeschränkten Seligkeit auch seyn möchten [eine Anspielung auf die Apokatastasis-panton-Lehre Johann Wilhelm Petersens, mit der sich Leibniz in §. 17 der Theodizee auseinandersetzte?; A. S.].« 128 Gottsched: Vorrede [zur ersten Aufl age der Weltweisheit], GAW V/3, 204,22–32. 129 [Gottsched:] Historische Lobschrift, 85. 130 Die Gottsched-Forschung hat auf diese Begegnung mit Leibniz und Wolff regelmäßig hingewiesen und diese entsprechend gewürdigt. Z. B. schrieb E. Wolff: Gottscheds Stellung, Bd. 1, 11: »Endlich trat das große Ereignis in Gottscheds Leben ein: die Bekanntschaft mit der Leibniz-Wolfschen Philosophie.« Vgl. auch Waniek: Gottsched, 11; Rieck: Johann Christoph Gottsched, 13 f.; H. Poser: Gottsched und die Philosophie der deutschen Auf klärung, in: Gottsched-Tag, 53. 131 Auf dem Hintergrund eines unbefriedigenden, orthodox-scholastischen Theologiestudiums in Rostock erzählt Johann Jochim Spalding von seiner Begegnung (etwa 1733) mit der Wolffschen Philosophie Folgendes (der in diesem Zusammenhang zugleich geäußerte Vorbehalt gegenüber der Stichhaltigkeit des Erlebten ist durch die spätere Abwendung von der Wolffschen Philosophie motiviert): »Ich fand bey dem Collegen desselben [sc. Spaldings Vater; A. S.], Hrn. M. Schulz, verschiedenes von Wolfens, Bilfi ngers und Canzens Schriften. Sie waren mir erst eine fremde fi nstere Welt. Desto mehr aber griff ich meinen Fleiß und meine Aufmerksamkeit an, und meine Freude war unaussprechlich, als

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nicht ganz zufällig – an die Konversion Augustins.132 Auch er bedurfte eines tolle lege, das an Gottsched durch den Hinweis auf Leibniz’ Schriften im Zusammenhang mit der Dissertation Rasts erging.133 Wir wissen von den Zweifeln, die den jungen Gottsched im einzelnen quälten, nichts Konkretes.134 Gewiß ist jedoch, daß die Lektüre von Leibniz und Wolff den Suchenden »auf ein festes Land« führte, was ihn dazu befähigte, »Ordnung und Wahrheit in der Welt zu sehen«. Die Beschäftigung mit der Philosophie der Genannten hatte demnach durchaus existentiellen Charakter. Sie führte zu einer lebensprägenden Orientierung. Man kann es als konsequent oder starrsinnig bezeichnen: er öffnete sich jedenfalls zu keiner Zeit mehr anderen philosophischen Entwicklungen. Der Judittener Pfarrersohn hatte seinen Weg von der Theologie zur Philosophie genommen. Fortan zeigte er sich, wie er selbst sagte, »als einen Lehrling des Hrn. Hofrath Wolfs [. . .]; ungeachtet ich weder ihn selbst, noch einen seiner Schüler jemals gehöret hatte«135. Dabei folgte Gottsched seinen philosophischen Leitsternen aber keineswegs blindlings. In einer ersten, 1721 unter dem außerordentlichen Theologieprofessor Christoph Langhansen136 verteidigten philosophischen Disserich mit der Zeit so viel Licht und Ueberzeugung darin fand, oder zu fi nden glaubte, als ich noch sonst nirgends angetroffen hatte«; J. J. Spalding: Eigene Lebensbeschreibung, in: ders.: Briefe an Gleim – Lebensbeschreibung/ hrsg. von A. Beutel; T. Jersack, Tübingen 2002, 118,15–22. – Vgl. auch den Erklärungsversuch für die begeisterte Aufnahme der Wolffschen Philosophie bei der Jugend im Anschluß an Gottscheds »Bekehrungserlebnis« bei Th. P. Saine: Von der Kopernikanischen bis zur Französischen Revolution: die Auseinandersetzung der deutschen Frühauf klärung mit der neuen Zeit, Berlin 1987, 135 f. 132 Saine: Von der Kopernikanischen, 135 interpretiert das Bekenntnis Gottscheds nicht zu Unrecht als »Herauf beschwörung eines an den Pietismus gemahnenden Bekehrungserlebnisses«. 133 Nach Gottsched: Vorrede [zur ersten Aufl age der Weltweisheit], GAW V/3, 204,3 f. kam es bei ihm zum »Durchbruch« (ein eigentlich der pietistischen Bekehrungstypologie entstammender Begriff ) »durch meinen Fleiß und einiges Nachsinnen«. 134 Ein ausdrücklich von Gottsched genanntes Problem dieser Zeit ist die Frage nach dem Ursprung des moralisch Bösen, das in seiner Leipziger Habilitationsschrift einer für ihn bezeichnenden Lösung zugeführt wird; s. u. Abschn. 2.1. Saine: Von der Kopernikanischen, 135 hat – wie mir scheint zurecht – hervorgehoben, daß Gottscheds »neue Erleuchtung nicht der Lektüre der modernen Autoren an sich entspringt: Locke, Thomasius und die moderne Mathematik hatten vorher Gottscheds Zweifel nicht gelöst. Es war anscheinend die besondere Eigenart der klaren Beweisführung bei Wolff und der Gedankenkosmos, den Gottsched bei Wolff sowie bei Leibniz entdeckte, die für ihn zu diesem Zeitpunkt seines Lebens entscheidend wurden.« 135 [Gottsched:] Historische Lobschrift, 85. 136 Langhansen (1691–1770) bekleidete seit 1717 eine außerordentliche, ab 1725 dann eine ordentliche Professur der Theologie; zu ihm ADB 17 (1883), 687 f.; eine bemerkenswerte Rolle spielte er 1727 als Dekan der theologischen Fakultät, indem durch ihn ein Zensurverfahren gegen den »radikalen Auf klärer Theodor Ludwieg Lau«, einen Anhänger Christian Wolffs, im Zusammenhang mit dessen juristischer Dissertationsschrift initiiert wurde; H. Marti: Grenzen der Denkfreiheit in Dissertationen des frühen 18. Jahrhun-

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tation äußerte er Zweifel an Leibniz’ Monadologie,137 und in seiner Königsberger Habilitationsschrift vom 12. Mai 1723 versuchte er dann, über die Wolffsche Definition der göttlichen Allgegenwart hinauszukommen.138 Der dabei gepflegte autoritätsunabhängige und punktuell kritische Umgang mit den Philosophemen Leibniz’ und Wolffs – bei einem letztlich hohen Grad an Übereinstimmung, besonders mit letzterem139 – verschaffte Gottsched im philosophischen Lager bald den Ruf eines »Selbstdenkers«, der nicht unwesentlich dazu beitrug, daß sich später um sein philosophisches Katheder in Leipzig eine beachtliche Schülerschar sammeln sollte.140 Gottsched nahm nach erfolgreich erlangter Magisterwürde das Recht wahr, Vorlesungen zu halten. Er fi ng nun an, »offentlich die studierende Jugend in den schönen Wissenschaften, zumahl in der Rede- und Dichtderts: Theodor Ludwig Laus Scheitern an der juristischen Fakultät der Universität Königsberg, in: Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit/ hrsg. von H. Zedelmaier; M. Mulsow, Tübingen 2001, 296; vgl. auch E. Donnert: Theodor Ludwig Lau (1670– 1740): Philosoph und Freidenker, in: Europa in der Frühen Neuzeit, Bd. 2 (1997), 61–73. 137 J. Ch. Gottsched: Dubia circa monades Leibnitians, Regiomonti 1721; vollständige Bibliographie des Titels in: Gottsched-Bibliographie, GAW XII, Nr. 9; vgl. zu dieser Schrift auch die Selbstmitteilungen bei Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 5,26–6,15 (hier irrtümlich 1722 als Jahr der Abfassung notiert; dieser Fehler ist von einigen Autoren übernommen worden); E. Wolff: Gottscheds Stellung, Bd. 1, 118–120; G. Fabian: Beitrag zur Geschichte des Leib-Seele-Problems: die Lehre von der prästabilierten Harmonie und vom psychophysischen Parallelismus in der Leibniz-Wolffschen Schule, Langensalza 1925, 66 (hier durch Druckfehler 1731 als Abfassungsjahr angegeben). 138 J. Ch. Gottsched: Genuinam omnipraesentiae divinae notionem distincte explicatam et observationibus illustratam defendent (12. Mai 1723); vollständige Bibliographie des Titels in: Gottsched-Bibliographie, GAW XII, Nr. 17. Bei der Verteidigung der Abhandlung stand ihm sein Bruder Friedrich zur Seite. Den Inhalt der Schrift skizziert Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 6,16–7,9; vgl. auch Waniek: Gottsched 16; vgl. zu Gottscheds Magisterpromotion zusammenfassend Reicke: Zu Joh. Christ. Gottsched’s Lehrjahren, 38 f. 139 Gottsched: Vorrede [zur ersten Aufl age der Weltweisheit], GAW V/3, 199, 6–10 bemerkte über Wolffs Philosophie: »Nirgends habe ich diejenige Ordnung und Gründlichkeit gefunden, nirgends habe ich mich mehr befriedigen können, als in Herrn Wolfs Schriften: Ungeachtete freylich hier und da einige Puncte übrig geblieben, darinn ich noch nicht völlig seiner Meynung habe beypfl ichten können.« 140 Ludovici: Ausführlicher Entwurf, Tl. 2, 506 f. notierte in seinem vielgelesenen Werk zur Geschichte der Wolffschen Philosophie über die philosophische Erstlingsschrift Gottscheds: »Jedoch haben wir selbiger von neuem Erwehnung thun wollen, weiln Hr. Gottsched uns die Erlaubnis ertheilet hat zu erinnern, daß er nunmehro seinen Sinn geändert und die Leibnitzischen Einheiten angenommen hätte, nachdem er diese Materie bey reiferm Alter in genauere Erwegung gezogen habe. Als kan man auch hieraus erkennen, daß der Hr. Professor ein Philosoph rechter Art sey. Denn diesem kommet nicht zu, einen Satz beständig zu behaupten weil man ihn einmahl angenommen hat. Er dencket täglich den Lehren weiter nach, und so kan es leicht kommen, daß er aus bündigern Gründen des Gegentheils überführet wird.« – Vgl. auch Gottscheds späteres Eingeständnis, daß seine Zweifel an Leibniz’ Monadologie unbegründet waren; Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 6,7–15.

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Kapitel 1: Gottscheds biographische Synthese . . .

kunst zu unterrichten«141. Lange konnte er sich des Applauses der Studenten jedoch nicht erfreuen, denn im Januar 1724 kam es zu jenem Ereignis, das in der Literaturgeschichte – und nicht nur dort – hinreichend häufige Erwähnung gefunden hat: die Flucht des stattlich gewachsenen Dozenten vor den Werbern des preußischen Soldatenkönigs.142 Weniger bekannt als das Faktum selbst sind einige der Umstände, die diesen biographischen Einschnitt begleiteten. Es war nämlich gerade der Prediger Gottsched, der die Aufmerksamkeit der Werber erregte. Gottlieb Stolle, ausgestattet mit Informationen aus erster Hand, berichtet davon folgendes: »Weil er sich seit 1712.143 zuweilen im Predigen geübt, auch in der Poesie hervorgethan hatte, so war er beyder Ursachen halber bey hohen und niedrigen bekannt, biß ihn beydes zugleich sein Vaterland zu verlassen und in die Fremde zu gehen nöthigte. Dieses geschahe gleich im Anfange des 1724. Jahres; denn da er vor dem in Königsberg residirenden Königl. General-Feld-Mareschall, dem Hertzoge von Hollstein in seinem Zimmer zu predigen bestellet wurde, und er dieses zwey Sonntage nach einander verrichtete, wurde ihm von einem hohen Officier seiner Länge halber dergestalt nachgestellet, daß ihn niemand mehr vor sicher hielte. Er machte sich also eilends fort.«144

Am 19. Januar 1724 verließen Gottsched und sein Bruder Johann Heinrich Königsberg, und über Thorn, Breslau, Görlitz und Bautzen führte der Weg die beiden nach Leipzig. Während Gottscheds Bruder sich nach Halle wandte und dort sein Jurastudium fortsetzte, wählte der geflohene Magister die Stadt an der Pleiße zu seinem Wohnsitz.145 Seiner Wehmut über den Verlust der ostpreußischen Heimat verlieh er unmittelbar in einer Elegie Aus-

141 J. Brucker: Bilder-sal [!] heutiges Tags lebender [. . .] Schriftsteller. Drittes Zehend, Augsburg 1744; zit. nach Reicke: Zu Joh. Christ. Gottsched’s Lehrjahren, 39. 142 Vgl. zum folgenden neben Reicke: Zu Joh. Christ. Gottsched’s Lehrjahren, 39 f. auch E. Wolff: Gottscheds Stellung, Bd. 1, 122 f. 143 Reicke: Zu Joh. Christ. Gottsched’s Lehrjahren, 39 sieht sich (wohl zurecht) veranlaßt, die Richtigkeit dieser Angabe anzuzweifeln und als Druckfehler für »1721« oder »1722« zu halten, da Gottsched seine erste Predigt sonst als Zwölfjähriger gehalten hätte. Goetten, der für sein Biogramm aller Wahrscheinlichkeit nach auf persönliche Mitteilungen Gottscheds zurückgreifen konnte, berichtete – wie bereits zitiert –, daß Gottsched in Königsberg fast einhundert Mal gepredigt habe. Sollte Reickes Vermutung zutreffend sein, müßten sich jedoch beim Beginn von Gottscheds Predigttätigkeit im Jahr 1721 die knapp einhundert Predigten auf rund drei Jahre verteilen. Sollte dies zutreffen, würde diese hohe Predigtfrequenz auf das eindrücklichste veranschaulichen, daß Gottscheds Bruch mit der orthodoxen Theologie und die Zuwendung zur auf klärerischen Philosophie kein prinzipieller Bruch mit dem Christentum und der kirchlichen Praxis war. 144 G. Stolle: Ganz neue Zusätze und Ausbesserungen Der Historie Der Philosophischen Gelahrtheit, Jena 1736; zit. nach Reicke: Zu Joh. Christ. Gottsched’s Lehrjahren, 36. 145 Reicke: Zu Joh. Christ. Gottsched’s Lehrjahren, 39 f.

2 Leipzig: vom Magister zum Professor der Philosophie

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druck,146 und es dauerte geraume Zeit, bevor er im sächsischen Land heimisch wurde.147

2 Leipzig: vom Magister zum Professor der Philosophie »Gottscheds Eintritt in die Leipziger Gelehrtenkreise fiel gerade in die Zeit der vielleicht größten Aufregung innerhalb der wissenschaftlichen Welt Deutschlands.«148 Die Vertreibung des Philosophen Christian Wolff von der Nachbaruniversität Halle (Ende 1723) schlug bekanntlich ihre hohen Wellen. Weit weniger bekannt ist, daß sich im Kursächsischen in diesem Zusammenhang eine vorwiegend adelige Lobby, an der Spitze der Graf Ernst Christoph von Manteuffel,149 formiert hatte, die v. a. am Dresdner Hof darauf hinarbeitete, die Lage für die Leipziger Alma mater auszunutzen und Wolff zur Zierde des gelehrten Leipzig mit einem Lehrstuhl zu versorgen. Fast hätte der Versuch – gegen den erheblichen Widerstand der Theologen und des Dresdner Oberkonsistoriums – zum Erfolg geführt; lediglich einige Irritationen bei der Gehaltsfrage ließen den Philosophen doch gen Marburg eilen.150 Diese Episode verdeutlicht nicht nur die positive Stimmung, die man in kursächsischen Hof- und Universitätskreisen Wolffs Philosophie entgegenbrachte,151 sondern sie erklärt auch die Arbeitsmöglichkeiten, die sich den Anhängern seiner Philosophie in Leipzig boten. Das intellektuelle Klima war für den geflohenen Königsberger Magister demnach günstig und der Boden nicht gänzlich unbearbeitet. Gleichwohl war aber auch mit heftigen Widerständen gegen eine Propagierung der Philosophie Wolffs zu rechnen, insbesondere seitens der Theologischen Fakultät und des Dresdner Oberkonsistoriums.152 146

J. Ch. Gottsched: Elegie. Als er aus seinem Vaterland gieng, 1724, GAW I, 371–

373. 147

Vgl. Reicke: Zu Joh. Christ. Gottsched’s Lehrjahren, 40–44. E. Wolff: Gottscheds Stellung, Bd. 1, 127. 149 Zu Manteuffel s. u. Kap. 3, Abschn. 3.3. 150 D. Döring: Die Philosophie, 49–54. – Im übrigen versuchte Manteuffel Anfang 1739 erneut, Wolff für Leipzig zu gewinnen; siehe H. Wuttke: Ueber Christian Wolff den Philosophen: eine Abhandlung, in: Ch. Wolff: Eigene Lebensbeschreibung, 43 f. 151 Bislang fehlen einschlägige Untersuchungen, die die kursächsische Universitätspolitik im Hinblick auf diese, für die Vormachtstellung der Theologie folgenreichen Entwicklungen genauerhin darlegen. Die Studie von P. Blettermann: Die Universitätspolitik August des Starken 1694–1733, Köln 1990 bietet keine Einsichten für die hier interessierenden Problemkonstellationen; zur Rolle Manteuffels auf die kursächsische Universitätspolitik und bei der beabsichtigten Berufung Wolffs nach Leipzig vgl. ebd, 22 f. 152 Vgl. neben D. Döring: Die Philosophie, auch ders.: Der Wolffianismus in Leipzig: Anhänger und Gegner, in: Christian Wolff: seine Schule und seine Gegner/ hrsg. von H.M. Gerlach, Hamburg 2001, 51–76. 148

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Kapitel 1: Gottscheds biographische Synthese . . .

2.1 Die Leipziger Habilitation (1724): die Theodizee-Frage im Spannungsfeld von Theologie und Philosophie Die kursächsische Universitätsstadt153, die bereits bei Gottscheds Ankunft ein aufstrebendes »Zentrum der Auf klärung«154 war, wurde dabei zur Bühne seiner weiteren Aktivitäten, mit denen er sie bis zu seinem Tod gestaltend prägte.155 Bei seinem berufl ichen Neuanfang hatte der ostpreußische Ankömmling gleich mehrfach Glück.156 Johann Burchard Mencke (1674– 1732),157 der polyhistorisch tätige Professor an der Alma mater Lipsiensis, seit 1707 Herausgeber der ersten allgemeinwissenschaftlichen Zeitschrift Deutschlands, den Acta Eruditorum, und Finanzier der ersten gelehrten Monatsschrift, der Leipziger Neue[n] Zeitung von gelehrten Sachen,158 sowie Ver153 Ein kulturgeschichtlich anschauliches Bild Leipzigs zur Zeit Gottscheds zeichnet D. Döring: Johann Christoph Gottsched in Leipzig: Ausstellung in der Universitätsbibliothek Leipzig zum 300. Geburtstag von J. C. Gottsched, Stuttgart; Leipzig 2000, 11–47. 154 Vgl. dazu den Sammelband: Zentren der Aufklärung III: Leipzig. Auf klärung und Bürgerlichkeit/ hrsg. von W. Martens, Heidelberg 1990; D. Döring: Der Wolffianismus, 52 f. notiert zur Bedeutung Leipzigs für die Auf klärung prägnant: »Leipzig ist nicht die Geburtsstätte des Wolffianismus, aber es ist der Ort, von dem aus er seine intensivste Verbreitung fand [. . .]«. 155 Zu Gottscheds Anteil an der Formierung der »Leipziger Auf klärung« hat zuletzt D. Döring eine Reihe wichtiger Studien vorgelegt, u. a. D. Döring.: Die Philosophie; ders.: Die Leipziger gelehrten Sozietäten in der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts und das Auftreten Johann Christoph Gottscheds, in: Europa in der Frühen Neuzeit, Bd. 5, (1999), 17–42; ders.: Johann Christoph Gottsched in Leipzig. – Über die Forschungslage zur Auf klärung in Sachsen (mit Fokus auf die Universitätsgeschichte) orientiert ders.: Die Universität Leipzig im Zeitalter der Auf klärung: Geschichte, Stand und Perspektiven der Forschung, HJ 122 (2002), 413–461. Ob der Vorschlag Ludwig Stockingers einer besonderen »Sächsischen Auf klärung« mit Leipzig als räumlichem und Gottsched als personalem Zentrum sich in der Forschung wird durchsetzen können, bleibt abzuwarten; L. Stockinger: Die sächsische Auf klärung als Modell deutscher Auf klärungsvarianten, in: Sächsische Auf klärung/ hrsg. von A. Klingenberg; u. a., Leipzig 2001, 23–48; vgl. dazu auch D. Döring: Die Universität, 444–447. 156 Neben verschiedenen Erwägungen, die Leipzig als zukünftige Wirkungsstätte empfahlen (vgl. E. Wolff: Gottscheds Stellung, Bd. 1, 123 f.), dürfte ein entscheidender Grund auch darin zu suchen sein, daß der Sohn seines Onkels Johann Gottsched, Christoph Bernhard, seit 1717 in Leipzig studierte und seit 1721 unter Menckes Dekanat Vorlesungen hielt; vgl. Rieck: Johann Christoph Gottsched, 20. 157 Die Namensschreibweise variiert zwischen Burchard und Burckard; zur Person siehe N. Hammerstein: Johann Burchard Mencke, NDB 17 (1994), 34 f. (Lit.); E. Wolff: Gottscheds Stellung, Bd. 1 , 124–127. 158 Gottsched erhielt unter dem Protektorat Menckes die Möglichkeit, sowohl in den Acta als auch in den Neuen Zeitungen (vornehmlich wohl als Rezensent) zu publizieren; vgl. W. Fläschendräger: Rezensenten und Autoren der »Acta Eruditorum« (1682–1731), in: Universitates Studiorum Saec. XVIII et XIX: Études présentées par la Commission Internationale pour l’histoire des Universités en 1977, Warschau 1982, 69; M. Winkler: Johann Christoph Gottsched im Spiegelbild seiner kritischen Journale: eine Teiluntersuchung zum gesellschaftlichen und philosophischen Standort des Gottschedianismus, in: Karl-Marx-Universität Leipzig 1409–1959: Beiträge zur Universitätsgeschichte, Bd. 1, Leipzig 1959, 146 mit Anm. 1.

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fasser der europaweit beachteten, satirischen Marcktschreyerey der Gelehrten,159 die die scholastische Scheingelehrsamkeit an den Pranger stellte, – diese Zentralfigur der Leipziger Respublica literaria öffnete dem mit einem Empfehlungsschreiben ausgestatteten Vierundzwanzigjährigen nicht nur die Türen seines Hauses, sondern machte ihn im Juni 1724 auch zum Privatlehrer seines ältesten Sohnes, Friedrich Otto, und Aufseher über seine berühmte Bibliothek.160 Dabei war es insbesondere die Hochschätzung der Philosophie Wolffs, die den Flüchtling dem Hofrat empfahl.161 Gottsched bezog für die nächsten drei Jahre in dessen am Nikolaikirchhof gelegenen Haus Quartier, wo er seinem Schüler u. a. »über die wolfische Logik und Metaphysik«162 Vorlesungen hielt. Eine nicht weniger glückliche Fügung lag in dem Umstand, daß just zur Zeit von Gottscheds Ankunft »(. . .) die preußische Collegiatur daselbst [sc. an der Universität Leipzig] erlediget (war)«163. Um sich als Magister noster auf diese Stelle bewerben zu können, wurde eine zweite Habilitation nötig, die mit einiger öffentlicher Aufregung am 18. November 1724 über die Bühne ging.164 Die dafür abgefaßte, Mencke gewidmete Dissertation lautete Hamartigenia sive de fonte vitiorvm hvmanorum quaestio philosophice solvta165 und beschäftigte sich – wie der Titel bereits anzeigte – mit der philosophischen 159 J. B. Mencke: De charlataneria eruditorum declamationes duae [. . .], 1715; viele weitere Aufl agen; Übersetzungen u. a. ins Französische und Englische; dt.: Zwey Reden von der Charlatanerie oder Marcktschreyerey der Gelehrten [. . .], Leipzig 1716; Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1728: München 1981. – Zu Gottscheds Beteiligung an der lateinischen Ausgabe von 1727 vgl. Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 18,11– 17. 160 [Gottsched:] Historische Lobschrift, 73; Waniek: Gottsched, 25 nimmt dagegen an, Gottsched sei erst 1725 zum Privatlehrer von Menckes Sohn bestellt worden. 161 [Gottsched:] Historische Lobschrift, 73. 162 [Gottsched:] Historische Lobschrift, 72 f. in Anm. *. – Als Privatlehrer unterrichtete Gottsched Friedrich Otto Mencke zwei Jahre lang, behielt aber für ein weiteres Jahr noch ein Zimmer im Haus, das er als magister legens für seine Vorlesungen nutzte; ebd. in Verbindung mit Gottsched: Vorrede [zu ders.: Versuch einer critischen Dichtkunst, 1730], GAW VI/2, 399, 1–3. 163 Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 8,32 (vgl. GAW V/3, 252,31 f.). 164 Vgl. hierzu und zum Folgenden Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 8,31–10,35 (vgl. GAW V/3, 252,30–254,35); E. Wolff: Gottscheds Stellung, Bd. 1, 128– 131; Waniek: Gottsched, 27–29, der (wie E. Reichel: Gottsched, Bd. 1, 137) irrtümlich den 18. Oktober als Datum der Disputation notiert, da Gottsched versehentlich den »Weinmonath« (GAW V/2, 9,2) angegeben hatte. 165 Zum vollständigen Titel siehe Gottsched-Bibliographie, GAW XII, Nr. 23; hier auch das zutreffende Datum »a. mdccxxiiii. D. xiix. Nov.« notiert. – Einen Wiederabdruck des Textes bietet J. Ch. Gottsched: Hamartigenia, sive de fonte vitiorum humanorum quaestio philosophice soluta, et Lipsiae MDCCIV publice disputata, in: Pierre Bayle: Historisches und Critisches Wörterbuch nach der neuesten Aufl age von 1740 ins Deutsche übersetzt; [. . .] wie auch einigen Zugaben versehen, von Johann Christoph Gottsched. Vierter und letzter Theil, Leipzig 1744, 714–719; ich zitiere im Folgenden nach diesem Druck. Poser: Gottsched und die Philosophie, 54 meint, die Dissertation de hamar-

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Lösung eines zentralen theologischen Themas: der Frage nach dem Ursprung des moralisch Bösen, der Sünde. Mit seinem Ansatz folgte Gottsched den in Königsberg über dem Studium von Leibniz und Wolff gewonnenen Einsichten.166 Der Theologe Johann August Ernesti, der später als eines von sieben Mitgliedern der 1731 von Gottsched wiederbelebten Societas Conferentium (s. u.) »ein Schüler Gottscheds«167 war, wies in seinem Nachruf auf den verstorbenen Lehrer auf die philosophische Methode der Dissertation hin, wobei er sich eines Wortes über den Inhalt enthielt.168 Wie aber war Gottscheds Problemstellung motiviert, und wie sah die Lösung aus, die Ernesti mit keinem Wort erwähnte? Noch in Königsberg, vor der Begegnung mit Leibniz’ Theodicee (1719), hatte der Judittener Theologiestudent ein dogmatisches Gedicht des bedeutendsten christlichen Dichters der lateinischen Spätantike, Aurelius Prudentius Clemens, gelesen: dessen Hamartigenia (Sündenfall), in der in antignostischer Zielrichtung die dualistische Beantwortung der Frage nach dem Ursprung des Bösen (Marcion) zurückgewiesen wurde.169 Gottsched fand dessen Lösung, die im Anschluß an Tertullians fünf Bücher Adversus Marcionem formuliert war, unbefriedigend, zumal die wenig später einsetzende Beschäftigung mit Pierre Bayle problemverschärfend wirkte170 und – wie er einmal mehr beklagte – »meine theologischen Lehrer in Königsberg, denen ich sie [sc. »Bäylens manichäische und marcionitische Scrupel«] oft im Disputiren vorgetragen, (. . .) mir kein Gnüge darinn gethan (hatten); indem sie auch hier den Knoten mehr durchzuschneiden, als aufzulösen pflagen«171. Gottscheds eigener Bericht fährt an dieser Stelle wie folgt fort: tigenia liege im vierten Band des Bayle’schen Wörterbuchs in deutscher Übersetzung vor, was ich aber nicht bestätigt fi nde. 166 Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 9,2–21 stellt die Schrift mehr in den Zusammenhang mit der Beschäftigung mit Leibniz’ Theodicee, wohingegen Gottsched: Historische Lobschrift, 85 die Beschäftigung mit Wolffs Philosophie als Grund nennt; richtig ist wohl, einen parallelen Einfluß anzunehmen. 167 D. Döring: Die Philosophie, 98 in Anm. 369. Zur Societas Conferentium vgl. ebd, 67 f.; ders.: Die Leipziger gelehrten Sozietäten, 40 f. 168 Ernesti ging auf den Inhalt der Leipziger Promotionsschrift mit lediglich unverdächtigen Worten ein, wenn er bemerkte, daß »in quo [sc. libello de Hamartigenia] res erat secundum Leibnitianum rationem explicata«; [Ernesti:] Memoriam Viri Amplissimi, X. 169 Vgl. zu Person und Werk W. Evenepoel: Prudentius, TRE 27 (1997), 604–607. – Zu den Bezugnahmen auf Prudentius’ Lehrgedicht in Gottscheds Dissertation vgl. Gottsched: Hamartigenia, 716 (§. IV Anm. k). 717 (§. VI Anm. o). 718 (§. VIII Anm. r). 170 Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 9, 5–10. – Bayle hatte der christlichen Religion vorgeworfen, die Frage nach dem moralisch Bösen auf manichäisch-dualistische Weise zu lösen, indem Gott für das Gute, der Teufel aber für das Böse verantwortlich gemacht werde; vgl. dazu die Darlegungen Gottscheds in seinem philosophiegeschichtlichen Abriß in der Weltweisheit (GAW V/1, 43,20–44,19). 171 Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 9,10–14.

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»Es schien mir immer noch eine Schuld des Bösen in der Welt, auf den Schöpfer derselben zurückzufallen: bis ich die leibnitzische Theodicee zu lesen bekommen. Diese hatte mir nun alle vorige Scrupel benommen, und mich in der Lehre der evangelischen Theologie befestiget. Daher suchete ich nun dieselbe, zu meiner und anderer Bestätigung, auf eine philosophische, kurze und bündige Art vorzutragen: [. . .].« 172

Wie die Hinwendung des Theologen Gottsched zur Philosophie sich allgemein vollzog, wurde bereits oben nachgezeichnet. Hier nun wird greif bar, wie diese Neuorientierung in concreto aussah. Als Problem steht am Anfang eine theologische Frage, die mit den Mitteln der herkömmlichen, orthodox-scholastischen Theologie ungenügend beantwortet scheint. Hilfe sucht der Zweifelnde in der Philosophie Leibniz’, die auf festen Boden und zur Befestigung »in der Lehre der evangelischen Theologie« führt. In Gottscheds Hamartigenia wird dementsprechend die Anwendung Leibnizscher und Wolffscher Prinzipien und Philosopheme in der Theologie realisiert – mit beachtlichen Folgen.173 Die Frage nach dem Grund der Ursünde der Protoplasten kann nach Gottscheds Auffassung auf eine doppelte Weise beantwortet werden. Zum einen historice174 ; dies – so stellte er heraus – »ex reuelatione sola cognoscitur«175. Zum anderen – von der ersten Art deutlich unterschieden und leicht 172

GAW V/2, 9,14–21. Zur systematischen Darstellung der von Leibniz und Wolff beeinflußten Theologie Gottscheds liegen nur wenige Untersuchungen vor. Von literaturgeschichtlicher Seite sind erwähnenswert Erich Lichtenstein: Gottscheds Ausgabe von Bayles Dictionnaire: ein Beitrag zur Geschichte der Auf klärung, Heidelberg 1915, 50–87; Kuhlmann: Die theologischen Voraussetzungen, 28–86 (z. T. im Anschluß an K. Aner); unerheblich sind die Überlegungen von I. Gombocz: Geleitwort [zu: Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit: Kommentar], GAW V/4, 20–24 (5. Gottsched als Auf klärungstheologe: theoretische Perspektiven und ideologische Konfl ikte); von kirchengeschichtlicher Seite einschlägig Aner: Theologie der Lessingzeit, 195–201; noch zugespitzter seine Aussagen in ders.: Kirchengeschichte, Bd. 4, 91 f. 174 H. W. Arndt: Die Hermeneutik des 18. Jahrhunderts im Verhältnis zur Sprach- und Erkenntnistheorie des klassischen Rationalismus, in: Unzeitgemäße Hermeneutik: Verstehen und Interpretation im Denken der Auf klärung/ hrsg. von A. Bühler, Frankfurt am Main 1994, 14 hat darauf hingewiesen, daß der Begriff »historisch« innerhalb der Wolffschen cognitio historica eine Semantik aufweist, die von unserem heutigen Verständnis, das auf zeitliche Abläufe bezogen ist, nicht erfaßt wird; die »historische Erkenntnis« beschreibt demnach eine »Bestandsaufnahme von Einzeltatsachen bzw. einer Erfassung von Sachverhalten, die als solche, ohne Beziehung auf theoretische Begründungszusammenhänge erkannt bzw. gewußt werden«; ebd. (Hervorhebung A. S.). – Zur Unterscheidung von historischer, philosophischer und mathematischer Erkenntnis siehe auch Ch. Wolff: Discursus praeliminaris de philosophia in genere – Einleitende Abhandlung über Philosophie im allgemeinen: historisch-kritische Ausgabe/ übers., eingel. und hrsg. von G. Gawlick; L. Kreimendahl, Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, 3–31. 175 Gottsched: Hamartigenia, 716 (§. IV Anm. k). – Vgl. zur Behandlung des Sündenfalls in der Auf klärungstheologie zuletzt Ch. Bultmann: Die biblische Urgeschichte in der Auf klärung: Johann Gottfried Herders Interpretation der Genesis als Antwort auf die 173

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(facile) einzusehen – philosophice, d. h. physisch bzw. medizinisch (psychologisch).176 Im Klartext: Die konkreten Umstände des als historisches Geschehen offenbarten Sündenfalls sollten – da von der Offenbarung (Heiligen Schrift) nicht weiter mitgeteilt – in ihren physisch-psychischen Abläufen naturwissenschaftlich (philosophisch) erklärt werden. Denn wenn der Sündenfall theologischerseits als realer Vorgang in der Geschichte angenommen wurde, mußte er angesichts der menschlichen Hauptakteure auch nach seinen philosophisch-anthropologischen Implikationen beschreibbar sein. Die Ausgangsbasis für Gottscheds Argumentation bildete dabei die Behauptung menschlicher Willensfreiheit zur Wahl des Bösen oder Guten,177 die ihrerseits die Abhängigkeit bzw. Steuerbarkeit des Willens durch den Verstand voraussetzte.178 Damit griff er auf Wolffs Modell der Seelenlehre zurück, das zwischen Verstand und Willen als zwei getrennten, aber aufeinander bezogenen Seelenvermögen unterschied und diese zueinander in spezifische Beziehung setzte.179 Die Erkenntnis des Guten und Bösen ist in diesem Zusammenhang als Einsicht in die lex naturae defi niert, die ihrerseits als Maxime rechten Handelns klassisch mit den Worten bestimmt wird: »Fac ea, quae te aliosque tecum conseruant, immo quatenus fieri potest, perficiunt.«180 Die Konklusion der Abhandlung gipfelt dabei in der Aussage, daß Religionskritik David Humes, Tübingen 1999; sowie von philosophiegeschichtlicher Seite W. Schmidt-Biggemann: Geschichte der Erbsünde in der Auf klärung: philosophiegeschichtliche Mutmaßungen (1980), in: ders.: Theodizee und Tatsachen: das philosophische Profi l der Auf klärung, Frankfurt am Main 1988, 88–116. 176 Gottsched: Hamartigenia, 716 (§. IV Anm. k): »Alia autem ratione incedendum est, philosophice in vitiorum fontem inquisituro. [. . .] Duplici potissimum ratione hanc quaestionem solui posse, quiuis facile intelligit, ab historico aliter; aliter a physico siue medico.« – Zur »philosophischen«, d. h. (natur-)wissenschaftlichen Deutung der Urgeschichte vgl. Bultmann: Die biblische Urgeschichte, 58–69. 177 Zur theologiegeschichtlichen Orientierung vgl. O. H. Pesch: Wille/Willensfreiheit III. Dogmen- und theologiegeschichtlich, TRE 36 (2004), 76–97. 178 Gottsched: Hamartigenia, 715 (§. II): »Vitia sunt actiones hominum liberae, naturae legi contrariae, ideoque moraliter malae. Actio libera est, cuius ratio in voluntate ab intellectu determinata deprehenditur: siue vt vulgari loquendi formula multis familiari vtar, ea demum actio libera est, quae a sciente et volente perficitur.« 179 Eine systematisch-vergleichende Orientierung über die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Leipzig verbreiteten anthropologischen Konzepte im theologischen, philosophischen und medizinischen Bereich bietet erstmals die literaturwissenschaftliche Dissertation von K. Löffler: Anthropologische Konzeptionen in der Literatur der Aufklärung: Autoren in Leipzig 1730–1760, Leipzig 2005; zu Wolff Seelenlehre in homiletischer Perspektive s. u. Kap. 2, Abschn. 3.2. 180 Gottsched: Hamartigenia, 715 (§. II). – Das Zitat schließt mit einer Anmerkung, in der Christian Wolffs Verdienste bei der Wiedergewinnung der Ethik als Thema der Philosophie gerühmt werden mit Hinweis auf dessen Deutsche Ethik, d. i.: Ch. Wolff: Vernünfftige Gedancken Von der Menschen Thun und Laßen, Zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit, Halle 1720; einen Reprint der 4. Aufl. 1733 bietet WGW I/4. Eine weitere Nennung von Wolffs Ethik erfolgt in Gottsched: Hamartigenia, 718 (§. IX, Anm. v).

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die Laster als Folge eines geschwächten Intellekts, mithin der Unvollkommenheit menschlicher Erkenntnis anzusehen sind.181 Daraus zog Gottsched den Schluß, daß die Laster der Menschen in dem Grade abnehmen, wie die Lasterhaften Einsicht in ihr frevelhaftes Tun erlangen, d. h. darüber »aufgeklärt« werden. Das alles wurde mit einem Apparat gelehrter Anmerkungen versehen, in dem besonders die Bezugnahmen auf Leibniz’ Theodicee182 bzw. (aus Rücksicht auf die kaum ein Jahr zurückliegende Vertreibung weniger explizit) auf Wolffs Schriften183 ins Auge fallen. Ansonsten dokumentierte der Text die beachtliche Belesenheit des Vierundzwanzigjährigen. Platon, Ovid und Kirchenväter, Malebranche, Descartes und Pufendorf, Clericus, Buddeus und Bilfi nger184 – um nur einige zu nennen – bildeten die Folie der Ausführungen; auch die Königsberger Lehrer Kreuschner und Mas(e)covius fanden Erwähung 185. Es waren jedoch nicht die äußerlichen – im übrigen gelegentlich auch kritischen – Bezugnahmen auf den philosophischen Diskurs, die den Text als Produkt der Beschäftigung mit Leibniz und Wolff auswiesen. Vielmehr sind dafür inhaltliche Abhängigkeiten geltend zu machen, die sowohl auf das weite Feld der Theodizee-Problematik innerhalb des metaphysischen Rationalismus (Leibniz) führen,186 wie auch in den größeren Zusammen181

Gottsched: Hamartigenia, 718 (§. X): »Falsa iudicia nostra ex imperfecta cognitione rerum oriuntur: haec, ex limitatione naturis nostris essentiali originem habent. Ergo vitia ipsa, non nisi limitata mentis hvmanae essentia, fontem svvm agnoscvnt.« 182 Vgl. Gottsched: Hamartigenia, §§. I, Anm. a. d; II, Anm. f; XII; u. ö. 183 Neben den Hinweisen auf Wolffs Deutsche Ethik fi nden sich auch Bezugnahmen auf dessen Deutsche Logik (Gottsched: Hamartigenia, §. I, Anm. b), die Deutsche Metaphysik (ebd, §. I, Anm. d) und seine mathematischen Schriften (ebd, §. IX, Anm. u). Das zeitgenössische Interesse an Wolffs Ethik, das auch für Gottsched kennzeichnend war, erläutert eine Bemerkung in einem Nachruf auf Wolff von J. F. Stiebritz: Schuldige Anzeige, von des Hochwohlgebornen Herrn, Christian Freyherrn von Wolff [. . .] rühmlichst geführten Leben und erfolgten seeligen Ende, in: Wöchentliche Hallische Anzeigen vom Jahr MDCCLIV (1754), Nr. XV (15. April 1754), 264: »(. . .) unser Philosoph (ist) billig für weit grösser zu halten, als Cartesius und Leibnitz; indem keiner von beyden sich um die practische Weltweisheit, um welche man sich doch vorzüglich bekümmern solte, Mühe gegeben, der letzte aber überhaupt gar nichts systematisch ausgearbeitet hat«. 184 Georg Bernhard Bilfi nger (1693–1750; zu ihm RGG3 1 [1957], 1291 f. [H. Liebing]), der spätere Tübinger Theologieprofessor und Präsident des Konsistoriums in Stuttgart, gehörte zu den wichtigen frühen Leibniz-Wolffi anern, die für die Formulierung einer Theologie nach deren philosophischen Grundsätzen eintraten; vgl. H. Liebing: Zwischen Orthodoxie und Auf klärung. – Bezugnahmen auf Bilfi ngers Traktat (De origine et permissione mali [. . .], Frankfurt; Leipzig 1724; neue Aufl. Tübingen 1743: als Reprint verfügbar in WGW III/80) fi nden sich bei Gottsched: Hamartigenia, 714 (§. I, Anm. d); 716 (§. IV, Anm. k); 719 (§. XII). 185 Gottsched: Hamartigenia, 714 (§. I, Anm. d; Hinweis auf Mas[e]covius); 718 (§. IX, Anm. v; Hinweis auf Kreuschner). 186 Vgl. dazu aus der Fülle der Literatur S. Lorenz: De Mundo Optimo: Studien zu Leibniz’ Theodizee und ihrer Rezeption in Deutschland (1710–1791), Stuttgart 1997.

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hang von Wolffs Metaphysik und Ethik.187 Grundsätzlich genügt zur Einordnung von Gottscheds Position soviel: Leibniz hatte zwischen metaphysischem, physikalischem und moralischem Übel unterschieden und dabei den beiden letzteren die Notwendigkeit bestritten,188 da ihnen die Eigenschaft einer wirkenden Ursache fehle. Stattdessen behauptete er die grundsätzliche Ausrichtung des Willens auf das Gute (motiviert im Streben nach Vollkommenheit), wobei das Böse als Mangel, also ein Fehlen von Gutem (im Falle des moralisch Bösen: Tugend) gedacht wurde.189 Der Wille selbst wurde dem Zwang und der Notwendigkeit zwar entbunden, also frei gedacht,190 jedoch in psychologischer Hinsicht noch nicht vollständig in Abhängigkeit vom Verstand gebracht. Denn Leibniz unterschied ein Wissen aus bloßer Vernunft von einem Wissen aus Anschauung,191 das nicht nur die »Schwachheit der Natur« anerkannte,192 sondern letztlich auch stets Gott als wirkende Ursache zum Guten ansah.193 Das Problem der Sünde wurde von Leibniz 187 Für Wolff vgl. orientierend M. Wundt: Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Auf klärung. 2. unveränderter Nachdruck der Ausgabe Tübingen 1945, Hildesheim u. a. 1992, 171–174; A. Bissinger: Zur metaphysischen Begründung der Wolffschen Ethik, in: Christian Wolff 1679–1754, 148–160; den für Wolffs Ethik zentralen Terminus der »Vollkommenheit« untersucht eingehend C. Schwaiger: Das Problem des Glücks im Denken Christian Wolffs: eine quellen-, begriffs- und entwicklungsgeschichtliche Studie zu Schlüsselbegriffen seiner Ethik, Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, 93–120. 188 G. W. Leibniz: Theodicee: das ist, Versuch von der Güte Gottes, Freiheit des Menschen, und vom Ursprunge des Bösen/ nach der 1744 erschienenen, mit Zusätzen und Anmerkungen von Johann Christoph Gottsched ergänzten, vierten Ausgabe herausgegeben, kommentiert und mit einem Anhang versehen von H. Horstmann, Berlin 1996, 119 f. (§. 21); eine knappe, auf die Polemik gegen Bayle verzichtende Zusammenfassung der Theodicee bietet Leibniz in dem von Gottsched mitabgedruckten Anhang I: Verteidigung der guten Sache Gottes aus einer Gerechtigkeit, die mit allen übrigen Vollkommenheiten und Handlungen desselben vereiniget wird (ebd, 359–375). 189 Leibniz: Theodicee, 119 (§. 20): »Allein das Wesen des Bösen, hat, eigentlich zu reden, gar keine wirkende Ursache: denn es besteht, wie wir sehen werden, in dem Mangel, das ist, in dem was die wirkende Ursache nicht tut.« Vgl. auch die ausführlicheren Darlegungen ebd, 126 (§. 33). 190 Leibniz: Theodicee, 126–128 (§§. 34–37); vgl. zu Leibniz’ Lehre vom Willen im Anhang I: ebd, 359 f. (§§. 18–28). 191 Leibniz: Theodicee, 129 (§. 40) (Unterscheidung von scientia intelligentiae und scientia visionis). 192 Vgl. im Anhang I von Leibniz: Theodicee, 368 f. (§§. 92–98), Zitat: 369 (§. 92). 193 Angelpunkt für diese Denkfigur ist die Leibnizsche Defi nition der Vollkommenheit, die nur Gott eignet: Leibniz: Theodicee (Anhang I), 358: »§ 10. Im Wirken hängen alle Dinge von Gott ab, indem Gott zu allen ihren Wirkungen mitwirket; in soweit einige Vollkommenheit darinnen ist, die allerdings von Gott herkommen muß.« Im Hinblick auf den Willen zum Guten ergibt sich daraus, daß das Verlangen nach dem Guten Gott zum Urheber hat, zumal der durch die Erbsünde geschwächte Mensch statt dem wahren Guten einem »Scheingut« nachjagt (ebd, 359 [§. 18]). Die Folgen der Ersünde bestimmt Leibniz ebd, 368 (§. 86) wie folgt: »Die Erbsünde hat solche Gewalt, daß sie die Menschen in natürlichen Dingen schwach, in geistlichen aber vor der Wiedergeburt tot macht; daß der Verstand nur zu sinnlichen, der Wille zu fleischlichen Sachen geneigt ist, und daß wir von Natur Kinder des Zorns sind.«

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vielmehr aus »metaphysischer« Perspektive in den Blick genommen. Die anthropologische Zuspitzung, Sünde dezidiert aus der Unvollkommenheit des Verstandes herzuleiten und den Willen in Abhängigkeit vom Verstand zu bringen, war dabei ein Vorgang, den maßgeblich Wolff zu verantworten hatte.194 Die »metaphysische« Perspektive Leibniz’ wurde von ihm auf den Bereich physischer (psychologischer) Vorgänge eingeschränkt, was dann auch den entscheidenden methodischen Anknüpfungspunkt für Gottsched bot. Dessen Anschluß an die Ethik Wolffs wurde dabei in der oben zitierten Handlungsmaxime sichtbar, mit der er auf Wolff zurückgriff und dessen ethischen Leitsatz (»Thue/ was dich und deinen oder anderer Zustand vollkommener machet; unterlaß/ was ihn unvollkommener machet.«195 ) zuspitzte. Eine gute Handlung nicht zu wollen, konnte nach Wolff nur mit unzureichender Erkenntnis der guten Handlung erklärt werden.196 Damit stellte er – zwar nicht als erster, aber wirkungsgeschichtlich durchschlagend – die Übereinstimmung von Naturgesetz und christlichem Sittengesetz als ethischer Norm unter dem Vorzeichen der Willensfreiheit fest197 und legte 194

Vgl. Bissinger: Zur metaphysischen Begründung, 152; zu Wolffs Ethik und dessen zentraler Lehre von der Vervollkommnung (Perfektibilität) des Menschen sowie dem Zusammenhang von Verstandesauf klärung und Willenssteuerung vgl. A. Schubert: Das Ende der Sünde: Anthropologie und Erbsünde zwischen Reformation und Auf klärung, Göttingen 2002, 166–168 (hier versehentlich die Erstausgabe der »Deutschen Ethik« auf 1728 datiert). 195 Wolff: Vernünfftige Gedancken Von der Menschen Thun, 11 (§. 12) (im Original alles im Fettdruck). 196 Wolff: Vernünfftige Gedancken Von der Menschen Thun, 7 (§. 6): »Da nun nicht möglich ist / daß etwas zugleich ein Bewegungs=Grund des Wollen und nicht Wollens seyn kan; so gehet es auch nicht an / daß man eine an sich gute Handlung nicht wollen sollte / wenn man sie deutlich begreiffet. Und daher sind sie so beschaffen / daß sie nur können gewolt / aber nicht zugleich nicht gewollt werden / wenn man sie deutlich begreiffet.« – Vgl. Wolff: Vernüfftige Gedanken von Gott, 308 f.: »§. 506. Unterdessen bleibet es doch wahr, [. . .] daß wir nichts wollen, als was wir für gut halten, und nichts nicht wollen, als was wir für böse ansehen. [. . .] §. 507. Wenn demnach der Mensch das Böse will, und das Gute nicht will; so geschiehet es entweder, weil er aus Irrthum das Böse für gut, und das Gute für böse hält, oder weil er es als ein Mittel ansiehet dem grösseren Uebel zu entgehen, ob er es gleich nicht vor sich für gut hält.« 197 Wolff: Vernünfftige Gedancken Von der Menschen Thun, 25 (§. 34): »Weil nun GOtt die Menschen dazu verbindet, wozu sie die Natur verbindet; so ist der Wille GOttes von der Einrichtung der freyen Handlungen mit dem Gesetze der Natur einerley, und wer sein Leben nach dem Gesetze der Natur einrichtet, der richtet es auch nach GOttes Willen ein, und lebet nach seinem Willen.« – Wichtig zum Verständnis dieser Aussage ist der daraus gezogene Schluß (ebd, §§. 35–44), der in §. 45 in der Aussage gipfelt, daß die Erfüllung des natürlichen Gesetzes zur Seeligkeit führe: »[. . .] so wird durch Beobachtung des Gesetzes der Natur das höchste Gut oder die Seeligkeit, deren man fähig ist, erhalten, und ist dannenhero seine Erfüllung das Mittel, wodurch wir das höchste Gut oder unsere Seeligkeit, deren wir auf Erden fähig sind, erlangen [. . .]«. Zwar räumte Wolff ein, daß er darüber nur als Philosoph rede und nicht die diesbezüglichen theologischen Lehren außer Kraft setze, jedoch – und das ist der springende Punkt, der auch Gottscheds Argumentation unausgesprochen zugrunde liegt – könne die Gnade (als das theologische Proprium)

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damit die Basis für die Tugendfrömmigkeit der Auf klärung. Nicht zuletzt bei Reimarus wird ein psychologischer Sündenbegriff seine konsequente Zuspitzung innerhalb der Auf klärung erfahren.198 Die Verhandlung des traditionell theologischen Problems mit philosophischen Mitteln hatte seine erkenntnistheoretische und methodische Fundierung in der Ersetzung eines dogmatischen Herangehens durch ein vernunftgeleitetes, für das Leibniz’ Theodicee modellhaft Pate stand: »An die Stelle religiöser Prämissen tritt der Satz vom Widerspruch (a kann nicht zugleich non-a sein). Religiöse ›Wahrheiten‹ sind nur in dem Maße wahr, in dem sie sich logischer Deduktion verdanken.«199 Gottsched reklamierte für sich ein solches Herangehen, indem er auf Wolffs Deutsche Logik verwies,200 wo es heißt: »§. 5. Solchergestalt muß ein Welt-Weiser nicht allein wissen, daß etwas möglich sey, sondern auch den Grund anzeigen können, warum es seyn kan. [. . .] §. 6. Hierdurch wird die gemeine Erkäntniß von der Erkäntniß eines Welt-Weisen unterschieden. Nemlich einer, der die Welt-Weisheit nicht verstehet, kan wohl auch aus der Erfahrung vieles lernen, was möglich ist: allein er weiß nicht den Grund anzuzeigen.« 201

Den Dingen auf den Grund zu gehen – darauf kam es Gottsched letztlich an. Er wollte die Knoten nicht mehr autoritär durchschnitten wissen, sondern auf »festem Land« zu stehen kommen, wie er es in der unbestechlichen Logik der nach »mathematischer« Methode202 arbeitenden Ratio fand. Insofern ist das zunächst befremdliche Geständnis nachvollziehbar, daß er durch der Natur (als dem Gegenstand der Philosophie) in diesen Fragen »nicht zuwieder« sein (ebd, §. 47). 198 Bei H. S. Reimarus: Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes/ im Auftrag der Joachim-Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburgs hrsg. von G. Alexander, Bd. 2, Frankfurt am Main 1972, 457 fi ndet sich der Satz: »Ich sage erstlich: Adam und Eva sind auf eben die Weise in Sünde verfallen, wie ihre Nachkommen. Nämlich wir sündigen entweder aus Mangel der Erkenntniß, oder wegen eines falschen sinnlichen Reitzes.« – Parallelen und Differenzen zwischen den Auf klärern Gottsched und Reimarus notiert W. Krauss: Gottsched als Übersetzer französischer Werke, in: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) ein »bekannter Unbekannter« der Auf klärung in Hamburg. Vorträge gehalten auf der Tagung der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg am 12. und 13. Oktober 1972, Göttingen 1973, 66. 199 C.-F. Geyer: Theodizee VI. Philosophisch, TRE 33 (2002), 234, 28–31. 200 Gleich eingangs seiner Abhandlung stellte Gottsched: Hamartigenia, 714 (§. I, Anm. b) den Anschluß an §§. 5. 6 des Vorberichts der Deutschen Logik her. 201 Wolff: Vernünftige Gedanken von den Kräften, 115. 202 Zur mathematischen Methode vgl. orientierend G. E. Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland: Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühauf klärung, Tübingen 1983, 556–565; C. Buschmann: Methode und Darstellungsform bei Christian Wolff, in: Die Philosophie und die Belles-Lettres/ hrsg. von M. Fontius; W. Schneiders, Berlin 1997, 41–52; H. W. Arndt: Methodo scientifica pertractatum: mos geometricus und Kalkülbegriff in der philosophischen Theoriebildung des 17. und 18. Jahrhunderts, Berlin; New York 1971.

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Leibniz »in der Lehre der evangelischen Theologie befestiget« wurde, wobei gerade der ausgesprochen theoretische Charakter der Problemlösung 203 von besonderer zeitspezifischer Anziehungskraft war. Im Fahrwasser des intellektualistisch-optimistischen Denkens, wie es von Wolff und Gottsched vertreten wurde, folgte naturgemäß eine Abwertung des empirisch-sensualistischen Erkenntnismomentes, das als undeutlich und damit zweitrangig angesehen wurde – mit Folgen auch für die literaturtheoretischen (poetologischen) und homiletischen Konzeptionen.204 Mit der Wolffschen Ethik konkurrierende Entwürfe einer gleichfalls der Auf klärung verpfl ichteten philosophischen Ethik, die bei der Beantwortung der Frage nach dem Bösen bzw. nach dem Tun des Guten Raum für theologische Konzeptionen boten (etwa durch Christian Thomasius),205 waren als Alternativmodelle zwar im Gespräch und konnten auch eine kritische Gegenkultur zur Philosophie Wolffs entfalten.206 Jedoch wurde deren »anthropologischer Pessimismus«207 weithin als anachronistisch oder philosophisch inkonsequent empfunden. Auch bei Gottsched fi nden sich Spuren einer Beschäftigung mit Thomasius: Während seiner »philosophischen Odyssee«, in der ihn die durch Prudentius geweckten »Scrupel« nach dem Ursprung des Bösen quälten, trieb er Studien zur thomasischen Sittenleh203 Für die mit dem Satz des zureichenden Grundes und dem Satz des Widerspruchs operierende theologisch-philosophische Apologetik der deutschen Auf klärung ist ein Problem, z. B. die Theodizeefrage, immer dann gelöst, »wenn sich die Widersprüche zwischen den einzelnen Gottesprädikationen als nur scheinbare aufgelöst haben«; Geyer: Theodizee, 234,35 f. 204 Zum Problem einer Poetologie/Ästhetik auf Basis der Wolffschen Erkenntnistheorie vgl. beispielhaft A. Wetterer: Publikumsbezug und Wahrheitsanspruch: der Widerspruch zwischen rhetorischem Ansatz und philosophischem Anspruch bei Gottsched und den Schweizern, Tübingen 1981, bes. 28–61; J. Jacob: Heilige Poesie: zu einem literarischen Modell bei Pyra, Klopstock und Wieland, Tübingen 1997, 17–54. 205 Die philosophische Voraussetzung dafür lieferte die der Wolffschen Erkenntnistheorie entgegen stehende Ansicht Thomasius’, daß »(. . .) es wohl gewiß (ist)/ daß das Liecht der Natur und das Liecht der Offenbahrung zwey gantz unterschiedene Brunn= Quellen seyn«, woraus zu schließen sei, »daß solcher gestalt die jenigen/ welche die Philosophie aus der Schrifft/ und die Theologische Sachen aus der Vernunfft hersuchen wollen/ sehr irren müssen«; Ch. Thomasius: Einleitung zur Hof-Philosophie. Vorwort von Werner Schneiders, Hildesheim u. a. 1994, 73 f. (§. 41). 206 H. M. Wolff: Die Weltanschauung der deutschen Auf klärung in geschichtlicher Entwicklung, München 1949, 27–48 (Kap. 1: Die Wiederentdeckung des servum arbitrium: Thomasius). – Zur wolff kritischen Wirkung der zu Christian August Crusius hinführenden Thomasius- und Rüdiger-Schule vgl. D. Döring: Die Philosophie, 102–122; zum philosophiegeschichtlichen Gegenüber von Wolffschem Rationalismus und Thomasischem Eklektizismus vgl. auch W. Schmidt-Biggemann: Zwischen dem Möglichen und dem Tatsächlichen: Rationalismus und Eklektizismus, die Hauptrichtungen der deutschen Auf klärungsphilosophie, in: ders.: Theodizee und Tatsachen, 7–57. 207 »Thomasius ist« – wie H. M. Wolff: Die Weltanschauung, 42 betont – »zur Einsicht in das sittliche Unvermögen des Menschen gelangt«, was bei ihm zu einer durchgeführten »Lehre von der Triebgebundenheit des Willens« führt.

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re,208 die ihn aber offenbar nicht zufrieden stellen konnten, wenn sie nicht sogar problemverschärfend wirkten. Denn der thomasischen Ethik lag die Annahme zugrunde, daß »intellektuelle Einsicht niemals moralische Besserung initiieren könnte« 209. Zwar konnte nach dessen Ansicht eine philosophische Ethik aus der »Bestie« einen »Menschen« machen, jedoch keinen »Christen«. Die Frage nach dem Ursprung des moralisch Bösen war damit wieder zurück an die Theologie verwiesen.210 Gottscheds rationalistischer, anthropologisch orientierter Lösungsversuch mußte eigentlich auf den Widerstand der Theologen stoßen. Dieser blieb auch nicht aus, brach jedoch an unerwarteter Stelle auf. Die vormittägliche Verteidigung, die nach den Statuten der Universität ohne die Unterstützung eines Respondenten gegen fünf Opponenten zu bestehen war, verlief noch weitgehend glatt. Allein der Theologe Georg Philipp Olearius211, als Professor für griechische und lateinische Sprache ein Mitglied der philosophischen Fakultät, äußerte Bedenken. Gottsched schreibt: »Dieser hatte zwar gegen die Dissertation selbst nicht viel einzuwenden; allein desto hitziger hatte ihn ein angehengtes Corollarium von der vorher bestimmten Harmonie gemachet: welches ich für eine, zur Erklärung der Vereinigung zwischen Seele und Leib, sehr bequeme, und sonst unschädliche Hypothese, ausgab. Er ereiferte sich sehr darüber, daß solche schädliche Meynungen auf die leipziger Katheder gebracht würden; und redete so ängstlich davon, als ob die ganze Kirche und Univer208 Gottsched: Vorrede [zur ersten Aufl age der Weltweisheit], GAW V/3, 204,8–10: »[. . .] in der practischen Philosophie mein Vertrauen auf die Thomasischen Schriften [gesetzt], darüber ich gröstentheils ordentliche Collegia gehöret [. . .]«; [Gottsched:] Historische Lobschrift, 85: »[. . .] die thomasische Sittenlehre und sein Recht der Natur erklären gehöret [. . .]«. 209 Zu den moralphilosophischen und anthropologischen Ansichten Thomasius’ vgl. einführend M. Pott: Auf klärung, 78–126, Zitat: 106; ders.: Thomasius’ philosophischer Glaube, in: Christian Thomasius 1655–1728, 223–247; W. Schneiders: Naturrecht und Liebesethik: zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius, Hildesheim; New York 1971, 239–262; H. M. Wolff: Die Weltanschauung, 27– 48. 210 Eine vergleichende Studie zur thomasischen und gottschedischen Ethik liegt bislang nicht vor, lediglich eine (konventionell gearbeitete) literaturwissenschaftliche Magisterarbeit von Susanne Ritter: Christian Thomasius – Johann Christoph Gottsched: Vergleich zweier moralphilosophischer Ansätze in der Frühauf klärung, Phil. Magisterarbeit (masch.) Göttingen 1987. 211 Gottsched nennt seinen Opponenten vermutlich aus Versehen Johann Philipp Olearius. Im Zusammenhang mit der Wiederbesetzung der durch den Tod von Gottfried Olearius (1672–1715) erledigten Theologieprofessur war zwar 1718 ein als »Leipziger Theologe« bezeichneter Lic. Johann Philipp Olearius im Gespräch, der jedoch nie Inhaber eines ordentlichen oder außerordentlichen Lehrstuhls wurde; vgl. O. Kirn: Die Leipziger Theologische Fakultät in fünf Jahrhunderten, Leipzig 1909, 148. Dagegen hatte Georg Philipp Olearius (1680–1741; zu ihm DBA I 916, 54–63), Sohn des Theologieprofessors Johann[es] Olearius (1639–1713), seit 1713 den Lehrstuhl für lateinische und griechische Sprache inne und war 1714 zum Licentiaten, 1724 dann zum Doktor der Theologie promoviert worden und führte mehrfach das Amt des Dekans der Philosophischen Fakultät.

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sität dabey in Gefahr wäre: so daß er auch endlich Thränen vergoß; die bey der studirenden Jugend großen Eindruck macheten. Als ich erwiederte: daß meine Corollaria mit Bewilligung des Decani der philosophischen Facultät, welches damals Hofrath Mencke war, gedrucket worden: brach er nur destomehr in Klagen aus: Das wäre eben um so vielmehr zu bedauren, daß solche schädliche Paradoxa geduldet würden, u.s.w.« 212

Die Folge dieses Eklats zeigte sich bei der zweiten Disputation am Nachmittag, nun mit Gottscheds sechs Jahre jüngerem Bruder Johann Heinrich als Respondenten: »Das Auditorium war, wegen des vormittäglichen Lärmens, überaus voll: [. . .]«.213 Mencke stellte sich vor seinen Schützling und machte mit einer beherzten Apologie des Angegriffenen und der Leibnizschen Lehre von der prästabilierten Harmonie »keinen geringen Eindruck; und zwar desto mehr, weil Hofrath Wolf nur am Ende des vorigen Jahres, bey Strafe des Stranges, aus Halle war vertrieben worden: der aber hier gleichsam öffentlich, wieder ehrlich gemachet ward«214. Damit nahm die Aufregung um Gottscheds Leipziger Magisterpromotion ihr glimpfl iches Ende, die in ihrer Art auf die wachsende Zustimmung verweist, die Wolff und seine Philosophie, v. a. unter der jungen Generation, genoß und nur schwerlich unterdrückt werden konnte.215 Die Vertreibung des Halleschen Philosophen hat212 Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 9,27–10,9 (vgl. GAW V/3, 253,27– 254,8). 213 GAW V/2, 10,18 f. (vgl. GAW V/3, 254,17 f.). 214 GAW V/2, 10,21–25 (vgl. GAW V/3, 254,18–24). 215 Eine anschauliche Momentaufnahme über die durch die Wolffsche Philosophie verursachte Gärung an den deutschen Universitäten in den 1720er Jahren bietet der Bericht einer Magisterdisputation in Jena durch Gottlieb Stolle, mitgeteilt bei M. Grunwald: Varia zur Geschichte des Cartesianismus und Spinozismus: aus der Wolfschen Briefsammlung, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 10 (1896), 379 f.: »Den 20. Januarii [1728] hielt ein hiesiger Magister, nahmens Zimmermann, welcher in D. Buddei Hause wohnet, u. die collegia biblica ietzt dirigiret, eine disputation de moralitate objectiva actionum wieder H. Wolfen. Damit nun von den hiesigen Studiosis, die Wolfens Parthey sind, nichts wieder den Magister währender disputation unternommen würde; so war der alte D. Buddeus nebst andern Professoribus, alss Popantze, gegenwärtig. Die opponenten waren 1) ein hiesiger studirender Graf von Lenar [richtig vermutlich: Lynar], welcher nach aller Möglichkeit Wolfen am besten defendirte. 2) Der Prof. Wallich [Walch], der aber sehr wenig opponirte (: Buddeus ist dieses Wallichs Schwiegervater :). 3) Der Adjunctus philosoph. Reusch. Dieser ist ein Ertz-Wolfi aner, u. die auditores freueten sich und jauchzeten mit grossem Geschrey, also er anfieng zu opponiren. Allein er kam zu sehr in affect, und konte also nicht alzugut sich halten, ausser dass er brav schimpfte. Das Auditorium war gantz voll, so, dass die Studenten auch von aussen in den Fenstern lagen. So bald der Praeses anti-Wolfianus, H. Zimmermann, was sagte, fiengen die Studenten an zu trampeln u. zu lachen, ob er sich schon noch ziemlich wohl verhielte. Wie die Dissertation zu ende war, begleiteten ein hauffen Studenten den Magister nach Hause, u. bliesen (: nach Jenaischer liederlicher Gewohnheit :) ihn aus. Den folgenden Tag war die Disputation an den Pranger geschlagen und der Praeses u. Respondens nahmens Campe, ein Berliner, darbei gemahlet nebst einer Ruthe. Also ists dem Magister Zimmermann ergangen, und die Autorität des Buddei hat nichts helfen wollen. [. . .] Die Professores Juris und alle andere hatten mit Fleiss diesen Tag die Collegia ausgesetzt, damit die Studiosi bey der dissertation seyn könten.

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te vielleicht aus dem begrenzten Blickwinkel der pietistischen Theologen in Halle ein Problem kurzfristig gelöst, jedoch als unerwünschte Nebenwirkung eine Welle öffentlicher Anteilnahme und Zustimmung freigesetzt, die in den Jahren nach 1723 erst recht die akademische Theologie in Deutschland in Unruhe und Bewegung versetzte. Im Zusammenhang mit Gottscheds Magisterpromotion scheint ein Punkt allerdings merkwürdig zu sein: So konzentrierte sich der Widerstand Olearius’ ausschließlich auf die Lehre von der prästabilierten Harmonie,216 die unter Fatalismusverdacht stehend im Verlauf der allgemeinen Kontroverse um Wolffs Philosophie tatsächlich in den Mittelpunkt der theologischen Angriffe geriet.217 Der übrige Inhalt der Dissertation erregte aber offenbar keinen Anstoß bzw. die von Gottsched vorgenommene Trennung von historischer (theologischer) und philosophischer Methode wurde von Olearius geteilt.218 Insofern illustriert Gottscheds Dissertation einerseits die Anknüpfungspunkte, die in seinem Vorgehen offenbar selbst in der älteren scholastischen-theologischen Methodenlehre begründet lagen, und andererseits die damit herausgeforderte Verselbständigung der philosophischen Me(Das haben sie ohne Zweifel Buddeo zum Possen gethan.) Viele Fremde, unter andern auch ein Graf von Reiss [Reuß] war zugegen, die Disputation mit anzuhören. Unter währendem Disputiren, da die Studenten so heftig lermeten, musste der Famulus communis nomine Pro-Rectoris silentium denen auditoribus gebiethen. Allein das Gelächter wurde nur grösser. An diesen Actum wird man in Jena gedenken, und alle Bürger reden in ihren Zünften davon [. . .].« – Zu Vertretern des Wolffi anismus an der Universität Jena (u. a. dem erwähnten Johann Peter Reusch) vgl. M. Wundt: Die Philosophie an der Universität Jena in ihrem geschichtlichen Verlaufe dargestellt, Jena 1932, 90–119. 216 Vgl. dazu das Inhaltsreferat von Gottscheds Hamartigenia bei E. Wolff: Gottscheds Stellung, Bd. 1, 130. 217 Vgl. B. Bianco: Freiheit gegen Fatalismus: zu Joachim Langes Kritik an Wolff (ital. 1986), in: Zentren der Auf klärung I, 111–155; sowie die knappe Zusammenstellung üblicher zeitgenössischer Vorwürfe seitens der Theologie gegenüber der Wolffschen Philosophie bei D. Döring: Die Philosophie, 52 f., der den Fatalismusvorwurf als den »wider Wolff gerichtete[n] Hauptvorwurf« (ebd, 53) bezeichnet. 218 Die Unterscheidung von philosophischer und theologischer Zuständigkeit war bereits im 17. Jahrhundert üblich. So rechtfertigte beispielsweise Lessings Großvater Theophil Lessing in seiner 1667 in Leipzig als Student abgehaltenen philosophischen Disputation De Religionum Tolerantia (Th. Lessing: De Religionum Tolerantia – Über die Duldung der Religionen/ hrsg. und eingeleitet von G. Gawlick; W. Milde, Göttingen 1991) sein Thema in den Eingangsthesen, um »nicht von irgendeiner Seite des verpönten Fehlers beschuldigt [zu] werden, daß wir auf fremdes Gebiet übergreifen« (ebd, 50 [These 1]). Denn: » (. . .) jemand (könnte) das gewählte Thema für die Theologie in Anspruch nehmen« (ebd. [These 2]), was von einigen Theologen auch fest behauptet würde. Lessing sicherte demgegenüber aber sein Thema für eine philosophische Bearbeitung, indem er in der 3. These erläuterte, daß von den Theologen viele Fragen behandelt würden, »die in gewisser Hinsicht auch zur Philosophie gehören« (ebd.), um daraus in der 4. These zu schlußfolgern: »Deshalb geschieht aber auch unsererseits durchaus kein Übergriff, da das gewählte Thema keine rein theologische Frage ist, [. . .] sondern eine Grenzfrage, die mit gleichem Recht zur Theologie wie zur Philosophie gezogen werden kann« (ebd.).

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thode, die sich von der Vorherrschaft der Theologie zu emanzipieren begann.219 2.2 In der »Gesellschaft der Aufklärer« Das Zusammentreffen mit Mencke war für den jungen Magister der Philosophie noch aus anderen Gründen ein Glücksfall: Es verschaffte ihm ein Bildungserlebnis ersten Ranges. Entgegen seiner oft aufflackernden Neigung zur Eitelkeit, die bemüht war, die Originalität der eigenen literarischen und wissenschaftlichen Unternehmungen hervorzuheben, gestand Gottsched seinem ehemaligen Förderer vorbehaltlos das wichtige Verdienst zu, »daß er mich zuerst, auf die alten Lehrer der freyen Künste [sc. die Griechen und Römer] gewiesen; ohne welche man niemals etwas gründliches davon [sc. in der Redekunst] lernen würde«220. Insbesondere für Gottscheds 219 Einen möglichen Ansatzpunkt hierfür bot auch die von Christian Thomasius zum Zwecke der Trennung von Philosophie und Offenbarungstheologie vorgenommene Unterscheidung von Erkentnismittel (lumen naturalis/lumen supernaturalis), Erkenntnisquelle (sinnliche Erfahrungswelt/Offenbarung) und Erkenntnisziel (diesseitige Glückseligkeit/jenseitige Glückseligkeit); vgl. K.-G. Lutterbeck: Das decorum Thomasii als Faktor sozialer Kohäsion oder: Systematische Strukturen im Denken eines Eklektikers, in: Thomasius im literarischen Feld: neue Beiträge zur Erforschung seines Werkes im historischen Kontext/ hrsg. von M. Beetz; H. Jaumann, Tübingen 2003, 82. 220 Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 24,13–15 (vgl. GAW V/3, 266,26– 28). – In einer Trauerode auf den Tod Menckes, in der Gottsched als außerordentlicher Professor der Poesie und als Senior der Deutschen Gesellschaft Menckes Verdienste um eine erneuerte deutsche Dichtkunst in den Mittelpunkt stellte, wurde von ihm ebenfalls sein Drängen auf Nachahmung der »Alten« hervorgehoben: »Philanders Vorschrifft, Kiel und Mund / That uns zuerst die Regeln kund, / Darnach wir emsig dichten sollten; / Er wieß uns auf das Alterthum, Dafern wir dermaleinst den Ruhm, / Der ewig bleibt, erwerben wollten«; J. Ch. Gottsched: Ode auf den am 1. April 1732. sel. verstorbenen Herren Hoffrath D. Johann Burchard Mencken, in: Sammlung Auserlesener Gedichte, Welche Als mehrentheils neue Proben der nach jetzigem Geschmack Erfahrner Kenner eingerichteten und rein=fl iessenden Teutschen Poesie Zum gemeinen Nutzen und Ergötzen, wie auch der Jugend zu geschickter Nachahmung vorgeleget werden. II. Theil, Nordhausen 1734, 214. – U. Schindel: Demosthenes im 18. Jahrhundert: zehn Kapitel zum Nachleben des Demosthenes in Deutschland, Frankreich, England, München 1963, 47 in Anm. 2 widerspricht der von Wechsler: Johann Christoph Gottscheds Rhetorik, 53–58 im Anschluß an die obige Aussage geäußerten These, sein Zugang zu den antiken Vorbildern sei über Mencke erfolgt. Demgegenüber behauptet Schindel: Demosthenes, 47 in Anm. 2, Gottsched sei über die Lektüre französischer Autoren auf die alten Redner geführt wurden, da »diese Vermittlung [sc. über die Franzosen] auch im Zusammenhang mit seiner ›Dichtkunst‹ für die antiken Dichter erwiesen ist«. Unerörtert bleibt sowohl bei Wechsler als auch bei Schindel die Frage, ob Mencke nicht selbst durch die Querelle des Anciens et Modernes in seinem Antikeverständnis beeinflußt wurde; vgl. für eine solche Vermutung das Vorhandensein wichtiger »Neo-Klassiker« in dessen Bibliothek (Bibliotheca Menckeniana, quae autores praecipue [. . .] complectitur ab Ottone et Jo. Burchardo Menckeniis [. . .], Leipzig 1723), wie z. B. Abbé du Bos’ Refl exion Critiques sur la Poesie & sur la Peintre. Paris 1719 (ebd, 550) oder Fénelons Aventures de Telemaque. Rotterdam 1717 (ebd, 568). Ein wenig zu mechanistisch mutet in diesem Zusammenhang die Auffassung von I. Rossmann:

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rhetorische Auffassungen war der Fingerzeig folgenreich: »Diesem Rathe war ich nun gefolget, und hatte sogleich mehr Licht von der wahren Beredsamkeit, und einen gesunden Begriff von ihren Regeln gefunden; als in zehn andern Werken der Neuern, davon damals alle Buchläden voll waren.« 221 Hier lagen demnach die Anfänge für Gottscheds Bemühungen, die Redekunst »nach Anleitung der alten Griechen und Römer« zu reformieren, eine Weichenstellung, die bald in Lehrstunden ihre Anwendung fand 222 und 1728 zu einem ersten Lehrbuch führte.223 Eine privilegierte Möglichkeit für das Studium alter und neuer Schriftsteller bot dabei der freie Zugang zu Menckes Bibliothek, von der Gottsched als deren Bibliothekar (bis 1727) ausgedehnten Gebrauch machte.224 Zugleich führte Mencke seinen Schützling bereits am 1. März 1724,225 keine 14 Tage nach der Ankunft in der Stadt an der Pleiße, in die unter seiner Leitung stehende Teutschübende poetische Gesellschaft ein, deren Mitglied Gottsched wurde. Dadurch gewann er Zutritt zu einer weiteren Spezialbibliothek, die zu dieser Zeit bereits einen Bestand von über 1000 Bänden aufGottscheds Redelehre und ihre antiken Quellen, Diss. phil. [masch.] Graz 1970, 44–50 an, die für Gottscheds Grundriß einer Redekunst (1728) aufgrund fehlender expliziter Erwähnung französischer Autoren die direkte Beschäftigung mit antiken Quellen auf Menkkes Ratschlag hin annimmt und für die späteren Jahre von einer nachgeholten Lektüre der einschlägigen Franzosen (nachgewiesen über die Vielzahl von Zitationen in Gottscheds Werken) ausgeht. 221 Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 24,15–19 (vgl. GAW V/3, 266,28– 32). 222 Beispielsweise notiert Sicul: Annalium, Bd. 4, 364 aus dem Lektionskatalog der Universität Leipzig für das Sommersemester 1727 folgende Lehrveranstaltung Gottscheds: »Den 11 [sc. August] sqq. hor. II-III LECT. sic dicta Pruten. Herrn M. Joh. Cph. Gottscheeds, B. Mar. Virg. Colleg. Oratoris perfecti & artis oratoriae succinctam ideam, ex antiquorum Rhetorum mente tradentis.« 223 J. Ch. Gottsched: Grundriß Zu einer Vernunfftmäßigen Redekunst Mehrentheils nach Anleitung der alten Griechen und Römer entworfen und zum Gebrauch seiner Zuhörer ans Licht gestellet, Hannover 1729; vgl. Gottsched-Bibliographie, GAW XII, Nr. 72. Das Buch erschien nach Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 24,30–25,1 (vgl. GAW V/3, 267,8–14) bereits zur Michaelismesse 1728. 224 Gottsched: Vorrede [zu ders.: Versuch einer critischen Dichtkunst, 1730], GAW VI/2, 399,1–8 schreibt: »(I)ch (hatte) das Glück (. . .), drey Jahre in des obgedachten Hn. Hofraths Hause zu wohnen, und zugleich Erlaubniß bekam, mir dessen treffl iche Bibliothek zu Nutze zu machen. Hier lernte ich alle alte Scribenten, alle ausländische Poeten, alle Criticos, und ihre Gegner kennen. Ich müste ein grosses Register machen, wenn ich alle die grössern und kleinern Wercke anzeigen wollte, die ich in der Zeit durchgelesen [. . .]«. Andernorts notierte er: »Und in Hofrath Menkens Bibliothek, die ich täglich unter Händen hatte [. . .]«; Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 30,26 f. – Den Buchbestand der Bibliothek, wie er Gottsched zur Verfügung stand, katalogisiert: Bibliotheca Menckeniana (1723). 225 Zu diesem Datum vgl. Reicke: Zu Joh. Christ. Gottsched’s Lehrjahren, 44 mit Anm. 80; D. Döring: Die Geschichte der Deutschen Gesellschaft in Leipzig: von der Gründung bis in die ersten Jahre des Seniorats Johann Christoph Gottscheds, Tübingen 2002, 197 mit Anm. 24.

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wies.226 Entgegen einer verbreiteten Auffassung war die Teutschübende poetische Gesellschaft zu dieser Zeit ein keineswegs müde dahindümpelnder Verein, den Gottsched in nachträglicher propagandistischer Selbststilisierung erst aus seinem Dornröschenschlaf wecken mußte.227 Daß gleichwohl Mitte der 1720er Jahre die Gesellschaft in eine Krise geriet, aus der die erneuerte Deutsche Gesellschaft hervorging, die vorbildhaft für eine Vielzahl von Tochtergesellschaften in ganz Deutschland wurde,228 unterliegt ebenso keinem Zweifel, wie die Tatsache, daß Gottsched seit 1727 zum führenden Kopf der Gesellschaft aufstieg und diese zum Werkzeug seiner sprachreformerischen (und darüber hinausgehenden) Bemühungen formte.229 Als Mitglied und im Namen der Teutschübenden verfaßte er bereits im Oktober 1724 ein Glückwunschgedicht zum 100jährigen Jubiläum des Großen Montägigen Predigerkollegiums,230 dem ältesten und berühmtesten aller Leipziger Predigerkollegien,231 in dem zum ersten Mal (wenngleich versteckt) seine orthodoxiekritischen homiletischen Auffassungen sichtbar wurden.232 Für diese ehrenvolle Aufgabe empfahl sich Gottsched bei den Teutschübenden wohl vor allem deshalb, weil er selbst bereits am 27. März

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D. Döring: Die Geschichte, 178 f.; vgl. auch Waniek: Gottsched, 25. Vgl. Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 18,25–30. 228 Zu Gottsched und der Deutschen Gesellschaft sowie ihren Tochtergründungen vgl. in aller Kürze auch R. van Dülmen: Die Gesellschaft der Auf klärer: zur bürgerlichen Emanzipation und auf klärerischen Kultur in Deutschland (1986). Durchgesehene Neuausgabe, Frankfurt am Main 1996, 48–54 (mit kleineren Fehlern; der Beginn der Reformtätigkeit Gottscheds wird z. B. auf 1731 datiert). 229 Zur Teutschübenden poetischen Gesellschaft unter Mencke bis zu ihrer Umwandlung zur Deutschen Gesellschaft (1727) vgl. D. Döring: Die Geschichte, 161–227; kürzere Orientierung bietet ders.: Johann Christoph Gottsched und die Deutsche Gesellschaft, 111–130. 230 J. Ch. Gottsched: Lehrgedicht. Die verbesserte Lehrart der Evangelischen im Predigen. Als die grössere und ältere mondtägliche Predigergesellschaft in Leipzig ihr erstes hundertjähriges Jubelfest feyerte. Im Namen der deutschübenden poetischen Gesellschaft. 1724. im October, in: ders.: Gedichte, Leipzig 1736, 588–591. 231 Zum Großen Donnerstäglichen und Montäglichen Predigerkollegium (Geschichte, Statuten, Mitglieder 1705 bzw. 1699 bis 1715) vgl. Sicul: Neo annalium, Bd. 1, 196–207; über einen Teil der in Leipzig ansässigen Sozietäten, die sich der Übung im Predigen verschrieben hatten, informiert auch überblicksartig D. Döring: Die Leipziger gelehrten Sozietäten, 20–22. – Angesichts der lange zurückreichenden, nachweisbaren Tradition praktisch-homiletischer Übungen an deutschen Universitäten ist die Ansicht von J. Wallmann: Der Pietismus, Göttingen 1990, 73 nicht zu halten, der im Zusammenhang mit der Halleschen Reform des Theologiestudiums »die Einrichtung homiletischer Übungen« als »ein Novum im akademischen Unterricht« bezeichnete; diese Fehleinschätzung begegnet bereits bei Schuler: Geschichte, Tl. 2, 91 f. im Zusammenhang mit Freylinghausen; ebenso unzutreffend behauptet Hirsch: Geschichte, Bd. 2, 167, daß Francke »in Halle homiletische und katechetische Übungen genau in dem heut noch üblichen Stile eingerichtet« habe. 232 S. u. Kap. 2, Abschn. 1. 227

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1724233 Mitglied dieser ältesten und renommiertesten aller Leipziger Predigergesellschaften geworden war.234 Seine späteren satirisch-polemischen Ausfälle gegen die hier gepflegte Praxis orthodoxer Predigtschulung entsprangen demnach eigener Anschauung. Hier setzte er auch seine bereits in Königsberg ausgeübte Predigttätigkeit fort, wie er auch andernorts in Leipziger Kirchen in der Folgezeit des öfteren predigte.235 Erst mit der Übernahme der Philosophieprofessur 1734 stellte er diese Predigttätigkeit ein.236 Nicht genau nachweisbar ist, wie lange Gottsched Mitglied dieser Predigersozietät blieb.237 233 In einer anläßlich des 100jährigen Jubiläums gedruckten Mitgliederliste mit insgesamt 501 Einträgen wird Gottscheds Mitgliedschaft unter der Nummer 494 wie folgt vermerkt: »M. Jo. Christoph Gottsched, Juditha-Borussus. r. d. Martiia. [lies: Martii a.] 1724«; Nomina sociorvm, qvi Collegio concionatorio maiori, atqve antiqviori, qvod Lipsiae, in templo academico, singvlis hebdomadibvs, convenire solet, a fvndatione eivs, A. P. C. N. MDCXXIV. facta, ad primvm sacrvm saecvlare, MDCCXXIV pvplice celebratvm [. . .], [Leipzig] [1725], Bl. B8v; das genaue Eintrittsdatum wird auch mitgeteilt bei Sicul: Annalium, Bd. 3, 386; vgl. auch D. Döring: Die Leipziger gelehrten Sozietäten, 22. 35. – E. Reichel: Gottsched, Bd. 1, 128 vermischt zwei Sozietätsmitgliedschaften Gottscheds, wenn er im unmittelbaren Anschluß an die Erwähnung der Jubelode zum 100jährigen Bestehen des Montägigen Predigerkollegiums fortfährt: »[. . .] während er im Juni, wie es scheint aus eigener Entschließung, als Mitglied der ›gelehrten Brüderschaft‹, deren hunderjährigem Jubelfest ein Gedicht widmete [. . .]«; die hier erwähnte Mitgliedschaft bezieht sich nicht auf das Predigerkollegium, sondern auf seine Mitgliedschaft in der ebenfalls 1624 gegründeten Confraternitas notariorum et literatorum, »[d]em vielleicht ersten Kollegium, dem Gottsched merkwürdigerweise beitrat«; D. Döring: Die Leipziger gelehrten Sozietäten, 34 in Anm. 84. 234 Die Mitgliedschaft mag – über das für alle seine Mitgliedschaften zu veranschlagende Bestreben hinaus, Anteil am Leipziger Sozietätswesen zu nehmen und damit Eingang in die Leipziger respublica literaria zu fi nden – unterschiedlich motiviert gewesen sein. Zum einen dürfte das spezielle Interesse an homiletischer Fortbildung eine Rolle gespielt haben, zum anderen vielleicht (auch) der Umstand, daß sein Cousin Christoph Bernhard Gottsched seit 1721 Ehrenmitglied bzw. sogenannter Pactist im Großen Donnerstäglichen Predigerkollegium war; vgl. Sicul: Annalium, Bd. 3, 388. 235 In einem Schreiben der Theologischen Fakultät Leipzig an den Kurfürsten vom 11. Juli 1737, mit dem das Untersuchungsverfahren gegen Gottsched eingeleitet wurde (s. u. Kap. 4, Abschn. 1.1.1), wird erwähnt, daß die seiner Ausführlichen Redekunst als praktisches Muster beigegebene Predigt (GAW VII/3, 72–93) von Gottsched 1729 in der Neukirche (ab 1879 Matthäikirche) gehalten worden war; SHStAD, Oberkonsistorium: Loc. 10 752: Acta Wolff Balthasar von Steinwehr zu Leipzig betr., Bl. 12r. Zur Neukirche zu Gott scheds Zeiten vgl. G. Stiller: Johann Sebastian Bach und das Leipziger gottesdienstliche Leben seiner Zeit, Berlin/DDR 1970, 31; Unsere Matthäikirche in vier Jahrhunderten 1494–1894: ein Denk- und Jubelbüchlein zur Feier ihres vierhundertjährigen Jubiläums, Leipzig 1894; ebd, 19 mit einer Abb. des äußeren Erscheinungsbildes der Kirche zur Zeit Gottscheds. 236 Danzel: Gottsched, 22 in Anm. *. 237 Da die Archivbestände des an der Paulinerkirche beheimateten Predigerkollegiums bis auf kleine Restbestände für das 17. und 18. Jahrhundert verlorengegangen bzw. zerstört sind, ist ein Austrittstermin nicht zu ermitteln. Gleichwohl ist davon auszugehen, daß – gemäß den Statuten – Gottscheds Mitgliedschaft (sofern er nicht vorher selbst austrat) mit seiner Heirat 1735 endete und danach als Ehrenmitgliedschaft fortgeführt wurde. Dies

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Gelegenheit zur Propagierung und Anwendung reformrhetorischer und -homiletischer Vorstellungen bot gegenüber dem Montägigen Predigerkollegium, das der orthodox-barocken Predigttradition verpfl ichtet war, die 1673 gegründete Teutsche Rednergesellschaft,238 deren Mitglied Gottsched – ebenfalls durch Fürsprache Menckes – noch während seines ersten Leipziger Jahres wurde.239 1730 rückte er gar zum Vorsteher dieser Rednergesellschaft auf. In ihrer Mitgliedsliste standen zu Beginn der 1720er Jahre mehr als 200 Namen, darunter so bekannte wie Christian Thomasius, August Hermann Francke, Johann Burchard Mencke und Erdmann Neumeister. Zur Zeit Gottscheds gehörten der Gesellschaft u. a. der Kampfgenosse Gottscheds und Aktivposten der Deutschen Gesellschaft, Johann Friedrich May (1697– 1762),240 der Literarhistoriker der Streitigkeiten um die Wolffsche Philosophie und Bearbeiter des Zedlerschen Universal-Lexikons (ab Band 19), Carl Günther Ludovici (1707–1778),241 sowie der spätere Auf klärungstheologe und um die Hermeneutik des Neuen Testaments verdiente Johann August Ernesti (1707–1781) 242 an. Die praktische Möglichkeit zur Vervollkommnung rhetorischer Fertigkeiten, wie sie sich in Königsberg nicht geboten hatte, wurde von Gottsched rückblickend hervorgehoben: »Die sämmtlichen Mitglieder geben dem Redner, allemal ihre Erinnerungen [d. i. kritische Einwände zu gehaltenen Reden; A. S.]: Und ich kan sagen, daß ich läßt sich aus dem (ebenfalls gemäß der Sozietätsbestimmungen) abgehaltenen Totengedächtnis schließen, das anläßlich von Gottscheds Tod durch ein aktives Mitglied der Gesellschaft geleistet wurde: Ch. H. Ficker: Dem ruhmvollen Andenken des weiland Magnifici, Hochedelgebohrnen, Vest und Hochgelahrten Herrn, Herrn Johann Christoph Gottsched, [. . .] welcher am 12. Decembr. 1766. dieses Zeitliche mit dem Ewigen verwechselte, als ihrem Verdienstvollen Ehrenmitgliede gewidmet von der Montägigen ältesten großen Predigergesellschaft in Leipzig, durch M. Christian Heinrich Ficker, der Gesellschaft Mitglied, Leipzig, gedruckt bey Friedrich Gotthold Jacobäern [2 Bl.]; Exemplar UAL, Theol. Fak., Prediger-Collegium Nr. 3, Bl. 29r-30 v; nicht in der Gottsched-Bibliographie. 238 Gottsched nannte sie stets Vertraute Rednergesellschaft, möglicherweise eine Verwechslung mit der 1723 gegründeten »Vertrauten Redner-Gesellschaft« des ihm persönlich bekannten und literarisch befehdeten Johann Andreas Fabricius; zu ihm vgl. F. Marwinski: Johann Andreas Fabricius und die Jenaer gelehrten Gesellschaften des 18. Jahrhunderts, Jena 1989, 19. Die Teutsche Rednergesellschaft (Collegium Oratorium Germanicum Rivinianum) dagegen ist eine Gründung des Juristen M. Quirinius Septimus Florens Rivinus. 239 Vgl. zu Gottscheds Mitgliedschaft D. Döring: Die Leipziger gelehrten Sozietäten, 24. 36; Waniek: Gottsched, 24. 97. 240 Zu ihm vgl. D. Döring: Die Geschichte der Deutschen Gesellschaft, passim. – Eine Mitgliedschaft im Großen Montägigen Predigerkollegium ist übrigens auch für May belegt, und zwar mit Eintrittsdatum 20. September 1723, ein halbes Jahr vor Gottscheds Eintritt; Sicul: Annalium, Bd. 3, 385. 241 P. Koch: Ludovici, Karl Günther, NDB 15 (1987), 305 f. 242 Zu Ernesti siehe RGG 4 2 (1999), 1461 f. (F.-Ch. Ilgner); F.-Ch. Ilgner: Die neutestamentliche Auslegungslehre des Johann August Ernesti (1707–1781): ein Beitrag zur Erforschung der Auf klärungshermeneutik, Diss. theol. (masch.) Leipzig 2002.

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diese Gelegenheit mich zu üben, begierig ergriffen, sobald ich nach Leipzig gekommen, auch mit grossem Vortheile getrieben habe; weil es mir in meinen vormaligen academischen Jahren in Königsberg daran gefehlet hat.« 243 Licht auf Gottscheds Wirken in der Gesellschaft werfen die verschiedentlich erhalten gebliebenen Reden.244 Neben einer 1728 gehaltenen Abschiedsrede,245 die Einblick in dessen praxisorientierte, sprachreformerische Bestrebungen gibt, und einer von zwei gegen orthodoxe Predigttheorie und -praxis gerichteten Reden,246 deren nachträglicher Abdruck 1737 zum Konfl ikt mit dem Dresdner Oberkonsistorium führte,247 zeigen weitere, von ihm in diesem Rahmen gehaltene Reden, daß der sprachreformerische Aspekt nur das kommunikative Medium bzw. die Plattform für weitaus umfassendere bildungs- und wissenschaftsreformerische Anliegen im Geist der LeibnizWolffschen Philosophie war.248 Das interdisziplinäre Profi l der Rednergesellschaft oszillierte dabei zwischen den zwei Brennpunkten Rhetorik und Philosophie oder mit anderen Worten: um den Zusammenhang von Sprache und Denken.249 Die durch Leibniz für die deutsche Auf klärung lange 243

Gottsched: Ausführliche Redekunst, GAW VII/3, 230. Vgl. Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 23,21–28 (in Verbindung mit dem Herausgeberkommentar); Gottsched: Ausführliche Redekunst, GAW VII/3, 230; die hier genannten Reden sind fast vollständig in GAW IX/2 abgedruckt. Angesichts dieses Überlieferungsbestandes ist die Bemerkung von D. Döring: Die Leipziger gelehrten Sozietäten, 36, daß »(ü)ber sein weiteres dortiges Wirken [. . .] nichts bekannt« sei, ein wenig zu pessimistisch. 245 J. Ch. Gottsched: Akademische Rede, Zum Abschiede aus der vertrauten Rednergesellschaft zu Leipzig im Jahr 1728 den 20. Aug. gehalten, GAW IX/2, 519–533. – Gottsched trat 1728 aus ungeklärten Gründen aus, 1729 jedoch bereits wieder ein; D. Döring: Die Leipziger gelehrten Sozietäten, 36; Waniek: Gottsched, 97 nennt irrtümlich 1730 als Jahr des Wiedereintritts; vgl. dazu auch Sicul: Annalium, Bd. 4, 790. 955. 246 Seine Rede wieder die sogenannte Homiletik (GAW VII/3, 131–138) wurde Gottscheds eigenen Angaben zufolge zwischen 1724 und 1729 (vgl. GAW VII/3, 230 [Variantenverzeichnis zu 267,27–268,23]) »in der Vertrauten RednerGesellschaft abgelesen«; Verhörprotokoll, zit. nach D. Döring: Die Philosophie, 151. Gottsched behauptete dies auch für seine Rede wieder die homiletischen Methodenkünstler (GAW VII/3, 122–131). Es gibt Anlaß, die Richtigkeit dieser Aussage anzuzweifeln und stattdessen seine eigene, 1727 gegründete Nachmittägliche Rednergesellschaft als Vortragsort anzunehmen; vgl. dazu unten Kap. 2, Abschn. 1.4. 247 Ausführlich dazu unten Kap. 4, Abschn. 1.1.1. 248 Besonders sind hier zu erwähnen drei Reden von J. Ch. Gottsched: Zur Vertheidigung Gottes und des menschlichen Geschlechts, im 1730sten Jahre in der vertrauten Rednergesellschaft zu Leipzig gehalten: I. Rede, Von den Vorzügen und Vollkommenheiten des Menschen, und der daher entstehenden menschlichen Glückseligkeit, GAW IX/2, 414–426; ders.: 2te Rede, ebd, 427–439; ders.: 3te Rede, Zur Vertheidigung Gottes und des menschlichen Geschlechts; daß selbiges nicht so lasterhaft sey als man glaubet, ebd, 440–455. – Die Reden wurden zuerst abgedruckt in den Zusätzen zum 4. Band (1744) von Gottscheds Übersetzung des Bayleschen Wörterbuchs; ein Wiederabdruck erfolgte 1749 in den Gesammleten Reden (= GAW IX/1–2). 249 Dieser Zusammenhang wird besonders anschaulich bei J. Ch. Gottsched: Bewill244

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Zeit prägende Auffassung 250 setzte in dieser Kombination reformerisches Potential über enges Spartendenken hinaus frei und kennzeichnete dann auch die von Gottsched selbst ins Leben gerufenen Rednergesellschaften: die 1727/28251 gegründete Nachmittägliche und die wegen des großen Zudranges von Studenten als Parallelveranstaltung 1735 eingerichtete Vormittägige Rednergesellschaft. In Gottscheds Perspektive erschien die Teutsche Rednergesellschaft als eine »Gesellschaft der Auf klärer« (Richard van Dülmen), deren Mitglieder er bereits sehr früh für ein Toleranzideal begeistern wollte, das unerwartete Verbindungslinien zu seinem großen literarischen Gegner aus späterer Zeit, Lessing, aufscheinen läßt.252 Fortsetzung fand die propagandistische Verbinkommnungsrede eines neuen Mitglieds in der vertrauten Rednergesellschaft, GAW IX/2, 501–508. 250 Leibniz interessierte sich, wie G. Ueding; B. Steinbrink: Grundriß der Rhetorik: Geschichte, Technik, Methode. 3., überarbeitete und erweiterte Aufl, Stuttgart; Weimar 1994, 102 darlegen, für die deutsche Sprache nicht nur aus kommunikativen, sondern auch aus philosophischen Gründen. Denn: »›Die Worte dienen, 1.) um unsere Gedanken verständlich zu machen, 2.) um dies auf leichte Weise zu tun, und 3.) um einen Zugang zur Erkenntnis der Dinge freizulegen.‹ Alle drei Funktionen aber sind im Auf klärungsprozeß untrennbar miteinander verbunden. Wer nicht die Sprache beherrscht (die richtigen Worte fi ndet), kann weder seine Ideen ausdrücken noch gar die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung seiner Ideen, mit dem, ›was wirklich ist‹, feststellen, also auch zu keinen Erkenntnissen über die Wirklichkeit kommen, und er kann schließlich ›die anderen über die Erkenntnisse, die er haben mag, nicht auf klären‹.« Daher geht es Leibniz »hauptsächlich um diese auf klärende Wirkung der Sprache« (ebd.). – Vgl. zum Zusammenhang von aufgeklärter Philosophie und Rhetorik unter den rhetorischen Stichworten der Klarheit (perspicuitas) und rationalen Überzeugung (persuasio) auch unten Kap. 2, Abschn. 1.2 bei Anm. 81. 251 Zur Frage nach dem Gründungsjahr s. u. Kap. 3, Abschn. 2; zu Gottscheds eigenen Rednergesellschaften vgl. vorerst Grosser: Gottscheds Redeschule, 91–114. 252 Von einiger Brisanz ist Gottscheds 1725, anläßlich des Thorner Blutbades vom 7. Dezember 1724, gehaltene Rede: J. Ch. Gottsched: Von dem verderblichen Religionseifer, und der heilsamen Duldung aller christl. Religionen. 1725, GAW IX/2, 456–464, deren 1736 erfolgter Abdruck in der Ausführlichen Redekunst (vgl. GAW VII/3, 230) gleichfalls das Mißfallen der kursächsischen Kirchenbehörde erregte; siehe dazu das Verhörprotokoll bei D. Döring: Die Philosophie, 151 mit Anm. 532. In der Rede (GAW IX/2, 458,1–6) hieß es u. a.: »Das meiste Blut so jemals die Erde in sich getrunken hat, ist durch die Religion vergossen worden. Ich sage noch mehr! Die Religion allein hat mehr Menschen gefressen, als das Schwert jemals ermordet hat, als das Wasser jemals ersäufet, als das Feuer jemals verzehret hat«. Und ebd, 461,33–462,11 meinte Gottsched: »Allein sage mir, du hitziger Religionseiferer, was ist Wahrheit? Und welches ist diejenige glückliche Partey, die hierinn allen übrigen den Vortheil abgewinnen kann? Sage nicht, die römischkatholische Kirche sey der Mittelpunkt der Wahrheit, und die einzige Religion, darinnen man seiner Seligkeit halber sicher seyn könne. Ich weis, du bist davon fest überredet, und die ganze Kirche, wie du sprichst, oder deutlicher zu sagen, alle deine Religionsverwandten stimmen mit dir überein. Was dünkt dich aber? Ein Türk hält sich auch für einen Muselmann, für einen Rechtgläubigen. Ein Chineser glaubt auch, daß er die älteste und beste Religion habe. Wer hat von euch dreyen recht? Wer soll Macht haben, die andern zu verfolgen?« Vgl. dazu Waniek: Gottsched, 30; Aner: Theologie der Lessingzeit, 197 (die

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dung von religionsauf klärerischem und gesellschaftspolitischem Anspruch auch in den eigenen Rednergesellschaften, aus deren Kreis eine Rede Lorenz Henning Sukes herausragte, die religiösen Aberglauben (d. h. »unaufgeklärtes«, rational unreflektiertes Christentum) 253 als Hemmnis gesellschaftlichen Fortschritts unmißverständlich kritisierte.254 Mit dieser Rede konnte Suke 1737 den unter dem Seniorat Gottscheds von der Deutschen Gesellschaft ausgelobten Preis der Beredsamkeit erringen – und das gewiß nicht allein wegen ihrer formalen Vorbildlichkeit.255 Nicht umsonst wird Gottsched noch kurz vor seinem Tod De[n] durch die gesunde Weltweisheit gestürzte[n] Aberglauben besingen.256 2.3 Aberglaubenkritik und Tugendpropaganda: »bürgerliche Volksaufklärung« in Gottscheds moralischen Wochenschriften Das für den Pietismus wie für die deutsche Auf klärung kennzeichnende Interesse an praktischer Ausrichtung der Wissenschaften (wenn auch unter verschiedenen Vorzeichen) fand bei Gottsched seine theoretische Fundierung in der Philosophie und drängte von hier aus über die inneruniversitären Grenzen hinaus in den volkspädagogischen Bereich. Bekanntermaßen war er maßgeblich daran beteiligt, die in England entstandene publizistische Gattung der moral weeklies (moralischen Wochenschriften) auf deutschem Rede sei »unausgesprochen [. . .] an die Adresse der Intoleranz innerhalb der eigenen Kirche gerichtet«); Rieck: Johann Christoph Gottsched, 56; anders die Deutung von Saine: Von der Kopernikanischen, 192: »[. . .] so ist die Rede selbst eigentlich kein Beispiel für eine ›moderne‹ Religionstoleranz, sondern Glaubenspropaganda. Eine Kritik am Verhalten oder an der Geschichte der eigenen Kirche wagte Gottsched in dieser Rede nicht.« 253 In diesem Sinne ist z. B. eine Äußerung Gottscheds über die Frömmigkeit seiner Frau zu verstehen, von der er sagt: »In der Religion, war sie ohne allen Aberglauben gottesfürchtig, und ehrete ihren Schöpfer und Erhalter aufrichtig, aber ohne Pralerey«; J. Ch. Gottsched: Leben der weil. hochedelgebohrnen, nunmehr sel. Frau, Luise Adelgunde Victoria Gottschedinn, geb. Kulmus, aus Danzig, GAW X/2, 580,14–16. 254 L. H. Suke: Daß kein Land glücklich seyn könne, darinn der Aberglaube herrschet (1737), in: Neue Proben der Beredsamkeit, 139–160. Die Rede erschien bereits 1737 zusammen mit einer anderen preisgekrönten Abhandlung im Separatdruck. – Zur politischen Dimension auf klärerischer Aberglaubenskritik vgl. auch Pott: Auf klärung und Aberglaube, 127–139. 255 Zu den seit 1728 gestellten poetischen und rhetorischen Preisaufgaben der Deutschen Gesellschaft vgl. D. Döring: Die Deutsche Gesellschaft zu Leipzig und die von ihr vergebenen Auszeichnungen für Poesie und Beredsamkeit 1728–1738: ein frühes Beispiel der Auslobung akademischer Preisfragen, in: Universitäten und Wissenschaften im mitteldeutschen Raum in der Frühen Neuzeit: Ehrenkolloquium zum 80. Geburtstag von Günter Mühlpfordt/ hrsg. von K. Blaschke; D. Döring, Leipzig 2004, 187–225. 256 J. Ch. Gottsched: Der durch die gesunde Weltweisheit gestürzte Aberglauben, bey Gelegenheit des [. . .] erneuerten, und durch ein neues Lehramt der Weltweisheit und Mathematik, ansehnlich verstärkten Gymnasiums zu Rudolstadt, besungen [. . .], Rudolstadt 1764 (Leipzig 21764); Gottsched-Bibliographie, GAW XII, Nr. 826.

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Boden heimisch zu machen.257 Entsprechende Vorgänger fand er im deutschsprachigen Raum mit den Zürchern Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger, die zwischen 1721 und 1723 die Discourse der Mahler herausgaben, bzw. dem 1724 bis 1726 in Hamburg erschienenen Der Patriot. Zusammen mit Johann Georg Hamann,258 dem Gottsched die Idee zu einen solchen Publikationsprojekt verdankte, und Johann Friedrich May brachten sie seit dem 3. Januar 1725 die in Halle (später Leipzig) verlegten Vernünftigen Tadlerinnen auf den Markt, deren Inhalt nach einem Zwist unter den Mitarbeitern seit Sommer 1725 von Gottsched allein bestritten wurde.259 Der publizistische Erfolg war ernorm; zeitweise betrug die Auflage 2000 Exemplare, deren Stücke für sechs Pfennige verkauft wurden. Das Spektrum der Themen war vielfältig.260 Fragen zur Religion standen gattungsspezifisch eher am Rande,261 Politik blieb ganz ausgespart. Trotz dieser Vorsicht führte der satirische Ton der Tadlerinnen des öfteren zu Konfl ikten mit der Leipziger Bücherkommission.262 Insgesamt vertrat die Zeitschrift einen »bürgerlichen« Weltanschauungstypus, der »durch Fortschrittsoptimismus und den Glauben an die Vervollkommnung des Menschen« 263 geprägt war. In diesem publizistischen Rahmen trug Gottsched unter dem Pseudonym »Phyllis« im 5. Stück des Jahres 1726 (8. Februar) erstmals einem 257

Vgl. zu allgemeinen Orientierung H. Brandes: Moralische Wochenschriften, LitLex 14 (1993), 127–129; noch immer grundlegend W. Martens: Die Botschaft der Tugend: die Auf klärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften, Stuttgart 1968; aus der Gottsched-Literatur zuletzt Ball: Moralische Küsse. Einen guten Überblick über die Zeitschriften Gottscheds und seines Kreises bietet zudem J. Wilke: Literarische Zeitschriften des 18. Jahrhunderts (1688–1789). Teil II: Repertorium. Stuttgart 1978, 2–34; ebd, 35–60 zu den Zeitschriften der Gegner und Kritiker Gottscheds. 258 Johann Georg Hamann (1697–1733) war ein Oheim des berühmten Königsberger Philosophen gleichen Namens; vgl. zu der von ihm ausgegangenen Anregung zu Gründung der Tadlerinnen auch Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 11,31–13,2. 259 Die Vernünftigen Tadlerinnen 1725–1726/ hrsg. von J. Ch. Gottsched: im Anhang einige Stücke aus der 2. und 3. Aufl age 1738 und 1748. Neu herausgegeben und mit einem Nachwort, einer Themenübersicht und mit einem Inhaltsverzeichnis versehen von Helga Brandes, 2 Bde., Hildesheim u. a. 1993. – Zum Zustandekommen und zur Durchführung dieses Publikationsprojekts vgl. dies.: Nachwort, in: Die Vernünftigen Tadlerinnen, Bd. 2, 1*–30*; Waniek: Gottsched, 31–40; G. Witkowski: Geschichte des literarischen Lebens in Leipzig (1909), Reprint München u. a. 1994, 240–245. 260 Vgl. die Inhaltsübersicht in: Die Vernünftigen Tadlerinnen, Bd. 2, 39*–44*. 261 Die von der Herausgeberin erarbeitete und selbstformulierte Themenübersicht bietet zum Stichwort Religion lediglich zwei Einträge: Gedanken über den Tod (Bd. 1, 13. Stück); Von dem Primat der christlichen Religion (Bd. 2, 16. Stück). 262 Vgl. G. Wustmann: Verbotene Bücher, in: ders.: Aus Leipzigs Vergangenheit: gesammelte Aufsätze, Leipzig 1885, 210–217; Witkowski: Geschichte, 242 f.; D. Döring: Johann Christoph Gottsched in Leipzig. Ausstellung in der Universitätsbibliothek Leipzig zum 300. Geburtstag von J. Chr. Gottsched, Stuttgart, Leipzig 2000, 75 mit Anm. 210 (Hinweis auf eine diesbezügliche Akte im Stadtarchiv Leipzig). 263 Brandes: Nachwort, 7*.

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breiten Publikum seine Vorstellungen einer wahren geistlichen Beredsamkeit vor.264 Häufiger und für Gottscheds Religionsverständnis aussagekräftiger begegneten religionsauf klärerische Aussagen in seiner zweiten moralischen Wochenschrift Der Biedermann (1727–1729),265 die als Lektüre einer breiten, wohl vorwiegend bürgerlichen Leserschaft eine nicht unbedeutende Rolle bei der Popularisierung der Auf klärungstheologie gespielt hat,266 auch wenn die Zeitschrift hinter dem Erfolg der Tadlerinnen zurückblieb.267 Ein durchgängiges Thema war der Kampf gegen »Aberglauben« in seinen unterschiedlichen Zusammenhängen und Ausprägungen,268 v. a. jedoch in seiner »papistischen« Gestalt.269 In Kontinuität zu den Vernünftigen Tadlerinnen propagierte Der Biedermann 264

Die Vernünftigen Tadlerinnen, Bd. 2, 33–40. – Ausführlich dazu unten Kap. 2, Abschn. 1.2. 265 J. Ch. Gottsched: Der Biedermann/ Faksimiledruck der Originalausgabe Leipzig 1727–1729 mit einem Nachwort und Erläuterungen hrsg. von W. Martens, Stuttgart 1975. – Der Biedermann erschien vom 1. Mai 1727 bis zum 4. April 1729 wöchentlich (Mittwoch) in insgesamt einhundert Blättern (= Stück), die 1728 und 1729 nochmals gesammelt in zwei Bänden herauskamen; vgl. Waniek: Gottsched, 63–67; Witkowski: Geschichte, 245–247; W. Martens: Nachwort, in: Gottsched: Der Biedermann, 13*-35*. 266 Es wäre eine reizvolle Aufgabe, Gottscheds Biedermann diesbezüglich einmal systematisch auszuwerten und nach zeitgenössischen Reflexen und Reaktionen zu suchen. Hinweise auf hier begegnende auf klärungstheologische Inhalte bieten Kuhlmann: Die theologischen Voraussetzungen, 28–38; Martens: Nachwort, 31*-35*. – Karl Aner hat in seiner von der Forschung vergessenen Studie zur Frömmigkeit des deutschen Luthertums die Frömmigkeit des Auf klärungsjahrhunderts wesentlich auf die in den moralischen Wochenschriften propagierten Anschauungen zurückgeführt; K. Aner: Das Luthervolk: ein Gang durch die Geschichte seiner Frömmigkeit, Tübingen 1917, 96–120; vgl. auch ders.: Moralische Wochenschriften des 18. J[ahrhunderts], RGG1 4 (1913), 495–497. 267 Wohl zutreffend die Einschätzung von Witkowski: Geschichte, 246: »Der ›Biedermann‹ zeigte deutlich die aufwärts strebende Entwicklung des Schriftstellers und Denkers; aber ihm war gerade dadurch der äußere Erfolg der ›Tadlerinnen‹ versagt.« 268 Vgl. beispielsweise Gottsched: Der Biedermann, 61. Blatt (5. Juli 1728); 62. Blatt (12. Juli 1728); 71. Blatt (13. September 1728); 77. Blatt (25. Oktober 1728); 96. Blatt (7. März 1729). Im 71. Blatt bekämpft Gottsched (an Bayles Kometenschrift anknüpfend und zugleich abschwächend) etwa den Aberglauben als nicht weniger verwerfl ich denn den Atheismus; vgl. zu dieser Problemkonstellation Pott: Auf klärung und Aberglaube, 153– 191. Das 96. Blatt bestreitet die Existenz des Satans und befi ndet sich damit auf einer Linie mit dem zwischen 1732 und 1734 in Gottscheds Societas conferentium (Gesellschaft guter Freunde) entstandenen Text von J. Ch. Gottsched: Abhandlung oder philosophisches Gespräch, über die Frage: Ob mehr als ein unendliches Wesen seyn könne?, GAW V/2, 519–536. 269 Vgl. dazu Kuhlmann: Die theologischen Voraussetzungen, 34 mit den entsprechenden Nachweisen. – Mit der Identifi kation von römisch-katholischer Konfession als »Aberglauben« wandelte Gottsched in Bahnen orthodoxer Konfessionspolemik. Vgl. dazu beispielsweise die Rezension der Predigt eines Salzburgischen Erzbischofs in den orthodoxen UN 1736, 441, wo es angesichts von Meßopfergedanken und Rosenkranz heißt: »Aber in dem dritten Theil [sc. der Predigt] bricht der Aberglauben und blinde Eyfer hefftig herfür.«

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ein moralisch verstandenes Christentum, das »zur Ausbreitung der Vernunft und Tugend das meiste beytragen« 270 sollte. Dies erfolgte aber nicht mehr vordergründig in der Kritik einzelner Laster und Unsitten, sondern auf viel grundsätzlichere Weise.271 Der Leser sollte dadurch als Mensch in seinem Selbstdenken und seiner Selbstverantwortlichkeit gestärkt werden, um zu einem tugendhaften Leben befähigt zu werden. Ein »weiser und Christlicher Mensch« bemühte sich demnach, in seinem Wandel »nicht aus dem Gleise der Vernunfft und Christlichen Ordnung in gefährliche Abwege der Sicherheit und des Zweifels [zu] gerathen« 272 . Der Leitfaden dafür war in Gottscheds Augen eine Gottesfurcht, die »GOtt nicht als einen Tyrannen, sondern als einen geliebten Vater« verehrte.273 Versteckt unter dem Bild einer in den islamischen Kulturkreis transferierten Geschichte formulierte er damit frömmigkeitstheologische Positionen der fortgeschrittenen Auf klärungstheologie. Die Geschichte lautete folgendermaßen: Eine Frau in den Straßen von Damaskus trägt in der einen Hand Feuer, in der anderen ein Gefäß mit Wasser. Ein französischer Diplomat erhält auf seine irritierte Frage, welchem Zweck der Aufzug diene, die Auskunft: »Mit dem Feuer bin ich willens das Paradieß in Brand zu stecken, und mit dem Wasser will ich die höllischen Flammen auslöschen; damit inskünftige kein Mensch mehr aus Furcht vor der Strafe, oder aus Hoffnung der Belohnung; sondern aus reinem Hertzen und blosser Hochachtung für ein so majestätisches Wesen, GOtt dienen möge.« 274

Mit diesem Plädoyer zielte Gottsched weniger darauf, die von der Kirche gelehrte zukünftige Bestrafung der Sünder zu eliminieren,275 als vielmehr 270

Gottsched: Der Biedermann, 64. Blatt (26. Juli 1728), 56. Den Unterschied zu den Tadlerinnen faßt Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 17,33–18,1 selbst wie folgt zusammen: »Doch war freylich dieser moralische Charakter [sc. die Person des Biedermanns] viel ernsthafter und gründlicher, als der vorige: der des bisweilen lustigen und abwechselnden Inhalts wegen, mehrern jungen Leuten gefallen hatte.« 272 Beide Zitate Gottsched: Der Biedermann, 75. Blatt (11. Oktober 1728), 97. 273 Gottsched: Der Biedermann, 75. Blatt (11. Oktober 1728), 97. 274 Gottsched: Der Biedermann, 73. Blatt (27. September 1728), 89 (im Original alles Fettdruck). 275 Daher verwundert es auch nicht, wenn nach Aner: Theologie der Lessingzeit, 25 in Gottscheds eigenen Rednergesellschaften »dem Pfarrer aufgegeben wird, nicht nur Erdbeben und Blitz als göttliche Strafen darzustellen, sondern auch dem versteckten Sünder die ewigen Höllenstrafen anzudrohen«. Aner referiert hier ausführlich aus einer nicht genauer bezeichneten Rede, die in Gottscheds Nachmittägiger Rednergesellschaft gehalten wurde und 1738 zum Abdruck kam. Aufgrund meiner Exzerpte halte ich es für möglich, daß es sich dabei um die Rede von Johann Joachim Schwabe: Gott bestrafet die Uebertreter seiner Gesetze auch mit willkührlichen Strafen, in: Proben der Beredsamkeit, 312–325, handelt. Aner: Theologie der Lessingzeit, 24 f. kommentiert die Rede mit den verwunderten Worten: »Hingegen kommt uns ein weiter Abstand von der späteren Auf klärung zum Bewußtsein, wenn dem Pfarrer aufgegeben wird . . .« (Fortsetzung des Zitats wie oben). 271

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Apokatastasis-panton-Vorstellungen auszuschließen,276 wie sie zu dieser Zeit vorzugsweise in radikalpietistischen Kreise vertreten und in einer 1725 von Johann Lorenz Mosheim initiierten Kontroverse der auf klärerischen Kritik unterzogen worden waren.277 Denn Gottscheds propagandistisches Anliegen zielte darauf, ein tugendhaftes Leben um seiner selbst willen, nicht aus eudämonistischen Erwägungen heraus zu führen, Gott aus Liebe und nicht aus Furcht zu dienen.278 Freilich: Eine christozentrische Fundierung für eine derartige Explikation der evangelischen Botschaft fand sich dafür nicht. Damit schloß sich der Kreis zu dem von Gottsched in der Leipziger Habilitationsschrift Hamartigenia vorgetragenen Ermöglichungsgrund für ein solches Leben, das er – bezeichnend für sein ethisches Ideal – bei den Epikuräern prototypisch realisiert sah: 279 Der Eindruck eines vermeintlichen Abstands zur späteren Auf klärung (Aner denkt hier an Eberhard u. a.) entsteht nur deshalb, weil Aner Gottsched zum Proto-Neologen stilisiert, der Jerusalem, seinem Schüler, »vorangegangen« (ebd, 195) sei und damit an deren fortgeschrittener Auf klärungstheologie gemessen wird. Problematisch ist auch das folgende, ebd, 196 geäußerte Urteil: »Schärfere Tonart schlug ›Der Biedermann« 1727/28 [richtig: 1727–1729] an: er wandte sich [. . .] gegen ein späteres Lieblingsstück neologischer Polemik, die Lehre von der Ewigkeit der Höllenstrafen: nachdem man nun schon so viel tausend Jahre davon gepredigt und doch nichts damit ausgerichtet, so sollte man einmal anfangen, gelindere Saiten aufzuziehen und zu versuchen, ob man durch eine sanftere Vorstellung der unendlichen göttlichen Liebe, so auch die Verdammten dereinst selig machen will, vielleicht mehr ausrichten.« Womöglich ist Aner hier – fast wortwörtlich – der Fehlinterpretation von Witkowski: Geschichte, 246 aufgesessen, der die Aussageintention des Textes ins Gegenteil verkehrt. Denn Gottsched: Der Biedermann, 73. Blatt, 91 kommentierte sein Referat der »sanften« Strafgerechtigkeit der Wiederbringungsfreunde mit dem lakonischen, für seine tatsächliche Meinung entscheidenden Satz: »Das ist, meines Erachtens, eine vergebliche Hoffnung.« – Vgl. zur Bewertung von eschatologischen Stellungnahmen aus dem Umfeld der Deutschen Gesellschaft auch die Bemerkungen bei Andres Strassberger: Georg Klein-Nicolais »Ewiges Evangelium« (1700): eine Studie zur Wirkungsgeschichte der Wiederbringungslehre des Ehepaares Petersen in Deutschland, England und Nordamerika (erscheint voraussichtlich 2010). 276 Gottsched: Der Biedermann, 73. Blatt, 90 f. 277 Vgl. dazu bei Strassberger: Georg Klein-Nicolai. 278 Vorbild für diese Haltung sind nach Gottsched: Der Biedermann, 73. Blatt, 92 die Epikuräer: »Sie hielten davor, GOtt verdiene wegen seiner Fürtreffl ichkeit und Vollkommenheit alle Hochachtung; und man müsse ihn also verehren, gesetzt, daß man weder böses noch gutes von ihm zu gewarten hätte. [. . .] Ferner glaubten und erwiesen sie aufs deutlichste, daß ein Mensch, der nur die geringste Erkenntnis von der Weltweißheit hätte, gestehen müste: man müsse die Tugend um ihrer eigenen Schönheit halber lieben [. . .]. Sie bezeigten auch einen grossen Abscheu vor Leuten, die bloß aus Furcht der Strafe das Böse mieden und lehrten ausdrücklich, ein vernünfftiger Mensch und weiser Mann müsse nothwendig, aus lauterer Liebe zur Erbarkeit, und allem was wohlanständig wäre, das Gute thun.« – Für zutreffend halte ich die von Martens: Nachwort, 35*, im Anschluß an diese Passagen vorgenommene Interpretation, wonach von Gottsched die theologische durch »eine weltliche Moral« ersetzt wird. 279 Aner: Theologie der Lessingzeit, 155 notiert mit Hinweis auf Gottscheds Hamartigenia (»[. . .] suchte die Quelle des Bösen in der Schwäche des Intellekts«) ebenso zeitgebunden wie zutreffend: »Durch die Moralischen Wochenschriften war der Primat des Ethischen

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»Fragen wir indessen nach der Ursache eines sowohl eingerichteten Wandels [sc. der Epikuräer], bey so vielen Irrthümern [ergänze: die diese hatten]; so fi nden wir keine andere, als einen wahren Begriff von der Tugend, den diese Leute gehabt haben müssen. Der Wille des Menschen kan niemahls ohne den Verstand gebessert werden. Das Erkenntnis, so in diesem herrschet, ist die Quelle von allem Thun und Lassen[,] so von jenem herrühret. Denn wie man überzeuget ist, so lebt man auch; wenn nur die Uberzeugung völlig ist, und nicht in einem bloß auswendig gelerneten Glauben bestehet.« 280 »Man sieht hieraus, wie mich dünckt, gantz gründlich: Woran es eigentlich liege, wenn die meisten ihren Begierden folgen, und der Tugend nicht weiter Gehör geben [. . .]? Es liegt freylich zwar an einem bösen Willen. Allein woher kommt dieser? Ohne Zweifel von einem unwissenden und schwachen Verstande. Man ist von den Wahrheiten nicht sattsam unterrichtet und überführet, die einen Einfluß in die Handlungen haben. [. . .] Wo wird man nun in der Besserung des Menschen anfangen müssen; im Verstande oder im Willen?« 281

Natürlich lag die Antwort auf diese rhetorische Frage auf der Hand. Sie erhellte die gemeinsame Aufgabe von Religion und Poesie, die »die Medizin der [philosophischen] Auf klärung in wohlschmeckenden Dosen zu verabreichen« haben: »Religion wie Poesie werden Mittel zur moralischen Erziehung des Menschen, und Poeten sowohl als Prediger haben darin ihr gemeinsames Ziel zu sehen.« 282 Von seinen Lesern verabschiedete sich der »tugendreiche« Biedermann mit einem grundsätzlichen Bekenntnis, das die auf »Besserung« des Verstandes und des Willens ausgerichteten Bemühungen seines geistigen Vaters in einer für die Anliegen der deutschen Auf klärung kennzeichnenden Weise noch einmal wie folgt zusammenfaßte: »Mein vornehmster Zweck ist gewesen, die Unvernunft und das Laster auszurotten; hingegen Verstand und Tugend unter meinen Landsleuten zu befördern. Daher habe ich denn den Aberglauben, theils ernstlich zu bestreiten, teils lächerlich zu machen gesucht: Daher habe ich auch theils die Schädlichkeit, theils die Thorheit vieler böser Gewohnheiten, oder besondern Handlungen gewiesen.« 283

2.4 Vom Lehrer der Poesie zum Professor der Philosophie (1734) Neben diesen »volkspädagogischen« Aktivitäten stand Gottscheds Wirken in Leipzig von Beginn an unter dem besonderen Vorzeichen seiner poetischen vor dem Verstandesmäßigen dem Deutschen ins Blut gedrungen. Die Wolffi sche Philosophie freilich schien das Verhältnis umzukehren, sofern sie die Tugend nur auf der Grundlage intellektueller Rechtbeschaffenheit für möglich hielt; allein indem die Verstandeskultur zur Basis gemacht ward, empfi ng doch das Ethos zugleich den Charakter der Vollendung und Krönung des Baues.« 280 Gottsched: Der Biedermann, 73. Blatt, 92. 281 Gottsched: Der Biedermann, 73. Blatt, 92. 282 Beide Zitate D. Gutzen: Poesie der Bibel: Beobachtungen zu ihrer Entdeckung und ihrer Interpretation im 18. Jahrhundert, Diss. phil. Bonn 1972, 39. 283 Gottsched: Der Biedermann, 100. Blatt (4. April 1729), 200.

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sowie literaturtheoretischen und -praktischen Interessen. An den seit 1727 im Zusammenhang mit den Reformbestrebungen der Deutschen Gesellschaft publizierten Arbeiten war ihr Senior (bis 1738) als Herausgeber und Mitautor naturgemäß stark beteiligt. Um nur einige wenige Schriften zu nennen: 1728 erschienen die Oden der Deutschen Gesellschaft in Leipzig; 284 zwischen 1730 und 1734 wurden in drei Bänden Der Deutschen Gesellschaft in Leipzig eigene Schriften und Ubersetzungen in gebundener und ungebundener Schreibart veröffentlicht ( 21735); 285 1732 gelangten Der Deutschen Gesellschaft in Leipzig gesammlete Reden und Gedichte zum Druck; 286 im selben Jahr erschien zum ersten Mal das publizistische Periodikum der Gesellschaft, die Beyträge zur critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit (bis 1742). Auf dem Boden der langjährigen Bemühungen um eine deutsche Einheitssprache, wie sie sich die Deutsche Gesellschaft und Gottsched auf das Panier geschrieben hatten, erwuchsen später auch diejenigen Schriften, die als einzige (abgesehen von einer postumen Ausgabe seines philosophischen Lehrbuchs) den Ruhm des Verfassers über seinen 1766 erfolgten Tod hinaus verlängerten: Gottscheds Deutsche Sprachkunst.287 Sein zielgerichtetes Engagement für eine Sprachreform und die Belles lettres stand dabei auch unter einem karrierebezogenen Vorzeichen, mußte doch mittelfristig ein gesichertes finanzielles Auskommen in Leipzig gefunden werden. Denn die mit der Leipziger Habilitation erlangte Kollegiatur am Frauenkolleg (1725) verschaffte ihm zunächst die nur recht bescheidene Einnahme von jährlich 50 Talern. Seine Vorlesungs- und publizistische Tätigkeit ermutigte ihn deshalb 1727 zu dem Versuch, sich für die außerordentliche Professur für Eloquenz zu bewerben.288 Den Zuschlag für diese Pfründe erhielt jedoch ein eingesessener Konkurrent, Johann Erhard Kapp (1696–1756). Zwei Jahre später bemühte Gottsched sich um die Stelle einer außerordentlichen Poetikprofessur – und hatte damit endlich Erfolg.289 284

Vollständige Titelangaben in Gottsched-Bibliographie, GAW XII, Nr. 42. Gottsched-Bibliographie, GAW XII, Nr. 80. 132. 152. 286 Gottsched-Bibliographie, GAW XII, Nr. 94. 287 J. Ch. Gottsched: Grundlegung einer deutschen Sprachkunst, Leipzig 1748 (Gottsched-Bibliographie, GAW XII, Nr. 360; ab 41757 unter verändertem Titel; Ausgabe letzter Hand Leipzig 51762 in: GAW VIII/1–3; letzte Aufl. 61776); ders.: Kern der deutschen Sprachkunst, Leipzig 1753 (Gottsched-Bibliographie, GAW XII, Nr. 532; letzte Aufl. 8 1777). – Vgl. dazu die grundlegende Studie von E. Wolff: Über Gottscheds Stellung, 208–297; zuletzt dazu G. Lerchner: Gottscheds sprachgeschichtliche Bedeutung, in: Gottsched-Tag, 131–143. 288 Vgl. dazu D. Döring: Johann Christoph Gottsched in Leipzig, 50; zu den Regularien bei Berufungen auf Lehrstühle der Universität vgl. ebd, 40–43. 289 Vgl. zu den entsprechenden Bemühungen Gottscheds D. Döring: Johann Christoph Gottsched in Leipzig, 50; nach Gottscheds Aussage gab seine 1729 veröffentlichte Critische Dichtkunst den Ausschlag für die Gewährung des Lehrstuhls; Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 44,11 f. 285

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Gleichwohl blieb die fi nanzielle Lage für ihn unbefriedigend, zumal er seit 1729 die Danziger Arzttocher Luise Adelgunde Victorie Kulmus (1713– 1762) umwarb, mit der er seit 1731 Hochzeitspläne schmiedete. Sein 1729 (d. i. 1728) erschienener Grundriß zu einer vernünfftigen Redekunst sowie das 1730 (d. i. 1729) publizierte poetologische Hauptwerk, der Versuch einer critischen Dichtkunst vor die Deutschen,290 schienen ihn schließlich 1731 für eine Bewerbung auf die neueingerichtete Professur für deutsche Beredsamkeit, die erste ihrer Art, im benachbarten Halle zu qualifi zieren. Jedoch entschied man sich hier für den Sohn des pietistischen Merseburgischen Hofpredigers Ernst Christian Philippi, Johann Ernst (um 1700–1758),291 einen Bekannten Gottscheds, der aufgrund seines abenteuerlich-skandalösen Lebens sowie seiner nur durchschnittlichen Geisteskraft bald zur willkommenen Zielscheibe des scharfzüngigsten Satirikers der Frühauf klärung, Christian Ludwig Liscow (1701–1760), wurde.292 Unter den zum Teil kuriosen wissenschaftlichen Veröffentlichungen Philippis befi ndet sich auch ein homiletischer Traktat, der zeigt, daß Philippi teilweise unter dem Einfluß der Reformhomiletik Gottscheds und Mosheims stand.293 Es waren jedoch nicht Gottscheds Verdienste um die Belles lettres (man denke in diesem Zusammenhang auch an die Reformversuche im Bereich der deutschen Schaubühne und den dafür normativ projektierten Sterbenden Cato [1732]) 294, die den mit frühem Ruhm bedachten Wahlleipziger ein gesichertes Auskommen bescherten. Vielmehr bahnten ihm seine philosophischen Unternehmungen den Weg auf einen ordentlichen Lehrstuhl. Nach der glimpfl ich verlaufenen Habilitation vom 18. November 1724 fi ng Gottsched ab Ostern 1725 an, die Wolffsche Philosophie auf dem Leip290

Gottsched-Bibliographie, GAW XII, Nr. 75; 31742 in: GAW VI/1–4; letzte Aufl.

4

1751. 291

Vgl. B. Litzmann: Johann Ernst Philippi, ADB 26 (1888), 76–78. Zu Gottscheds Bekanntschaft mit Philippi sowie den satirischen Ausfällen Liscows gegen diesen siehe Waniek: Gottsched, 240–245; zu Philippis Hallenser Professur vgl. W. Schrader: Geschichte der Friedrichs-Universität Halle, Tl. 1, Berlin 1894, 368 f.; zu Gottscheds vergeblicher Bewerbung auf eben diese Professur vgl. E. Reichel: Gottsched, Bd. 1, 669. 293 J. E. Philippi: Kurtze Grund=Sätze einer wahren Homiletischen Beredsamkeit, genommen aus dem hohen Character eines Predigers, als eines Gesandten GOttes; Bey der, von seinem geliebten Bruder, Herrn Ernst Gottlob Philippi, S. S. Theolog. Stud. am 30sten April, 1734. zu Wittenberg erhaltenen Magister=Würde, glückwünschend überreichet von dessen treuliebenden Bruder, Merseburg [1734]. – Ein Einfluß Gottscheds ist v. a. im ersten Abschnitt (§§. 1–12) zu erwägen, wo Philippi die partielle Übereinstimmung der Regeln der geistlichen mit der weltlichen Beredsamkeit betont, ferner in der doppelten homiletischen Zielsetzung der Verstandesüberzeugung und Willensbewegung (ersteres mit einer philosophischen Logik, letzteres mit einer philosophischen Ethik zur Grundlage) sowie in der mit Gottsched übereinstimmenden Kritik am elocutio-Verfahren protestantischer Barockhomiletik. 294 Gottsched-Bibliographie, GAW XII, Nr. 92 (101757 in: GAW II, 1–191). 292

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ziger Katheder zu lehren. Dazu bediente er sich zunächst der Institutiones philosophiae Wolfianae (1725/26) 295 von Ludwig Philipp Thümmig (1697– 17289).296 Thümmig, der Christian Wolffs Schicksal teilte und mit diesem zusammen nach Marburg geflüchtet war, hatte auf Wolffs dringende Empfehlung eine Professur für Philosophie am Collegium Carolinum zu Kassel erhalten und mit seinem Lehrbuch eine übersichtliche Einleitung in die Wolffsche Philosophie vorgelegt, die sich nicht nur der nachträglichen Approbation durch den »philosophischen Meister« rühmen konnte, sondern überhaupt die erste zusammenfassende Darstellung seines Systems war.297 Gottsched selbst las danach die Wolffsche Philosophie bis 1731,298 bevor er begann, sein im Entstehen begriffenes eigenes Lehrbuch, die Ersten Gründe der gesammten Weltweisheit (1733/34), schrittweise im Unterricht vorzutragen. Unsicher ist, wie es sich mit seiner Behauptung verhält, er sei mit seinen öffentlichen Vorlesungen über Wolffs Philosophie der erste an der Leipziger Alma mater gewesen.299 Von irgendwelchen Schwierigkeiten, die der Wolffanhänger wegen dieser Lektionen bekommen hätte, hören wir vorerst nichts.300

295

Ein Reprint der Institutiones ist verfügbar in: WGW III/19.1–2. [Gottsched:] Historische Lobschrift, 85. – Zu Thümmig siehe ADB 38 (1894), 177 f. (O. Liebmann). 297 Vgl. dazu Ludovici: Ausführlicher Entwurf, Tl. 1, 139–142 (§. 148); Wundt: Die deutsche Schulphilosophie, 212–214. 298 [Gottsched:] Historische Lobschrift, 85. 299 Vgl. dazu E. Wolff: Gottscheds Stellung, Bd. 1, 131 (bezugnehmend auf eine Mitteilung Johann August Ernestis); D. Döring: Die Philosophie, 60. 77 mit Anm. 283 (bezugnehmend auf einen unveröffentlichten Brief Gottscheds an Manteuffel); möglicherweise kann Christian Gottlieb Jöcher für sich in Anspruch nehmen, der Erste gewesen zu sein, der an der Universität Vorlesungen nach Wolffs Philosophie abhielt; vgl. ebd, 59 f. Bei J. A. Ernesti: Denkmal Christian Gottlieb Jöchers, in: ders.: Denkmäler und Lobschriften auf gelehrte, Verdienstvolle Männer, seine Zeitgenossen, nebst Biographie Johann Matthias Geßners, in einer Erzählung für David Ruhnken, aus dem lateinischen übersetzt, mit eingewebten Anmerkungen, von Gottlieb Friedrich Rothe, Leipzig 1792, 102 fi ndet sich auch folgende, Jöchers Anspruch stützende Angabe: »[. . .] da aber nachher die Leibnitzischen Lehrmeynungen geprüft, vorgezogen und von Wolfen in helleres Licht gesetzt wurden, fieng er [sc. Jöcher] an, mit der alten [sc. Rüdigers] Methode so unzufrieden zu werden, daß er sich gänzlich auf Wolfs Seite schlug und der erste war, der die Wolfi sche Philosophie auf hiesiger Akademie erklärte, da er über Thümigs Auszug, Vorlesungen hielt.« 300 Vergleichbare Verhältnisse liegen für Jena vor, wo trotz Widerständen der Theologen die Wolffsche Philosophie zur selben Zeit Eingang in den Lehrbetrieb fand. So berichtet Ludovici: Ausführlicher Entwurf, Tl. 2, 545 (§. 602): »Sonst ist vom 1726. Jahre noch zu mercken, daß auf der Academie zu Jena, ohnerachtet vom Eisenachischen Hofe keine Verordnung erfolgt war, sich dennoch Hr. Johann Jacob Syrbius wieder die Wolffi sche Philosophie öffentlich aufgelehnet habe, indem er seine Einwilligung nicht darein geben wollte, daß die Herren Reusch, Köhler, Carpov etc. über die Wolffi sche Hauptwissenschafft Stunden hielten; man that es aber dessen ohngeachtet.« 296

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In der zweiten Hälfte der 1720er Jahre ergriff Gottsched mit Stellungnahmen zur Kontroverse um Leibniz’ Lehre von der prästabilierten Harmonie, die dessen originären Beitrag zum Leib-Seele-Problem darstellte, das Wort, nicht ohne seine akademische Karriere im Auge zu haben: »Um mich also zu akademischen Beförderungen vorzubereiten, machete ich auch zu denen Dissertationen Anstalt, die man hier, nach den Satzungen der philosophischen Fakultät, pro Loco in eadem obtinendo, halten muß. Nun hatte ich zwar in meiner ersten Disputation allhier, die vorherbestimmte Harmonie zwischen Leib und Seele, für eine unsträfl iche Hypothese ausgegeben, die zur Erklärung der Vereinigung dieser beyden Substanzen, ganz bequem wäre: allein im Herzen hatte ich sie niemals für eine festerwiesene Wahrheit gehalten. Ich glaubete also nicht unrecht zu thun, wenn ich meine Zweifel gegen dieselbe, nicht aus feindseligem Gemüthe gegen die leibnitz-wolfi sche Philosophie; sondern aus unpartheyischer Wahrheitsliebe öffentlich vortragen möchte.«301

In drei Dissertation, die zwischen 1727 und 1729 verteidigt und in fortlaufender Paginierung publiziert wurden,302 schwenkte Gottsched zum Influxus-physicus-Modell zurück; 303 dem hochgradig rational veranlagten Leipziger Magister fehlte für die »unverkennbar auch den Charakter einer Dichtung«304 tragende Auffassung von der prästabilierten Harmonie wohlmöglich das notwendige Sensorium. Mit diesem Schritt folgte er zwar einem Trend innerhalb der Leibniz-Wolffschen Schule,305 erregte aber nichtsdestoweniger den Ärger seines philosophischen »Großmeisters« Christian Wolff,306 der an der Leibnizschen Auffassung (zumindest äußerlich) festhielt. Unabhängig von dessen Unwillen ist mit Gottscheds Vorgehen das philosophiehistorische Problem markiert, inwiefern überhaupt von »LeibnizWolffschen« Philosophen bzw. Theologen geredet werden kann, wo doch 301

Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 20, 17–30. J. Ch. Gottsched: Vindiciarum systematis influxus physici sectio prior historica [. . .], [Leipzig 1727]; sectio posterior philosophica, caput primum anti-cartesianum [Leipzig 1728]; sectio posterior philosophica, caput secundum anti-Leibnitianum [Leipzig 1729]. Die Gottsched-Bibliographie notiert die ersten beiden Dissertationen für das Jahr 1728 unter einer Nummer (GAW XII, Nr. 40); für die dritte Dissertation bietet sie keinerlei Angaben; vgl. die widersprüchlichen Notizen im Herausgeberkommentar GAW V/4, 205 zu 20, 30. Gottsched datiert die letzte Dissertation versehentlich auf 1730 (GAW V/2, 21,6 f.). – Vgl. zu den drei Dissertationen G. V. Hartmann: Anleitung zur Historie der Leibnitzisch-Wolffi schen Philosophie, Reprint der Ausgabe Frankfurt und Leipzig 1737, Hildesheim; New York 1973 (WGW III/4), 944 f. 303 Ausführlich zu Gottscheds drei Dissertationen E. Wolff: Gottscheds Stellung, Bd. 1, 134–141. 304 D. Döring: Die Philosophie, 38. 305 Fabian: Beitrag zur Geschichte, 63–67; E. Watkins: The Development of Physical Influx in Early Eighteenth-Century Germany: Gottsched, Knutzen, and Crusius, in: Review of Metaphysics 49 (1995), 300–307; Löffler: Anthropologische Konzeptionen, 119. 133–136. 306 Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 21,20–24; Gottsched wird das Mißfallen Wolffs durch einen Dritten briefl ich zugetragen; Danzel: Gottsched, 14. 302

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die Mehrzahl der so Apostrophierten zentrale Bausteine ihrer philosophischen Mentoren fallen ließen.307 Unter zeitgenössischer Perspektive bleibt mit diesem philosophiegeschichtlichen Einwand jedoch der affi rmative Bezug einer ganzen Schulbildung auf Leibniz und Wolff unberührt. Für wie unbedeutend solche Differenzen und Abweichungen letztlich gehalten wurden, illustriert die Aussöhnung zwischen Gottsched und Wolff, die mit folgenden Worten beschrieben wird: »Doch hat sich solcher Unwillen nachmals wiederum verlohren; als er [sc. Wolff ] aus dem Erfolge, in meinen andern Schriften wohl sah: daß ich kein Feind von seiner übrigen Philosophie war, sondern dieselbe allemal auszubreiten und fortzupfl anzen suchete.« 308

Wichtiger als die zum Teil nicht unbeträchtlichen Unterschiede auch innerhalb der Leibniz-Wolffschen Schule war die parteiübergreifende, identitätsstiftende Gemeinsamkeit, grundsätzlich einer neuen Art des Denkens und Argumentierens gegenüber einem gemeinsamen Feind (»Orthodoxie«) verpfl ichtet zu sein. 2.5 Krypto-Deist und geheimer Vorläufer der Neologie? Als philosophisches Labor und als Werkstatt eines Denkens, in dem gängige Theorien unter dem Vorzeichen des Selbstdenkens und der Kritik in Frage gestellt wurden, gründete Gottsched 1731 die Societas Conferentium.309 Pate für dieses Unternehmen stand eine erstmals 1663 gegründete gleichlautende Leipziger Sozietät, zu deren prominenten Mitgliedern kurzzeitig Leibniz zählte. Gottsched bezeichnete daher dieses Institut gelegentlich auch als »die leibnitzische Societa[s] Disquirentium«310. Dieser »philosophischen Gesellschaft guter Freunde«311, die bis 1736 bestand,312 gehörten sechs weitere Mitglieder 307

Vgl. dazu D. Döring: Die Philosophie, 36–38; J. École: War Christian Wolff ein Leibnizianer?, in: Die deutsche Auf klärung im Spiegel der neueren französischen Auf klärungsforschung, Hamburg 1998, 29–46; H. Poser: »Da ich wider Vermuthen gantz natürlich auf die vorher bestimmte Harmonie des Herrn von Leibnitz geführet worden, so habe ich dieselbe beybehalten«: Christian Wolffs Rezeption der prästabilierten Harmonie, in: Leibnizbilder, 49–64. 308 Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 21,24–28. 309 Vgl. hierzu und zum folgenden Waniek: Gottsched, 250 f.; D. Döring: Die Philosophie, 67 f.; ders.: Die Leipziger gelehrten Sozietäten, 40 f. 310 J. Ch. Gottsched: Vorbericht zur 6. Aufl age der Weltweisheit. Theoretischer Teil (1755), GAW V/1, 14,7 f.; vgl. auch die Umstände der Gründung bei Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 43,10–19; sowie Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Praktischer Teil), GAW V/2, 518,1–17 (Vorbericht zur 1. Abhandlung). 311 Gottsched: Erste Gründe (Praktischer Teil), GAW V/2, 518,6 f. 312 In einer Fußnote seiner Edition von Leibniz’ Theodicee bemerkt Gottsched: Leibniz: Theodicee (1744), 12: »Im 1731. Jahre habe ich diese Gesellschaft mit einigen guten Freunden wieder zu erneuern gesucht, auch wirklich bis ins 1736. Jahr mit ihnen fortge-

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an: Johann Georg Lotter, Friedrich Wilhelm Stübner, Johann Heinrich Winkler (1703–1770) 313, sowie die Gottsched besonders nahe stehenden Johann August Ernesti, Johann Friedrich May und Wolf Balthasar Adolph von Steinwehr (1704–1771). Letzterer wurde als Redakteur der Leipziger Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen wegen des Verdachts, religionsschädigende Beiträge abgedruckt zu haben, zusammen mit Gottsched 1737 vor das Dresdner Oberkonsistorium zitiert.314 Im Schutz dieser Vereinigung las und diskutierte man nicht nur das Manuskript von Gottscheds Weltweisheit, der es erst nach dieser gemeinschaftlichen Prüfung für den Druck freigab,315 sondern ließ auch so manchen philosophischen Testballon steigen. Einige besonders brisante Beiträge wagte Gottsched erst nach der Jahrhundertmitte zu veröffentlichen.316 Doch selbst zu dieser Zeit erregte er damit noch heftigen Widerspruch.317 setztet; da sich denn dieselbe, verschiedener Ursachen halber geendiget.« Vgl. dazu auch D. Döring: Die Philosophie, 68. – Ein anderes Auflösungsjahr suggeriert Gottsched: Erste Gründe (Praktischer Teil), GAW V/2, 518,10–13: »[. . .] derselben Gesellschaft, die im 1732. 1733. und 1734sten Jahre hier unter einigen guten Freunden bestanden hat; bis sich einige Glieder derselben aus Leipzig zerstreueten«. 313 Zu Winkler, einem zeitweisen Anhänger der Philosophie Andreas Rüdigers, vgl. D. Döring: Die Philosophie, 97 f. 314 Zu den Vorwürfen gegen Steinwehr siehe D. Döring: Die Philosophie, 75; ausführlicher Kobuch: Zensur und Auf klärung, 76–81. 315 Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 43,10–19; vgl. Waniek: Gottsched, 250 f. 316 Überliefert sind fünf Abhandlungen Gottscheds, die zu einem Anhang vereinigt zuerst in der 6. Aufl age der Weltweisheit 1756 (D. Döring: Die Leipziger gelehrten Sozietäten, 41 in Anm. 116 notiert versehentlich 1762) beigegeben wurden. GAW V/2, 519–586 bietet die (veränderte) Textfassung der 7. Aufl age 1762. Die erste Abhandlung Philosophisches Gespräch über die Frage: Ob mehr als ein unendliches Wesen seyn könne? kam bereits seit der 2. Aufl age (1736 [d. i. 1735]) zum Abdruck; vgl. D. Döring: Die Leipziger gelehrten Sozietäten, 40. Die übrigen Abhandlungen sind: II. Beweis, daß diese Welt unter allen die beste sey (ab 1756 erweitert um einen polemischen Anhang gegen die von Maupertuis 1753 von der Berliner Akademie ausgeschriebene Preisfrage gegen den Leibniz-Popeschen Optimismus); III. Untersuchung der Frage: Wie sich ein Weltweiser, der von einer göttlichen Offenbarung nichts wüßte, zufrieden stellen könnte; IV. Philosophische Muthmaßungen von dem Aufenthalte der abgeschiedenen Seelen; V. Ob man die geoffenbarte Theologie in mathematischer Lehrart abhandeln könne. – Bei einem Variantenvergleich der 6. und der 7. Aufl age kommt D. Döring: Die Philosophie, 68 in Anm. 247 zu dem Ergebnis, daß mit den Änderungen von Gottsched der Versuch unternommen worden sei, »die Position der Vernunft noch wesentlich zu stärken«. Ich kann dies hier nicht weiter begründen, bin aber der Auffassung, daß die von Döring herangezogenen Stellen seine These nicht stützen. Vielmehr sind die Änderungen Ergebnis der seit 1757 heftig geführten publizistischen Kontroverse um die Beiträge des Anhangs und sind ganz überwiegend als Klarstellungen bzw. Präzisierungen seiner Position zu verstehen. In eine falsche Richtung führen daher Dörings Überlegungen, ob hinter den Änderungen entweder »eine Radikalisierung der Ansichten Gottscheds« (ebd) festzustellen ist bzw. sich erst jetzt eine schon längst vorhandene Ansicht Ausdruck verschafft, die nun keine Rücksicht mehr auf noch lebende Mitglieder der Societas nehmen müsse. 317 Ch. Ziegra: Historische Erzehlung und critische Beurtheilung durch des Hrn. Pro-

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Aber nicht nur damals, sondern auch in der Forschungsliteratur wurden bis in die jüngere Zeit hinein seine Abhandlungen mit widersprüchlichen Vorzeichen versehen. In theologiegeschichtlicher Perspektive enthielten diese Texte nach Karl Aner »die meisten und beträchtlichsten Häresien, die ihn [sc. Gottsched] als geheimen Vorläufer der Neologie erscheinen lassen«318. Dabei waren es – wie schon in der zeitgenössischen Kontroverse von 1756/57 – insbesondere die dritte und die fünfte Abhandlung, die Aner glaubte hierfür in Anspruch nehmen zu können. Bei der Untersuchung der Frage: Wie sich ein Weltweiser, der von einer göttlichen Offenbarung nichts wüste, zufrieden stellen könnte 319 nahm der Kirchenhistoriker »die deutlichste Absage an die orthodoxe Bluttheologie« wahr und formulierte als Resümee: »Überhaupt entwertet dieser Aufsatz das gesamte Offenbarungssystem.« 320 Und in der negativen Beantwortung der seit den 1730er Jahren kontroversen Frage Ob man die geoffenbarte Theologie in mathematischer Lehrart vortragen könne 321 erkannte Aner einen Beleg, daß der Leipziger Philosophieprofessor, »die Theologie sich selbst überlassend, aber zugleich auch der philosophischen Stütze beraubend, vom wolffischen Konservatismus ab[rückte]«322 . Überhaupt – so Aners Vorwurf – blieb Gottsched in seiner philosophischen Disputiergesellschaft »bei dem zahmen Wolffianismus nicht stehen«323. Diese Interpretationen fanden noch in jüngerer Zeit Rezeption nicht nur im eng-

fessor Gottscheds der sechsten Aufl age seiner Philosophie beygefügten Anhang Entstandenen Streitigkeit mit Wahrheitliebender Feder entworfen, Frankfurt und Leipzig 1757. – Der privatisierende Magister Christian Ziegra (1717–1778; vgl. zu ihm ADB 45 [1900], 192) referierte in seiner Schrift die Geschichte der um den Anhang entstandenen Streitigkeiten. Mißverständlich ist die von Ziegra: Historische Erzehlung, 5 in diesem Zusammenhang gegebene Mitteilung, daß man die zweite Abhandlung von Gottscheds Anhang (Beweis, daß diese Welt unter allen die beste sey) »(. . .) schon 13 Jahre vorher in den Belustigungen gelesen (hat)«; Ziegra bezieht sich mit diesem Hinweis auf einen Beitrag des Gottsched-Schülers Abraham Gotthelf Kästner, der gegen die damalige Kritik Ziegras an der Leibnizschen Lehre von der besten aller Welten gerichtet war und inhaltlich mit Gottscheds Abhandlung nahezu identisch ist; [A. G. Kästner:] Schreiben über die beste Welt, und die Natur der Freyheit, in: Belustigungen des Verstandes und des Witzes. Auf das Jahr 1744. Christmonat, Leipzig 1744, 524–539. – Von der Forschung ist diese interessante Kontroverse um Gottscheds Philosophie bislang kaum thematisiert worden; Erwähnungen bei Waniek: Gottsched, 251; D. Döring: Die Philosophie, 117 f. (mit der philosophiegeschichtlichen Einordnung Ziegras als Crusiusschüler und -apologet). 318 Aner: Theologie der Lessingzeit, 199; vgl. auch ders.: Kirchengeschichte, Bd. 4, 91. Aner: Theologie der Lessingzeit, 197 glaubt mit Reichel bei Gottsched »eine im Grund feindselige Stellungnahme zur Offenbarung« feststellen zu können. 319 GAW V/2, 560–568. 320 Beide Zitate Aner: Theologie der Lessingzeit, 200. 321 GAW V/2, 578–586. 322 Aner: Theologie der Lessingzeit, 197; rezipiert von Kuhlmann: Die theologischen Voraussetzungen, 58. 323 Aner: Kirchengeschichte, Bd. 4, 91.

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eren kirchengeschichtlichen Kreis,324 sondern auch in einer wichtigen philosophiegeschichtlichen Studie zur deutschen Auf klärung,325 die durch die jüngst erfolgte Übersetzung ins Englische auch außerhalb des deutschsprachigen Raumes breitere Verbreitung gefunden hat.326 Auf philosophiegeschichtlicher Seite wurde von Günther Gawlick ein etwas anders pointiertes Urteil an ebenfalls rezeptionsgeschichtlich weitreichendem Ort vorgetragen. Er vertrat in einem vielzitierten Aufsatz die These, daß Gottsched so etwas wie ein Krypto-Deist gewesen sei, der »– vermutlich in Unkenntnis seiner deistischen Gesinnung – von angesehenen Theologen wie Johann Lorenz von Mosheim und Johann Gustav Reinbeck hoch geschätzt wurde«327. Bedauerlicherweise hat die Sicht Gawlicks, die einseitig bemüht ist, eine Originalität Gottscheds über dessen unterstellten Kryptoradikalismus herauszuarbeiten, indem der Leipziger Philosoph und Publizist in den Zusammenhang der französischen Auf klärung mit ihren religionskritischen Tendenzen eingerückt wird, Eingang in die germanistische Gottsched-Forschung gefunden 328 bzw. wird auch unabhängig von ihm dort bis zuletzt formuliert und propagiert.329 324 Wohl im Anschluß an Aner zeichnet Kantzenbach: Protestantisches Christentum, 98 Gottsched als »radikale[n] Neologe[n]«; vgl. auch ebd, 95 f. 325 Bei Saine: Von der Kopernikanischen, 182 f. (vgl. auch ebd, 66 mit Anm. 23) heißt es: »Die radikalsten Ansichten mußte Gottsched freilich für sich behalten oder er durfte sie nur privat äußern, wie die unveröffentlichten Vorträge zeigen, die Karl Aner anführt. Aus Aners Darstellung geht hervor, daß Gottsched schon 1734 mit den meisten wichtigen orthodoxen Dogmen gebrochen hatte. Es ist nicht abzusehen, wie viele angehende Theologen er in seinen Seminaren und bei seinen Übungen in der Redekunst mit den neuesten Ideen infi zierte: [. . .].« 326 Th. P. Saine: The Problem of Being Modern or The German Pursuit of Enlightenment from Leibniz to the French Revolution, Detroit 1997, 163 mit Anm. 17. – Bei dieser Publikation handelt es sich um die Übersetzung der um ein Kapitel zu Lessing und die Preußische Gegenauf klärung nach dem Wöllnerischen Religionsedikt erweiterte Fassung des deutschen Textes von Saine: Von der Kopernikanischen (1987). 327 Gawlick: Johann Christoph Gottsched, 197; Gawlick kommt ebd, 191–193 auf die zwei genannten Abhandlungen zu sprechen. Vor allem in der dritten Abhandlung Untersuchung der Frage: Wie sich ein Weltweiser, der von einer göttlichen Offenbarung nichts wüste, zufrieden stellen könnte erkennt Gawlick ebd, 192 »ein offenes Bekenntnis zur natürlichen Religion und eine kaum verhüllte Absage an jede Form der Offenbarungsreligion, somit eins der frühesten authentischen Zeugnisse des Deismus in Deutschland«. 328 So z. B. bei H.-G. Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 5/2: Frühaufklärung, Tübingen 1991, 64–66. 329 Einen radikal »religionskritischen«, dem Deismus verpfl ichteten Gottsched rekonstruierte zuletzt M.-H. Quéval: Johann Christoph Gottsched und Pierre Bayle – ein philosophischer Dialog: Gottscheds Anmerkungen zu Pierre Bayles Historisch-critischem Wörterbuch, in: Diskurse der Auf klärung: Luise Adelgunde Victorie und Johann Christoph Gottsched/ hrsg. von G. Ball u. a., Wiesbaden 2006, 145–168. Ganz unhaltbar ist m. E. die ihren Ausführungen zugrundeliegende Hauptthese: ebd, 147: »Dass Gottsched selbst unter der ›Wahrheit des Glaubens‹ die natürliche, nicht die christliche Religion verstand, bleibt verborgen, verteilt auf vier schwere Folianten.«

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Mit solchen Einschätzungen des theologischen Standpunktes Gottscheds entsteht ein unzutreffendes Bild über den Mainstream der theologischen Wolff-Rezeption in Deutschland. So wird z. B. unterschätzt, daß die auf den ersten Blick nachteiligen Äußerungen Gottscheds zur Theologie von ihm nicht nur in betonter Unterscheidung von philosophischem und theologischem Zugriff auf die angesprochenen Materien zu beurteilen sind, sondern auch in den Zusammenhang einer doppelten Frontstellung gehören: Einerseits war Gottsched ohne Zweifel ein entschiedener Kritiker der Vorherrschaft orthodoxer Theologie, die für sich das Wahrheitsmonopol beanspruchte und dieses restriktiv auf den gesamten Wissenschaftsbetrieb ausdehnte. Andererseits war seine Stellung erklärtermaßen religionsapologetisch eingestellt gegenüber materialistischen, atheistischen und deistischen Tendenzen der französischen und englischen Auf klärung, wie man anhand einer Vielzahl von Äußerungen zeigen könnte.330 In dieser Bipolarität realisierte sich nun aber gerade in spezifischer Weise die von vielen protestantischen Theologen mitgetragene deutsche Auf klärung, so daß man legitimerweise nach wie vor von einer »christlichen Auf klärung« sprechen kann, die für die deutsche Situation charakteristisch war.331 Gottsched erscheint darin als ihr ganz typischer Vertreter. Überhaupt bot das Philosophiever330 Zu Gottscheds Kampf gegen »Religionsspötter« und Deismus siehe bei Saine: Von der Kopernikanischen, 191–196. Zumindest eine Ablehnung von skeptisch-materialistischen und atheistischen Tendenzen der französischen Auf klärung räumt selbst Gawlick: Johann Christoph Gottsched, 196 ein; genauere Untersuchungen zur apologetischen Strategie Gottscheds fehlen. – Einige Momente von Gottscheds Apologetik werden transparent in seiner Auseinandersetzung mit Rousseau bei K. Nowak: Der umstrittene Bürger von Genf: zur Wirkungsgeschichte Rousseaus im deutschen Protestantismus des 18. Jahrhunderts (1993), in: ders.: Kirchliche Zeitgeschichte interdisziplinär: Beiträge 1984–2001/ hrsg. von J.-Ch. Kaiser, Stuttgart 2002, 5–11. Bei seiner Übersetzung von Bayles Wörterbuch entschärfte er das kritische Potential durch einleitende Vorreden (abgedruckt in: GAW X/1, 87–156) und erläuternde Anmerkungen; vgl. die in den Grundzügen noch immer beachtenswerte Studie von Lichtenstein: Gottscheds Ausgabe; in Abhängigkeit davon I. Dingel: Zwischen Orthodoxie und Auf klärung: Pierre Bayles Historisch-Kritisches Wörterbuch im Umbruch der Epochen, ZKG 110 (1999), 231–234. Krauss: Gottsched, 67 kommentiert Gottscheds Bemühung, mit seinen Anmerkungen die religionskritische Tendenz teils abzuschwächten, teils aber auch gezielt hervorzuheben, mit der Bemerkung: »Offenbar spielte der Anwalt einer gottgefälligen Sache notwendig zugleich den Advocatus diaboli.« Saine: Von der Kopernikanischen, 182 deutet die Anmerkungen dagegen als reine Präventivmaßnahme und als Eingehen auf die damaligen »Spielregeln« (Saine), die bei der Publikation zensurverdächtiger Literatur üblich waren. Zur m. E. überzogenen Interpretation von Übersetzung und Anmerkungen als geschickte publizistische Camoufl age, bei der die entschärfenden Vorreden und Anmerkungen lediglich der persönlichen Absicherung dienten, um dem Publikum den kritischen Bayle bekannt zu machen, vgl. Gawlick: Johann Christoph Gottsched, 184–188. 331 E. Troeltsch: Auf klärung, RE3 2 (1897), 225–241; Scholder: Grundzüge, 460– 462; H. E. Bödeker: Die Religiosität der Gebildeten, in: Religionskritik und Religiosität, 145–195. – Zur Kritik an Scholders Interpretation eines »deutschen Sonderweges« der Auf klärung vgl. jedoch Nowak: Vernünftiges Christentum?, 36–40.

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ständis Wolffs im Hinblick auf die Theologie »eine gewisse Ungereimtheit in der [. . .] Behandlung der Beziehung zwischen Glauben und Vernunft« 332 , die auch bei einem ehrlich vorgetragenen Bekenntnis der christlichen Gesinnung des Philosophen heterodoxe Weiterentwicklungen möglich machte. Man muß deswegen vorsichtig sein, Wolff und seine Anhänger einer modernen »Konsequenzenmacherei« auszuliefern, die deren Selbstverständnis auf unhistorische Weise ignoriert.333 Dies vorausgesetzt, schien Gottsched – anders als viele theologische Wolffianer – die Schwachpunkte in einer Behauptung der Harmonie von Vernunft und Offenbarung früh gespürt zu haben. Im Falle der wohlmöglich an direkte Ausführungen Wolffs anknüpfenden Abhandlung 334 Ob man die geoffenbarte Theologie in mathematischer Lehrart vortragen könne bezog Gottsched mit seinem Nein insofern eine der Zeit vorauseilende Position. Denn indem er das Wolffsche Theologieverständnis konsequent zur Darstellung brachte, zeigte er den gegenteilig motivierten Versuchen aus dem Kreis der theologischen Wolffianer (Canz, Carpov) 335 ihre wissenschaftliche Grenze auf. Unter dem Gesichtspunkt dessen, was Gottsched in Abhängigkeit von Christian Wolffs Logik als Kriterien für die »mathematische Lehrart« und damit als ein »Wissen« im wissenschaftlichen Sinne defi nierte,336 erfüllte die Theologie diese keineswegs. Vielmehr – so legte er in impliziter Weise wenig später ganz offen dar337 – ergaben sich mit dem Bezug der Theologie auf die 332

Fehr: »Ein wunderlicher nexus rerum«, 138. Vgl. Fehr: »Ein wunderlicher nexus rerum«, 117–127. 334 Vgl. Fehr: »Ein wunderlicher nexus rerum«, 135–137. 335 Zu Canz (1690–1753) siehe BBKL 18 (2001), 243–256 (M. Wolfes); zu Carpov (1699–1768) siehe RGG4 2 (1999), 73 (A. Beutel). – Praktisch, d. h. in theologischer Hinsicht, bewertete Gottsched – trotz seiner Zweifel an der Demonstrierbarkeit des Glaubens – die Wolffsche Theologie Canz’ jedoch durchaus positiv; D. Döring: Der Wolffianismus, 71 in Anm. 67. 336 Gottsched: Ob man die geoffenbarte Theologie, GAW V/2, 578,24–579,7 (§. 1). – Bei Ch. Wolff: Vernünftige Gedanken von den Kräften, 200 (Kap. 7, §. 1) fi ndet sich folgende knappe Defi nition der »mathematischen Lehrart«: »Ich habe bereits in dem Vorberichte erinnert, daß ich durch die Wissenschaft eine Fertigkeit des Verstandes verstehe, alles, was man behauptet, aus unwidersprechlichen Gründen unumstößlich darzuthun. Da nun die Erklärungen, die Grund-Sätze und klare Erfahrungen unumstößliche Gründe sind; die Demonstrationen aber die Schlüsse, welche unumstößlich sind, so weit hinaus führen, bis man in dem letzten Schlusse nichts als Erklärungen, klare Erfahrungen oder Grund-Sätze zu Förder-Sätzen hat; so ist die Wissenschaft nichts anders als eine Fertigkeit zu demonstriren«. Zur erkenntnistheoretischen Differenz von »Wissen« und »Glauben« bei Wolff vgl. auch Arndt: Die Hermeneutik, 15 f. – S. a. unten in Anm. 343. 337 In der ersten Aufl age der Weltweisheit beantwortete Gottsched: Erste Gründe (Theoretischer Theil), GAW V/1, 203,30–204,7 im Anschluß an Wolff die Frage Quid sit Scientia? zunächst wie folgt: »159. §. Wer einen Satz demonstriren, oder aus unläugbaren Gründen, das ist, aus Erklärungen, Grundsätzen und klaren Erfahrungen durch eine Reihe richtiger Vernunftschlüsse erweisen kann; der hat eine Wissenschaft von demselben. Es ist also die Wissenschaft eigentlich eine Fertigkeit zu demonstriren. Insgemein brauchet man dieses Wort in gar zu weitläuftigem Verstande, wo man billig die Wörter, Erkenntniß, oder 333

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Heilige Schrift als deren Materialprinzip Spannungen, die er mit seiner Abhandlung innerhalb der philosophischen Rednergesellschaft demnach fast zeitgleich vertieft analysierte. Hier kam er zu der Einsicht: »Es bleibet also für einen Gottesgelehrten nichts mehr übrig, als daß er fremde Erfahrungen zu Gründen seiner Wissenschaft nehme. Dieses sind nun die Erscheinungen und Offenbarungen des alten Testaments, imgleichen die Geschichten des neuern, die uns von Evangelisten und Aposteln erzählet werden. [. . .] Dieses sind lauter fremde Erfahrungen, die wir nicht selbst haben konnten; und darauf wir gleichwohl die ganze Wissenschaft unserer Gottesgelahrtheit gründen und bauen müssen: weil wir ohne diese Dinge, nichts als eine natürliche Theologie haben würden.«338

Für die Theologie bedeutete dies aber: »Das heißt, die Gründe [sc. der Theologie] sind (Res facti) Geschichte und Begebenheiten; fremde Empfi ndungen und Erfahrungen, die ich denen, die mirs entweder von sich selbst, oder von andern berichten, auf ihr Wort glauben muß. Es sind Sätze, deren Wahrheit ich nicht aus eigener Deutlichkeit; nicht durch Demonstrationen, sondern aus Zeugnissen annehme. Daher ist nun alles, was daraus folget, von eben solcher Beschaffenheit; das ist, ein bloßer Glauben, und keine synthetisch erwiesene Wissenschaft. Es bleibet also dabey, daß man die geoffenbarte Theologie nicht nach der geometrischen Methode vortragen könne: [. . .] Die Herren Theologen [. . .] würden auch wohl thun, wenn sie den Inbegriff derselben nicht eine Wissenschaft, sondern bloß, wie Spener gethan, eine Glaubenslehre nenneten.« 339

Nachricht, oder Glauben, oder Meynung, brauchen sollte.« Daß die Theologie unter dieser Voraussetzung keine demonstrierbare Wissenschaft sei, ergab sich über die Darlegung dessen, was Gottsched ebd, 205,33–206,4 (unter erkenntnistheoretischen Voraussetzungen, nicht unter theologischen!) als Glauben defi nierte: »165. §. Wenn man einem Satze Beyfall giebt, der sich bloß auf die Aussage eines andern gründet: so heißt dieser Beyfall der Glauben. Es sieht aber ein jeder selbst, daß dieser Glauben eigentlich nur in Geschichten, oder in Begebenheiten statt fi ndet, wo sich keine Demonstration geben läßt. Denn da muß man es freylich auf lauter Zeugen und auf ihre Aussagen ankommen lassen.« Damit der auf historische Wahrheiten bezogene Glaube nicht in den Verdacht der Leichtgläubigkeit gerate, müsse man die Glaubwürdigkeit der Zeugen untersuchen (ebd, 206,10–35). Für die Wahrheiten, die in historischen Schriften vorgetragen würden, gelte dabei die folgende grundlegende methodische Regel, die – auf die Heilige Schrift angewandt – teilweise Prinzipien der historisch-kritischen Arbeitsweise vorformulierte: »In historischen Schriften überhaupt, muß man zuvörderst auf die Wahrheit sehen: und diese muß man nach den Regeln, von der Glaubwürdigkeit des Geschichtsschreibers, untersuchen. Ist nun an derselben nichts auszusetzen, und stimmen wohl gar verschiedene Scribenten, die einander nicht abgeschrieben, überein, so urtheile man: die Geschichte sey wahr« (ebd, 207,13–19); auf einer solchen Basis war es dann natürlich wiederum möglich, Theologie als Wissenschaft zu betreiben, ganz so wie der Historiker (einschließlich der Kirchenhistoriker) sein Fach als Wissenschaft betreiben konnte; vgl. ebd, 207,28–209,27. 338 Gottsched: Ob man die geoffenbarte Theologie, GAW V/2, 583,34–584,14 (§. 9). 339 GAW V/2, 586,1–18.

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Man muß in einer solchen Auffassung nicht zwingend einen böswilligen Fußtritt gegen das philosophische Standbein der Theologie sehen.340 Vielmehr kann Gottscheds Votum unter neuzeitlichem Blickwinkel auch als konsequente Zuspitzung der methodischen Probleme verstanden werden, wie sie sich aus einer philosophisch grundierten Prinzipienlehre im Bereich der orthodoxen Dogmatik unter geändertem philosophischen Vorzeichen ergaben. Mit gutem Recht und prognostischem Gespür341 erinnerte er die Theologie daran, wesenhaft Glaubenslehre zu sein, die nicht mit naturwissenschaftlicher Logik demonstrierbar ist. Mit seiner Sicht der Dinge knüpfte Gottsched an eine bereits von Leibniz in dessen Monadologie vorgenommene Unterscheidung von Vernunft- und Tatsachenwahrheiten an,342 die er nach dem Vorbild Wolffs für die Theologie zuspitzte.343 Ob Gottsched für seine Position darüber hinaus Anregungen aus Texten radikalpietistischer Kritiker bezog, muß im Moment offen gelassen werden.344 In späterer Zeit for340 Daß Gottsched die natürliche Theologie als Grundlage eines jeden theologischen Studiums ansah und mithin keineswegs der Theologie ihren philosophischen Unterbau auszuhöhlen gedachte, versteht sich fast von selbst. Vgl. anstatt vieler Belege nur die folgende Bemerkung bei Gottsched: Erste Gründe (Theoretischer Theil), GAW V/1, 152,33–153,4: »Zuweilen nimmt man einen Satz, ohne Beweis, als wahr an; der aber in einer andern Wissenschaft schon erwiesen worden. Z. E. In der geoffenbarten Gottesgelahrtheit setzet man mit Recht zum voraus: Daß ein Gott sey: weil solches in der natürlichen Theologie schon erwiesen worden; die von rechtswegen ihre Schüler vorher schon inne haben sollen.« 341 Das prognostische Element an Gottscheds Abhandlung wird ebenfalls hervorgehoben von E. Wolff: Gottscheds Stellung, Bd. 1, 166 f. 342 G. W. Leibniz: Vernunftprinzipien der Natur und Gnade. Monadologie, Hamburg 2 1982, 41 (§. 33). 343 Zentral hierfür ist das 7. Kapitel in Wolffs Logik, wo Wissenschaft (unumstößliche Demonstrationen) und Glauben (Zustimmung um des Zeugnisses eines anderen willen) aufgrund ihrer unterschiedlichen Erkenntnislogik differenziert behandelt werden. Dabei ist zu beachten, daß der Terminus »Glauben« hier im erkenntnistheoretischen, nicht im fideistisch-religiösen Sinn gebraucht wird; Wolff: Vernünftige Gedanken von den Kräften, 200–205. Neben verschiedenen, von Gottsched rezipierten Argumenten fi ndet sich ebd, 201 (Cap. 7, §. 4) auch die Aussage: »Daß aber etwas geschehen sey, kan nicht erwiesen werden. Und also, muß man dem Zeugnisse des andern trauen, das ist, es glauben«; für Gottscheds Argumentation siehe auch die besonders relevanten Ausführungen in ebd, §§. 7. 8. – S. a. oben in Anm. 336. 344 Möglicherweise besteht ein Zusammenhang mit der unter Gottsched gegen den Radikalpietisten Johann Konrad Dippel (1673–1734) veranstalteten Bauccalauren-Promotion, von der Gottsched: Ausführliche Redekunst, GAW VII/2, 259 in Verb. mit GAW VII/4, 122 (Kommentar) berichtet. Dippel hatte 1733, also zu einer Zeit, in der die Entstehung von Gottscheds Abhandlung zu suchen ist, einen demonstrativischen, in 80 Sätzen angetretenen Beweis des Artikels von der Rechtfertigung und des Mittleramtes Jesu Christi durch den Hofprediger des Herzogs zu Plön, Peter Hansen (1686–1760; zu ihm vgl. DBA I 471, 136–150), mit beißendem Spott überschüttet und das seiner Meinung nach völlig unsinnige Unternehmen Hansens mit folgendem erkenntnislogischen Einwand kritisiert: »Unterdessen bestehet der Grund seiner demonstrationen aus lauter geglaubten und nie erwiesenen petitionibus principii«; [ J. K. Dippel:] Etwas Neues, Oder Retirade der Lutherischen Orthodoxie in eine neue von etlichen Leibnitianischen Ingenieurs aufge-

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mulierte Gottsched mit seiner Auffassung hinsichtlich der Nicht-Demonstrierbarkeit des geoffenbarten Glaubens jedenfalls die getrennten Zuständigkeiten von Theologie und Philosophie, die der Theologie ihr Existenzrecht keineswegs grundsätzlich bestritten.345 Gleichwohl zog sich durch Gottscheds literarisches Schaffen als Auf klärer eine gewisse Doppeldeutigkeit, die im ersten Moment irritierend wirkt. Verschiedentlich hat man diese als Ausdruck der Zerrissenheit zwischen einem öffentlichen und privaten Gottsched aufgefaßt, ähnlich dem »Wolfenbütteler Fragmentisten« Hermann Samuel Reimarus. Der öffentliche Gottsched: ein in kluger Berechnung die Konfl ikte mit der herrschenden Orthodoxie vermeidender und aus taktischem Kalkül seine Rechtgläubigkeit betonender deutscher Hochschulprofessor,346 der aktive Teilnahme am worffene Schantze, Wieder Herrn Peter Hansens [. . .] achtzig erläuterte Grund=Fragen, und Herrn Friedrich Wagners [. . .] Democritum Avtocatacritum etc. Nebst angehängten Historischen Entwurff des AUTORIS von dem Beruff der Kirchen=Diener/ Und Eines Predigers Gedancken über Hrn. J. F. Starckens Predigers zu Franckfurt Streitigkeiten mit einem Handwercksmann. Gedruckt im Jahr 1733, 24. – Zu Dippel vgl. RE 3 4 (1898), 703–707 (F. Bosse); St. Goldschmidt: Johann Konrad Dippel (1673–1734): seine radikalpietistische Theologie und ihre Entstehung, Göttingen 2001 (AGP; 39). 345 Im Vorwort zur dritten Aufl age seiner Weltweisheit (1739) erklärte Gottsched (GAW V/3, 219,30–220,10) – sicher auch mit Blick auf den reichlich ein Jahr zurückliegenden Zusammenstoß mit dem Dresdner Oberkonsistorium –: »Also habe ich mich befl issen, die Vernunft in ihren Schranken zu erhalten; das ist, keine Vermischung der Natur und Offenbarung vorzunehmen, keine Geheimnisse zu erklären und philosophisch zu beweisen; oder andre solche unmögliche Dinge zu unternehmen. Es ist mir allezeit wunderlich vorgekommen, wenn man die so genannte mathematische Methode auch in historischen, grammatischen, critischen und eigentlich so genannten juristischen Dingen hat anwenden wollen. Noch seltsamer aber bedünkt es mich, wenn man sie auch in Sachen, die aus einer höhern Offenbarung herkommen, brauchen will; darauf doch die bloße Vernunft mit allem ihrem Nachsinnen niemals gekommen seyn würde, und davon sie sich folglich weder recht deutliche Begriffe machen, noch demonstrative Beweise wird aussinnen können.« 346 Vgl. z. B. seine relative Orthodoxieerklärung im Zusammenhang der Auseinandersetzungen um die 6. Aufl age seiner Weltweisheit in: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, Jg. 1756, 514 f.: »Wenn sich ferner der Hr. Verf. [. . .] für einen Freund und Verehrer der geoffenbarten Religion ausgiebt: so ist das sehr gut. Aber hätte er die gerügte, und so grämlich angeschnarchte Schrift, nur vom Anfange gelesen: so würde er gesehen haben, daß ichs nicht weniger bin, als Er. Sage ich denn darinn nicht ausdrücklich: Man giebt es gern zu, daß ein Weltweiser die göttliche Offenbarung mit Danke annehmen wird, so bald er dieselbe erkennen gelernet? Was hätte ich nun deutlichers sagen können, auch mich, als einen Verehrer der geoffenbarten Religion zu bezeugen? Wenigstens heißt das nicht ein Verächter der Religion seyn. In andern Stellen meiner Schriften, sonderlich in den Noten zu Bäylens Wörterbuche, und seinen Abhandlungen vom Cometen; imgleichen bey Leibnitzens Theodicee, habe ich solches noch viel öfter und nachdrücklicher erkläret. Es hat mich auch, seit meinem 25jährigen akademischen Lehramte, noch kein Mensch deswegen in Anspruch genommen, daß ich nicht die gehörige Hochachtung gegen die Religion hätte. Vielmehr habe ich auch in Schriften, die ohne meinen Namen erschienen [m. E. eine Anspielung auf die anonym publizierte Homiletik Gottscheds; A. S.], noch viel nachdrücklicher für die Ehre der Offenbarung geeifert, als mein Herr Gegner denket; ja die Ehre erlebet, daß auch berühmte Theologen über meine unbekannte Bücher Collegia gelesen.

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kirchlichen Leben vortäuschte.347 Anders dagegen der private Gottsched: ein radikaler Auf klärer, Deist, geheimer Vorläufer der Neologie.348 Angemessener als eine solche Diastase scheint es mir dagegen zu sein, die Unausgewogenheiten, Spannungen und Widersprüchlichkeiten im Œuvre Gottscheds als genuinen Ausdruck einer Zeit aufzufassen, in der noch neugierigtastend, aber auch emphatisch-optimistisch zugleich ein grenzenloses Vertrauen in die Fähigkeiten der menschlichen Vernunft gesetzt wurde, ohne vollständig die Konsequenzen der Gedankenexperimente vorauszuberechnen.349 Eine deistische Auflösung des Christentums entsprach deshalb zu keinem Zeitpunkt den Absichten Gottscheds, obwohl nicht ausgeschlossen werden kann, daß seine Ansichten unbeabsichtigt in diese Richtung wirkten.350 Dafür war bei ihm – wie bei den meisten deutschen Auf klärern seiner Generation – die Prägung durch die Religionsphilosophie Leibniz’ zu nachhaltig.351 Im Prinzip vertrat Gottsched in seinen bis Anfang der 1730er Jahren publizierten und unpublizierten Texten den Standpunkt eines weithin »orthoWürden sie wohl das gethan haben, wenn ich der Religion zu nahe getreten wäre? Und wie sollte mir das in den Sinn kommen, da ich mehr als zehn Jahre lang aus der Theologie mein Hauptwerk gemachet, und selbst, theils in Königsberg, theils in Leipzig, über hundertmale geprediget habe? [. . .] Wer die geoffenbarte Religion obenhin kennet, der kann noch wohl ein Naturalist werden, und die Offenbarung verachten. Wer sie aber aus dem Grund eingesehen, der kann auf diese Thorheit gar nicht verfallen.« 347 In diesem Sinne müßte man dann Gottscheds regelmäßige Teilnahme an Beichte und Abendmahl interpretieren, für die G. Stiller: Johann Sebastian Bach und Johann Christoph Gottsched – eine beachtliche Gemeinsamkeit, MuK 46 (1976), 166–172 die Belege bietet. Freilich ist es mehr als eine gewagte These, aus der bloßen Existenz eines gemeinsamen Beichtvaters und einer weithin übereinstimmenden, überwiegend zweimal jährlichen Abendmahlsfrequenz »eine ganz besonders zu beachtende Gemeinsamkeit zwischen Bach und Gottsched« (ebd, 167) zu schließen. 348 So vor allem das auf Grundlage einer solchen Annahme gelegentlich groteske Züge annehmende Gottsched-Bild Eugen Reichels; ähnlich urteilt Kemper: Deutsche Lyrik, 64, der am Beispiel Gottscheds »die durch die starke Stellung der Kirche erzwungene, aber auch herausgeforderte Kunst der Verstellung im Zeichen der Apologie« veranschaulicht. Für Aner: Theologie der Lessingzeit, 195 ist Gottsched außerdem nicht zuletzt auch »ein beträchtlicher Angsthase«, der »offi ziell von seinen Häresien nichts verlauten« ließ, eine Sicht, die von Saine: Von der Kopernikanischen, 182 u. a. rezipiert wird. 349 So Lichtenstein: Gottscheds Ausgabe, 16–18 u. ö.; rezipiert bei Kuhlmann: Die theologischen Voraussetzungen, 85 f. Vgl. auch Krauss: Gottsched, 66, der Reimarus das Prädikat »kompromißloser Verfechter der Auf klärung« verlieh, für den Leipziger Philosophieprofessor dagegen verständnisvoll urteilte: »Gottsched war mehr Stratege; er scheute keine Kompromisse, wo sie Hemmungen gegen die Annahme des neuen Weltbildes beiseite räumten.« 350 So zutreffend Gawlick: Johann Christoph Gottsched, 196, der für Gottscheds aufklärerische, publizistische Aktivitäten notiert: »Die Texte, die er übersetzt bzw. herausgegeben hatte, entfalteten ein Eigenleben losgelöst von seinen gutgemeinten Warnungen.« 351 Zu Leibniz’ Rolle für die deutsche Auf klärungstheologie vgl. die knappen, aber präzisen Ausführungen bei J. Wallmann: Kirchengeschichte Deutschlands seit der Reformation, Tübingen 52000, 150–154.

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doxen« Wolffianismus, der umfänglich und unanstößig – die breitflächige Rezeption belegt dies – in seinem philosophischen Hauptwerk, den Ersten Gründe der gesammten Weltweisheit, zur Entfaltung gebracht wurde und den Übergang zur Popularphilosophie im 18. Jahrhundert einleitete. Der dabei in der Forschung gelegentlich vorgenommene Unterscheidungsversuch von philosophischen Rechts- und Links-Wolffianern 352 scheint mir daher – zumal angesichts definitorischer Unsicherheiten – auf Gottsched selbst noch 352 Während in der Literaturgeschichte die Ausdrücke »Linkswolffi aner« und »Rechtswolffianer« Anwendung für den Zürcher bzw. Leipziger Flügel einer dem Wolffi anismus verpfl ichteten Poetik fi nden und Gottsched in dieser Perspektive als ein Vertreter der letzteren Gruppierung erscheint (vgl. C. Zelle: »Logik der Phantasie«: der Beitrag von Immanuel Jacob Pyra zur Dichtungstheorie der Frühauf klärung, in: Dichtungstheorien der deutschen Frühauf klärung/ hrsg. von Th. Verweyen in Zusammenarbeit mit H.-J. Kertscher, Tübingen 1995, 55 mit Anm. 3), ist die philosophiegeschichtliche Unterscheidung, die sich der Begriffl ichkeit der Hegelschen Schule bedient, inhaltlich bereits bei E. Zeller: Wolff ’s Vertreibung aus Halle: der Kampf des Pietismus mit der Philosophie, PrJ 10 (1862), 58 f. vorgebildet, bei dem es hieß: »Und wirklich ist auch die Wolff ’sche Philosophie in der Folge ebenso gut für als gegen den Offenbarungsglauben gebraucht worden, und neben den rationalistischen Auf klärern, die aus Wolff ’s Schule hervorgingen, steht eine lange Reihe von orthodoxen Wolffi anern, welche ihren Wolff so gut, wie die Früheren ihren Aristoteles, und Spätere ihren Hegel, zur Formulierung und Verteidigung der kirchlichen Dogmatik zu Hülfe nahmen«; der Begriff »Links-Wolffi aner« bzw. »RechtsWolffianer« begegnet danach gleichzeitig bei G. Gawlick: Christian Wolff und der Deismus, in: Christian Wolff 1679–1754, 144 und G. Mühlpfordt: Radikaler Wolffianismus: zur Differenzierung und Wirkung der Wolffschen Schule ab 1735, in: Christian Wolff 1679–1754, 251 (»Linkswolffianer« in Anführungszeichen) zur Unterscheidung radikaler von gemäßigten Wolffianern. Laut Mühlpfort, ebd, 251, »(trat) um 1735 (. . .) erstmals ein autonomer radikaler Flügel der Wolffschen Schule in Erscheinung. Seine Vertreter hielten sich methodisch und prinzipiell noch eng an Wolff, gingen aber in ihren Folgerungen über ihn hinaus, so daß sich das Gros der gemäßigten Wolffi aner von ihnen distanzierte.« Als einen solchen radikalen Wolffi aner versteht Mühlpfort etwa den Wertheimer Bibelübersetzer Johann Lorenz Schmidt. Zurecht betont Mühlpfort, daß zwischen den zwei konstruierten Grundtypen »es mancherlei Übergänge, Mischformen, eklektische und opportunistische Verflechtungen und Adaptionen« (ebd, 242) gab. Gawlick: Christian Wolff, 144 simplifi ziert zu stark, wenn er als Unterscheidungsmerkmal der zwei Gruppen heraustellt: »[. . .] die einen setzten das Wolffsche Waffenarsenal zur Verteidigung, die anderen zu Bestreitung des Christentums ein«. In der kirchenhistorischen Forschung hat diese vereinfachende Unterscheidung Anklang gefunden; Gericke: Theologie und Kirche, 83; ebenso in der germanistischen Forschung, z. B. bei Kemper: Deutsche Lyrik, Bd. 5/2, 64, der den Wertheimer Bibelübersetzer als »Theologe und Links-Wolffi aner« bezeichnet. Zum Kampf der Leipziger Auf klärer um Gottsched und Manteuffel gegen sogenannte »Linkswolffianer« vgl. jedoch D. Döring: Der Wolffianismus, 69–71; St. Lorenz: Wolffianismus und Residenz: Beiträge zur Geschichte der Alethophilen in Weißenfels, in: Gelehrte Gesellschaften im mitteldeutschen Raum (1650–1820), Teil 3/ hrsg. von D. Döring; K. Nowak, Stuttgart; Leipzig 2002, 125 f.; zum gespannten Verhältnis von Wolff zu einem »›linken Flügel‹ von Wolffi anern« vgl. auch Fehr: »Ein wunderlicher nexus rerum«, 139. – Zur Gesamtproblematik erscheint demnächst im dritten Band von Beiträgen des Arbeitskreises »Religion und Auf klärung« (voraussichtlicher Erscheinungstermin 2010) von mir ein Aufsatz u. d. T.: Johann Lorenz Schmidt und Johann Gustav Reinbeck: zum Problem des »Links-« und »Rechtswolffianismus« in der Theologie.

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nicht sinnvoll anwendbar zu sein, weil er sich offiziell nach Kräften darum bemühte, weder nach »rechts« noch nach »links« zu stark auszuschlagen. Freilich, in den unpublizierten Texten und in vertraulichen Briefen offenbarte Gottsched manches »linkswolffianische« Potential, das ihn fern anachronistischer »Konsequenzenmacherei« dennoch mit einem gewissen Recht als jenen »geheimen Vorläufer der Neologie«353 erscheinen läßt, als den in Karl Aner sah. Es mag eben doch kein Zufall gewesen sein, daß mit Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem einer seiner engsten Schüler zu einem der führenden deutschen Neologen avancierte. 2.6 Gottscheds »Erste Gründe der gesammten Weltweisheit«: der Übergang zur Popularphilosophie Gottscheds philosophisches Opus magnum, die Erste[n] Gründe der gesammten Weltweisheit354, war – wie bereits erwähnt – zu einem gewissen Teil ebenfalls ein Produkt der Societas Conferentium. Der erste Band (theoretische Weltweisheit) erschien 1733, und der zweite Band (praktische Weltweisheit) folgte im Jahr darauf.355 Das als philosophisches Lehrbuch »zum Gebrauche akademischer Lectionen« (Titelblatt) und für den gymnasialen Schulunterricht konzipierte Werk 356 ebnete – so vermutete Gottsched sicher nicht zu Unrecht – in nicht geringem Maß die so stark ersehnte, Ende 1733 erfolgte und Anfang 1734 bestätigte Berufung auf eine ordentliche Professur,357 die Gottsched als Professor für Logik und Metaphysik bis zu seinem Tod beklei353

Aner: Theologie der Lessingzeit, 199. J. Ch. Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Theoretischer und Praktischer Teil; 71762), GAW V/1. 2; vollständige Bibliographie des Titels der Erstaufl age in Gottsched-Bibliographie, GAW XII, Nr. 114 (Bd. 1). Nr. 128 (Bd. 2). – Zu Gottscheds Weltweisheit unter philosophiegeschichtlichem Gesichtspunkt siehe E. Wolff: Gottscheds Stellung, Bd. 1, 142–166; Fabian: Beitrag zur Geschichte, 63–67; Wundt: Die deutsche Schulphilosophie, 216–218; Teilaspekte von Gottscheds Philosophie interpretiert zuletzt Poser: Gottsched, 51–70. 355 Die Widmung des ersten Bandes ist auf den 1. Mai 1733 datiert, die Vorrede des zweiten Bandes auf die Ostermesse 1734. 356 Vgl. dazu Gottsched: Vorrede [zur ersten Aufl age der Weltweisheit], GAW V/3, 200,11–201,10. 357 Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 44,12–15 (vgl. GAW V/3, 285,13– 15). – Über das Jahr von Gottscheds Berufung zum Professor für Logik und Metaphysik herrscht in der Literatur gelegentlich Uneinigkeit; teils wird 1733, teils 1734 abgegeben. Gottsched wurde nach seinem eigenen Bericht »am Ende des 1733sten Jahres« vom Weißenfelsischen und Merseburgischen Hof auf die ordentliche Professur berufen; bestätigt wurde diese Berufung von kursächsischer Seite aber erst »im Jänner des 1734sten Jahres«; Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 44,15–18 (vgl. GAW V/3, 249,16–18); die Professur trat er schließlich am 18. Februar mit einer Rede De utilitate et necessitate metaphysicae (Gottsched-Bibliographie, GAW XII, Nr. 130) an; Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 44,22–29. 354

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den sollte. Bereits 1735 wurde eine zweite Auflage des Buchs notwendig; 358 sieben immer wieder überarbeitete Auflagen besorgte Gottsched insgesamt zu Lebzeiten (71762). Ein postumer Nachdruck der letzten Auflage erfolgte noch 1777359 und verlängerte die Wirkungsgeschichte des Werks bis in die Zeit von Kants epochaler Kritik der reinen Vernunft (1781).360 Übersetzungen ins Dänische, Polnische361 und möglicherweise auch Französische362 signalisierten dabei die zeitgenössische Wertschätzung des Lehrbuchs über die deutschen Sprachgrenzen hinweg. Die Bedeutung der Ersten Gründe ist dabei weniger in der Originalität der vorgetragenen Gedanken zu suchen – obwohl auch diese nicht fehlten 363 – als vielmehr darin, daß es zu den erfolgreichsten und verbreitetsten philosophischen Handbüchern des 18. Jahrhunderts überhaupt zählte.364 Da es in deutscher Sprache abgefaßt war, leistete es für die Popularisierung der Leib358 Die mit dem Druckjahr 1736 versehene zweite Aufl age (Gottsched-Bibliographie, GAW XII, Nr. 172. 173) ist nach Ausweis der Vorrede (datiert 21. September 1735; abgedruckt in: GAW V/3, 212) wohl bereits zur Michaelismesse 1735 erschienen. 359 Gottsched-Bibliographie, GAW XII, Nr. 891. 892; einen weiteren Nachdruck des ersten Bandes (Theoretische Weltweisheit) notiert die Gottsched-Bibliographie für das Jahr 1778 (ebd, Nr. 895), wohingegen der Katalog der französischen Nationalbibliothek eine zweibändige Ausgabe für 1778 nachweist; siehe Catalogue général des livres imprimés de la Bibliothèque Nationale, Tome LXII, Paris 1915, 715. 360 Auch wenn die kritische Philosophie Kants in geistesgeschichtlicher Perspektive eine folgenreiche Zäsur für die deutsche Auf klärung darstellte, so ist in philosophiegeschichtlicher Hinsicht damit der Einfluß der Wolffschen Philosophie nicht einfach gebrochen; vgl. beispielsweise für deren fortgesetzte Akzeptanz zu Beginn des 19. Jahrhunderts W. D. Fuhrmann: Handbuch der theologischen Literatur oder Anleitung zur theologischen Bücherkenntniß für Studirende, Candidaten des Predigtamts und für Stadt- und Landprediger in der protestantischen Kirche, Bd. 1, Leipzig 1818, 390 f., wo als Bücher zur Logik »[n]ach den Grundsätzen der Leibnitz-Wolfi schen Philosophie« die Vernunftlehre des Reimarus ( 51790) und Gotthold Samuel Steinbarts Gemeinnützige Anleitung des Verstandes zum regelmäßigen Selbstdenken ( 31793) sowie zwei weitere Titel empfohlen werden. 361 Gottsched-Bibliographie, GAW XII, Nr. 249 (dän. 1742); Nr. 750 (poln. 1760 [Auszug]). 362 E. Wolff: Gottscheds Stellung, Bd. 1, 163 f. berichtet mit Hinweis auf die Widmungsvorrede zur sechsten Auflage der Weltweisheit (1756) von einer französischen Übersetzung durch die Gräfi n Keyserlingk geb. von Truchseß-Waldburg; tatsächlich erwähnt J. Ch. Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit [. . .]. Sechste vermehrte und verbesserte Aufl age, Leipzig 1756, Bl. b3r in der angesprochenen Widmung eine solche – jedoch lediglich als ein Gerücht, das zu ihm gedrungen ist! 363 Fabian: Beitrag zur Geschichte, 67 kommt bei seiner Untersuchung zum Leib-Seele-Problem zu folgendem Ergebnis: »So vertritt Gottsched innerhalb der orthodoxen Leibniz-Wolffschen Schule erstmals absolut eindeutig die Ansicht, daß die gesamten psychischen Prozesse einzig und allein im Gehirn lokalisiert seien.« 364 Innerhalb der Gattung der philosophischen Einleitungen in die Leibniz-Wolffsche Philosophie wurde Gottscheds Weltweisheit an Aufl agenstärke übertroffen von dem lateinisch abgefaßten Werk des Wolff-Biographen und Görlitzer Rektor Friedrich Christian Baumeister: Philosophia defi nitiva, hoc est defi nitiones philosophicae ex systemate Wolfi i in unum collectae, Wittemberg 1735 (nicht 1733! [so ADB 2, 156]) 131767 [16]1789; WGW III/7 bietet den Text nach einem Raubdruck Wien 1775. – Zu Baumeister (1709–

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niz-Wolffschen Philosophie in Deutschland Erhebliches.365 Dies belegen eine ganze Reihe von Hinweisen. So meinte August Tholuck (obschon fälschlich!), die endgültige Rehabilitierung der Philosophie Wolffs in Preußen habe sich Ende der 1730er Jahre bei Friedrich Wilhelm I. unter dem Eindruck der (in der Tat nachweisbaren) Lektüre von Gottscheds Buch vollzogen.366 Zwei zutreffende Beispiele sollen demgegenüber genügen, die faktische Resonanz zu illustrieren, die die Weltweisheit unter Zeitgenossen hervorrief: So ließ sich die Herzogin Luise Dorothée von Sachsen-GothaAltenburg (1710–1767) ab ungefähr 1740 auf Grundlage von Gottscheds Lehrbuch Vorlesungen über Wolffs Philosophie halten 367 und öffnete sich und ihre Umgebung in der Folge – paradigmatisch für viele Adlige dieser Zeit 368 – dem Einfluß auf klärerischer Philosophie. In Karl Philipp Moritz’ Roman Anton Reiser (1785–1790) wird schließlich in autobiographischer Perspektive erzählt: 1785) vgl. H. W. Arndt: Einleitung, in: Baumeister: Philosophia defi nitiva, WGW III/7, 1–26. 365 Prinzipiell zutreffend die Einschätzung von Saine: Von der Kopernikanischen, 182: »Es wäre falsch, bei Gottsched tiefschürfende, originelle Ideen zu erwarten; es wäre aber genauso falsch, wegen mangelnder Originalität seine Bedeutung für die kulturelle Entwicklung der Zeit abzuwerten.« Auch wenn genauere Untersuchungen zu Verbreitung und Rezeption von Gottscheds Weltweisheit fehlen, ist das Verdienst des Buches bei der Popularisierung der Leibniz-Wolffschen Philosophie unbestritten; vgl. einige diesbezügliche Beobachtungen bei E. Wolff: Gottscheds Stellung, Bd. 1, 161–166; bereits Tholuck: Geschichte des Rationalismus, 130 f. meinte: »Die hallische Tragödie [sc. die Vertreibung Wolffs; A. S.] hatte nur dazu gedient, das Interesse aller Freunde der Denkfreiheit für den verfolgten Philosophen zu erhöhen, unter den Gebildeten leistet dem Systeme den bedeutendsten Vorschub die Popularisierung desselben in den ›ersten Gründen der gesammten Weltweisheit (1734)‹ von Gottsched«; nicht anders Saine: Von der Kopernikanischen, 180: »Popularisierungsfähiger wurde das Wolffsche System vor allem durch Gottscheds Erste Gründe der gesamten Weltweisheit«; zu den naturwissenschaftlichen Popularisierungsbemühungen Gottscheds vgl. W. Schatzberg: Gottsched as a Popularizer of Science, in: Modern Language Notes 83 (1968), 752–770; zur Bedeutung von Gottscheds deutscher Übersetzung von Leibniz’ Theodicée (1744) siehe das ambivalente Urteil von Holz: Gottsched, 113: »Und so hat er, der Leibniz’ Gedanken in ein makelloses Deutsch herüberholte, sie im Fortgang seiner wohlmeinenden Kommentare zuweilen bis zur Lächerlichkeit trivialisiert. Er hat die schwierigen dialektischen Denkbewegungen von Leibniz in den Verständnishorizont des gebildeten protestantischen Durchschnittsbürgers überführt und damit zwar zur Popularisierung, aber auch zur Banalisierung der Leibnizschen Philosophie beigetragen.« 366 Tholuck: Geschichte des Rationalismus, 131. – Siehe dazu auch unten Kap. 3, Abschn. 3.2.2. 367 Vgl. Ch. Wolff: Eigene Lebensbeschreibung, 179–182; [Gottsched:] Historische Lobschrift, 129; Danzel: Gottsched und seine Zeit, 44 in Anm. *; Waniek: Gottsched, 252; E. Wolff: Gottscheds Stellung, Bd. 1, 163. 368 E. Wolff: Gottscheds Stellung, Bd. 1, 163 vertritt folgende, wohl zutreffende Auffassung: »Namentlich in adligen und fürstlichen Kreisen erregte oder befestigte Gott scheds ›Weltweisheit‹ das Interesse für Philosophie.« D. Döring: Die Philosophie, 62 in Anm. 225 mutmaßt nicht ohne Grund: »Besonderen Einfluß dürfte das Werk auch innerhalb adeliger Kreise, vor allem unter den Frauen, besessen haben.«

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»Er [sc. Anton Reiser] hatte sich von dem Bücherantiquarius unter andern Gottscheds Philosophie geliehen, und so sehr auch in diesem Buche die Materien durchwässert sind,369 so gab doch dies seiner Denkkraft gleichsam den ersten Stoß – er bekam dadurch wenigstens eine leichte Übersicht aller philosophischen Wissenschaften, wodurch sich die Ideen in seinem Kopfe aufräumten.« 370

Gottsched, der anfangs seine Vorlesungen nach Thümmigs Institutiones abgehalten hatte, geriet mit seinem Lehrbuch unter den Verdacht, den WolffSchüler einfach aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt zu haben, ein Vorwurf, den er natürlich mit allem Nachdruck von sich wies.371 Anlaß für die Verdächtigungen mochten die ungeschützten Bemerkungen gegeben haben, die Gottsched über die Benutzung der Thümmigschen Institutiones in seinen akademischen Lehrstunden dem Publikum bei der ersten Auflage seiner Weltweisheit mitgeteilt hatte.372 Die Frage der Abhängigkeit der beiden voneinander ist bis heute nicht abschließend geklärt,373 obwohl einiges dafür spricht, die Vorwürfe als unzutreffend anzusehen. Zu Inhalt und Zweckbestimmung seiner Weltweisheit erklärte sich ihr Verfasser in wünschenswerter Deutlichkeit in der Vorrede – auch im Hinblick auf das Thümmigsche Lehrbuch – wie folgt: »Ich rühme mich hierbey keiner neu entdeckten Wahrheiten und grossen Erfi ndungen. Ich habe kein neues Gebäude der Weltweisheit aufführen, auch kein altes übern 369

Im unkritisch-unhistorischen Anschluß an die Aussage dieses Zitates kommt F. Brüggemann: Das Weltbild der deutschen Auf klärung: philosophische Grundlagen und literarische Auswirkung: Leibniz – Wolff – Gottsched – Brockes – Haller/ hrsg. von dems. [Leipzig 1930]. Unveränderter Nachdruck Darmstadt 1966, 196 zu dem philosophiehistorisch wie rezeptionsgeschichtlich verfehlten Urteil, daß durch Gottscheds Weltweisheit die Leser des 18. Jahrhunderts die Wolffsche Philosophie »in einer bedenklich verfl achten Gestalt« kennengelernt hätten; das Moritz-Zitat bei ihm ebd, 18. Bereits Wundt: Die deutsche Schulphilosophie, 216 hat an Gottscheds »berühmten« Lehrbuch hervorgehoben, daß es gegenüber den bisherigen Einleitungen in die Wolffsche Philosophie »moderner [sei] und (. . .) mehr die Seiten heraus(hebt), die Wolff mit der späteren Auf klärung oder auch mit Thomas [sc. Christian Thomasius] und seinem Kreis verbinden«. 370 K. Ph. Moritz: Anton Reiser: ein psychologischer Roman. Mit den Titelkupfern der Erstausgabe/hrsg., erläutert und mit einem Nachwort versehen von E.-P. Wieckenberg, Leipzig; München 1987, 191. 371 Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 43,33–44,5 argumentierte: »Daß zwo philosophische Handbücher, die beyde den wolfi schen Lehrsätzen folgen, einander in vielen Stücken ähnlich seyn müssen, ist leicht zu begreifen. Daß aber mein Buch theils in der Ausführung, den Exempeln, Erläuterungen, und andern unzählichen Zusätzen und Vermehrungen, der thümmigischen ganz unähnlich sey, hat bisher allen ihren Lesern in die Augen geleuchtet.« 372 Gottsched: Vorrede [zur ersten Aufl age der Weltweisheit], GAW V/3, 199,14– 200,10. 373 Im Ergebnis eines umfangreichen Vergleichs von Thümmigs und Gottscheds Lehrbuch drängt sich E. Wolff: Gottscheds Stellung, Bd. 1, 145–151 der Eindruck auf, es bei Gottscheds mit einem Plagiat zu tun zu haben (ebd, 150). Dagegen kommt Wundt: Die deutsche Schulphilosophie, 216 zu dem Ergebnis, daß sich Gottscheds Lehrbuch von denen Thümmigs und Bilfi ngers »(. . .) deutlich (unterscheidet)«.

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Haufen werfen wollen. Ich habe nur die gründlichste Art zu philosophiren, darauf wir durch den unsterblichen Herrn von Leibnitz, diese unvergleichliche Zierde unsres Deutschlandes, zuerst geführet worden, durch einen veränderten Vortrag [sc. im Gegenüber zu Thümmigs lateinischem Lehrbuch] etwas beliebter und gemeiner zu machen gesucht. Ich habe eine Einleitung und Vorbereitung zu des hochberühmten Herrn Wolfs Schriften abfassen, u. meinen Zuhörern Lust machen wollen, sich nach diesem geringen Vorschmacke, daselbst als an einer vollen Tafel zu sättigen. Habe ich hierinn mit Herrn Thümmig einerley Absichten gehabt, so gereicht dieses weder ihm noch mir zur Schande.« 374

Diese einleitenden Worte waren nicht hohle Phrase, sondern eine ziemlich genaue Bestimmung dessen, was der Inhalt des Buches dem Leser bot. Die zeitgenössischen Reaktionen waren daher auch des Lobes über seinen Autor voll. Ein früher Biograph rühmte an der Darstellung die luzide, klare und sprachlich vorbildliche Gedankenführung 375 und mutmaßte angesichts der Doppelkompetenz des jungen Philosophieprofessors in den Belles lettres und der Weltweisheit: »Am meisten hat er sich wohl der Welt=Weisheit ergeben: Er folgt darinn zwar vielfältig, aber nicht allezeit, nicht blindlings, dem Hrn. Hof=Rath Wolfen.«376 In den eigenen Privatvorlesungen trug Gottsched seit der Publikation der Ersten Gründe die Wolffsche Philosophie kontinuierlich – wie es scheint jährlich – nach seinem eigenen Lehrbuch vor und ließ sich davon auch nicht durch die »Inquisition« vor dem Dresdner Oberkonsistorium 1737 abhalten.377 Dem lesenden Publikum offenbarte sich der gelegentlich von Wolff abweichende Standpunkt des Verfassers gleich auf den ersten Seiten der Weltweisheit, wo Gottsched die Philosophiedefinition Wolffs – in der für den weiteren Verlauf der deutschen Auf klärung bis Kant und seiner Eudämonismuskritik signifi kanten Weise – neu akzentuierte. Während der nach Marburg vertriebene Philosoph die »Welt-Weisheit« als »Wissenschaft aller möglichen Dinge, wie und warum sie möglich sind«378 defi niert und damit als metaphysisch-ontologische Wissenschaft (bei gleichzeitiger starker Betonung der Praxis) in partieller Kontinuität wie auch expliziter Diskontinuität 374

Gottsched: Vorrede [zur ersten Aufl age der Weltweisheit], GAW V/3, 201,11–25. Goetten: Joh. Christoph Gottsched, 87 notierte in seiner 1736 erschienenen kurzen Biographie zu Gottscheds Weltweisheit: »[. . .] darinnen eine schöne Ordnung, vortrefl iche Deutlichkeit, möglichste Kürze, reine Schreib=Art und vollständige Abhandlung angetroffen wird«; vgl. ein ähnliches Lob bei Ludovici: Ausführlicher Entwurf, Tl. 1, 156, der insbesondere hervorhebt, daß Gottsched mit einem »lebhafften Vortrag [die] schwehrsten Wahrheiten« abgehandelt habe. 376 Goetten: Joh. Christoph Gottsched, 82. 377 In der auf den 15. Februar 1739 datierten Vorrede zur dritten Aufl age seiner Weltweisheit (knapp 1½ Jahre nach seinem Verhör vor dem Dresdner Oberkonsistorium) bemerkte Gottsched (GAW V/3, 216,25–28): »Denn daß ich jährlich darüber lese, und meinen Zuhörern den Inhalt des Buches noch ausführlicher erkläre und sie davon zu überführen suche; das darf ich wohl hier nicht erinnern.« 378 Ch. Wolff: Vernünftige Gedanken von den Kräften, 115, Vorbericht (§. 1). 375

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zum Aristotelismus der lutherisch-orthodoxen Schulphilosophie des 17. Jahrhunderts zur Entfaltung gebracht hatte,379 ging Gottsched einen anderen Weg. Denn aus der Wolffschen Defi nition ergab sich das Problem, wie der Übergang von der Metaphysik zur praktischen Philosophie, der Ethik, zu realisieren war.380 Gottsched, dessen Hauptinteresse dem Zug der Zeit folgend fast übermäßig der praktischen Philosophie galt, defi nierte deswegen: »Die Weltweisheit nenne ich eben die Wissenschaft von der Glückseligkeit des Menschen; in so weit wir sie, nach dem Maaße unserer Unvollkommenheit in dieser Welt, erlangen und ausüben können.«381 Gottsched vertrat damit eine Auffassung, die er nach eigener Aussage im Anschluß an Leibniz entwickelt hatte.382 Zugleich stellte er eine bezeichnende terminologische Verbindung zum bei Wolff nur in dessen Deutscher Ethik 383 gebrauchten Begriff der Glückseligkeit her,384 nun aber als Leitbegriff der gesamten Philosophie. Während Wolff mit seinem Philosophiebegriff ein eigenständiges Erkenntnisinteresse für die Metaphysik (bei Wolff: Ontologie, natürliche Theologie, Psychologie und Kosmologie/Physik, bei Gottsched noch zusätzlich die Vernunftlehre [Logik]) festgehalten hatte, in die sich die Ethik als ein Thema der Wissenschaft vom Möglichen als Mög379 Vgl. dazu Wundt: Die deutsche Schulphilosophie, 122–199; zu Wolffs Verhältnis zur protestantischen Schullogik des 17. Jahrhunderts vgl. Arndt: Einführung, in: Ch. Wolff: Vernünftige Gedanken von den Kräften, WGW I/1, 31–55. – Wolff betont zwar durchgängig den praktischen Nutzen der Philosophie (und darin wußte sich Gottsched auch mit ihm einig), jedoch hat er dieses Moment in seinem Philosophiebegriff nicht berücksichtigt; vgl. W. Schneiders: Philosophie IV: Neuzeit: D. Deutsche Auf klärung, HWP 7 (1989), 711. 380 Für Wolff ist nach W. Schneiders: Deus est philosophus absolute summus: über Christian Wolffs Philosophie und Philosophiebegriff, in: Christian Wolff 1679–1754, 12 f. Philosophie eine theoretische Wissenschaft: »Sie erstrebt die Wahrheit um der Wahrheit willen, nicht etwa wegen eines bestimmten Nutzens oder zu einem bestimmten Zweck (Glück, Tugend).« 381 Gottsched: Erste Gründe (Theoretischer Teil), GAW V/1, 122,27–123,1 (§. 3). 382 GAW V/1, 122,5–7 (vgl. ders.: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 42,30–43,1): »Gleich anfangs nahm ich anstatt der wolfi schen Defi nition der Philosophie, die leibnitzische, als einen weit fruchtbarern und praktischern Begriff von der Weltweisheit überhaupt, an. Aus diesem führete ich in der Einleitung, alle philosophische Wissenschaften her; und richtete alle diese auf die Beförderung der menschlichen Glückseligkeit.« – Mit Schwaiger: Das Problem des Glücks, 189–191 ist zu bedenken, daß Leibniz die Weisheit (sapientia), nicht die Weltweisheit, als Lehre (Wissenschaft) von der Glückseligkeit entfaltete; und dies auch nur im Rahmen seiner Ethik. Inwieweit unter diesen Umständen Gottscheds Behauptung philosophiehistorisch gerechtfertigt ist, müßte gesondert problematisiert werden; vgl. zum (behaupteten) Anschluß Gottscheds an Leibniz auch Lichtenstein: Gottscheds Ausgabe, 14 f.; Poser: Gottsched, 60. 383 Ch. Wolff: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit. 384 Vgl. Poser: Gottsched, 60; gegenüber Poser ist mit Schwaiger: Das Problem des Glücks, 51 festzuhalten, daß der Begriff des Glücks/der Glückseligkeit »zum festen geistigen Besitzstand Wolffs« gehört.

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lichen einordnete,385 entwickelte Gottsched seine theoretische Philosophie (Metaphysik) explizit im Dienste der praktischen Philosophie (Ethik), um die es ihm eigentlich ging. Metaphysik war für ihn nur insofern interessant, als sie sich irgendwie mit der Praxis in Verbindung bringen ließ und einen Nutzen zur Lösung praktischer Fragen abwarf. Mit seinen eigenen Worten: »Der erste Theil unserer Weltweisheit, ist eigentlich nur eine Vorbereitung zum zweyten zu nennen.«386 Als Erkenntnisgegenstand der Philosophie formulierte er die Erkenntnis derjenigen Dinge, die zur Glückseligkeit als einem »dauerhaften und wahren Vergnügen[. . .]«387 führen. Die Antwort auf die Frage nach dem Weg dorthin blieb Gottsched nicht schuldig: »Dieses geschieht aber durch Auf klärung unsers Verstandes, vermittelst vieler deutlich erkannten und gründlich erwiesenen Wahrheiten: und solches ist überhaupt der Innhalt ihres [sc. der Weltweisheit] theoretischen Theils.«388 Unter diesem Gesichtspunkt präsentierte sich Gottscheds Philosophie als praktische Auf klärung des Verstandes (theoretischer Teil) und des Willens (praktischer Teil) zu einem einzigen Zweck: ein wahrhaft glückliches, zufriedenes Leben zu führen. Die Tür zur Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts war damit aufgestoßen,389 und hier ist unter philosophiehistorischem Gesichtspunkt seine Leistung hauptsächlich zu würdigen.390 In Gottscheds Lehrbuch sind die grundlegenden philosophischen Anschauungen – soweit sie für seine homiletischen Arbeiten von Belang sind – ausführlich dargelegt. Neue Aspekte begegnen kaum; das meiste war in den verschiedenen philosophischen Dissertationen und Reden bereits zuvor ausgesprochen worden. Namentlich Gottscheds optimistisch gestimmte Anthropologie mit der psychologistischen Abschwächung der Sündenlehre391 sowie seine in der Habilitationsschrift Hamartigenia vorgetragene Auffassung von der Dependenz des Willens vom Verstand 392 mit ihrer einseitigen Beto385

Bissinger: Zur metaphysischen Begründung, 148–160. Gottsched: Erste Gründe (Praktischer Teil), GAW V/2, 40,25 f. (§. 3). 387 Gottsched: Erste Gründe (Theoretischer Teil), GAW V/1, 124,3 f. (§. 6). 388 GAW V/1, 124,5–8. 389 Zu Gottsched als einem Scharnier zur Popularphilosophie vgl. D. Döring: Johann Christoph Gottsched in Leipzig, 62. 390 Vgl. hierzu auch Lichtenstein: Gottscheds Ausgabe, 14 f.: »Seine [sc. Gottscheds] philosophische Leistung beruhte gerade darauf, daß er, indem er die Philosophie als die Lehre zur Beförderung der Glückseligkeit behandelt (. . .), sie in die weiteren Schichten des Volkes getragen hat.« 391 Zu erinnern ist hier insbesondere an Gottscheds drei Akademische Reden zur Vertheidigung Gottes und des Menschlichen Geschlechts, daß selbiges nicht so lasterhaft sey, als man glaubet (GAW IX/2, 398–455; gehalten 1730 in der Teutschen Rednergesellschaft). 392 Gottsched: Erste Gründe (Theoretischer Teil), GAW V/1, 546,11–13 (§. 975): »So wie die sinnliche Begierde aus dem undeutlichen Erkenntnisse des Guten ihren Ursprung hatte: so entstehet hergegen der Willen aus dem deutlichen.« Und ebd, 547,3–11 (§. 977): »Es erhellet aber hieraus offenbar, daß alles Wollen und Nichtwollen auf das Urtheil des Verstan386

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nung des rationalen Erkenntnismomentes vor dem sinnlichen kehren in der Weltweisheit wieder. Gottsched hob zwar hervor, daß alle Erkenntnis ihren Anfang durch sinnliche Eindrücke (anschauende Erkenntnis) nimmt,393 betonte demgegenüber aber die Notwendigkeit einer rationalen Reflexion derselben durch Zergliederung in deutliche Begriffe,394 weil dies »ohne Zweifel ein höherer Grad der erkennenden Kraft unserer Seelen [ist], als wenn wir uns die Dinge nur klar vorstellen könnten. Dieses geschieht bloß durch die Sinne und durch die Einbildungskraft: Zu jenem aber gehöret auch Aufmerksamkeit, Scharfsinnigkeit und Witz«395. Die hier begegnende Wertschätzung des philosophischen »Scharfsinns«396 und »Witzes«397 als zwei Seelentätigkeiten, derer sich auch Poeten und Redner befleißigen müssen,398 sowie die bald folgende Übertragung dieser Anschauungen auf die Predigttheorie, wird zu jener Kontroverse um die »philosophische Predigt« führen, die Johann Lorenz (von) Mosheim (1693–1755) in die Frage kleidete Ob es erlaubt, oder verboten sey, sinnreich und philosophisch zu predigen?.399 Zum praktischen Teil von Gottscheds Weltweisheit äußerte sich im September 1734 eben jener Mosheim, der nicht erst als Präsident (1732) der Deutschen Gesellschaft zu Leipzig in briefl ichem Kontakt mit dem Senior Gottsched getreten war.400 Er tat dies in seiner Profession als ein an die Bekenntnisschriften gebundener Theologe. Insbesondere Gottscheds Auffassung vom freien Willen und dessen damit zusammenhängende Abmilderung der lutherisch-augustinischen Erbsündenlehre hielt der Helmstedter

des ankömmt, welches man zuvor davon gefället hat: es mag nun dasselbe wahr seyn, oder nicht. Wäre nur unser Verstand keines Irrthumes oder falschen Urtheiles fähig: so würde auch unser Willen niemals fehlen, niemals das Böse für das Gute begehren. Eigentlich liegt es auch nicht so wohl an unserm Willen, wenn er unrecht wählet; als am Verstande, welcher falsch urtheilet«; vgl. auch ebd, 581 (§. 1064). 393 Gottsched: Erste Gründe (Theoretischer Teil), GAW V/1, 527 (§. 918); vgl. ebd, 530,3 f. (§. 925): »[. . .] daß wir also alle unser Erkenntniß den Empfi ndungen, und der Erfahrung, zu danken haben«. 394 GAW V/1, 526 f. (§. 916). 395 GAW V/1, 526,26–31 (§. 915). 396 GAW V/1, 525 (§. 910); hier Scharfsinnigkeit defi niert als »eine Kraft der Seele, in kurzer Zeit viel an einem Dinge wahrzunehmen; oder eine Fertigkeit, ein Ding sehr geschwind zu überdenken«. 397 GAW V/1, 526,11–15 (§. 914) bestimmte den Witz als das »Vermögen, die Aehnlichkeiten der Dinge leicht wahrzunehmen [. . .]: und ein witziger Kopf muß also derjenige heißen, der leicht sehen kann; was mit einander überein kömmt, oder nicht«. 398 GAW V/1, 525,13 f. (§. 910); 526,19–21 (§. 914). 399 Johann Lorenz Mosheim: Heilige Reden über wichtige Wahrheiten der Lehre Jesu Christi. Sechster Theil [1739]. Neue Aufl age, Franckfurt und Leipzig 1741, Bl. b7r (Vorrede). – Mehr dazu unten in Kap. 4, Abschn. 2.2.2. 400 Der Briefwechsel zwischen beiden erstreckte sich von 1728 bis 1746; vgl. Suchier: Gottscheds Korrespondenten, 53 f. Teile der Korrespondenz bietet Danzel: Gottsched, 89–97. 104–107. 177–182. u. ö.

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Gelehrte für bedenklich.401 Sein Eindruck verdient es, hier weitgehend vollständig mitgeteilt zu werden: »Ew. Hochedelgeb. practische Philosophie wird mit mir leicht auskommen, so lange ich billig und vernünftig bleibe. Gegen die christliche Sittenlehre ist nichts von Ihnen geschrieben worden. Ich bin damit einig, daß alles mit Stellen der Schrift kann bewiesen werden. Ein anderes ist es, ob alles mit der Glaubenslehre übereinkomme, die in unsern Kirchen angenommen und in den sächsischen symbolischen Büchern bestätigt ist, wo ich mich nicht sehr betrüge, so steht der klare Molinismus darin. Und wenn E. Hochedelgeb. Lust haben werden, diesen berühmten Jesuiten zu lesen, so werden Sie mit mir gleich einig seyn. Nach den Sätzen, die E. Hochedelgeb. in der allgemeinen Sitten=Lehre zum Grunde gelegt, können wir unmöglich unsre Lehre von der Rechtfertigung, den guten Werken, der Erbsünde u. s. w. gegen die Anhänger des römischen Stuhls vertheidigen; wer uns das Wort Augustini nimmt [. . .], der nimmt uns vieles und führt uns so nahe an das Gehege der Pelagianer, daß wir nicht viel näher kommen können. [. . .] Mit E. Hochedelgeb. ist es anders [sc. als mit dem zuvor als Beispiel angeführten und für heterodox erklärten Melodius 402 ; A. S.]. Ein Weltweiser hat mehr Freiheit und ich will der nicht seyn, der andern das sagt, was ich hie als ein Theologus, der nach einer gewissen Vorschrift von den Lehren andrer Menschen urtheilen muß, geschrieben habe. E. Hochedelgeb. werden mir diese Freiheit zu gute halten. Ich gebe Ihnen hienieden vollkommene Gewalt, mich in der Weltweisheit, Rednerkunst, Poesie u. s. w. in die Schule zu führen, ja mich gar zum Ketzer in diesen Wissenschaften zu machen.«403

Mosheims sachliches, freundschaftlich-offen abgefaßtes Schreiben traf trotz der anerkennenden Bemerkungen über Gottscheds Autorität als Philosoph, Rhetoriklehrer und Dichtungstheoretiker diesen wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Denn in vorausgehenden Briefen hatte Mosheim überwiegend Zustimmung zur Philosophie des Leipzigers signalisiert.404 Der so nebenhin 401 Zur dogmatischen Entwicklung der Erbsündenlehre von der Reformation zur Neologie vgl. auch die Untersuchung Anselm Schuberts, in der der Autor aufzeigt, daß die Kritik an der Erbsündenlehre weder einer Erfi ndung der Auf klärungsphilosophie bzw. -theologie des 18. Jahrhunderts war, sondern eine lange, weit ins 17. Jahrhundert zurückreichende Vorgeschichte hatte; vgl. Schubert: Das Ende der Sünde, 231. 402 Zu den Streitigkeiten um den Leipziger Prediger Adam Bernd (1676–1748; Pseud. Christian Melodius) und seinen umstrittenen Lehren vgl. M. Schmidt: Valentin Ernst Löschers Einspruch gegen Christian Melodius, in: ders.: Wiedergeburt und neuer Mensch: gesammelte Studien zur Geschichte des Pietismus, Witten 1969, 357–389; zur Biographie Bernds vgl. auch H. Zimmermann: Caspar Neumann und die Entstehung der Frühauf klärung: ein Beitrag zur schlesischen Theologie- und Geistesgeschichte im Zeitalter des Pietismus, Witten 1969, 130–139. 403 Mosheim an Gottsched, Helmstädt, 15. September 1734, zit. nach Danzel: Gottsched, 25 f. in Anm. *. 404 Mosheim an Gottsched, Helmstedt, 7. August 1734, UBL, Ms 0342, Bd. 3, Bl. 109r: »Der zweÿte Theil der Philosophie Ew.HochEdelgeb. ist zum Theil von mir gelesen worden. Noch bin ich nicht fertig. Was ich gelesen, gefällt mir so wohl von Seiten der Sachen, als des Vortrags. Ich kan nicht sagen, daß ich in allen Stücken völlig das glaubte, was E. HochEdelgeb.: Allein ich sehe doch auch wohl, daß es wenig Mühe kosten werde, unsere Gedancken zu vereinigen. Dieses schreibe ich, als ein Weltweiser und als Vorsteher der

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geäußerte Verdacht, daß die Ethik Gottscheds – trotz ihrer theoretischen Übereinstimmung mit verschiedenen Schriftstellen – im Kern mit der christlichen Lehre nicht vereinbar sei, da sie gegen klare Aussagen der Bekenntnisschriften laufe, mußte mit den Hinweisen auf Molinos und den Pelagianismus für den Leipziger Philosophieprofessor höchst beunruhigend wirken, weil sie Erinnerungen an Ereignisse wachrief, die ihm als Student in Königsberg widerfahren waren. Obwohl Gottscheds Brief an den Helmstedter Theologen nicht überliefert ist, läßt die darauf erfolgte Reaktion Mosheims ahnen, wie besorgt der Leipziger Philosophieprofessor gewesen sein muß. Der Präses der Deutschen Gesellschaft versuchte jedoch ihren Senior zu beruhigen und schrieb – seine ursprüngliche Kritik abschwächend – am 18. Dezember 1734 nach Leipzig: »Was ich gegen E. Hochedelgeb. praktische Philosophie erinnert, ist so böse nicht gemeint. Es ist Ihnen bekannt, daß diejenigen überhaupt Molinisten heißen, die dafür halten, daß ein Mensch außer dem Stande der Gnade gute Werke verrichten und etwas andres thun als sündigen könne, und wo ich mich nicht sehr betrogen, so hat es E. Hochedelgeb. beliebt, dieses zu behaupten und den Menschen eine Kraft beyzulegen, ohne dem Beistande der Gnaden gute Werke zu thun. Ist dieser Satz, den man in Sachsen vor diesen als den größten Hauptirrthum angesehen, der dem Papstthum Thür und Thor öffnete, nunmehro in Leipzig zu einer Wahrheit worden, so habe ich nichts dagegen zu erinnern. Ich sage hie wie unser Heiland, Joh. VIII: hat dich niemand verdammet, so verdamme ich dich auch nicht.«405

Mosheims Kritik an Gottscheds »molinistischer« und »pelagianischer« Sündenlehre hatte ihren Grund in einigen in der Tat recht freien Überlegungen, in denen der Leipziger Philosophieprofessor seine philosophische Tugendlehre nahe an die christliche Ethik heranrückte (äußerlich deren Superiorität bekräftigend) und beiläufig mit einem sprachlich zwar moderaten, sachlich aber keineswegs nebensächlichen Tadel den Kirchenvater Augustin in die Schranken wies. Der Philosoph meisterte hier den Theologen: »Ob nun wohl diese philosophische Tugend noch nicht an die Vollkommenheit der christlichen langet; die vermittelst der geoffenbarten Religion in dem Menschen gewirket werden kann: so erhellet doch aus allem, daß sie durchaus nicht zu verwerfen ist. Denn das Gesetz der Natur ist ja ein göttliches Gesetz [. . .]. Wer also auch aus natürlichen Kräften, so viel als ihm bey der menschlichen Schwachheit möglich ist, demselben nachkömmt, der übet solche Handlungen aus, die Gott allerdings gefallen müssen; ja die er auch mit natürlichen und willkührlichen Belohnungen vergilt. Folg-

deutschen Gesellschaft in Leipzig. Wenn ich als ein Lehrer der geistlichen Wissenschafften sprechen soll, der alles nach einer gewissen Regul zu beurtheilen verbunden ist, die er nicht ändern kan, so würde ich hie und da etwas zu verbessern fi nden. Man muß überaus fromm in Leipzig seÿn und allgemach gut helmstedtisch werden, sonst würden gewisse Sätze so freÿ nicht durchgehen«; vgl. auch E. Wolff: Gottscheds Stellung, Bd. 1, 161 f. 405 Zit. nach Danzel: Gottsched, 26 in Anm. *.

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lich hat denn Augustin seinen Eifer zu hoch getrieben, wenn er alle Tugenden der Heyden, [nur] 406 prächtige oder gleißende Laster genennet hat.«407

Weniger Zurückhaltung legte sich Gottsched mit seinem Unwillen über Augustin in der nur halböffentlichen Teutschen Rednergesellschaft auf, wo er in einer Rede anläßlich des Themas Sokrates, ein unüberwindlicher Weltweiser »[d]en überklugen Kirchenlehrer Augustin, welcher alle Tugenden der Heiden für lauter prächtige Laster ausgerufen«408 , geradewegs als Narren vorführte. Gottsched blieb im Fortgang der Zeiten mit solchen Ansichten nicht allein.409 Sein im Grunde optimistisches Menschenbild, das die kirchliche Erbsündenlehre als Bremsklotz ethischer Perfektionierungsbemühungen empfand,410 vermittelte er nicht nur in die Kreise einer breiten Leserschicht der Weltweisheit, sondern als Lehrer auch direkt an seine Schüler. Manch einer, wie z. B. Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709–1789),411 befand sich darunter, der als Neologe die Umformungsarbeit des 18. Jahrhunderts am tradierten Christentum maßgeblich weiterführen sollte. So betonte ein Nachruf auf den am 12. Dezember 1766 verstorbenen Gottsched daher nicht zu Unrecht ganz besonders seine Rolle als Lehrer, in der er als außerordentlicher und ordentlicher Universitätsprofessor weit über 406

Fehlt in der 1. bis 6. Aufl age. Gottsched: Erste Gründe (Praktischer Teil), GAW V/2, 101,27–102,7 (§. 62). 408 J. Ch. Gottsched: Akademische Rede, Sokrates ein unüberwindlicher Weltweiser, GAW IX/2, 475, 33–35; die undatierte Rede dürfte – wie die meisten anderen in der Teutschen Rednergesellschaft gehaltenen Reden – um 1730 (vielleicht auch eher) gehalten worden sein; zum ersten Mal abgedruckt wurde sie in Gottscheds Ausführlicher Redekunst (1736). 409 Karl Friedrich Bahrdt formulierte – in einer vielleicht auch auf Gottsched zutreffenden Weise – das Unbehagen gegenüber einer der lutherischen, auf »Glauben«, und nicht auf »Werken« gegründeten Frömmigkeit, wenn er schrieb: »Ja die positiven Religionen würdigen meistentheils die Tugend gänzlich herab. Sie lehren, daß sie durchaus nicht die Ursache unserer Gottgefälligkeit und Seligkeit sey. Sie behaupten, daß Gott seine vernünftigen Geschöpfe, nach dem Maaße ihres Glaubens, und nicht ihrer guten Werke, liebe und beselige. Sie nennen wohl gar die Tugend ein unfl ätig Kleid, in welchem wir Gott nicht gefallen mögen, und erheben dagegen die Gerechtigkeit Christi, die sich der Lasterhafte nur zueignen darf. [Absatz] Indem so die positiven Religionen den Eifer der Tugend erstiken und die Menschen gegen sie kalt und gleichgültig machen, so begünstigen sie zugleich ihren Leichtsinn im Sündigen«; K. F. Bahrdt: System der moralischen Religion zur endlichen Beruhigung für Zweifler und Denker: allen Christen und Nichtchristen lesbar, Bd. 3: Rechte und Obliegenheiten der Regenten und Unterthanen in Beziehung auf Staat und Religion, Riga 1792, 285. 410 Vgl. für Gottsched bei Kuhlmann: Die theologischen Voraussetzungen, 44. Sprachlich vielleicht ein wenig stark, aber dennoch im Grundsatz richtig scheint mir die Einschätzung von Aner: Theologie der Auf klärung, 162: »Augustin war im Zeitalter der Auf klärung der meißtgehaßte Mann.« 411 Zum Verhältnis Gottsched-Jerusalem vgl. Aner: Theologie der Lessingzeit, 143– 149; die mehr als 20 Briefe Jerusalems an Gottsched verzeichnet Suchier: Gottscheds Korrespondenten, 40 f. 407

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Kapitel 1: Gottscheds biographische Synthese . . .

30 Jahre lang auf verschiedenen Tätigkeitsfeldern gewirkt hatte.412 Obschon bei dieser Gelegenheit sein Anteil an der Konzeption und Ausbreitung der »philosophischen« Predigt keine explizite Erwähnung fand, werden doch die Ausführungen der folgenden Kapitel zeigen, daß dies den »Lehrer der Predigt« einschloß, dem hunderte, wenn nicht gar tausende Schüler getreu folgten.

412 Ficker: Dem ruhmvollen Andenken, Bl. 1v eröffnete sein Gedicht zum Totengedächtnis Gottscheds mit Worten, die seine Rolle als Lehrer wie folgt betonten: »Er ist Unsterblich! das Geständniß der Ihm verbundnen Zeiten . . . Hat Ihn allzeit den vortrefl ichen Lehrer genennt!« Nochmals formulierte Ficker ebd, Bl. 2r Gottscheds Lehrerrolle im Gewand kasuallyrischer Konvention: »Doch nein, nicht Marmor erzähle der Nachwelt den Ruhm unsers Weisen – . . . Ahmt Ihm nach, Eurem so würdigen Lehrer, lest Ihn, . . . Geht den Weg, darauf Er die Bahne gebrochen, seyd jene Schüler, . . . Jene seltnen Schüler, deren Verstand nur selbst forscht!«

Kapitel 2

Gottscheds Theorie der »philosophischen« Predigt 1 Die homiletischen Frühschriften Den Entstehungsprozeß von Gottscheds Theorie der »philosophischen« Predigt dokumentieren Arbeiten ganz unterschiedlichen literarischen Zuschnitts: So beschäftigte sich der aufstrebende Magister mit homiletischen Fragestellungen in zwei Kasualgedichten (1724; 1730), in einem Zeitschriftenbeitrag einer von ihm gegründeten moralischen Wochenschrift (1726), im Rahmen von Ausführungen seines ersten rhetorischen Lehrbuchs (1728) sowie in zwei um 1730 ausgearbeiteten und gehaltenen, jedoch erst später veröffentlichten Sozietätsreden. Entsprechend dem Vortrags- bzw. Veröffentlichungsanlaß und -ort sowie dem jeweiligen Adressatenkreis erfolgte die Darlegung der reformhomiletischen Gedanken dabei auf sehr unterschiedliche Weise. Meist thematisierten die Texte nur Teilaspekte der homiletischen Systematik, wobei inhaltliche Überschneidungen die Regel waren. Um bei der folgenden Darstellung das Maß an Redundanz möglichst niedrig zu halten, gleichzeitig aber den Plan einer historisch-genetischen Betrachtungsweise nicht aufzugeben, werden die zu untersuchenden Schriften Gottscheds einer mehr oder weniger problemorientierten Analyse unterzogen, die gelegentliche Vorausgriffe auf spätere Äußerungen unter sachlichen Gesichtspunkten einschließt. 1.1 Zum Wandlungsprozeß des »decorum« in der Aufklärungshomiletik: die katholische Barockpredigt im Geschmacksurteil Gottscheds – ein Gelegenheitsgedicht (1724) Erstmals bezog der ostpreußische Flüchtling ein reichliches halbes Jahr nach seiner Ankunft in der Stadt an der Pleiße in jenem bereits erwähnten Jubelcarmen anläßlich des 100jährigen Bestehens des Großen Montägigen Predigerkollegiums und als ein Mitglied desselben zu homiletischen Fragen Stellung.1 Ein Exemplar des Urdrucks dieses Gelegenheitsgedichtes des Vier-

1

Knappe Erwähnung des Gedichts bei Reichel: Gottsched, Bd. 1, 128; etwas näher geht darauf ein D. Döring: Die Leipziger gelehrten Sozietäten, 35.

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Kapitel 2: Gottscheds Theorie der »philosophischen« Predigt

undzwanzigjährigen hat sich erhalten.2 Dadurch wird einerseits ersichtlich, daß die Titelüberschrift beim zweiten Abdruck im Jahr 1736 nachträgliche Zutat war,3 andererseits zeigt ein Textvergleich, daß an einer Stelle eine kleine, aber bedeutende inhaltliche Korrektur vorgenommen wurde. Diese veranschaulicht exemplarisch, wie unabgeschlossen Gottscheds rhetorische Auffassungen zu Anfang der Leipziger Wirksamkeit noch waren und macht zugleich deutlich, inwiefern das Vorbild der antiken Rhetorik für ihn selbst erst innerhalb der nächsten Jahre an normativer Kraft gewann.4 Eröffnet wurde das Lehrgedicht von insgesamt 88 Zeilen Umfang mit der freudigen Feststellung, daß »die offenbarten Lehren« bis an alle Enden der Welt ausgebreitet worden seien, wodurch nunmehr »(. . .) der Wahrheit Ruff in tausend Christenohren (dringt)«.5 Gleichwohl mischte Gottsched in aufklärerischem Gestus – über unionistische Bestrebungen der Zeit hinausgehend – bereits an dieser Stelle einen Tropfen Wermut in den Wein, wenn er beklagte: »Ein Geist der Spaltungen erreget Zank und Streit. Ein jeder Haufe lehrt, was andre ganz verdammen, Und viele drohen sich mit Schwerdtern, Glut und Flammen.« 6

Da es dem jungen Gelegenheitsdichter »zu schwer« schien, die einzelnen Lehrunterschiede im einzelnen »durchzugehn«, wollte er sich »diesesmal nur bey der Lehrart«, also den Unterschieden in den Predigtweisen, auf halten und dort nach Auswüchsen von »Scherz und Unverstand und abgeschmackte[n] Grillen« suchen.7 Diese Agenda der Kritik war keineswegs zufällig 2

J. Ch. Gottsched: Die grössere und ältere Montägliche Prediger=Gesellschaft feyrete auf Königl. und Churfürstliche allergnädigste Erlaubnis Ihr Erstes hunderjähriges Jubel=Fest, mit öffentlichen Ceremonien, Dabey hat Derselben ihre ergebenste Mit= Freude bezeiget, Die Unter Ihro Magnificentz Herrn Johann Burchard Mencken [. . .] stehende Teutsch=übende Poetische Gesellschaft durch M. Joh. Christoph Gottsched, Leipzig, Druckts Johann Andreas Zschau [1724]. (2 Bl.); Exemplar UAL, Theol. Fak., Prediger-Collegium Nr. 10, Acta, die erste Jubelfeier des montägigen größeren Prediger= Collegiums betr. – Einen Abdruck dieses Textes bietet auch Sicul III, 740–743 im Zusammenhang mit seinem Bericht über die Hundertjahrfeierlichkeiten des Großen Montägigen Predigerkollegiums; weder der Urdruck noch der Abdruck bei Sicul in der GottschedBibliographie (GAW XII). 3 Gottsched: Die verbesserte Lehrart, 588–591. 4 Ich zitiere im folgenden den Text nach der abschließenden Fassung von 1736, die im Gegensatz zum Erstdruck in mehreren deutschen Bibliotheken greif bar ist. 5 Beide Zitate Gottsched: Die verbesserte Lehrart, 588. 6 Gottsched: Die verbesserte Lehrart, 588. – Das hier angeschnittene Thema liegt auf der Linie der im Zusammenhang mit Gottscheds Mitgliedschaft in der Teutschen Rednergesellschaft erwähnten, anläßlich des Thorner Blutbades (1724) gehaltenen und in der Ausführlichen Redekunst 1736 abgedruckten Rede von J. Ch. Gottsched: Von dem verderblichen Religionseifer, und der heilsamen Duldung aller christl. Religionen (1725), GAW IX/2, 456–464. 7 Alle Zitate Gottsched: Die verbesserte Lehrart, 588.

1 Die homiletischen Frühschriften

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formuliert, sondern hatte programmatischen Zuschnitt. Sie wurde im weiteren Verlauf in konfessionell-antithetischer Fokussierung zur Entfaltung gebracht: auf der einen Seite die römisch-katholischen Mißbräuche, auf der anderen Seite – im zweiten Teil des Gedichts – die Predigtweise Luthers und ihre Aufnahme in der Tradition der gefeierten Predigergesellschaft. Gottsched lenkte gleich in der ersten Strophe seinen Blick auf einen berühmten römisch-katholischen Prediger: Er führte einen »Santa Clara« auf die Kanzel, die zeitgenössische Inkarnation der volkstümlich-derben, katholischen Barockpredigt. An diesem kritisierte er mit spitzer Zunge die mangelnde Würde (decorum) seines Predigtvortrages.8 Der Augustinerpater beraube die Predigt jeglichen Ernstes durch eingeflochtene Anekdoten, Histörchen und scherzhafte Exempel.9 Die stellvertretend von Abraham a Sancta Clara (eigentlich Johann Ulrich Megerle [1644–1709]) an den Pranger gestellte katholische Barockpredigt10 war in den Augen des Kritikers als unangemessen, ja unschicklich abzulehnen, weil in ihr mittels Predigtexempeln, die vielfach der Lebenswelt der Zuhörer entnommen und auf diese bezogen waren, eine sprachliche wie gedankliche Akkomodation vorgenommen wurde, die bevorzugt das rhetorische offi cium des movere und delectare bediente.11 Humoristische Parabeln, volkstümliche Sprichwörter, ergötzliche Fabeln und überraschende Pointen hatten nach Gottscheds Auffassung auf der Kanzel aber nichts zu suchen.12 Heiterkeit und Gelächter13 8 Zur Transformation des decorum in der Frühauf klärung im Zusammenhang mit der Formulierung eines neuen Geschmacksbegriffes vgl. insbesondere V. Sinemus: Poetik und Rhetorik im frühmodernen deutschen Staat: sozialgeschichtliche Bedingungen des Normenwandels im 17. Jahrhundert, Göttingen 1978, 161–182; H.-J. Gabler: Geschmack und Gesellschaft: rhetorische und sozialgeschichtliche Aspekte der frühauf klärerischen Geschmackstheorie, Frankfurt am Main; Bern 1982, 102–123; W. Kühlmann: Frühauf klärung und Barock: Traditionsbruch – Rückgriff – Kontinuität, in: Europäische BarockRezeption/ in Verbindung mit F. v. Ingen u. a. hrsg. von K. Garber, Teil I, Wiesbaden 1991, 188–214. 9 Gottsched: Die verbesserte Lehrart, 589: »Der Pöbel sieht ihn [sc. Abraham a Sancta Clara] kaum, so fängt er an zu lachen, Der liebe Pater pflegt was lustiges zu machen. Er öffnet kaum den Mund, so ist es lauter Scherz; Er spricht kein ernstlich Wort [. . .]«. 10 Zu ihm und seinen Predigten vgl. insbesondere F. M. Eybl: Abraham a Sancta Clara: vom Prediger zum Schriftsteller, Tübingen 1992. 11 Vgl. beispielsweise E. Moser-Rath: Erzähler auf der Kanzel: zu Form und Funktion des barocken Predigtmärleins (1958), in: dies.: Kleine Schriften zur populären Literatur des Barock/ hrsg. von U. Marzolph; I. Tomkowiak, Göttingen 1994, 50–75; U. Herzog: Geistliche Wohlredenheit: die katholische Barockpredigt, München 1991, 37–58. 12 So fungierte in Gottscheds Ausführlicher Redekunst Abraham a Sancta Clara als ein Beispiel für zu »niedrige« bzw. »niederträchtige« Sprache; vgl. Eybl: Abraham, 330 f. 13 Zur genuin rhetorischen, beim Hörer Aufmerksamkeit weckenden Funktion des Gelächters innerhalb der Stilprogrammatik Abrahams vgl. ausführlich F. M. Eybl: Narrenschellen und Kirchenglocken: Karnevaleskes bei Abraham a Sancta Clara, in: Frühneuzeit-Info 3 (1992), Heft 1, 22–30; Eybl begründet die soziale Funktion des Lachens in der

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Kapitel 2: Gottscheds Theorie der »philosophischen« Predigt

schickte sich seiner Ansicht nach nicht für die Verkündigung so »ernster«, »erhabener« Dinge, wie sie das Christentum zur ewigen Seligkeit der Menschen lehrte. Auch wenn Gottsched diese Begründung für seine Kritik zurückhielt, war der springende Punkt des Angriffs ersichtlich. Denn Abraham a Sancta Clara stand bei Gottsched als signifi kanter Vertreter der (katholischen) Barockpredigt, der sich einer Verletzung des inneren decorum14 als eines Verstoßes der Sache-Wort-Relation schuldig machte. Entsprechend der mitgeteilten Agenda der Kritik wurden seine Scherze daher als »abgeschmackte Grillen« (Anwendung der Geschmackskategorie!) 15 gewertet, die von »Unverstand« zeugten und somit als »un-vernünftig« abzulehnen waren.16 Gottscheds Kritik an Abraham a Sancta Clara stand dabei in einem weiter zurückreichenden, durchaus auch konfessionell-polemisch determinierten Kontext, der für rhetorisch-poetologische Fragestellungen von erheblichem Belang war.17 Für die auf klärerische Literaturauffassung war eine diesbePredigt ebd, 23 u. a. damit, daß »(i)n einer historischen Situation, in der der öffentliche Raum der Kirche eine Verlängerung des Marktplatzes war, (. . .) die Verkündigung drastische Mittel einsetzen (mußte), um überhaupt Gehör zu fi nden«. 14 Rhetoriktheoretisch hat das aptum/decorum (das Angemessene, Schickliche) seinen Ort im Bereich der Auffi ndung (inventio) der Redegegenstände (res), bei deren Gliederung (dispositio), bei der sprachlichen Darstellung (verba) der Gedanken (elocutio) und auch bei der Aufführung der Rede (pronuntiatio). Es kann theoretisch in einem doppelten Bezug erfaßt werden (eine Differenzierung, die in der Forschung jedoch umstritten ist): Das innere aptum/decorum fragt nach der jeweiligen Angemessenheit in Bezug auf die zu behandelnde Sache (res-verba-Zusammenhang im Rahmen der Drei-Stil-Lehre); das äußere aptum/decorum fragt nach der Angemessenheit in bezug auf Hörer, Zeit, Ort etc. – Vgl. B. Asmuth: Angemessenheit, HWRh 1 (1992), 579–604; I. Rutherford: Decorum: Rhetorik, HWRh 2 (1994), 423–434; U. Mildner: Decorum: Malerei, Architektur, HWRh 2 (1994), 434–451; H. Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik: eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, Stuttgart 31990, §§. 1055–1062; zum Zusammenhang von Drei-Stil-Theorie und Decorumlehre in der Barockrhetorik vgl. auch Dyck: Ticht-Kunst, 91–112. 15 »Geschmack« bezeichnete innerhalb der Auf klärung eine zentrale Kategorie, die das gesamte gesellschaftliche, wissenschaftliche und kulturelle Leben umgriff. Mit Gottscheds Critischer Dichtkunst (1730) ist dabei die Position einer rationalistischen Geschmackstheorie formuliert, die innerhalb der beiden diskutierten Extreme (Geschmack ist Vernunft oder Geschmack ist Gefühl) Stellung bezog. Vgl. allgemein M. Fick: Geschmack, HWRh 3 (1996), 870–901; zu Gottscheds Geschmacksbegriff siehe Löffler: Anthropologische Konzeptionen, 128–130. – Für den homiletischen Diskurs im 18. Jahrhundert ist die Bedeutung der Geschmacksdiskussion durch Philipp Heinrich Schulers Geschichte der Veränderungen des Geschmacks im Predigen (1792–1799) zumindest stichwortartig erkannt (siehe H. M. Müller: Homiletik, TRE 15, 537,27–29), ohne aber bislang intensiver für die Rekonstruktion der protestantischen homiletischen Theorie fruchtbar gemacht worden zu sein. 16 Dies zutreffend erkannt in der gedrängten Interpretation des Gedichts bei D. Döring: Die Leipziger gelehrten Sozietäten, 35. 17 Vgl. zur protestantischen Kritik an katholischen Barockpredigten die erhellenden, Gottsched einbeziehenden Überlegungen bei Eybl: Abraham, 326–331. Eybl zitiert ebd,

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züglich entscheidende, homiletikrelevante Kritik an den volkstümlich-burlesken Elementen in Abraham a Santa Claras Predigten unter dem Vorzeichen der Unangemessenheit bereits 1688 vom späteren Anwalt der Leipziger pietistischen Bewegung, Christian Thomasius, in dessen berühmter Zeitschrift, den Monats-Gesprächen, vorgenommen worden. Dieser vertrat hier die Meinung, daß die scherzhafte Art des Pater Abraham zwar nicht grundsätzlich zu verurteilen sei, aber in geistlichen Dingen doch »nicht eben zu billigen wäre«.18 Damit war das Unschickliche an der Predigtweise des Augustinerpaters auf der Basis eines vernünftigen Urteils ausgesprochen worden. Das im literarisch ambitionierten Luthertum kultivierte Bild von Abraham a Sancta Clara hatte nur wenige Jahre nach Thomasius der nachmalige »Pietistenfresser«, Hamburger Pastor an St. Katharinen und bedeutende geistliche Liederdichter Erdmann Neumeister (1671–1756) 19 in seinem Dichterlexikon (1695) zementiert, ein für jeden an deutscher Dichtung Interessierten grundlegendes Werk jener Zeit, von dem Gottsched ganz gewiß Kenntnis hatte.20 So bezog sich die Kritik Gottscheds an »Pater Abraham« bereits auf eine ganze Reihe von vorgegebenen Stereotypen, die im Zusam327 einen lutherischen Kritiker katholischer Predigten aus dem Jahr 1682, der insbesondere beklagte, daß »die so genannte Cathol. Patres im(m)er ein Hauffen Prahlens von ihrer Redner-Kunst/ auch den Einfältigen unter denen Evangelischen mit ihrem Gewäsch einen blauen Dunst vor die Augen machen«. 18 In einem Gespräch »von des guten Pater Abrahams Schreibart« legte Ch. Thomasius: Freymüthige Lustige und Ernsthaffte iedoch Vernunfft= und Gesetz=Mässige Gedancken Oder Monats=Gespräche/ über allerhand/ fürnehmlich aber Neue Bücher Durch alle zwölff Monate des 1688. und 1689. Jahres, Halle 1690, 17 einem gewissen Herrn Benedict seine eigene Auffassung in den Mund, die in ihrer Abgewogenheit von dem allgemeinen Verdammungsurteil abstach: Der Stil des Paters sei weder zu den ärgerlichen Possenreißern (difficiles nugas) noch zu den scharfsinnigen Scherzen zu zählen, sondern liege irgendwo in der Mitte, und zwar deshalb, weil die »fast nach einerley Methode weit hergesuchten inventionen zwar kein groß Judicium andeute/ aber doch allezeit etwas ungemeines u. unerwartetes fürbrächte/ über welches auch ein Misantrope wieder seinen willen lachen müste/ daß dannenhero dieses alles eine Anzeigung sey/ der Autor müsse viel gelesen u. ein gut Ingenium haben«. Trotzdem kam er ebd, 17 zu dem Schluß: »Wiewohl dieses eben nicht zu billigen wäre/ daß er dergleichen Schertze in geistlichen Sachen/ da man mehr Devotion als Lustigkeit bey sich empfi nden solle/ durchgehends und gleichsam mit Fleiß anbrächte.« – Vgl. dazu auch Eybl: Abraham, 327–329; spärlich die Ausführungen zu Thomasius’ sprachreformerischer Bedeutung bei Ueding/Steinbrink: Grundriß, 103. 19 Zum Leben dieses streitbaren Pfarrers und bedeutenden (Lieder-)Dichters vgl. M. v. Waldberg: Erdmann Neumeister, ADB 23 (1886), 543–548; Primär- und Sekundärschriftenverzeichnis in: E. Neumeister: De Poetis Germanicis (1695)/ hrsg. von F. Heiduk in Zusammenarbeit mit G. Merwald, Bern; München 1978, 513–529. 20 Neumeister: De Poetis, 154 f. schrieb in seinem Eintrag über »de[n] putzige[n] Pater Clara« (Übersetzung Merwald): »Ein Name, in aller Marktschreier Mund und bekannt bei Krethi und Plethi [. . .] Pater Fabian und Fablian scherzhaft genannt, wegen der Fabeln, die er auf der Kanzel oft herausschwatzt«; vgl. dazu auch Eybl: Abraham, 329. Ein Exemplar von De poetis germanicis in der Ausgabe von 1706 befand sich in Gottscheds Bibliothek: Catalogus Bibliothecae, quam Jo. Ch. Gottschedius [. . .] collegit atque reliqvit [. . .],

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menhang mit den weiteren Ausführungen des Gedichts ihr spezifisches Profi l gewannen.21 In der nächsten Strophe ließ Gottsched einen weiteren katholischen Prediger den Predigtstuhl betreten,22 der gegen einen anderen Aspekt des inneren decorum verstieß. Der hierfür stilisierte Kanzelredner war in der Textfassung von 1736 nur unspezifisch als ein »andrer Held« bezeichnet, den folgende Predigtweise kennzeichnete: »Er eifert, keucht und schwitzt, er wischet Stirn und Kinn, Er zückt Gesicht und Leib, er weis sich schnell zu wenden, Er schreyt mit aller Macht, und schleudert mit den Händen. Mein Gott! was will der Mann? was fehlt ihm immermehr? Warum erbost er sich? was poltert er so sehr?« 23

Gottsched ging es bei der Schilderung jenes pompös und theatralisch auftretenden Predigers ganz offensichtlich um die Aufdeckung eines Verstoßes gegen das innere decorum im Bereich der eloquentia corporis. Standen doch Gestik und Phonetik des Predigtvortrages hier in keinem angemessenen Verhältnis zum Inhalt.24 Doch war das Kritikpotential damit keineswegs erschöpft. Denn in der Urfassung des Textes war der hierbei kritisierte Typ eines Predigers mit dem sprechenden Namen einer rhetorischen Berühmtheit belegt worden: Demosthenes.25 Mit dem Hinweis auf den klassischen Rhetor der griechischen Antike war für Gottsched zu diesem Zeitpunkt ganz offensichtlich noch das Lipsiae [1767], Nr. 834; das fragliche Exemplar dürfte – wie ein angebundener Titel vermuten läßt – aber erst nach 1734 erworben worden sein. 21 In: Die Vernünftigen Tadlerinnen, Bd. 2, 16 (2. Stück, 11. Januar 1726) erklärte sich Gottsched nur wenig später hinsichtlich der Verstöße Abraham a Sancta Claras gegen das auf der Kanzel gebotene decorum deutlicher: »Abraham von Sancta Clara scheuet sich nicht auf der Cantzel/ die ärgerlichsten Zoten zu reissen. Man lasse dem Papstthume diese Lustigmacher: sonderlich in ernsthaften Materien. Wer wird einem 80jährigen Greisen einen Harlequinsrock anziehen? Aus der Bemühung immer lustig zu schreiben/ entstehet endlich eine Unfl äterey.« In der ersten Aufl age der Ausführlichen Redekunst verglich Gottsched dann die teils »ganz niederträchtige lustige, theils ausschweifend phantastische Art« der lutherischen (Dichter-)Prediger Johann Balthasar Schupp (1610–1661) und Johannes Riemer (1648–1714) »mit dem catholischen Abraham von S. Clara«, einem »geistliche[n] Lustigmacher«; Gottsched: Ausführliche Redekunst, GAW VII/3, 151 (Variantenverzeichnis zu 80, 12). 22 Die konfessionelle Zuordnung ergab sich über den Inhalt der Predigt, die vom heiligen Georg handelte. 23 Gottsched: Die verbesserte Lehrart, 589. 24 Im Anschluß des obigen Zitates hieß es daher bei Gottsched: Die verbesserte Lehrart, 589: »Er wird vielleicht so stark für Gottes Ehre sorgen. / Ach nein! er predigt nur vom Ritter Sanct Georgen«. 25 Fassung von 1724: »Dort tritt Demosthenes auf seine Cantzel hin«; Gottsched: Die grössere und ältere Montägliche Prediger=Gesellschaft, Bl. 2r; so auch im Abdruck bei Sicul III, 741. – Fassung von 1736: »Dort tritt ein andrer Held auf seine Kanzel hin«; Gottsched: Die verbesserte Lehrart, 589.

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Negativbild eines geistlichen Redners im Blick, der durch Leidenschaftlichkeit und Pathos die Gefühle und Affekte der Zuhörer nach seinem Willen erregen und lenken konnte, mithin also zwar neben einem beeindruckenden rhetorischen Talent zugleich aber auch etwas Demagogisch-Wildes, Suggestiv-Affektuöses verkörperte.26 Anders als die barocken Kanzelreder, die das demosthenische »Donnern und Blitzen« 27 hochschätzten, konnte sich Gottsched mit einer solchen Form affektiv-emotionaler persuasio zur Umsetzung der rhetorischen movere-Funktion, für die Demosthenes sinnbildlich stand, nicht anfreunden: Ein (katholischer) »Demosthenes auf der Kanzel«, der mit gewaltigem Gestus und Pathos seine Zuhörer für seine Sache zu gewinnen suchte, indem er die Herzen mittels eines Schwalls von »undeutlich« empfundenen Gefühlsregungen überschwemmte, konnte dem Ideal des jungen Dichters, das sich nach dem Vorbild von Wolffs Philosophie am hellen Licht der Vernunft und nicht an den trüben Quellen des Affektes orientierte, wohl kaum entsprechen.28 Im Sinne der eingangs formulierten Agenda der Kritik bot die dritte Strophe näheren Aufschluß bezüglich eines weiteren Aspektes der als defi zitär vorgestellten römisch-katholischen Barockpredigt. Denn nun wurde ein Tartuffe vorgestellt,29 der – mangels Kenntnis der biblischen Sprachen und folglich unwissend um den wahren Sinn des Predigttextes – sich bei seiner Predigt nicht anders zu helfen wußte, als in mystisch-allegorische Auslegungen zu flüchten. Das eigentliche Problem dieses Predigers war also der Man26 Zum überwiegend negativ besetzten Demosthenes-Bild in Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert (Ausnahme: Predigtkunst!) vgl. die auch Gottsched einbeziehenden Ausführungen bei Schindel: Demosthenes, 42–58. 27 Zu diesem Motiv und seiner Anwendung auf Demosthenes vgl. Schindel: Demosthenes, 48 mit Anm. 4; zur bildlichen Darstellung der »Blitze« als Sinnbild für die rhetorische Erregung von Affekten (im Gegensatz zu Ketten und oder Zaumzeug als Sinnbild für die rhetorisch bewirkte Dämpfung bzw. Zügelung der Affekten) vgl. auch die Darstellung der personifi zierten »Eloquentia Sacra« mit den genannten Insignien in ihrer linken Hand bei Strassberger: Die »Leipziger Predigerkunst«, 162. 28 Innerhalb der darauffolgenden Jahre wandelte Gottsched seine Meinung Demosthenes betreffend gründlich. Bereits in einem 1726 publizierten Text mit Gedanken zum Ideal einer vernünftigen Predigtweise erschien Demosthenes zusammen mit Cicero als Vertreter einer als normativ idealisierten Antike; Die Vernünftigen Tadlerinnen, Bd. 2, 36 f. In seinem 1728 veröffentlichten Grundriß zu einer vernunfftmäßigen Redekunst mehrentheils nach Anleitung der alten Griechen und Römer entworfen figurierte der antike Redner dann gleich mehrfach vorbildhaft (insbesondere durch den Abdruck zweier seiner ins Deutsche übersetzten Reden), wovon auch das dem praktischen Teil des Grundrisses vorangestellte, positiv konnotierte Motto von Martin Opitz zeugte: »Opitz: Hier hat Demosthenes gedonnert und geblitzt«; Gottsched: Grundriß zu einer vernunfftmäßigen Redekunst, 161; vgl. zu Gottscheds Rezeption dieses Ideals auch Grosser: Gottscheds Redeschule, 31. 29 Die konfessionelle Zuordnung ergibt sich hier weniger über den Inhalt der Predigt, die – weitgehend – konfessionsneutral von »Sanct Peters Nachen« handelt. Da aber die übrigen Figuren eindeutig als römisch-katholische Konfessionsvertreter kenntlich sind, ist wohl im vorliegenden Fall ebenfalls an einen solchen zu denken.

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gel an Redestoff, der seinerseits ungenügender Einsicht in die vorzutragende Sache entsprang, ein Punkt, der einmal mehr den Fokus weniger auf Fragen der elocutio richtete (obschon dies auch), als vielmehr ein Problem homiletischer inventio in den Blick nahm.30 Gottsched wandte sich hier der Verletzung des inneren decorum dergestalt zu, daß er, ausgehend von den ihn stark interessierenden sprachlichen Aspekten des Redeaktes, die Allegorie als besonders krassen Verstoß gegen die nach philosophischen Einsichten gebotene res-verba-Entsprechung aufdeckte und dabei rückschließend von der sprachlich-formalen Seite her ein inhaltliches Defi zit im Bereich der materialen Homiletik namhaft machte.31 Denn beim allegorischen Verfahren blieb nach Gottscheds Auffassung der »eigentliche« Inhalt des Predigttextes homiletisch unthematisiert.32 Anstatt den »dunklen« Sinn des Textes durch logische Wort- und Sacherklärungen »aufzuklären«, las der homiletische Allegorist neue Geheimnisse in den durch den sensus historicus hinreichend klar definierten Text hinein 33 und leistete statt Auf klärungs- Verdunklungsarbeit: »Wie herrlich wird so dann der dunkle Satz erklärt! Die eigentliche Kraft der Worte wird verkehrt: Er sucht Geheimnisse, und kan Sanct Peters Nachen, Wem hätte das geträumt? zum Kirchenschiffe machen.« 34

Im Gewand antikatholischer Konfessionspolemik, wie sie sich bei dem überzeugten Lutheraner Gottsched bis zu seinem Tod erhalten wird, wurde in der folgenden Strophe ein weiterer Versuch unternommen, das Problem ho30 P.-A. Alt: Begriffsbilder: Studien zur literarischen Allegorie zwischen Opitz und Schiller, Tübingen 1995, 356: »Der Vorwurf, daß die stilistische Ansammlung von Allegorien Zeichen intellektueller Dürftigkeit sei, durchzieht Gottscheds gesamte Rhetorik«; vgl. auch ebd, 351–372. 31 Bei Gottsched steht – so Alt: Begriffsbilder, 356 f. – »der Allegoriker [. . .] im Verdacht, daß er durch sinnbildliche Opulenz einen Mangel an logischer Stringenz seiner argumentativen Schlußfolgerungen verheimlichen möchte«. 32 Vgl. zum literaturgeschichtlichen Hintergrund P.-A. Alt: Traditionswandel des Allegoriebegriffs zwischen Christian Gryphius und Gottsched, in: Europäische Barock-Rezeption/ in Verbindung mit F. v. Ingen; u. a. hrsg. von K. Garber, Teil I, Wiesbaden 1991, 247–279. 33 Zur homiletischen Relevanz der Lehre vom vierfachen Schriftsinn für die katholische Barockpredigt vgl. M. Neumayr O. M.Cap.: Die Schriftpredigt im Barock: auf Grund der Theorie der katholischen Barockhomiletik, Paderborn 1938, 38–45. Für die anders gelagerte, zwischen einfachem und doppeltem Schriftsinn variierende orthodoxlutherische Lehre (ohne explizite Anwendung auf die homiletische Theorie) vgl. V. Jung: Das Ganze der Heiligen Schrift: Hermeneutik und Schriftauslegung bei Abraham Calov, Stuttgart 1999, 67–74 (Salomon Glass). 110 (Abraham Calov). 128. 34 Gottsched: Die verbesserte Lehrart, 589. – Zur seit der Alten Kirche (nicht nur homiletisch, sondern auch ikonographisch) vielfach beanspruchten Metapher von »St. Petri Schifflein« (der navicella Petri; nach Lk 5,3) als Bild für die Kirche siehe W. Brückner: Lutherische Bekenntnisgemälde des 16. bis 18. Jahrhunderts: die illustrierte Confessio Augustana, Regensburg 2007, 48–53.

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miletischen »Unverstandes« für die Predigt zuzuspitzen. Zu diesem Zweck karikierte Gottsched einen »Herr[n] Superklug«35, dessen Name nicht nur programmatisch die anschließend vorgetragene Kritik vorwegnahm, sondern dessen Tun einmal mehr auf konfessionspolemische Stereotype verwies.36 Las doch dieser Prediger aus den Bibelworten das römisch-katholische Brauchtum in offenkundig unangemessener Weise heraus und rechtfertigte es mit »Textbeweisen«, die einem am Literalsinn interessierten Lutheraner nur als willkürlich und mißbräuchlich erscheinen konnten: Erwähnte die Bibel Salben, so redete dieser Prediger von Chrisam, stand im Text etwas von Opfern, so predigte der »Superkluge« von der Messe, »(u)nd fasten heißt bey ihm, sich satt an Fischen essen« 37. War schon der allegorische Prediger ein Musterbeispiel an theologisch-homiletischem »Unverstand«, um wie viel mehr dann der »superkluge«, der in einem logisch nicht nachvollziehbaren Sprung einer mit klaren Worten bezeichneten Sache einen offenkundig sachfremden Sinn unterschob, um sie in tragender Funktion argumentativ zu beanspruchen. Diesen »papistischen« Mißbräuchen und Verdrehungen stellte Gottsched das protestantische Predigtwesen in Gestalt seines Urahns, Luthers, im Lichte verklärter Reinheit gegenüber. »Das Evangelium ist dieser [sc. der zuvor als töricht vorgeführten] Lehrart feind, Der Schöpfer der Vernunft ist kluger Lehrer Freund, Und Luther, Gottes Knecht, ist unserm Priesterorden, So gar im Predigen ein herrlich Muster worden. Der grosse Mann verwarf so manche Phantasey, Die Kanzel ward durch ihn von tausend Fehlern frey.«38

Mit dieser Passage bekannte sich der junge Dichter zum Standpunkt seiner Kritik, der es ihm ermöglichte, die Mißbräuche als solche zu diagnostizieren und zu denunzieren: Es war dies der Standpunkt der »gesunden« Vernunft. Dort die »unverständige« Redekunst der Katholiken, hier die »vernünftige« Predigtweise Luthers. Der Reformator wurde hier als »homiletischer Aufklärer« und Bahnbrecher eines »vernünftigen« Predigtwesens beansprucht,39 35

Gottsched: Die verbesserte Lehrart, 589. Die Übersetzung von »superklug« konnotierte in ihren lateinischsprachlichen Bezügen einen – für Gottscheds Kritik entscheidenden – Standpunkt, der »über« alles kluge Maß »hinaus«, also jenseits von einem klugen Urteil liegend, agierte. Dies wird auch deutlich an jenem bereits erwähnten lutherischen Kritiker katholischer Barockpredigten, dessen Augenmerk sich auf regelwidrigen Stil und Bibelbehandlung konzentrierte, weswegen er – wie Gottsched – die »›Poetische[n] Grillen‹« und »›hyper-kluge[n] Erfi ndungen‹« anprangerte; beide Zitate nach Eybl: Abraham, 327. 37 Gottsched: Die verbesserte Lehrart, 589. 38 Gottsched: Die verbesserte Lehrart, 590. 39 Zum Gottscheds Beanspruchung Luthers für sein homiletisches Reformprogramm s. u. in Abschn. 2.1 den Exkurs: Die homiletische Lutherdeutung Gottscheds. 36

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der sich seine Inhalte nicht durch die Philosophie des Weisen von Stagir (Aristoteles), sondern allein von der deutschen Bibel reichen ließ.40 Damit waren Bezüge in mehr als nur einer Hinsicht konnotiert: Unter theologisch-konfessionspolemischem Gesichtspunkt wurde damit der Topos des protestantischen sola-scriptura-Prinzips aufgerufen; in philosophischer Perspektive wurde eine antischolastische Spitze vorgetragen, die im Falle Gottscheds als Gegenüber die Wolffsche Philosophie intendierte; in rhetorisch-homiletischer Hinsicht wurde die Deutschsprachigkeit in reformatorischem Gestus programmatisch für die Predigt akzentuiert.41 Als typisch für die Zeit muß dabei grundsätzlich berücksichtigt werden, daß diese theologischen, philosophischen und rhetorisch-poetologischen Aspekte nicht voneinander zu separieren sind, sondern als untrennbare, sich gegenseitig befruchtende und beeinflussende Einheit den Nährboden von Gottscheds Predigtreform und deren kritisches Potential bildeten. Sieht man angesichts dieser weittragenden Bezüge bei der Frage nach der Intention der Zeilen vom kasuellen Aspekt einmal ab und abstrahiert die antikatholischen Aussagen auf ein konfessionsneutrales Niveau, dann drängt sich der Verdacht auf, daß auf dem Hintergrund der einschlägigen Negativerfahrungen mit der herrschenden Orthodoxie Gottsched bei seiner Predigtkritik ein strategisch doppelbödiges Verfahren anwandte. Konnte doch die emphatische Berufung auf Luther und die Ausspielung von dessen »deutscher« Bibel gegen die aristotelische Scholastik ebenso als beschwörender Ruf an die lutherischen Prediger gelesen werden, zu den Anfängen der »Reformation« zurückzukehren und allen »katholischen« (das hieße dann: orthodox-barocken) Tand in der Predigt fallen zu lassen.42 Kaum eines der von 40 Gottsched: Die verbesserte Lehrart, 590: »Der Weise von Stagir muß von dem Pulte weichen, / Mein Luther läßt sich nur die deutsche Bibel reichen.« 41 Der Hinweis auf Luthers Bibelübersetzung gehört in die Tradition der bereits von Leibniz vertretenen und ebenso von Gottsched geteilten Ansicht, daß mit ihr die deutsche Beredsamkeit zu höchster Blüte geführt worden sei; vgl. G. W. Leibniz: Ermahnung an die Teutsche, ihren verstand und sprache beßer zu üben, samt beygefügten vorschlag einer Teutsch-gesinten gesellschaft, in: ders.: Sämtliche Schriften/ hrsg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR, Reihe IV, Bd. 3, Berlin 1986, 814,9–16; mit dieser Ansicht begründete Leibniz ebd, 815,24 f. seine Forderung nach »wiederbringung der Teutschen Beredsamkeit«. Zum Bild Luthers im 17. Jahrhundert als »Meister Teutscher Wolredenheit und beweglicher Zier« ( J. G. Schottel, 1663) vgl. Dyck: Ticht-Kunst, 151–154; von Luthers Verdiensten um die Sprachreform handelte Gottsched ausführlicher in: Die Vernünftigen Tadlerinnen, Bd. 2, 9–16. 42 Gottsched: Die verbesserte Lehrart, 590: »Durch dieses Beyspiels [sc. Luthers] Kraft ist auch das Predigtamt Der Evangelischen entzündt und angefl ammt; Man predigt Gottes Wort, man hasset leere Grillen, Und sucht die Lehren nicht mit Fabeln anzufüllen.« Die beiden letzten Verse nehmen Formulierungen seines Königsberger Poesie-Lehrers Johann Valentin Pietsch auf, der 1721 in einem Gedicht an dem für Gottsched ebenfalls

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Gottsched vorgeführten Beispiele von »Scherz und Unverstand und abgeschmackte[n] Grillen« war zu seiner Zeit allein der römisch-katholischen Predigtpraxis eigentümlich! Die kritisierten homiletischen inventioVerfahren, die Normverstöße gegen das vom Standpunkt einer vernünftigen Philosophie gebotene decorum, die allegorisch-emblematischen elocutioTechniken – all das war ebenso auf den protestantischen Predigtstühlen zuhause. Die ironisch-überlegene konfessionelle Antithese, mit der die homiletische Kritik zur Darstellung gebracht wurde, wäre dann hauptsächlich als Zugeständnis an die kasuellen Verbindlichkeiten zu betrachten, die dem Anlaß des Gedichts geschuldet waren, Verbindlichkeiten, die durch die eigene Mitgliedschaft in der Predigergesellschaft verstärkt wurden.43 Die Frage nach der Schicklichkeit (decorum) und ihre vordergründige Anwendung auf die katholische Barockpredigt – vorzüglich in Gestalt Abraham a Sancta Claras – stand für Gottsched schließlich in erkennbarem Zusammenhang mit seinen ausgeprägten sprachreformerischen Interessen, weswegen er später auch – abweichend von der rhetorischen Tradition – das decorum neben Richtigkeit (puritas), Klarheit (perspicuitas) und notwendigem Schmuck (ornatus) in den Rang einer Sprachtugend erhob.44 Denn die Frage nach dem inneren decorum führte ihn auf rhetorisch-homiletische Fragen von ganz grundsätzlicher Bedeutung. Indem nämlich Sprache von Gottsched im Anschluß an Leibniz philosophisch als Ausdruck des Denkens wahrgenommen wurde,45 ergaben sich auf dieser Ebene zunächst rhetorische, das aptum betreffende Folgerungen,46 die für den Theologen und Prewichtigen homiletischen Lehrer Johann Heinrich Kreuschner gelobt hatte: »Du pflegst die Lehren nicht mit Hülsen dürrer Grillen, / Und deine Predigten mit Fabeln anzufüllen«; J. V. Pietsch: Gesamlete Poetische Schrifften, 186. Die Verse Pietschs bekamen in Gottscheds Vernünftigen Tadlerinnen (1726) leitmotivischen Charakter, indem sie den Ausführungen zu einem geläuterten Predigtideal als Motto vorangestellt wurden (s. u. Abschn. 1.2). 43 Auch D. Döring: Die Leipziger gelehrten Sozietäten, 35 bezweifelt, daß Gottsched in seinem Gedicht die Leipziger Predigergesellschaften als Pfl anzstätten einer adäquaten und zeitgemäßen Predigtkunst betrachtete. 44 Vgl. dazu Ueding/Steinbrink: Grundriß, 132 f. 45 Bei Leibniz fi ndet sich die auch für Gottsched wichtig gewordene Auffassung, daß »die Sprach ein Spiegel des Verstandes« (G. W. Leibniz: Unvorgreifl iche Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der teutschen Sprache, in: ders., Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie/ übersetzt von A. Buchenau, Bd. 2, Hamburg 1966, 519) sei und daher »die rechte Verstandes-Uebung sich fi nde [. . .] vermittelst der Sprache« (ebd, 520); vgl. dazu auch Ueding/Steinbrink: Grundriß, 102. Andreas Gardt bemerkt daher: »Die Vorstellung, daß Denken und Sprache miteinander korrelieren, ist charakteristisch für den Rationalismus der Auf klärungszeit«; A. Gardt: Nation und Sprache in der Zeit der Auf klärung, in: Nation und Sprache: die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart/ hrsg. von dems., Berlin; New York 2000, 177; zur Sprachphilosophie Leibniz’ und Gottscheds vgl. zusammenfassend ebd, 177–183 (Leibniz). 184–188 (Gottsched). 46 G. E. Grimm: Von der ›politischen‹ Oratorie zur ›philosophischen‹ Redekunst:

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diger Gottsched aber auch ganz selbstverständlich homiletisch relevant wurden.47 Auf klärung über Sprache (Sprachreform) induzierte in seiner Perspektive notwendig die Auf klärung des Verstandes (Denkreform), wie auch umgekehrt Verstandesauf klärung die Auf-Klärung von Sprache im Sinne verständlicher Begriffs- und Sach(er)klärungen erforderte.48 Damit war bei Gottsched das organisierende Prinzip aller weiteren wissenschaftlichen, schöngeistigen und populären Auf klärungsbemühungen bereits zu dieser Zeit im Kern ausgeformt. Erste Versuche in der Neubestimmung des Kanzeldecorum waren dabei – darauf ist abschließend kurz hinzuweisen – freilich schon vor Gottsched, aber unter anderen philosophischen und theologischen Voraussetzungen, z. B. durch die von Christian Thomasius’ Klugheitslehre49 beeinflußte (vorwiegend pietistische) Predigttheorie, angegangen worden.50 Gottsched kam jedoch bekanntlich aus der rationalistischen Schule Leibniz’ und Wolffs und Wandlungen der deutschen Rhetorik in der Frühauf klärung, in: Rhetorik: ein internationales Jahrbuch 3 (1983), 67 notiert dazu: »Gegenüber dem gesellschaftlichen Richtmaß des äußeren aptum rückt zu Beginn des 18. Jahrhunderts das sachliche Kriterium des inneren aptum in den Vordergrund – ein Resultat der Wissenschaftsentwicklung einerseits und der Gesellschaftsumstrukturierung andererseits. Naturwissenschaften und Philosophie, insbesondere Mathematik und Logik, fundierten die Wesensbestimmung der Rhetorik [. . .]«; vgl. auch ebd, 76 zur »Aufwertung des inneren gegenüber dem äußeren aptum« in der Rhetorik des Johann Andreas Fabricius. 47 Leibniz: Unvorgreifl iche Gedanken, 526 hatte die Predigt in seine 1717 publizierten Reformüberlegungen zur deutschen Sprache ausdrücklich einbezogen, wenn er schrieb: »Anitzo scheinet es, daß bey uns übel ärger worden und hat der Mischmasch abscheulich überhand genommen, also daß die Prediger auf der Canzel, der Sachwalter auf der Canzley, der Bürgersmann im Schreiben und Reden, mit erbärmlichen Französischen sein Teutsches verderbet [. . .].« 48 Vgl. beispielsweise Leibniz: Ermahnung an die Teutsche, 815,11–14: »Dann wie obgedacht, so ist die Sprache ein rechter Spiegel des Verstandes und daher vor gewiß zu halten, daß wo man ins gemein wohl zu schreiben anfänget, daß alda auch der Verstand gleichsam wohlfeil und zu einer currenten wahre worden.« Dabei wollte er die Reformforderungen ebd, 815,20–23 »nicht nur von der reinigkeit der worthe, sondern von den arthen der Vernunfftschlüsse, den erfi ndungen, der wahl, der eigentlichen deutlichkeit, der selbstwachsenden Zierde und summa der ganzen einrichtung der Rede [. . .] verstanden haben: wobey es uns allenthalben mangelt«. 49 Ch. Thomasius: Kurtzer Entwurf der Politischen Klugheit (1707), Hildesheim u. a. 2002, 6 defi nierte die Klugheit in antirationalistischer Pointierung wie folgt: »Und also ist der Grund der Weißheit und Klugheit nicht so wohl im Gehirne oder Verstande/ als in dem Hertzen oder Willen zu suchen«; zur Klugheitslehre des Thomasius siehe u. a. W. Schneiders: Thomasius politicus: einige Bemerkungen über Staatskunst und Privatpolitik in der auf klärerischen Klugheitslehre, in: Zentren der Auf klärung I, 91–109; zu Thomasius’ Ablehnung der Regeln der Schulrhetorik zugunsten einer natürlichen »Affekt-Rhetorik« vgl. D. Till: Transformationen der Rhetorik: Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 2004, 277–296. 50 So z. B. A. Rechenberg: Schediasma de prudentia et decoro ecclesiasten in suggestu decente, Leipzig 1715; vgl. zu dieser Schrift Schuler: Geschichte, Tl. 2, 77; Schian: Orthodoxie und Pietismus, 105 f. – Die bedeutendste homiletische Applikation des Klugheitsbegriffs legte der pietistisch beeinflußte, philosophisch dem Eklektizismus der Bud-

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knüpfte deswegen nicht an diese Tradition an. So zielgerichtet sich Gottsched also bei seiner homiletischen Kritik auf die sprachliche Form (im Zeichen der durch Thomasius angeregten und von Leibniz aufgegriffenen deutschsprachlichen Reformbemühungen) konzentrierte,51 und es ihm also scheinbar vordergründig »nur« um die »richtige Sprache« ging, so wenig darf aus dem Auge verloren werden, daß beim inneren decorum sich das eigentliche Anliegen auf das »richtige Denken« richtete.52 Dies veranschaulichte Gottsched in seinem Gedicht in immer neuen, oft nur leicht variierten Anläufen. Mit der vorgetragenen Kritik verschaffte sich demnach eine nicht mehr vermittelbare Kluft von Gottscheds (implizit vorgetragenem) Predigtideal zu barockhomiletischen Auffassungen unüberhörbar Ausdruck. Undeutlich ist angesichts dieser Zusammenhänge, ob sein gegen die Predigtpraxis in den eigenen Reihen versteckt unternommener Ausfall von Zeitgenossen wahrgenommen und erkannt wurde. Christoph Ernst Sicul, ein zeitgenössischer Chronist der Jubelfeierlichkeiten des einhundertjährigen Bestehens des Montägigen Predigerkollegiums, notierte zwei Glückwunschcarmina, die bei dieser Gelegenheit im Druck erschienen waren: deus-Schule verpfl ichtete Friedrich Andreas Hallbauer mit seiner Klugheit erbaulich zu predigen ( Jena 1723 51747) vor. 51 Auf dieser Linie bereits Gottsched: Die verbesserte Lehrart, 590 (Hervorhebung A. S.): »Der Weise von Stagir muß von dem Pulte weichen, / Mein Luther läßt sich nur die deutsche Bibel reichen«. Im wenig später abgefaßten Aufsatz zu Predigtreform forderte er von einem Prediger dann nicht nur »eine gründliche Erkenntnis in der Weltweisheit, eine grosse Wissenschaft in der Gottesgelehrsamkeit [und] eine rechtschaffene Frömmigkeit«, sondern auch »eine treffl iche teutsche Beredsamkeit«; Die Vernünftigen Tadlerinnen, Bd. 2, 35 f. (Hervorhebung A. S.). – Die erste deutschsprachige Homiletik legte nach derzeitigem Kenntnisstand im übrigen ausgerechnet ein Vertreter der von Gottsched so heftig kritisierten »Leipziger Predigerkunst« vor: G. Steinbrecher: Concionator TheoreticoPhilologico-Practicus Oder Leipziger Prediger=Kunst [. . .] Und itzo zum andern mal vermehrt / verbessert und zum Druck befördert, Leipzig 1697 [EA 1696]. – Demgegenüber ist wiederholt der Wolffi aner Ernst Christian Simonetti mit einer 1742 erschienenen (aber fälschlich auf 1712 datierten) Homiletik als der Erste behauptet worden: L. Fischer: Gebundene Rede: Dichtung und Rhetorik in der literarischen Theorie des Barock in Deutschland, Tübingen 1968, 16 in Anm. 36; W. Barner: Barockrhetorik: Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen, Tübingen 22002, 160 in Anm. 71; W. Hinderer: Über deutsche Rhetorik und Beredsamkeit: eine Einführung, in: Deutsche Reden, Teil 1: Von Berthold von Regensburg bis Ludwig Uhland/ hrsg. von dems., Stuttgart [1973] 1981, 27. Von hier ausgehend fand die unzutreffende Angabe Aufnahme bei H. M. Müller: Homiletik, TRE 15, 562 in Anm. 9; J. Engels: Genera causarum, HWRh 3 (1996), 717. Vgl. dazu auch Strassberger: Die »Leipziger Predigerkunst«, 201 f. mit Anm. 154. 52 In der Barockpoetik waren nach Fischer: Gebundene Rede, 228 »die Worte mehr als nur signa rerum, sie sind Verlebendigung der Dinge in der Sprache«; Gottsched dagegen ging auf einen nominalistischen Standpunkt zurück, der für die Sprache der Predigt entsprechende Auswirkungen hatte. Erhellend zum Verständnis des Gegensatzes von auf klärerischem und barockem Predigtansatz in diesem Zusammenhang auch M. Windfuhr: Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker: Stilhaltungen in der deutschen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1966.

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eines aus der Feder des ehemaligen Kollegiumsmitgliedes Johann Matthäus Wagners, eines Pfarrers zu Weißenschirmbach und Grockstädt im Merseburger Land, ein anderes von einen gewissen Magister Johann Christoph Gottsched, das dieser – wie er mitteilte – unter der Aufsicht des berühmten Mencke angefertigt habe. Während Sicul im Falle des dichtenden Dorfpfarrers lediglich die zwei Schlußzeilen des Gedichts zitierte, in denen der Dorfgeistliche sich für seine etwas holpernden Verse entschuldigte und das kritische Publikum um Nachsicht bat, äußerte der Berichterstatter bei Gott scheds Carmen – dessen Abdruck rechtfertigend – die Ansicht, daß es »diesen Jubel=Actis gantz einverleibt zu werden verdienet« 53. Was war der Grund für diese Ehre? Hielt Sicul die sprachliche Gestaltung der Zeilen für vorbildlich? Wollte er vielleicht dem Ansehen des berühmten Mencke Tribut zollen, der als Mentor des in Leipzig noch weitgehend unbekannten Gottsched hinter den Zeilen stand? Oder war Sicul die inversiv vorgetragene Kritik am Predigtwesen der lutherischen Orthodoxie aufgefallen, die er – allzumal in der Heimstätte der »Leipziger Predigerkunst« 54 – einem breiteren Publikum bekannt machen wollte? Über die Antworten auf diese Fragen läßt sich nur spekulieren. 1.2 Die Priorität des Denkens vor dem sprachlichen Ausdruck: ein Beitrag in den »Vernünftigen Tadlerinnen« (1726) Knapp anderthalb Jahre nach seiner ersten Stellungnahme zur zeitgenössischen Predigt wurde die Kritik des sechsundzwanzigjährigen Gottsched am eingeführten Predigtwesen konkreter. Ohne Rücksicht auf kasuelle Rahmenbedingungen propagierte er die Idee einer Predigtreform innerhalb der lutherischen Kirche nun offen. Im Kern wurde das bislang mehr angedeutete als klar formulierte Zentrum seiner homiletischen Auf klärungsbemühungen unverstellt thematisiert: Bei einer Predigt sollte der Klarheit des Gedankens (res) der Vorzug vor dessen sprachlicher Einkleidung (verba) eingeräumt werden, und das decorum hatte darauf regulierend hinzuwirken. Der entsprechende publizistische Vorstoß erfolgte diesmal an einer Stelle von ungleich größerer Öffentlichkeit. In der äußerst erfolgreichen moralischen Wochschrift des jungen Literaten, den Vernünftigen Tadlerinnen,55 wid53

Sicul III, 740. Vgl. dazu ausführlich Strassberger: Die »Leipziger Predigerkunst« . . ., 162–218. 55 Zur Behandlung von Predigtliteratur in den Vernünftigen Tadlerinnen unter spezifi sch germanistischem Gesichtspunkt vgl. E. Gühne: Gottscheds Literaturkritik in den »Vernünftigen Tadlerinnen« (1725/26), Stuttgart 1978, 262–268; vgl. auch die knappe Erwähnung des Textes bei Reichel: Gottsched, Bd. 2, 85 f., der einmal mehr seiner »GottschedManie« aufsitzt und den mehr oder weniger neutralen Hinweis Gottscheds, daß man in Predigten wie in weltlichen Reden auf drei Stücke sehen müsse (auf die Materie, die Aus54

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mete sich am 8. Februar 1726 eine ganze Nummer dem Ideal einer Predigt, die dem gewandelten Geschmack der Zeit Rechnung trug.56 Die kleine Abhandlung stand dabei unter einem Motto des für Gottsched wichtigen Königsberger Lehrers der Poesie, Johann Valentin Pietsch, in dem dieser dem von Gottsched ebenfalls hochgeschätzten Professor an der Albertina Johann Heinrich Kreuschner das Lob zollte: »Du pflegst dein Lehren nicht mit Hülsen dürrer Grillen / Noch deine Predigten mit Fabeln anzufüllen.«57 Damit war die Richtung der nachfolgenden Ausführungen vorgezeichnet: Der Fokus wurde einmal mehr auf die res-verba-Relation gerichtet, wobei ganz im Gefälle jenes Gedichts zur Zentenarfeier des Montägigen Predigerkollegiums die als sprachlich unangemessen empfundene Form (Sprach-»Hülsen«) des Kanzelvortrages als Folge eines Mangels an geistigem Gehalt (»dürre Grillen«, »Fabeln«) 58 diagnostiziert wurde. Ein – keineswegs origineller, von orthodoxer und pietistischer Predigttheorie stets vorausgesetzter, aber anders eingelöster – Zusammenhang von formaler und materialer Homiletik 59 wurde damit in dezidiert auf klärerischer Akzentuierung behauptet. Entsprechend dem plaudernd-unterhaltsamen Stil der Zeitschrift eröffnete Gottsched die Ausführungen mit einem persönlichen Bekenntnis: »So groß die Ehrerbietung ist, die ich gegen alle geistliche Lehrer unserer Vaterstadt hege: so sehr ergetze ich mich; wenn ich einen gewissen Gottesgelehrten von unsrer hohen Schule predigen höre.« 60 Am Vortrag dieses ungenannten Predigers (der aller Wahrscheinlichkeit nach seinen Königsberger Lehrer Johann Heinrich Kreuschner meinte) 61 habe er, Gottsched, einige führung und den Vortrag) für absolut bahnbrechend hält. Diese Sicht verrät den rhetorikgeschichtlichen Unverstand Reichels. 56 Die Vernünftigen Tadlerinnen, Bd. 2, 33–40 (5. Stück, Freytags, den 8. Februar 1726). – Der Beitrag ist mit dem Pseudonym »Phyllis« gezeichnet. Dieses Pseudonym wurde bis zum Streit unter den Mitarbeitern der Tadlerinnen, der zur Trennung im Juni 1725 führte, von Johann Friedrich May geführt. Gottsched, der danach den Inhalt der Zeitschrift allein bestritt, benutzte alle einmal eingeführten Pseudonyme weiter. 57 Die Vernünftigen Tadlerinnen, Bd. 2, 33. – Die Verse entnahm Gottsched (wie oben in Anm. 42 erwähnt) leicht variiert einem Gedicht Pietschs auf die Hochzeit Kreuschners, abgedruckt in dem von Gottsched selbst herausgegebenen Band: Pietsch: Gesamlete Poetische Schrifften, 186: »Du pflegst die Lehren nicht mit Hülsen dürrer Grillen, / Und deine Predigten mit Fabeln anzufüllen«. 58 Erdmann Neumeister hatte – wie oben in Anm. 20 zitiert – von Abraham a Sancta Clara kolportiert, er würde oft scherzhaft »Pater Fabian und Fablian« genannt, »wegen der Fabeln, die er auf der Kanzel oft herausschwatzt«; Neumeister: De Poetis, 154 (Übersetzung G. Merwald). 59 Vgl. zu diesem in der Mitte des 19. Jahrhunderts ausformulierten, allerdings auf die Auf klärungshomiletik zurückgehenden Gliederungsschema H. M. Müller: Homiletik, TRE 15, 526–561. 60 Die Vernünftigen Tadlerinnen, Bd. 2, 33. 61 Darauf wies bereits das den Ausführungen vorangestellte Motto hin; zu Kreuschners Einfluß auf Gottsched s. o. nochmals in Kap. 1, Abschn. 1.1.

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musterhafte Tugenden wahrgenommen, die seines Erachtens für jede Predigt Gültigkeit hätten. Diese verteilten sich auf drei Teile des Predigtaktes (wie im übrigen jeder Rede): die Materie (bzw. deren inventio), die Ausführung (bzw. die dispositio) und den Vortrag (d. h. elocutio/elaboratio und pronuntiatio).62 »In allen dreyen«, so bemerkte Gottsched in Gestalt der vernünftigen Tadlerin Phyllis, »verdienet mehrerwehnter Gottesgelehrte einen besondern Ruhm.« 63 (1.) Betreffend der Materie der Predigten lobte Gottsched zunächst die vorbildliche Wahl (inventio) des zu predigenden Lehrsatzes (propositio, Predigtthema). Denn dieser wäre allemal – ein Hinweis auf sachgemäße Beobachtung des äußeren decorum – so beschaffen, »daß weder im Absehen auf seine Zuhörer, noch in Betrachtung der Zeit, und des Ortes, noch« – womit sich Gottsched dem inneren decorum zuwandte – »endlich auch in Ansehung seiner selbst, das geringste dabey zu erinnern ist« 64. Weiterhin das decorum im Blick lobte er, daß die gewählten Lehrsätze weder zu »gemein« 65 noch zu gelehrt, weder zu leicht noch zu schwer für die Gemeinde seien. Schließlich komme auch kein für das Heil der Zuhörer notwendiger Punkt in der Predigt zu kurz: »Er [sc. der vorbildliche Prediger; A. S.] weiß die Glaubenslehren und Glaubenspfl ichten so geschickt abzuwechseln, daß keinem von beyden ein Eintrag geschiehet.« 66 Zuletzt rühmte Gottsched die Scharfsinnigkeit des Predigers,67 die zu unerwarteten und ungewöhnlichen Einsichten führe und damit den Predigten »ein gantz neues Ansehen«68 gebe. 62 Den Hintergrund dieser Ausführungen bildeten die in der Rhetorik üblichen fünf Bearbeitungsphasen (partes rhetoricae) einer Rede (inventio, dispositio, elocutio, memoria, pronuntiatio/actio), die auf die Predigt Anwendung fanden. Das Stichwort der »Materie« thematisierte dabei die inventio, die sich homiletisch sowohl auf die Gewinnung der Predigtdisposition (bestehend aus Hauptsatz (propositio) und deren Unterteilungen (partitio/divisio) erstreckte. Daran anschließend problematisierte Gottsched unter dispositio-Gesichtspunkten die »Ausführung« (explicatio, tractatio) des Predigtthemas einschließlich der für den Hauptsatz bzw. dessen Unterteilungen aufzubringenden Beweisgründe (argumentatio, probatio). Zuletzt widmete er sich unter dem Stichwort des »Vortrags« der elocutio und pronuntiatio als zwei getrennten, unter dem Gesichtspunkt des decorum für ihn jedoch eng zusammenhängenden Aspekten des rhetorischen Produktionsprozesses. Auf separate Überlegungen zur memoria verzichtete er. 63 Die Vernünftigen Tadlerinnen, Bd. 2, 33. 64 Die Vernünftigen Tadlerinnen, Bd. 2, 34. – Dieses Zitat illustriert, daß die Frage nach dem aptum/decorum nicht nur im Bereich der elocutio eine Rolle spielte, sondern auch in der inventio seinen Ort hatte. Anders gesagt: Innerhalb der partes rhetorices mußten die Wechselbeziehungen von decorum internum und externum bei jeder Bearbeitungsstufe im Blick des Redners sein. 65 Bei Gottsched im Sinne von »volkstümlich«, »niedrig«. 66 Die Vernünftigen Tadlerinnen, Bd. 2, 34. 67 Die Vernünftigen Tadlerinnen, Bd. 2, 34: »Seine Scharfsinnigkeit weiß aus den Sprüchen heiliger Schrift solche Folgerungen herzuleiten, die nicht einem jeden in den Sinn kommen [. . .].« – Während die barocke Rhetorik das Ideal der Scharfsinnigkeit (argutia) in Beziehung zum ingenium setzte (d. h. als Qualitätsmerkmal von Einfallsreich-

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(2.) Hinsichtlich der Ausführung (tractatio, explicatio) der Predigten gedachten Predigers wußte Gottsched eine Vielzahl von lobwürdigen Vorzügen aufzuzählen.69 Zunächst formulierte er negativ: kein Eingehen auf unnütze historische Details, keine willkürliche Auf häufung von biblischen Testimonien, keine Wortspielereien, keine »Scheingründe«.70 Stattdessen komme der Prediger durch ordentlichen Zusammenhang der Unterteilungen (partitio, divisio) und gründlichen Erweis (argumentatio, probatio) derselben zur deutlichen Erklärung (narratio, explicatio) des Hauptsatzes (propositio).71 Das alles wiederum könne nur als Ergebnis »einer vorhergegangenen reiffen Uberlegung und langem Nachsinnen«72 , d. h. einer entsprechend gehaltvollen Predigtmeditation, gewertet werden. Ganz Ähnliches hatte im übrigen kurze Zeit zuvor der noch unter August Hermann Francke in Halle ausgebildete, theologisch und philosophisch dem Buddeschen Eklektizismus verpfl ichtete Jenenser Kampfgenosse Gottscheds, Friedrich Andreas Hallbauer (1692–1750),73 angemahnt. Der stellte anläßlich seiner erstmals 1723 publizierten Homiletik ein von orthodoxer »Pedanterey«74 gereinigtes Predigtideal vor, das im Anschluß an die Thomasische decorum- und Klugheitslehre ihr spezielles Profi l erhielt.75 Zusammen 68

tum), faßte Gottsched demgegenüber in auf klärungsspezifi scher Antithese die Scharfsinnigkeit als Eigenschaft eines vernünftigen, rational geläuterten iudicium auf; vgl. J. Engels: Ingenium, HWRh 4 (1998), 413. In diesem Sinne ist Gottscheds Lob der Scharfsinnigkeit als Ausdruck überzeugender Urteilskraft zu verstehen. Zum barocken argutia-Ideal vgl. auch V. Kapp: Argutia-Bewegung, HWRh 1 (1992), 991–998; J. Knape: Barock: 1. Deutschland, HWRh 1 (1992), 1304–1306. 1326 f. (zur concetti-Predigt). 68 Die Vernünftigen Tadlerinnen, Bd. 2, 34. 69 Zum Folgenden siehe Die Vernünftigen Tadlerinnen, Bd. 2, 34 f. 70 Zur Topologie von Gottscheds Kritik an barocker Predigt s. u. Abschn. 1.4. 71 Die Vernünftigen Tadlerinnen, Bd. 2, 34: Der Prediger »erkläret seine Sätze deutlich; er verbindet sie ordentlich, und erweiset sie gründlich«. 72 Die Vernünftigen Tadlerinnen, Bd. 2, 34. 73 Zu Hallbauer, der in Halle ausgebildet worden war und in Jena zunächst an der Philosophischen Fakultät als Adjunkt (1721), dann als Professor eloquentiae et poeseos (1731), ab 1738 schließlich als außerordentlicher und seit 1740 endlich als ordentlicher Professor der Theologie lehrte, siehe ADB 10 (1879), 415 f.; K. Heussi: Geschichte der theologischen Fakultät zu Jena, Weimar 1954, 152 f. 74 Zum kritischen Potential des Pedanterievorwurfs vgl. W. Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat: Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters, Tübingen 1982, 423–437. 75 F. A. Hallbauer: Nöthiger Unterricht zur Klugheit erbaulich zu Predigen, zu Catechisiren und andere geistliche Reden zu halten. Nebst einer Vorrede von der Homiletischen Pedanterey, Jena 51747, Bl. )(2v-3r (Hervorhebungen A. S.) hatte in seiner auf den 18. September 1723 datierten, zeitgenössisch vielbeachteten Vorrede – die selbständig zu leistende Predigtmeditation in die Mitte der Predigtvorbereitung einrückend – programmatisch erklärt: »Eine gute Rede muß das vorgesetzte Thema gründlich ausführen, ordentlich abhandeln, und alles nach den gegenwärtigen Umständen der Zuhörer, sowohl in Absicht der Worte, als der Sachen richten. Dazu ist nicht weniger Klugheit als Nachsinnen nöthig. Die Meditation ist also das Hauptwerck bey der Beredsamkeit: nächst dieser

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mit Hallbauer forderte Gottsched für die meditatio der Predigt den Vorrang eigenständigen Nachdenkens vor einem verselbständigten Interesse am sprachlichen Ausdruck ein.76 Dafür gab er die für barocke (geistliche) Rede gültige sprachphilosophische Grundlage auf, wonach Wörter als Abbildungen von Objektivitäten behandelt wurden, die sich im Sprachakt verlebendigten.77 Der Herausgeber der Tadlerinnen verstand Sprache vielmehr als Ausdruck individuell-eigenständigen Denkens, das seine Mitte im cartesianischen Cogito hatte.78 Damit war das Leitmotiv der antibarocken Kritik der frühen Auf klärungsrhetoriker benannt: der Vorwurf des Fehlens einer gründlichen Denkschulung verbunden mit der daraus resultierenden Einforderung des Primats der Dialektik bzw. Logik in der (geistlichen) Redekunst.79 Aus diesem Grund versah Hallbauer auch ein homiletisches Spezialwerk, das auf über 400 Oktavseiten eine auf Applikation zielende Predigtmeditation zum Gegenstand der Untersuchung hatte, mit einer Vorrede, in der er die Ausbeutung fremder Predigten für die eigene Predigt unter dem Kampf begriff der »Postillenreiterei« verurteilte.80 kommt der Vortrag, welcher so eingerichtet werden muß, daß er, was die Meditation an die Hand gibt, andern auf nützliche Art mittheile. Die Meditation setzt zum voraus, daß man das gründlich verstehe, wovon man reden will; der Vortrag, daß man der Sprache mächtig sey, in welcher man redet. Die Klugheit muß bey beyden der beständige Leitstern seyn. Also hat die homiletische Pedanterey ihren Ursprung aus der Unwissenheit, aus der Unterlassung der Meditation, und aus dem Mangel der Klugheit: wie wohl auch Hochmuth und Einbildung zu solcher vieles beytragen«; zu Hallbauers Homiletik vgl. Schian: Orthodoxie und Pietismus, 50–52. 127 f.; sowie – mit jedoch nur begrenztem Erkenntnisgewinn – Lischka: Johann Jacob Rambach, passim. Zu Hallbauers rhetorischen Bemühungen, die, wie bei Gottsched, im Zeichen der literarischen Frühauf klärung standen, vgl. M. Wychgram: Quintilian in der deutschen und französischen Literatur des Barocks und der Auf klärung, Langensalza 1921, 60–65; U. Stötzer: Deutsche Redekunst im 17. und 18. Jahrhundert, Halle 1962, 86–89; U. Geitner: Die Sprache der Verstellung: Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1992, 171–191; zu Hallbauers Kritik an »allegorischer Dunkelheit« in seinem rhetorischen und dem homiletischen Lehrbuch vgl. Alt: Traditionswandel, 271. 76 Prägnant Barner: Barockrhetorik, 320: »Die Priorität des Denkens gegenüber der formalen Ausgestaltung der Rede – das war die Grundforderung der Rhetoriker der frühen Auf klärung gewesen, von Fabricius über Hallbauer bis zu ihrem Wortführer Gottsched.« 77 Vgl. zu den rhetoriktheoretischen, poetologischen und sprachphilosophischen Hintergründen dieser Ansicht Fischer: Gebundene Rede, 214–252; auf die Barockpredigt zutreffend ist seine ebd, 223 geäußerte Ansicht: »Angemessen ist jetzt nicht mehr vor allem die Wahl der richtigen Stilebene, das Berücksichtigen des Wertes der Dinge, sondern die Vergegenwärtigung im Wort.« 78 Vgl. zum Zusammenhängen von philosophischen Denken und rhetorischem Ausdruck Ueding/Steinbrink: Grundriß, 100; G. Ueding: Rhetorik und Popularphilosophie, in: Rhetorik: ein internationales Jahrbuch 1 (1980), 122–134; zu Gottsched ebd, 129 f. 79 Vgl. Barner: Barockrhetorik, 246 f. mit Anm. 26. 80 F. A. Hallbauer: Vorrede Von dem Schaden der so gemeinen Postillen=Reiterey, in: Christian Neudecker: Versuch einer Anweisung zur Meditatio Homiletica, Vermittelst

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Wie das leitmotivische Eingangszitat bereits angedeutet hatte, wurde der res-verba-Zusammenhang von Gottsched auf diese neue Perspektive hin ausgerichtet und kritisch gegen die etablierten rhetorisch-homiletischen Produktionsverfahren der orthodoxen Predigt fruchtbar gemacht. Dementsprechend richtete sich sein Interesse auch besonders auf das Moment der formal-argumentativen Durchsichtigkeit und Klarheit von Kreuschners Predigten, die entsprechend dem dahinterstehenden erkenntnistheoretischem Modell als Ausdruck einer Klarheit des Denkens aufgefaßt wurden, das sich in einer deutlichen, zeichenrelational gesehen: eindeutigen, Sprache mitteilte.81 Dies bedeutete aber auch, daß das die Logik Wolffs kennzeichnende Prinzip der mathematischen oder demonstrativen Methode, nach der nichts vorauszusetzen war, was nicht erklärt wurde, »als Bedingung tragfähiger Terminologie ein Grundsatz der demonstrativischen Schreibart« 82 wurde und von dort Anwendung auf die Predigt fand. Eine vernünftige, rational (nicht pathetisch-emotional), begriffsorientiert geleitete Überzeugung (persuasio) welcher, der in einer jedweden Stelle Heiliger Schrifft bereits gefundene wahre Verstand/ auf eine gantz deutliche und leichte Art, durch häuffige, ordentlicher Weise, darausfl iessende Schlüsse, gehörig zur Erbauung angewendet werden kan, Mithin bey allen biblischen Texten Gelegenheit und Materie genug an die Hand gegeben wird, in einer jedweden Predigt, nützliche Sachen abzuhandeln, und im Gegentheil, allen unnöthigen und vergeblichen Vortrag darinnen zu vermeiden, Jena 1726, Bl. a6r-b4r; Titel nach Dyck/ Sandstede: Quellenbibliographie, Nr. 1726/24, da dem von mir benutzten Exemplar der Forschungsbibliothek Gotha das Titelblatt fehlte. 81 Gottsched brachte das Stichwort der »Klarheit/Deutlichkeit« (perspicuitas) im Zuge einer mit Descartes eingeleiteten, durch Leibniz aufgegriffenen und von Wolff zugespitzten Engführung ein, indem von ihm »Klarheit« einseitig auf die logisch-diskursive Qualität der perspicuitas im erkenntnistheoretischen Sinn bezogen und mit »Deutlichkeit« wiedergegeben wurde. So hieß es bei Leibniz dazu: »Est cognitio vel obscura, vel clara, et clara rursus vel confusa, vel distincta« (Die Erkenntnis ist entweder verworren oder klar und die klare Erkenntnis wiederum entweder verworren oder deutlich); zit. bei B. Asmuth: Perspicuitas, HWRh 6 (2003), 856. Der »Deutlichkeit« eignete demnach eine vollkommenere Art der Klarheit gegenüber der sinnlichen Erkenntnis, die zwar auch zur Gattung der klaren Erkenntnis gehört, deren spezifi sches Charakteristikum jedoch die Verworrenheit (nicht in unserem heutigen Sinn!) ist. Nach Asmuth ebd, 862 »(erweist sich) ›Deutlichkeit‹ (. . .) so als kritischer Begriff, mit dem Gottsched sich von der höfi sch orientierten Barockdichtung abwendet«. – Zum Problemzusammenhang vgl. insgesamt ebd, 852–868 (Aufklärung); G. Gabriel: Klar und deutlich, HWP 4 (1996), 846–848; O. Reichmann: Die Konzepte von ›Deutlichkeit‹ und ›Eindeutigkeit‹ in der rationalistischen Sprachtheorie des 18. Jahrhunderts, in: Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen: Gegenstände, Methoden, Theorien/ hrsg. von A. Gardt; u. a., Tübingen 1995, 169–197; O. Reichmann: Deutlichkeit in der Sprachtheorie des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Verborum Amor: Studien zur Geschichte und Kunst der deutschen Sprache. Festschrift für Stefan Sonderegger zum 65. Geburtstag/ hrsg. von Harald Burger; u. a., Berlin; New York 1992, 448–480. 82 U. Ricken: Sprachtheoretische Positionen und Entwicklungen in der deutschen Auf klärung, in: Sprachtheorie und Weltanschauung in der europäischen Auf klärung: zur Geschichte der Sprachtheorien des 18. Jahrhunderts und ihrer europäischen Rezeption nach der Französischen Revolution/ hrsg. von dems. in Zusammenarbeit mit P. Bergheaud; u. a., Berlin 1990, 215.

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des als mündig gedachten und mit der Fähigkeit zu abstrakt-begriffsorientiertem Denken ausgestatteten Zuhörers wurde darauf auf bauend zum Hauptkriterium einer Predigt erklärt.83 Für die in ihr vorkommenden Beweise würden dann aber solche Schlüsse erfordert, »die vor dem Richtstuhl der richtigsten Vernunftlehre die schärfeste Probe aushalten« 84. Und im Hinblick auf das neben der Vermittlung von Glaubenslehren zweite grundlegende genus einer Predigt (die in Predigten vorzunehmende Ermahnung zur Tugend bzw. die Warnung vor Lastern) 85 wurden von ihm psychologische Kenntnisse als unentbehrlich für eine wirkungsvolle Rede betont.86 Damit wurde ein weiterer Unterschied zu vorgängigen orthodox-barocken und pietistischen Predigtkonzepten aufgewiesen, wo man zwar auch in erheblichem Maße psychologische Rücksichten nahm, dies jedoch abermals unter gänzlich anderen Vorzeichen. Alles in allem kam es Gottsched mit seiner Laudatio von Kreuschners Predigten darauf an, ein nach seiner Meinung vernachlässigtes homiletisches Prinzip in Erinnerung zu rufen, nämlich »daß die Vernunft vor sich dem Wort 87 [Gottes] die Kraft nicht benehme« 88. Anders gesprochen: Vernunft und Offenbarung sollten im Produktionsprozeß der Predigt hinsichtlich ihrer sprachlichen Darstellung zusammengeführt werden, ohne dass dabei dem theologischen Mehrwert der Offenbarungsurkunde Eintrag geschehen sollte.89 Für die docere-Funktion der Predigt sollte der Prediger sich 83 Das dabei leitende argumentativ-persuasive Interesse Gottscheds veranschaulicht folgende Bemerkung: Die Vernünftigen Tadlerinnen, Bd. 2, 34: »Ja er [sc. der vorbildliche Prediger] überzeuget auch seine Zuhörer von der Wahrheit seiner Lehren so, daß sich ein jeder genöthiget siehet, seinen Worten Recht zu geben.« 84 Die Vernünftigen Tadlerinnen, Bd. 2, 34. 85 Zum rhetorisch-homiletischen Fünf-genera-Schema in der Orthodoxie auf der Basis von Hülsemanns Methodus concionandi vgl. die (erweiterungsfähigen) Ausführungen bei S. Grosse: Gott und das Leid in den Liedern Paul Gerhards, Göttingen 2001, 83–90; zur homiletischen Verwendung der rhetorischen genera/offi cia-Lehre siehe Kreslins: Dominus narrabit, 108–112. 86 In Die Vernünftigen Tadlerinnen, Bd. 2, 35 äußerte Gottsched die Ansicht, daß die Ermahnungen eines guten Predigers nur dann ins Herz treffen könnten, wenn »er die Natur der menschlichen Seelen, die Kräfte des Verstandes, und die Art und Weise versteht, wie man den Willen durch nachdrückliche Bewegungsgründe lencken und regieren kan«. 87 Im Zusammenhang mit seiner Kritik an Allegorien hatte Gottsched: Die verbesserte Lehrart, 589 – den Literalsinn der Heiligen Schrift betonend – geäußert, daß bei dem allegorischen Verfahren »die eigentliche Kraft der Worte (. . .) verkehrt (wird)«. 88 Die Vernünftigen Tadlerinnen, Bd. 2, 35. 89 Zu diesem auch allgemein-theologischen, vor allem religionsapologetisch motivierten Leitgedanken vgl. auch J. Ch. Gottsched: Daß ein heutiger Gottesgelehrter auch in der Vernunft und Weltweisheit stark seyn müsse. Als Hr. Christian Gottlieb Jöcher den 23 Sept. 1734 den theol. Doctorhut in Leipzig erhielt, GAW I, 452–456; sowie ders.: Die Nothwendigkeit und Pfl icht theologischer Lehrer. Als Herr Joh. Gottlob Pfeiffer, der heil. Schrift Licent. und Prof. 1724 den 27 April. die Doctorwürde zu Leipzig erlangte, GAW I, 430, 33–48:

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dabei an die philosophische Vernunftlehre (Logik) halten und für die movere-Funktion Erkenntnisse der (von den Philosophen erarbeiteten) Psychologie aufnehmen.90 Damit blieb unter rhetorischem Gesichtspunkt noch die Frage zu klären, wie die delectare-Funktion in dieser neuen Perspektive bedient werden sollte. (3.) Ausführungen zu diesem Problemkreis machte Gottsched als letztes unter dem Stichwort des »Vortrags« einer Predigt. Eine terminologische Unschärfe führte dabei zu einer zweigeteilten Behandlung der Sache: Zum einen rechnete er zum »Vortrag« der Predigt stilistische Fragen der Schreibart (elocutio). Diese sollte rein, regelmäßig, nachdrücklich, lebhaft, gelegentlich kurzgefaßt und scharfsinnig, ungezwungen, ordentlich, wohlklingend sein91 und war Ausdruck seines theoretisch am genus humilis (einfacher Stil) ausgerichteten, praktisch aber auf das genus mediocre (mittlerer Stil) hinauslaufenden Stilideals. Zum anderen behandelte Gottsched unter demselben Stichwort Aspekte der Aussprache (pronuntiatio), die so beschaffen sein sollte, wie »es nemlich der Nachdruck und Natur einer jeden Vorstellung erfordert«92 , sprich: langsam oder schnell, laut oder gedämpft, freudig oder traurig, alles in allem also nichts Künstliches und Gekünsteltes an sich haben sollte. Damit war das decorum als Sprachtugend in äußerer Hinsicht angesprochen, das Gottsched unter dem (keineswegs klaren) Regulativ der »Nachahmung der Natur« auf die Predigt angewandt wissen wollte.93 »Ein Christ muß die Vernunft und Offenbarung lieben, Denn beydes hat ihm Gott zur Richtschnur vorgeschrieben. Die Wahrheit ist ihm lieb, erlogne Fabeln nicht; Er fl ieht, was der Natur der Seele widerspricht: Das ganze Christenthum läßt nur gesunde Lehren, Hingegen nicht ein Wort vom Aberglauben hören. Vergebens ist also die freche Lästerung, Des Christenglaubens Grund ist fest und sicher gnung: Man darf die Spötterey und das vergebne Dräuen Verwegner Lästerer in Ewigkeit nicht scheuen. Wenn mancher Grotius für unsre Wahrheit kämpft, Huet und Abbadie der Gegner Hochmuth dämpft, Verstummt der feige Schwarm besiegter Atheisten. Wie kömmt das? Die Vernunft ficht selber für die Christen.« 90 Ausführlich dazu unten Abschn. 3.2 im Zusammenhang mit Gottscheds Predigtlehrbuch. Jedoch erklärte bereits Gottsched: Ausführliche Redekunst, GAW VII/1, 119, 13–18 (Hervorhebung A. S.): »Doch ist kein Zweifel, daß die Lehre von der Seele und die ganze praktische Philosophie, zumal nach der heutigen Wolfi schen Lehrart, einem künftigen Redner die allervortreffl ichsten Dienste thun muß. Vor allen andern aber wird ein geistlicher Redner solche Vortheile daraus ziehen können, die ihm kein anderes Buch so leicht verschaffen wird.« 91 Die Vernünftigen Tadlerinnen, Bd. 2, 35. 92 Die Vernünftigen Tadlerinnen, Bd. 2, 35. 93 Gottscheds Mimesis-Theorie, die schon auf dem Titelblatt der ersten beiden Aufl agen seiner Critischen Dichtkunst programmatisch angedeutet wurde (»Daß das innere Wesen der Poesie in einer Nachahmung der Natur bestehe«; GAW VI/3, 179 f.), folgte einer

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Bemerkenswert war in diesem Teil der Ausführungen, daß Gottsched – wenn auch nur höchst knapp und einigermaßen zusammenhanglos – auf das rhetorisch hoch bedeutungsvolle, von ihm aber immer problematisch gesehene Thema der Affekte zu sprechen kam. Mit Blick auf Kreuschners Vorbild bemerkte er: 94 »Sonderlich muß ich gestehen, daß seine Gebete allezeit eine besondre Bewegung in meinem Gemüthe verursachen: denn er schüttet die kräftigsten Seufzer mit solcher Innbrunst und innerlichen Empfi ndung aus, daß ich mich oft selber der Thränen nicht enthalten kan.«95 Gottsched formulierte hier – in eigentümlicher Nähe zu pietistischen Auffassungen – neben seinem Interesse an logisch-rationaler Deutlichkeit ein zweites, in der Homiletik der Auf klärung erst nach der Mitte des Jahrhunderts besonders problematisiertes Element, nämlich das rhetorisch-emotionaler Empfi ndsamkeit, für die eine pietistische »Rhetorik des Herzens«96 mit ih-

dem decorum verpfl ichteten, durch ein Vernunftkorrektiv bestimmten Konzeption »natürlicher« Darstellungsweise, die als Abbild einer Entsprechung von Natur- und Vernunftordnung angesehen wurde. Vgl. dazu A. Eusterschulte: Mimesis, HWRh 5 (2001), 1278–1281; H. P. Herrmann: Naturnachahmung und Einbildungskraft: zur Entwicklung der deutschen Poetik von 1670 bis 1740, Bad Homburg u. a., 1970, 92–161; F. Gaede: Poetik und Logik: zu den Grundlagen der literarischen Entwicklung im 17. und 18. Jahrhundert, Bern; München 1978, 98–105. 94 Zum »Widerspruch zwischen rhetorischem Ansatz und philosophischem Anspruch« bei Gottsched vgl. Wetterer: Publikumsbezug, 37–61, Zitat: 37; vgl. zur Überordnung der«rationale[n] Überzeugungsherstellung« (Ueding/Steinbrink: Grundriß, 103) in der Rhetorik der Auf klärung mit der Betonung des docere bei gleichzeitiger, nur halbherziger, untergeordneter Affekterregung (movere) ebd, 103–105. 95 Die Vernünftigen Tadlerinnen, Bd. 2, 35. 96 Vgl. dazu Geitner: Die Sprache der Verstellung, 195–208. – Die Bedeutung des insbesondere für pietistische Homiletik grundlegend gewordenen biblischen Topos’ ex abundantia cordis os loquitur (in Luthers Übersetzung: Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über. – Mt 12, 34; Lk 6, 45) ist predigtgeschichtlich erkannt (vgl. H. M. Müller: Homiletik, TRE 15, 535, 46–49 mit Bezug auf Schian: Orthodoxie und Pietismus, 24 f.), aber noch längst nicht erschöpfend ausgewertet. Zu Luthers Predigtweise notierte bereits G. Arnold: Unpartheyische Kirchen= und Ketzer=Historie Vom Anfang des Neuen Testaments Biß auff das Jahr Christi 1688, 2. Theil, Franckfurt am Mayn 1700, 116 (16. Buch, Cap. XI, §. 5), daß »[. . .] sonderlich Lutherus anfienge aus der fülle seines hertzens gewaltig zu predigen / und sich dabey an keine kunst oder andere satzungen band«. Eine besondere Note erhielt der Topos bei Gottfried Arnold durch seine Verknüpfung mit einer »Rhetorik des Heiligen Geistes«, die unter sprachphilosophischen und poetologischen Aspekten auf Anschauungen vorausweist, wie sie in der Empfi ndsamkeit zum Gegenstand literarischer (aber auch homiletischer) Konzeptionen werden. So schrieb Arnold: »Dies ist ein gewisses Kennzeichen einer geistreichen Predigt/ wenn sie aus innersten Hertzens Grund in göttlichem Ernst und brünstigem Eifer zu der Menschen Uberzeugung geschicht. Denn die Rede ist würcklich ein Abdruck von der innern Bewegung des Hertzens: und wenn nun das Hertz eines Predigers vom Geiste GOttes beweget wird/ so bekommt der Zuhörer nothwendig einigen Eindruck und Stachel davon/ ja wo er nicht freventlich widerstehet/ eine kräfftige Alteration und Veränderung im Gemüth«; G. Arnold: Vorrede von recht geistreichen Predigten, in: Nicolai Schröders Wohl=gemeynte Erinnerungen/

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rem ausgeprägten Interesse am Affekt97 von ganz maßgeblichem Einfluß war. Offen ließ Gottsched an diesem Punkt, wie er sich das Verhältnis von Ratio und Affekt im Predigtakt dachte. Gleichwohl war doch nicht zu übersehen, daß die vom Pietismus betonte Einsicht, von dem affiziert zu sein, was der Prediger bei anderen erwecken wollte, auch in den homiletischen Konzeptionen der Auf klärung eine tragende Rolle zugewiesen bekam.98 Obwohl Gottsched ganz offenbar die Predigten seines Königsberger Lehrers Kreuschner als Muster einer an den Regeln der »wahre[n] Beredsamkeit«99 orientierten Predigt ansah, die im scharfen Kontrast zur orthodoxen Kunstpredigt und ihrer Ausrichtung an der »falschen Beredsamkeit« der barock-manieristisch-affektorientierten Schwulstrhetorik standen,100 konnte er dieses Vorbild für die praktische imitatio der Theologiestudenten aber schlecht empfehlen – ein erster gedruckt vorliegender Band mit Predigten, der die homiletischen Tugenden des Verfassers über den engen Zirkel Königsbergs hinaus bekannt machte, erschien erst einige Jahre nach dessen frühem Tod im Jahr 1730.101 Daher verwies Gottsched auf ein anderes Muster gedruckter Predigten, die nicht nur in jedem Buchladen leicht zu erwerben, sondern überhaupt in aller Munde waren – die Predigten Johann Lorenz Mosheims.102 Deren erster Band war bei seinem Erscheinen

darinnen Der wahre Gottesdienst/ und die nothwendigsten Stücke eines Christlichen Lebens/ nach denen Zeugnissen der heiligen Schrifft angewiesen werden. [. . .] Nebst einer Vorrede Herrn Gottfried Arnolds [. . .] Von recht geistreichen Predigten, Frankfurt 1709, 30 (Hervorhebung A. S.). 97 Zur affektbezogenen Bibelhermeneutik im Pietismus, die die homiletischen Konzepte des hallischen Pietismus entscheidend beeinflußte, vgl. grundlegend Peschke: Studien zur Theologie, Bd. 2, 97–110; sowie von germanistischer Seite Dyck: Athen und Jerusalem, 114–122. 98 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 484 betonte mit einem Hinweis auf Erasmus und übereinstimmend mit pietistischen Auffassungen: »Die Haupt=Regel zwar ist diese, selbst erst denjenigen Affect, der Traurigkeit, der Freude etc. etc. bey sich zu erwecken, und dasjenige selbst zu fühlen, was man in andern rege machen will.« 99 Die Vernünftigen Tadlerinnen, Bd. 2, 38. 100 Zum Problem »wahre/falsche Beredsamkeit« auf Grundlage von Gottscheds Ausführlicher Redekunst (1736) vgl. Ueding/Steinbrink: Grundriß, 104 f. 101 J. H. Kreuschner: Überzeugender Vortrag der fürnehmsten Glaubenslehren, Königsberg 1736. – Ein Exemplar der zweibändigen Predigtsammlung befand sich auch in Gottscheds Bibliothek, ein Hinweis auf die noch nach der Mitte der 1730er Jahre anhaltende Wertschätzung des einstigen Lehrers durch Gottsched; Catalogus Bibliothecae, quam Jo. Ch. Gottschedius, Nr. 3882. 3883. 102 Die Vernünftigen Tadlerinnen, Bd. 2, 39: »Noch neulich ist von einem Helmstädtischen Lehrer ein kleines Bändchen geistlicher Reden ans Licht getreten, welche von einer ungemeinen Beredsamkeit ihres Urhebers zeigen. [. . .] Solchen Vorgängern solten angehende geistliche Redner folgen. Von diesen solten sie die Reinigkeit und Zierlichkeit der Sprache, die Richtigkeit der Gedanken, die Kraft der Beweisgründe, die Ordnung und die Lebhaftigkeit der Ausdrückungen lernen.«

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1725103 mit ganz außergewöhnlichem Enthusiasmus begrüßt worden.104 Zusammen mit der Tatsache, daß der Helmstedter Professor ohnehin als eine theologische Autorität ersten Ranges galt, sorgten diese Predigten dafür, daß sein Predigtvorbild eine ganz erhebliche Bedeutung für die aufklärerische Predigtreform der nächsten Jahre, ja Jahrzehnte gewann und dabei legitimatorisch für z. T. verschiedene Interessen beansprucht wurde.105 Gottsched empfahl seit der Ersterwähnung Mosheims in den Tadlerinnen dessen Heilige Reden bei jeder sich bietenden Gelegenheit als Muster einer geläuterten geistlichen Beredsamkeit,106 die sich äußerlich durch »Reinigkeit und Zierlichkeit der Sprache« zu erkennen gab, ihre innere Qualität aber aus einer an philosophischer Logik ausgerichteten »Richtigkeit der Gedanken« und »Kraft der Beweisgründe« bezog und sich bei der »Ordnung« (dispositio) sowie hinsichtlich der »Lebhaftigkeit der Ausdrückungen« (elocutio) die Natur zum Vorbild nahm.107 Der 1728 einsetzende und bis 1746 reichende Briefwechsel108 zwischen dem Helmstedter Gelehrten und dem aufstreben103

J. L. Mosheim: Heilige Reden über wichtige Wahrheiten der Lehre Jesu Christi, 6 Teile, Hamburg 1725–1739; die einzelnen Bände dieser Predigtsammlung erreichten unterschiedlich hohe Aufl agen; die meisten Aufl agen erreichte der erste Band, der bereits 1728 in dritter, 1747 in rechtmäßig siebenter Aufl age vorlag; dazu kamen bis 1765 neben Raubdrucken auch mehrere Drucke des Bandes in verschiedenen Teil- und Sammelausgaben. 104 Bezeichnend für die exzeptionelle Aufnahme der Heiligen Reden Mosheims ist folgende Rezension: [Anonym:] Rez. Mosheim, Heilige Reden, Tl. 1, 1725, in: Deutsche Acta Eruditorum, 111. Theil, 1725, 194: »Wir pflegen in unsern Actis selten von Predigten zu reden; indem die meisten[,] welche heraus kommen, nach dem homiletischen Schlendrian hingemacht sind, und wenig enthalten, welches eine Aufmercksamkeit verdienet. [. . .] Anitzo aber kriegen wir Predigten in die Hand, welche gar nicht in diese Classe zu setzen, sondern voll von Beweiß des Geistes und der Krafft, voll von Theologischer Realität, voll einer männlichen und kräfftigen Beredsamkeit sind. [. . .] Wie seine [sc. Mosheims] andern Schrifften mit ausnehmender Theologischen Gelehrsamkeit angefüllet sind, so haben auch diese Reden fast alle Eigenschafften einer guten Predigt. Die Dinge, wovon sie handeln sind auserlesen, die Abhandlung ordentlich ohne Affection, die Erklärung gründlich ohne exegetische Prahlerey, der Vortrag nachdrücklich ohne Schwülstigkeit, und die Schreib= Art angenehm ohne Wort=Spiele.« 105 Vgl. beispielsweise für die Inanspruchnahme der Sittenlehre Mosheims in der (postum veröffentlichten) Anweisung zum Theologiestudium durch den Pietisten Johann Jakob Rambach bei M. Brecht: Pfarrer und Theologen, in: GdP 4 (2004), 219. 106 Gottsched: Der Biedermann, 30. Blatt [24. November 1727], 118 lobte den fi ktiven Dorfgeistlichen Eudoxius, »daß er sich den berühmten Abt Moßheim in seiner Art zu predigen zum Muster vorgesetzt« hat; vgl. auch ebd, 7. Blatt (16. Juni 1727), 28, wo Mosheims erster Band der Heiligen Reden als ein »mit lauter Meisterstücken einer geistlichen Beredsamkeit angefüllte[s] Buch« gepriesen wurden. Bei Gottsched: Grundriß zu einer vernunfftmäßigen Redekunst, 78. 121. 138. 143. 147. 151 werden mehrfach Mosheims Predigten als Beispiele herangezogen. 107 Alle Zitate Die Vernünftigen Tadlerinnen, Bd. 2, 39. 108 Vgl. zu diesem in der UB Leipzig befi ndlichen Bestand von Briefen Mosheims an Gottsched bei Suchier: Gottscheds Korrespondenten, 53 f.

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den Wahlleipziger führte angesichts dieser Übereinstimmungen bald zu gemeinsamen Anstrengungen in Sachen Sprachreform auf der Plattform der Deutschen Gesellschaft, deren Präsidentschaft Mosheim 1732 nach dem Tod Menckes übernahm. Einen predigttheoretischen Austausch pflegten die beiden aber nicht.109 Trotz des nachgelagerten Bezuges Gottscheds auf die als paradigmatisch propagierten Predigten des Helmstedter Theologen wird man einen maßgeblichen Einfluß auf die Formung seiner eigenen Predigtanschauung zu dieser Zeit kaum anzunehmen haben.110 Prägend war für Gottsched nach derzeitigem Wissen vor allem das Vorbild Kreuschners, dessen Predigtweise sich jedoch – wie es scheint – in ähnlichen Bahnen bewegte wie die Mosheims.111 Der Helmstedter Theologe war demnach wohl der herausragende, aber selbstverständlich keineswegs der einzige Prediger, der im Sinne der Auf klärung auf die homiletische Praxis der Zeit gestaltend Einfluß nahm. Bislang fehlt es jedoch fast völlig an predigtgeschichtlichen Studien, die das Dunkel der Zeit vor und um Mosheim herum erhellen, einer Zeit, in der Männer wie der vergessene Kreuschner oder der um eine Generation ältere Caspar Neumann112 schon längst eine Reform der Predigt praktisch betrieben, deren systematisch-lehrbuchhafte Aufarbeitung aber erst die Aufgabe der Zukunft sein sollte.113 109 Vgl. zu Mosheims Wirksamkeit in der Deutschen Gesellschaft D. Döring: Die Geschichte, 222. 226; Einblick in seine diesbezüglichen Tätigkeiten geben auch die bei Danzel: Gottsched, 89–107 abgedruckten Briefe. 110 Grosser: Gottscheds Redeschule, 45 hält vielmehr eine rhetorische Beeinflussung Mosheims durch Gottsched für durchaus möglich. 111 Ein Exemplar von Kreuschners Predigtsammlung ( J. H. Kreuschner: Überzeugender Vortrag der fürnehmsten Glaubens-Lehren, 2 Bde., Königsberg 1736/37) war mir nicht erreichbar und deswegen ein Vergleich mit Mosheims Predigten unmöglich. 112 Der 1715 verstorbene Breslauer Lehrer Christian Wolffs, der Prediger und Erbauungsschriftsteller Caspar Neumann (zu ihm RGG3 4 [1960], 1425), fungierte z. B. als einer der homiletischen Gewährsleute von Gottscheds Predigtreform, insbesondere zur Abstützung seiner Kritik an der »Künstelei« orthodoxer Homiletik; vgl. beispielsweise das lange Zitat aus Neumanns Predigtjahrgang Licht und Recht. Breslau 1717 in Gottsched: Rede wieder die so genannte Homiletik, GAW VII/3, 134, 25–42; dasselbe Zitat auch bei [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 86 f.; vgl. auch die Erwähnung von Neumanns und Kreuschners Namens als vorbildliche Prediger ebd, 18. – Zu Neumann als Vertreter der Frühauf klärung vgl. Zimmermann: Caspar Neumann; zu Neumanns homiletischem Profi l siehe M. Schian: Caspar Neumann als geistlicher Redner, in: Correspondenzblatt des Vereins für Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens 12 (1910), 29– 45; sowie Schian: Orthodoxie und Pietismus, 109 f. 118 f. 113 Vgl. dazu aus zeitgenössischer Perspektive [Anonym:] Gedanken von aesthetischen Predigten, entworfen von M., Rostock und Wismar 1760, 11 f.: »Man kennet die berühmten Männer Sachsens und der Schweitz, die sich theils um die Bearbeitung der Sprache bemühet, theils die unbefugte Willkürlichkeit des Geschmacks durch Grundsätze, die sie aus der Natur der menschlichen Seele hernahmen, in engern Gränzen einzuschliessen gesuchet haben. Ehe inzwischen diese Versuche und Regeln einmal bekannt wurden,

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1.3 Predigttheorie als Teil der Rhetorik: das erste rhetorische Lehrbuch (1728) Einen wichtigen Schritt dahin stellte Gottscheds erstes rhetorisches Lehrbuch dar, in dem die Predigt zwar nicht systematisch, aber doch gleichsam selbstverständlich integriert war. Bereits vor ihm waren erste, wenn auch noch recht vorsichtig-zurückhaltende Versuche unternommen worden, homiletische Konsequenzen aus den anthropologischen und erkenntnistheoretischen Einsichten der neuen philosophischen Ansätze zu ziehen und diese in das Konzept einer Rhetorikreform einzubinden, so z. B. in Hallbauers Teutscher Oratorie114 von 1725 bzw. der ein Jahr zuvor publizierten Philosophischen Oratorie des Leipziger Magisters Johann Andreas Fabricius (1696–1769),115 Gottscheds Vorgänger als Erzieher von Menckes Sohn und zeitweise »einer der wichtigsten ›Köpfe‹ der [Deutschen] Gesellschaft«116 in der Messestadt. Gottscheds zur Michaelismesse 1728 erschienener Grundriß zu einer vernunfftmäßigen Redekunst117 schloß geistig zwar an diese Reformbemühungen schrieb Moßheim denselben schon gemäß, der auch in dieser Sphäre ein Originalgeist ward, und dessen kleinster Ruhm es ist, daß er ein grosser Redner war.« 114 F. A. Hallbauer: Anweisung Zur Verbesserten Teutschen Oratorie Nebst einer Vorrede von Den Mängeln Der Schul=Oratorie, Jena 1725; ein Abschnitt über die geistlichen Reden ebd, 765–770; zur zeitgenössischen Wahrnehmung des Werks siehe: Neue Zeitungen von Gelehrten Sachen Auf das Jahr 1725, Nr. XXXIV, 26. April, 332: »Er [sc. Hallbauer] geht in den meisten Stücken von den bißherigen Anweisungen zur Oratorie ab, und führt auf solche principia die der Natur, als welcher die wahre Beredsamkeit nachgehet, gemäß sind, u. welche folglich zur natürl. Beredsamkeit führen.« – Zu Hallbauers frühauf klärerischer Rhetorikkonzeption vgl. Till: Transformationen der Rhetorik, 340–360; Grimm: Von der ›politischen‹ Oratorie, 70–72. 88–91; Stötzer: Deutsche Redekunst, 86–89; einen Auszug aus Hallbauers 41 homiletischen Maximen bietet Ueding: Auf klärung, 1237. 115 J. A. Fabricius: Philosophische Oratorie, Das ist: Vernünftige anleitung zur gelehrten und galanten Beredsamkeit [. . .] mit auserlesenen exempeln erläutert und mit einem register versehen, Leipzig 1724; ein Abschnitt von Theologischen oder geistlichen Reden ebd, 491–524. – Zu Fabricius’ (zur Person siehe DBE 3 [1996], 214; ADB 6 [1877], 509; DBA I 303, 381–387) ebenfalls frühauf klärerischer Rhetorik siehe Grimm: Von der ›politischen‹ Oratorie, 69 f. 76 f. 87–89; Stötzer: Deutsche Redekunst, 84–86. Anders als bei Hallbauer, der die homiletisch grundlegende Dichotomie von Verstandesüberzeugung und Willensbewegung seinen Ausführungen noch nicht zugrundelegte, tauchte bei Fabricius: Philosophische Oratorie, 497 dieses der Wolffschen Psychologie entlehnte Konstrukt bereits auf und verwies damit indirekt auf die breitgefächerte Wolff-Rezeption in Leipzig zu Beginn der 1720er Jahre. 116 D. Döring: Geschichte, 206. 117 Gottsched: Grundriß zu einer vernunfftmäßigen Redekunst (1729); die Dedikation an den kursächsischen Geheimen Rat Bernhard von Zech ist auf den 6. Oktober 1728 datiert, und auch die Vorrede datiert auf die »Leipziger Michaels Messe 1728«; vgl. zum vorgezogenen Erscheinungsjahr auch Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 24,30–25,1 (vgl. GAW V/3, 267,8–14). – Die rhetorische Theorie Gottscheds wird in der zweiten Zählung (320 S.) entfaltet, während die erste Zählung (74 S.) eine Übersetzung der Gespräche von Rednern, oder Von den Ursachen der verfallenen Beredsamkeit umfaßt. Die Zitate aus Gottscheds Buch beziehen sich im folgenden – wenn nicht anders vermerkt – immer auf die zweite Zählung.

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der – wie im Falle Fabricius’ – ihm zum Teil persönlich bekannten118 Vorgänger an, setzte aber durchaus eigene Akzente.119 Inhaltlich zeigte sich im Vergleich mit den Vernünftigen Tadlerinnen, daß die wesentlichen rhetorischen Einsichten von Gottsched längst gewonnen waren, nun aber in eine systematische Ordnung gebracht wurden. Manches, auch für die Predigt Gültige, das ebenso schon länger zu Gottscheds rhetorischen Überzeugungen zählte, aber bislang nur implizit oder en passant geäußert worden war, fand nun Ausformulierung in einer ersten, lehrbuchmäßigen Darstellung. 1.3.1 Die rhetorisch-philosophischen Grundlagen Dieses Lehrbuch ist dabei zunächst vor allem im Zuge von Gottscheds Rückgang auf die antike Rhetorik als der Versuch zu lesen, die neugewonnenen philosophischen Einsichten in die Theorie der Rede zu überführen. Literaturgeschichtlich begründete er damit seine später als frühklassizistisch bezeichnete Position, die gegen barockrhetorische Theorieansätze Stellung bezog.120 Bereits Zeitgenossen würdigten den Zuschnitt des Opus als neuartig.121 Trotz der rhetorikgeschichtlichen Beobachtung, daß Gottscheds Lehrbuch hinsichtlich seiner Kritik an den topischen Inventionsverfahren der Barockrhetorik im »Vergleich zu Hallbauer [. . .] verhältnismäßig konservativer« zu Werke ging und mit seiner inventio-Lehre »eine vermittelnde Position«122 bezog, lieferte die Ausrichtung der rhetorischen Theorie auf Quintilian und Cicero und ihre Verbindung mit kognitions-, handlungspsychologischen und sprachtheoretischen Prämissen der Wolffschen Philo118

Fabricius war nicht nur seit 1724 Mitglied der Leipziger Teutschübenden Poetischen Gesellschaft, sondern seit 1717 auch im Montägigen Predigerkollegium; Marwinski: Johann Andreas Fabricius, 19; zum (gespannten) Verhältnis zwischen Gottsched und Fabricius vgl. D. Döring: Geschichte, 206–210; zu Gottscheds Streit mit Fabricius wegen dessen Philosophischer Oratorie vgl. Ball: Moralische Küsse, 63 f.; Gühne: Gottscheds Literaturkritik, 33–47; Marwinski: Johann Andreas Fabricius, 20. 119 Hallbauers Rhetorik war z. B. – anders als Gottscheds Konzeption – von »eine[r] modern-antiklassizistische[n] Programmatik auf Basis einer gesellschaftspolitischen Argumentation« getragen; B. Hambsch: Klassizismus, Klassik: Deutschland, in: HWRh 4 (1998), 1035 (Hervorhebung A. S.). 120 Aus den monographischen Arbeiten zu seiner Rhetorik, die aufgrund ihrer ganz überwiegend systematischen Anlage den Grundriß, die Ausführliche Redekunst und weiteres Material in der Regel gemeinsam behandeln, vgl. Grosser (1932); Wechsler (1933); D. R. Bormann: Gottsched’s enlightened Rhetoric: the Influence of Christian Wolff ’s Philosophy on J. Gottsched’s »Ausführliche Redekunst«, Diss. Iowa 1968; Rossmann (1970); Stauffer: Erfi ndung und Kritik (1997); in der homiletikgeschichtlichen Literatur geht Schian: Orthodoxie und Pietismus, 128 auf Gottscheds Grundriß ein. 121 So beispielsweise Goetten: Joh. Christoph Gottsched, 82 f. Mitte der 1730er Jahre: »Er [sc. Gottsched] folgte der Natur in seiner Anweisung; dieselbe war Philosophisch oder Vernunftmäßig, und abermahls ganz anders abgefasset, als die gewöhnlichen Anweisungen.« 122 Beide Zitate Grimm: Von der ›politischen‹ Oratorie, 72.

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sophie ein organisierendes Prinzip,123 das (angefangen bei der stringenden Gliederung bis zur inhaltlichen Bearbeitung der einzelnen Abschnitte) im Ergebnis erheblich über die rhetorischen Reformbemühungen der Vorgänger hinausführte. Obwohl das akademische Lehrbuch die geistliche Beredsamkeit nicht in einem eigenen Kapitel behandelte, war sie konzeptionell in die Überlegungen mit einbezogen. Die geradezu selbstverständliche Beiläufigkeit, mit der der Autor an verschiedentlichen Stellen die Relevanz seiner rhetorischen Einsichten praktisch mit Beispielen aus der Bibel124 und der geistlichen Redekunst125 aufzeigte, konnte auf den ersten Blick zwar noch als Ausdruck eines älteren bibelrhetorischen Verständnisses gelesen werden. Gleichwohl fanden sich aber auch andere Hinweise, die als Indikatoren für ein neu definiertes Verhältnis von geistlicher und weltlicher Redekunst zu werten waren. Oder wie sollte es zu verstehen sein, wenn an dem wegen seiner Vortragsweise (pronuntiatio) sonst von Gottsched gerühmten Theologieprofessor Johann Friedrich Mayer bedauert wurde, »er hätte also ein deutscher Cicero werden können, wenn es ihm nicht an einer guten Philosophie, als dieser Römer hatte, gefehlet hätte«126 ? Damit war für die Predigt und Homiletik die normative Rolle »einer guten Philosophie« behauptet, über die er sich im Vorwort seiner Redekunst einschlägig äußerte. 123

Vgl. für die aus demselben Grund motivierte Ausrichtung der Poesie an der Philosophie Wolffs J. Birke: Gottscheds Neuorientierung der deutschen Poetik an der Philosophie Wolffs, Zeitschrift für deutsche Philologie 85 (1966), 560–575. 124 Unter sprachlichen Fragestellungen brachte Gottsched: Grundriß zu einer vernunfftmäßigen Redekunst, 131. 136. 139. 140. u. ö. eine ganze Reihe bibelrhetorischer Belege bei. 125 So wird Mosheim durchgängig als das Beispiel einer guten Schreibart unter den Deutschen erwähnt: Gottsched: Grundriß zu einer vernunfftmäßigen Redekunst, 78: »Die Franzosen sind rechte Meister in dieser Kunst, doch auch wir Deutschen haben am Herrn Abt Moßheim schon ein Muster vor uns, dem wir nachahmen können«; weitere Erwähnungen Mosheims mit Beispielen aus dessen Heiligen Reden ebd, 121. 138. 143. 147. 151. – Demgegenüber diente der zuletzt in Greifswald lehrende spätorthodoxe Theologe Johann Friedrich Mayer (1650–1712) als Musterbeispiel einer guten pronuntiatio: »§. 5. Aus einigen wenigen Exempeln großer Redner haben wirs aber in unserm Vaterlande gesehen; wieviel der gute Vortrag in der Beredsamkeit Dienste thue. Leipzig hat an dem berühmten D. J. Fr. Mäyer einen Mann hervorgebracht, der alle natürliche Gaben gehabt, die zu einem wahrhafften Redner gehören, und es ist kein Wunder, daß er durch dieselbe in mehr als einem Lande als ein Meister in der Beredsamkeit berühmt geworden. Seine feurige und bewegliche Schreibart zeiget uns noch jetzo, was man von ihm erzehlen höret, daß er nehmlich eine recht sonderlich annehmliche und rührende Art im Vortrage gehabt habe: [. . .]«; ebd, 106; Beispiele aus Mayers zuerst 1686 in Wittenberg erschienenen »Mordpredigten« ebd, 118 f. 122. 137. 145 f. 148. 149. u. ö. – Zu J. F. Mayer vgl. DBE 7 (1998), 8; D. Blaufuss: Der Theologe Johann Friedrich Mayer (1650–1712): fromme Orthodoxie und Gelehrsamkeit im Luthertum, in: Pommern in der Frühen Neuzeit: Literatur und Kultur in Stadt und Region/ hrsg. von W. Kühlmann; H. Langer, Tübingen 1994, 319– 347; zu Mayer als Prediger ebd, 337–340; zu den Mord-Predigten speziell ebd, 338 f. 126 Gottsched: Grundriß zu einer vernunfftmäßigen Redekunst, 106.

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Im Zusammenhang mit der Darlegung seines methodischen Zugriffs erläuterte Gottsched nämlich seinen bereits auf dem Titelblatt programmatisch angekündigten Versuch, den »edlen Begriff von einem wahren Redner [. . .], den uns Cicero und Qvintilian vorzeiten in so vielen und weitläuftigen Büchern entworfen«127 haben, in deutscher Sprache zur Darstellung zu bringen.128 Die Berufung auf die antiken Rhetoren im Zeichen muttersprachlicher Reform hatte dabei einen wesentlichen Grund: »Die Ideen aber dieser großen Meister von der Beredsamkeit129 [sc. Cicero und Aristoteles], sind gantz philosophisch, oder welches mir gleichviel düncket, vernunfftmäßig gewesen.«130 Unter diesem Gesichtspunkt behauptete Gottsched, daß nur der allgemeine Begriff bzw. das Wesen der Rhetorik als vernunftmäßigphilosophisch und daher zeitlos-gültig angesehen werden könnte; 131 die speziellen rhetorischen Vorschriften (praecepta) sah er demgegenüber als zeitbedingt-überholt an, insbesondere die klassisch-antike genera-Lehre132 . Aus den Texten seiner antiken Vorbilder destillierte Gottsched im Zuge solcher Überlegungen als überzeitliches Wesen der Redekunst das Ziel der persuasio heraus,133 die er – im Fahrwasser des Wolffschen Rationalismus – intellektualistisch zuspitzte und auf die hin er seine Rhetorik nun ausrichtete: 134 127

Gottsched: Grundriß zu einer vernunfftmäßigen Redekunst, Bl. )(5r (Vorrede). Nach Barner: Barockrhetorik, 248 f. mit Anm. 37 gehören Gottscheds Reform der Redekunst und seine Aktivitäten in der Deutschen Gesellschaft in den Zusammenhang der letzten Phase der Etablierung eines muttersprachlichen akademischen Rhetorikunterrichts. 129 Gottsched differenzierte terminologisch zwischen der Theorie und der Praxis der Rede. Erstere bezeichnete er als »Redekunst«, letztere als »Beredsamkeit«. Deswegen definierte Gottsched: Grundriß zu einer vernunfftmäßigen Redekunst, 1 einleitend: »§. 1. Die Redekunst ist nichts anders, als eine vernünftige Anleitung zur wahren Beredsamkeit. §. 2. Die Beredsamkeit überhaupt nenne ich das Vermögen oder die Fertigkeit eines gelehrten Mannes, seine Zuhörer durch geschickte Vorstellungen von allem was er will, zu überreden.« 130 Gottsched: Grundriß zu einer vernunfftmäßigen Redekunst, Bl. )(5v (Vorrede). 131 Zur »zentrale[n], wenn nicht gar entscheidende[n] Bedeutung« des Wesens-Begriffs, dessen Konstruktion Gottsched zur speziellen Ableitung von Regeln befähigte, vgl. Birke: Gottscheds Neuorientierung, 564–572, Zitat: 564. 132 Gottsched: Grundriß zu einer vernunfftmäßigen Redekunst, Bl. )(6v-7r (Vorrede): »Außer diesen Grundsätzen habe ich mich um die besondern Regeln der alten Beredsamkeit nicht bekümmert. Die Zeiten ändern sich, und die Gestalt der Künste und Wissenschaften auch. Die drey Gattungen der alten Reden, nemlich der lobenden, rathschlagenden und gerichtlichen Reden, sind heute zu Tage nicht mehr zulänglich, alle unsre Arten der Beredsamkeit unter sich zu begreifen.« 133 Vgl. zum rhetorikgeschichtlichen Zusammenhang J. Knape: Persuasion, HWRh 6 (2003), 874–907. 134 Zum persuasio-Konzept Gottscheds auf Grundlage der späteren rhetorischen Schriften und seiner Übertragung auf die Homiletik vgl. Stauffer: Erfi ndung und Kritik, 103– 110, der für Gottscheds predigttheoretische Ansichten ebd, 105 die Hochschätzung des 128

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»Sie [sc. die antiken Redelehrer] setzten das Wesen dieser Kunst in der Geschicklichkeit andre zu überreden, welche auch der deutsche Nahme derselben deutlich genug von einem Redner zu erfordern scheinet. Diese Absicht nun zu erlangen, untersuchen sie, durch was vor Mittel das menschliche Gemüthe zum Beyfalle gebracht zu werden pflege: Und daher flossen die gründlichen Regeln, die wir noch in ihren Schrifften fi nden, und theils die deutliche Erklärung einer vorhabenden Materie; theils den gründlichen Beweis der Sätze, davon sie die Zuhörer überreden wollten; theils auch die Erregung und Dämpfung der Affecten. Dieses sind überhaupt diejenigen Begriffe, die ich den Alten zu dancken habe, und die mir in der Natur und Vernunfft so wohl gegründet scheinen, daß ich sie vor allgemein halte.«135

Rationalistisch zugespitzt war diese Auffassung vor allem deswegen, weil sie den rhetoriktheoretischen Dreiklang von docere, movere und delectare zugunsten der docere-Funktion verschob. Damit war ein Kontrapunkt zur Barockhomiletik gesetzt, die – hauptsächlich am movere interessiert – einer emotionalen persuasio das Wort geredet hatte. Ohne das durchgeführte Organisationsprinzip der von Gottsched intendierten philosophisch-vernünftigen persuasio im einzelnen für alle Teile seines rhetorischen Systems darlegen zu können, soll deren Funktionsweise beispielhaft am Kapitel zur Disposition der Rede veranschaulicht werden.136 Nachdem Gottsched im ersten Abschnitt seines Lehrbuchs zunächst die Auffi ndung (inventio) 137 des Hauptsatzes (Kap. 1) und daran anschließend die zur Ausführung der Rede notwendigen Zusätze wie Erklärungen, Erläuterungen, Beweis- und Bewegungsgründe behandelt hatte (Kap. 2), wandte er sich – nach einem Blick auf die Frage des Eingangs (Kap. 3) – der Disposition der Abhandlung (Kap. 4) zu. Hier defi nierte er zunächst, was unter einer Disposition zu verstehen sei: »Wie diese Ordnung [sc. die Disposition] beschaffen seyn müsse, das lehret uns die Absicht, in welcher wir reden. Wir wollen aber die Zuhörer überreden, oder ihren Verstand von der Warheit [!] gewisser Dinge überführen: Folglich muß man aus der Vernunfft=Lehre wissen, wie man andern die Wahrheit am besten beybringen könne. Wir wollen auch unsere Zuhörer bewegen etwas zu thun oder zu lassen: Folglich müssen wir aus der Sitten=Lehre verstehen, wie der Wille des Menschen am besten gelencket werde. Wer dieses verstehet, dem wird es nicht schwer fallen, eine Rede ordentlich einzurichten.«138

movere betont; diese (zutreffende) Beobachtung steht nur scheinbar im Widerspruch zur von mir betonten Aufwertung der docere-Funktion durch Gottsched. 135 Gottsched: Grundriß zu einer vernunfftmäßigen Redekunst, Bl. )(6r (Vorrede). 136 Gottsched: Grundriß zu einer vernunfftmäßigen Redekunst, 31–37. 137 Gottsched: Grundriß zu einer vernunfftmäßigen Redekunst, 7–42. 138 Gottsched: Grundriß zu einer vernunfftmäßigen Redekunst, 31.

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Daran anschließend wurde folgerichtig ausgeführt, daß, um zur geforderten Überredung139 (persuasio) zu kommen, in einer Rede deshalb zuerst notwendige Erklärungen des Hauptsatzes (Redethemas) Platz haben müßten, die sachlich und begriffl ich dem auf klärerischen perspicuitas-Ideal verpfl ichtet waren.140 Wenn damit die notwendige begriffl iche und sachliche Klarheit hergestellt sei, folgten die (vernünftigen) Beweisgründe,141 die ihrerseits (vernünftige) Erklärungen erforderlich machten. Diese Beweisgründe sollten – entsprechend der eingangs aufgestellten These – nach den Beweisverfahren der Philosophie abgehandelt werden, d. h. entweder als vollständige oder unvollständige Vernunftschlüsse (Syllogismen142 oder Enthymeme143 ), 139 Zur für die Auf klärung begriffsgeschichtlich wichtigen Differenzierung von »Überreden« und »Überzeugen« siehe Gottsched: Grundriß zu einer vernunfftmäßigen Redekunst, 3 f.: »§. 9. Einen überreden, heist so viel, als zuwegebringen, daß der andere, mit dem ich zu thun habe, einer Meynung beyzupfl ichten anfängt, welcher er zuvor entweder gar nicht, oder doch nicht vollkommen zugethan war. Und diese Uberredung geschiehet allezeit durch gewisse Gründe. §. 10. Sie ist von der vollkommenen Uberzeugung in etwas unterschieden. Denn diese fi ndet nur allda statt, wo man völlige Demonstrationen, das ist, Vernunfft=Schlüsse von der grösten Schärfe, machen kan: Jene aber ist auch mit wahrscheinlichen Beweißthümern zufrieden.« Die Überredung hat daher ihren Ort in der Rhetorik, wo als Beweisverfahren meistens das Enthymen (ein verkürzter Syllogismus) Anwendung fi ndet; Überzeugung dagegen fi ndet allein in der Philosophie statt, wo mit vollständigen syllogistischen Beweisverfahren operiert wird. In seinem philosophischen Lehrbuch ging Gottsched jedoch von drei abgestuften Graden der Gewißheit aus: der Überführung (höchster Grad der Gewißheit durch analytische oder synthetische Schlußreden nach mathematischer Beweisart), der Überredung (Gewißheitsherstellung mittels Enthymemen, vornehmlich in der Rhetorik), der Überzeugung (durch Berufung auf Zeugen); Gottsched: Erste Gründe der gesamten Weltweisheit, GAW V/1, 219 f. (§§. 200–202). – Vgl. auch Knape: Persuasion, 895 f.; zu Gottsched als einem Vertreter einer genuin rhetorischen persuasio-Theorie, die gegen eine Linie philosophisch-logischer convictio-Auffassungen in der Redekunst steht, vgl. auch K. Petrus: Convictio oder persuasio?: Etappen einer Debatte in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Rüdiger – Fabricius – Gottsched), in: Zeitschrift für deutsche Philologie 113 (1994), 489–492. 140 Die Erklärungen müßten die erste Stelle einnehmen, »damit sie [sc. die Zuhörer] den Redner völlig verstehen, und gantz deutlich begreifen mögen, was seine Meinung sey. Denn verstehen sie ihn noch nicht, so werden sie ihm auch nicht Beyfall geben können, wenn er gleich die richtigsten Beweis=Gründe anführen möchte«; Gottsched: Grundriß zu einer vernunfftmäßigen Redekunst, 31. 141 Gottsched: Grundriß zu einer vernunfftmäßigen Redekunst, 32: »§. 5. Versteht mich der Zuhörer wohl, so muß ich ihm auch zeigen, daß dasjenige, was ich behaupte, wahr sey. Dieses geschieht durch Beweis=Gründe [. . .]«. 142 Gottsched: Grundriß zu einer vernunfftmäßigen Redekunst, 33: »§. 7. Habe ich nun zur Behauptung meines Satzes [sc. des Themas der Rede] nicht mehr als einen Beweis nöthig, so entstehet daher die allerleichteste Art zu disponieren; nehmlich durch einen Syllogismum. Ein förmlicher Vernunfft=Schluß hat drey Sätze, davon trägt man die beyden erstern absonderlich vor, man erkläret, erläutert und beweiset sie aufs neue, und zieht endlich den Schluß heraus.« 143 Gottsched: Grundriß zu einer vernunfftmäßigen Redekunst, 33. – Vgl. dazu auch Stauffer: Erfi ndung und Kritik, 269. Zum Enthymem als »eine[m] der wichtigsten elementaren Überzeugungsmittel[n] der Rhetorik«, ein dem Syllogismus verwandten Be-

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die ihrerseits entweder der analytischen (induktiven) oder synthetischen (deduktiven) Beweismethode zu folgen hätten. Daß Gottsched dabei unter dem (bei ihm vielerorts argumentativ beanspruchten) Natürlichkeitsaspekt die synthetische Lehrart präferierte,144 lag auf der Hand. Erst nachdem der theoretische Aspekt der zu behandelnden Sache auf diese Weise hinreichend abgesichert sei, könne sich der Redner mit vernünftigen Beweggründen den Affekten zuwenden, die (wie von ihm ebenfalls eingangs begründet) nach Maßgabe der philosophischen Sittenlehre zu erregen seien.145 Die Erläuterungen aber, die mittels Beispielen, Vergleichen, Analogieverweisen, Sprichwörtern, Testimonien etc. »(. . .) auch was zur Deutlichkeit bey(tragen)«146 , hätten keinen festgelegten Ort innerhalb der dispositio, sondern müßten über die ganze Rede je nach Erfordernis verteilt werden.147 Allein schon dieser kurze Argumentationsgang verdeutlicht, daß Gottsched den persuasiven Akt hinsichtlich seiner kognitions- und handlungspsychologischen Bezüge maßgeblich als rationalen Erkenntnisprozeß in Anlehnung an die philosophische Erkenntnismethode strukturierte,148 die ihrerseits die Steuerbarkeit des Willens über die Vernunft postulierte. Wie aber stellte Gottsched die Verbindung zur geistlichen Redekunst her? Da Gottsched die Reflexionen der antiken Autoren über das Wesen der Rhetorik im Spiegel der Philosophie Wolffs als vernunftgemäße, überzeitliche Theorie einer jeglichen kommunikativen Sprachhandlung deutete, die auf Überredung (persuasio) zielte und mittels Überzeugung des Verstandes (docere) und Bewegung des Willens (movere) zu realisieren war, war es folgerichtig, die Predigt als Sonderfall eines den gleichen Redezweck verfolgenden rhetorischen Persuasionsaktes aufzufassen. In der Vorrede erklärte er dazu unmißverständlich:

weisverfahren, bei dem aber eine Prämisse fehlt bzw. die Protasis als wahrscheinlich vorausgesetzt wird, vgl. M. Kraus: Enthymem, HWRh 2 (1994), 1197. 144 Gottsched: Grundriß zu einer vernunfftmäßigen Redekunst, 34. – Grosser: Gottscheds Redeschule, 46 mit Anm. 165 behauptet mit Hinweis auf diese Stelle zu weit gehend, Gottsched habe hier einer »Bevorzugung der synthetischen vor der analytischen Predigtmethode« das Wort geredet. 145 Gottsched: Grundriß zu einer vernunfftmäßigen Redekunst, 35 f. 146 Gottsched: Grundriß zu einer vernunfftmäßigen Redekunst, 18. 147 Gottsched: Grundriß zu einer vernunfftmäßigen Redekunst, 36 f. 148 Vgl. Gottsched: Erste Gründe der gesamten Weltweisheit, GAW V/1, 216,28– 217,2 (Text so jedoch auch schon in der 1. Aufl. von 1733): »Ueberhaupt kömmt die Pfl icht eines Lehrers auf nachfolgende vier Hauptstücke an. Erstlich muß er seinen Satz deutlich erklären, damit man wissen könne, wovon die Rede sey. Zum andern muß er die Zuhörer von der Wahrheit seines Satzes überführen können. Zum dritten muß er die Gegensätze seiner Widersacher zu widerlegen wissen. Endlich und zum vierten muß er auch ihre Einwürfe zu beantworten geschickt seyn. Alles dieses muß ein Redner auch thun; wie ich in meiner Redekunst erwiesen habe.«

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»So lange der Mensch ein Mensch ist, wird man ihn nach solchen Regeln der Redekunst von allen Gattungen der Wahrheiten überreden können. Es mag also einer geistliche oder weltliche, lange oder kurtze, freudige oder traurige, ja lateinische oder deutsche Reden halten wollen; so wird er sie nach diesen Regeln abfassen können und müssen: dafern er anders gesonnen ist, seine Zuhörer von etwas zu überreden, was nicht wieder die Wahrheit und Tugend läuft.«149

1.3.2 Die theologisch-homiletische Begründung Die homiletische Beanspruchung antiker rhetorischer Regeln für die Predigt und die Parallelisierung von Predigt und weltlicher Rede unter sprachtheoretischem Gesichtspunkt war freilich kein umstürzend neuer Gedanke. Gottscheds These konnte an eine Reihe älterer Überlegungen anknüpfen, in denen (vermutlich in Aufnahme humanistischer Traditionslinien, insbesondere Melanchthons) 150 die Rhetorik formal, im Sinne eines technischen Instrumentariums, zur Umsetzung der einzelnen Produktionsstufen einer Predigt Anwendung fand. Ferner begegneten auch im 17. Jahrhundert meist von Rhetoriklehrern (nicht Theologen!) vertretene Auffassungen, die unter anthropologischem Gesichtspunkt die Überredung (persuasio) zu (göttlichen) Wahrheiten und (christlichen) Tugenden als Predigtziel formulierten und daher das docere, movere und delectare als homiletische Aufgaben bestimmten.151 Theologisch korrespondierte eine solche Ansicht mit der – ursprüng149 Gottsched: Grundriß zu einer vernunfftmäßigen Redekunst, Bl. )(6r-v (Vorrede); Hervorhebung A. S. 150 U. Schnell: Die homiletische Theorie Philipp Melanchthons, Berlin; Hamburg 1968; vgl. auch die den Präzeptor Germaniae betreffende Aussage von M. Schian: Die Homiletik des Andreas Hyperius, ihre wissenschaftliche Bedeutung und ihr praktischer Wert. Zweiter Teil, in: ZPrTh 19 (1897), 27–66, hier 38: »Nach den Elementa wäre Homiletik nur die Anwendung der rhetorischen Vorschriften auf die Rede de doctrina religionis. Diese doctrina religionis steht also zur Rhetorik nicht anders als die natura rerum, als das ius. Es sind Verhandlungsgegenstände der Rede; dieselben bestimmen den Stoff, während die Rhetorik für alle diese Reden dieselben Vorschriften giebt. Die Predigt ist ihm hiernach eine Rede wie alle Reden, nur dass die doctrina religionis ihren Inhalt bildet, und nicht die philosophia, oder die doctrina iuris und historiarum. Alle einzelnen rhetorischen Regeln sind für die Predigt gültig.« – In seiner Ausführlichen Redekunst rühmte Gottsched später die Rhetorik Melanchthons überschwenglich. Melanchthon »führte seine Schüler auf die Regeln und Exempel der alten Griechen und Lateiner; als auf die rechten Quellen des guten Geschmackes. Er schrieb selbst eine Rhetorik, die auch gewiß nach diesen Mustern eingerichtet ist, und die gesundesten Regeln der wahren Beredsamkeit in sich hält. Es ist ein Wunder, daß selbige nachmals so ins Vergessen gerathen [. . .]«; Gottsched: Ausführliche Redekunst, GAW VII/1, 78,5–10. 151 Gottsched zitiert daher in seinem homiletischen Lehrbuch die Position des berühmten Kieler Gelehrten Daniel Georg Morhof (1639–1691), der in seinem erstmals 1687 erschienenen Polyhistor (41747 = ND Aalen 1970) im Kapitel De Rhetoribus atqve Oratoribus Sacris die Ansicht vertreten hatte: »NOn differt Oratoria Sacra à Civili, nisi argumento: siquidem praecepta eadem sunt: persuadet Orator Civilis, persuadet & Ecclesiasticus: si docet, Dialecticas interpretando rationes sequitur«; D. G. Morhof: Polyhistor, literarius, philosophicus et practicus. Editio Tertia, cui praefationem, notitiamque diariorum littera-

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lich rhetorischem Denken verpfl ichteten – bibelhermeneutischen Auffassung, nach der die Heilige Schrift – bezogen auf das Heil des Menschen – die Rechtfertigungsbotschaft als Glaubenslehren und Lebenspfl ichten zur Entfaltung brächte, die in der Predigt rhetorisch zur Anwendung zu bringen seien.152 Rhetorik und Theologie waren unter diesem Gesichtspunkt in der Predigttheorie der Orthodoxie homiletisch miteinander verschmolzen. Die Majorität der orthodoxen Predigttheoretiker betonte dabei zwar die prinzipielle Andersartigkeit der Rhetorica sacra (indem etwa wie bei Hülsemann in der nach aristotelischen Distinktionen durchgeführten homiletischen Theorie eine formale Trennung von Rhetorik und Theologie konsequent durchgehalten wurde) 153 und wies eine Parallelisierung von weltlichen Überredungsstrategien mit der durch den Heiligen Geist gewirkten persuasio strikt zurück. Faktisch aber war die Verhältnisbestimmung von weltlicher und

riorum Europae praemisit Jo. Albertus Fabricius. Lübeck 1732, 984. [Gottsched:] GrundRiß einer Lehr-Arth, 41 f. bot das Zitat in folgender deutscher Übersetzung: »Die geistliche Redekunst ist von der weltlichen, ausser der Sache, davon eine jede handelt, nicht unterschieden; sintemahlen beide einerley Gesetze haben. Ein weltlicher Redner bemühet sich andere zu überführen; ein geistlicher Redner suchet eben dieses: wen(n) er lehret; so muß er bey der Auslegung eben so wohl denen Gründen der Redekunst folgen.« 152 Die für die Bibelhermeneutik grundlegende Bestimmung des Textgenus eines Predigttextes folgte einem trichotomischen Grundmuster nach biblischem Vorbild (2 Tim 3, 16 in Kombination mit Röm 15, 4): Ein Text enthielt demnach im Skopus entweder eine (dann auch für die Predigt grundlegende) positive Glaubenslehre (genus didascalicum; deren Gegenteil, nämlich den Irrtum, behandelt das genus elenchticum), eine positive Lebenspfl icht (genus paideuticum; deren Gegenteil, nämlich die Warnung vor einem falschen Tun ist im genus epanorthoticum aufgehoben) oder einen Glaubenstrost (genus paracleticum). In dieser Dreiteilung (Glaubenslehren, Lebenspfl ichten, Glaubenstrost) liegen daher auch gleichnamige Predigtreihen vor, beispielsweise durch Philipp Jacob Spener vor. Die der genera-Lehre verpfl ichtete, aus dem Geist der Rhetorik gewachsene Bibelhermeneutik (man kann hinter dieser Dreiteilung die bei Augustin einsetzende christliche Integration der drei rhetorischen offi cia erkennen), wurde durch Andreas Hyperius mit der paulinischen Trias von Glaube-Liebe-Hoffnung (1 Kor 13, 13) zusammengebracht (vgl. H. M. Müller: Homiletik, TRE 15, 534,1–21; Steiger: Rhetorica sacra, 526) und erlangte für die protestantische Predigt des konfessionellen Zeitalters grundlegende Bedeutung. Kreslins: Dominus narrabit, 110 kommt jedoch bei seiner Analyse orthodoxer Homiletiken zu dem Befund: »Though the Lutheran treatises do not present a uniform picture of the offi cia of the sermon, a general tendency towards the reduction of the Augustinian triad to teaching and persuading, in some cases even to teaching alone, can be observed.« 153 Schian: Orthodoxie und Pietismus, 126 kommt unter dem Eindruck des (möglicherweise über die Lektüre von Gottscheds homiletischem Lehrbuch vermittelten) Zitates Morhofs über die grundsätzliche Gemeinsamkeit von Predigt und Rede zu dem falschen Schluß, daß »(d)ies Urteil (. . .) die allgemeine Auffassung (charakterisiert)«. Richtig bleibt aber dennoch die grundsätzliche, jedoch im einzelnen zu differenzierende Feststellung von Dyck: Ticht-Kunst, 2, daß »(s)elbstverständlich (. . .) der gesamte literarische Betrieb des Barock unter der Herrschaft der Rhetorik (bleibt). [. . .] So ist die antike Rhetorik Ideenmagazin und Stilreservoir in der normgebenden Schulstube, in den Kammern der Dichter und auf den Kanzeln der Prediger«.

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geistlicher Redekunst hinsichtlich ihrer Überschneidungen und Gemeinsamkeiten in der Orthodoxie umstritten.154 Unterstützung bezog Gottsched neben den einschlägigen Definitionen eines Morhof und anderer, die die Predigt als Teil oder als Parallelgestalt einer profanen Rede ansahen, möglicherweise auch durch ausländische Einflüsse, wie sie beispielsweise mit einer französischen Schrift zur Rhetorik aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, vorlagen. Es handelte sich hierbei um eine zuerst 1657 in Paris erschienene Schrift des französischen Rhetorikers Michael Le Faucheur (1585–1657), die allem Anschein nach nicht zuletzt im Zusammenhang mit den pietistischen Angriffen auf die orthodoxe ars oratoriae aus apologetischen Gründen 1690 ins Lateinische und 1709 ins Deutsche übersetzt und damit dem deutschen Publikum zugänglich gemacht worden war.155 Ein Einfluß diesen Büchleins auf Gottscheds Rhetorik wurde bereits in der Vergangenheit gelegentlich veranschlagt.156 Gottsched selbst erwähn154 Vgl. zur Diskussion dieses Problems in der Orthodoxie beispielsweise den Königsberger G. Wegener: Dissertatio Theologica, De Rhetoricae Usu In Ecclesia, Magnaqve Inter Civilem Et Ecclesiasticam Convenientia et Differentia, Praelectionibus aliquot publicis expedita, & nunc in gratiam Studiosae juventutis edita, Regiomonti 1704. – Das Vulgärverständnis zum Verhältnis von geistlicher und weltlicher Beredsamkeit zu Beginn des 18. Jahrhunderts artikuliert ein Satz bei N. H. Gundling: Collegium Historico-Literarium. Anderer und letzter Theil: Die Geschichte der noch uebrigen Wissenschaften, fürnehmlich der Gottes-Gelahrtheit, wie auch besonders eine umständliche Historie aller und jeder Theile der Rechts-Gelahrtheit bis 1742. Nebst nöthigen Zusätzen, und Anmerkungen zum ersten Theile, in sich enthaltende, Bremen 1742, 653: »Sie [sc. die Homiletik] wird gemeiniglich vor ein Stück der Redner-Kunst gehalten, und dahero sonst auch oratoria sacra genennet.« Gleichwohl wird Gottsched die Auf hebung der Trennung zwischen weltlicher und geistlicher Beredsamkeit von den Inquisitoren zum Vorwurf gemacht werden: »Es sey auch nicht an dem daß das Wort Gottes mit dem Kunst Grieffe des Weltlichen Redner müße vorgetragen werden, und daß die Lehre des Heil. Geistes von denen Göttlichen Wahrheiten nicht auch eine besondere Geistliche Beredsamkeit erfordere«; Verhörprotokoll, zit. nach D. Döring: Die Philosophie, 142 f. 155 [M. Le Faucheur:] CONRARTS Gründlicher Unterricht wie ein Geistlicher und Weltlicher Orator in der Aussprache und Gestibus sich manierlich und klug aufzuführen hat. Anfangs in Frantzösischer, nachmahls in Lateinischer, jetzo aber wegen seiner Vortreffl ichkeit in Teutscher Sprache geschrieben, Und nach der neuesten Methode in Fragen gebracht. Nebst einem gantz neu hinzugefügten Capitul von der Memoria. Jena 1709. – Das erstmals 1657 in Paris erschienene und seitdem mehrfach aufgelegte Duodezbüchlein (der Titel einer mir erreichbaren Ausgabe lautet: Traite de l’ action de l’ orateur, ou de la prononciation et du geste. Tres-nécessaire à tous ceux qui ont à parler en public. Par Mr. Conrart, Secrétaire du Roy, Maison & Couronne de France, Paris 1686) dürfte zuerst durch eine 1690 in Helmstedt erschienene lateinische Übersetzung in Deutschland rezipiert worden sein; vgl. zu Le Faucheurs Text auch die sparsamen Bemerkungen im Kommentarteil GAW VII/4, 37. 156 Wechsler: Johann Christoph Gottscheds Rhetorik, 56 vertrat die Ansicht, daß Gottsched den Traité Le Faucheurs schon im Grundriß zu einer vernunfftmäßigen Redekunst (1728) benutzt, »aber dort verschwiegen[. . .]« habe. Vgl. auch ebd, 76: »Daher hat er [sc. Gottsched] den Traktat, der sowohl französisch als lateinisch in Menckes Besitz war, schon für seinen ›Grundriß‹ benutzt [. . .]«.

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Kapitel 2: Gottscheds Theorie der »philosophischen« Predigt

te Le Faucheur erstmals in seiner Critischen Dichtkunst (1729/30) 157 und danach in seiner Ausführlichen Redekunst (1736) 158. Das Büchlein selbst dürfte ihm aber schon früher in der Bibliothek der Teutschen Gesellschaft, wahrscheinlicher jedoch – wie Wechsler plausibel animmt – in seiner französischen Fassung in der Bibliothek Menckes, die Gottsched drei Jahre lang als Bibliothekar beaufsichtigte, in die Hände gefallen sein.159 Dabei mochte nicht zuletzt die Auszeichnung dieses Werks durch Jean Le Clerc, der es »ein Meisterstück in dieser Art«160 nannte, das Interesse der Auf klärungsrhetoriker begründet oder zumindest verstärkt haben. Gottsched bezog aus Le Faucheurs Traktat dabei möglicherweise nicht nur Anregungen für die ungewöhnlich ausführliche und betonte Behandlung der pronuntiatio und actio161, die eine bemerkenswerte Wiedergewinnung dieses weithin vergessenen rhetorischen Themas für die Rede im allgemeinen und für die Kanzelrede im besonderen bedeutete.162 Sondern der 157 Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst, GAW VI/2, 333,20 f. – Der Hinweis auf Le Faucheurs französischen Traktat verrät auch Kenntnis der deutschen Übersetzung. 158 Gottsched: Ausführliche Redekunst, GAW VII/1, 100,3 f.; 417,22. 159 Zum von mir benutzten Exemplar siehe Bibliotheca Societas Teutonicae Saeculi XVI-XVIII. Katalog der Büchersammlung der Deutschen Gesellschaft in Leipzig/ nach dem von Ernst Kroker bearbeiteten Bestandsverzeichnis der Universitätsbibliothek Leipzig hrsg. vom Zentralantiquariat der DDR in Leipzig, Leipzig 1971, 125; auch wenn das Exemplar nicht in den beiden gedruckten und handschriftlich ergänzten Bibliothekskatalogen der Deutschen Gesellschaft aus den Jahren 1724 und 1731 aufgeführt wird, muß dies nicht zwingend heißen, daß es erst nach 1731 für die Bibliothek erworben wurde. Zu diesen beiden Bücherverzeichnissen vgl. auch die bibliographischen Angaben bei D. Döring: Die Geschichte, 178 in Anm. 75. – Im Katalog von Menckes Bibliothek aus dem Jahr 1723 ist ein Exemplar (Paris 1676) unter den Scriptores Artis Rhetoricae in duodecimo verzeichnet; Bibliotheca Menckeniana, 545. Ein Exemplar des Traktats ist auch nachweisbar in der Bibliothek von Frau Gottsched: Catalogue de la Bibliotheque choissie de feue Madame Gottsched, née Kulmus, proprement reliée en veau doré et autres relieures Angloises, et Italiennes, Leipsic 1767, Nr. 999; vgl. dafür auch die Hinweise bei Wechsler: Johann Christoph Gottscheds Rhetorik, 54. 56 mit Anm. 23. 160 Das Urteil Le Clercs (aus dessen Gedancken von der Wahren und Falschen Rede-Kunst. Altenburg 1722) referiert unter dem Datum des 20.12. 1763 im Verbund mit eigenen (lobenden) Erwähnungen J. K. Lavater: Reisetagebücher. Tl. 1/ hrsg. von Horst Weigelt, Göttingen 1997, 602. 161 Im dreigliedrigen Aufriß des Grundrisses nimmt die Behandlung der pronuntiatio/actio mit knapp 60 Seiten ebensoviel Raum wie die elocutio ein, während die inventio auf nur 35 Seiten Bearbeitung erfährt. 162 So eröffnete Gottsched: Grundriß zu einer vernunfftmäßigen Redekunst, 103 den Abschnitt zur pronuntiatio mit der Erzählung jener, von mir bereits erwähnten Anekdote, wonach Demosthenes den guten Vortrag gleich dreimal als Haupt- und Kernstück der Wohlredenheit, der Beredsamkeit und eines guten Redners betont hatte. Gottsched beklagte bei dieser Gelegenheit ebd, 104 f. mit besonderem Blick auf die deutschen Verhältnisse, daß man bei der Behandlung der pronuntiatio – im Gegensatz zur Antike – nachlässig geworden sei: »Der gute Vortrag einer Rede ist bey einigen Nationen fast biß auf den Nahmen ins Vergessen gerathen.«

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Traktat könnte auch seine Argumentation gestützt haben, die Notwendigkeit einer rhetorischen Behandlung der Predigt theologisch zu behaupten. Letzteres wäre nämlich über die Verbindung mit dem von Le Faucheur eingehend begründeten Argument denkbar, daß das Ende direkter göttlicher Offenbarungen und Wunder durch Gelehrsamkeit und Rhetorik, mithin wissenschaftliche Anstrengungen, aufgefangen werden müsse. Diese antienthusiastisch zugespitzte Gedankenfigur spielte in der gesamten Auf klärungshomiletik, prominent vertreten etwa von Mosheim,163 eine tragende Rolle zur Rechtfertigung der weltlichen Beredsamkeit auf der Kanzel. Sie begegnete in Gottscheds frühen Leipziger Jahren in knapper Form erstmals in den Vernünftigen Tadlerinnen164 und wenig später in einem weiteren homiletischen Lehrgedicht165. Die von Le Faucheur in einem weiteren Kontext behandelte Spezialfrage nach der Zulässigkeit körperlicher Beredsamkeit bei der Predigt166 und ihre Beantwortung mit Einsichten aus dem Bereich der rhetorica profana führte dabei über den engen Horizont eines homiletischen Spezialproblems hinaus auf die grundsätzliche Frage des Verhältnisses von weltlicher und geistlicher Beredsamkeit. Angesichts der weiträumigen, bis zu den Kirchenvätern zurückreichenden Beziehungen des bei Le Faucheur vorgetragenen Argumentationstopos167 dürfte es aufschlußreich sein, sich die Ausführungen des französischen Rhetorikers kurz zu vergegenwärtigen. 163 J. L. Mosheim: Heilige Reden über wichtige Wahrheiten der Lehre JESU Christi. Erster Theil. Nebst desselben Gedancken von der Ewigkeit der Höllen=Strafen. Dritter und verbesserter Druck, Hamburg 1728, Bl. **2v hatte die Anwendung rhetorischer Persuasionsverfahren gegenüber der erwarteten orthodoxen bzw. pietistischen Kritik mit folgendem Argument verteidigt: »Paulus hatte eine grössere Gabe, die Schläffrigen zu erwekken, als wir alle. Das war die Gabe Wunder zu thun, die er gleich darauf den Beweiß des Geistes und der Krafft nennet. Wir würden ebenfalls auf keine Kunst und Ordnung dencken dürffen, wenn es GOtt gefallen hätte, diese Krafft auf uns fort zu pfl antzen.« 164 Die Vernünftigen Tadlerinnen Bd. 2, 39: »Was die heiligen Männer GOttes aus höhern Trieben gehabt, muß jetzo guten theils durch Fleiß und Mühe erlernet werden.« 165 J. Ch. Gottsched: Die rechte Art zu predigen. An des Herrn Romanus Tellers, der heiligen Schrift Doctors, Hochehrwürden. Bey Gelegenheit dessen erster Beförderung nach Merseburg, GAW I, 437,45–438,1 notierte 1730 in einem programmatischen Lehrgedicht (ausführlich dazu unten Abschn. 1.4), in dem er in Verlängerung der orthodoxen Tradition auch das Ideal des erudierten Predigers vertrat, folgenden Gedanken: »Seit dem des Höchsten Geist, mit wunderbarer Kraft, Nicht mehr Propheten treibt, nicht mehr Apostel schafft; Seit dem die Sendung nicht unmittelbar geschiehet, Weil das geschriebne Wort allein die Herzen ziehet: Seit dieser ersten Welt muß Fleiß, Belesenheit, Der Sprachen Wissenschaft, und die Beredsamkeit, Den frommen Lehrerstand, bey Bethen und bey Wachen, Zu der Gemeinen Dienst geschickt und tüchtig machen.« 166 Vom geistlichen Redner handelte speziell [Le Faucheur:] CONRARTS Gründlicher Unterricht, 13–27. 167 Der schon von Johannes Chrysostomus diagnostizierte Befund, daß die Fähigkeit,

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Nachdem Le Faucheur zunächst die Einwände der Kritiker zusammengetragen hatte, die gegen den Einsatz der eloquentia corporis auf der Kanzel sprachen,168 brachte er Argumente für die Ausrichtung der geistlichen an der weltlichen Beredsamkeit vor. Zunächst stellte er klar, daß er nicht beabsichtige, die »Cantzel zu nichts anders, als zu einem Theatro ihrer [sc. der Prediger; A. S.] Eitelkeiten«169 zu machen, sondern daß er vielmehr die effektivere Erbauung der Gemeinde im Auge habe.170 Sodann räumte er den Verdacht beiseite, als wäre es bei der Verkündigung etwas Verbotenes, auf die menschlich-natürlichen Bedürfnisse des Zuhörers einzugehen.171 Am ausführlichsten beschäftigte sich Le Faucheur aber mit der offenbar entscheidenden Frage, ob durch das Vorbild der Apostel in irgendeiner Weise über den Gebrauch der Beredsamkeit, im vorliegenden Fall: der eloquentia corporis, entschieden worden sei. Zwar stimmte er der Ansicht zu, die Apostel hätten wohl nicht nach heutigen oratorischen Regeln gepredigt. Stattdessen aber habe bei diesen die »überflüßige Gnade des Heiligen Geistes, mit welcher sie vom Himmel waren getaufft worden, und der unmittelbahr ihnen verlieheWunder zu bewirken, nicht mehr in der Kirche anzutreffen sei, führte bereits bei diesem zu der Ansicht, daß die Predigt mit der Belehrung durch das Wort in die entstandene Lücke springen müsse; H. M. Müller: Homiletik, TRE 15, 529, 20–23. 168 [Le Faucheur:] CONRARTS Gründlicher Unterricht, 16–18 (§. 2). Die Einwände der Kritiker waren: 1. »Es sey Schande, daß die, so GOtt zu seinen heiligen Dienste angenommen, in welchen sie allem GOttes Ehre zu befördern, die Göttlichen Geheimnisse hochzuachten, die Gebothe heilig zu halten, die Erbauung der Gemeine zu suchen, und vor derer Menschen ewige Seeligkeit zu sorgen, sich solten lassen angelegen seyn, darum wolten bekümmert seyn, wie die Stimme müsse formiret, und der Leib beweget werden« (ebd, 17). 2. »Die Wahrheit einen zu überreden, die Seelen zum Glauben, Gottesfurcht, zu allen Christlichen Tugenden nicht allein mit seiner Eloquence, sondern auch mit der Annehmlichkeit der Aussprache und derer Gebärden richten wollen, sey nichts anders, als versuchen, daß die Religion, welche doch geistlich ist, von denen sinnlichen und äusserlichen Dingen dependiren solte« (ebd.). 3. »Hierzu käm noch dieses, daß die Heil. Apostel dergleichen niemals gelernet, oder dadurch dem HErrn Christo viel Seelen zugeführet« (ebd, 17 f.). – Diese Kritikpunkte, die bei Le Faucher ursprünglich die französischen Verhältnisse um die Mitte des 17. Jahrhunderts zum Hintergrund hatten, stimmten weitgehend mit der pietistischen Kritik an orthodox-barocker Predigttheorie überein, wie sie um 1700 im deutschen Sprachraum geübt wurde. 169 [Le Faucheur:] CONRARTS Gründlicher Unterricht, 20 (§. 4). 170 [Le Faucheur:] CONRARTS Gründlicher Unterricht, 21 (§. 5): »Meine gantze Intention gehet eintzig dahin, wie ich die Manier zeigen möge, nach welcher ein zukünfftiger Prediger seine Stimme so schicken müsse, daß durch dero Unannehmlichkeit oder ungeschickten Gestus bey denen Zuhörern gegen Gotteswort kein Eckel entstehe; doch das macht es nicht alleine aus, sondern er soll, so gut es immer seyn kan, unterwiesen werden, wie er durch ein anständiges Movement die Gemeine erbauen könne.« 171 [Le Faucheur:] CONRARTS Gründlicher Unterricht, 22 (§. 6): »Und ist nicht zu leugnen, daß bey diesen Stücke nicht die Sinnen solten können delectiret werden, allein, weil diese in denen Zuhörern erweckte Lust, zur Ehre GOttes, und derer Seelen Seligkeit gereichet, auch verursachet, daß das Wort GOttes mit grössern Appetite gehöret, und länger im Gedächtniß behalten wird, als folgt von sich selbst, daß dieses ein höchstnöthiges, heiliges Studium seyn müsse.«

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ne göttliche Beystand, so offt das Evangelium solte geprediget werden, [. . .] alles dasjenige, was man sonst durch Kunst, Methoden, auf Universitäten oder von Doctoribus erlernet, reichlich ersetzet«172 . Darüber hinaus besaßen die Apostel die Macht, Wunder zu tun, ein deren Verkündigung kennzeichnendes Element von ganz außergewöhnlich persuasiver Kraft, das den Heutigen nicht zur Verfügung stünde.173 Unter den gewandelten Predigtbedingungen der nachapostolischen Zeit sah Le Faucheur die Übertragung von rhetorischen Regeln aus dem Bereich der weltlichen Beredsamkeit auf die geistliche Redekunst zur Behebung dieses Mangels nicht nur als geraten, sondern geradezu als geboten an. Bemerkenswerter Weise stand und fiel die Frage nach den Anknüpfungspunkten von Gottscheds Argumentation und seinem Bemühen, die »weltlichen« Künste für das heilige Geschäft der Predigt nutzbar zu machen, gar nicht mit dem ins französische Ausland verweisenden Traktat Le Fauchers. Denn die Orthodoxie selbst hatte nachdrücklich – herausgefordert durch eine zum Teil an die Wurzeln ihres Schrift- und Predigtverständnisses gehende Kritik des Pietismus – das Recht von Vernunft und Kunst im (nur letztlich supranaturalistisch gedachten) Persuasionsakt in der Predigt eingeräumt, ein Umstand, auf den Gottsched auf bauen konnte.174 Insofern konn172 [Le Faucheur:] CONRARTS Gründlicher Unterricht, 25 f. (§. 8). – Diesselbe Auffassung betreffend der außergewöhnlichen geistlichen Begabung der ersten Prediger hatte mit entgegengesetzter Schlußfolgerung G. Arnold: Vorrede De methodo heroica oder von der freyen und einfältigen Predigt=Art, in: ders.: Evangelische Reden über die Sonn= und Festtags=Evangelien zu einer bequemen Haus= und Reise=Postill heraus gegeben; mit einer Vorrede [. . .], Leipzig (1709) 31733, Bl. a2r-b6v vertreten. 173 [Le Faucheur:] CONRARTS Gründlicher Unterricht, 26 (§. 9): »Kurtz ausser dem, was nur itzo gesagt worden, fand sich bey ihnen die Gabe Wunder zu thun, wodurch die Wahrheit des gepredigten Evangelii versiegelt, und desto stärcker der Welt bewiesen wurde.« 174 In Gottscheds Bibliothek (Catalogus Bibliothecae, quam Jo. Ch. Gottschedius, Nr. 3992) befand sich u. a. die Homiletik des Stollbergischen Superintendenten Michael Wi(e)demann, in der er einerseits den übernatürlichen Charakter der Predigt betonte, andererseits aber mit deutlichem Bezug auf die pietistische Predigtkritik festhielt: »Jedoch muß niemand dafür halten/ daß der heilige Geist/ oder die Krafft des Wortes alle Kunst auf hebe [. . .] Ich habe wohl erfahren/ daß mancher sagt/ ich studire nicht/ ich kehre mich auch an keine Methode, sondern ich lasse den Geist durch mich predigen/ und behilfft sich damit/ man müsse die Vernunfft gefangen nehmen unter den Gehorsam des Christi 2. Cor. 11. v. 5. [recte: 2 Kor 10, 5] das ist alle Kunst und Methoden beyseit setzen. Aber das ist eine Prahlerey/ und/ wenn mans beym Lichte besiehet ein Unverstand.[. . .] Wenn auch Paulus der Vernunfft allhier ein Gefängnis ankündiget/ so redet er von einer solchen Vernunfft NB. die sich erhebet wider die Erkändnis Gottes 2. Cor. 11. v. 5. [recte: 2 Kor 10, 5] die Oratorie aber erhebt sich nicht allein wider die Erkänntnis Gottes/ sondern sie unterwirfft sich derselben als eine Dienerin/ so lange nun die Dienerin redet/ was ihr die Herrscherin befiehlt/ so lange redet die Herrscherin durch sie«; M. Wi(e)demann: Einleitung zum Christlichen Cantzel-Redner, darinnen gezeiget wird / wie man Biblische / in Predigten abzuhandelnde Texte analysieren und zerlegen / disponiren und eintheilen / amplificiren und erklären solle. Alles in kurtzen Gedächtnis-fälligen Regeln /

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te er Le Faucheurs These als völlig konkordant mit der Mehrheitsmeinung der Orthodoxie ansehen, die ihrerseits eine viel weiter zurückreichende Vorgeschichte hatte.175 Unter Berufung auf die ältere homiletische Tradition konnte Gottsched daher in den Vernünftigen Tadlerinnen, ohne viel zu riskieren, die Forderung erheben, daß die »wahre Beredsamkeit für einen Geistlichen keine unanständige Sache sey«, ganz im Gegenteil, »daß sie an sich eine gute Gabe GOttes sey, die auch zu heiligen Dingen das ihrige beytrage«176 . Bei dieser Gelegenheit verknüpfte er mit Blick auf Mosheims Predigten das antike rhetorische Ideal des vir bonus dicendi peritus mit dem orthodoxen Ideal eines gelehrten und frommen Predigers in normativer Absicht.177 Die entscheidende Legitimität der Beredsamkeit auf der Kanzel wurde dabei – nach dem Muster der bibelrhetorischen Tradition – über das Vorbild der Heiligen Schrift (Moses, der Prophet Jesaja und der Apostel Paulus als gewaltige Redner) hergestellt.178 So gesehen bewegte Gottsched sich bei seinem Integratidurch Lateinische Rhythmos anfangs entworffen und hernach mit deutlichen Erklärungen und Exempeln / erläutert und angewiesen, Leipzig 1713, 435 f. 175 Auf die Auffassung Chrysostomus’ hatte ich bereits in Anm. 167 verwiesen; vgl. zur Ansicht, daß der Prediger sich nicht allein auf den Gnadenbeistand Gottes verlassen dürfe, sondern sich durch Gelehrsamkeit und Studium in den Besitz unentbehrlicher Predigtvoraussetzungen bringen müsse, auch Augustin: De doctrina christiana, IV, 33. Ebenfalls wird in der im 17. Jahrhundert weitverbreiteten Encyclopaedia Johann Heinrich Alsteds die Notwendigkeit einer Rhetorica ecclesiastica bejaht, um der Behauptung der Wiedertäufer entgegenzutreten, Predigen sei allein das Werk des heiligen Geistes, der dem Prediger die dafür nötigen Dinge exklusiv zuführe; vgl. dazu Dyck: Ornatus und Decorum, 229 f. 176 Beide Zitate: Die Vernünfftigen Tadlerinnen, Bd. 2, 38. 177 Gottsched lobte an Mosheim nicht nur eine gute, natürliche Veranlagung, sondern hob in propagandistischer Absicht hervor, daß er »eine gründliche Erkenntnis in der Weltweisheit, eine grosse Wissenschaft in der Gottesgelehrsamkeit, eine rechtschaffene Frömmigkeit, und eine treffl iche teutsche Beredsamkeit« besäße; Die Vernünftigen Tadlerinnen, Bd. 2, 35 f. – Im Anschluß an 1 Tim 3, 2 und 2 Tim 2, 14 wurde im konfessionellen Zeitalter üblicherweise die Gelehrsamkeit des Predigers besonders betont; vgl. Dyck: Ornatus und Decorum, 229 f.; Kaufmann: Universität und lutherische Konfessionalisierung, 474. 479–48. Demgegenüber rückte der Pietismus die Frömmigkeit des Predigers in den Mittelpunkt seiner homiletischen Forderungen; vgl. M. Schmidt: Das pietistische Pfarrerideal und seine altkirchliche Wurzeln (1973), in: ders.: Der Pietismus als theologische Erscheinung: gesammelte Studien zur Geschichte des Pietismus, Band 2, Göttingen 1984, 122–155. 178 Vgl. zu nachreformatorischen Bibelrhetoriken (mit wesentlichen Einsichten zum orthodox-barocken Predigtverständnis) insbesondere Dyck: Athen und Jerusalem, passim; ders.: Ticht-Kunst, 135–173. – Vgl. als ein Beispiel aus der orthodoxen Tradition Georg Christian Eilmar, der gegenüber pietistischen Kritikern das eingeführte Predigtwesen mit folgendem Hinweis rechtfertigte: »Schon beym Anfang der Welt hat das Predigen seinen Anfang genommen / wenn zur Zeit Enos man anfing zu predigen vom Namen des HErrn Gen. IV, 26. der heilige Enoch vor der Sündfluth hielt schon die beweglichsten Jüngsten Tages Predigten / Epist. Judae v. 14. der alte Vater Noah war ein Prediger der Gerechtigkeit / II. Pet. II, 5. Abraham schlug seine Cantzel auf unter Bäumen zu Bersaba / und predigte von des HErrn Namen / Gen XXI, 33. wie Moses selbst in seinem Leben ein von

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onsversuch von Rhetorik und Homiletik auf theologisch abgesichertem Gelände. Neu war allerdings die Behauptung der exklusiven Alleingültigkeit der rhetorischen Regeln für die Homiletik, die die orthodoxe Konzeption einer rhetorica sacra in Frage stellte. Die Folgen dieser Neueinstellung der homiletischen Theorie an den philosophisch normierten Standards der Redekunst wurden freilich erst in Gottscheds Ausführliche[r] Redekunst sichtbar. Mit der Ausrichtung der Rhetorik an philosophischen Grundeinsichten war Gottsched demnach das Kriterium zur Separierung »wahrer« von »falscher« Beredsamkeit an die Hand gegeben,179 das gegenüber den überwiegend topisch ausgerichteten inventio-Verfahren180 barocker Redekunst nun nicht nur für die weltliche181, sondern auch für die geistliche Rede zur Anwendung gebracht werden konnte. Dementsprechend verurteilte Gottsched im Zusammenhang mit Überlegungen zur Frage nach dem Redeeingang Gott vortrefl ich ausgerüsteter Prediger gewesen durch vierzig Jahr / also ist aus Mose von langen Zeiten her in denen Städten geprediget worden / Actor. XV, 21«; G. Ch. Eilmar: Neuer Kirchen=Redner / wie derselbe auf der Cantzel sich gebührend zu erweisen / insonderheit Den Text wohl zu resolviren / zu disponiren / zu pariiren / auszuarbeiten / und die Predigt öffentlich abzulegen habe / nach denen gründlichen homiletischen Lehrsätzen / Des alten vortrefl ichen Theologi D. Hieronymi Welleri, mit fernern Anmerckungen / und völligen Dispositionibus [. . .], Franckfurt und Leipzig 1706, Bl. )(3r-v (Vorrede). 179 Gottsched: Grundriß zu einer vernunfftmäßigen Redekunst, 2: »§. 3. Sie ist aber entweder eine wahre, oder eine falsche Beredsamkeit. Diese trägt kein Bedencken, auch ungereimte und schändliche Dinge als wahr und löblich vorzustellen: ja sie bedient sich auch nichtswürdiger Schein=Gründe, an statt tüchtiger Beweißthümer, und betrüget also ihre Zuhörer durch ihre nichtigen Vorstellungen. §. 4. Die wahre Beredsamkeit hingegen ist allezeit mit der Liebe zur Wahrheit und Tugend verbunden. Sie bedient sich auch keiner ungegründeten Vorstellungen, sondern wendet die tüchtigsten Beweis=Gründe an, die Gemüther ihrer Zuhörer zu gewinnen.« Die Vertreter der »falschen« Redekunst werden ebd, 2 demgegenüber als »Schwätzer, unnütze Plauderer, oder Rhetorische Windmacher« bezeichnet. 180 Vgl. zum Hintergrund J. Dyck: Die Rolle der Topik in der literarischen Theorie und Praxis des 17. Jahrhunderts in Deutschland, in: Toposforschung: eine Dokumentation/ hrsg. von P. Jehn, Frankfurt am Main 1972, 121–149; zu den Ursprüngen einer theologischen Topik siehe P. Joachimsen: Loci communes: eine Untersuchung zur Geistesgeschichte des Humanismus und der Reformation, LJ 8 (1926), 27–97. 181 So kritisierte Gottsched: Grundriß zu einer vernunfftmäßigen Redekunst, 19 an den barocken inventio-Verfahren: »§. 8. Die Erfi ndung dieser Sätze kömmt theils auf die Belesenheit, theils auf einen witzigen Kopf an. Wenn es an jenem mangelt, dem zu gefallen hat man grosse Oratorische Schatz=Kammern voller Sinnbilder, Müntzen, Uberschrifften, Wahlsprüche, Buchstaben=Wechsel und Sprichwörter, samt andern solchen Promtuariis, Repertoriis, Vademecums, Florilegiis, Thesauris und Bibliothecken, voll schöner Raritäten zusammen gestoppelt, und sie als rechte Nothhelfer und Tröster in allen Rhetorischen Nöthen gar fleißig angepriesen.« Im daran anschließenden §. 9 verurteilte er die Realienmethode der Weise-Schule (ebd, 20) und im Zusammenhang mit der Erfi ndung/Auffi ndung von Beweisgründen mahnte er abermals zur Vorsicht bei der Benutzung topischer inventio-Verfahren; ebd, 21 f. (§§. 11. 12).

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beiläufig die in orthodoxen Predigten üblichen doppelten Eingänge (exordia) 182 als unvernünftig, da diese der rhetorischen Zwecksetzung eines Eingangs (Zubereitung der Hörer durch eine kleine Vorrede, die natürlich und ungekünstelt nach Gelegenheit der Zeit, des Orts oder des Redethemas angelegt werden soll) nicht entsprachen.183 Andere Kritikpunkte wurden von ihm zwar nicht ausdrücklich auf die Predigt gemünzt, fanden aber bereits von Zeitgenossen unmittelbar Anwendung auf die homiletische Situation. So fand sich Gottscheds Verurteilung der »künstlichen«, d. h. allegorischen, Redethemen184 in einem 1734 erschienenen Sammelband mit verschiedenen Beiträgen zur Predigtreform wieder.185 Damit wurde nicht nur die vom Verfasser intendierte Relevanz rhetorischer Reformforderungen für homiletische Sachfragen eindrucksvoll bestätigt,186 sondern diese ganz selbstver182

Die orthodoxe Predigttheorie brachte die doppelten Eingänge in der Regel als exordium generale (allgemeiner Eingang mit thematischer Hinführung vor Verlesung des Predigtextes) und als exordium speciale (spezieller Eingang nach Verlesung des Predigttextes als Hinführung zum Thema [propositio] der Predigt) zur Anwendung. Die bereits im Pietismus (zunächst unausgesprochen) empfundene Überflüssigkeit dieser zweifachen Einleitung fand daher bei überwiegender Beibehaltung der Form z. B. bei Spener ihren sinnfälligen Ausdruck, der das allgemeine Exordium zum Anlaß nahm, fortlaufende Reihenpredigten über biblische Bücher zu halten, die nicht Teil der Perikopenordnung waren; vgl. P. Grünberg: Philipp Jakob Spener, Bd. 2: Spener als praktischer Theologe und kirchlicher Reformer, Göttingen 1905, 41 f. 50. 183 Gottsched: Grundriß zu einer vernunfftmäßigen Redekunst, 29 f.: »§. 7. Zweyköpfichte Ungeheuer zu machen, oder zu einer Rede mehr als einen Eingang auszuarbeiten, das wollen wir einigen Cantzel=Rednern überlassen. Es ist unnöthig seine Zuhörer mit einer doppelten Vorbereitung zu beschweren, wohl aber erlaubt zuweilen seine Rede ohne einen Eingang anzufangen: Wenn nehmlich die Kürtze, oder ein besonderer Affect solches erfordert.« 184 Der poetologisch-rhetorische Gegenbegriff zum »Künstlichen« ist der des »Natürlichen«. Gottsched: Grundriß zu einer vernunfftmäßigen Redekunst, 10 kritisierte daher an allegorischen Themata, daß »allezeit ein unnatürlicher Zwang entstehen« würde. Deswegen kam er ebd, 10 f. zu dem Schluß: »§. 8. Ehe man sich also in die Gefahr waget, auf solche Art lächerlich zu werden, so bleibe man lieber bey der Natur, und sage den Haupt=Satz schlechtweg heraus, so wie die alten Griechischen und Lateinischen Redner gethan haben. Die Allegorischen Themata gehören mit zum Gothischen Geschmacke, und haben eine grosse Aehnlichkeit mit den bunt=krausen, gedrechselten und seltsam durchbrochenen Zierrathen in der Bau=Kunst, die wir an allen Thürmen, Dächern und Fenstern unsrer Gebäude noch wahrnehmen. Und es ist zu verwundern, daß man dergleichen altfränckische Redner=Künste, als Uberbleibsele der barbarischen Zeiten, nicht vorlängst mit der Lebens=Art unserer Vorfahren abgeschaffet hat.« 185 J. Ch. Gottsched: Auszug Aus Herrn Prof. J. C. Gottscheds Grund=Riß zur Rede=Kunst. Cap. I. §. 6.7.8., in: Herrn Johann la Placette, Kurtzer Unterricht, Wie man eine Predigt einrichten soll, Aus dem Frantzösischen übersetzt/ und nebst Herrn Abt Moßheims Entwurff seiner Gedancken von der geistlichen Beredsamkeit/ Herrn M. Grulichs Gedancken von der heutigen Art zu predigen/ Auch andern dahin gehörigen Auszügen, herausgegeben von Georgio Gottfried Roscio, Sorau 1734, 99 f. 186 Gottsched: Grundriß zu einer vernunfftmäßigen Redekunst, 4 (Hervorhebung A. S.) resümierte in den Einleitungsparagraphen zu seiner Rhetorik abschließend: »Der Nutzen der Beredsamkeit zeigt sich allenthalben. Nicht nur auf der Cantzel, und auf hohen

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ständliche Übertragung rhetorischer Reformüberlegungen auf den homiletischen Sektor verdeutlichte auch, wie weit der Boden für die auf klärerischen Anliegen längst bereitet war. Auf seiten der Orthodoxie mußte der generalistische Anspruch Gottscheds allerdings Bedenklichkeiten hervorrufen. Ein Rezensent kommentierte deshalb seine mit spitzer Feder geschriebene Forderung, die allegorischen Themen als »Überbleibsel der barbarischen Zeiten« abzuschaffen, mit einer eine gewisse Beunruhigung verratenden Einschränkung: »Wogegen wir nur den Mißbrauch derer Allegorien in Sacris abgeschafft zu seyn wünschen, von welchem es der Herr Prof. hoffentlich auch nur verstehen wird; Denn sonst würde sich das Urtheil durch seine eigene Form verwerffl ich machen.«187

1.4 Der »bunte Kram der orthodoxen Kunstmethoden«: die aufklärerische Kritik an orthodoxer Homiletik Als konkrete Zielscheibe von Gottscheds in der Ausführlichen Redekunst schließlich auf die Spitze getriebener Kritik188 an orthodoxer Homiletik (s.u. Schulen, sondern auch bey Hofe, in allen Städten, Flecken und Dörfern werden im gemeinen Leben bey allerhand Begebenheiten öffentliche Reden gehalten; ja selbst im täglichen Umgange und in vertraulichen Gesprächen, hat man offt die Absicht, andere Leute auf seine Meinung zu bringen.« 187 [Anonym:] Rez. Herrn Johann la Placette, Kurtzer Unterricht, Wie man eine Predigt einrichten soll, Sorau 1734, in: UN 1736, 534 f. (Hervorhebung A. S.). 188 J. Ch. Gottsched: Rede wieder die homiletischen Methodenkünstler, GAW VII/3, 122–131; ders.: Rede wieder die so genannte Homiletik, GAW VII/3, 131–138; die letztere Rede auch abgedruckt in: J. Ch. Gottsched: Reden, Vorreden, Schriften/ hrsg. von M. Wehr, Leipzig 1974, 73–82. – Im Verhör vor dem Dresdner Oberkonsistorium gab Gottsched an, »er hätte [. . .] die Reden in der Vertrauten RednerGesellschaft abgelesen«; Verhörprotokoll, zit. nach D. Döring: Die Philosophie, 151. Dies dürfte jedoch nur auf die Rede wieder die so genannte Homiletik zutreffen, die in der Ausführlichen Redekunst (Besonderer Theil) innerhalb eines Korpus von mehreren Beispielreden zum 8. Hauptstück (Von den Reden der Studirenden auf Schulen und Universitäten) zum Abdruck kam und zu denen Gottsched einleitend mitteilte, er habe sie »in der hiesigen vertrauten Rednergesellschaft, seit 1724. bis 1729. als Magister gehalten«; GAW VII/3, 230 (Variantenverzeichnis zu 267,27–268,23). Eine exaktere zeitliche Eingrenzung als dieser allgemeine terminus post et ante quem ist kaum möglich. – Bei der Rede wieder die homiletischen Methodenkünstler, die in der Redekunst als Beispiel für eine andere Redesituation zum Abdruck kam, spricht demgegenüber vieles dafür, daß sie von Gottsched in seiner 1727 gegründeten Nachmittäglichen Rednergesellschaft vorgetragen wurde. Folgende Indizien stützen diese Überlegung: Warum sollte Gottsched eine Rede zur mehr oder weniger identischen Thematik vor gleichem Publikum zweimal gehalten haben? Ferner: Die Rede kam zusammen mit zwei lateinischen akademischen Reden von Gottsched als Beispielrede zum 6. Hauptstück zum Abdruck, das »Von den öffentlichen Reden der Lehrer auf hohen und niedrigen Schulen« (Hervorhebung A. S.) handelte. Der Text selbst enthält dann mehrfach einschlägige Passagen, in denen Gottsched in der Rolle eines Lehrers die Zuhörer als seine Schüler anredet. So heißt es etwa: »Ich schliesse also diese meine Rede, mit einer gebührenden Danksagung an

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1.4.2) fi rmierte paradigmatisch die von der Leipziger Homiletenschule repräsentierte Homiletiktradition (»Leipziger Predigerkunst«) 189 bzw. die in den Leipziger Predigerkollegien geübte und auf den Kanzeln der Messestadt

meine bisherigen Herrn Zuhörer meiner Rhetorischen Lectionen«; GAW VII/3, 131,15– 17; vgl. auch ebd, 122,31–123,5; 124,34–37; 131,23–25. Das alles paßt nicht auf eine Rede in der Teutschen (Vertrauten) Rednergesellschaft! Viel naheliegender erscheint als Vortragsrahmen Gottscheds eigene, 1727 gegründete Nachmittägliche Rednergesellschaft. Entweder unterlief Gottsched mit seiner Aussage beim Verhör in Dresden ein Versehen, oder aber er wollte – was mir am wahrscheinlicher scheint – die Aufmerksamkeit der »Inquisitoren« bewußt von den auf klärerischen Aktivitäten der eigenen Sozietätsunternehmungen ablenken. Zur Datierung der Rede ist festzustellen: Vermutlich veranlaßt durch die Bemerkung Gottscheds, er habe den anwesenden Zuhörern »zu gut diejenigen Grundregeln einer vernunftmäßigen Redekunst, so ich schon vor etlichen Jahren entworfen hatte, nochmals übersehen, ausgebessert, und zum Drucke befördert« (ebd, 122,36–38; Hervorhebung A. S.), datierte Reichel auf 1735. Gottsched bezieht sich hier in der Tat auf den 1728 gedruckten Grundriß einer vernunftmäßigen Redekunst bzw. die gerade in der Endphase der Bearbeitung befi ndliche Ausgabe der Ausführlichen Redekunst (die Vorrede datiert auf die Ostermesse 1736). Damit wäre eine Entstehung der Rede im Jahr 1735 durchaus plausibel, wahrscheinlicher jedoch sogar Anfang 1736. Denn Gottsched spricht nicht von einer geplanten bzw. bevorstehenden, sondern bereits ganz offensichtlich schon im Druck befi ndlichen Ausgabe seiner Ausführlichen Redekunst. Dies stimmt auch mit Aussagen in Gottscheds Verhörprotokoll überein, wonach die Ausführlichen Redekunst über einen längeren Zeitraum, bogenweise in den Druck ging; siehe Verhörprotokoll, in: D. Döring: Die Philosophie, 146; vgl. auch Gottscheds Vorrede zur zweiten Aufl age der Redekunst (1739), GAW VII/3, 7,29–31. Diesen Überlegungen scheint zunächst eine Bemerkung Gottscheds entgegenzustehen, mit der Mosheims Predigtvorbild unter Hinweis auf dessen »zwey kleinen Bändchen geistlicher Reden, die in aller Händen sind« (Gottsched: Rede wieder die homiletischen Methodenkünstler, GAW VII/3, 127,23 f.), propagiert wird. Da die erwähnten beiden ersten Bände von Mosheims Heiligen Reden 1725 und 1727 erschienen, der dritte Band aber 1731 (bzw. der vierte sogar erst 1736), könnte aus Gottscheds Bemerkung rückgeschlossen werden, daß der 3. Band der Heiligen Reden zum Zeitpunkt der Rede noch nicht publiziert war und als Zeitpunkt der Abfassung der Rede deshalb ein Korridor zwischen 1727 (Gründungsjahr der Rednergesellschaft) und 1731 (Erscheinen des von Gottsched nicht erwähnten 3. Bandes von Mosheims Predigten) anzunehmen wäre. Diese Spannung läßt sich aber beseitigen, wenn man berücksichtigt, daß in Gottscheds persönlichem Besitz allem Anschein nach tatsächlich nur die beiden ersten (und die beiden letzten) der insgesamt sechs Bände umfassenden Heiligen Reden waren (Catalogus Bibliothecae, quam Jo. Ch. Gottschedius, Nr. 3925. 3926), auf die sich Gottsched bei ihrer Erwähnung nur deshalb bezog, weil nur sie ihm in diesem Moment vor Augen standen. Demnach kann der Datierung Reichels m. E. cum grano salis zugestimmt werden. 189 Gottsched: Rede wieder die homiletischen Methodenkünstler, GAW VII/3, 124,26–30: »Was das für eine gekünstelte Predigermethode sey, davon ich rede, kan ihnen allen, meine Herren, nicht unbekannt seyn. Sie leben alle in Leipzig, welches seit vielen Jahren der rechte Sitz und Aufenthalt derselben gewesen, und noch ist; ja welches so viel andern Städten in Deutschland fast zur Regel darinnen geworden.« Vgl. auch dessen ausführlichere Ausmalung »der so genannten Leipziger=Homiletick« ebd, 134,1–135,3 (Zitat: 134,2 f.) bzw. ebd, 125,2–20. – Zur »Leipziger Predigerkunst« und Gottscheds Kritik an ihr siehe jetzt auch Strassberger: Die »Leipziger Predigerkunst«, 162–218.

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gepflegte Predigtpraxis,190 die dem homiletischen Reformer aus eigener Anschauung vertraut war.191 Mit einem gewissen Recht konnte er daher – die Frage nach der Stichhaltigkeit der konkreten Anschuldigungen vorerst beiseite lassend – behaupten, daß er wisse, worüber er urteile.192 Auf derselben Linie äußerte sich der mittlerweile in die außerordentliche Professur für Poetik eingerückte Gottsched zudem auch in einem 1730 abgefaßten Kasualgedicht, das zunächst nur einem wohl eher kleinen, nach 1736 dann aber einem großen Kreis von Lesern bekannt wurde.193 Formal und inhaltlich schloß er damit den Zirkel, den er als gerade einige Monate in Leipzig Weilender mit seinem Jubelcarmen zum 100jährigen Bestehen des Großen Montägigen Predigerkollegiums angerissen hatte. Denn was der ostpreußische Flüchtling seinerzeit zunächst nur in der verhüllten Form einer konfessionellen Polemik und danach in den Tadlerinnen und im Grundriß seiner Redekunst mehr beiläufig als explizit gegenüber barocker Sprach- und Predigtauffassung kritisch geäußert hatte, wurde nun bei Gelegenheit der Beförderung des Leipziger Theologen und Predigers Romanus Teller (1703–

190 Zur Predigtpraxis in Leipzig bzw. Kursachsen während der 1720er und 1730er Jahre als dem empirischen Gegenüber von Gottscheds Kritik liegen keine Untersuchungen vor. Im Sinne einer ersten Momentaufnahme verweise ich auf Sicul I, 773–777 (Report über die um 1715 in Leipzig gepredigten Jahrgangsmethoden) sowie ganz besonders auf Sicul IV, 1138–1222, wo die Dispositionen aller in der Stadt Leipzig zur 200. Jahrfeier der Augsburger Konfession 1730 gehaltenen Jubelpredigten mitgeteilt werden. Auf Grundlage dieses einigermaßen repräsentativen Querschnitts dürfte es möglich sein, erste Erkenntnisse über die in Leipzig vorherrschende (Fest-)Predigtkultur im fraglichen Zeitraum zu gewinnen. 191 Folgende Passage scheint auf konkrete, subjektive Erfahrungen der praktizierten Übungsmodi zurückzugehen, die Gottsched als Mitglied des Großen Montäglichen Predigerkollegiums kennengelernt hatte: »In Wahrheit M[eine] H[erren] es ist lächerlich, wenn man in Predigergesellschaften die Censuren über gehaltene Reden anhöret. Man fragt da nicht ob die Predigt deutlich, gründlich, erbaulich und anständig gewesen. [. . .] Nein, man bekümmert sich, ob der Prediger synthetisch oder analytisch geprediget; ob er methodo naturali oder schematica disponiret; ob das Thema und die Partition recht kunstmäßig abgefasset worden; ob das Genus Didascalicum oder Elenchticum gewesen; ob man das praedicatum oder den actum oder die formam zu erklären vergessen? Und wer kan die Subtilitäten behalten, die in solchen sonst gelehrten Gesellschaften vorkommen«; Gottsched: Wieder die homiletischen Methodenkünstler, GAW VII/3, 129,34–130,1. 192 Gottsched begründete in seiner Rede wieder die homiletischen Methodenkünstler seine homiletische Kompetenz mit der Bemerkung (GAW VII/3, 124,20–25): »Denn da ich selbst die Geheimnisse der homiletischen Kunst viel Jahre lang gelernet, und in mehr als hundert Predigten auszuüben Gelegenheit gehabt: So sollen die Bewunderer solcher gekünstelten Predigermethoden zum wenigsten nicht sagen können, daß ich, wie der Blinde von der Farbe, geurtheilet habe.« 193 Gottsched: Die rechte Art zu predigen, GAW I, 436–442; der Urdruck hat sich in keinem Exemplar erhalten; der Nachdruck erfolgte in Gottsched: Gedichte, Leipzig 1736, 599–605 ( 21751: Bd. 1, 557–563); aus dem Gedicht werden längere Passagen zitiert und kommentiert von Reichel: Gottsched, Bd. 2, 87–91.

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1750) 194 nach Merseburg in offener, unverstellter Weise zum Gegenstand eines gereimten Rundumschlages. 1.4.1 »Die rechte Art zu predigen« (1730): ein weiteres Gelegenheitsgedicht Der siebenundzwanzigjährige Subdiakon zu St. Thomae und Baccalaureus an der Leipziger Theologischen Fakultät Romanus Teller – Vater des nachmalig berühmten Berliner Auf klärungstheologen Wilhelm Abraham Teller195 – war, als Gottsched die von ihm gepflegte »rechte Art zu predigen« in aller Öffentlichkeit lobte und als Kontrastfolie dazu ein Schreckensbild vom »bunten Kram der [ergänze: orthodoxen] Kunstmethoden«196 entwarf, so etwas wie der Nachwuchsstar der Leipziger Theologenzunft. Bis dato war er die kirchliche und akademische Karriereleiter in beeindruckender Geschwindigkeit nach oben geklettert, und er sollte bald zu noch höheren theologischen und kirchlichen Weihen aufsteigen.197 Insbesondere sein frühzeitig ausgebildetes homiletisches Talent als Prediger und akademischer Lehrer gab Anlaß zu Hoffnungen,198 die Gottsched am Ende seiner gereimten Verbalinjurien wie folgt zur Sprache brachte: »Ich kenne dein Verdienst, und ehrete dein Lehren, So oft es mir geglückt, dein Predigen zu hören. [. . .] Noch mehr, ich freute mich, so oft ich nur bedachte, Wie viel dein Unterricht geschickte Schüler machte. Ach! sprach ich bei mir selbst, der Mann wird ungemein, 194 Zu Tellers Biographie vgl. DBA I 1259, 255–279 sowie [Anonym:] [Nachruf auf R. Teller], Nützliche Nachrichten von denen Bemühungen derer Gelehrten und andern Begebenheiten in Leipzig, Jg. 1750, 634–644 (mit Schriftenverzeichnis). 195 Siehe A. Nüsseler: Dogmatik fürs Volk: Wilhelm Abraham Teller als populärer Auf klärungstheologe, München 1999. 196 Gottsched: Die rechte Art, GAW I, 442, 191. 197 1719 Theologiestudium in Leipzig, 1723 Bacc. theol. und Katechet zu St. Petri, 1727 Sonnabendprediger zu St. Thomae, 1730 Diakon zu St. Maximi in Merseburg, 1731 Katechet zu St. Petri Leipzig, 1737 Diakon zu St. Thomas, 1738 außerordentlicher und 1740 ordentlicher Professor an der Theologischen Fakultät, 1741 Dr. theol., 1745 Kanonikus zu Zeitz und Pastor zu St. Thomas, 1748 Beisitzer des Konsistoriums; Angaben nach DBA; vgl. auch Kirn: Die Leipziger Theologische Fakultät, 151 f.; BBKL 11 (1996), 626 f.; RGG4 8 (2005), 130. 198 Teller war laut Sicul III, 386 im Jahr 1722 als 19jähriger Mitglied der zweiten großen Leipziger Predigergesellschaft, des 1640 gegründeten Großen Donnerstägigen Predigerkollegiums, geworden. Bei [Anonym:] [Nachruf auf R. Teller], 637 hieß es über dessen frühen Predigtruhm: »Von a. 1723. an hat er fleißig Homiletische und Exegetische Vorlesungen angestellet, und ist in seinen Predigten, und in seinen Collegiis gerne gehöret worden.« Spätere Biographen brachten im Anschluß an solche Mitteilungen seine Berufung nach Merseburg mit seinem Erfolg als Prediger in ausdrückliche Verbindung: »Man hörte ihn mit vielem Vergnügen predigen, und sein gründlicher Vortrag erwarb ihm nicht nur die Gunst der Leipziger, sondern auch die Gewogenheit der Fremden«; DBA I 1259, 259. Ob dies zutrifft, wäre zu prüfen.

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Wird unserm Leipzig einst ein andrer Mosheim seyn: Er wird den bunten Kram der Kunstmethoden stören, Und die Beredsamkeit der alten Väter lehren; Die ungezwungen fl ießt, und voller Geist und Kraft, Verstand und Willen lenkt und tausend Nutzen schafft. Wie glücklich sind nicht die, die schon von dir gelernet, Wie löblich sich der Mund vom Schlendrian entfernet, Der alles überschwemmt. Wiewohl ich hoffe noch! Wer weis, was bald geschieht? So kann dich Leipzig doch Auf seinem Lehrstuhl sehn.«199

Diese Hoffnung sollte nicht vergeblich sein: Bereits 1731 hatten die Kanzeln Leipzigs ihren verlorenen Sohn wieder. Als Theoretiker,200 akademischer Lehrer 201 und Praktiker 202 der Predigt erarbeitete sich Teller in den darauffolgenden Jahren einen klangvollen Namen, der ihn trotz seines frühen Todes (1750) zu den überregional Bekannten seiner Zeit (wiewohl heute weithin Vergessenen) machte.203 Während in der Predigtauffassung Teller spätor199

Gottsched: Die rechte Art, GAW I, 442, 184 f. 187–199. R. Teller: Demonstrationes Homiletico-Theologicae Quarvm Ea Est Ratio Vt Ex Certis Praemissis Certae Fiant Conclvsiones In Vsvm Avditorii, Leipzig 1728; ders.: Institvtiones Theologiae Homileticae Methodo Scientiis Sacris Digna Adornatae. In Vsvm Avditorvm. Adivncta est Stephani Gavsseni De Ratione Concionandi Dissertatio Notis Qvibvsdam illvstrata, Leipzig 1741. In einer Rezension von Tellers Institutiones homiletica hieß es über die Qualitäten des Buchs: »Libellis, quibus institutiones studii homiletici traduntur, rarissime in hisce Actis est locus, eo quod plerumque solent viam sevare pervulgatam. At hujus, quem designamus, longe alia est ratio, alius habitus, alia forma«; Nova acta eruditorum, Anno MDCCXLII publicata, Leipzig 1742, 479. – Dyck/Sandstede: Quellenbibliographie, Nr. 1748/32 verzeichnen für 1748 eine zweite Aufl age, für die weder sie noch ich ein Exemplar haben nachweisen können; auch die meisten Schriftenverzeichnisse zu Teller kennen keine zweite Aufl age. Vermutlich hat es diese Aufl age nie gegeben. 201 Mit dem Tod seines Lehrers Johann Gottlob Pfeiffer rückte Teller 1740 in die vierte ordentliche Professur an der Theologischen Fakultät ein und bot nun im jährlichen Rhytmus homiletische Vorlesungen oder Übungen an; vgl. die entsprechenden Abdrucke der Vorlesungsankündigungen der Universität Leipzig in: Nützliche Nachrichten von denen Bemühungen derer Gelehrten, 1739–1756; die erste entsprechende Veranstaltung Tellers wurde z. B. wie folgt angekündigt: »Oratoriae sacrae praecepta studiosae iuuentuti traduntur«; ebd, Jg. 1741, 52. Kirn notierte zu Tellers Wirken an der Theologischen Fakultät auf Grundlage des von ihm benutzten, im 2. Weltkrieg aber verbranntem Materials: »In den Fakultätsakten hat seine Wirksamkeit nur wenig Spuren hinterlassen. Seine Vorlesungen galten vorwiegend der Exegese und Homiletik«; Kirn: Die Leipziger, 151. 202 Neben einer Vielzahl gedruckter Einzelpredigten liegen u. a. folgende Predigtsammlungen von Teller vor: Untersuchung etlicher Wahrheiten der christlichen Glaubens=Lehre, welche in öffentlichen Reden an die Gemeine des Herrn vorgetragen worden, Merseburg 1734; Sammlung moralischer Reden, Leipzig 1736; Schrift= und Vernunftmäßige Betrachtungen über auserlesene Materien der Christlichen Glaubens= und Sitten=Lehre, Leipzig 1738; Neue Sammlung geistlicher Reden, Leipzig 1741; Die 3. Sammlung geistlicher Reden, Leipzig 1744; postum ist erschienen: Ausgesuchte Sammlung heiliger Reden, Leipzig 1751. 203 Überraschenderweise fi ndet sich bei Kantzenbach: Protestantisches Christentum, 200

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thodox-barocken Auffassungen schon früh den Abschied gab, förderte er zumindest die Dogmatik des orthodoxen Lehrsystems publizistisch noch bis über die Jahrhundertmitte hinaus.204 Dies muß aber keineswegs auf einen Widerspruch hindeuten, sondern mochte nicht zuletzt auch einen Grund in der an der Theologischen Fakultät geltenden Lehrnorm haben.205 Mehr noch aber repräsentierte Teller damit einen über die Leipziger Verhältnisse hinausgehenden, zu dieser Zeit vielerorts begegnenden Typ eines traditionsbewußten und zugleich modernen Strömungen offen gegenüberstehenden Theologen, den man üblicherweise mit dem gänzlich unspezifischen Begriff eines »Übergangstheologen« zu belegen pflegt. Ob es wegen dogmatischer Differenzen zwischen Gottsched und Teller im Laufe der Jahre zu einem Bruch kam, wie man gelegentlich vermutet hat,206 ist derzeit nicht zu entscheiden. Für die Zeit um 1730 kann von einer Entfremdung zwischen den beiden jedenfalls keine Rede sein. Vielmehr war das Gegenteil der Fall. Es scheint, als verband die beinahe gleichaltrigen homiletischen Talente zeitweise sogar so etwas wie eine Freundschaft.207 Gottsched dürfte dem – ähnlich ihm selbst – schon früh als Prediger geschätzten Teller dabei zunächst über die gemeinsame Mitgliedschaft in der Teutschen Rednergesellschaft nahegekommen sein.208 Wie eng die Beziehung der beiden akademischen Aufsteiger im Jahr 1730 wirklich war, läßt sich daraus nur schwer ableiten. Jedenfalls sprach der außerordentliche Professor der Poesie den nach Merse96 f. eine recht ausführliche Darstellung einer Predigt Tellers als Beipiel für »philosophisches« Predigen. 204 D. Hollatz: Examen theologicum acroamaticum, universam theologiam theticopolemicam complectens. Denuo ed. Romanus Tellerus, Holmiae; Lipsiae 1750, 21763. 205 Bis über die Jahrhundertmitte hinaus war das übliche dogmatische Lehrbuch in Leipzig Johann Wilhelm Baiers Compendium theologiae positivae ( Jena 1686; viele Aufl agen im 18. Jhd., zuletzt: Leipzig 1767), über das die Leipziger Theologen Johann Christian Hebenstreit, Salomon Deyling und Johann Friedrich Bahrdt sowie anfangs auch Teller regelmäßig lasen; vgl. die semesterweise abgedruckten Vorlesungsprogramme der Universität Leipzig in: Nützliche Nachrichten von denen Bemühungen derer Gelehrten, 1739–1756. Ab 1746 legte Teller seinen Vorlesungen jedoch die Dogmatik des Breslauer Theologen Johann Friedrich Burg (Institutiones theologiae theticae. Breslau 1738. 31766; dt.: Breslau 1750) zugrunde; eine sehr günstige Rezension dieser Dogmatik mit einer kurzen, interessanten Rechtfertigung der scholastischen Methode in der Theologie in: UN 1741, 72–92. Möglicherweise stand die im Todesjahr von Teller erschienene Edition von Hollatz’ Examen im Zusammenhang mit einem geplanten Wechsel des von ihm im Vorlesungsbetrieb benutzten Lehrbuchs. – Zu Baier und dessen Compendium vgl. ADB 1 (1875), 774; zu Burg und dessen Institutiones vgl. ADB 3 (1876), 588 f. 206 So Reichel: Gottsched, Bd. 2, 87 ohne Angabe von Gründen und Quellen. 207 Ein weiteres, Teller gewidmetes Gedicht verfaßte Gottsched anläßlich dessen Hochzeit: J. Ch. Gottsched: Ode. An Sr. Hochwohlehrwürden, Herrn M. Romanus Teller, bey seiner 1732. den 27 Febr. geschehenen Verbindung mit einer geschickten und angenehmen Schützin, in: Gottsched: Gedichte, Leipzig 1736, 281–284. 208 Zu dieser Mitgliedschaft Tellers vgl. Reichel: Gottsched, Bd. 2, 87; D. Döring: Die Leipziger gelehrten Sozietäten, 24.

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burg ziehenden Kirchenmann in auffälliger Häufung als Freund an, was zumindest als Indiz für eine engere, die üblichen Anstandsregeln überschreitende, persönliche Beziehung gewertet werden kann. Wohl kaum zufällig erwählte sich Gottsched auch einige Jahre später (1739) gerade Teller zum Nachfolger seines verstorbenen, bisherigen Beichtvaters Friedrich Wilhelm Schütz, zu dem er in der Regel zweimal im Jahr zur Beichte gegangen war.209 Man wird hier angesichts der freien Wahlmöglichkeit eines Beichtvaters ein besonderes Vertrauensverhältnis voraussetzen dürfen, das für Gottscheds Entscheidung leitend war. Tellers homiletische Prägungen wiesen im übrigen in zwei Richtungen: Pietismus und Auf klärung. Während seines 1719 begonnenen Theologiestudiums ging ein großer Einfluß von Johann Gottlob Pfeiffer (1667–1740), einem dem Pietismus nahestehenden Theologen, auf den jungen Studenten aus,210 und dies nicht zuletzt wohl auch in homiletischer Hinsicht. So hatte niemand anders als Gottsched höchstpersönlich anläßlich der theologischen Doktorpromotion Pfeiffers (1724) in einem Gedicht am Predigtstil des Graduierten mit antiorthodoxer Spitze gelobt: »Dein Vortrag ist sehr weit von jenem Wahn entfernt; / Der manchen Mund bethört, daß er nur künsteln lernt« 211. Offenbar hat Pfeiffer mit diesen Eigenschaften auf Teller eingewirkt. Es kann daneben auch erwogen werden, ob Gottsched nicht selbst mit seinen rhetorischen und homiletitschen Aktivitäten der 1720er Jahre von Einfluß bei der Ausbildung des Predigers Teller war. Persönlicher Kontakt und Verkehr zwischen den beiden ist gut vorstellbar. Weiterhin kann man davon ausgehen, daß der Richtung Merseburg ziehende Pastor zum Auditorium von Gottscheds in der Teutschen Rednergesellschaft gehaltenen Rede wieder die sogenannte Homiletik gehört hatte. Daß Teller bereits 1728 in seinem Pfeiffer gewidmeten homiletischen Erstlingswerk die schematischen 209 Stiller: Johann Sebastian Bach, 170. Gottsched war nachweislich seit 1727 bei Schütz zunächst an St. Nicolai und dann an St. Thomas Beichtkind (ebd, 169). Nach dem Wechsel Tellers als Oberkatechet nach St. Petri 1740 hielt sich Gottsched weiterhin zu St. Thomas und ging nun bei Christoph Wolle zur Beichte. 210 [Anonym:] [Nachruf auf R. Teller], 637: »Vornemlich bediente er [sc. Teller] sich der treuen Anführung D. Joh. Gottlieb Pfeiffers P. P. welcher auf hiesiger Academie viele Jahre die Theologie gelehret, und viele fromme Prediger gezogen hat.« – Zum dem Pietismus nahestehenden Pfeiffer, der seit 1708 außerordentlicher Professor der orientalischen Sprachen und seit 1723 ordentlicher Professor der Theologie war, vgl. Kirn: Die Leipziger, 148–151; D. Döring: Die Philosophie, 48 f. 126 f. – Pfeiffer als Wegbereiter der Aufklärungstheologie an der Leipziger Theologischen Fakultät in einer Reihe mit Ernesti zu nennen (F. Lau: Leipzig, Universität, RGG3 4 [1960], 309), hat nur über den Umweg der Betonung seiner pietistischen Grundierung sein geschichtliches Recht. 211 Gottsched: Die Nothwendigkeit und Pfl icht, GAW I, 431,69 f. – Kirn: Die Leipziger, 151 überliefert die Klage des orthodoxen Leipziger Theologieprofessors Heinrich Klausing (wohl für die Zeit der 1720er Jahre), »daß man jetzt in den Kirchen der Stadt am Morgen eine orthodoxe Predigt, am Nachmittag eine solche nach Pfeiffers Kollegien hören könne«.

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(emblematisch-allegorischen) Predigtdispositionen kritisierte,212 könnte durchaus auf den Einfluß des frühauf klärerischen Rhetorikverständnisses eines Gottsched zurückzuführen sein; 213 möglicherweise stand dabei aber auch die ältere, auf den Pietismus zurückgehende und im vorliegenden Fall dann sicher über Pfeiffer vermittelte Kritik an den allegorischen und emblematischen Predigthemen im Hintergrund. Genaueres ließe sich nur durch präzise Untersuchung der homiletischen Theorie Tellers klären, die ein interessantes Übergangsstadium der spätorthodoxen Homiletik abbildete, in dem klassisch-orthodoxe, pietistische und auf klärerische Auffassungen scheinbar zwanglos zusammengeführt wurden. In späterer Zeit wiesen die homiletischen Äußerungen Tellers dann aber ganz zweifelsohne auf einen Anschluß an auf klärerische Vorstellungen von der Art eines Mosheim oder Gottsched hin.214 212 Teller: Demonstrationes homiletico-theologicae, 76–83 führte eine Argumentation, die ebd, 79 f. mit folgenden Schlüssen endete: »QVum Schematica dispositio 1). pugnet eum natura dispositionis; 2). hodiernae loquendi consvetudini minus conveniat; 3). nulli legitimo usui inserviat, sed potius fi ni hujus scientiae obicem ponat (. . .); supra autem jam evictum sit, 1). omnem dispositionem oportere perspicuam esse, (. . .); 2). nihil ab Oratore Sacro dicendum esse, quod consvetudini adversatur, utpote quam naturales dicendi leges observari jubent (. . .); 3). id omne, quod vanum, h. e. ad fi nem impetrandum inutile est, vel fi nem prorsus impedit, cane atque angve pejus effugiendum esse (. . .): patet, a Schematicis dispositionibus ordinarie abstinendum esse in sermonibus sacris.« – Auf diese Kritik bezog sich Gottsched: Die rechte Art, GAW I, 441,155 f., wenn er daran erinnerte: »Du schreibtest gar ein Buch, und suchtest einzuschärfen, / Was allegorisch klingt, das müsse man verwerfen.« 213 Überhaupt weist die Homiletik Tellers manchen »modernen« rhetorischen und philosophischen Einschlag auf: Die Gliederung der Homiletetik orientierte sich stärker als die orthodoxe Homiletik Leipziger Herkunft an antik-rhetorischen Produktionsstufen (z. B. Kap. 1: De materiarum inventione; Kap. 2: De materiarum dispositione). Friedrich Werner, ein Vertreter der »Leipziger Homiletik«, hatte demgegenüber in seinem häufig aufgelegten Predigtlehrbuch ganz klassisch und typisch für die Leipziger Tradition – die Besonderheiten der rhetorica sacra (Primärbezug auf den verbalinspirierten Bibeltext!) gegenüber der rhetorica profana herausstellend – gegliedert: Pars I. De Sensus Textualis Inventione; Pars II. De Resoluti Textus Dispositione; F. Werner: Praecepta Homiletica ad Hodegeticum B. Dn. Hulsemanni, Dn. D. Carpzovii & Dn. L. Rivini conformata, multisque exemplis per plerosque paragraphos illustrata, & in Dnn. Studiosorum usum typis impressa. Editio tertia auctior et rectior, Leipzig 1700 (EA 1692, 41705; nach J. G. Walch: Bibliotheca Theologica Selecta Literariis Adnotationibvs instrvcta, tom. IV, Ienae 1765, 952 f. weitere Aufl agen 1708 und 1712). Wie mir scheint, praktizierte Teller ein in der Methodik (vorsichtig) an Christian Wolffs Demonstrationsmethode angelehntes Bestreben nach begriffl icher Klarheit und logischer Stringenz, indem zunächst Prämissen aufgestellt und begründet wurden, aus denen dann (mit Rückverweis auf die jeweiligen Paragraphen) Folgerungen gezogen werden. Der orthodox-scholastischen Distinktionsmethode entsprach sein Vorgehen – soviel zeigt der Vergleich mit einschlägigen orthodoxen Homiletiken – zumindest nicht mehr. 214 In der Vorrede zu einem 1738 erschienenen Predigtband erklärte Teller in Übereinstimmung mit Gottscheds und Mosheims Auffassung: »Die Erbauung bestehet in einer deutlichen Erkenntniß und gründlichen Uberzeugung von dem, was unser ewiges Heil befördern kan, und was der göttlichen Ordnung des Heils angehörig ist«; R. Teller:

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Welches Bild zeichnete der auf klärerische Kritiker vom »homiletischen Schlendrian« 215 der Orthodoxie? Die homiletikkritische Passage des Gedichts von beinahe 120 Zeilen Textumfang 216 eröffnete Gottsched mit der Gegenüberstellung von auf klärerischem und orthodoxem Predigtansatz. Während er für die eine Seite das auf klärerische Selbstdenken in den Mittelpunkt rückte (»unsrer Kirche [. . .] nach eignem Kopfe dienen« 217), charakterisierte er die orthodoxe Predigttheorie als Versuch, mittels normativem Regelzwang und elaborierter »Methodenkunst« unter Berufung auf die Tradition jede auch noch so kleine Neuerung und Abweichung abzuwehren.218 Die Unterdrückung und Verfolgung der »homiletischen Nonkonformisten« vom Schlage Tellers richtete sich in der Sicht des jungen Gottsched 219 in Schrift= und Vernunftmäßige Betrachtungen über auserlesene Materien der Christlichen Glaubens= und Sitten=Lehre, nach Anleitung der ordentlichen Sonn= und Fest= Tags=Evangelien durchs ganze Jahr, öffentlich an heiliger Stäte vorgetragen, Leipzig 1738, Bl. b3r (Vorrede). Nicht weniger als diese Erklärung war die bereits im Titel ausgewiesene Verbindung von Schrift und Vernunft bezeichnend für seine Aufgeschlossenheit gegenüber der auf klärerischen Reformhomiletik, zu der sich Teller ebd, Bl. c3r-v wie folgt bekannte: »Doch habe ich auch die Reguln einer Vernunftlehre nicht aus der Acht gelassen. Diese zeigt, wie man in Abhandlung wichtiger Wahrheiten eine deutliche Erklärung des Wortverstandes, und eine vollständige Beschreibung der Sache, voraussetzen, nach derselben eine ordentliche Eintheilung der Gedanken machen, und unter vielen und mannigfaltigen Beweisen eine wohlbedächtige Wahl treffen, ihre Stärcke oder Schwäche beurtheilen, und die allerbündigsten mit gehörigen Nachdruck gebrauchen soll. Deutlichkeit und Uberzeugung, ist das, worauf ich mich am meisten befleißige, und ich bediene mich gern einer solchen Art zu schlüßen, die auch ein gemeiner Verstand fassen kan, wenn er nur ein wenig nachdenken will. So darf ich denn hoffen, es werde sich niemand daran ärgern, daß ich mich unterstanden, Schrift= und Vernunftmäßige Betrachtungen ans Licht zu stellen.« 215 Vgl. Gottsched: Die rechte Art, GAW I, 442,196. 216 GAW I, 438,61–442,180. 217 GAW I, 438,64 (Hervorhebung A. S.). 218 GAW I, 438, 65–70: »Nein, Regeln aufgesetzt! darnach der Lehrerstand, Sich hier und andernwärts, ja durch das ganze Land, gebührend richten muß. Gesetze vorgeschrieben! Die Pfl icht des Predigers nach gleicher Art zu üben. Methoden ausgedacht! darnach man jedermann Die Kanzelrednerkunst recht mühsam zeigen kann.« 219 Das Bild, das Gottsched dabei zeichnete, hatte bedrohliche Züge: Man läßt die »junge[n] Leute« (GAW I, 438,72) nicht »frey und ungebunden« (ebd.), sondern spannt sie »ins Joch der Lehrart ein« (438,73); Außenseiter und Andersdenker werden isoliert (»Und wer sich nicht ergiebt, der soll nicht zünftig seyn« [438,74] bzw. hat man diese »als die Pest des Glaubens zu vermeiden« [438, 79]), denn man »müß ein faules Glied vom Kirchenkörper schneiden« (438,80). Was in den Predigten nicht nach der »eingeführten Art« (437,32) gemacht ist, was »sich nicht an Moden bindet« (439,83), wird als »Neuerung« (439,87) gescholten (ebd.), geschmäht (439,89), gehaßt (ebd.). Ein homiletischer Nonkonformist paßte nach Gottscheds Wahrnehmung nicht in das Korsett der »Kunstmethoden« (442,191), womit er sich bei den orthodoxen Gegnern verdächtig machte: »Wie kömmt es, daß er [sc. der orthodoxe Eiferer] schmäht? Wie kömmts, daß er dich haßt?

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ihrem Ziel letztlich darauf, mit aller Macht das zu unterdrücken, »[w]as bloß die Bibel sagt, was die Vernunft erfunden« 220. Die orthodoxen Gegner der neuen Predigtart gerierten sich auf diese Weise als »homiletische Ketzermacher«, die in ihrer fanatischen Art ihr eigenes Urteil sprachen. Gottsched machte dies mittels näherer Betrachtung ihres als aberwitzig vorgestellten homiletischen Instrumentariums anschaulich, wobei er sprachlich geschickt aus einem gedrückten, mitleidheischenden Ton bei der Schilderung der orthodoxen Verketzerungen in die triumphale, überlegene Ironie des Auf klärers überwechselte: Hatten nicht der »vergöttert[e] Serpil« (439,93), ein »Lankisch, reich an Gaben« (439,95) und der »gepriesn[e] Mahn« (439,96) »die rechte Kunst gezeigt, / Wie man recht bibelfest auf seine Kanzel steigt« (439,97 f.)? 221 Lernte man nicht bei ihnen jene mechanistisch handzuhabenden Verfahren, Predigten mit Liedmaterial und Sprüchen aufzufüllen, den Bibeltext »[n]ach der Zergliederkunst [. . .] künstlich zu zertrennen« (439, 103)? Nur schwachen Trost bot da die Gewißheit, »daß Paulus selbst sich oft im Engelorden / Gewundert, wie sein Text so schön verstümmelt worden« (442,179 f.). Man spürt noch heute dem Dichter die maliziöse Freude ab, als es ihm gelang, eine pointierte Ironisierung der barock-orthodoxen Predigtauffassung im Medium eines vorgetäuschten Tadels an der Allegoriekritik seines Freundes Teller in wohlgesetzte Alexandriner zu fassen: »Das heißt zuviel gewagt! Freund! hast du auch bedacht, Wie arm dieß Unterstehn dich an Erfi ndung macht? Wie matt wird künftig nicht dein kaltes Thema klingen? Was nicht schematisch 222 ist kann nicht zu Herzen dringen. Denn man versteht es gleich, und hat die Freude nicht, Daß der gemeine Mann zu seinem Nachbar spricht: ›Das ist was artiges! das ist schwer auszuführen! Im Texte wenigstens ist nichts davon zu spüren.‹ Du guter Läye, du! was weist doch du davon? Ein rechter Homilet versteht den Kunstgriff schon! Wer wird sich so genau an Christi Worte binden? Man muß in jedem Text auch jedes Thema fi nden. Bloß, weil dein Schuh sich nicht auf seinen Leisten paßt; Bloß, weil dein Hut sich nicht auf seinen Kopf läßt drücken, Und deine Kleider sich auf seinen Rumpf nicht schicken.« (439,89–92) 220 GAW I, 438,71. 221 Bei den erwähnten Autoren und ihren Werken handelt es sich um Adam Mahns Biblisches Manna oder biblische Real-Conkordantz (Leipzig 1718 21725) bzw. dessen LiederManna oder Real-Lieder-Concordantz (1721), um die Neu-verfertigte Lieder-Concordantz (Dresden 1696) des Regensburger Predigers Georg Serpilius sowie um die wohl berühmteste biblische Konkordanz des deutschsprachigen Luthertums, Friedrich Lanckischs Concordantia Bibliorum Hebraica & Graeco-Germanicae (EA 1677; viele Aufl agen bis in die Mitte des 18. Jhd.). 222 Im Rahmen homiletischer Fachterminologie: schematisch=allegorisch.

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Denn wäre dieses nicht, wie wär es auszustehn, Ein Evangelium ein schockmal durchzugehn; Und dennoch allezeit die längst bekannten Sachen, Durch wahren Wortverstand, beliebt und neu zu machen? Ein hübscher Ueberguß macht saure Speisen süß: Und Dank sey dem gesagt! der uns die Lehrart wies, Was in dem Texte fehlt, durch Kunst hinein zu bringen, Und was nicht fl ießen will, ein wenig zu erzwingen.« 223

Wem die homiletische Zunft diese »Kunst« zu danken hatte, mußte der Leser im übrigen nicht weitläufig spekulieren. Denn der Gegner wurde beim Namen genannt. Im Zuge des ironischen Darstellungsverfahrens war nämlich nicht einmal »Lutherus selbst, der theure Gottesmann« (440,129), von der homiletischen Ketzermacherei der orthodoxen Eiferer verschont geblieben.224 Deren Bannstrahl traf den Reformator genauso unerbittlich wie die Auf klärer, da ihm doch nicht weniger »die Methode fehlet« (440,135), die erst den wahren Homileten mache. Jedoch – so gab der Dichter sich sicher – stünde Luther heutzutage wieder auf, er würde seinen Irrtum einsehen und seine feurige Predigtgabe225 fahren lassen, um stattdessen bei einem wirklichen Meister der Predigtkunst in die Lehre zu gehen: »Er kaufte sich den Leigh und Lehmanns Pentas ein, Er würde Wiedemanns getreuer Schüler seyn, Und ganze Jahre lang, nach hundert Arten, lernen, Sich künstlich von dem Sinn des Geistes zu entfernen.« 226

Während mit Johann Georg Leigh 227 und Johann Christoph Lehmann 228 einmal mehr letztlich austauschbare Vertreter aus dem um 1700 in der Tat reich bestückten Fach der homiletischen Hilfsliteratur genannt wurden, war 223

Gottsched: Die rechte Art, GAW I, 441,157–176. GAW I, 440,129–144. 225 Vgl. GAW I, 440,138. 226 GAW I 440,141–144. 227 Der selbst unter Zeitgenossen eher unbekannte Jenaer Dozent und spätere Pfarrer zu Kindelbrück (Thüringen) Johann Georg Leigh (gest. 1748; zu ihm DBA I 751, 119–123) belieferte den homiletischen Buchmarkt mit folgenden Werken: Homiletische SchatzKammer, Das ist ein reicher Vorrath von wohl ausgearbeiteten und sinnreichen Dispositionibus, Hannover 1715; Epistolische Schatz-Kammer, Hannover 1719; Erleichterte Prediger-Arbeit, bestehend in ausgearbeiteten Dispositionen, Hannover 1728. 228 Anders als Leigh gehörte der nahe Bautzen amtierende Pastor zu Göda, Johann Christoph Lehmann (1658–1731; zu ihm DBA I 749, 199–202. 205), als Verfasser von jeweils fünffach durchgeführten Dispositionmustern über die Evangelien (Pentas evangelica, Leipzig 1696 51714), die Episteln (Pentas epistolica, Leipzig 1700 41715) und den Katechismus (Pentas catechetica, Bautzen 1691 51711) zu den ausgesprochen vielaufgelegten Autoren innerhalb dieses speziellen Segments homiletischer Hilfsliteratur. Sein großer Thesaurus Evangelico-Homileticus oder evangelischer Prediger-Schatz (5 Teile, Bautzen 1721– 1737) wurde postum von Johann Christoph Lehmann jun. abgeschlossen. 224

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dies bei Michael Wi(e)demann (1659–1719) 229 nur bedingt der Fall. Mit ihm und seinem homiletischen Lehrbuch war nämlich ein zwar verspäteter, aber keineswegs untypischer Repräsentant der sogenannten »Leipziger Predigerkunst« 230 ins Spiel gebracht worden, der im vorliegenden Fall wegen seines Anschlusses an die von Carpzov d. J. vorgestellte einhundertfache Dispositionsmöglichkeit eines Predigttextes231 von Gottsched zu dieser regionalen Schulbildung gezählt und zur negativen Identifi kationsfigur der »Leipziger Predigtkunst« innerhalb des polemischen Diskussionszusammenhanges konstruiert wurde.232 1.4.2 »Wider die homiletischen Methodenkünstler« und »wider die sogenannte Homiletik«: zwei satirische Reden In den beiden eingangs erwähnten homiletikkritischen Reden wiederholte Gottsched seine Angriffe und Kritikpunkte noch einmal mehr oder weniger variantenreich.233 Angesichts der bereits an anderem Ort erörterten Struktur 229

Wi(e)demann (zu ihm DBA I 1363, 243–260) war nach einem Theologiestudium in Leipzig und Pfarrämtern in Ossig und Schweidnitz schließlich 1703 zum Stollbergischen Superintendenten, Hof-, Oberstadtprediger und 1. Konsistorialassessor nach Stollberg (Harz) bestellt worden. Hier wurde er auch zum Verfasser jener Homiletik, auf die Gottsched anspielte: Wi(e)demann: Einleitung zum Christlichen Cantzel-Redner. – Ein Exemplar dieser Homiletik befand sich in Gottscheds Bibliothek: Catalogus Bibliothecae, quam Jo. Ch. Gottschedius, Nr. 3992. 230 Vgl. Strassberger: Die »Leipziger Predigerkunst«, 162–218. 231 Vgl. zu den 100 »Methoden« von Carpzov d. J. Beutel: Aphoristische Homiletik, 31 f. – Wi(e)deman: Einleitung zum Christlichen Cantzel-Redner, Bl. A3v (Vorrede) versprach seinen Lesern zu zeigen, wie »unter andern der Spruch: Also hat Gott die Welt geliebet etc. Joh. 3. v. 16. analyticè, syntheticè, schematicè, und emblematicè hundertmahl disponiret und variiret« werden könne; dazu erläuterte er ebd, Bl. A4r-v: »Die Methoden an sich selbst sind nach dem Carpzovianischen Principiis eingerichtet.« 232 Explizit Gottsched: Ausführliche Redekunst, GAW VII/3, 162 (Variantenverzeichnis zu S. 136): »Wer indessen sehen will, wie viel seltsame schematische Hauptsätze aus einem einzigen Spruche erfunden werden können, der besehe Wiedemanns Kanzelredner: Wo er aus dem Spruche: Also hat GOtt die Welt geliebet etc. allerley seltsame Sätze erzwungen fi nden wird.« Zu Gottscheds historisch-positionell bedingtem (Zerr-) Bild von der »Leipziger Predigerkunst« vgl. Straßberger: Die »Leipziger Predigerkunst«, 173–178. 233 Zur Datierung der beiden Reden s. o. in Anm. 188. – Beispielsweise hatte Gottsched: Die rechte Art GAW I, 440,148–52 den Freund Teller ironisch vor der Empörung der Orthodoxie gewarnt, die dessen Kritik an orthodoxer Homiletik hervorrufen würde: »Wie zürnet nicht bereits Demetrius Gesinde, Daß sein Gewerbe fällt! Es stürmet auf dich zu. Bedenke doch dein Glück! bedenke deine Ruh! Es kann dich mit der Zeit noch in der That gereuen; So bald die Zunft nur wird: Groß ist Diana! schreyen.« Vgl. zu prosaischen Variation dieses Gedankens Gottsched: Rede wieder die homiletischen Methodenkünstler, GAW VII/3, 130,25–32.

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und Motivation dieser Kritik 234 können die Ausführungen zu diesen Äußerungen Gottscheds an dieser Stelle kurz gehalten werden. In unverblümter und zugleich redundanter Weise ging er in den erwähnten Reden mit ausgesprochen spitzer Zunge gegen die orthodoxen »Methodengrübler« 235 und deren »magres homiletisches Gerippe«, »methodisches Spinnegewebe« und »gekünsteltes Drechselwerk« 236 vor, das »dem Verstande der Schrift und dem Sinne des Geistes fast allezeit Gewalt ant[ut], und die Texte gleichsam als auf einer Folterbanck aus einander [zerret], so daß kein Glied seine Stelle [behält]« 237. Konstitutiv für seine Kritik war die zugrunde liegende literarische Form, die mit ihrem satirischen Duktus ein bevorzugtes Medium auf klärerischer Kommunikation bediente und damit signifikanter Ausdruck auf klärerischer Kommunikationspraxis war.238 Ein Spitzensatz seiner Ausführungen war beispielsweise folgende Kritik an orthodoxer Homiletik: »Denn habe ich doch einen solchen Homileten gelesen, der die Rede Pauli in Athen aus der Apostelg. 17. nach seiner künstlichen Art in eine Disposition brachte, und uns dadurch zu überreden suchte, die Jünger des Heylandes hätten schon im Anfange des Neuen T. nach der Leipziger Methode geprediget: Gerade als ob ihnen der H. Geist dieselbe am Pfi ngsttage selbst eingegeben; oder, als ob Paulus zum wenigsten auf der Universität zu Jerusalem bey dem berühmten Lehrer Gamaliel, ein Collegium Homileticum resolutorio-dispositorio-variatorio-analytico-schematicum gehöret haben würde.« 239

Während Gottsched mit dem pleonastisch titulierten Collegium Homileticum resolutorio-dispositorio-variatorio-analytico-schematicum auf die in Leipzig in besonderer Dichte vorhandenen Predigerkollegien und -gesellschaften anspielte,240 fand er für den behaupteten Versuch, die orthodoxe Homiletik auf das 234

Vgl. dazu ausführlich Strassberger: Die »Leipziger Predigerkunst«, 173–198. GAW VII/3, 128,40. 236 Alle Zitate Gottsched: Die rechte Art, GAW I, 128,30–32. 237 GAW I, 131,5–7. 238 Vgl. Andres Strassberger: »Auf-Klärung« durch Satire? Beobachtungen zu Form und Gegenstand einer satirischen Predigt der Luise Adelgunde Victorie Gottsched, in: Religion und Auf klärung: Studien zur neuzeitlichen »Umformung des Christlichen«/ hrsg. von Albrecht Beutel; Volker Leppin, Leipzig 2004, 59–80. – Siehe auch unten Kap. 4, Abschn. 1.2. 239 Gottsched: Rede wieder die homiletischen Methodenkünstler, GAW VII/3, 129,5–14. 240 Neben den von D. Döring: Die Leipziger gelehrten Sozietäten, 20–22 genannten Predigerkollegien lassen sich mit Hilfe von Sicul I-IV weitere, meist unter der persönlichen Leitung eines Magisters oder Professors stehende »Gesellschaften« zur Predigtübung ermitteln. So unterhielt Romanus Teller in St. Nicolai ein Collegium homiletico-practicum, und der Magister Johann Christoph Hommel veranstaltete ein Donnerstägliches Prediger-Collegium 16 Uhr in der Pauliner-Kirche. Ferner gab es das Collegium Homiletico-Gehrianum (mittwochs 14 Uhr im Waisenhaus [St. Georg]); Erwähnung fi ndet auch ein von Johann Georg Hoffmann veranstaltetes Collegium catechetico-practicum im 235

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Neue Testament zurückzuführen, tatsächlich Anknüpfungspunkte in der vorhandenen Literatur.241 Bei einer historischen Analyse seiner Kritik zeigt sich jedoch der kaum überraschende Befund, daß sein Blick auf die »Leipziger Predigtkunst« einseitig-parteilich war und nur sein auf klärungsperspektivisches Recht beanspruchen konnte. Im wesentlichen verschaffte sich mit der Kritik das neue, auf klärerische Predigtverständnis Ausdruck, das sich in einer polemischen Grenzziehung zur Orthodoxie ausformulierte und affi rmierte. Dabei fällt auf, daß die Sicht des Auf klärers mit der pietistischen

Waisenhaus sowie das Collegium homiletico-practicum Deylingianum und das Collegium concionatorium Leutschaviense. Christian Gottlieb Jöcher gründete 1719 ein Collegium dispositorio-practicum; zur selben Zeit florierten auch das ältere Collegium concionatorium Sabbathicum und das Collegium homiletico-practicum Kregelianum. Neben den zwei bzw. drei großen deutschen Predigerkollegien gab es noch das polnische und wendische Predigerkollegium. Unbekannt ist mir, auf welcher Quelle die Aussage von Schütz: Geschichte der Predigt, 124 basiert, wonach man in Leipzig »32 homiletische Gesellschaften« gezählt habe; richtig ist gleichwohl sein Eindruck, daß »Leipzig damals eine Stadt der homiletischen Studien« (ebd.) war. 241 Bereits Hallbauer: Nöthiger Unterricht ( 51747), 9 f. notierte: »Es scheinen mir aber diejenigen, welche die heutige Art zu predigen, per exordia, tractationem & vsus, in Christi und der Apostel Predigten zeigen wollen, sehr gezwungen zu handeln. Der auctor der disput. de concionibus artificiosis & a la modicis, die unter dem sel. Grapio gehalten, suchet Matth. VI. 24. 34. eine Leipziger Predigt. Ich kan sie aber nicht darinne fi nden.« Bei J. F. Bahrdt: Praecepta oratoriae sacrae, oder Anweisung zur geistlichen Beredsamkeit zum academischen Gebrauch herausgegeben, Leipzig 1752, 11 f. fi ndet sich folgende Argumentation: Auch wenn viele biblische Schriftstellen ein schönes Beispiel von der Lehrart Jesu und der Apostel ablegten, sei diese aber »nicht zur methode vorgeschrieben [. . .], wie Grapius D. de concionibus artificios. et a la modic. daraus erzwingen will«. Bei dem erwähnten Text handelt es sich um Z. Grape (praes.); J. Prüssing (auct. et resp.): Dissertatio Theologica, De Concionibus Artificiosis Et Alamodicis, Vulgo: Von Künstlichen und Galanten Predigten / Qvam Concentiente Max. Rev. Facult. Theologica Praeside Zacharia Grapio, [. . .] Responsurus Auctor Joach. Prüssing [. . .] Ad Diem VII. Jul. A. O. R. MDCCIV, Rostochii [1704]; eine dritte Aufl. erschien 1724. – Möglicherweise bezog sich Gottsched mit seiner Behauptung aber nicht auf Grape, sondern auf J. B. Carpzov (praes.); I. Tögel (auct. et resp.): Dissertatio theologica de ORQODOXIA & ORQOTOMIA in ecclesiae ministro Tit. I, 9. requisitâ, [. . .] sub praesidio Dn. Jo. Bened. Carpzovii, [. . .] ad d. XII. Junii M DC LXXXVIII. [. . .] in acroaterio Paulino submittit Immanuel Tögel/ [. . .] auctor et respondens, Lipsiae [1688], wo der der Autor den Nachweis zu führen suchte, daß sowohl die fünf Predigtgenera als auch die fünf partes concionis (Exordium, Propositio, Partitio, Tractatio & Applicatio) ihr Vorbild in der Schrift bzw. den dort enthaltenen Reden und Predigten Jesu, der Apostel und ersten Lehrer haben. Vgl. auch den diesbezüglichen Hinweis bei E. F. Neubauer: Nachricht von den itztlebenden Evangelisch=Lutherischen und Reformirten Theologen in und um Deutschland [. . .], [Theil 1,] Züllichau 1743, 407 f. in Anm. c: »Daß dieselbe [sc. die Leipziger Methode] eben die sey, welche die Propheten, Christus, die Apostel, die Väter und Lutherus gehabt, bemühet sich D. Joh. Bened. Carpzov zu beweisen in Dissert. theol. de orthodoxia & orthotomia in ecclesiae ministro Tit. 1,9. requisita, Leipzig 1688. cap. 3. p. 33.« – Die Behauptung Gottscheds übernimmt Schian: Orthodoxie und Pietismus, 102 f. unkritisch im Rahmen seiner »Darstellung« orthodoxer Homiletik.

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Kritik an orthodoxer Predigt weithin parallel lief,242 was auf die kirchenund theologiegeschichtlich oft betonten, aber längst noch nicht erschöpfend geklärten Gemeinsamkeiten von Pietismus und Auf klärung verweist. Die kritischen Ausführungen Gottscheds standen im Horizont der aufklärerischen Zielvorgabe, sich »von der Sclaverey des methodischen Jochs zu befreyen« 243. Damit artikulierte er analog zum Pietismus eine homiletische »Hoffnung besserer Zeiten«, die sich bei ihm auf klärungsmetaphorisch Ausdruck verschaffte244 und in Frontstellung zur bislang herrschenden Predigtnorm begab. Das als neu empfundene, zukunftsorientierte Vorhaben, die geistliche Redekunst ganz nach den Regeln einer vernünftigen Beredsamkeit zu gestalten,245 legitimierte Gottsched mit der Abwandlung seines klassizistischen Rhetorikansatzes für die geistliche Redekunst, indem er hierfür das homiletische Ideal der christlichen Antike für normativ erklärte.246 Damit stand das auf klärerische Reformbemühen – ähnlich der pietistischen Reform – im Vorzeichen einer Restauration christlicher Anfänge, mit der die Reformforderungen gegenüber den orthodoxen Kritikern abgesichert und legitimiert werden sollten.247 Am eindrucksvollsten dokumentierte diese spezifische Intention, über die im Folgenden noch detailliert zu sprechen sein wird,248 die Ausführungen in Gottscheds großem rhetorischen Lehrbuch, der Ausführliche[n] Redekunst.

242 Zur Phänomenologie der homiletischen Kritik des Pietismus grundlegend Schian: Orthodoxie und Pietismus, 34–62 (Die pietistische Reformbewegung). 79–85 (Die Verteidigung der orthodoxen Kunstpredigt); die auf klärerische Kritik an der Predigt der Orthodoxie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts thematisiert Schian unter der Richtungsangabe »Die Bundesgenossen des Pietismus« ebd, 124–164. 243 Gottsched: Rede wieder die homiletischen Methodenkünstler, GAW VII/3, 129,32 f. 244 Emphatisch verkündete Gottsched: Rede wieder die homiletischen Methodenkünstler, GAW VII/3, 129,19–22 »Die Morgenröthe der bessern Zeiten bricht schon an. Die ersten Strahlen eines grössern Lichtes in allen Dingen dringen schon hier und dar mit Macht hervor. Gott gebe, daß sie bald alles erleuchten mögen!« 245 GAW VII/3, 124,13–20: »Ich bin gesonnen wieder die homiletischen Methodenkünstler zu reden, und M[eine] H[erren] zu zeigen, daß geistliche Reden keiner anderen Regeln bedürfen, als die Natur und gesunde Vernunft in der politischen Beredsamkeit vorschreibet. Mich düncket, daß dieses Unternehmen an sich selber neu [. . .] seyn werde.« 246 Vgl. dazu beispielsweise in der Rede wieder die so genannte Homiletik, GAW VII/3, 133,13–17. 247 Auch Mosheim wurde von Gottsched: Rede wieder die homiletischen Methodenkünstler, GAW VII/3, 127,28–31 (Hervorhebung A. S.) mit der Restauration einer alten, reinen Art zu predigen in Verbindung gebracht, da er »(. . .) bereits das sclavische Joch unserer Methodenkünstler abgeworfen (hat), und uns den alten Weg gewiesen, darauf man, vor Erfi ndung dieser gezwungenen Homiletik, ganz natürlich und sicher einhergegangen« ist. 248 S. u. Abschn. 2.2.

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2 Die »Ausführliche Redekunst« (1736) Nachdem Gottsched zunächst die Poetik im Geist des Wolffianismus lehrbuchmäßig bearbeitet und danach sein philosophisches System in den Ersten Gründen der gesammten Weltweisheit (1733/34) rezeptionsfähig zur Entfaltung gebracht hatte, unternahm er mit der 1736 vorgelegten Ausführlichen Redekunst249 einen zweiten Versuch, der im auf klärerischen Geist reformierten Rhetorik zu breiter Wirkung zu verhelfen.250 In seinem »für die Epoche [der Auf klärung] wohl wichtigsten [rhetorischen] Lehrbuch«251, das an systematischer Stringenz und Umfang gegenüber dem Vorgängerwerk erheblich gewonnen hatte,252 versuchte er in gedrängter Form, die Idee einer restaurierten Predigttheorie253 im Hinblick auf ihre kommunikativen Rahmenbedingungen als Anwendungsfall 254 einer auf dem Boden der Antike erneuerten Rhetorik 255 zu entwickeln und lieferte – neben der nunmehr unge249 Insgesamt erschienen bis 1759 noch vier weitere Aufl agen, die in der Ausgabe letzter Hand die Textgrundlage für die Edition der »Ausgewählten Werke« bildete; Gottsched: Ausführliche Redekunst ( 51759), GAW VII/1–4. Da ich aus historisch-genetischen Gründen primär an der ersten Aufl age interessiert bin, die textlich von den späteren Ausgaben stark abweicht, zitiere ich im folgenden an erster Stelle nach: J. Ch. Gottsched: Ausführliche Redekunst. Reprografi scher Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1736, Hildesheim; New York 1973 (im weiteren abgekürzt: Gottsched: AR 1736). Soweit sinnvoll, weise ich parallel dazu auch die Zitate nach dem Text der GAW aus. 250 Aus der vergleichsweise umfangreichen Literatur zu Gottscheds Ausführlicher Redekunst vgl. Grosser: Gottscheds Redeschule; Wechsler: Johann Christoph Gottscheds Rhetorik; Rossmann: Gottscheds Redelehre; Stötzer: Deutsche Redekunst, passim; Bormann: Gottsched’s enlightened Rhetoric; Rosemary Scholl: Die Rhetorik der Vernunft: Gottsched und die Rhetorik im frühen 18. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik 2 (1976), 217–221; Grimm: Von der ›politischen‹ Oratorie, 78 f. 91– 95; Stauffer: Erfi ndung und Kritik. 251 Ueding/Steinbrink: Grundriß, 104. 252 Verglichen mit dem Rhetoriklehrbuch von 1728 unternahm es Gottsched erst hier, »die Regeln aus der Bestimmung des Zweckes einer Rede [. . .] deduktiv [abzuleiten]« (Grosser: Gottscheds Redeschule, 23) und damit seine Rhetorik nach Maßgabe einer den Stoff strukturierenden Systematik zu bearbeiten. 253 Gottsched: AR 1736, 523–334 (Druckfehler, richtig: 534) (=Ausführliche Redekunst: Besonderer Theil. Das V. Hauptstücke. Von geistlichen Lehrreden, oder Predigten; auch abgedruckt in GAW VII/3, 64,34–72,26). 254 Der Anwendungscharakter des homiletischen Kapitels im zweiten Teil des rhetorischen Lehrbuchs ergibt sich aus der systematischen Anlage der rhetorischen Theorie. Wie bereits in der Critischen Dichtkunst hatte Gottsched sein Opus in einen allgemeinen und einen besonderen Teil untergliedert, deren Zuordnung er wie folgt beschrieb: »In dem ersten Theile trage ich die allgemeinen Regeln der Redekunst vor, und erläutere sie [. . .] mit lauter fremden Exempeln. In dem andern zeige ich die Ausübung und Anwendung derselben in allen besondern Fällen, wo man heute zu Tage zu reden pflegt. Diese erläutere ich gröstentheils mit meinen eigenen Exempeln [. . .]«; Gottsched: AR 1736, Bl. *2r (Vorrede]); in GAW ist diese Vorrede – wohl versehentlich – nicht ediert worden! 255 Dahingehend programmatisch bereits der Titel: J. Ch. Gottsched: Ausführliche Redekunst, Nach Anleitung der alten Griechen und Römer, wie auch der neuern Ausländer;

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schützt betriebenen Polemik gegen orthodoxe »Methodenkünstler« 256 – mit einer der skizzierten Theorie verpfl ichteten Beispielpredigt 257 zugleich eine Probe für die Tragfähigkeit und Praktikabilität des Reformprogramms ab. Daneben stellte Gottsched im Zuge der Integration der Homiletik in die Rhetorik in den rhetoriktheoretischen Textteilen durchgängig exemplarische oder grundsätzliche Querverbindungen zur homiletischen Theoriebildung oder anwendungsbezogenen Predigtpraxis her,258 die den generalistischen Anspruch unterstrichen, den der philosophisch geläuterte Rhetoriker gegenüber der homiletischen Zunft erhob.259 2.1 ». . . so sind die Regeln der Redekunst allgemein«: die Predigt – als Rede betrachtet In elf konzentriert formulierten Paragraphen stellte Gottsched sich der Aufgabe, die Predigt in rhetorischer Perspektive auf ihre grundlegenden Funktions- und Wirkmechanismen hin zu analysieren und eine auf diesem Weg gewonnene Predigttheorie zu entwickeln. Dabei kam – verglichen mit früher von ihm angestellten Überlegungen – substantiell kaum entscheidend Neues zur Sprache. Einen erheblichen Fortschritt stellte allerdings die systematische Anlage dar, mit der das Programm homiletischer Erneuerung in didaktisch motivierter Klarheit zur Darstellung gebracht wurde. Geistlichen und weltlichen Rednern zu gut, in zween Theilen verfasset [. . .], Leipzig 1736 (Hervorhebungen A. S.). 256 Gottsched: Rede wieder die homiletischen Methodenkünstler, in: ders.: AR 1736, 607–521 [Druckfehler; nach 608 springt Paginierung auf 509 und läuft bis Schluß fort; daher richtig: 621] (=GAW VII/3, 122,4–131,25); Gottsched: Rede wieder die so genannte Homiletik, in: ders.: AR 1736, 572–582 (richtig: 672–682) (=GAW VII/3, 131,29–138,28). 257 Gottsched: Der Tod der Märtyrer als ein Beweis der Evangel[ischen] Wahrheit in einer geistlichen Rede im Jahr 1729. am andern Weihnachtstage aus der ordentlichen Vesperlection vorgestellet, in: ders.: AR 1736, 535–565 (=GAW VII/3, 72,32–93,27). 258 Ein Beispiel soll dieses Vorgehen veranschaulichen: Der erste, sogenannte »Allgemeine Theil« (Gottsched: AR 1736, 1–368) behandelte im 6. Hauptstück die »Beweisgründe« (ebd, 106–124). Gottsched kam hier auf die Beweise sogenannter »dogmatischer Hauptsätze« zu sprechen (§. 8; ebd, 112), die »hauptsächlich in Lehrreden [vorkommen], die in Kirchen und Schulen gehalten werden« (ebd.), und als Abhandlungen feststehender Wahrheiten aller Wissenschaftsbereiche defi niert wurden. Als Beispiel für die richtige inventio solcher Beweise wurde eine Predigt aus Mosheims Heiligen Reden analysiert (§. 10; ebd, 113 f.). Anschließend legte Gottsched dar, daß die dogmatischen Hauptsätze entweder theoretischer oder praktischer Natur sind (§. 11; ebd, 114 f.), was er abermals mit dem Beispiel Mosheims illustrierte. 259 Zum homiletischen Gehalt der Ausführlichen Redekunst vgl. Schian: Orthodoxie und Pietismus, 129–131; Grosser: Gottscheds Redeschule, 31–47; Ueding/Steinbrink: Grundriß, 131; Blankenburg: Auf klärungsauslegung, 97–108; Stauffer: Erfi ndung und Kritik, 28 f. 54–61; der Vollständigkeit halber siehe auch E. Reichel: Gottsched, Bd. 2, 91–101.

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Kapitel 2: Gottscheds Theorie der »philosophischen« Predigt

Die grundlegende These, auf die seine predigttheoretischen Überlegungen auf bauten, war diese: »Ueberall wo man Menschen zu Zuhörern hat, und in der Absicht redet, daß man sie von gewissen Wahrheiten unterrichten oder überreden will, da werden auch die Fürschriften der Redner, und die Kunstgriffe einer vernünftigen Beredsamkeit einerley seyn müssen.«260 In dieser Hinsicht stellte die Predigt für Gottsched keine Ausnahme dar.261 Er definierte daher (ohne jeden Anspruch auf Originalität) das Predigtgeschehen als einen lehrhaften Redeakt (vergleichbar akademischen Lehrreden), der – hier setzte nun die auf klärerische Neubestimmung an – hinsichtlich seiner kommunikationstheoretischen Konstitutionsbedingungen gegenüber anderen, auf Öffentlichkeit zielenden Reden nichts grundsätzlich Abweichendes oder Darüberhinausgehendes (Übernatürliches) aufwies: In einer Predigt sprachen Menschen zu Menschen mit menschlichen Worten nach menschlichen Denk-, Sprach- und Argumentationsregeln mit dem (rhetorisch als persuasio beschreibbaren) Ziel, von der Unterrichtung (docere) christlicher Wahrheiten zu deren bewußter Einsicht, Zustimmung und Anwendung (movere) zu gelangen.262 Die Predigt wurde von Gottsched also als ein Akt religiöser Rede aufgefaßt, der sich an den Regeln der allgemeinen Rhetorik auszurichten hatte. In dieser Perspektive konnte die Predigt demnach keinerlei Anspruch auf einen rhetorischen Sonderstatus erheben. Mit dieser Sicht konnte sich der Autor seit 1735 auf theologisch abgesichertem Boden wähnen. Niemand anderes als der große Mosheim hatte in seiner, für die theologische Diskussion der Zeit ausgesprochen einflußreichen Sittenlehre 263 eine gedrängte, von Gottsched kaum abweichende Beschreibung der Predigtaufgabe gegeben.264 Obwohl Mosheims homiletisches 260

Gottsched: AR 1736, 523 (GAW VII/3, 65,13–17). Vgl. beispielsweise Ueding/Steinbrink: Grundriß, 131: »Gottsched betont im wesentlichen die Zuständigkeit der allgemeinen Redekunst auch für die Predigt [. . .]«. 262 Gottsched: AR 1736, 523 (GAW VII/3, 64,34–65,4. 5–13): »Nächst den grössern und kleinern Lobreden, kommen wir billig auf die andre Gattung der bey uns gewöhnlichen Reden, nemlich auf die Lehrreden; darinn man sich vorsetzet, seine Zuhörer von gewissen dogmatischen Wahrheiten, sie mögen nun theoretisch oder practisch seyn, zu überzeugen. Ohne Zweifel stehen hier die sogenannten Predigten, oder geistlichen Reden oben an. [. . .] Nun fragt es sich nur: Ob es auch unser Werk sey, in der politischen Redekunst die Regeln zu dieser Art von Reden vorzutragen? Und ob es nicht vielmehr das Werk eines Gottesgelehrten sey, die so genannte Homiletik zu lehren? Ich frage hierbey widerum: Ob es wohl das Werk eines weltlichen Schneiders sey, schwarze Priesterröcke zu machen? Und ob man nicht vielmehr auch geistliche Schneider haben müsse, die Mäntel und Chorhemde der Kirchenbedienten zu verfertigen? Ernstlich von der Sache zu reden; so sind die Regeln der Redekunst allgemein.« 263 J. L. Mosheim: Sitten=Lehre der Heiligen Schrift, [Teil 1,] Helmstedt [1735] 41753. – Ein Textvergleich zwischen der 1. und 4. Aufl age weist zumindest im homiletischen Kapitel keine relevanten Abweichungen auf, weswegen ich auch nach einem mir leicht zugänglichen Exemplar der 4. Aufl age zitiere. 264 Mosheim: Sitten=Lehre, 501 f. (Kap. 2, §. 13) vertrat – wie Gottsched – die Ansicht, 261

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Programm 265 nicht in der für den Leipziger Professor so kennzeichnenden Weise Anschluß an Philosopheme der Wolffschen Philosophie und die antike rhetorische Tradition suchte266 und deswegen in weit stärkerem Maß Eidaß eine Predigt eine an der menschlichen Natur orientierte Rede zur Unterrichtung in theoretischen und praktischen Religionswahrheiten sei (Hervorhebungen im folgenden im Original): »Die Erwachsenen sollen durch unsre öffentlichen Reden und Predigten in dem Erkenntnisse der Warheit zur Gottseligkeit erhalten, befestiget und weiter gebracht werden. [. . .] Eine Predigt ist eine Rede, wodurch eine Menge von allerhand Menschen, die alle zum Guten träge, unachtsam und verdorben, aber dabey in Ansehung der Kräfte des Verstandes, der Neigungen, der Meinungen, der Lebensart, sehr unterschieden sind, zugleich sollen in der Religion unterrichtet, für Irthümern bewahret, und zu Sachen, die der Natur höchst verdrießlich sind, zur Busse und zur Nachfolge JEsu Christi, und zur Tödtung ihrer irdischen Lüste aufgemuntert und bewogen werden.« Ebd, 504 f. hieß es ferner: »Der Zweck einer Predigt ist zwiefach. Der Verstand der Zuhörer soll aufgekläret und allezeit mehr erleuchtet werden: ihr Wille soll unter das Joch des HErrn gebeuget, und bewogen werden, entweder den Weg der Gottseligkeit anzutreten oder auf demselben zu bleiben.« – Es bedürfte eigenständiger Untersuchung, das bezeichnenderweise im Rahmen einer christlichen Ethik (!) erstmals zusammenfassend dargelegte homiletische Konzept Mosheims einer seinen Veröffentlichungsort berücksichtigenden Analyse zu unterziehen. Zu Mosheims Sittenlehre vgl. F. Vollhardt: Christliche Moral und civiles Ethos: Mosheims Sitten=Lehre der Heiligen Schrift, in: Johann Lorenz Mosheim (1693–1755): Theologie im Spannungsfeld von Philosophie, Philologie und Geschichte/ hrsg. von Martin Mulsow; u. a., Wiesbaden 1997, 347–372. 265 Zu Mosheims Predigt und Homiletik vgl. M. Peters: Der Bahnbrecher der modernen Predigt Johann Lorenz Mosheim in seinen homiletischen Anschauungen dargestellt und gewürdigt: ein Beitrag zur Geschichte der Homiletik, Leipzig 1910; Heussi: Johann Lorenz Mosheim, 106–121; Fleischer: Einleitung, 1–104; U. Dreesman: Erbauliche Auf klärung: zur Predigttheorie Johann Lorenz Mosheims, in: Klassiker der protestantischen Predigtlehre, 74–92. 266 Über die Quellen von Mosheims homiletischer Theorie besteht (merkwürdigerweise) eine eigentümliche Unklarheit. Während noch Schian: Predigt, 691,41–43 ohne nähere Begründung die Meinung vertrat, daß Mosheim nachhaltig unter dem Einfluß ausländischer Vorbilder und deutschsprachlicher Reformbemühungen (Gottsched) stehe, zeigte sich Heussi: Johann Lorenz Mosheim, 107. 111 (bei ansonsten richtigen Beobachtungen) an der Frage nach den Quellen von Mosheims homiletischem Profi l ausgesprochen uninteressiert. Keine Auskunft zu diesem Problem bietet auch Fleischer: Einleitung, 1–104. Zwar beurteilt Dreesman: Erbauliche Auf klärung, 91 die homiletische Theorie Mosheims als einen Vermittlungsversuch zwischen Positionen der Orthodoxie, des Pietismus und des »frühauf klärerischen Rationalismus«; worin aber die jeweiligen Einflüsse (v. a. letzterer Art) bestanden und inwiefern sie bei der Herausbildung seiner homiletischen Theorie beigetragen haben, wird nicht gesagt. Ähnlich vage äußerte sich zuvor Peters: Der Bahnbrecher, 194, indem er recht allgemein den »neue[n] Zeitgeist« als »Förderer der vor sich gehenden Umwandlung« namhaft machte; »fremdländische Einflüsse« verneinte er dagegen (vielleicht auf der Grundlage eines zeittypischen Nationalismus) entschieden (ebd, 194 f.). Diese forschungsgeschichtliche Unklarheit verwundert angesichts der überragenden Bedeutung, die Mosheim homiletikgeschichtlich durchgängig attestiert wird. Heussi: Johann Lorenz Mosheim, 107 formulierte den diesbezüglichen homiletikgeschichtlichen Konsens dahingehend, »dass Mosheim es gewesen ist, der in Deutschland zuerst den entscheidenden Schritt zur modernen Predigt getan hat«. Wie erklärt sich dabei die auffällige Übereinstimmung mit der Gottschedischen, an Wolffscher Philosophie orientierten Homiletik bei der zugleich unbestrittenen Ansicht, daß Mosheim kein theologischer Wolffi aner war? Diese und andere Fragen signalisieren, daß über Mos-

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gentümlichkeiten der homiletischen Tradition bewahrte,267 so war die Auffassung der beiden in den zentralen homiletischen Sachfragen gleichwohl völlig kongruent.268 V. a. die Vorstellung einer rationalen Steuerbarkeit des Willens durch den Verstand, die Gottscheds Psychologie der Predigt grundlegend bestimmte,269 deckte sich mit Mosheims Modell einer zeitgemäßen Predigt.270 Dessen Homiletik war in der Konsequenz daher nicht weniger intellektualistisch ausgerichtet als die Gottscheds.271 Für dessen Position hatheims Predigt und Homiletik, v. a. hinsichtlich ihrer Entstehungsfaktoren, das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. 267 Vgl. beispielsweise in der zitierten Predigt-Defi nition Mosheims die sachliche Wiederkehr der vier orthodoxen homiletischen usus (didacticus, elenchticus, paedeuticus, epanorthoticus; es fehlt auf klärungstypisch der Trost [usus paracleticus], der als Teil des usus didacticus begriffen wurde, indem durch ihn vernünftige Gründe zur Überwindung des Leides bereitgestellt werden sollten!). 268 Richtig Peters: Der Bahnbrecher, 192 f. (im Anschluß an bereits zuvor von Heussi: Johann Lorenz Mosheim, 118 f. angestellte Überlegungen): »Am nächsten steht Mosheim nach seiner eigenen Einschätzung der philosophischen Predigtweise seiner Zeit. Zu dieser durch die Wolffsche Philosophie [. . .] herbeigeführten neuen Methode verhält er sich in ihren Ausartungen ebenso ablehnend, wie er sie nach ihrer Grundtendenz und in maßvoller Anwendung bejaht.« 269 Vgl. dazu auch folgende, für sich selbst sprechende Disputation: J. Ch. Gottsched (praes.); J. D. Heyde (auct. et resp.): Voluntatis Ab Intellectv Dependentiam Amplissimi Philosophorvm Ordinis Consensv D. X. April. MDCCXXXVII. Publice Defendent Praeses Iohannes Christophorvs Gottschedivs [. . .] et Iohannes Daniel Heyde Avctor et Respondens, Lipsiae [1737]. – Ein deutscher Auszug dieser Disputation in: Gründliche Auszüge aus denen Neuesten Theologisch=Philosophisch= und Philologischen Dispvtationibvs, welche auf denen Hohen Schulen in Deutschland gehalten worden. Zweytes Stück, Leipzig 1738, 56–65. 270 Zur Dependenz des Willens vom Verstand vgl. die zutreffenden, im Anschluß an Heussi: Johann Lorenz Mosheim, 111 und Peters: Der Bahnbrecher, 55–63 von Dreesman: Erbauliche Auf klärung, 82–84. 86 mitgeteilten Beobachtungen: »Der lehrhaften ›Abhandlung‹, die den Menschen primär im Blick auf sein intellektuelles Vermögen anspricht, folgt die an den Willen gerichtete ›Nutzanwendung‹ [. . .]«; ebd, 86 (Hervorhebung A. S.). Obwohl seit Heussi und Peters die homiletisch-psychologische Funktionsweise des philosophisch begründeten, rationalistischen Persuasionsmodells in ihrer Bedeutung für Mosheim erkannt ist (vgl. im oft übersehenen, durchaus praktisch orientierten, für die Predigt der späteren Auf klärungspredigt aber gleichwohl instruktiven Aufsatz von M. Peters: Was können wir von der Predigtlehre des Rationalismus lernen?, NKZ 25 [1914], 833 f.), wird der damit gegebene rationalistisch-intellektualistische Predigtansatz Mosheims nicht immer scharf herausgestellt, so z. B. bei H. M. Müller: Homiletik, TRE 15, 537,36–45; unklar auch Fleischer: Einleitung, 53. 71–73. 90. 271 Dies ist gegen die in der Literatur gelegentlich vertretene harmonistische Auffassung festzuhalten, die für Mosheim einen homiletischen »Mittelweg« zwischen allen Fronten annimmt. Wenn etwa Peters: Der Bahnbrecher, 47. 192 f. trotz der richtigen Beurteilung von Mosheims positiver Stellung zur »philosophischen Predigt« ebd, 2 meint: »Nun kann allerdings Mosheim nur in beschränktem Maße als Vertreter der Auf klärung in Anspruch genommen werden«, dann mag das für die am Dogma orientierte theologiegeschichtliche Klassifi zierung Mosheims richtig sein, nicht aber für seine homiletikgeschichtliche Stellung, die ohne jeden Abstrich eine Zuordnung zur Auf klärung verlangt! Ebenso verkennt Fleischer: Einleitung, 88 die homiletikgeschichtlichen Frontlinien, wenn er eine kritische

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ten unter diesen Umständen die Darlegungen des Helmstedter Theologen wohl auch kaum unmittelbar anregenden Charakter (umgekehrt vielleicht schon eher).272 Aber sie konnten ihm eine willkommene Absicherung bieten, auf dem seit der Königsberger Zeit eingeschlagenen Weg, die Auseinandersetzung mit der orthodoxen Theologie suchend, fortzuschreiten. Aufgrund der grundsätzlichen Übereinstimmungen konnte Gottsched die Predigten des Helmstedter Theologen in der Ausführlichen Redekunst einmal mehr emphatisch als »unverbesserliche Muster« 273 anpreisen, »die einem jeden zeigen können, wieweit die Regeln einer vernünftigen Beredsamkeit, eine gekünstelte Homiletik übertreffen«274 ; umgekehrt versuchte aber auch Äußerung Mosheims gegen Auswüchse der »philosophischen« Predigt mit Gottscheds (von Fleischer aber fälschlich Reinbeck zugeschriebenem) Predigtlehrbuch in Zusammenhang bringt und folgert: »Mosheim distanziert sich von dieser Art des Predigens.« – Eine problematische Sonderstellung innerhalb der homiletischen Mosheim-Forschung nehmen die Beiträge von J. A. Steiger: Johann Lorenz von Mosheims Predigten zwischen reformatorischer Theologie, imitatio-Christi-Frömmigkeit und Gesetzlichkeit, in: Johann Lorenz Mosheim (1693–1755): Theologie im Spannungsfeld von Philosophie, Philologie und Geschichte/ hrsg. von Martin Mulsow; u. a., Wiesbaden 1997, 297–327 (erweiterte Fassung in: J. L. Mosheim: Die Macht der Lehre Jesu über die Macht des Todes/ annotiert und mit einem Nachwort sowie einem Beitrag über Mosheims Predigten hrsg. von J. A. Steiger, Stuttgart-Bad Cannstatt 1998, 81–119) ein. Seine ebenso singuläre wie unhaltbare Mosheim-Deutung unterstellt dem gegenüber der Homiletik der Orthodoxie mehr als kritisch eingestellten Helmstedter anachronistisch eine »partielle Verwandschaft mit der orthodoxen Rhetorik«, der er sich selbst »offensichtlich nicht wirklich bewußt geworden« sein soll (beide Zitate ebd, 103). Aufgrund eines gravierenden Mißverständnisses betreffend die Entwicklung der rhetorisch-homiletischen Entwicklung zwischen Barock (Orthodoxie) und Auf klärung, das den Abbruch bzw. die radikalen Transformationen rhetorischer Tradition im Auf klärungsjahrhundert verkennt, polemisiert Steiger unberechtigt gegen das sachlich völlig zutreffende Referat von Mosheims rationalistischer persuasio-Strategie durch Gert Otto und die daran geknüpfte Bezeichnung Mosheims als »Auf klärer« (ebd, 86 in Anm. 11). Ebenso obsolet ist daher auch die von Steiger an Albrecht Beutel geäußerte Kritik, der für Mosheim zutreffend die klassizistische »Wiederentdeckung der homiletischen Relevanz der Rhetorik« (zit. Beutel ebd, 87 in Anm. 11) festgestellt hat. 272 Wie bereits zitiert, hatte Mosheim gegenüber Gottsched erklärt: »Ich gebe Ihnen hienieden vollkommene Gewalt, mich in der Weltweisheit, Rednerkunst, Poesie u. s. w. in die Schule zu führen, ja mich gar zum Ketzer in diesen Wissenschaften zu machen«; zit. nach Danzel: Gottsched, 26. Ein Exemplar der Ausführlichen Redekunst in der Ausgabe von 1736 war in Mosheims Bibliothek vorhanden; Catalogus Bibliothecae Io. Laur. a Mosheim, Nr. 2574. Stauffer: Erfi ndung und Kritik, 265 in Anm. 75 konstatiert im Rückgriff auf Peters eine Beeinflussung Mosheims durch Gottsched in der Lehre vom »Hauptsatz«. – Angesichts der seit 1720 auf breiter Front einsetzenden Reformbemühungen in der Homiletik ist demgegenüber die von E. Reichel: Gottsched, Bd. 2, 91 in Anm. 51 auf die Ausführliche Redekunst bezogene Einschätzung, Gottsched habe im »Kampfe gegen die landläufige Homiletik der damaligen Zeit [. . .] kaum einen Vorgänger gehabt«, natürlich maßlos übertrieben. Das Verhältnis von »Fremde[m] und Eigene[n]« in Gottscheds rhetorischer Theorie diskutiert ausführlich Wechsler: J. Ch. Gottscheds Rhetorik, 53–92, Zitat: 53 (Kapitelüberschrift). 273 Gottsched: AR 1736, 334 (recte: 534) (GAW VII/3, 72,17). 274 Gottsched: AR 1736, 334 (recte: 534) (GAW VII/3, 72,10–12).

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Kapitel 2: Gottscheds Theorie der »philosophischen« Predigt

Mosheim anläßlich des Todes seiner ersten Frau, den Leipziger Auf klärer als Dichter einer Trauerode zu gewinnen, womit er die hohe Wertschätzung von dessen poetisch-rhetorischen Fähigkeiten privat zum Ausdruck brachte.275 Gottsched und Mosheim, der seit Übernahme des Präsidentenamtes der Deutschen Gesellschaft eng mit ihrem Senior zusammenarbeitete, bildeten in homiletischer Hinsicht daher so etwas wie ein gemeinsames Gespann, in dem der eine mehr als Theoretiker, der andere mehr als Praktiker die Predigtreform – einander ergänzend – mit der je eigenen Kompetenz als Philosoph bzw. als Theologe vorantrieben.276 Zur Begründung der homiletischen Verknüpfung von auf klärerischer Philosophie und geläuterter Rhetorik hielt es Gottsched angesichts des damit gegebenen Traditionsbruches für geraten, sich der Stütze einer Autorität zu versichern, die – anders als der Helmstedter Theologe – jenseits des geringsten Verdachts theologischer Parteilichkeit im Luthertum unumstrittene Anerkennung genoß. Gottsched erklärte daher niemand anders als Luther mit dessen berühmter Forderung »Ein Prediger soll ein Dialecticus und Rhetor sein« 277 zum Kronzeugen für sein Programm homiletischer Erneuerung. Die zentrale Begründungsfunktion, die hier, aber auch in anderen homiletischen Texten, von Gottsched dem Reformator für die auf kläreri275

Da Mosheim sich persönlich nicht in der Lage fühlte, der Welt ein angemessenes »Zeugniß von meinen tieffen Schmertzen zu geben« (Brief Mosheims an Gottsched, Helmstedt, 20. 9. 1732, UBL Ms 0342, Bd. 2, Bl. 230v), richtete er ebd. an Gottsched die Bitte: »Könten E. HochEdl. in meinem Nahmen eine Ode oder Gedichte zu diesem Ende aufsetzen, würde mir ein grosser Gefallen gethan. Es wird schwer fallen, die äusserste Wehmuht abzubilden: doch E. hochEdl. werden unter allen, die mir bekant, dazu der geschickteste seyn.« Ob der Angefragte dem Wunsch des Helmstedter Gelehrten nachkam, vermag ich nicht zu sagen; vgl. in diesem Zusammenhang auch eine Gedichtübertragung Gottscheds auf den Tod von Mosheims Gattin in: Gottsched: Gedichte, Leipzig 1736, 674 f. 276 Nicht ohne polemischen Seitenhieb auf Gottscheds »Geschmacksdiktatur« registrierten bereits Zeitgenossen die predigtpraktische Vorgängerrolle Mosheims und die darauf durch Gottsched erfolgte Systematisierung der Theorie: [Anonymus:] Gedanken von aesthetischen Predigten, 11 f. (Hervorhebungen A. S.): »Endlich und seit etwa 30. Jahren kam der Geist, der so lange schon in den Werken des Witzes in Frankreich und Engelland geherschet hatte, auch bis zu uns. Man kennet die berühmten Männer Sachsens und der Schweitz, die sich theils um die Bearbeitung der Sprache bemühet, theils die unbefugte Willkürlichkeit des Geschmacks durch Grundsätze, die sie aus der Natur der menschlichen Seele hernahmen, in engern Gränzen einzuschliessen gesuchet haben. Ehe inzwischen diese Versuche und Regeln einmal bekannt wurden, schrieb Moßheim denselben schon gemäß, der auch in dieser Sphäre ein Originalgeist ward, und dessen kleinster Ruhm es ist, daß er ein grosser Redner war.« Gottsched: Rede wieder die homiletischen Methodenkünstler, in: AR 1736, 515 [recte: 615] (GAW VII/3, 127, 35.30) räumte selbst die predigtpraktische Vorgängerrolle Mosheims ein, wenn er von dessen Predigten, den »schönen Mustern einer theologischen Beredsamkeit«, die Meinung hegte, daß sie »uns den alten Weg gewiesen«. 277 Zit. bei Gottsched: AR 1736, 524 (GAW VII/3, 65,35 f.).

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sche Predigtreform beigelegt wurde, rechtfertigt an dieser Stelle eine eigene Erkundung. Exkurs: Die homiletische Lutherdeutung Gottscheds: Aufklärung als Fortsetzung und Vollendung der Reformation Es ließ sich zwar auf den zurückliegenden Seiten nicht ganz vermeiden, Gottscheds Rekurse auf den Reformator an der einen oder andern Stelle bereits kurz zu streifen, da die argumentative Beanspruchung Luthers im Zusammenhang der homiletischen Reformüberlegungen so etwas wie ein durchgehendes Motiv bildete. Hier wird dieses nun in genetischer Darstellung systematisch zu interpretieren sein. Nur ansatzweise kann dabei die Kontextualisierung von Gottscheds homiletischem Lutherbild im Zusammenhang mit der auf klärerischen Reformationsdeutung 278 innerhalb seiner übrigen Schriften 279 bzw. den Auffassungen im Gottsched-Kreis Berücksichtigung fi nden, wie sie etwa im Jubeljahr der Augsburger Konfessionsschrift 1730 in der von der Deutschen Gesellschaft preisgekrönten Rede von Adam Bernhard Pantke280 oder einer Gedächtnisrede zu Luthers 200. Sterbejahr greif bar wird, die ein Gottsched-Schüler in der von Gottsched unter278 Hirsch: Geschichte, Bd. 2, 336 formulierte prägnant, daß Pietisten und Auf klärer das »gemeinsam[e] Bestreben [verband], Luther selbst wider seine Epigonen zur Geltung zu bringen«. Zur Lutherdeutung bzw. der Deutung der Reformation in der Auf klärungszeit vgl. die Übersichten bei H. Stephan: Luther in den Wandlungen seiner Kirche, Gießen 1907, 43–68; L. Zscharnack: Reformation und Humanismus im Urteil der deutschen Auf klärung, Protestantische Monatshefte 12 (1908), 81–103. 153–171; Völker: Die Kirchengeschichtsschreibung, 69–77; E. W. Zeeden: Martin Luther und die Reformation im Urteil des deutschen Luthertums. Studien zum Selbstverständnis des lutherischen Protestantismus von Luthers Tode bis zum Beginn der Goethezeit, Bd. 1: Darstellung, Freiburg i. Br. 1950, 189–389. Vgl. dazu auch von reformationsgeschichtlicher Seite K.-H. zur Mühlen: Die von Luther herkommende Komponende der Auf klärung, in: Auf klärung und Haskala in jüdischer und nichtjüdischer Sicht/ hrsg. von K. Gründer; N. Rotenstreich, Heidelberg 1990, 23–41. – Zu Gottscheds Luther-Bild aus der Perspektive der marxistischen Literaturgeschichtsschreibung siehe Rieck: Johann Christoph Gottsched, 43 f. – Zum Zusammenhang von Urchristentum, Reformation und Auf klärung in der Geschichtsschreibung des Auf klärungstheologen Johann Matthias Schroeckh siehe zuletzt D. Fleischer: Urchristentum, Reformation und Auf klärung: zum Selbstverständnis des Wittenberger Historikers Johann Matthias Schroeckh, in: Christentum im Übergang, bes. 277–281. 279 Vgl. beispielsweise J. Ch. Gottsched: Ode. Auf das andere Protestantische Jubelfest, welches wegen des zu Augspurg übergebenen Bekenntnisses Evangel. Fürsten und Stände, im Jahre 1730. den 25 Junii gefeyert wurde, in: ders.: Gedichte, Leipzig 1736, 85–96. Zu diesem Gedicht zitiert E. Wolff: Über Gottscheds Stellung, 255 eine zeitgenössische Äußerung, die dieses als »erzlutherisch« bezeichnet. 280 A. B. Pantke: Lob=Rede auf die ersten Bekenner der evangelischen Wahrheit welche [. . .] auf das Jahr 1730. den Preis der Beredsamkeit erhalten, Leipzig 1730. – Vgl. dazu D. Döring: Die Deutsche Gesellschaft zu Leipzig und die von ihr vergebenen Auszeichnungen, 219 in Anm. 102.

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Kapitel 2: Gottscheds Theorie der »philosophischen« Predigt

haltenen Vormittäglichen Rednergesellschaft gehalten hat.281 Unberücksichtigt bleiben muß auch das Verhältnis von Gottscheds Luther- und Melanchthondeutung, obschon die literarische Präsenz des praeceptor Germaniae beim Leipziger Predigtreformer erheblich ist,282 eine Präsenz, die bei näherer Untersuchung weitere Aufschlüsse über die typologische Prägung des auf klärerischen Selbstverständnisses erwarten läßt. Erstmals begegnete der Name Luthers bei Gottsched in homiletischer Pointierung in jenem 1724 veröffentlichten Gedicht zum 100jährigen Jubiläum des Montäglichen Großen Predigerkollegiums.283 Gegenüber der als verquast denunzierten römisch-katholisch-jesuitischen Barockhomiletik stimmte Gottsched in konfessioneller Antithese ein Loblied auf »(d)ie verbesserte Lehrart der Evangelischen im Predigen« (Titel) an, die sich entscheidend Luthers Predigtreform und seinem Vorbild in der evangelischen Predigttradition verdankte. Der Bezug auf Luther empfahl sich für Gottsched neben dem auf klärerischen Antikatholizismus284 vor allem auch deshalb, weil Luther hier die Verbindung von zwei Merkmalen veranschaulichen konnte, die im Mittelpunkt der eigenen homiletischen Reformvorstel281 J. D. Heermann: Das Andenken des nunmehr vor 200 Jahren selig verstorbenen D. Martin Luthers, wollte durch eine Gedächtnißrede in der, unter Sr. M. dem Herrn Professor Gottsched, in der Beredsamkeit vormittags sich übenden Gesellschaft, und in Gegenwart einiger außerordentlichen Zuhörer erneuern, M. J. D. Heermann, Leipzig [1746]. – Der Titel war mir nicht erreichbar; zit. nach Gottscheds eigener Rezension in: Neuer Büchersaal, 2 (1746), 569. 282 Melanchthons rhetorische Schriften stellten in Gottscheds Predigtlehrbuch von 1740 einen häufig beanspruchten Referenzbezug dar. Vgl. zur Wertschätzung Melanchthons auch [ J. Ch. Gottsched:] Lobgedicht auf den berühmten Philipp Melanchthon, in: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 10 (1760), 289–300 (vgl. Gottsched-Bibliographie [GAW XII], Nr. 757); vgl. auch Gottscheds lateinische Gedächtnisschrift auf Melanchthon (Gottsched-Bibliographie, Nr. 749) und die Rezension dieser Schrift in: Das Neuste, 10 (1760), 245–252. 283 Vgl. dazu auch oben in Abschn. 1.1 mit Anm. 40–42. 284 D. Döring: Die Deutsche Gesellschaft, 219 zeigt anhand von Preisschriften aus dem Gottsched-Kreis, daß nach dem Selbstverständnis der Auf klärer die eigene Zeit einen »in seinen Anfängen weit zurückreichenden Kampf um die Erkenntnis der Wahrheit« führt, ein Kampf, in dem »(. . .) bereits die Reformation einen ersten großen Sieg über den Aberglauben (bringt)«; ebd, 219 in Anm. 102. Nach D. Döring: Die Universität Leipzig, 446 in Anm. 96 ist der Katholizismus für Gottsched »und mit ihm zahlreichen Vertretern der Auf klärung immer eine besonders abstoßende Form des Aberglaubens gewesen«; zu Gottscheds Katholizismusbild vgl. auch Waniek: Gottsched, 562 f.; Stephan: Wandlungen, 46 bringt den antikatholischen Affekt im Lutherbild der Auf klärung wie folgt auf den Punkt: »Man empfand den Einfluß der Jesuiten an den Höfen, überhaupt den wohlgegliederten Organismus der katholischen Kirche als einen dumpfen Druck; und je weniger man vermochte, das Wesen der katholischen Frömmigkeit zu verstehen, desto ängstlicher besorgte man eine Überrumpelung durch ihre Träger. Auf solchen Boden mußte Luther zunächst und vor allem als Befreier vom Papsttum erfaßt werden. Und sofern man auch im altprotestantischen Kirchentum noch allerhand katholische Reste erkannte, gewann man Verständnis für Luther als den Gegner jeder äußern Autorität, des Katholischen auf allen Gebieten des geistigen Lebens.«

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lungen standen: Die Verknüpfung eines antischolastischen Impetus mit der antiorthodox-antiautoritär verstandenen theologischen Konzentration auf die Bibel in ihrer deutschen Sprachgestalt, mithin also der homiletisch relevante auf klärerische Zusammenhang von Denk- und Sprachreform. Während die kasuellen Rahmenbedingungen bei diesem Gedicht noch verlangt hatten, die orthodoxe Predigttradition offiziell als genuinen Erben Luthers auszugeben, war Gottsched später zu keinen derartigen Verkrümmungen mehr genötigt. So stellte er in seinem Gedicht anläßlich der Beförderung Romanus Tellers nach Merseburg die orthodoxe Homiletik dahingehend bloß, daß nicht einmal Luther ihren absurden Regeln Genüge zu leisten in der Lage wäre. In ironischer Verkehrung trieb Gottsched den Spott über die rhetorica sacra der Orthodoxie dergestalt auf die Spitze, daß er meinte, würde Luther heute leben, er ließe ganz sicher seine schlichte, durchdringende Predigtweise fahren und eilte geradewegs in die Schule der orthodoxen Homileten, um ein Schüler ihrer »Methodenkunst« zu werden.285 Hier konfigurierte Luthers Predigt erkennbar als Repräsentant eines Ideals homiletischer Beredsamkeit in orthodoxiekritischer Absicht. Die Ausführliche Redekunst brachte dann die bereits erwähnte, entscheidende Argumentation ein, die Luther zum Kronzeugen von Gottscheds Programm homiletischer Erneuerung stilisierte. Denn in dem Diktum »Ein Prediger soll ein Dialecticus und Rhetor sein« sah Gottsched »eine ganze Homiletik in nuce« 286 unmittelbar vorgebildet, die er selbst – man müßte in seinem Sinne hinzufügen: endlich – zur Anwendung zu bringen gedachte. Daher fragte er unschuldig: »Sind wir nun entschlossen, seine [sc. Luthers] 285

Gottsched: Die rechte Art zu predigen, GAW I, 440, 129–144:

»Noch mehr! Lutherus selbst, der theure Gottesmann, Verdient den Lobspruch nicht, daß er die Lehrart [sc. der orthodoxen Homiletik] kann. Zwar ist sein Vortrag stets voll Eifer, Geist und Leben, Wie seine Schriften noch das sichre Zeugniß geben. Er dringt durch Mark und Bein, er strafet, drohet, schreckt, Ermahnet, tröstet, warnt, ermuntert und erweckt: Allein, was hilft ihm das, wenn die Methode fehlet, Und jeder, der sie sucht, sich ganz vergebens quälet? Ach stünde Luther doch nur itzo wieder auf! Er gäbe ganz gewiß sein Feuer in den Kauf, Und näme Regeln an. Er würde gern bekennen, Sein ganzes Predigen sey ein Geschwätz zu nennen: Er kaufte sich den Leigh und Lehmanns Pentas ein, Er würde Wiedemanns getreuer Schüler seyn, Und ganze Jahre lang, nach hundert Arten, lernen, Sich künstlich von dem Sinn des Geistes zu entfernen.« Vgl. auch die bereits oben in Abschn. 1.4 bei Anm. 224–226 zitierten Passagen dieses Gedichts. 286 Gottsched: AR 1736, 525 (GAW VII/3, 66,8).

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Kapitel 2: Gottscheds Theorie der »philosophischen« Predigt

Regeln anzunehmen, wie ich nicht anders vermuthe: So sage man mir einmal, worinne dieselben von denen bisher erklärten Regeln meiner Redekunst abgehen?« 287 In völliger Übereinstimmung mit dem eigenen Modell einer »philosophischen« Predigt sah Gottsched (in Aufnahme der von Luther gegebenen Erklärung des Diktums) 288 sämtliche seiner homiletischen Forderungen längst ausgesprochen: »Verlanget er nicht, daß ein Prediger ein Dialecticus und Rhetor seyn, das ist die Vernunftlehre und Redekunst verstehen solle? Will er nicht, daß man sein Thema erst recht unterscheiden, oder verstehen soll, was es heisse? Will er nicht, daß man es auch seinen Zuhörern defi niren, beschreiben, oder, wie wir es genennet haben, erklären solle? Will er nicht, daß auf die Erklärung der Beweis folgen solle? Will er nicht, daß auf diesen eine Erläuterung mit Exempeln und Gleichnissen angehänget werden; und daß endlich eine bewegliche Aufmunterung der Faulen, und Bestrafung der Wiedriggesinnten, den Beschluß machen solle? Was haben wir oben, in allen unsern Vorschriften, anders von einem Redner gefordert, als dieses?« 289

Gottsched verstand sich und sein Reformprogramm ganz offenbar als direkte Einlösung reformatorischer Forderungen, die – unter dem »Methodenkram« der Orthodoxie verschüttet – nun unter veränderten kulturellen Rahmenbedingungen wieder ans Licht gebracht und zu neuem Leben erweckt werden sollten. Der Gedanke der Erneuerung und Fortsetzung homiletischer Anliegen Luthers bildete daher auch ein zentrales Motiv in Gottscheds homiletischem Lehrbuch von 1740. Schon auf der Rückseite des Titelblatts wies ein programmatischer Vierzeiler die Zielrichtung der nachfolgenden Darlegungen: »Die Moden ändern sich fast jährlich in der Welt; Die Alten werden oft als Neue dargestellt. 287

Gottsched: AR 1736, 525 (GAW VII/3, 66,14–17). Luther: WA.TR 2, 368,31–38; zit. bei Gottsched: AR 1736, 524 (GAW VII/3, 65,35–66,4) nach der verbreiteten, den Text stark bearbeiteten Ausgabe von Aurifaber. Das Zitat lautet (nach einer neueren, sprachlich geglätteten Version) dieser Ausgabe (Satzteile in eckigen Klammern [ ] sind in Gottscheds Zitat ausgelassen worden): »Ein Prediger soll ein Dialecticus und Rhetor sein, [das ist, er muß können lehren und vermahnen.] Wenn er nu von einem Dinge oder Artikel lehren will, soll ers erstlich unterscheiden, was es eigentlich heißet; zum Andern defi niren, beschreiben und anzeigen, was es ist; zum Dritten soll er die Sprüche aus der Schrift dazu führen [und damit] beweisen und stärken; zum Vierten mit Exempeln austreichen und erklären; zum Fünften mit Gleichnissen schmücken; zu letzt die Faulen ermahnen und munter machen, die Ungehorsamen, falsche Lehre und ihre Stifter mit Ernst strafen, also doch, daß man sehe, daß es aus keinem Widerwillen, Haß oder Neid geschehe, sondern allein Gottes Ehre und der Leute Nutz und Heil suche.« – Zum Verhältnis von Dialektik und Rhetorik bei Luther vgl. Barner: Barockrhetorik, 260 in Anm. 7; Steiger: Rhetorica sacra, 538; W. Maaser: Rhetorik und Dialektik: Überlegungen zur systematischen Relevanz der Rhetoriktradition bei Luther, in: Luther 69 (1998), 25–39. 289 Gottsched: AR 1736, 525 (GAW VII/3, 66,17–27). 288

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Ach änderte sich auch der Prediger Methode! Ach würde wiederum der Doctor Luther Mode.« 290

Bei diesen Versen handelte es sich um einen Auszug aus dem längeren, antiorthodox pointierten Gedicht eines gewissen Horn,291 das mit einigen kleineren sprachlichen Korrekturen von Gottsched für seine Zwecke aufgegriffen wurde. Über die inhaltliche Botschaft hinaus charakterisierte die Beanspruchung eines anderen Zeitgenossen für die homiletische Reform die Lutherdeutung Gottscheds dahingehend, daß sie keineswegs singulär erfolgte, sondern Ausdruck eines Gruppenbewußtseins war, wie es den vielfältigen auf klärerischen Zugriffen auf den Reformator im Kern gemeinsam war.292 Die auf klärerische Verklärung der Reformation zum Ursprung der eigenen homiletischen Bestrebungen zeigte sich besonders deutlich im Rahmen eines homiletikgeschichtlichen Abrisses, der das Predigtvorbild Luthers ins Heldenhafte steigerte: »Sonderlich war die durchdringende Beredsamkeit, womit der theure Lutherus die Wahrheiten des Evangelii vortrug, so kräftig, daß ihr fast niemand zu wiederstehen vermochte.« 293 Dabei erfolgte 290

[Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, Bl. a1v. [Georg] Horn: Auf die alamodischen Predigten, in: Ch. F. Weichmann: Poesie der Nieder-Sachsen. Dritter Theil, Hamburg 1726, 303. 292 Erhellend in diesem Zusammenhang beispielsweise eine Äußerung des späteren Berliner Auf klärungstheologen Anton Friedrich Büsching (1724–1793), der nach eigenem Bekunden bereits 1748 (im Alter von 14 Jahren) zu folgender Auffassung gekommen sein wollte; zit. bei Stephan: Luther, 58 f.: »Ich stellte mir Luther in der Größe vor, in welcher er von Wenigen erkannt wird, und die darin besteht, daß er in Religionssachen schlechterdings von keines andern Menschen, sondern blos von seiner eignen Einsicht, Überzeugung und Entscheidung abhangen wollte, zu der er durch fleißiges Lesen der Bibel gelangt war.« Vgl. auch S. A. Eyólfsson: Luther als Gefangener der Interpretationsgeschichte, in: Luther 75 (2004), 43 f.: »Im Lutherbild der Aufklärung erscheint der Reformator als Wegbereiter der Freiheit des einzelnen und als Vertreter der Moderne. Entscheidend ist sein Kampf für Gewissensfreiheit und Freiheit des Individuums, die er vom Wucher der Kleriker der mittelalterlichen Kirche zu befreien suchte.« Vgl. ferner zur Lutherdarstellung des Auf klärungstheologen Schröckh bei H. Gutschera: Reformation und Gegenreformation innerhalb der Kirchengeschichtschreibung von Johann Matthias Schröckh, Göppingen 1973, 27–43. 293 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 17. Die (ältere) Beschreibung der Predigtweise Luthers als methodus heroica nährte sich dabei aus der Vorstellung, daß Luther aufgrund geistgewirkter Beredsamkeit – um mit Gottsched zu sprechen – »fast niemand zu wiederstehen vermochte«. Das »heldische« Moment hält auch die Defi nition im Zedler 20 (1739), 1297 fest: »Methode (die heroische) Methodus heroica, ist, wann insonderheit grosse Leute eine Sache nach eigenem Gutdüncken, ohne sich an eine strenge Ordnung binden zu lassen, abhandeln«; zur geistgewirkten methodus heroica bei Gottfried Arnold sowie in der lutherischen Tradition vgl. bei Marti: Rhetorik des Heiligen Geistes, 274–282; das orthodox-lutherische Verständnis der methodus heroica, wie es noch Gottsched bekannt gewesen sein dürfte, referiert Stäudlin: Geschichte, Tl. 2, 221 f.: »Quenstedt beurtheilt die verschiedene Predigermethoden, führt sie auf sehr wenige zurück [. . .]. Einige, sagt er, setzen noch die heroische Methode hinzu, wo der Prediger, begabt mit besonderm Geiste und göttlicher Kraft, eine heilige Materie, gewöhnlich ohne Abtheilung und ohne ein besonderes Thema anzugeben, und mit Vernachlässigung anderer Erfordernisse der Logik und Rhe291

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die Beurteilung seiner Predigtweise nach dezidiert auf klärerischen Kriterien, die der Reformator mustergültig repräsentierte: »Seine Art des Vortrages war an Deutlichkeit, Gründlichkeit und Lebhaftigkeit, allen demjenigen abgeschmackten Gewäsche unendlich überlegen, welches man bis dahin von Mönchen und Pfaffen gehöret hatte.«294 Dabei wurde die geistgewirkte Kraft seiner Predigt von Gottsched auf der Linie einer Luther traditionell zugesprochenen »heroischen« Predigtweise (methodus heroica) zwar ausdrücklich bestätigt,295 zugleich aber (ganz der Rhetoriklehrer!) betont, daß es ebensosehr menschlich-natürliche Fähigkeiten in der Beredsamkeit waren, die Luther als Prediger auszeichneten: »So gewiß es nun ist, daß GOtt selbst, durch die Kraft seines Wortes die Herzen der Zuhörer gelenket; so unleugbar ist es doch, daß auch die beredte Zunge dieses grossen Lehrers ein kräftiges Werkzeug der Erleuchtung und Bekehrung abgegeben.«296 Aus diesen Gründen konnte Gottsched seine Schriften daher auch nachdrücklich als Lektüre zu homiletischen imitatio-Zwecken empfehlen,297 obschon er manche seiner sprachlichen Ausdrücke als überholt und damit keineswegs nachahmenswürdig ansah.298 In Aufnahme jenes schon in der Ausführlichen Redekunst beanspruchten Lutherwortes vom Prediger, der als »Dialecticus und Rhetor« sein Amt verrichtet, also der homiletischen Haupthese Gottscheds, daß ein Prediger als Philosoph und Redner sich an die jeweils gültigen Regeln des Denkens und Sprechens zu binden habe, wiederholte Gottsched auch in seinem Predigtlehrbuch – sich selbst zitierend – die Behauptung, daß seine Homiletik nichts anderes verlange, als was Luther längst gefordert hatte:

torik, auf Antrieb des Geistes, mit großer Weisheit und Geschicklichkeit, gleich den Propheten und Aposteln redet; so hat wenigstens Anfangs Luther, so Mörlin geprediget; diese Methode ist aber mit ihren Urhebern ausgestorben und unnachahmlich.« 294 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 17. 295 Gottsched: Rede wieder die homiletischen Methodenkünstler, in: ders.: AR 1736, 517 (recte: 617) (GAW VII/3, 128,41–43): »[. . .] wie hat der theure Luther geprediget, der doch gewiß eine recht göttliche Beredsamkeit voller Feuer und Nachdruck besessen«. 296 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 17. 297 Um zur notwendigen »Lebhaftigkeit« (Lebendigkeit, Anschaulichkeit, auch Überzeugungskraft im Sinne der Beeinflussung des Willens der Zuhörer) eines Predigtvortrages zu gelangen, empfahl [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 439: »Man lese doch die Kirchen-Väter! Man lese Bourdaloue und Saurin! Man lese Lutheri und Lassenii Schrifften! Man lese auch Mayers und Mosheims heil. Reden! So wird man sehen, welch eine Krafft überall darinnen herrschet, und das zwar größten Theils wegen des glücklichen Gebrauches der Figuren.« 298 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 382 f. verwies Gottsched für Beispiele eines veralteten Ausdrucks ganz allgemein auf die Bibel (im Lutherdeutsch) bzw. Luthers (und anderer älterer Theologen) Schriften sowie die alten Kirchenlieder. – In den Tadlerinnen hatte Gottsched bereits zu einem frühen Zeitpunkt vorsichtige Überlegungen zu einer sprachlichen Revision der Lutherbibel geäußert: Die Vernünfftigen Tadlerinnen, Bd. 2, 15 f. (2. Stück, 11. Januar 1726).

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»Also hat auch der theure Luther eben dieser Lehrart das Wort geredet: Wie schon der Verfasser der [. . .] ausführlichen Redekunst in der ersten Auflage derselben p. 524. aus des seel. Mannes Tischreden p. 194. wo er von Predigern und Kirchendienern handelt, folgende Worte angeführet: [Lutherzitat]. Hier sieht man nun ausführlich alle die Regeln, die wir oben vorgeschrieben haben: daß nämlich ein evangelischer Redner in der Vernunftlehre und Redekunst geübt seyn 1) seyn Thema erklären, 2) dasselbe aus der Schrifft beweisen, 3) mit Exempeln und Gleichnissen erläutern, 4) die falsche Lehren widerlegen. 5) Die Faulen ermuntern, oder die Gemüthsbewegungen erwecken solle.« 299

Daher war Gottsched sich auch gewiß, daß, »ob wohl bis daher noch niemand die geistliche Beredsamkeit auf die weltliche Redekunst gegründet«300 hat, er selbst »(. . .) hiedurch keine Neuerung an(fängt)«301. Auch wenn Gottsched innerhalb seines homiletikgeschichtlichen Abrisses die auf klärerische Selbstdeutung als Fortsetzer und Vollender der Reformation, die er mit sozinianischen und pietistischen Auffassungen teilte,302 selbst nicht explizit aussprach, so schien diese Auffassung doch durch die aufgeführten Beispiele seiner Lutherdeutung in Verbindung mit seiner massiven Kritik an der Homiletik der Orthodoxie sowie durch sein eigenes, zur Schau getragenes Selbstverständnis deutlich durch. Ihre endgültige historiographische Fixierung erhielt diese Sicht in der entsprechenden Perspektivierung der Homiletikgeschichte schließlich bei Johann Lorenz von Mosheim, dem engen Mitstreiter Gottscheds.303 299 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 43 f. – Beachte hierbei die exakte Reihenfolge der für Gottscheds Predigtmodell (s. u. Abschn. 2.3 in Anm. 467) vorgeschriebenen Schritte: erklären – beweisen – erläutern – widerlegen – bewegen. 300 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 43. 301 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 43. 302 Zum Pietismus und Sozinianismus gemeinsamen Selbstverständnis, Vollender der Reformation zu sein, siehe J. Wallmann: Pietismus und Sozinianismus: zu Philipp Jakob Speners antisozianischen Schriften (1983), in: ders.: Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock: gesammelte Aufsätze, Tübingen 1995, 283. 303 Auch Mosheim konstruierte eine Geschichtsdarstellung, in der mit Luther eine Reformation der evangelischen Predigt in Gang gesetzt wurde, die – nach einer Unterbrechung im 17. Jahrhundert – in seiner eigenen Zeit zum Abschluß kam. Die Entwicklung verlief dabei wie folgt (Mosheim: Anweisung erbaulich zu predigen, 61 f., §. 9): 1.) »Die Reformation hat unserer heutigen geistlichen Beredsamkeit erst das Leben gegeben. [. . .] Luthero haben wir die Materien unserer Predigten, und Melanchthon die Form derselben zu danken.« 2.) Ebd, 69 (§. 10): »Wir gehen zu dem siebzehnten Jahrhunderte, in welchem abermals die geistliche Beredsamkeit ganz verfiel. Einer oder der andere Prediger blieb noch wohl bey Lutheri, und ein oder der andere bey Melanchthons Art und Weise. Allein alle alte Postillen zeigen, daß die wenigsten gewußt haben, was und wie sie reden sollen.« 3.) Ebd, 82 (§. 12): »Ohngefähr gegen das Ende des ersten Viertheils dieses [sc. des 18.] Jahrhunderts fieng man demnach an, die geistliche Beredsamkeit nach den Regeln der gesunden Vernunft, und nach den Grundsätzen der wahren Beredsamkeit einzurichten. Dieses ist von der Zeit an immer so fort gegangen.« – Vgl. zu den historiographischen Prämissen Mosheims bei der Beurteilung der orthodox-lutherischen Predigt auch Strassberger: Die »Leipziger Predigerkunst«, 185–193; zu Mosheims Lutherdeutung vgl. insbe-

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Eine in hohem Maß formalisierte Funktionalisierung kennzeichnete Gottscheds Rekurs auf Luther zuletzt in seiner Akademischen Redekunst (1759), die – ohne an nur einem einzigen wesentlichen Punkt über die früheren Positionen hinauszugelangen 304 – mit dem XVI. Hauptstück »Von geistlichen Lehrreden, oder Predigten«305 die Homiletik nach einer längeren Pause der Zurückhaltung wieder ganz offi ziell in die Rhetorik integrierte306 und dabei die Argumentation affi rmativ auf Luther abstellte.307 Obschon die Berufung auf Luther in ihrem Kern genuin auf klärerische Motive beanspruchen konnte, vermittelten Gottscheds Ausführungen jetzt entgegen den früheren Aussagen den ungünstigen Eindruck eines alt und störrisch gewordenen Professors, der das Publikum mit der Autorität des Reformators endgültig von der Richtigkeit der eigenen Anschauungen überzeugen wollte. Damit gingen wesentliche Momente von Gottscheds früherer auf klärerischer Lutherrezeption verloren. So argumentierte Gottsched bei seiner These, daß allgemeine (politische) und geistliche Reden den selben rhetorischen Regeln zu folgen hätten, in unwilligem Ton: »Und was darf ich viel mit Gründen wider meine Gegner streiten? Doctor Luther ist selbst meiner sondere S. Körsgen: Das Bild der Reformation in der Kirchengeschichtsschreibung Johann Lorenz von Mosheims, Tübingen 1966, 112–117. 304 An vielen Stellen herrscht im Vergleich zum homiletischen Kapitel der Ausführlichen Redekunst (1736) wörtliche Übereinstimmung. Zum Verhältnis zwischen Ausführlicher und Akademischer Redekunst erklärte Gottsched: Akademische Redekunst, Bl. *5r (Vorrede): »Da ich diese akademische Redekunst einen Auszug aus dem größern nenne: so kann ein jeder versichert seyn; daß sie das wirklich ist. Sie hält alle Hauptregeln in sich, so in der größern befi ndlich sind, und zwar in eben der Ordnung, in eben dem Zusammenhange, und aus eben den Gründen. Seit mehr als dreyßig Jahren, da ich über die Redekunst lese, habe ich noch keine Aenderung in ihren Grundsätzen zu machen nöthig befunden.« 305 Gottsched: Akademische Redekunst, 286–300. 306 Im Verhör Gottscheds vor dem Oberkonsistorium (s. u. Kap. 4, Abschn. 1.1.1) war dem Verfasser die Bedingung auferlegt worden, sich zukünftig aller Äußerungen zur Homiletik zu enthalten, eine Bedingung, an die er sich im Prinzip (sein Predigtlehrbuch von 1740 war ja anonym publiziert worden) über zwanzig Jahre hielt. Zum Zeitpunkt des Erscheines der Akademischen Redekunst waren jedoch die Hauptwidersacher Gottscheds von 1737, die orthodoxen Leipziger Theologen Heinrich Klausing (1675–1745), Salomon Deyling (1677–1755) sowie die Dresdner Konsistorialen Oberhofprediger Bernhardt Walter Marperger (1682–1746) und Superintendent Valentin Ernst Löscher (1673–1749), verstorben, so daß er keine Rücksichten mehr zu nehmen brauchte. 307 Bereits im Vorwort erläuterte Gottsched: Akademische Redekunst, Bl. *6r (Vorrede): »Es ist auch ein ganzes Hauptstück von geistlichen Lehrreden, oder Predigten mit eingeflossen; welches angehenden Kirchenrednern nicht zuwider seyn wird. Hier habe ich aus D Luthers Schriften die vornehmsten Regeln entlehnet; die aber mit den meinigen so sehr übereinstimmen: daß ich mirs für eine Ehre zu schätzen habe, mit diesem großen Manne einerley Begriff von der geistlichen Beredsamkeit zu haben.« – Rossmann: Gottscheds Redelehre, 25 hielt Gottscheds Abstellung der Argumentation auf Luther für einen strategisch motivierten (m. E. aber ganz unnötigen) Ausdruck der Vorsichtigkeit gegenüber seinen kirchlichen Kritikern: »[. . .] er war vorsichtiger geworden und hatte die meisten Regeln aus den Schriften Luthers ›entlehnet‹«.

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Meynung gewesen. Diesen werden sie sonder Zweifel mehr glauben, als allen meinen Beweisen *).« 308 Eine gewisse Gereiztheit kaum verhehlend, bemerkte er auch: »Hier frage ich nun einen jeden eifrigen Homileten: ob er mit diesen Vorschriften unsers theuren Luthers nicht zufrieden ist? [. . .] Sind wir nun entschlossen seine Regeln anzunehmen, wie ich vermuthe: so sage man mir einmal, worinn dieselben von denen bisher erklärten Regeln meiner Redekunst abgehen?«309 Auch bei der von ihm vertretenen Meinung, daß der Hauptsatz (Proposition) nur eine Aussage des Predigttextes und nicht alle dessen Aussagen bieten müsse, berief sich Gottsched in autoritärer Weise auf den Wittenberger Reformator: »Auch hier ist Doctor Luther meiner Meynung gewesen; als der durchaus nicht will, daß man sich bey Nebendingen auf halten soll.«310 Wenn daher bei früheren, ähnlich lautenden Äußerungen noch deutlich ein taktisches Kalkül mitspielte, das die auf klärerische Lutherdeutung vor Angriffen der Orthodoxie schützen sollte, brauchten diese späten Berufungen auf Luther die Orthodoxie zu diesem Zeitpunkt nicht mehr wirklich als Gegner zu fürchten. Beispielsweise war die Auffassung, daß auch die geistliche Rede den Maßstäben des guten Geschmacks und den Regeln einer jeden sprachlichen Kommunikation zu folgen habe, im Jahr 1759 weithin selbstverständlich geworden. Man muß Gottscheds autoritative Argumentation daher wohl weniger an die Adresse der Orthodoxie gerichtet sehen als in ihr vielmehr den bemühten Versuch erkennen, verlorengegangenes Terrain in der homiletischen Diskussion zurückzugewinnen. Denn diese hatte sich nach 1750 – unter dem Eindruck der sinkenden Relevanz der rhetorischen Fragestellung – verstärkt Problemkonstellationen zugewandt, die jenseits des Horizontes von Gottscheds rationaler Homiletik lagen. Zurück zu Gottscheds rhetorischem Lehrbuch von 1736! Mit der auf klärerischen Lutherdeutung im Rücken konnte im Rahmen der Ausführlichen Redekunst also die theologische Unbedenklichkeit des rhetorischen Homiletikansatzes per argumentum authoritatis nachgewiesen werden. Denn die Legitimität der neuen homiletischen Theorie aus dem Wesen der Sache in theologischer Perspektive zu begründen, konnte Gottsched zu diesem Zeitpunkt (vor allem im Rahmen eines rhetorischen Lehrbuches) noch nicht lei308 Gottsched: Akademische Redekunst, 287; in Anm. *), ebd, 287 f., bot Gottsched einmal mehr das bekannte Lutherwort vom Prediger, der ein Dialecticus und Rhetor sein müsse, als Beleg auf. 309 Gottsched: Akademische Redekunst, 288. 310 Gottsched: Akademische Redekunst, 290. – Gottsched berief sich hier (ebd, 290 f.) auf ein weiteres Lutherwort (WA.TR 3, 149, 10–18), das bereits in seinem homiletischen Lehrbuch ([Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 103 in Anm. *) für dieselbe Argumentation beansprucht worden war.

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sten.311 Er holte dies aber in dem Moment nach, als er ein eigenständiges homiletisches Lehrbuch auf den Markt brachte und damit aus der Rolle des Rhetoriklehrers in die des Homileten wechselte.312 Im Rahmen der Ausführlichen Redekunst beschränkte sich Gottsched darauf, seine Vorstellungen von Homiletik hauptsächlich als »Rhetorik für geistliche Redner« 313 zu profi lieren, mithin die Predigt in ihrem Wesen als einen Sonderfall der Kommunikationsform »Rede« aufzufassen und den neubestimmten rhetorischen Regeln als einer »heiligen Rede« zu unterwerfen.314 Wenn die Titelformulierung seines Lehrbuchs dem potentiellen Leser eine Redekunst [. . .] geistlichen und weltlichen Rednern zu gut ankündigte, spiegelte dies exakt den Inhalt samt der damit verknüpften Intention wider. Zwar nahm Gottsched bei seinen philosophisch-rhetorisch motivierten Überlegungen zur Predigt an einer Stelle auch einmal en passant Bezug auf deren eigentümlichen Materialgrund, nämlich das in der Heiligen Schrift geoffenbarte Wort Gottes,315 das nach orthodoxer Auffassung die rhetorische Ausnahmestellung der Predigt erfordert und begründet hatte. Häufig gab er auch konkrete Ratschläge, wie das an den Predigttext gebundene hermeneutische Verfahren homiletischer Auslegungspraxis unter den neuen 311 Es ist zu berücksichtigen, daß Gottsched sich in seiner Profession als Philosophieprofessor zur Sache äußerte und von dieser Seite einen Beitrag zur homiletischen Theoriebildung leistete. Daher ist für seine Ausführungen auch die bewußte methodische Trennung zwischen (religions-)philosophischem und theologischem Zugriff vorauszusetzen, wie sie – wie gezeigt – auch seiner Leipziger Magisterdisputation De hamartigenia (s. o. Kap. 1, Abschn. 2.1) zugrunde lag. 312 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 22–53: II. Hauptstück. Von der Erbauung, als dem Hauptzweck eines evangelischen Redners, und der daraus fl iessenden Natur der geistlichen Beredsamkeit. 313 Eine solche hat später beispielsweise vorgelegt K. F. Bahrdt: Rhetorik für geistliche Redner, Halle 1792 [ 21798]. Bereits in der Grundlegung (ebd, 9) meinte er übereinstimmend mit Gottsched: »Die Kunst [. . .] so zu reden, daß nicht nur der Verstand erleuchtet und überzeugt, sondern auch zugleich das Herz für die Wahrheit interessirt werde, lehrt die Rhetorik.« 314 Die Wahrnehmung der Predigt als Rede nach auf klärerischen Rationalitätsstandards und die Umsetzung dieser Ansicht in der Praxis spiegelte sich auch in der seit Mosheim vielfach üblichen Deklaration gedruckter Predigten als »heilige« oder »geistliche Reden« wider; vgl. dafür auch Schuler: Geschichte, Tl. 2, 203 f. Zwei frühe diesbezügliche Beispiele aus dem Umfeld Gottscheds bzw. Mosheims sind R. Teller: Vier geistliche Reden, Merseburg 1731; ders.: Untersuchung etlicher Wahrheiten der christlichen Glaubens= Lehre, welche in öffentlichen Reden an die Gemeine des Herrn vorgetragen worden, Merseburg 1734; ders.: Sammlung moralischer Reden, Leipzig 1736; sowie K. H. Lange: Geistliche Reden über wichtige Sprüche Heiliger Schrift, Lübeck 1732. – Die Bezeichnung von Gottfried Arnolds gedruckten Predigten als »Evangelische Reden« (1709 31733) hat mit Arnolds Gottesdienstverständnis zu tun (vgl. Blaufuß: Zur Predigt, 43), das die Predigt als geistgewirkte »Rede« gegenüber der orthodoxen »Kunstpredigt« akzentuierte. 315 Gottsched: AR 1736, 523 f. (GAW VII/3, 65,18–21): »§. II. Ich weiß wohl, daß die Materien der geistlichen Reden nicht bloß aus der Vernunft und Natur; sondern auch aus der Offenbahrung hergenommen werden müssen.«

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Gesichtspunkten adäquate Umsetzung erfahren könne, womit er sich ersichtlich bemüht zeigte, den formalen und materialen Besonderheiten der Predigt dennoch Rechnung zu tragen.316 Es war aber gleichwohl mehr als kennzeichnend für seinen primär nicht-theologischen Zugriff auf die Sache, wenn Gottsched sich mit einer gewissen, in erster Linie didaktisch motivierten Einseitigkeit besonders an den rhetorisch-kommunikativen Momenten des Predigtgeschehens interessiert zeigte, um nachdrücklich den reformerischen Neuansatz herauszuarbeiten und rezeptionsfähig aufzubereiten. Daher schob er dem einräumenden Zugeständnis der materialen Besonderheit der Predigt (dessen Bearbeitung er als das Geschäft der Theologie betrachtete und den diese für die Predigt aufzuarbeiten hatte) auch umgehend die Einschärfung nach: »Allein die Verschiedenheit der Stoffe hebet die Gleichförmigkeit der Lehrart und des Vortrages nicht auf. [. . .] Daß eine Materie aus verschiedenen Gründen her zu holen ist, das kan ihr keine neue Art der Ausführung nothwendig machen: [. . .]«317. Die zwingende Logik seines »rhetorischen« Homiletikansatzes veranschaulichte er dabei mit einem Vergleich aus der Poetik, bei dem der Rhetoriklehrer mit einer pointierten Frage selbst rhetorisch wurde: »[S]oll man ein geistliches Gedichte nicht auch nach den Regeln der Dichtkunst abfassen?«318 Unmittelbarer Ausdruck der diskursiv-polemischen Situation, in der sich das auf klärerische Predigtverständis nach wie vor befand, war, daß Gott316 Gottsched: AR 1736, 527 (GAW VII/3, 67,28–32) forderte beispielsweise wegen des von ihm hervorgehobenen Unterschiedes zwischen Exegese und Homiletik in polemischer Auseinandersetzung mit orthodoxer Homiletik, »daß man den Hauptzweck des H. Geistes in jedem evangelischen und epistolischen Texte hervorsuchen, nicht aber alle Worte desselben mit grammaticalischen Anmerkungen begleiten, oder alle Stellen der Schrift aus der Concordanz beybringen müsse, wo dasselbe Wort auch vorkömmt«. Auf derselben Linie äußerte er sich auch ebd, 529 (GAW VII/3, 68,37 f.): »Was die Erklärungen in geistlichen Reden anlanget: So ist es gar nicht nöthig, die exegetischen Künste vor der Gemeine anzuwenden [. . .]«. – Hinter diesen Bemerkungen stand eine neue Funktionsbestimmung der Homiletik, die die auf der Grundlage der Verbalinspirationslehre eingeforderte biblisch-mimetische-exegetische Predigtweise der orthodoxen rhetorica sacra vom auf klärerischen Standpunkt als nicht dem Wesen einer Predigt entsprechend ablehnte. Schian verkennt dies, wenn er die Bemerkung Gottscheds, daß »(d)ie gewöhnlichen Texte aus den evangelischen und epistolischen Schriften (. . .) manchem Prediger eine ganz andre Lehrart zu erfordern (scheinen)« (AR 1736, 526 [GAW VII/3, 66,35–37]), – eine Bemerkung, die gegen die »ganz andre Lehrart« der orthodoxen rhetorica sacra gerichtet ist – dahingehend interpretiert, als wolle Gottsched damit einen möglichen Widerspruch gegen die von ihm geforderte Rhetorizität der Predigt ausräumen; Schian: Orthodoxie und Pietismus, 129 f.: »Allerdings scheint der Text [sc. der Perikopen] dieser Anwendung der allgemeinen Redekunst auf die Predigt ein Hindernis zu bereiten; die Bindung an einen solchen nimmt Gottsched als gegeben an. Er lehnt auch diesen Einwand ab, ohne freilich seiner Bedeutung gerecht zu werden.« Zu Gottscheds Festhalten an den Perikopentexten vgl. auch seine diesbezüglichen, mit praktischen Winken versehenen Ausführungen: Gottsched: AR 1736, 72 f. (GAW VII/3, 160 zu 129,28). 317 Gottsched: AR 1736, 524 (GAW VII/3, 65,21 f. 26–28). 318 Gottsched: AR 1736, 524 (GAW VII/3, 65,25 f.).

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sched die satirische Auseinandersetzung mit der orthodoxen Homiletik (seltener übrigens mit der pietistischen) auf Schritt und Tritt fortführte.319 Neben dem Abdruck der zwei erwähnten Reden gegen die »Leipziger Homiletik« sowie den durchgängigen Ausfällen gegen orthodoxe Predigttheorie im ersten, theoretischen Teil 320 zeigte sich dies besonders deutlich im Rahmen der Abhandlung der homiletischen praecepta, die Gottsched lediglich in gedrängter, gelegentlich auch aphoristischer Kürze darlegte.321 Der Leipziger Philosophieprofessor zeigte sich hier bemüht, seine neue Position mit der als veraltet und unzeitgemäß eingeschätzten »gekünstelten Homiletik« der Orthodoxie zu kontrastieren.322 In der Sicht des Auf klärungsrhetorikers bedeutete deren an der Verbalinspiration der Bibel orientierte Idee einer rhetorica sacra nichts weniger als die Negation der eingeforderten Rhetorizität 319

In seiner »Historischen Einleitung in die Redekunst«, die skizzenhaft und teils sehr willkürlich die Linien der Entwicklung der Redekunst zum Zwecke der Legitimierung des eigenen Ansatzes nachzuzeichnen suchte, kam Gottsched: AR 1736, 27 auf den berühmten Johann Benedikt Carpzov [II.] bzw. August Hermann Francke als zwei exemplarischen Vertretern der orthodoxen bzw. pietistischen Predigt zu sprechen: »Ich hätte noch aus unserm Leipzig den berühmten Joh. Benedict Carpzov, und aus Halle, Aug. Herrm. Franken, dazu nehmen können; als die in ihrem Leben vor grosse Redner gehalten worden. Allein, wenn ich ihre gedruckten Predigten ansehe, so fi nde ich dort lauter magere exegetische Erklärungen der biblischen Texte; hier aber viel Worte und wenig Feuer, viel mystische Redensarten, aber wenig gründliche Vernunftschlüsse, und sonst keine Spuren einiger Beredsamkeit darin.« 320 So kritisierte Gottsched: AR 1736, 83 f. (GAW VII/3, 163 f. zu 140,18) die orthodoxe Homiletik beispielsweise für ihre Gewohnheit, die Abteilungen (partitio, divisio) eines Predigthemas aus dem ersten Eingang (exordium generale) herzuleiten und kommentierte diese Praxis wie folgt: »Es ist eine unzeitige Regel, die von spitzfündigen Methodenkünstlern ersonnen worden; und die mehr dient einen übelangewendten Witz zu zeigen, als die Materien in ein Licht zu setzen. [. . .] Von Exempeln dazu wimmeln alle Postillen, wo man nach der so berühmten Leipziger Prediger=Methode alles hat ausdrechseln wollen.« In der anschließend gebotenen Zusammenstellung einiger typisch barock, d. h. gereimt und sprachspielerisch konzipierten Partitionen fragte der Kritiker ebd, 84 im ironischen Gestus auf klärerischer Überlegenheit: »Sind das nicht herrliche Früchte der homiletischen Regeln?« 321 Zur vernunftgemäßen propositio (dem »Hauptsatz«) vgl. Gottsched: AR 1736, 526– 529 (§ 3. 4–6); zur tractatio (»Erklärung«) ebd, 529 f. (§. 7); zum »Beweis der Hauptsätze« ebd, 530 f. (§. 8); zur »Beantwortung der Einwürfe«, Affekterregung, »Nutzanwendung« und »Erläuterungen« ebd, 531 f. (§. 9); zu Kasualpredigten, Eingängen, Sprech- und Schreibstil und Länge der Predigt ebd, 532 f. (§. 10). 322 Aus diesem Grund verurteilte er die »biblischen« Hauptsätze, in denen der Versuch gemacht wird, »den ganzen Text, unter einen einzigen Hauptsatz [zu] bringen« (ebd, 526), ebenso wie die »Konkordanz-« und die »Jahrgangsmethode« (ebd, 527). Eine versteckte Auseinandersetzung mit einem Vertreter der »Leipziger Predigerkunst« fi ndet sich beispielsweise in der Erörterung eines angemessenen Hauptsatzes auf der Textgrundlage von Joh 3, 16: Also hat Gott die Welt geliebt etc. (ebd, 528 f. [§. 6]), womit dem Kundigen ein Gegenentwurf zu den auf der gleichen Textgrundlage vorgenommenen 100 Variationen eines Predigthemas in Wi(e)demanns Kanzel=Redner gegeben wurde. Vgl. zu einem weiteren Ausfall gegen Wi(e)demann bei Gottsched: AR 1736, 79 (vgl. GAW VII/3, 162 zu 136,11).

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religiöser Kommunikation, sprich die Nichtanerkennung der Predigt als einer Form sprachlicher Mitteilung, die den neuformulierten Gesetzen von Denken und Sprache zu folgen hatte. Gottsched stellte daher in antiorthodoxer Pointierung als Grundsatz für die homiletischen praecepta klar heraus: »Und wie kan man also mit Grunde der Wahrheit behaupten, daß die geistliche Beredsamkeit ganz andre Regeln haben müsse, als die weltliche. Wir fordern es also billig, daß ein geistlicher Redner alles dasjenige beobachten solle, was wir oben [sc. im allgemeinen Teil der Ausführlichen Redekunst] von den Hauptsätzen, Erklärungen, Beweisen, Wiederlegungen, Erläuterungen und Bewegungsgründen gelehret haben.«323

Diese Auffassung erklärte auch die Kürze, in der Gottsched die homiletischen Regeln abhandelte. Die »neue Renaissance« des Redecharakters der Predigt unter dem Vorzeichen antiker Rhetorik und im Spiegel der Wolffschen Philosophie, die Gottsched zuerst in seiner um 1735 gehaltenen Rede wieder die homiletischen Methodenkünster 324 und danach unter dem Deckmantel der Anonymität in seinem Predigtlehrbuch affirmativ für sich reklamierte325 und deren Anspruch er in der Öffentlichkeit gegenüber einzelnen Kritikern auch persönlich zu verteidigen bereit war,326 sollte ein bestimmendes Moment der homiletischen Diskussion bis zur Jahrhundertmitte bleiben.327 Die gegen die »falsche« Beredsamkeit der Orthodoxie (und des Pietismus) gerichtete Frontlinie der homiletischen Auf klärung vertrat dabei ihre in unzähligen Varianten vorgebrachte Position beispielsweise in der These »Daß eine wahre Be323

Gottsched: AR 1736, 525 f. (GAW VII/3, 66,27–32). Gottsched: Rede wieder die homiletischen Methodenkünstler, in: Gottsched: AR 1736, 510 (recte: 610) (GAW VII/3, 124,13–20): »Ich bin gesonnen [. . .] zu zeigen, daß geistliche Reden keiner andern Regeln bedürfen, als uns die Natur und gesunde Vernunft in der politischen Beredsamkeit vorschreibet. Mich dünkt, daß dieses Unternehmen an sich selber neu [. . .] seyn werde.« 325 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 43: »Denn ob wohl bis daher noch niemand die geistliche Beredsamkeit auf die weltliche Redekunst gegründet; so gestehet doch jederman, daß eine Predigt eine Rede sey: Folglich muß sie auch die Stücke, die zu einer Rede erfordert werden, in sich halten.« 326 In einer späteren Aufl age der Ausführlichen Redekunst fi ndet sich folgende Bemerkung (GAW VII/2, 259,14–16): »Bey einer Baccalaureal-Promotion habe ich als Promotor, wider den Democritum redivivum dargethan, daß auch die geistlichen Lehrer Redner seyn sollen.« Diese gegen den Radikalpietisten Johann Konrad Dippel gerichtete Disputation scheint nicht gedruckt worden zu sein (vgl. im Kommentar zu dieser Stelle GAW VII/4, 122). Der Kontext der Bemerkung macht eine Datierung der Promotionsthesen für die Zeit nach 1734 und vor dem Oktober 1738 wahrscheinlich. Gegen welche Aussagen Dippels Gottsched Stellung bezog, läßt sich nicht ermitteln. Siehe dazu auch oben in Kap. 1 in Anm. 344. 327 Vgl. dafür auch Schuler: Geschichte, Tl. 2, 201–204, der aber in diesem Zusammenhang lediglich Mosheim, nicht jedoch Gottsched erwähnt. Schuler spricht bei dieser Entwicklung eigenwillig von »poetisch-prosaische[n] Predigten« (ebd, 201; im Original gesperrt). 324

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redsamkeit in Heiligen Reden nicht nur erlaubt, sondern auch nothwendig sey«328 . Oder sie kleidete sie in die (mit einem Ja) beantwortete Frage »Ob es einem Knechte GOttes anständig sich der geistlichen Beredsamkeit zu befleißigen?«329 Noch Mosheims postum veröffentlichtes, mit einer gewissen anachronistischen Verspätung tief in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein wirkendes Predigtlehrbuch propagierte auf dieser Linie eine an der (neoklassizistisch restaurierten) Rhetorik ausgerichtete Predigttheorie,330 für die Gottsched als namhaftester Vertreter stand und gegen die beispielsweise Herder später einen um den anderen vergeblichen Protest einlegte.331 Fernwirkungen jenes rhetorischen Homiletikansatzes reichten dabei schließlich noch bis in den Hauptstrom der homiletischen Theoriebildung des 19.,

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[ J. G. Zur Linden:] Daß eine wahre Beredsamkeit in Heiligen Reden nicht nur erlaubt, sondern auch nothwendig sey; ward bey dem Eintritt in die Teutsche Gesellschaft in Jena im Jahr 1731. am 6. October in einer Rede bewiesen von Z[ur] L[inden], Jena [1731]. – Zur Linden berief sich hier in der Vorrede auf eine von Mosheim unternommene Verteidigung der (auf klärerisch verstandenen) Beredsamkeit in der Predigt, die der Helmstedter Theologe im 2. Teil seiner Heiligen Reden unternommen hatte. Vgl. J. L. Mosheim: Heilige Reden über wichtige Wahrheiten der Lehre JESU Christi, Zweites Theil. Andere Aufl age, Hamburg 1728, 239–288 (»Send=Schreiben an einen vornehmen Mann, über unterschiedliche Dinge«). [Zur Linden:] Daß die wahre Beredsamkeit, 5 erklärte: »[. . .] was zur Bekräftigung meines Satzes, aus den, in der folgenden Rede angeführten Gründen erhellen wird, beruffe ich mich, auf die Vertheidigung des hochberühmten Herrn Abts Moßheim, der in seinen heiligen Reden, gegen einige unbedachtsame Einwürffe, welche allen menschlichen Fleiß und Beredsamkeit, aus dem Vortrag der Glaubenslehren verweisen wollen, vorgesetzt hat.« Dieser Vorgang verdeutlicht beispielhaft, daß bis zum Erscheinen von Gottscheds Ausführlicher Redekunst zunächst Mosheim die maßgebliche Autorität bei der auf klärerischen Sprach- und Predigtreform war. 329 D. H. Arnoldt: [. . .] ladet hiemit die studirende Jugend zu seinen öffentlichen Vorlesungen: Von der Klugheit erbaulich zu predigen, ein; und erörtert zugleich die Frage: Ob es einem Knechte GOttes anständig sich der geistlichen Beredsamkeit zu befleißigen?, Königsberg 1738. – Zu Arnoldts Homiletik siehe Konschel: Zur Geschichte, 35 f. 330 Mosheim: Anweisung erbaulich zu predigen, 1: »§. 1. Eine Predigt ist eine Rede, worin nach Anleitung eines Stückes der heiligen Schrift, eine Versammlung solcher Christen, die schon in den Gründen der Religion unterwiesen ist, theils in der Erkenntniß soll befestiget, theils zum Fleisse in der Gottseligkeit erwecket und ermuntert werden.« Vgl. auch J. L. Mosheim: Kurze Anweisung, die Gottesgelahrtheit vernünftig zu erlernen, in academischen Vorlesungen vorgetragen. Nach dessen Tode übersehen und zum Druck befördert durch Christian Ernst von Windheim, Helmstedt 1756, 189: »Die Regeln der geistlichen Beredsamkeit kommen in den mehresten Dingen mit den Regeln der irdischen Beredsamkeit überein, und es werden diese nur in jener auf eine andere Art angewendet.« 331 Vgl. J. G. Herder: Briefe, das Studium der Theologie betr., in: ders.: Werke in zehn Bänden, Bd. 9/1: Theologische Schriften/ hrsg. von Ch. Bultmann; Th. Zippert, Frankfurt am Main 1994, 507, 16–19 (40. Brief ): »Wer die gerichtlichen Reden des Demosthenes und Cicero schlechthin zu Mustern unsrer Predigten nimmt, hat weder Begriff von Predigt, noch von gerichtlicher Rede; beider Zwecke hat er nicht verstanden«; vgl. auch ders.: Sollen wir Ciceronen auf der Kanzel haben?, in: ders.: Sämmtliche Werke/ hrsg. von B. Suphan, Bd. 1, Berlin 1877, 502–513.

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teilweise des 20. Jahrhunderts hinein.332 Wenn Gottsched in der Literaturgeschichte lange Zeit bestenfalls negative Erwähnung fand, war er im Lager einer rhetorisch interessierten Homiletik daher nie ganz vergessen.333 Von kaum zu überschätzender Wirkung war vor allem zunächst das zeitgenössische Echo, insbesondere bei der akademischen Jugend, die Gottscheds Ausführliche Redekunst als rhetorisch-homiletische »Offenbarungsschrift« einer neuen Generation von Rednern und Predigern feierte.334 Nicht ohne einen Anflug von Eitelkeit konnte Gottsched daher nach der zensur332

Vgl. Stäudlin: Geschichte, Tl. 2, 728 f.: »J. G. Marezoll wollte keine Homiletik liefern, sondern nur die Bestimmung des Kanzelredners und die Mittel zur Erreichung desselben nach den wesentlichen Stücken darstellen. Er zeichnete sich durch die Behauptung aus, daß der Prediger durchaus im eigentlichen Sinne Redner, im Wesentlichen eben so wie die Griechen und Römer, seyn müsse. Die Frage war schon mehrmals vorher in Untersuchung gekommen, besonders seit man versucht hatte, die Aesthetik als Wissenschaft aufzustellen und in der schönen Literatur der Deutschen eine Revolution vorgieng. Gottsched sagte, zwischen der weltlichen und geistlichen Beredsamkeit sei gar kein Unterschied.« Vgl. zur weiteren Diskussion der Frage nach der Relevanz der Rhetorik für die Homiletik im 19. Jahrhundert W. Grünberg: Homiletik und Rhetorik: zur Frage einer sachgemässen Verhältnisbestimmung, Gütersloh 1973; G. Kalivoda: Homiletik und Topik im 19. Jahrhundert: F. L. Steinmeiers Predigtlehre, in: Topik und Rhetorik: ein interdisziplinäres Kolloquium/ hrsg. von Th. Schirren; G. Ueding, Tübingen 2000, 355–364. 333 L. Hüffell: Ueber das Wesen und den Beruf des evangelisch-christlichen Geistlichen. Zweyter Theil, Giessen 1823, 273 in Anm. *, erwähnt hier neben Aristoteles, Cicero und Quintilian auch Gottscheds Ausführliche Redekunst nach der letzten Aufl age 1759. – Zu Hüffells auf dem Boden antiker Rhetorik stehender Homiletik vgl. Grünberg: Homiletik und Rhetorik, 26–37. 334 Der Gottsched-Schüler und später mit den Eliten der französischen Auf klärung Umgang pflegende Friedrich Melchior Grimm (1723–1777; zu ihm NDB 7 [1966], 86– 88) schrieb als Achtzehnjähriger anläßlich seiner ersten Kontaktaufnahme mit dem Leipziger Professor (Regensburg, 19. April 1741): »Wie mein Bruder jüngst von Leipzig zurück kam, verehrte er mir Dero Redkunst. Diese habe ich mit ungemeiner Begierde gelesen: Und durch diese ist mir das Verständniß gänzlich geöfnet worden. Ich habe befunden, daß ich doch noch manche Gleißnerey für eine wahre Schönheit gehalten habe, womit sich einige Scheingelehrte zu überfi rnissen pflegen«; F. M. Grimm: Briefe an Johann Christoph Gottsched: im Anhang vier Briefe an Luise Gottsched/ hrsg. von J. Schlobach; S. Eichhorn-Jung. St. Ingbert 1998, 8. Die Auswirkungen dieser Erkenntnisse auf seinen homiletischen Geschmack illustrierte eine beigelegte »Satire wider die Verächter der Weltweisheit« (ebd, 13–15), in der der junge Regensburger sich als Adept der Gottschedischen Lehren versuchte. In den Spuren seines Vorbildes wandelnd dichtete er ironisch (ebd, 14): »Ein kluger Prediger, der grosse Postillet, Der wöchentlich dreymal zu Wein und l’ombern geht, Und einmal prediget, hat fast auch die Gedanken, Weil leider! Witz, Vernunft und Geist und Klugheit wanken. Wie? Was? Philosophie? (So rufft er eifersvoll,) Ihr Christen hütet euch, sie macht euch wahrlich toll! Warum hat Lankisch doch die Concordanz geschrieben? Warum Serpilius? Ja, diese sind geblieben Bey dem, was uns die Schrift und Homiletik lehrt, Ach diese hat niemals die Weltweisheit betört.«

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bedingten Auslassung der vom Dresdner Oberkonsistorium inkriminierten homiletischen Partien triumphierend feststellen, daß die erste Auflage seiner Rhetorik zu einer bibliophilen Rarität geworden war, die »bis auf diese Stunde, in öffentlichen Bücherversteigerungen sehr eifrig gesuchet und theuer bezahlet worden«335 sei. Die mit epidemischer Wirkung einschlagende Plausibilität seiner neuen Perspektive auf die Predigt erhellte eine Äußerung des Jenaer Philosophen und Gottsched-Korrespondenten Gottlieb Stolle, der wenige Jahre nach dem Erscheinen der Ausführlichen Redekunst den Stand der homiletischen Theoriebildung bereits ganz selbstverständlich auf die Linie Gottscheds festlegte, wenn er definierte: »Die Prediger=Theologie ist eine Lehre, wie man andern durch Predigten die Glaubens= und Lebens=Pfl ichten beybringen soll, und wird insgemein vor ein Stück der Rede=Kunst gehalten.«336 Bis Schleiermacher sollte sich an dieser neuzeitlichen homiletischen Konstitutionsbedingung kaum etwas grundlegend ändern. 2.2 ». . . die göttlichen Wahrheiten mit einer edlen Einfalt und Lauterkeit fortgepflanzet«: das homiletische Ideal der christlichen Antike im Rahmen von Gottscheds rhetorischem Klassizismus Gottscheds Anliegen, die Homiletik den Regeln einer geläuterten Rhetorik zu unterwerfen, ist einmal wie folgt auf den Punkt gebracht worden: »Die Redepraxis des Predigers hat sich ebenso sehr an die Vernunftregeln zu halten wie die des weltlichen Redners. Für beide gelten die Regeln der Logik, beide sind den Gesetzen der ratio unterworfen.« Bedeutsam ist die unmittelbar daraus folgende stilistische Konsequenz: »Aus der Ausrichtung der Erfindung an den Vernunftregeln hat immer auch die faßliche Art und Weise der Darstellung zu folgen, und diese hat umgekehrt Rückwirkungen auf das erstrebte Verständnis des Zuhörers.«337 Um auch bei dem »einfältigsten« Zuhörer das intendierte (intellektuelle) Verständnis der Predigtmitteilung zu gewährleisten, propagierte Gottsched ein stilistisches Ideal, das – um es in den Worten eines unmittelbaren Zeitgenossens auszudrücken – die »edle Einfalt der Alten«338 programmatisch aufgriff. In Anlehnung an das Antikeideal der allgemeinen Rhetorik wurde bei ihm nach französischem Muster 339 335

Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 47,35–48,2. G. Stolle: Anleitung zur Historie der Theologischen Gelahrtheit, Jena 1739, 789. 337 Beide Zitate Stauffer: Erfi ndung und Kritik, 62. 338 Ch. N. Naumann: Entwurff des Begriffes von der Vollkommenheit eines geistl[ichen] Redners, in einem Sendschreiben an [. . .] Joh. Christoph Langen, bisherigen treuverdienten Past. Secund. bey der St. Petri=Kirche in Budißin, als Derselbe zu der verledigten Primariats=Stelle daselbst beruffen ward, nebst gehorsamsten Glückwunsche, Leipzig [1740], 16. 339 Gottscheds Klassizismus ist nicht ohne den in der »Querelle« geführten Vorzugs336

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für die geistliche Rede nun das Ideal einer christlichen Antike normativ, die er in den Kirchenvätern mustergültig und nachahmungswürdig verkörpert sah. Die Anfänge dieser aus dem rhetorischen System abgeleiteten Konzeption lassen sich in ihrer expliziten Übertragung auf die Homiletik (nach vorauslaufenden Andeutungen) bis ins Ende der 1720er Jahre zurückverfolgen, von wo aus sie über Äußerungen in der Ausführlichen Redekunst schließlich in Gottscheds Predigtlehrbuch von 1740 in eine begründete Darlegung einmündeten. Innerhalb der Systematik einer verschiedene Zyklen durchlaufenden Predigtgeschichte, die vom Anfang der Welt bis in die eigene Gegenwart reichte, vertrat Gottsched hier die Ansicht, daß die »Väter der Kirchen in den ersten Jahrhunderten [. . .] die Göttlichen Wahrheiten [. . .] mit einer edlen Einfalt und Lauterkeit [. . .] fortgepflanzet« 340 hätten. Später stellte Gottsched dann die »edle Einfalt« am Beispiel des Hugenottenpredigers Jaques Saurin in eine Reihe mit dem »Nachdruck«, dem »Feuer« und der »Rührung«, die zusammen die oratorische Qualität seiner Predigten ausmachten.341 Das durch »edle Einfalt und Lauterkeit« gekennzeichnete, an biblischen Vorbildern (vgl. 2 Kor 1, 12) orientierte Verhältnis der altkirchlichen Prediger gegenüber dem Gegenstand ihrer Verkündigung beschrieb dabei zunächst eine ethische Grundhaltung von rhetorischer Relevanz, die die aufklärerische Aufnahme des antiken, die ethischen Dimensionen überzeugender Rede beschreibenden Bildungskonzeptes des vir bonus peritus dicendi im homiletischen Kontext darstellte.342 Zugleich bildete es mit seinen stilististreit um die Geltung älterer (klassischer) oder neuer Autoren zu denken; vgl. H. Jaumann: Querelle, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 3 (2003), 205–208; zu Gottscheds Rezeption der »Querelle« vgl. Th. Pago: Gottsched und die Rezeption der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland: Untersuchungen zur Bedeutung des Vorzugsstreits für die Dichtungstheorie der Auf klärung, Frankfurt am Main u. a. 1989. Laut eines Hinweises bei P. K. Kapitza: Ein bürgerlicher Krieg in der gelehrten Welt: zur Geschichte der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland, München 1981, 127 wies ein Respondent einer unter Kreuschner (dem für Gottsched wichtigen Königsberger homiletischen Lehrer) abgehaltenen Disputation (1719) Kenntnisse der »Querelle« nach, was auf die frühzeitige Präsenz und Zirkulation der damit zusammenhängenden Gedanken im Umfeld Gottscheds hinweist. 340 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 12 f. 341 J. Ch. Gottsched: Rez. Saurin, Predigten, 10. Teil (übers. von J. J. Schwabe), in: Neuer Büchersaal 10 (1750), 288; Gottsched stellte hier Überlegungen über gute und schlechte Übersetzer an und meint in diesem Zusammenhang: »Nirgends zeiget sich dieses [sc. das Vermögen eines guten Übersetzers; A. S.] mehr, als in witzigen Schriften, dergleichen unter andern auch die oratorischen sind. Hier ist es eine Kunst, dem Redner alle seine edle Einfalt, allen Nachdruck, alles Feuer, und alles Rührende zu lassen; und doch seiner Sprache keinen Zwang anzuthun [. . .].« 342 Zum rhetorischen Kontext der Ethos-Forderung Gottscheds vgl. F.-H. Robling: Ethos VI. Auf klärung bis 20. Jahrhundert, in: HWRh 2 (1994), 1538 f.

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schen Implikaten aber auch einen Teil der Vorgeschichte jenes berühmten Winckelmannschen Topos’ von der »edlen Einfalt und stillen Größe« der Griechen (1755),343 der zur ästhetischen Parole des deutschen Klassizimus344 in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts werden sollte. 2.2.1 Die ethische und ästhetische Vorbildfunktion der Kirchenväter Für den ästhetisch-poetologischen Grundkonfl ikt von ars versus natura in Barock und Auf klärung hatte Gottsched bereits bei seinem Abschied aus der Vertrauten Rednergesellschaft (1728) in bezeichnender Weise beklagt, daß man sich in der Vergangenheit habe dazu verleiten lassen, »die Einfalt der Wahrheit und Natur zu verachten«345 und stattdessen »ein gekünsteltes Wesen«346 zu lieben. Als Folge benannte er ein nicht nur rhetorisch relevantes Defizit: »Der Verstand hergegen bekam sehr wenig Licht, und der Wille war gar nicht gerühret.«347 Gottsched setzte der von ihm verachteten »lohensteinische[n] Schreibart«348 ein neues Stilideal entgegen: »[e]ine vernünftige Einfalt des Ausdruckes [. . .] und eine dauerhafte Schönheit natürlicher Gedanken«349. Diese Ideal sah er – wie im Zusammenhang mit dem Grundriß zu einer vernunfftmäßigen Redekunst bereits ausgeführt wurde – in den Reden der antiken Rhetoren mustergültig verwirklicht. Konkretion erfuhr die unter dem Stichwort der Nachahmung der Natur350 entwickelte neue Ge343 Vgl. W. Stammler: »Edle Einfalt«: zur Geschichte eines kunsttheoretischen Topos, in: Worte und Werte: Bruno Markwardt zum 60. Geburtstag/ hrsg. von G. Erdmann; A. Eichstaedt, Berlin 1961, 359–382. 344 Vgl. die allgemeine, Gottscheds Rezeptionsverhalten einschließende Begriffsbestimmung bei H.-J. Raupp: Klassizismus, TRE 29 (1990), 237: »Der allgemeine Begriff Klassizismus bezeichnet die Nachahmung der als klassisch, d. h. als unübertreffl iches Vorbild anerkannten Kunst der griechisch-römischen Antike.« Zu Gottscheds »Auf klärungsKlassizismus« als einer bestimmten Form der Antikerezeption, die in sein literaturtheoretisches Konzept eingebunden war, vgl. Hambsch: Klassizismus, 1035 f.; zur Verortung Gottscheds innerhalb der verschiedenen klassizistischen Rezeptionsschübe in der Frühen Neuzeit vgl. V. Riedel: Antikerezeption in der deutschen Literatur vom RenaissanceHumanismus bis zur Gegenwart: eine Einführung, Stuttgart; Weimar 2000, 121–123. 345 Gottsched: Akademische Rede Zum Abschiede, GAW IX/2, 528,3. 346 GAW IX/2, 528,30. 347 GAW IX/2, 528,20 f. 348 GAW IX/2, 528,23. 349 GAW IX/2, 528,29–31. 350 Zum Verständnis des Gottschedischen Paradigmas der Naturnachahmung siehe J. H. Petersen: Mimesis – Imitatio – Nachahmung: eine Geschichte der europäischen Poetik, München 2000, 171: »Nachahmung der Natur ist zum selbstverständlichen Wesenselement der Dichtung avanciert. Gleichwohl hat diese Formel eine Fülle von Mißverständnissen ausgelöst, weniger wohl bei den Zeitgenossen als bei den Literaturwissenschaftlern späterer Epochen. Denn sie meint gerade nicht, daß sich die Dichtung prinzipiell am Wirklichen, Vorfi ndlichen, an der Welt der Dinge orientieren müsse und insofern im Grunde ›realistisch‹ sei. Die Poetik des Rationalismus ist so wenig wie rationalistische Dichtung notwendig realistisch, die Dominanz der Vernunft, die sich im Prinzip der Na-

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schmacksnormierung in der Konstruktion einer homiletisch adaptierten, idealisierten christlichen Antike, indem erstmals in jenem 1730 für Romanus Teller verfaßten Gedicht die »alten Väter« zum Maßstab einer natürlichen, »wahren«, auf Lebenspraxis zielenden Beredsamkeit erhoben wurden. In kasuallyrisch-panegyrischer Überhöhung verband der dichtende Predigtreformer mit dem Predigttalent Tellers hier folgende Erwartung: »Er wird den bunten Kram der Kunstmethoden stören, Und die Beredsamkeit der alten Väter lehren; Die ungezwungen fl ießt, und voller Geist und Kraft, Verstand und Willen lenkt und tausend Nutzen schafft.« 351

Ungefähr zeitgleich dazu hatte Gottsched auch ähnliche, in dieselbe Richtung weisende, aber erst in der Ausführlichen Redekunst veröffentlichte Überlegungen angestellt, die den Gedanken der homiletischen Vorbildfunktion der Kirchenväter breit unterlegten.352 Vor allem Johannes »Goldmund« Chrysostomus schien Gottsched in besonderer Weise geeignet, zum Gegenstand homiletischer imitatio erhoben zu werden.353 turnachahmung artikuliert, kann sich vielmehr durchaus auch in der Darstellung des Wunderbaren, des Fabelhaften und des Unwirklichen zur Geltung bringen. Denn für die Rationalisten von Wolff bis Breitinger stellt, wie gezeigt, die Natur keineswegs den Inbegriff des Vorhandenen dar, sondern das Paradigma vernünftiger Ordnung, welche das Zusammenspiel aller Einzeldinge regelt.« 351 Gottsched: Die rechte Art, GAW I, 442,191–194 (Hervorhebung A. S.). 352 In Gottsched: Rede wieder die homiletischen Methodenkünstler, GAW VII/3, 128,43–129,4 boten die Kirchenväter einen positiven Vergleichspunkt mit der eigenen Predigttheorie: »Wie haben die alten Kirchenväter, ein Chrysostomus, ein Gregorius von Nazianz, ein Augustinus und Hieronymus ihre lehrende geistliche Reden abgefasset? Haben sie etwa nicht erbaulich geprediget? Oder haben sich auch schon die heutige Methode, noch vor ihrer Erfi ndung, gebrauchet?« Ganz klar äußerte Gottsched: Rede wieder die so genannte Homiletik, GAW VII/3, 133,13–17 als homiletisches Ziel die Wiedergewinnung eines an altkirchlichen Vorbildern orientierten Beredsamkeitsideals: »[. . .] daß doch die ungezwungene und geistreiche Lehrart der alten Kirchenväter [. . .] in unsern Kirchen wieder aufgebracht werden möchte«. 353 In seinem Gedicht auf Teller stellte sich Gottsched: Die rechte Art, GAW I, 439,109–440,28 in satirischer Verkehrung auf den Standpunkt der Orthodoxie und kritisierte von da aus verschiedene Prediger, z. B. Johannes von Byzanz oder Chrysostomus, um auf diese Weise die vernunftwidrigen Maßstäbe der Orthodxie zu entlarven. An einer anderen Stelle griff er ebd, 440,117–124 das ironische Argumentationsverfahren nochmals auf und ließ die Orthodoxie ihr »unvernünftiges«, der barocken Homiletik verpfl ichtetes Urteil über Chrysostomus wie folgt fällen: »Nein! Nein! Chrysostomus ist überall zu schlecht, Macht keinen Eingang hübsch, formirt kein Thema recht; Theilt solches niemals ab, kann nicht exegesiren; Weis nicht der Sylben Kraft im Grundtext nachzuspüren; Citirt die Sprüche nicht, und plaudert ungefähr Nur lauter Menschenwitz und eigne Worte her; Gebraucht, anstatt der Schrift, die Redekunst der Heyden, Und pflegt das Christenthum ganz weltlich einzukleiden.«

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In der Ausführlichen Redekunst wurde schließlich die im Hamburger Patrioten von 1726 erstmals begriffl ich belegte »edle Einfalt« als qualitatives Merkmal einer an »den Alten« orientierten ästhetischen Norm von Gottsched ins Spiel gebracht, und zwar um die Forderung zu begründen, daß ein Redethema nach Möglichkeit nur aus einem »einfachen« Hauptsatz mit Subjekt und Prädikat bestehen solle. Denn: »Jemehr man sich dieser edlen Einfalt nähert, desto schöner wird eine Rede.«354 Das hier formulierte Ideal »edler Einfalt« bezeichnete als ein von der docere-Funktion der Rede abhängiges stilistisches Prinzip355 »einfacher«, d. h. der Natur nachgeahmter, Schönheit den auf klärerischen Gegenentwurf zum Ideal barocker Sprache und Metaphorik.356 Seine Relevanz für predigttheoretische Zusammenhänge entfaltete Gottscheds Konzeption im konkreten Fall in der Kritik an kunstvoll-verschlungenen, anspielungsreichen, im parenthetischen Partizipialstil »rund« formulierten Predigtthemen orthodoxer Predigt.357 Ausdrücklich wies Gottsched dabei auf den allgemeinrhetorischen Ursprung seiner auf die Homiletik übertragenen Forderung hin,358 die er mit seiner abgedruckten Weihnachtspredigt am eigenen Beispiel selbst anschaulich zu machen suchte. Möglichen Mißverständnissen vorbeugend begleitete er den Abdruck mit der Erläuterung: »Mein Hauptsatz [sc. der Predigt] scheinet zwar ein Thema rotundum zu seyn. Allein es ist dennoch nicht wieder mei354 Gottsched: AR 1736, 80 (vgl. GAW VII/1, 137,4 f.); vgl. den Hinweis auf diese Stelle bei Grosser: Gottscheds Redeschule, 33. 355 Zur Präponderanz des docere in der auf klärerischen Rhetorik und den daran geknüpften stiltheoretischen Überlegungen vgl. Ueding/Steinbrink: Grundriß, 105: »[. . .] wird [. . .] die eigentliche Aufgabe der Rhetorik in der Auf klärung des Verstandes, also in der rationalen Wirkunsgkomponente (docere), gesehen«. Die rhetorische Stillehre folgte diesem Prinzip »gemäß den obersten Tugenden der Richtigkeit, Sprachlichkeit und Deutlichkeit [. . .]. Dieses Stilideal wird von Gottsched wirkmächtig kodifi ziert: schmucklose Deutlichkeit, natürliche Leichtigkeit, klare Syntax und vernunftgemäße Verknüpfung, das sind die wichtigsten Merkmale [. . .]«; ebd, 111. 356 Die Begründung der Forderung nach »einfachen« Hauptsätzen sieht Gottsched: AR 1736, 80 (vgl. GAW VII/1, 136,21–27) in der Natur vorgebildet, die den Tieren auch nur ein Herz, einen Kopf, eine Seele gegeben hat. 357 Vgl. beispielsweise Gottsched: AR 1736, 528 f., wo er vom Predigtthema handelte und dabei kritisch anmerkte, daß man die Propositionen »nicht nach Art der künstlichen Homileten so rund, oder mit Umschweifen vorbringe[n]« (AR 1736, 528) solle; vgl. auch die bereits zitierte Kritik Gottscheds an der »unzeitige[n] Regel, die von spitzfündigen Methodenkünstlern ersonnen worden«, um festzulegen, wie »die Eintheilung des Hauptsatzes aus dem Eingange herfl iessen müsse« (beide Zitate ebd, 83). Von einer auf solche Weise »erzwungene[n] Eintheilung der Materie« »wimmeln« – laut Gottsched – »alle Postillen, wo man nach der so berühmten Leipziger Prediger=Methode alles hat ausdrechseln wollen«; beide Zitate ebd, 84. 358 Gottsched: AR 1736, 528 f.: »Wir haben oben erwiesen [. . .] daß es überhaupt viel besser ist, ein einfaches Thema abzuhandeln, als ein vielfaches. Folglich bleibe man bey solchen deutlichen logischen Sätzen, deren Subject und Prädicat gleich in die Augen fällt: [. . .]«.

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ne obige Regeln gesündiget; wie ein jeder, der die Sache genau einsiehet, wahrnehmen wird.«359 Die stilistischen Dimensionen der »Einfalts«-Forderung markierten für Gottsched im Kern die Anwendung eines vorauslaufenden Erkenntnisprozesses, in dessen Verlauf »eine klar empfundene Uebereinstimmung des Mannigfaltigen«360 zur Voraussetzung seines – im Anschluß an das französische simplicité-précieuse-Konzept geforderten – Stilideals der Kürze gemacht wurde.361 Das zugrunde liegende vernunftgeleitete Erkenntnisverfahren sollte dabei sicherstellen, daß auf dem Wege der sprachlicher Reproduktion einer klar empfundenen Schönheit auch »(. . .) der Einfältigste verstehen (wird)«362 , was als Inhalt der sprachlichen Mitteilung von Seiten des Redners intendiert war. Der Konsens des Gemeinten konnte demnach hergestellt werden, wenn sich der Redner einer verbalen Simplizität bediente, die – im Gegensatz zur barock-orthodoxen Vorliebe der auslegungsbedürftigen Metapher und des Emblems – die »einfache«, nicht auslegungsbedürftige Sprache der Vernunftlogik führte.363 Dieser letztlich reduktionistische, den elocutiven Techniken der Barockrhetorik entgegengesetzte Ansatz wurde von Gottsched in seinem Zusammenhang mit den philosophischen Voraussetzungen einmal wie folgt auf den Punkt gebracht: »Die Wahrheiten der Vernunft brauchen keine Schminke.«364 Damit wurde nicht zuletzt ei359

Gottsched: AR 1736, 334 (recte: 534) (GAW VII/3, 72,25–27). Gottsched: Drei Reden Zur Vertheidigung Gottes, GAW IX/2, 428,22–27 (2te Rede): »Denn nachdem die heutigen Weltweisen sich einen deutlichern Begriff als vormals, von der Schönheit zu machen angefangen: so hat man befunden, daß eine klar empfundene Uebereinstimmung des Mannigfaltigen, die Vorstellung von der Schönheit in unsern Seelen hervorbringe. Nichts als die Ordnung, Verhältniß und der Zusammenhang vieler Theile, bringen einem Ganzen seine Schönheit zuwege«; vgl. zu dieser Stelle Stammler: »Edle Einfalt«, 369. 361 C. Henn: Simplizität, Naivetät, Einfalt: Studien zur ästhetischen Terminologie in Frankreich und in Deutschland 1674–1771, Zürich 1974, XII. – Daß vor der sprachlichen Reproduktion eine klare Erkenntnis des Redegegenstandes stehen muß, forderte Gottsched: AR 1736, 41 (vgl. GAW VII/1, 96,2–7): »Je gründlicher ein Redner einen Satz einsieht, desto leichter wird es ihm fallen, andere davon zu überreden: Da es ihm hingegen schwer seyn würde, andern eine Meinung beyzubringen, die er selbst nur obenhin untersucht hätte, und davon er selbst noch nicht überredet wäre.« 362 Gottsched: AR 1736, 528. 363 Vgl. Henn: Simplizität, VI. Erhellend für den homiletikgeschichtlichen Gegensatz von Auf klärung und Orthodoxie ist auch eine ebd. geäußerte Bemerkung, die – mit Blick auf die Situation in Frankreich – an die (sprach)philosophischen Voraussetzungen der Simplizitätsvorstellung erinnert: »Das Stilideal der verbalen simpicité [. . .] geht Hand in Hand mit dem Glauben an eine nicht auslegungsbedürftige Wirklichkeit, an die geordneten res, die von den verba einfach abzubilden sind; während umgekehrt in dem gegenteiligen Stilideal der Aesthetik der délicatesse eine Auffassung von der Vieldeutigkeit der res mit dem metaphorisch-concettistischen Stilideal korrespondiert.« 364 J. Ch. Gottsched: Vorwort (zu: ders.: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit: Theoretischer Teil. Dritte vermehrte und verbesserte Aufl age, Leipzig 1739), GAW V/3, 217,34 f. 360

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nem beabsichtigten Bildungsaspekt Rechnung getragen, dem in komplementärer Weise Poesie und Predigt als zentrale Kommunikationsmedien der Auf klärung gleichermaßen verpfl ichtet waren.365 Gottscheds Forderung, sich in homiletischer Hinsicht stilistisch an der Bibelsprache zu orientieren,366 stand hierbei noch ganz in der Tradition einer biblischen sermo-humilis-Theorie,367 die unter den Bedingungen der gewandelten Auffassung des decorum als Sprachtugend den homiletischen Gegebenheiten als adäquat zugewiesen wurde.368 In Gottscheds homiletischem Lehrbuch von 1740 kam neben der stilistischen schließlich noch eine andere Semantik der »edlen Einfalt« in den Blick, die die vorbildliche Rechtschaffenheit und Lauterkeit der Kirchenväter als ethisches Prinzip rechter homiletischer persuasio vorführte: »Die Väter der Kirchen in den ersten Jahrhunderten haben sich [die] apostolische Wohlredenheit auch mehrentheils zum Muster dienen lassen, und die göttlichen Wahrheiten zwar mit einer edlen Einfalt und Lauterkeit, aber gleichwohl 365

Gutzen: Poesie der Bibel, 39 f. bemerkte unter Verwendung eines Zitates aus Gottscheds Rede wieder die homiletischen Methodenkünstler (eines Zitates, das ich bislang nicht verifi zieren konnte): »Gerade den einfachen Mann zu bilden, ist eines der großen Ziele der Auf klärung. Wenn sich darum beide, Religion und Poesie, an möglichst breite Schichten wenden sollen, ist eine neue Sprache nötig, die sich auszeichnet durch Einfachheit, Klarheit und Deutlichkeit. Der Grundsatz der Deutlichkeit gilt sowohl für den Inhalt als auch für die Form von Dichtung und Predigt. Beide haben sich bestimmen zu lassen von dem Gesetz einer ›wahren philosophischen, das ist vernünftigen Wohlredenheit‹, die nach bestimmten Regeln erlernbar ist.« 366 Gottsched: AR 1736, 336 (vgl. GAW VII/1, 404,20–27): »Alles was man von der Gleichheit der Schreibart sagen kan, ist dieses, daß ein Redner und Scribent sich allemal in einerley Character erhalten muß, den er in dieser oder jener Schrift vorstellen will. Ein Geistlicher muß in einer Predigt durch und durch geistlich; ein Hofmann politisch; ein Weltweiser philosophisch [. . .] schreiben.« – Gottsched: AR 1736, 344 (vgl. GAW VII/1, 414,15–18): »Die theologischen Reden müssen [. . .] einen biblischen Ausdruck haben, als der den Leuten weit heiliger und kräftiger vorkömmt, weil er von der heutigen Art deutsch zu reden, abweichet.« – Gottsched: AR 1736, 533 (vgl. GAW VII/3, 71,18–20; Hervorhebung A. S.): »Ueberhaupt muß der Ausdruck in Predigten deutlich, lebhaft, und biblisch seyn. Die hochtrabenden Redensarten schicken sich nirgends weniger hin, als in geistlichen Reden.« 367 Zur sermo-humilis-Theorie in der Spätantike (Augustin) und im Frühmittelalter vgl. E. Auerbach: Sermo humilis, in: Romanische Forschungen 64 (1952), 304–364; zum auf die Ästhetikmodelle rückwirkenden Diskurs über die simplicité der biblischen Sprache, die – wie der Pietist Johann Jakob Rambach die verbreitete Ansicht formulierte – »ohne scharfsinnige Beweisführungen und – wie es des redenden Gottes würdig ist – durch schlichte Behauptungen« gekennzeichnet ist, vgl. Henn: Simplizität, VII (hier auch das Rambach-Zitat mit Stellennachweis); zum Konzept der biblischen Simplizität vgl. ebd, 11–28 (mosaische simplicité in der Sicht Boileaus) und ebd, 92–113 (evangelische simplicité in der Sicht Fénelons); zur pietistischen Auffassung vom »einfältigen« Bibeltext vgl. auch Dyck: Athen und Jerusalem, 116. 368 Zum decorum als Sprachtugend bei Gottsched vgl. Ueding/Steinbrink: Grundriß, 133.

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mit Eifer und Nachdruck fortgepflanzet.«369 Mit dem Hinweis auf die »Lauterkeit« der Kirchenväter wurde aber ein letztlich traditionelles rhetorisches Verständnis von »edler Einfalt« reformuliert, das – wie schon Augustin – das klassische Bildungsideal des vir bonus peritus dicendi aufgriff und nun in homiletischer Perspektive das Schickliche mit dem Sittlichguten identifi zierte.370 Wenn Gottsched daran erinnerte, daß »die Apostel sich keiner weltlichen und künstlichen Beredsamkeit befl issen, auch sich wohl ausdrücklich erkläret hätten, daß sie nicht mit hohen Worten welche menschliche Weisheit lehret, zu ihren Gemeinen gekommen wären«371, so bescheinigte er den Kirchenvätern ausdrücklich den Besitz von »wahrer« Beredsamkeit, wodurch sie »durch ihre grosse Gaben in der Beredsamkeit nicht wenig zur Ausbreitung des christlichen Glaubens unter den Heiden beygetragen haben« 372 . Die unter Gregor von Nazianz, Johannes Chrysostomus, Augustin, Hieronymus und Ambrosius373 so glücklich aufgenommene und fortgeführte »apostolische Wohlredenheit« (Gottsched), hatte nämlich nichts mit den »Kunstgriffe[n] der damaligen Sophisten«374, dem Inbegriff heuchlerischer, »uneinfältiger« Scheinberedsamkeit, gemein, sondern war Resultat einer »natürliche[n] und ungezwungene[n] Beredsamkeit [. . .], die sich bey muntern Köpfen allezeit fi ndet, wenn sie zumal mit Ernst und Eifer von solchen Din369

[Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 12 f. Es entsprach Gottscheds Sprachverständnis, wenn das antike Ideal des vir bonus dicendi peritus davon ausging, daß ein moralisch guter Lebenswandel und eine lautere Gesinnung des Redners eine gute, adäquate Sprache nach sich zögen. Vgl. zum antiken Hintergrund dieser Vorstellung H. Petersmann: Bild und Gegenbild des vir bonus dicendi peritus in der römischen Literatur von ihren Anfängen bis in die frühe Kaiserzeit, in: Vir bonus dicendi peritus: Festschrift für Alfons Weische zum 65. Geburtstag/ hrsg. von B. Czapla; u. a., Wiesbaden 1997, 321–329; zur Aufnahme dieses Ideals in Augustinus’ Lehre vom Prediger, einem nicht nur für Gottsched wichtigem Verbindungsglied zwischen Antike und Christentum, vgl. F.-H. Robling: Topik und Begriffsgeschichte am Beispiel des virbonus-Ideals, in: Topik und Rhetorik: ein interdisziplinäres Symposium/ hrsg. von Th. Schirren; G. Ueding, Tübingen 2000, 74–77; vgl. zur Ausrichtung des bürgerlichen Persönlichkeitsideals der Auf klärung am rednerischen vir-bonus-Ideal auch Ueding/Steinbrink: Grundriß, 115–117; ebd, 116 f. heißt es zu Gottsched: »Entsprechend der ethischen Fundierung der Beredsamkeit muß der Redner Gottscheds ebenfalls ein rechtschaffener Mann sein [. . .] Für den Rationalisten Gottsched sind Vernunft und Moral untrennbar, und wie er der Meinung ist, daß ›die wahre Beredsamkeit allezeit die Wahrheit und Tugend zu Gefährten habe‹, [. . .] so wollte er jeden Redner zum guten Manne in jenem umfassenden Sinne der vir-bonus-Lehre ausbilden.« 371 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 11 f. 372 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 13 f. 373 Gottsched: AR 1736, 19 (GAW VII/3, 149 zu 74,18): »Unter den griechischen Vätern haben sich dergestalt Gregorius von Nazianz, und Johannes, mit dem Beynahmen Chrysostomus hervorgethan: Unter den lateinischen aber sind sonderlich Augustinus, Hieronymus und Ambrosius starke Redner gewesen«; vgl. auch [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 14. 374 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 12. 370

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gen reden, davon sie selbst vollkommen überzeugt sind«375. Denn: »Hohe Worte machen das Wesen der wahren Beredsamkeit nicht aus, sondern ein nach Beschaffenheit der Sachen eingerichteter und lebhafter Ausdruck, der wichtige Dinge deutlich vorträgt, und sie mit bündigen Beweis= und Bewegungs=Gründen unterstützet [. . .]«376 . Es war die »natürliche«, auf Handlungsanleitung und -praxis zielende Beredsamkeit, die in sprachlichstilistischer Perspektive den Zusammenhang von ethischer Gesinnung und sprachlichem Ausdruck formulierte, der die Kirchenvätertradition zum Zweck einer »einfältig und lauter« betriebenen imitatio geeignet erscheinen ließ. Die Kirchenväter rückten so im Zusammenhang mit der üblicherweise dreistufigen rhetorischen (bzw. homiletischen) Unterweisung in Theorie (Rhetorik bzw. Homiletik), der imitatio musterhafter exempla und angeleiteter Übung (exercitatio) in die wichtige Funktion ein, theologisch wie homiletisch unstrittige Muster bereitzustellen, um die Persönlichkeit des Predigers sowie Fähigkeiten in der Beredsamkeit und stilistische Sicherheit auszubilden.377 Denn die (praktische) Beredsamkeit,378 auf die Gottscheds Unterricht zulief, ließ sich letztlich nicht theoretisch, regelgeleitet erlernen, sondern bedurfte aus didaktischen Gründen konkreter Beispiele, in denen das abstrakte Wesen des auf klärerischen Beredsamkeitsideals faßbar und anschaulich wurde.379 Daß Gottsched die imitatio-Qualität der Kirchenväter bereits in der Ausführlichen Redekunst mit einem kleinen Vorbehalt versehen hatte,380 den er in seinem homiletischen Lehrbuch nochmals wiederholte,381 tat ihrer imi375

[Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 12. [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 12. 377 Ueding/Steinbrink: Grundriß, 120; für Gottsched ist »(d)as methodische Hauptprinzip [. . .] die imitatio [. . .]«, denn die Rhetorik beruht »auf der empirisch ausgerichteten stilistischen Erfahrung, auf exempla und imitatio« (beide Zitate ebd). – Die Bedeutung der imitatio (vgl. N. Kaminski: Imitatio auctorum, in: HWRh 4 [1998], 235–285) ergibt sich für Gottsched innerhalb des üblichen Dreischrittes rhetorisch-homiletischer Schulung: 1. ars: Beherrschung der rhetorischen Theorie; 2. imitatio: Nachahmung mustergültiger Beispiele; 3. exercitatio: praktische Übung unter Aufsicht eines Lehrers. 378 Gottsched: AR 1736, 33 (vgl. GAW VII/1, 88,17–89,1) unterschied in traditioneller Weise die Beredsamkeit von der Redekunst: »(D)ie Redekunst [ist] mit der Beredsamkeit nicht vor einerley zu halten [. . .]. Jene ist theoretisch, diese practisch. Jene giebt die Grundlehren und Regeln der Beredsamkeit; diese hergegen übt selbige aus. Jene kan man verstehen ohne jemals eine einzige Rede ausgearbeitet oder gehalten zu haben; diese aber kan man nicht anders, als durch lange Ubung im schreiben und reden erlangen.« Vgl. dazu auch F.-H. Robling: Beredsamkeit, in: HWRh 1 (1992), 1475. 379 Vgl. dazu Pago: Gottsched, 250. 380 Gottsched: AR 1736, 19 (GAW VII/3, 149 zu 74,19): »Doch sind auch bey den Kirchenvätern selbst die Spuren eines einreissenden übeln Geschmacks sehr häuffig anzutreffen.« 381 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 13: »Doch sieht man, daß auch die Fehler so mancher von diesen bekehrten Heiden, vorhin in diesen Künsten eingesogen gehabt, ihnen auch nach ihrer Bekehrung noch angeklebet. Man spürt es in ihren Schrif376

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tatorischen Qualität keinen grundsätzlichen Abbruch, sofern nämlich ein angehender geistlicher Redner nur den auf klärerisch-eklektischen Rat befolgte, daß er »aus ihren Exempeln nicht alles ohne Bedacht nachahmen, sondern einen guten Unterscheid machen«382 solle. Denn Gottsched ging es bei der Propagierung des Vorbildes der »Alten« nicht um eine rhetorische Imitation im Mimikry-Stil, sondern um »eine philosophisch fundierte Nachahmung im Geiste der ›Alten‹«383. Dazu kam außerdem, daß die Kirchenväter in Gottscheds Augen eine kirchengeschichtliche Situation vorstellten, die den Zielpunkt der eigenen Auf klärungsbemühungen prototypisch repräsentierte. Denn gleich der Zeit der alten Väter, in welcher Antike und Christentum miteinander verschmolzen wurden, sollten nun in der Gegenwart einmal mehr Philosophie, Theologie und Rhetorik unter auf klärerischen Vorzeichen einträchtig zum Vorteil der christlichen Religion zusammengeführt werden.384 Zudem erbrachten die »katholischen« Väter der ersten Jahrhunderte indirekt den keineswegs nebensächlichen Beleg für Gottscheds These, daß eine »wahre« Homiletik nicht das Produkt konfessioten noch hin und wieder, daß sie Schüler der Sophisten und Liebhaber einer falschen Beredsamkeit gewesen, ehe sie das Christenthum angenommen hatten.« 382 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 13. 383 Kaminski: Imitatio auctorum, 276. – Für unzutreffend halte ich daher die Ansicht von A. Heussler: Klassik und Klassizismus in der deutschen Literatur: Studie über zwei literarhistorische Begriffe, Bern 1952, 21, der die Didaktik und das Ziel der imitatio in eins setzt: »Die Nachahmung, hier nicht im Sinne der Naturwahrscheinlichkeit gemeint, sondern als das Bemühen, getreu in die Fußstapfen anderer zu treten, ist überhaupt Gottscheds methodisches Hauptinstrument zur Hebung der deutschen Dichtkunst. Er wählt dazu die französische Dichtung des Zeitalters Ludwigs des XIV., der französischen Klassik.« Heussler liest Gottsched m. E. zu sehr unter dem Einfluß von Lessings Verdikt. 384 Die Verschmelzung von Philosophie, Rhetorik und Christentum liest sich bei Gottsched: AR 1736, 19 (GAW VII/3, 149 zu 74,19) in historischer Perspektive wie folgt: »Doch blieben auch in diesen trüben Zeiten [sc. nach dem Untergang der römischen Republik] noch einige Funken der alten Beredsamkeit, bey den Lehrern der christlichen Religion übrig. Diese sahen sich genöthiget, die Wahrheiten des Glaubens, durch einen öffentlichen Unterricht fortzupfl anzen: Und da viele von ihnen, vor ihrer Bekehrung, Weltweise und Redner gewesen waren: So bedienten sie sich ihrer Gelehrsamkeit und Gaben zum Besten der Religion. So nahm denn die auf den heydnischen Rathhäusern verstummende Beredsamkeit ihre Zuflucht in die Tempel der Christen; [. . .]«. Vgl. auch das bereits oben (Anm. 353) gebotene Zitat, wo Gottsched in satirischer Verkehrung die bei Chrysostomus begegnende homiletische Anwendung von eigenem »Menschenwitz« (Verstand = Synonym für gute Philosophie) und Rhetorik vorbildhaft verkörpert sieht. Daher begründete [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 45 seine Forderung, daß Menschen auf natürliche und vernünftige Art in der Predigt angesprochen werden sollen, auch mit einem unmittelbaren Hinweis auf die Praxis der Kirchenväter: »Ueberdem haben auch die alten Väter der Kirchen in ihrem Vortragen göttlicher Wahrheiten sich eben dieser Lehrart bedienet, und die Beredsamkeit der Heyden mit gutem Vortheile einem heiligen Gebrauche gewidmet.« – Die gegensätzliche Beurteilung der altkirchlichen Verschmelzung von Christentum und heidnischer Antike fi ndet sich im Pietismus; vgl. E. Berneburg: Untersuchungen zu Gottfried Arnolds Konstantinbild: zugleich ein Beitrag zu seiner Historiographie, Diss. theol. masch. Göttingen 1968.

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nalistischer Dogmatik sein konnte, sondern überzeitlichen, »philosophischen« Prinzipien folgte.385 Denn wenn das Wesen der Redekunst allgemeingültig war, dann mußte eine daran orientierte Homiletik ebenso allgemeingültig sein, und es mußte Muster aus allen Zeiten und Konfessionen geben, die das zu veranschaulichen in der Lage waren.386 2.2.2 Die Rezeption französischer Vorbilder Mit der Propagierung des Predigtvorbildes »der Alten« befand sich Gottsched in enger Abhängigkeit vom ausländischen, insbesondere französischen Rhetorik- und Poetikdiskurs.387 Denn die »edle Einfalt« hatte hier in der noble simplicité ihre begriffsgeschichtliche Vorprägung im Rahmen der »Querelle« erhalten 388 und war aufgrund ihrer rhetorik- und poetiktheoretischen Relevanz frühzeitig in der homiletischen Theorie rezipiert worden.389 Da 385 Nicht erkennbar ist mir, ob bei der homiletischen Idealisierung der Kirchenväter der von Calixt im Zuge seiner unionistischen Bestrebungen angestrebte consensus quinquesaecularis von theologischer Seite mitgewirkt haben könnte; die andernorts (s. o. Kap. 1, Abschn. 1.2) von mir behauptete Nähe der theologischen Auffassungen Gottscheds zum Typus der calixtinischen Theologie könnte hier konkrete Anknüpfungspunkte geboten haben. 386 In seiner Rezension zur deutschen Übersetzung der Homiletik des französischen Jesuiten Blaise Gisbert zerstreute Gottsched konfessionelle Bedenklichkeiten, die von Seiten der Orthodoxie gegen den katholischen Autor angemeldet werden könnten: J. Ch. Gottsched: Rez. Blaise Gisbert, Die Christliche Beredsamkeit, 444: »Man sagt vielleicht: Gisbert ist Römischkatholisch, und noch dazu Jesuit! es ist wahr; er ist beydes. Aber man darf diese Eigenschaften nicht auch in seiner Schrift suchen. [. . .] Wir wenigstens sind überzeugt, daß Gisberts christliche Beredsamkeit einer nur mittelmäßigen Fähigkeit nicht gefährlich seyn wird.« 387 In der bisherigen predigtgeschichtliche Forschung wurde der Einfluß der französischen und englischen Kanzelberedsamkeit im Sinne einer Schulung des Geschmacks bei der auf klärerischen Reform der Predigt in Deutschland zwar in aller Regel durchaus betont, dies aber meist auf wenig konkrete Weise durch bloße Aufzählung ausgewählter Predigtübersetzungen, die in dieser Richtung gewirkt haben sollen (z. B. Schian: Orthodoxie und Pietismus, 131–148). Der Einfluß der ausländischen Predigttheorie (Homiletik), der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts etwa in den Übersetzungen ausländischer Homiletiken (v. a. französischsprachiger Provenienz) handgreifl ich wird, fand in der Vergangenheit lediglich in rhetorikgeschichtlichen Studien nähere Beachtung; vgl. zum Einfluß von Blaise Gisberts Homiletik auf Gottsched bei Stauffer: Erfi ndung und Kritik, 59–61. 388 Ausführlich dazu Henn: Simplizität. 389 R. P. Lessenich: Elements of Pulpit Oratory in Eighteenth-Century England (1660–1800), Köln; Wien 1972, 8 f. weist auf die Forderung der »noble simplicité« an den Prediger durch La Bruyère (1699) hin und erläutert ergänzend unter Hinweis auf Charles Rollin und Fénelon (beides exponierte Teilnehmer an der »Querelle«) zum »neoclassical use« dieser Forderung innerhalb der englischen Diskussion (ebd, 9): »The ideal sermon had to be plain and simple, neither uncouth nor affected.« Und ebd.: »The word ›Simplicity‹ here was not restricted to the genus subtile of classical rhetoric with its poverty of ornament, but characterized every ›Natural style, as distinguished from Affection‹.«

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Gottscheds Antikerezeption primär über Frankreich vermittelt war,390 wies sie die Merkmale einer doppelten Normativität nachahmenswerter Muster auf: 391 Einmal kamen dafür die antiken (für die Rhetorik vorzugsweise römischen) Quellen, ein andermal die Vertreter der französischen Klassik in Betracht. Daher markierte seine Ausführliche Redekunst nicht nur im Titel ausdrücklich diese Doppelkonstellation; eine Liste von geeigneten Titeln zur Erlernung der rhetorisch-homiletischen Theorie führte auch – mangels geeigneter Werke in deutscher Sprache392 – fast ausschließlich Werke des französischsprachigen Auslandes auf.393 Diese waren für Gottsched nicht nur attraktiv, weil sie auf Bildung des Verstandes und des Willens zielten,394 sondern auch weil er hier eine ganze Reihe von Anknüpfungspunkten für die 390 Für seine Poetik räumte Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst, GAW VI/1, 78,27–32 unumwunden ein: »Was bey den Römern die Griechen waren, das sind für uns itzo die Franzosen. Diese haben uns in allen großen Gattungen der Poesie sehr gute Muster gegeben, [. . .] daraus wir uns manche Regel nehmen können. Ich schäme mich nicht, unsern Nachbarn in diesen Stücken den Vorzug zu geben [. . .].« – Inwiefern für Gottscheds rhetorische Antikerezeption die humanistische Tradition, insbesondere vertreten durch Erasmus und Melanchthon bzw. den in dieser Tradition stehenden Daniel Georg Morhof, eine Rolle gespielt hat (wofür es m. E. starke sachliche Anhaltspunkte gibt), müßte noch genauer untersucht werden. In der literaturgeschichtlichen Forschung ist man dieser Spur bislang nicht gefolgt. 391 Vgl. Kaminski: Imitatio auctorum, 278. 392 Gottsched: AR 1736, 45 (vgl. GAW VII/1, 100,12–14): »Von deutschen Rhetoriken kan ich unter denen, deren Verfasser bereits todt sind, keine einzige loben, als Philipp Melanchthons seine; die aber lateinisch abgefaßt ist.« Zum überschwenglichen Lob Melanchthons als Verfasser einer Rhetorik, die »die gesundesten Regeln der wahren Beredsamkeit in sich hält«, vgl. auch Gottsched: AR 1736, 22 (vgl. GAW VII/1, 78,8 f.). 393 Neben den Rhetoriken René Rapins, Bernhard Lamys und Fénelons, die mehr oder weniger alle in den Spuren einer cartesianischen Vernunftrhetorik wandelten, empfahl Gottsched: AR 1736, 44 vor allem die Homiletik Blaise Gisberts und Le Faucheurs Traktat über die körperliche Beredsamkeit sowie einige weitere, heute weitgehend unbekannte Titel und Autoren; vgl. zu den französischen Einflüssen in Gottscheds Rhetorik Wechsler: Gottscheds Rhetorik, 70–76; sowie Stauffer: Erfi ndung und Kritik, 77–85 (Rapin, Fénelon, Rollin). 120–126 (Lamy). 394 Vgl. den in Gottscheds Zeitschrift abgedruckten Text von [L. Bordelon:] Betrachtungen über die Beredsamkeit und über den Redner, in: Beyträge zur critischen Historie, 1739 (22. Stück), 281–298, wo in 27 Abschnitten der Grundriß einer auf klärerischen Predigt entworfen wird, die ebd, 298 als Hauptkriterium zur Beurteilung »wahrer« Beredsamkeit die Wirkung nennt, »die in unserm Verstande und Willen übrig blieben ist«. Die Bedeutung, die Gottsched diesem Text zumaß, erhellt der Umstand, daß er im Anhang zu seinem homiletischen Lehrbuch abermals im Druck erschien: [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, Anhang 3–24, Anhang I: Betrachtung über die Beredsamkeit und über den Redner, aus dem frantzösischen Buche eines ungenannten la Langue genannt, übersetzt. – Vgl. zu diesem Text auch Stauffer: Erfi ndung und Kritik, 40–42, der Gottscheds Interesse an dem Text im hier geführten Nachweis sieht, »daß die aktuell wirksame Redekunst den Gesetzen der Alten gehorcht, auch wenn sie unter ganz anderen Bedingungen – auf der Kanzel – ihren Anfang nimmt« (ebd, 42). Zu Laurent Bordelon: La Langue, Rotterdam 1705 (danach viele Aufl agen) vgl. auch den Hinweis bei Dyck/Sandstede: Quellenbibliographie, Nr. 1740/13.

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Kapitel 2: Gottscheds Theorie der »philosophischen« Predigt

Rezeption der ethischen und ästhetischen Implikationen seines EinfaltsIdeals fand, für das ihm die Kirchenväter als Beispiel dienten. Nicht allein der zeitweise am Berliner Hof des Großen Kurfürsten, Friedrichs III., weilende Fénelon (1651–1715),395 der in seinem zeitgenössischen Einfluß – vor allem in homiletischer Hinsicht – wesentlich bedeutsamer für den (deutschen) Protestantismus als für die eigenen Konfessionsangehörigen war, bildete eine wichtige Brücke zum an den Kirchenvätern orientierten Simplizitäts-Ideal.396 Ebenso fand der in anderem Zusammenhang bereits erwähnte Le Faucheur397 nicht nur unmittelbare Erwähnung als einschlägiger Theoretiker der eloquentia corporis, sondern er fungierte in Gottscheds späterem homiletischem Lehrbuch als ungenannter Ideenspender für die Behauptung außerordentlicher Fähigkeiten der Apostel in Sachen Beredsamkeit.398 Eine nicht minder bedeutende Rolle scheint auch Charles Rollin (1661–1741) gespielt zu haben, der die homiletische Bedeutung der Kirchen395 Vgl. orientierend L. Just: Fénelons Wirkung in Deutschland: Umrisse und Beiträge, in: Fénelon: Persönlichkeit und Werk. Festschrift zur 300. Wiederkehr seines Geburtstages/ hrsg. von J. Kraus; J. Calvet, Baden-Baden 1953, 35–62; W. Bensiek: Die ästhetischliterarischen Schriften Fénelons und ihr Einfluß in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland, Diss. phil. Tübingen 1972; ebd, 57–86 zum Begriff der ›Simplicité‹ in Fénelons ästhetisch-literarischen Schriften; zur Fénelon-Rezeption im Gottsched-Kreis ebd, 158–171. 396 Bezüglich Fénelons Jugendschrift Dialogues sur l’Eloquence (Paris 1718) hielt beispielsweise ein Rezensent die auch Gottsched interessierende stilistische Vorbildlichkeit fest: Neue Zeitungen von gelehrten Sachen 1718 (Nr. 7, 22. Januar), 58: »Er tractirt seine Materie philosophisch und braucht eine simple, naturelle und leichte, aber doch lebhaffte und beredte Schreibarth. Sein Haupt=Absehen ist, den verderbten Geschmack der heutigen Redner, die immer einen bel esprit abgeben wollen, zu verbessern, und sie zu bewegen, daß sie sich an statt des Spielens mit den Worten, der scharfsinnigen Reden, und der die Ohren füllenden periodorum, natureller, und gründlicher Gedancken bedienen möchten, die zu Hertzen gehen.« Wie stark die geschmacksbildende Anziehungskraft Fénelons war, belegt die 1734 erfolgte Übersetzung seiner Rhetorik-Homiletik durch den Lehrer am Halleschen Pädagogium regium, Carl Heinrich Theune: François de Salignac de la Mothe Fénelon: Gespräche von der Beredsamkeit insgemein, Und von der Geistlichen insonderheit, Ihrer Fürtreffl ichkeit wegen aus dem Frantzösischen übersetzt, und zur Herstellung des guten Geschmacks in der Beredsamkeit, zum erstenmal zusammen gedruckt heraus gegeben, Halle 1737. – Besonders im dritten seiner Gespräche entfaltete Fénelon das homiletische Vorbild der Kirchenväter, das der fi ktive Dialogpartner »A.« mit der Feststellung einleitete: »Je weiter ich mich in eine Zergliederung einlasse, je mehr fi nde ich, daß die alte Art zu predigen die allervollkommenste gewesen.« Am vollkomensten wird das Vorbild der »Alten« bei Fénelon durch Augustin verkörpert, ein Vorbild, das aus theologischen Gründen natürlich nicht Gottscheds ungeteilte Zustimmung fi nden konnte. – Stauffer: Erfi ndung und Kritik, 82 merkt zur Theorie der Kanzelberedsamkeit Fénelons die auch für Gottsched wichtige Konstellation an, daß diesem »die Bibel und die Kirchenväter zu Musterbeispielen der Praxis« werden; auf explizite Parallelitäten zwischen Fénelon und Gottsched in rhetorischen und homiletischen Fragen weist Stauffer ebd, 42 mit Anm. 63 hin. 397 S. o. Abschn. 1.3.2. 398 In [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 11 wurde eine Argumentation Le Faucheurs übernommen (Le Faucheur: CONRARTS Gründlicher Unterricht, 23 f.), die

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väter unter dem Gesichtspunkt des guten Geschmacks einer ausführlichen Erörterung unterzogen hatte.399 Schließlich ist auch auf René Rapin (1621– 1687) zu verweisen, der in der betonten Bearbeitung des vir-bonus-Ideals nicht nur für Gottsched, sondern auch bei anderen zeitgenössischen deutschen Gelehrten, die nicht dem Lager der philosophischen Wolffianer zuzurechen waren, diesbezüglich Aufmerksamkeit fand.400 Den mit Abstand stärksten Einfluß übte aber die durch einen GottschedSchüler später auch in Übersetzung verbreitete Homiletik des Jesuiten Blaise Gisbert (1657–1731) aus, dem nicht nur wegen seiner breiten Berücksichtigung des vir-bonus-Ideals für die Homiletik in der Ausführlichen Redekunst eine besondere Referenz erwiesen wurde.401 Gisbert hatte auch Johannes die Anrede Paulus’ an die Söhne des Zebedäus als »Donnerkinder« als Ausweis für deren überragende rhetorische Fähigkeiten wertete. 399 In der durch den Gottschedianer Johann Joachim Schwabe besorgten Übersetzung von Carl (Charles) Rollin: Anweisung, wie man die freyen Künste lernen soll. Aus dem Französischen übersetzt. Vierter Theil, Leipzig 1737 (franz.: Paris 1726–1728) bot der Autor im Rahmen einer ebenfalls in die Rhetorik integrierten Homiletik (4. Teil, 7. Buch, 4. Absatz: Von der Beredsamkeit auf der Kanzel; ebd, 359–420) beispielsweise drei Textauszüge aus Augustinus (ebd, 392–397), Cyprian (ebd, 397–400) und Chrysostomus (ebd, 400–408); ferner begegnet hier ein für die homiletische Geschmacksnormierung einschlägiges Kapitel »Vom Lesen der Kirchenväter« (ebd, 417–420). 400 Die Liste der empfehlenswerten französischen Rhetoriken führte Gottsched: AR 1736, 44 mit den Worten ein: »Um auch von den neuern Anleitungen zur Redekunst etwas zu gedenken: So muß ich einige Franzosen in diesem Stücke rühmen, und zwar lauter solche, die ich selbst gelesen, u. den Regeln der Alten gemäß befunden habe. Darunter ist nun der Jesuit Rapin einer der besten [. . .]«. Er erwähnte ebd, 45 auch knapp, daß Rapin sich zur Kanzelberedsamkeit geäußert hatte. – Zur Selbstverläugnung als höchster homiletischer Tugend des Predigers verwies J. G. Walch: Vorrede, in: Ch. Stock: Homiletisches Real-Lexicon oder Reicher Vorrath zur geist= und weltlichen Beredtsamkeit, [. . .]. Andere weit=vermehrte und verbesserte Aufl age nebst einer Vorrede Herrn D. und Kirchen=Raths Johann Georg Walchs, Jena 1734, Bl. ):():(2v in Anm. (h) mit folgenden Worten auf Rapin: »Was hievon Renatus Rapin in seinen refl exions sur l’eloquence de la chaire §. 23. p. 88. schreibet, verdienet, nachgelesen zu werden.« Daran anknüpfend führte er ebd, Bl. ):():(2v aus: »Wenn die Heyden zeigen wollen, was zu einem rechtschaffenen Redner nöthig sey, so haben sie zum Theil vor ein nothwendiges Stück angesehen, daß er ein vir bonus, ein redlicher und tugendhaffter Mann wäre, davon wir unter andern bey Quinctiliano eine merckwürdige Stelle lesen. O! wie vielmehr mus das bey uns Christen eine ausgemachte Sache seyn, daß derjenige, der Gottes Wort zu der Menschen Seeligkeit reden will, ein redliches und GOtt=liebendes Herz haben müsse.« 401 Bei der Aufzählung der verschiedenen französischen Vorbilder nahm Gottsched: AR 1736, 45 (GAW VII/3, 155 zu 99,28) folgende Wertung vor: »Vor geistliche Redner ist des P. Gisberts Eloquence Chretienne das schönste Buch so man wünschen kan: Obwohl auch Fénelon und Rapin dieselbe nicht vergessen haben.« Vgl. auch die Erwähnung Gisberts im homiletischen Kapitel der Ausführlichen Redekunst: Gottsched: AR 1736, 533 (GAW VII/3, 71,20–28); die von E. Reichel: Gottsched, Bd. 2, 91 in Anm. 51 aufgestellte Behauptung, Gottsched habe Gisbert »erst 1740 in der Übersetzung J. W. Kornrumpf[s] kennen[gelernt]«, ist demnach nicht zu halten. Zur überwiegend Inhaltsreferat bietenden Rezension Gottscheds der deutschen Übersetzung siehe auch Gottsched: Rez. Blaise Gisbert, 434–445, wo er ebd, 434 nochmals unterstrich: »Es ist aber eine große Menge von

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Chrysostomus zum »Haupt=Muster der geistlichen Beredsamkeit«402 erklärt und die große Länge der mitgeteilten Zitate des Kirchenvaters mit dem die Methode der imitatio erläuternden Argument gerechtfertigt, daß »es eine ausgemachte Sache [ist], daß, wenn Beyspiele von dieser Art, die man als Muster des guten Geschmacks anführet, nicht in ihrer gehörigen Länge angeführt werden, es ohnmöglich sey, an denselbigen die angewendeten Regeln vollkommen wahrzunehmen«403. Denn Gisbert hegte die Meinung, daß »(d)ie Stellen des H. Chrysostomi (. . .) zum wenigsten mir so schön vorgekommen (sind), daß ich dafür halte, man werde es zuweilen betauren, daß sie nicht noch länger gerathen sind«404. Folgen wir späteren Aussagen Gottscheds, scheinen auf ihn insbesondere jene Überlegungen Eindruck gemacht zu haben, in denen Gisbert für Chrysostomus eine mustergültige Umsetzung der homiletisch gebotenen Klarheit des Denkens, Deutlichkeit des Ausdrucks sowie Schönheit des Stils behauptete.405 Dieser Dreiklang war es dann auch, der den konstantinopolitanischen Kirchenvater als Vorbild der von Gottsched propagierten »edlen Einfalt« des Ausdrucks empfahl. Während Gottscheds differenziertes Zugreifen auf den französischen Diskurs mittlerweile erkannt wurde406 und seine Orientierung am Ideal einer (christlichen) Antike rezeptionsgeschichtlich zu erklären vermag, gibt es darüber hinaus Hinweise für weitere Anschlußmöglichkeiten seines rhetorischen Klassizismus, die teils auf die Rezeption humanistischer Traditionen Büchern in der Welt erschienen, aus welchen man recht hat sollen predigen lernen. Ist aber irgend jemand in der Ausführung seines Werkes glücklich gewesen, so ist es Gisbert gewesen.« – Stauffer: Erfi ndung und Kritik, 105 spricht daher zu Recht vom »für Gottsched vorbildhaften Jesuiten Blaise Gisbert«; zu Gisberts Homiletik vgl. insbesondere auch ebd, 59–61; siehe ferner die Registereinträge zu Gisbert bei Herzog: Geistliche Wohlredenheit, 517. 402 Gisbert: Die Christliche Beredsamkeit, 2. 403 Gisbert: Die Christliche Beredsamkeit, 3 (Hervorhebung A. S.). 404 Gisbert: Die Christliche Beredsamkeit, 2 f. 405 Gottsched: Rez. Blaise Gisbert, 441. Gottsched führte hier aus, daß ein Prediger so predigen müsse, »daß ihn jedermann verstehen kann. Es ist dieses nicht eben so viel, als niedrig, grob, gar zu gemein und einfältig, oder ungekünstelt; sondern so reden, daß allenthalben eine Verhältniß und Aehnlichkeit mit der allgemeinen, ordentlichen und natürlichen Art zu denken und sich auszudrücken, die alle Menschen haben, anzutreffen sey. So wird man weit mehr gefallen und bessern, als einer, der seiner Meinung nach, Wunder denkt, was er schönes sagt, wenn er einen Gedanken vorbringt, den sich sonst niemand hätte in den Kopf kommen lassen. Es ist nichts schwereres, aber auch nichts schöneres für einen Prediger, als diese allgemeine Deutlichkeit: Um diese muß er sich also am meisten bearbeiten. [. . .] Diese Deutlichkeit, sagt der P. Gisbert, ist die Suada der Alten: Denn sie ist etwas göttliches. Sie ist das, was den Chrysostomus so groß gemacht, und was Constantionopel zu einem allgemeinen Beyfalle gezwungen hat.« 406 Pago: Gottsched, 273 hatte die Ergebnisse seiner Studie wie folgt zusammengefaßt: »Die Untersuchungen zum theoretischen Werk Gottscheds zeigten auf, wie sehr das Gedankengut der Querelle auch für dessen eigene poetologische Überlegungen bestimmend geworden ist. Eine eindeutige Zuordnung zu einer der Parteien erwies sich hingegen als unmöglich [. . .]«.

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(Erasmus, Melanchthon),407 teils auf die auf klärerische Verarbeitung und Weiterentwicklung des pietistischen Ideals »einfältiger Predigt« hinweisen.408 Als bedeutsam erweist sich dabei der Umstand, daß die zeitgenössische Diskussion sich der biblischen Bezüge des im Bereich einer christlichen Ethik angesiedelten Begriffs stets bewußt war409 und deswegen die mit der »Einfalt« hergestellte Einheit von Glauben und Tun in rhetorischer Perspektive ganz unmittelbar als genuin christliche Ausgestaltung des vir-bonus-Ideal deuten konnte.410 Die pietistische Homiletik, die überhaupt als ein kon407

Neben den vielfältigen Rekursen auf Melanchthons und Erasmus’ rhetorische und homiletische Schriften bezog sich Gottsched zur Begründung seines rhetorischen Homiletikansatzes zentral auf den (zum Teil von Schülern ergänzten) Polyhistor (1688–1708) Daniel Georg Morhofs, den er wie folgt zitierte: [Gottsched:] Grund-Riß einer LehrArth, 47 f.: »›Eine wahre Beredsamkeit zeigen hiernächst die alten griechischen und lateinischen Kirchen-Lehrer, mit welchen alle An(n)ehmnlichkeit im Schreiben untergienge, wenn ihre Kunstgriffe in der Wohlredenheit abhanden kommen wären. Dieses sind unsere vornehmsten Führer in gedachte Art der Beredsamkeit: Und wer nach dem Beyspiel dieser Männer seine Rede abzufassen weiß, der wird gewiß den Nahmen eines guten Redners mit Recht verdienen.‹« Morhof sprach in diesem Zsammenhang – von Gottsched ebenfalls zitiert – vom »Golde der Kirchenväter«, von dem in den nachfolgenden Zeiten »nur Schlacken, ja Koth übrig geblieben« seien (beide Zitate ebd.). Ob Morhof mit solchen Äußerungen auf einen humanistischen Traditionsstrang zurückgriff oder aber Argumente der »Querelle« rezipierte, bedürfte eigener Untersuchung. 408 Zum pietistischen Einfaltsbegriff siehe zuletzt J. Jacob: Einfalt: zu einigen ästhetischen und rhetorischen Implikationen eines pietistischen Leitbegriffs, in: Interdisziplinäre Pietismusforschungen: Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001/ hrsg. von U. Sträter; u. a., Tübingen 2005, 341–351. 409 Bereits W. Veit: Toposforschung: ein Forschungsbericht (1963), in: Toposforschung, Darmstadt 1973, 136–209 bemängelte an Stammlers Studie, daß sie die in der Bibel »auf Schritt und Tritt« (ebd, 205) begegnenden Belege von »Einfalt« zur Rekonstruktion der Vorgeschichte des Winckelmannschen Diktums völlig ausgeblendt ließ. Die Modelle einer biblischen simplicité behandelte zumindest für die französische Diskussion Henn: Simplizität, 11–28. 92–113. – Die Berechtigung von Veits Kritik illustriert der Zedler, wo beispielsweise fast zeitgleich mit Gottsched die »Einfältigkeit« allein auf ihre biblischen Bezüge erläutert wurde: [Anonym:] Einfältigkeit, in: Zedler 8 (1734), 544; Henn: Simplizität, 190 deutet diesen Umstand m. E. zu kurzschlüssig als Beleg dafür, daß der Terminus »Einfalt« vor Winckelmann ausschließlich im religiös-moralischen und nicht im ästhetischen Sinn positiv besetzt gewesen sei. 410 Auffällig ist die Parallelität der von Gottsched für die Kirchenväter konstatierten »edlen Einfalt und Lauterkeit« mit 2 Kor 11, 3. Neben den im Zedler referierten biblischen Belegen, die im Sinne der Aufrichtigkeit des Herzens insbesondere die ethischen Aspekte der »Einfalt« betonen und daher für das Ethos eines Redners/Predigers von unmittelbarer Relevanz waren, kann hier auch an Ps 37, 37 erinnert werden. Die Stelle lautete nach der Vulgata: »Custodi simplicitatem et vide rectum quia erit ad extremum pax.« Luther deutete in seiner Übersetzung des Psalter (WA.DB 10/1, 221) die hier erhobene Einfalts-Forderung schlechthin als Praxis des Glaubens und übersetzte daher: »Bleibe from, vnd halt dich recht, Denn solchem wirds zu letzt wolgehen.« Ein Blick ins frühneuhochdeutsche Glossar zum Luther-Deutsch zeigt, daß die hier erwähnte »fromkeit« mit einer für die Rezeption des Begriffs wichtigen, doppelten Semantik gefüllt war, die gleichermaßen die christliche Ethik (Gerechtigkeit, Rechtschaffenheit) und das Gerechtfertigtsein (aus Glauben) ausdrückte; vgl. M. Luther: Studienausgabe/ hrsg. von H. U. Delius, Bd. 6: Früh-

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zentrierter Versuch der homiletischen Umsetzung eines an der Bibel orientierten ethischen Einfalts-Ideals charakterisiert werden kann,411 versuchte daher wohl auch kaum zufällig, an die mit Augustin gegebene altkirchliche homiletische Tradition anzuschließen,412 wofür sie sich in stilistischer Hinsicht dessen sermo-humilis-Modell aneignete. Die gegen die »Methodenreiterei« der Orthodoxie behauptete homiletische Kunstlosigkeit der altkirchlichen Predigt, insbesondere des Chrysostomus,413 scheint daher im Pietismus eine direkte Vorgeschichte des auf klärerischen Natürlichkeitsideals und desneuhochdeutsches Glossar zur Luthersprache. Bibelstellenregister. Orts-, Personen- und Zitatenregister, Leipzig 1999, 66. Die simplicitas-Forderung umschloß in biblischer Perspektive demnach ein Glauben (docere) und Handeln (movere) verbindendes christliches Frömmigkeitsideal, das sich in rhetorischer Perspektive mühelos in Beziehung zum virbonus-Ideal der Rhetorik bringen ließ, wie die frühzeitige Aufnahme dieses Ideals bei Augustin oder später in der humanistischen Rhetorik belegen; vgl. dazu Ueding/Steinbrink: Grundriß, 40–45 (Quinitilian). 86–89 (humanistische Tradition). Gottsched konnte daran anknüpfen und brachte deswegen bereits in: Die Vernünftigen Tadlerinnen, Bd. 2, 35 f. unter den diversen Vorzügen, die Mosheim als Muster homiletischer imitatio empfahlen, seine »rechtschaffene Frömmigkeit, und eine treffl iche teutsche Beredsamkeit« in engen Zusammenhang. Zur simplicitas-Forderung an den Prediger bei Luther vgl. auch den Hinweis bei Barner: Barockrhetorik, 259 in Anm. 4. 411 Vgl. Spener, der die theologische Arbeit an der »einfalt Christi« (PD 27,2) bzw. an der »Apostolischen einfalt« (PD 74,5 f.) ausrichten wollte. Als zentrales homiletisches Dokument des pietistischen Einfaltsideals siehe G. Arnold: Vorrede De Methodo Heroica, Bl. a2r – b6v. 412 Vgl. die noch aus seiner Kieler Zeit stammende, später aber in Halle mehrfach aufgelegte Dissertation von J. J. Breithaupt: Institutio hermeneutico-homiletica, hoc est, praecepta interpretandi Scripturam Sacram & concionandi, ex divi Augustini de doctrina christiana libri quattuor, Kiel 1685; vgl. auch den Hinweis auf diese Schrift bei P. Anton: Elementa Homiletica, in materiam ac usum cum praelectionum, tum exercitiorum & censurarum in hoc genere, consignata a Paulo Antonio. Accedunt, ad verum fi nem eo certius assequendum, Monita Homiletica, e Fr. Lamberti de Prophetia Commentariis fideliter collecta, Halle 1700, Bl. a3r-v. Auf dem Hintergrund der Wertschätzung Augustins in homiletischen Belangen erklärt sich auch die erste deutsche Übersetzung von Fénelon: Gespräche über die Beredsamkeit (1734) durch einen Lehrer am Halleschen Pädagogium regium. – Zur pietistischen Wertschätzung der altkirchlichen Tradition im allgemeinen siehe M. Schmidt: Das Frühchristentum in der evangelisch-lutherischen Überlieferung vom 18.-20. Jahrhundert, insbesondere in Deutschland, in: Oec. 1971/72, 88–110. 413 G. Arnold: Die Erste Liebe Der Gemeinen JESU Christi/ Das ist/ Wahre Abbildung Der Ersten Christen/ Nach Ihren Lebendigen Glauben Und Heiligen Leben/ Aus der ältesten und bewährtesten Kirchen=Scribenten eigenen Zeugnissen/ Exempeln und Reden [. . .] Treulich und unpartheyisch entworffen [. . .]. Zum Andernmahl gedrucket und verleget, Franckfurt am Mayn 1700, 288 erläuterte am Beispiel des Chrysostomus die homiletische Vorbildhaftigkeit der Kirchenväter wie folgt: »Alleine obwohl etliche mahl bey Chrysostomo und andern dergleichen Vorbereitung zu denen Haupt=Puncten stehet/ so sind doch hingegen bey ihm und den andern allen/ derer Sermonen man noch haben kan/ wohl hundert/ ja tausend/ die keine gewisse Disposition, Methode oder Eintheilung/ viel weniger eine unanständige gekünstelte Zergliederung der Schrifft=Stellen anzeigen. Man liebte wol/ so viel sichs thun liesse/ gute Ordnung im Lehren/ man gienge auch/ wenn aus der Bibel etwas zu erklären war, die Worte nach einander durch/ aber nie bande man sich genau in gewisse Schrancken/ oder spannete die Krafft des H. Geistes und

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sen Frontstellung zum orthodoxen Ideal homiletischer Künstlichkeit (Artifizialität) aufzuweisen. 2.2.3 Homiletikgeschichtliche Wirkungen: Andeutungen und Ausblicke Der Anschluß Gottscheds an französische Vorbilder – in allgemein-homiletischer Hinsicht als nachahmenswerte Muster rhetorisch gelungener Kanzelberedsamkeit oder in der speziellen Form der Propagierung der homiletischen Kirchenvätertradition mit dem Implikat der stilistischen »edlen Einfalt« – waren ebenso nachhaltig wie unübersichtlich. Ohne Zweifel hat Gottsched im ästhetisch-rhetorischen Diskurs um die »edle Einfalt« selbst bzw. durch seinen Schülerkreis eine teils katalytische, teils dynamisierende Funktion gespielt, wobei angesichts der vielfältigen Kanäle, in denen die kulturellen Austauschbeziehungen im Europa des 18. Jahrhunderts funktionierten, ohne Zweifel auch Rezeptionsprozesse bei der Normierung der Predigt am Ideal »edler Einfalt« stattfanden, die ganz unabhängig von Gottsched auf französische oder englische Diskurszusammenhänge zurückgreifen konnten. Wenn daher beispielsweise Spalding den enormen publizistischen Erfolg seiner Bestimmung des Menschen (1748, 111794) auf die natürliche »Einfalt und Wahrheit der Gesinnungen und des Ausdrucks«414 zurückführte, die seinem Büchlein Gestalt verliehen, dann führte diese Auffassung punktgenau in die dargelegten Zusammenhänge von ethischer und ästhetischer (stilistischer) »Einfalt« ein, besagt aber kaum, daß Spalding hier Gottscheds Einfalts-Konzeption rezipierte. Während die Tugendhaftigkeit des Predigers als homiletische conditio sine qua non bereits durch den Pietismus (wieder) zum Gegenstand ausgeprägter homiletischer Reflexion gemacht worden war,415 bot Gottscheds Rekurs auf das antike vir-bonus-Ideal die auf klärerisch erwünschte rhetorisch-philosophische Begründung für die vernunftgemäße Notwendigkeit dieser homiletischen Entscheidung. Nicht zuletzt von hier ausgehend mündete die homiletische Theoriebildung des 18. Jahrhunderts in eine weitläufige pastoralethische Tugendspiegel-Literatur ein,416 die die Person des Predigers als seine Führung/ deren Nothwendigkeit wir anfangs hiebey gesehen/ in solche Sätze ein/ die die Sache mehr verwirren als fördern könten.« 414 Spalding: Eigene Lebensbeschreibung, 134,23 f. 415 Vgl. für Spener bei Schmidt: Das pietistische Pfarrerideal, 124 u. ö.; die von Spener in der Pia desideria geäußerte Einfalts-Forderung an die Theologie kommentierte Schmidt ebd, 154 folgendermaßen: »Die ethische Autorität, die vorbildliche Verpfl ichtung, welche von den Aposteln, den ersten Boten Jesu, ausging, war die entscheidende [Verpfl ichtung], keineswegs die dogmatische oder rechtliche, die zu einer Gleichheit der Stellung führte.« Die Ähnlichkeit der pietistischen und der auf klärerischen Auffassung ist evident. 416 Zur bevorzugten Bearbeitung der Pastoraltheologie als Standesethik für Pfarrer gegen Ende des 18. Jahrhunderts vgl. G. Rau: Pastoraltheologie: Untersuchungen zur Geschichte und Struktur einer Gattung praktischer Theologie, München 1970, 61 f.

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eigenständiges Thema des homiletischen Prozesses reflektierte und damit zur Herausbildung einer neuen Gattung praktischer Theologie führte: der systematischen Pastoraltheologie.417 Damit aber wurde das Ideal des tugendhaften Predigers in der homiletischen Literatur der Auf klärung zum Dauerthema.418 Gottsched selbst beförderte diese längst im Fluß befi ndliche Entwicklung im Rahmen seines homiletischen Lehrbuchs, indem er die homiletische Reform essentiell mit einer Reform des Pfarrerstandes verknüpfte und zu diesem Zweck auch die Übersetzung einer einschlägigen Reformschrift publizierte.419 Noch für den sächsischen Auf klärungstheologen Johann Georg Rosenmüller war am Ende des Auf klärungsjahrhunderts die 417 Bahnbrechend hierfür J. L. v. Mosheim: Pastoraltheologie von denen Pfl ichten und Lehramt eines Dieners des Evangelii. Reprint der Ausgabe Frankfurt und Leipzig, 1754/ neu hrsg. und eingel. von D. Fleischer, Waltrop 1991, der die Homiletik unter dieser Prämisse in ein pastoraltheologisches Gesamtkonzept integrierte; kein Hinweis auf dieses Verdienst Mosheims in der Einleitung des Herausgebers. Auch Rau: Pastoraltheologie, 63, der das 18. Jahrhundert als die Wiege der pastoralethischen Systembildungen ansieht, erwähnt weder in diesem noch in anderem Zusammenhang Mosheims Namen (zur Pastoraltheologie in der Auf klärungszeit ebd, 129–136). 418 Eine detaillierte Reflexion des Quintilianischen vir-bonus-Ideals in homiletischer Perspektive unternahm zur selben Zeit beispielsweise der Gottsched-Korrespondent und Rektor der Donndorfer (heute Thüringen; damals kursächsisch) Kloster- und Bergschule J. Ch. Messerschmied (Messerschmidt): Erste Abhandlung, von dem Begriffe eines geistlichen Redners, in: Johann Gaichies: Grundsätze zur geistlichen Beredsamkeit, aus dem Französischen übersetzt, und mit einem Anhang einiger Abhandlungen versehen von Johann Christian Messerschmied, Leipzig 1756, 147–159. – Messerschmied war auch Übersetzer der wirkungsgeschichtlich bedeutenden und für Gottsched wichtigen Rhetorik Bernhard Lamys (vgl. Stauffer: Erfi ndung und Kritik, 120–126); vgl. zu dieser Übersetzung R. Behrens: Perspektiven für eine Lektüre des art de parler von Bernhard Lamy, in: Bernhard Lamy: De l’art de parler – Kunst zu Reden: Reprographischer Nachdruck der Ausgaben Paris 1676 und Altenburg 1753/ hrsg. von E. Ruhe. Mit einem einleitenden Essay [. . .] von R. Behrens, München 1980, 32–34. Angesichts der wahrscheinlich durch Gottsched veranlaßten Übersetzung – sei diese direkt oder indirekt erfolgt, etwa durch den Rhetorikunterricht, den Messerschmidt seit seinem 1739 in Leipzig aufgenommenen Studium mutmaßlich bei ihm genossen hat, oder durch die Empfehlungen des Franzosen in der Ausführlichen Redekunst – sind Behrens’ Spekulationen über den Hintergrund der Übersetzung, den er mit Jena in Zusammenhang bringt, abwegig. Zur rhetorikgeschichtlichen Bedeutung von Lamys cartesianischer Vernunftrhetorik vgl. zuletzt Till: Transformationen der Rhetorik, 319–340. 419 Vgl. dafür J. Eachard: Untersuchung der Ursachen und Gelegenheiten, Welche zur Verachtung der Geistlichen und der Religion Anlaß gegeben, Aus dem Englischen durch eine geschickte Feder ins Deutsche übersetzt und mit einer Vorrede von Johann Gustav Reinbeck herausgegeben, Berlin 1740. – Der von der Gottschedin übersetzte Text (Reinbeck würdigte in seiner Vorrede, [ebd, Bl. **7v] ihre Übersetzung versteckt als Werk einer »geschickten Feder«) sollte ursprünglich mit Gottscheds Grund-Riß einer Lehr-Arth zusammen erscheinen (vgl. die Vorrede Reinbecks zu [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, Bl. a7r-8r). Da aber die Übersetzung nicht mehr rechtzeitig fertig wurde, kam der Text erst im Sommer 1740 in den Buchhandel; in der zweiten Aufl age von Gottscheds Homiletik wurde Eachards Text, dem ursprünglichen Plan folgend, in die fortlaufende Paginierung integriert: [Gottsched:] Grundriß einer überzeugenden Lehrart im Predigen, 489–642.

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Motivation einer pastoralethischen Integration der Homiletik in eine Berufsethik des Pfarrerstandes weitgehend mit derjenigen deckungsgleich, die im Gottsched-Kreis die Eachard-Übersetzung motiviert hatte. War diese doch als Ausdruck des als krisenhaft empfundenen, merklich gesunkenen öffentlichen Ansehens des Pfarrerstandes im Zusammenhang neuzeitlicher Professionalisierungsprozesse zu verstehen, ein Prozeß, der am Ende des 18. Jahrhunderts sich eher verschärfte, denn abschwächte.420 Komplex und weithin undurchsichtig gestaltete sich die auf klärerische Neudefi nition des pietistischen Ideals »einfältiger« Predigt. Deutlich ist, daß bereits im Pietismus die Anfänge zu suchen sind, die die auf klärerische Rationalisierung (Anthropologisierung) der Einfaltsforderung mit ihrer primären Festlegung auf verstandesbezogene Aspekte bestimmten.421 Deutlicher Beleg für diesen Zusammenhang sind nicht zuletzt literarische Bezugnahmen der homiletischen Auf klärer bei pietistischen Autoren.422 Einen für 420 Vgl. hierfür die homiletische Pointierung von Reinbecks Vorrede zu Eachard: Untersuchung, Bl. *2r–**7v. – Rau: Pastoraltheologie, 135 hielt für Johann Georg Rosenmüllers »Pastoralanweisung« (Leipzig 1788) fest: »Eine Pastoraltheologie soll den verachteten Stand des Pfarrers aufwerten helfen, indem sie den Pfarrern hilft, wieder mehr Nutzen zu bringen. Ein solcher Nutzen kann jedoch nur erreicht werden durch eine praktische, verständliche, erbauliche, klare und geschmackvolle Predigt und Unterweisung [. . .]«. Zur »Krise des geistlichen Amtes« im 18. Jahrhundert als dem sozialgeschichtlichen Hintergrund der pastoralethischen Anstrengungen vgl. L. Schorn-Schütte: Zwischen ›Amt‹ und ›Beruf‹: der Prediger als Wächter, ›Seelenhirt‹ oder Volkslehrer. Evangelische Geistlichkeit im Alten Reich und in der schweizerischen Eidgenossenschaft im 18. Jahrhundert, in: Evangelische Pfarrer: zur sozialen und politischen Rolle einer bürgerlichen Gruppe in der deutschen Gesellschaft des 18. bis 20. Jahrhunderts/ hrsg. von L. SchornSchütte; W. Sparn, Stuttgart; Berlin; Köln 1997, 1–35; vgl. auch dies.; W. Sparn: Einleitung, in: ebd, XVIII f. 421 So erklärte J. J. Rambach: Erläuterung über die Praecepta Homiletica, von dem seligen Auctore zu unterschiedenen mahlen in Collegiis vorgetragen, nun aber aus dessen Manuscriptis heraus gegeben von Johanne Philippo Fresenio, Gießen 1736, 187 auf der Fluchtlinie der ursprünglich pietistischen Auffassung: »1) Man muß sich ad captum auditorum herab lassen, und hohe, subtile, philosophische demonstrationes, item scholastische terminos, und was nach einer systematischen Abhandlung schmecket weg lassen. 2) Man muß das Auge blos und allein auf die Uberzeugung und Erbauung der Zuhörer richten, und alles weglassen, was diesen Zweck hindern kan, als critische und philosophische Untersuchungen, Fabeln, historische Wort=Spiele, Sinn=Bilder, recensiones opinionum &c.« 422 Vgl. beispielsweise Messerschmied, der in seiner Vorrede zu Gaichies: Grundsätze zur geistlichen Beredsamkeit, Bl. 4v-5r die auf klärerisch interpretierte homiletische Einfalt ganz auf ihre sermo-humilis-Momente festlegte. Um die Einheit von Rednerintention und Hörerrezeption auf der Basis rhetorischer persuasio herstellen zu können, verwies er ebd. in einer Anmerkung auf zwei pietistische Beiträge: »[. . .] die Einfalt im Predigen sey eine solche Tugend, wenn alles nach dem Zustande und Begriffe der Einfältigen, und des gemeinen Mannes so eingerichtet ist, daß es von allen auf eine leichte Art gefasset und verstanden werden kann; es betreffe nun dieses die Sachen selbst, oder die Worte und Redensarten (*).« Anmerkung (*) verwies auf A. Struensee: Vorrede [von einfältigen Predigten], in: J. J. Rambach: Heilsame Lehren JEsu Christi, Nach Anleitung einiger Sonn= und Fest=Tags=Episteln und Evangelien [. . .]. Samt einer Vorrede von Adam Stru-

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den Gottsched-Kreis bezeichnenden Definitionsversuch der auf klärerisch verstandenen Einfalt unternahm zur Jahrhundertmitte der neben Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem vielleicht bekannteste theologische GottschedSchüler, der spätere deutsche Hofprediger in Kopenhagen und Biograph Gellerts, Johann Andreas Cramer (1723–1788).423 Cramer wollte – übrigens kaum anders als Mosheim, der ganz auf die logisch-stilistische »Einfalt« eines klaren, sich der rationalen Verständlichkeit befleißigenden Ausdrucks abhob424 – eine Predigt nur dann »einfältig« nennen, sofern sie in der Lage war, den Verstand zu unterrichten und den Willen zu bessern.425 Cramer unterstützte Gottscheds homiletische Propagierung der christlich-antiken »Väter« in derart effektiver Weise, daß deren Wirkungen bis ins 19. Jahrhundert hineinreichten. Denn er initiierte das allererste große Übersetzungswerk von Predigten und Schriften des Johannes Chrysostomus ins Deutsche426 – eine eindrucksvolle Demonstration der auf klärerischen Rezeption der Kirchenvätertradition zum Zweck homiletischer (und theologischer!) Geschmacksbildung, die nicht nur ein halbes Jahrhundert nach ihrem ersten Erscheinen noch einen Bezugspunkt für das Beredsamkeitsideal im Luthertum bildete,427 sondern mit einer gewissen Zeitverzögerung ebenfalls Beensee, Franckfurt am Mayn 1738, Bl. a2r-c4r; sowie G. Richter: Freymüthige und unpartheyische Gedancken, Was Von den sogenandten Einfältigen Predigten zu halten sey, Freyburg 1720. 423 Zu Cramer siehe BBKL 1 (1990), 1147–1149; Grosser: Gottscheds Redeschule, 162 f. 424 Mit antipietistischem Akzent betonte Mosheim: Heilige Reden, Tl. 6, Bl. a8r-v (Vorrede) die kognitive Seite der auf klärerischen Einfalts-Forderung: »Ich merke, daß sich hie und da ein schädlicher Mißbrauch dieses Wortes [sc. Einfalt; A. S.] eingeschlichen. Viele nennen einen nachläßigen, unordentlichen und ungebundenen Vortrag einen einfältigen Vortrag. Und mancher, der nicht weiß, wie er seine Unwissenheit und Ungeschicklichkeit gegen diejenigen schützen soll, die Grund und Ordnung lieben, nimmt das Wort Einfalt zur Decke seiner Schande an. [. . .] Die wahre Einfalt, die von einem Prediger erfordert wird, ist, meiner Meynung nach, nichts, als die Deutlichkeit und Klarheit. Und der redet, wie ich glaube, einfältig genug, der so spricht, daß die Versammlung, die er anredet, seine Gedanken ohne Schwierigkeit verstehen kan.« 425 [ J. A. Cramer:] Gedanken von der Anführung der Sprüche der Schrift und der Lieder in Predigten, in: Sammlungen zur Kirchengeschichte und theologischen Gelehrsamkeit. Zweyter Band, Leipzig 1750, 77 f. referierte das lutherische Verständnis wie folgt: »Eine einfältige Predigt hieß eine Predigt, die nach dem Verstande, den alle Menschen haben, eingerichtet, und so beschaffen war, daß der Große und Niedrige, der weise und der unverständige Christ dadurch unterrichtet, bewegt, und gebessert werden konnte.« 426 Johannes Chrysostomus: Predigten und Kleine Schriften: aus dem Griechischen übersetzt, mit Abhandlungen und Anmerkungen begleitet. Erster Band. Mit einer Vorrede Herrn D. Romanus Teller. Herausgegeben von M. Johann Andreas Cramer, Leipzig 1748; bis 1751 folgten neun weitere Bände. 427 Der als theologischer »Rationalist« nur unzulänglich beschriebene H. G. Tzschirner: Briefe veranlaßt durch Reinhards Geständnisse, seine Predigten und seine Bildung zum Prediger betreffend. Leipzig 1811, 70 riet dem angehenden Prediger: »[. . .] und versäume es endlich nicht auch von den unter den Protestanten gänzlich vernachlässigten

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deutung für die katholische Predigtreform erlangte.428 Die breitflächigen Rezeptionsmöglichkeiten des konstantinopolitanischen Patriarchen als homiletisches Vorbild,429 wie es mit der Cramerschen Übersetzung intendiert war, hatten dabei mehrere aufsatzartige, thematisch fokussierte Vorreden des Herausgebers unterstützt, indem hier dessen homiletische Qualitäten einer ausführlichen Betrachtung und Begründung unterzogen wurden, die die Ansätze Gottscheds aufnahmen und weiterführten.430 Im Gottsched-Kreis konnte die Bewunderung Johannes »Goldmunds« daher nachgerade emphatische Formen annehmen und präludierte in eigentümlicher Weise die spätere Antikebegeisterung eines Winckelmann auf dem homiletischen Sektor.431 Dabei zeigten Bezugnahmen auf Predigten Homilieen der Väter einige Kenntniß zu nehmen«, wofür er ebd, 86 in Anm. d) demjenigen, dem »das Original nicht zu Gebote steht«, Cramers Übersetzung empfahl. Die Lektüre musterhafter deutscher, französischer, englischer und eben auch altkirchlicher Predigten begründete Tzschirner ebd, 70 f. mit dem klassischen imitatio-Argument: »[. . .] da hingegen das Anschauen und das Studium vieler Muster die heilsame Wirkung hat, daß man sich das Ideal der Beredsamkeit nach allen Richtungen vollständig ausbildet«. Der für die sächsische Kirchengeschichte der Auf klärungszeit wichtige Leipziger Theologe und Superintendent Johann Georg Rosenmüller veröffentlichte zur selben Zeit eine Schrift, die aus diesen Gründen ebenfalls normativ auf die Predigt des Chrysostomus abhob: J. G. Rosenmüller: Beytrag zur Homiletik, nebst einer Abhandlung von der Beredsamkeit des Chrysostomus, Leipzig 1814. 428 Johannes Chrysostomus: Predigten und kleine Schriften: aus dem Griechischen übersetzt/ hrsg. von Johann Andreas Cramer. Nunmehr zu sicherem Gebrauche katholischer Prediger von eingemischten Irrthümern gereinigt und durchgehends verbessert von Vital Moesl. 10 Bde. Augsburg 1772; weitere Aufl agen dieser Ausgabe nachweisbar: Innsbruck 1782; Prag 1785. 429 Vgl. zu dessen pastoralethischen Überlegungen, die ebenfalls reichlich Anknüpfungspotential für die Auf klärer boten, Rau: Pastoraltheologie, 43–52. 430 Folgende Abhandlungen stammten von J. A. Cramer: Von dem Charakter der Beredsamkeit des Chrysostomus, in: Johannes Chrysostomus: Predigten, Bd. 2 (1749), I– XXXIV; ders.: Von der Ordnung in den Predigten des Chrysostomus, in: ebd, Bd. 6 (1750), 3–45; ders.: Gedanken über die Kunst des Chrysostomus, sich edel und erhaben, und doch für den Begriff des großen Haufens deutlich auszudrücken, in: ebd, Bd. 7 (1750), III-XXIX. 431 Der Gottschedschüler August Gottlob Friedrich Koltitz, der in der von Georg Friedrich Meier 1754 ausgelösten Debatte um die »philosophische« Predigt Partei für Gottsched ergriff (s. u. Kap. 5.1.2), ließ sich zu folgenden Exklamationen hinreißen: A. G. F. Koltitz: Rede von den Eigenschaften eines geistlichen Redners, in so ferne sie den Verstand angehen, in: ders.: Versuche in der Beredsamkeit und Wolredenheit, Chemnitz 1750, 148 f.: »Erwache du hier, verewigter Chrysostomus! um für mich die Vortheile der Beredsamkeit auf der Kanzel darzuthun; oder vielmehr der Welt noch einmal das Vergnügen zu schenken, deine eigene männliche, durchdringende und geistreiche Beredsamkeit mit einem angenehmen Erstaunen zu bewundern! Werde noch einmal aus deiner Asche lebendig, um von neuen die großen Wirkungen deines fruchtbaren Witzes, deiner glücklichen Einbildungskraft und deiner beredten Zunge in den schönsten Siegen über das menschliche Gemüte darzulegen! [. . .] Eröfnet nur, gepriesene Ueberreste der ädelsten Beredsamkeit, allen denen, die euch lesen, die wahre Bahn, theils in euch selbst die unüberwindliche Stärke einer ächten geistlichen Beredsamkeit zu empfi nden und zu bewun-

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des Johannes Chrysostomus zu Beginn des 19. Jahrhunderts, daß Gottscheds ursprüngliche Intention, die seinen Predigten die Eigenschaft einer wahren, dem vir-bonus-Ideal verpfl ichteten Beredsamkeit attestiert hatte, noch zu dieser Zeit von kaum verminderter homiletischer Plausibilität war. So entfaltete der Berliner Hof- und Domprediger Franz Theremin 1814 seine Homiletik nicht zufällig unter dem Gesichtspunkt rhetorischer Ethos-Auffassungen, wofür ihm ebenfalls Chrysostomus als Hauptzeuge diente.432 Eingerahmt wurde die von Gottsched ausgehende homiletische Propagierung des »altkirchlichen« Einfaltsideals von einem breiten Strom theologischer Anstrengungen, die »Einfalt« (wie von Spener einst gefordert) als Kriterium theologischer Arbeit schlechthin zu etablieren. Hierfür standen auf auf klärerischer Seite beispielsweise die Namen Mosheims,433 Johann Jakob Zimmermanns, des Verfassers jener berühmten, zuerst 1759 auf Latein erschienenen und dann von Semler 1770 ins Deutsche übersetzten Briefe über die Ketzermacherei,434 oder der Gottsched-Schüler Johann Friedrich Wilhelm dern; theils durch euch zur Nachahmung angefl ammet zu werden, wenn sie wirklich bestimmet sind, dieselbe zu betreten! Eile, aufgeklärtes Deutschland! zu diesen süßen und vortrefl ichen Quellen!« 432 F. Theremin: Die Beredsamkeit eine Tugend oder Grundlinien einer systematischen Rhetorik [. . .], Gotha 1888, 28 f. (Vorrede zur zweiten Aufl age 1837); zu Theremins Homiletik siehe Grünberg: Homiletik und Rhetorik, 61–70. 433 Vgl. eine akademische Rede Mosheims, die (wie Spener) die Einfalt Christi zum Vorbild der theologischen Arbeit erhob: J. L. Mosheim: De Christo vnice Theologo imitando oratio qvvm theologiam pvblice docendi mvnvs svsciperet, recitata (1723), in: ders.: Dissertationvm ad sanctiores disciplinas pertinentivm syntagma. Accedvnt Gvaltheri Moylii et Petri Kingii dissertationes de legione fvlminatrice ex anglico latine versae, additis observationibus, Leipzig und Görlitz 1733, 577–620; mit der spätmittelalterlich-mystischen imitatio-Christi-Frömmigkeit eines Thomas von Kempen hat dieser Text – anders als Steiger: Johann Lorenz von Mosheims Predigten, 107 annimmt – nichts zu tun. In einem Abriß zur Predigtgeschichte bei Mosheim: Pastoraltheologie, 83–92 (§§. 5–15) bildete die Zu- oder Abnahme evangelischer »Einfalt« daher das ausschlaggebende Kriterium zur Beurteilung der homiletischen Entwicklung. Bereits E. P. Meijering: Die Geschichte der christlichen Theologie im Urteil J. L. von Mosheims, Amsterdam 1995, 329 hat beiläufig festgestellt, daß die Frage nach der »evangelischen Einfalt«, die nach Mosheims Auffassung von Luther wiederentdeckt wurde, eine kriteriologische Rolle in der Betrachtung der kirchengeschichtlichen Entwicklung spielte. Zur Beurteilung des Chrysostomus vgl. auch Mosheim: Anweisung erbaulich zu predigen, 46. 48 f. 51. Übereinstimmend mit Gottsched lobte er, daß dieser »mit vieler natürlichen Beredsamkeit seine Sachen vorgetragen« (ebd, 46) habe. Wichtig für die homiletische Rezeption Chrysostomus’ im auf klärerischen Luthertum war der von Mosheim unternommene Versuch, das in Luthers »Tischreden« geäußerte Negativurteil über die homiletischen Qualitäten des Chrysostomus als gegenstandslos erscheinen zu lassen: Mosheim: Anweisung erbaulich zu predigen, 46: »[. . .] allein der Tadel [sc. Luthers] hat alsdenn nicht viel auf sich«. – Zu dem von Mosheim referierten Vorwurf Luthers vgl. die Belege WA.TR 1, 85, 3: »Er ist ein lauter wescher [. . .]« bzw. WA.TR 1, 106, 4: »Chrisostomus gillt bey mir auch nichts, ist nur ein wesscher«; vgl. auch WA.TR 4, 286, 20 f.: »Er [Chrysostomus] mag gold im klange, aber nicht in der wurde gehabt haben.« 434 J. J. Zimmermann: Meditatio de pia et circumspecta in tradentis sanctioribus disci-

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Jerusalem, der die theologische Simplizität religiöser Aussagen im Rahmen der sermo-humilis-Theorie zu einem Hauptthema machte.435 Auch wenn deren Bemühungen um eine »evangelische Einfalt« als Hauptkriterium einer evangelischen Theologie in ihrem theologiegeschichtlichen Zusammenhang bislang noch kaum näher erhellt sind und somit in ihren Auswirkungen auch nur schwer abgeschätzt werden können,436 dürfte gleichwohl unstrittig sein, daß es nicht zuletzt Gottscheds Reformanstrengungen im literarischen, rhetorischen und homiletischen Bereich sowie der Ausbreitung der von ihm vertretenen simplicitas-Aufassungen durch gleichgesinnte Homileten aus dem Lager der Wolffschen Philosophie437 zu verdanken war, wenn Zeitgenossen die homiletische Entwicklung des 18. Jahrhunderts in ihrem Ergebnis als eine ungebrochene Erfolgsgeschichte bilanzierten, die vor allem einen Zugewinn an »edler Einfalt« in der Predigt gebracht hatte.438 Daß parplinis sectanda Simplicitate, in: ders.: Opuscula theologici, historici et philosophici argumenti. Tomi secundi, Turici 1757, 364–662; eine deutsche Übersetzung erschien später unter dem Titel: ders.: Abhandlung von der frommen und sorgfältigen Simpliciät bey dem Vortrage göttlicher Wahrheiten, Danzig 1779. In sieben Abschnitten erörterte Zimmermann die Kennzeichen theologischer Simplizität; von der Predigt handelte explizit Zimmermann: Meditatio, 462–500 (pars tertia); vgl. ders.: Abhandlung, 214–291: Dritter Theil: Von der Einfalt in den Predigten. Zimmermann defi nierte ebd, 218 in großer Nähe zu Gottscheds Begriff der stilistischen, auf den Willen wirkenden simplicitas: »Wir verstehen demnach durch diese Einfalt die Geschicklichkeit eines Predigers, vermöge der er, die wichtigsten Lehren der Religion in einer deutlichen, leichten und gesetzten Schreibart, mit gründlichen, aus der Natur der Sachen hergenommenen und eines Jeden Fähigkeiten angemessenen Beweisen, seinen Zuhörern so erklären und gefällig machen kann, daß alle und Jede, die ihn mit Aufmerksamkeit anhören und nicht ganz dumm sind, das Vorgetragene nicht nur verstehen, sondern auch den Nachdruck der Beweise fühlen [. . .]«; vgl. zur lateinischen Originalpassage Zimmermann: Meditatio, 464 f. Zimmermann bezog sich hier mehrfach auf verschiedene Schriften Gottscheds, u. a. auch auf das homiletische Lehrbuch von 1740, das er an einer Stelle (ebd, 481 f.) ausführlich zitierte; zu Zimmermann (1695–1756) siehe ADB 45 (1900), 271–273. 435 Vgl. dazu W. E. Müller: Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem: eine Untersuchung zur Theologie der »Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion«, Berlin; New York 1984, 76–88 ( »Die Simplizität religiöser Aussagen«). 436 Auf den Zusammenhang von Urchristentum, Reformation und Auf klärung im Selbstverständnis des Auf klärungstheologen Schroeckh verweist z. B. Fleischer: Urchristentum, 277–281; auch Schroeckh spricht vom »einfaltsvolle[n] Christentum der ersten Jahrhunderte«; zit. ebd, 277 bei Anm. 47. 437 Beispielsweise E. Ch. Simonetti: Vernünftige Anweisung zur Geistlichen Beredsamkeit zum Gebrauch seiner Zuhörer und Nutzen Derer die über die geoffenbahrten Wahrheiten gründlich und erwecklich reden wollen, Göttingen 1742, 12 f., der die Predigt ebenfalls am Kriterium »edler Einfalt« orientierte: »§. 42 Was die edle Einfalt und eine Rede nach der edlen Einfalt? Die edle Einfalt, ist das Vermögen der Seelen, ihre Gedanken mit üblichen Worten vorzutragen. Und eine Rede nach der edlen Einfalt, ist eine Verbindung üblicher Worte. §. 43. Die edle Einfalt ist eine Eigenschaft einer verständlichen Rede.« Jacob: Einfalt, 350 in Anm. 38 sieht Simonettis Konzept einer Rede (Predigt) nach der »edlen Einfalt« noch ganz auf der Linie ihrer religiösen Begriffstradition; mir scheint dies nicht mehr der Fall zu sein. 438 Vgl. J. R. Schlegel: Kirchengeschichte des achtzehnten Jahrhunderts. Zweyter und

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allel zu Gottscheds Stilideal eines letztlich »nüchternen«, unter dem Vorzeichen der Philosophie Wolffs stehenden rhetorischen Klassizismus, der auf eher versteckte Weise mit dem pathoszelebrierenden Beredsamkeitsideal französischer Predigt verbunden war, sich beinahe parallel schon alternative Ansätze zeigten, die auf eine stärkere Berücksichtigung der affektiven Seite rhetorisch-homiletischer persuasio abhoben, ändert nichts an der paradigmatischen Bedeutung, die Gottsched mit seiner Position für seine homiletische Generation einnahm. Entgegen der in der Literaturgeschichte im Gefolge von Lessings 17. Literaturbrief lange Zeit vorherrschenden Meinung, derzufolge die im Rahmen von Gottscheds Dichtungstheorie erfolgte Ausrichtung an französischen Vorbildern ein Fehler gewesen sei439 – eine Auffassung, die in homiletischer Perspektive durch Lessings Protest im 13. Literaturbrief eine starke Stütze zu erhalten scheint440 –, zeigt sich mit Blick auf die weitere homiletische Entletzter Band. Erste Abtheilung, Heilbronn 1788, 170 (Hervorhebung teilweise A. S.): »Wenn in irgend einem Stücke der theologischen Wissenschaften in diesem Jahrhundert eine vorteilhafte Veränderung vorgieng: so geschah es in der Homiletik. Es ist unglaublich, was man in dem ersten Viertel dieses Jahrhunderts für schlechte Homiletiken hatte, und wie sehr die edle Einfalt, die Deutlichkeit, die Würde und Wärme des Vortrags durch die gekünstelten, gezwungenen, witzig scheinenden, von unnützer Gelehrsamkeit und Polemik strotzenden Predigten und Entwürfe zu denselben gelitten haben.« 439 J. Birke: Der junge Lessing als Kritiker Gottscheds, in: Euphorion 62 (1968), 392– 404; B. Peters: Der 17. Literaturbrief und seine Folge, in: Zeitschrift für Germanistik 10 (1989), 70–75. 440 G. E. Lessing: Briefe, die neueste Litteratur betreffend (1759–1765), in: ders.: Werke 1758–1759, Frankfurt am Main 1997 (Werke und Briefe in zwölf Bänden/ hrsg. von W. Barner; u. a.; Bd. 4), 453–777, warf in dem auf den 1. Februar 1759 datierten Brief Wieland »patriotisch[e] Verachtung seiner Nation« (ebd, 483,3 f.) vor. An eine Bemerkung des Briefempfängers anknüpfend stellte er ausführliche Betrachtungen zum homiletischen Geschmack an und führte aus (ebd, 483,5–10): »Herr Wieland redet von der Beredsamkeit der Kanzel und bricht in die Frage aus: ›Wie lange wollen wir uns von den Franzosen beschämen lassen, welche ihre Bossuets, Bourdaloue, Massillons, Trublets aufweisen können, da hingegen unsere größten geistlichen Redner gegen jene nicht in Betracht kommen?‹« Lessing kritisierte (ebd, 484,9–21): »Herr Wieland ist ja sonst weit mehr für die Engländer als Franzosen eingenommen. Wie kömmt es denn aber, daß er nur diese hier jenen vorzieht? Hier, in der Beredsamkeit, die man doch, nach seinen eigenen Grundsätzen, bei den Franzosen, wegen ihrer despotischen Regierungsart, die ganz gewiß ihren Einfluß auch bis auf die Kanzel erstreckt, am wenigsten suchen sollte? Kömmt bei ihm etwa auch ein Tillotson gegen Bourdaloue und Trublets noch nicht in Betrachtung? [. . .] Ist ihm nur der der größte Redner, der die Affekten seiner Zuhörer am geschwindesten erregen kann?« Lessing propagiert gegenüber Wieland die homiletisch »so schwere Verbindung des Gründlichen und Pathetischen« (ebd, 486,29 f.), die seiner Meinung nach »unserm Mosheim, nach meinem Bedünken, einen sehr großen Vorzug vor allen französischen Predigern giebt« (ebd, 486,30–32). – Vgl. zu Lessings Kritik auch den Hinweis bei Schian: Orthodoxie und Pietismus, 148 in Anm. 2; sowie ohne Verständnis für die literatur- und rhetorikgeschichtlichen Zusammenhänge W.-L. Federlin: »Die Homiletik erfordert eine ganz andere Beredsamkeit«: Kritik und Bedeutung der Rhetorik in Lessings und Herders Homiletik, in: Sein ist im Werden: Essays zur Wirklichkeitskultur bei Johann Gottfried Herder

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wicklung, daß die propagierte Vorbildhaftigkeit französischer Predigt aufgrund von deren affektrhetorischer Qualität – trotz kritischer Stimmen – von enormer Langzeitwirkung war. Den Grundstein dafür hatte Gottsched bereits mit seinem ersten rhetorischen Lehrbuch gelegt, indem hier neben einigen als mustergültig eingeschätzten Reden des Demosthenes und Ciceros jene berühmte Lobrede (d. h. von der Sache her eine Trauerrede) von Esprit Fléchier zum Abdruck kam, die der Bischof von Nîmes 1676 auf den französischen Generalfeldmarschall Turenne gehalten hatte.441 Die damit intendierte Normierung des Maßstabs rhetorischer imitatio-Qualitäten änderte sich bei Gottsched zeitlebens nicht; Flechiers Rede wurde allen fünf Auflagen der Ausführlichen Redekunst als Muster beigegeben.442 Bezeichnend für den Rang, der Flechiers oratorischen Fähigkeiten im Gottsched-Kreis zugemessen wurde, ist auch die (wohl auf Gottscheds Anregung zurückgehende) Ausgabe von dessen Lob- und Trauerreden, die von der Königsberger Deutschen Gesellschaft zehn Jahre vor Lessings 13. Literaturbrief ins Werk gesetzt und vom spiritus rector dieser Sozietät bervorwortet wurde.443 Zwar befand sich Lessing mit seiner (bereits lange vor ihm schon zum nationalen Stereotyp gewordenen) 444 Kritik an der mehr affektuösen als gedankenvollen Predigtweise der Franzosen ganz auf einer Linie mit Mosanläßlich seines 250. Geburtstages/ hrsg. von W.-L. Federlin, Frankfurt am Main u. a. 1995, 60–67. 441 E. Flechier: Lobrede auf den [. . .] Grafen von Turenne, in: Gottsched: Grundriß zu einer vernunfftmäßigen Redekunst, 257–309. 442 Gottsched: AR 1736, 422–453 (vgl. GAW VII/3, 34–56). 443 E. Flechier: Lob u[nd] Trauerreden nebst dem Leben desselben von einigen Mitgliedern der königl. deutschen Gesellschaft zu Königsberg übersetzt und mit einer Vorrede Hrn. Prof. Gottscheds ans Licht gestellet von Christian Cölestin Flottwellen, Leipzig und Liegnitz 1749 ( 21755). – Zu Gottscheds überragendem Einfluß auf die Königsberger Sozietät vgl. Krause: Gottsched und Flottwell. 444 Bereits Hallbauer: Nöthiger Unterricht zur Klugheit erbaulich zu predigen, 40, meinte: »Die Französischen Prediger reden meist mehr das Wort des Königs, den sie loben und schmeicheln, als das Wort Gottes. Der Abt Flechier und Pere Bourdaloue werden bey den Frantzosen für die besten geistlichen Redner gehalten: allein man fi ndet bey ihnen mehr zierliche Worte, artige Redensarten, und sinnreiche Einfälle, als gründliche Erklärung der Schrift und einen überzeugenden Vortrag göttlicher Wahrheiten.« – Der Schaumburg-Lippische Hofprediger in Bückeburg, J. H. Meister: Unterricht Von der leichtesten und natürlichsten Art zu Predigen, aus dem Französischen übersetzt, von L. F. A. Dilthey, Und von dem Verfasser selbst aufs neue durchgesehen und starck vermehret, Halle 1746, 9 meinte in Verlängerung dieser Kritiklinie: »Die Frantzosen, wenigstens diejenigen unter ihnen, welche sich nach der Moder zu seyn bemühen, wie sie gemeiniglich eine lebhafte Einbildungskraft haben, und überhaupt nach ihrem natürlichen Trieb und angenommenen Geschmack zu handeln pflegen; so predigen sie auch mehr der Einbildungskraft, als dem Verstande und Gewissen. Urtheilt man aus ihrer Aufmercksamkeit auf alle Kleinigkeiten der Sprache, Schreibart und Wortfügung, und aus der grossen Sorgfalt die sie anwenden, selbst ihre gründlichsten Reden mit vielen uneigentlichen, verblümten, zierlichen und rührenden Redens=Arten auszuschmücken: so mögte man sagen, daß sie sich mehr befleißigen zu gefallen und bewundert zu werden, als zu unterrichten und zu erbauen.«

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heim.445 Aber sowohl dieser als auch jener übersahen mit ihrer Geringschätzung von deren homiletischer Qualität, daß es gerade der rednerische Schwung war, der die Franzosen in rhetorischer Perspektive als Vorbild homiletischer imitatio empfahl. Wenn die englischen Predigtmuster sich in homiletischer Hinsicht vor allem als vorbildhaft für die docere-Funktion der Predigt empfahlen, dann die französischen wegen ihrer pathos-Qualitäten hinsichtlich ihres movere-Aspekts.446 Die Propagierung der französischen Vorbilder wurde dabei mittels ausgedehnter Übersetzungstätigkeit realisiert, indem nicht zuletzt vor allem Schüler und Anhänger Gottscheds seit den 1730er Jahren entsprechende Übersetzungen in schier unüberschaubarer Anzahl auf den Markt brachten.447 Als Indikator für die fortgesetzte Wertschätzung der französischsprachigen Predigt römisch-katholischer oder reformierter Herkunft noch 50 Jahre nach dem Einwurf Lessings mag ein Urteil des Leipziger Superintendenten Heinrich Gottlieb Tzschirner (1778– 1828) 448 dienen, der 1811 einen Katalog homiletischer exempla aufstellte. In diesem waren nicht nur der bereits erwähnte Hinweis auf die Kirchenväter und die von Lessing herabgesetzten Predigtvorbilder integriert, sondern es wurde auch einem homiletischen Geschmacksurteil das Wort geredet, das den rhetorisch schwungvollen Gottsched-Schüler Johann Andreas Cramer als nach wie vor zur imitatio geeignet, den homiletischen Puristen Mosheim hingegen als bereits überholt qualifizierte.449 445 Mosheim: Kurze Anweisung, 164 f.: »Man pfleget gemeiniglich die Englischen und Französischen Prediger, als gute Muster der Nachahmung vorzuschlagen. Allein sie taugen beide nicht dazu. Die Engländer sind zu trocken, weil sie zu philosophisch sind, und die Franzosen haben zu viel Feuer, und sind zu lebhaft für den ehrbaren und gesetztern Deutschen«; ausführlich zum Für und Wider der französischsprachigen (katholischen wie reformierten) Predigt bei Mosheim: Anweisung erbaulich zu predigen, 92–96. 446 Siehe dazu Mosheim: Anweisung erbaulich zu predigen, 14: »Sie [die Engländer] tragen die Wahrheiten der Religion sehr ausführlich, gründlich und deutlich vor; aber sie vergessen den Willen. Sie hängen zwar ihren Predigten einige Ermahnungen an: allein dieselben sind gemeiniglich nur sehr kurz, dürre und trocken. Hingegen die Franzosen predigen mehr für den Willen. Ihre geistlichen Reden sind größtentheils Ermahnungen; sie vergessen den Verstand, und sie bedenken nicht, daß die Gottseeligkeit auf die Erkenntniß müsse gebauet werden.« 447 Herzog: Geistliche Wohlredenheit, 15 weist hin auf die »zahlreichen, zum Teil höchst aufwendig betriebenen Übersetzungen, in denen die großen klassischen Kanzelredner Frankreichs, die Bossuet, Bourdaloue, Fénelon oder Fléchier, zugänglich gemacht werden. (Noch Gottsched wird sich an der Königsberger Fléchier-Ausgabe beteiligen.)« Zu Bourdaloues Predigt siehe auch M. F. Hitz: Die Redekunst in Bourdaloues Predigt. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät (I. Sektion) der Ludwig-Maximilians-Universität München, München 1936. – Zur Übersetzungstätigkeit des Gottsched-Kreises ausführlich unten Kap. 3, Abschn. 1. 448 Zu ihm Ch. Schulz: Spätauf klärung und Protestantismus: Heinrich Gottlieb Tzschirner (1778–1828). Studien zu Leben und Werk, Leipzig 1999. 449 Tzschirner: Briefe, 69 f.: »Auf der Akademie hat man nicht die Zeit, die Kanzelredner zu lesen und muß zufrieden seyn, wenn man sich nur mit dem einen oder dem andern Muster bekannt machen kann. Darum ergänze man in den Candidatenjahren die-

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Auf der von Tzschirner markierten, keineswegs allgemein geteilten450 und daher vielleicht auch spezifisch sächsischen451 Traditionslinie ist eine noch 1833 in Meissen erschienene und für lutherische Geistliche konzipierte Sammlung von Musterpredigten französischer Kanzelredner452 zu sehen, die Tzschirners Urteil über die imitatio-Qualität der französischsprachigen Predigt Recht gab und damit weit ins 19. Jahrhundert hinein verlängerte. Die von Gottsched zuerst gerühmte Lobrede Fléchiers auf Turenne feierte hier neben anderen ausgesuchten Stücken französischsprachiger Kanzelberedsamkeit eine letzte homiletisch-protestantische Auferstehung, weil ihr – wie den anderen Musterpredigten auch – der »Charakter hoher religiöser Beredsamkeit an sich«453 beigemessen wurde. So zeigte sich in langfristiger Perspektive, daß Gottscheds Entscheidung für die französische Kanzelberedsamkeit unter dem Aspekt pathosbezogener imitatio-Eignung ihr langfristiges homiletikgeschichtliches Recht hatte.

se Lücke, lese zuerst die wichtigsten vaterländischen Kanzelredner und nicht bloß die neuesten, sondern auch die frühern, Cramer insbesondere und Zollikofer, (Mosheim, so groß auch sein Verdienst um die deutsche Kanzelberedsamkeit bleibt, ist doch in Hinsicht auf Materie und Form zu veraltet, als daß man sich von der Lectüre seiner Predigten einen großen Gewinn versprechen könnte,) gehe dann zu den Französischen Kanzelrednern über, zu Saurin, Flechier, Bourdeloue, Massillon, Bousset, welche, obwohl ihre dogmatischen Ideen wenig geläutert sind, und sie den Wunsch zu gefallen und zu vergnügen zu laut verrathen, doch das harte Urtheil, welches Kindervater in einer sonst lesenswerthen Schrift über sie gefällt hat, nicht verdienen, und wegen der Glätte, Eleganz und Lebendigkeit ihrer Darstellung als Musterredner zu betrachten sind, mache sich ferner mit den Englischen Kanzelrednern bekannt, deren Ton sich mehr, als die Manier der Franzosen, dem Charakter der Vaterländischen Beredsamkeit nähert, und versäume es endlich nicht auch von den unter den Protestanten gänzlich vernachlässigten Homilieen der Väter einige Kenntniß zu nehmen.« 450 Schulz: Spätauf klärung und Protestantismus, 171 in Anm. 202, bemerkte im Rahmen von Tzschirners Herausgebertätigkeit homiletischer Journale: »Daß Tzschirner auch englische und französische Predigten beachtete, wurde mitunter hart kritisiert. So schrieb ein Rezensent im Journal für Prediger (Bd. 57 [1811], 429) patriotisch überzeugt, nachdem er auf die ›Heroen der deutschen Kanzelberedsamkeit‹ wie Mosheim, Jerusalem und vor allem Reinhard hingewiesen hatte: ›Nimmermehr . . . wird über diese ächt deutsche Beredsamkeit irgend eine fremdartige ausländische als mehr musterhaft gestellt werden dürfen.‹ Tzschirner ließ sich aber auch in der Folgezeit nicht von seinem Konzept abbringen, ›das Studium der ausländischen Kanzelredner zu befördern‹.« 451 P. Drews: Das kirchliche Leben der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche des Königreichs Sachsen, Tübingen; Leipzig 1902, 165–171 (Kap. 6: Die sächsische Predigtweise); ebd, 165: »[. . .] kann man mit gutem Recht von einem spezifi sch sächsischen Charakter der Predigt reden, der sich sehr deutlich z. B. von der Predigtweise Württembergs oder der der Rheinlande abhebt«. 452 Musterpredigten französischer Kanzelredner. Sechs Reden von Massillon, Flechier, Fenelon, Bousset, Saurin und Bourdaloue übersetzt von Heinrich Moritz Lincke. Nebst einer Vorrede von Dr. August Ludewig Gottlob Krehl, Meissen [1833]; Krehls Vorrede datiert St. Afra, 31. Juli 1833. – Exemplar Privatbesitz des Verfassers. 453 Musterpredigten, XIII (Vorrede H. M. Lincke).

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Kapitel 2: Gottscheds Theorie der »philosophischen« Predigt

2.3 Die Praxis der »philosophischen« Predigt: eine Weihnachtspredigt Gottscheds (1729) Im Rahmen der für die Erlangung rhetorisch-homiletischer Kompetenz notwendigen exempla hatte Gottsched der Ausführlichen Redekunst – wie erwähnt – eine Beispielpredigt aus eigener Feder beigegeben, die seine homiletischen Vorschriften veranschaulichen sollte. Aus der umfangreichen Predigttätigkeit Gottscheds, die ihn bis zum Antritt seiner Philosophieprofessur 1734 »mehr als hundertmal und zwar auf [die] ansehnlichsten Kanzeln in Königsberg, Danzig und Leipzig«454 geführt hatte, liegt mit dieser Predigt das einzige gedruckt überlieferte Zeugnis seiner homiletischen Praxis vor.455 Die als »geistliche Rede« bereits in der Überschrift die neue Predigtauffassung kennzeichnende Themapredigt behandelte den »Tod der Märtyrer, als ein Beweis der Evangel[ischen] Wahrheit«456 . Sie war am zweiten Weihnachtsfeiertag 1729 auf Grundlage des für diesen Sonntag vorgeschriebenen Perikopentextes zum Tag des Erzmärtyrers Stephanus in einem Vespergottesdienst in der Neuen Kirche in Leipzig gehalten worden.457 Die 30 Oktavseiten umfassende Predigt dürfte bei ihrer Ablegung mindestens eine Stunde beansprucht haben und scheint für den Druck lediglich um einige Bibelstellenverweise ergänzt worden zu sein.458 Wegen des erklärtermaßen exemplarischen Charakters der Predigt wird man davon ausgehen können, daß Gottsched diese als ein besonders gelungenes Beispiel seiner predigtreformerischen Intentionen ansah. Inwiefern sie daher als tatsächlich repräsentativ für die gesamte Predigtpraxis Gottscheds gelten kann, muß mangels Vergleichsmöglichkeiten offengelassen werden. Angesichts des Umfangs der Predigt und der verschiedenen methodischen Perspektiven, die einem predigtanalytischen Zugriff offenstünden, kann es 454 Gottsched: AR 1736, 334 (recte: 535) (GAW VII/3, 72,4 f.). S. a. o. in Kap. 1 bei Anm. 17 f. 455 Vgl. ergänzend die Auswahl an Parentations- und Gedächtnisreden aus Gottscheds Gesammleten Reden (1749), in: GAW IX/1, 213–366; eine weitere, nur in der dritten und vierten Aufl age der Ausführlichen Redekunst abgedruckte Leichenrede ist zugänglich in: GAW VII/3, 57–64. 456 Gottsched: Der Tod der Märtyrer, in: ders.: AR 1736, 535–565 (GAW VII/3, 72–93). 457 Dies geht aus dem Schreiben (11. Juli 1737) der Theologischen Fakultät Leipzig an den Kurfürsten hervor, mit dem die Untersuchung gegen Gottsched eingeleitet wurde; SHStAD, Loc. 10752, Acta Wolff B. A. Steinwehr zu Leipzig betr., Bl. 12r. 458 Gottsched: AR 1736, 334 (recte: 534) (GAW VII/3, 72,18–27) erwähnte in seinen einleitenden Hinweisen zum Abdruck der Predigt keine Erweiterungen oder Umarbeitungen; möglicherweise wurden aber einige dogmatisch anstößige Stellen für den Druck beseitigt oder geglättet; vgl. dazu die (vielleicht auch rein taktisch motivierte) Bemerkung Gottscheds im Verhör vor dem Dresdner Oberkonsistorium (Verhörprotokoll, abgedruckt bei D. Döring: Die Philosophie, 146). Da er mit seiner Predigt ein konkretes, imitatiofähiges exemplum geben wollte, wäre eine (stärkere) nachträgliche Bearbeitung der gehaltenen Predigt didaktisch kontraproduktiv gewesen.

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im folgenden lediglich darum gehen, einige wenige formale und materiale Charakteristika herauszugreifen, um die praktischen Folgen von Gottscheds homiletischer Theorie beispielhaft zu illustrieren. Eine umfassende, insbesondere theologiegeschichtliche Interpretation ist angesichts der primär homiletikgeschichtlichen Fragestellung an dieser Stelle nicht vorgesehen. Aufschlußreich ist zunächst ein Blick auf die Disposition der Predigt, die folgenden Auf bau bietet: Vorbereitung (praeparatio) (535–537) 459 [Gemeindelied: Ein Kindelein so löbelich] 460 [Vaterunser] [Textverlesung: Act 6,8–15; 7,55–59: Die Steinigung des Stephanus] 461 »Eingang«462 (exordium und thematum) (537–540) »Abhandlung«463 (tractatio) (541–565) Erklärungen (definitio, explicatio) (541–544) Beweis (probatio) des »Hauptsatzes« (Predigtthemas) (544–560) 1. Obersatz mit Beweis (thesis) und Widerlegung (antithesis) (544–551) 2. Untersatz mit Beweis (thesis) und Widerlegung (antithesis) (551–560) 3. Schlußsatz (conclusio) (560) Affekterregung (Anwendung, applicatio) (560–564) Schluß (confirmatio) (565)

In der gedruckten Fassung der Predigt erfuhren lediglich die beiden Hauptteile (Eingang, Abhandlung) eine ihre Funktion anzeigende Überschrift. Die Funktion des Vorbereitungsteils, der durch das mitgeteilte Lied, das Vaterunser und die darauffolgende Verlesung des Predigttextes vom Eingang separiert ist, erläuterte Gottsched in einigen begleitenden Worten.464 Wenn auch die oben erwähnten Erklärungs-, Beweis-, Anwendungs- und Schlußteile nicht unmittelbar ausgewiesen waren, ermöglichten aber entsprechende »Regieanweisungen« im Text sowohl dem Hörer als auch dem Leser eine Orientierung darüber, welcher Gliederung der Prediger folgte 459

Seitenangaben im Folgenden nach Gottsched: AR 1736. Zu diesem Lied vgl. A. F. W. Fischer: Kirchenlieder-Lexikon: Hymnologisch-literarische Nachweisungen über ca. 4500 der wichtigsten und verbreitetsten Kirchenlieder aller Zeiten in alphabetischer Folge nebst einer Uebersicht der Liederdichter. Erste Hälfte, Gotha 1878, 158 f. 461 Der von Gottsched: AR 1736, 537 (GAW VII/3, 74,27–30) mitgeteilte Perikopenumfang (»Der Text stehet in der Apostelgeschichte im siebenden und achten Capitel: Stephanus aber voll Glaubens etc. bis: und als er das gesagt, entschlief er.«) irrt in den Kapitelangaben; vgl. für den Wortlaut des von Gottsched zitierten Textanfangs bzw. -endes WA.DB 6, 439 (Act 6, 8) bzw. ebd, 447 (Act 7, 59); Der Predigttext dürfte vom Umfang her identisch gewesen sein mit dem noch heute in der evangelischen Kirche verbindlichen Perikopentext des am 26. Dezember zu feiernden Gedenktages des Erzmärtyrers Stephanus; Gottscheds Angaben wurden von mir dahingehend korrigiert. 462 Gottsched: AR 1736, 537 (Überschrift) (GAW VII/3, 74,32). 463 Gottsched: AR 1736, 541 (Überschrift) (GAW VII/3, 76,36). 464 Gottsched: AR 1736, 334 (recte: 534) (GAW VII/3, 72,22–25). 460

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Kapitel 2: Gottscheds Theorie der »philosophischen« Predigt

bzw. wo die Schaltstellen zu einem neuen Abschnitt lagen.465 Beim näheren Hinsehen stellte diese Architektur der Predigt – kaum überraschend – eine ebenso exakt wie flexibel466 gehandhabte Ausführung eines in der Ausführlichen Redekunst entwickelten allgemeinen Redemodells dar,467 das bei seiner Anwendung auf die Predigt lediglich um den Einleitungsteil erweitert worden war. Diesen Einleitungsteil hatte Gottsched (u. a. mit Hinweis auf die von ihm normativ eingebrachte Vorbildfunktion der Kirchenväter) »nach dem Exempel einiger grossen Gottesgelehrten, und der Absicht der Alten gemäß [als] eine Vorbereitung zum Gebeth des Herrn«468 gestaltet, um – wie mir 465 Den Übergang von den Begriffserklärungen zum Beweis markierte beispielsweise folgende, zugleich das weitere Vorgehen darlegende Formulierung: Gottsched: AR 1736, 544 (GAW VII/3, 79,1–6): »Nunmehro ist es Zeit, ihr meine Lieben, den Beweis selbst vor die Hand zu nehmen, und zu zeigen: Wie denn der Tod der Märtyrer einen sichern Grund der evangelischen Wahrheit abgeben könne. Wir werden uns denselben in völliger Deutlichkeit vorstellen, wenn wir auf zweene Sätze insbesondere unsere Gedanken richten werden. Der erste davon ist dieser: [. . .]«. 466 Gottsched: AR 1736, 204 (vgl. GAW VII/1, 268,27.29–269,2): »Ich will [. . .] selbst ein allgemeines Modell geben, welches sich zwar in besondern Fällen etwas verändern läßt; Doch aber alle nothwendige Theile einer guten Rede vor Augen stellen wird. Es ist nemlich die Meynung nicht, daß alles, was in diesem Muster steht, unausbleiblich in allen vollständigen Reden angebracht werden müßte; oder als wenn nichts mehr hinzugethan werden könnte, was hier steht.« 467 Gottsched: AR 1736, 205 f. (vgl. GAW VII/1, 269–271), gab folgendes Modell einer Rede: »I. Der Eingang, besteht aus einer Vorbereitung, die den Zuhörer aufmerksam macht, und ihn allmählich zubereitet, dem Redner desto leichter beyzupfl ichten. II. Der Hauptsatz, [. . .]. III. Die Erklärung. [. . .] IV. Der Beweis folget nunmehro mit seinen abgesonderten Gründen, so daß der schwächste forne steht. 1. Der erste Beweisgrund. Hier kommt a) Der Obersatz des Vernunftschlusses[.] b) Seine Erklärung, Erläuterung und Beweis. c) Der Untersatz. d) Dessen Erklärung, Erläuterung und Beweis, wenn es nöthig ist. e) Der Schlußsatz, dabey zuweilen noch einige Anmerkungen, Einfälle, oder Lehrsprüche mit einfl ießen können. 2. Der andere Beweisgrund, wenn man ihn im Vorrathe hat, und vor nöthig erachtet. Er muß schon stärker seyn als der Erste, und wird eben so ausgeführt als der erste. 3. Der dritte Beweisgrund, wenn er vorhanden und nöthig ist, muß noch stärker schliessen als der erste; u. s. w. bis die Beweise aus sind. V. Die Wiederlegung der Einwürfe, die aber auch zwischen die Beweise eingeschaltet werden kan. [. . .] VI. Die Gemüthsbewegungen können zwar auch bey dem Schlußsatze jedes Beweisgrundes angehänget werden: Indessen pflegen sie doch hauptsätzlich ans Ende verschoben zu werden. [. . .] VII. Der Beschluß.« 468 Gottsched: AR 1736, 334 (recte: 534) (GAW VII/3, 72,23–25).

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scheint – eine religiös aggregierte Atmosphäre zu schaffen, die ihren Zielpunkt im anschließenden, der Textverlesung vorausgehenden Vaterunser fand. Damit sollte offenbar die Aufmerksamkeit und Aufnahmefähigkeit für die nachfolgende Abhandlung (explicatio) erhöht werden. Angesichts der lediglich hier und nochmals im Anwendungsteil der Predigt begegnenden Verwendung affektiver, pathosgeladener Sprache muß hinter dieser Rahmung innerhalb einer ansonsten durch nüchterne Rationalität ausgezeichneten Predigt der bewußte Versuch gesehen werden, die Hörer in den Zustand einer emotionalen Aufmerksamkeit zu führen, die dem Wesen der Predigt als einem Explikationsraum göttlicher Offenbarungen für dienlich befunden wurde. Zumindest beschwor die Vorbereitung am Ende geradezu die Besonderheit der Redesituation, indem daran erinnert wurde, daß es um »göttliche Geheimnisse« gehe, die der Prediger zwar zur Sprache bringe, deren Einsicht und Aneignung aber letztlich als Werk Gottes anzusehen waren: »Wir erstaunen, o! du Vater alles Lichtes, wenn wir in diese dunkle Tiefen deiner Vorsehung einen Blick thun. Unser blödes Auge verliert sich in solchen Abgründen deiner Weisheit, und unser Herz borget einem deiner Diener den Ausfruf ab: O! welch eine Tiefe des Reichthums und Erkenntniß! Wie gar unbegreifl ich sind deine Gerichte? Wie unerforschlich deine Wege. [. . .] Ach lehre uns doch, o! allergütigster Vater, auch in dieser Stunde einen Theil der Geheimnisse deines Reichs erkennen. Zeige uns einen Stral deines himmlischen Lichtes, und lehre uns sonderlich begreifen, wie auch der Tod deiner Blutzeugen eine Stütze deiner Evangelischen Wahrheit habe abgeben müssen.«469

So gesehen bildeten die Vorbereitung und die noch näher zu betrachtende Anwendung eine emotional-affektive Klammer um ein ansonsten auf argumentative Diskursivität angelegtes Predigtgeschehen, das in dieser doppelten Konstellation Verstand und Gefühl gleichermaßen befriedigen sollte. Der Predigteingang entwickelte im Dreischritt Problematisierung-Argumentation-Folgerung das Predigtthema und erwies es als hörerrelevant und textbezogen. Ausgangspunkt war die unmittelbar nach der Textverlesung getroffene Feststellung: »Wir nennen uns insgesammt Christen, auserwählte Gottes, heilige und geliebte, ja, was noch mehr ist, rechtgläubige Evangelische Christen: Und wir thun sehr wohl daran.«470 Es folgte später eine nochmalige Verstärkung dieser Ausgangsthese und die damit verbundene Problematisierung: »Ich wiederhohle es also noch einmal. Wir sind alle Christen, und glauben allem demjenigen, was uns die Diener des Worts aus der heiligen Schrift von Glaubenslehren und Lebenspfl ichten vortragen. Und wir thun sehr wohl daran. Wenn wir aber auch nur alle wüsten, warum man Ursache hat, diese Lehre des Evangelii für 469 470

Gottsched: AR 1736, 536 f. (GAW VII/3, 74,3–8. 16–20). Gottsched: AR 1736, 537 f. (GAW VII/3, 74,32–34).

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Kapitel 2: Gottscheds Theorie der »philosophischen« Predigt

eine unbetrügliche, für eine göttliche Wahrheit zu halten! In Wahrheit! ich entsetze mich, wenn ich an die unzählbare Menge unserer Brüder und Schwestern denke, die sich auch, gleich uns, für Christen ausgeben; aber bey dem allen keinen bessern Grund ihres Glaubens anzugeben wissen, als Heyden und Mahometaner.«471

Dieser Befund wurde sodann in eine biblisch begründete Argumentation überführt, die das evangelische Anliegen der Predigt unterstrich, indem Gottsched ein bekanntes Bibelwort (1 Pt 3, 15) paraphrasierend aufgriff: »Nein, ihr meine Liebsten! der Apostel will, daß wir zur Verantwortung bereit seyn sollen, gegen iedermann, der da Grund fodert von der Hofnung, die in uns ist.472 Die Hoffnung der Christen ist gewiß eine herrliche Hofnung. Es ist die Hoffnung eines ewigen Erbes, das uns auf behalten wird im Himmel * [* 1. Petr. 1, v. 4. 5.] [. . .] Wir müssen bereit seyn dieselbe gegen iedermann zu verantworten, und unserm Glauben die Schande nicht anthun, als wenn wir ihn aus aus Unverstand angenommen hätten. Eine andere Kirche mag sich an einem blinden Köhlerglauben gnügen lassen. Bey der Evangelischen Wahrheit müssen wir geschickt seyn, auch ihren Feinden zu begegnen, und selbst unsern Widersachern das Maul zu stopfen.«473

Zuletzt wurde aus der Verbindung dieses Gedankens mit dem Predigttext das Predigtthema hergeleitet: »Der jetzt verlesene Text, ihr meine Liebsten, giebt uns eine recht erwünschte Gelegenheit, eine solche Glaubensprüfung anzustellen; oder vielmehr einen Beweis von der Wahrheit der Christlichen Religion auszuführen.«474 Denn: »In unserer Vesperlection [. . .], wird uns der Märtyrer Tod, als ein Grund unseres Glaubens angewiesen. [. . .] Was können wir also in gegenwärtiger Stunde erbaulichers zu unserer Betrachtung aussetzen, als wenn wir den Tod der Märtyrer als einen Beweis der Evangelischen Wahrheit vorstellen werden? Darum ermuntert eure Herzen und bemühet euch ernstlich, eure Seelen zu einer völligen Gewißheit im Glauben zu bringen. Gott gebe, daß ihr alle diesen Zweck erlangen möget!«475

Die nun anschließende Abhandlung widmete sich in sachlich konzentrierter Weise dem Beweis als dem Kernstück der Predigt476 sowie der Anwendung des Predigtthemas, wobei entsprechend der im rhetoriktheoretischen Teil der Ausführlichen Redekunst entfalteten Schrittfolge für die Verständigung notwendige Wort- bzw. Sacherklärungen vorangestellt wurden.477 471

Gottsched: AR 1736, 539 (GAW VII/3, 75,20–29). Gottsched paraphrasierte hier ohne expliziten Hinweis 1 Ptr 3, 15. 473 Gottsched: AR 1736, 539 f. (GAW VII/3, 76,1–5. 7–13). 474 Gottsched: AR 1736, 540 (GAW VII/3, 76,14–17). 475 Gottsched: AR 1736, 540 (GAW VII/3, 76,21–23. 28–35). 476 Gottsched: AR 1736, 197: »Wenn man die Erklärung des Hauptsatzes, so viel als nöthig ist, gemacht hat: So sieht wohl ein jeder, daß nichts anders als der Beweis folgen kan. Dieser ist das Hauptwerk in der ganzen Rede, und folglich kan er nicht länger verschoben werden.« 477 Gottsched: AR 1736, 195: »Das erste derowegen, was ein Redner zu thun hat, das muß nothwendig die Erklärung seyn, die er von seinem Hauptsatze giebt. Es würde ganz 472

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So versuchte Gottsched als erstes mit seinen Predigthörern Übereinkunft über den zur Debatte stehenden Begriff des Glaubens zu erzielen, indem er seinen Inhalt als notitia zum Anlaß für den Tod der Märtyrer bestimmte.478 Mit zahlreichen Bibelstellen wies er nach, daß das Christusbekenntnis die Mitte dieses Glaubens bildete. Als »ganze[n] Innbegriff der Christlichen Lehre« setzte er »[. . .] diese[n] Lehrsatz: Jesus von Nazareth ist der Sohn Gottes, das ist, der versprochene Meßias, der den Vätern verheissene grosse Prophet, der Stifter und König eines geistlichen Reichs auf Erden«479. Als zweites ging Gottsched daran, den Märtyrertod begriffl ich näher einzugrenzen, um Kriterien zu benennen, wann von einem »echten« und wann von einem »falschen« Märtyrertod im Sinne der Beweisfähigkeit seines Predigtthemas gesprochen werden konnte.480 Zu Märtyrern, die diesen Beweis zu leisten in der Lage wären, wollte er nämlich nur diejenigen zu Tode gekommenen Bekenner des Glaubens zählen, die als Neophyten Christen geworden sind; bereits im christlichen Glauben Erzogene könnten – so seine Einschränkung – mit ihrem Bekennertod keinen überzeugenden Beweis für die Wahrheit des christlichen Glaubens abgeben. Denn: »Dergleichen Leute können gar leicht auch falsche Meynungen so fest in sich Wurzel fassen, und sich darinnen verhärten lassen, daß niemand vermögend ist, ihnen dieselbe aus dem Kopfe zu bringen. Sie sterben alsdann wohl gar eben so muthig für ihre Vorurtheile und abergläubische Irrthümer, als die eifrigsten Bekenner der Wahrheit thun würden.«481

Erst nach diesen Vorklärungen, die Gottsched fern aller »mathematischen« Präzision ausführte,482 unternahm er es, den (ausholenden) Beweis seines Predigtthemas anzutreten.483 Diesen leistete er mittels eines umgekehrten Syllogismus, indem aus der Abhandlung eines Ober- und eines Untersatzes ein Schlußsatz (conclusio) folgte, der dem eingangs formulierten Predigtthema entsprach. Die beiden Thesen des Beweises lauteten:

umsonst seyn den Beweis anzufangen, wenn man noch nicht wüßte, was beweisen werden sollte, oder es doch nur halb und halb eingesehen hätte. Die Erklärung eines Satzes erleichtert insgemein den Beweis: Dieser hergegen fällt oft sehr schwer, ja unmöglich, wenn der Satz noch nicht recht verstanden worden.« 478 Gottsched: AR 1736, 541 f. (GAW VII/3, 76,37–77,23). 479 Beide Zitate Gottsched: AR 1736, 541 (GAW VII/3, 76,38; 77,4–7) 480 Gottsched: AR 1736, 542–544 (GAW VII/3, 77,24–78,43). 481 Gottsched: AR 1736, 543 (GAW VII/3, 78,17–22). 482 Gottsched: AR 1736, 196: »Doch ist deswegen die Meynung nicht, als ob alle Erklärungen, die zum völligen Verstande desselben dienen, gleich auf einmal ausgeschüttet werden müßten. Nein, dieses würde gar zu mathematisch herauskommen, wo man oft, nach dem Exempel des Euclides, alle Defi nitionen gleich anfangs auf einen Haufen wirft.« 483 Gottsched: AR 1736, 544–560 (GAW VII/3, 79,1–90,5).

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Kapitel 2: Gottscheds Theorie der »philosophischen« Predigt

1. »Für welche Religion eine unzählige Menge verständiger und frommer Leute, als die ersten Lehrer und Bekenner derselben, ihr Leben auf eine schmähliche und schmerzhafte Weise aufopfern, das muß wohl eine wahrhafte, eine von Gott selbst gestiftete Religion seyn.«484 2. »Die Christliche Religion, oder die Lehre des Evangelii ist eine solche, die von unzähligen Verständigen und frommen Leuten, ja von ihren ersten Lehrern und Fortpflanzern bis aufs Blut, ja bis auf den Tod selbst ist behauptet und vertheidiget worden.«485

Ohne auf das inhaltliche Vorgehen näher eingehen zu können, läßt sich zumindest feststellen, daß Gottsched sich genau an die syllogistische Beweislehre hielt, die er in der Ausführlichen Redekunst erörtert und für ein rhetorisches Beweisverfahren eingefordert hatte.486 Der abschließende Anwendungsteil (applicatio) nahm die im Luthertum übliche und nur vom Pietismus partiell überwundene Trennung von explicatio und applicatio auf, indem hier die Wahrheit des Satzes mittels Affekterregung plausibilisiert und in ihrer Praxisrelevanz erwiesen wurde.487 Gottsched rief zunächst sehr eindrücklich den geschundenen und gemarterten Stephanus in einem anschaulichen Bild vor dem inneren Auge der Zuhörer auf und ließ diesen von dem Steinigungshaufen als seiner Kanzel herab eine eindringliche Predigt an die Predigthörer richten, die ihn als einen lebendigen Zeugen der christlichen Wahrheit erwies, der zu unmittelbarer Entscheidung herausforderte: »Was wollen wir nun sagen, ihr meine Brüder? Wollen wir, wie ein unempfi ndlicher Saulus dabey stehen, und uns durch dieses alles nicht rühren lassen? [. . .] Nein, solche Unempfi ndlichkeit, solch einen Eigensinn trauen wir keinem unter euch allen zu.«488 484

Gottsched: AR 1736, 544 (im Original alles gesperrt) (GAW VII/3, 79,6–10). Gottsched: AR 1736, 551 (im Original alles gesperrt) (GAW VII/3, 84,8–12). 486 Gottsched: AR 1736, 197–202 (Allg. Theil, X. Hauptstück, §§. VI-X); vgl. ebd, 106–124: VI. Hauptstück. Von den Beweisgründen. Neben dem als »groß und vollständig« (ebd, 207) bezeichneten Modell der Rede berücksichtigte Gottsched in seiner Theorie aber auch, wenngleich nicht mit derselben Umfänglichkeit, die in der Praxis eigentlich gebräuchlichere Kleinform der Rede, die Chrie, ausführlich in ihrem Auf bau und ihrer Beweisstruktur; ebd, 207- 217, XI. Hauptstück. Von den Chrien und ihren verschiedenen Arten. 487 Gottsched begründete die ans Ende verschobene Affekterregung (movere) als Folge der von ihm vertretenen Lehre von der Dependenz des Willens vom Verstand wie folgt: Gottsched: AR 1736, 202: »Nun kan man leicht denken, daß nach geschehenem Beweise in der Rede nichts mehr übrig sey, als die Erregung der Affecten. Und diese muß allerdings den letzten Platz einnehmen.« Denn ebd, 197 f.: »Wollte man [an einem anderen als an diesem Ort] die Affecten erregen: So würde man zwar ein Feuer anzünden; welches aber bald verlöschen würde, weil es keine rechte dauerhafte Nahrung hätte. So bald die Hitze der Gemüthsbewegungen ein wenig nachliesse, würde der Zuhörer selbst nicht wissen, ob er Ursache genug gehabt hätte, in Zorn oder Mitleiden, in Haß oder Liebe, in Freude oder Traurigkeit, in Furcht oder Hoffnung zu gerathen.« 488 Gottsched: AR 1736, 562 (GAW VII/3, 91,8–10. 11 f.). 485

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Der Aufweis des konkreten Nutzens der bewiesenen Lehre bildete den Kern des Anwendungsteils: »Laßt euch aber durch dieses Exempel der Standhaftigkeit Stephani in euren Trübsalen zur Beständigkeit aufmuntern. In allem Leiden, so euch begegnet, denket nur an das, so die Märtyrer vorzeiten erlitten.«489 Viel Raum nahm die applikative Berücksichtigung von Zweifeln an der vorgetragenen Wahrheit ein, die der auf einen imaginären Dialog mit den Zuhörern angelegten Struktur von Gottscheds Predigtmodell ihren eigentümlichen Charakter verlieh.490 Die mit den Waffen der Vernunft die Wahrheit des christlichen Glaubens attackierenden Glaubenskritiker wurden als eines gesunden Vernunftgebrauchs unfähig beschuldigt und gewissermaßen selbst zur Vernunft gerufen: »Ach! Ihr elende Feinde der evangelischen Wahrheit! Ihr rühmt euch vieler Einsicht in unsere Religion. Ihr pralet mit einer besondern Stärke des Verstandes. [. . .] Gebt ihr uns aber nicht Ursache das Gegentheil von euch zu glauben, wenn ihr die Kraft solcher deutlichen Beweise nicht begreifen; wenn ihr den Nachdruck der stärksten Gründe nicht empfi nden wollet? Doch ihr wollet es wohl; ihr könnet nur nicht. Gehet derowegen in die Schulen der Weltweisen, und lernet vorhero die Vorurtheile ablegen; lernet eure Vernunft recht brauchen. [. . .] Armselige Vernünftler! Euer Verstand ist so schwach, als ihr es nimmer glaubet.«491

Der knappe Schlußteil der Predigt wandte sich (in Entsprechung zum einleitenden Vorbereitungsteil) mit Bitte, Lob und Dank an Gott, der als allein vermögend erachtet wurde, den Entschluß des Predigthörers, dem Exempel Stephanus’ nachzufolgen, zur Tat werden zu lassen: »Gefällt es dir aber, gerechter Gott! auch unsere Standhaftigkeit im Glauben einmal zu prüfen † [† Apg. XXI, v. 14]: Wohlan! Herr dein Wille geschehe. Gib uns nur den Geist der Beständigkeit, der auch vormals deine Märtyrer stark gemacht hat, und schaffe, daß die Versuchung solch ein Ende gewinne, daß wirs ertragen können †† [ †† 1. Cor. X, v. 13].«492 489

Gottsched: AR 1736, 564 (GAW VII/3, 92,32–34). Die bereits im Beweisteil der Predigt erfolgte Berücksichtigung möglicher Ein würfe und ihre homiletische Bearbeitung in Form von Widerlegungen hatte Gottsched in der Ausführlichen Redekunst mit einem eigenen Kapitel bedacht (AR 1736, 124–133, Allg. Theil: VII. Hauptstück. Von der Wiederlegung der Einwürfe) und deren Notwendigkeit ebd, 124 f. folgendermaßen begründet: »Wenn ein Redner seinen Satz mit guten Beweisgründen bestätiget hat, so hat er zwar die allerwichtigste Pfl icht eines Redners erfüllet: Allein er hat deswegen noch nicht gewonnen. Es kan ja leicht kommen, und pflegt gemeiniglich zu geschehen, daß seinen Zuhörern Einwürfe in den Sinn kommen, die ihn hindern, daß er dem Redner seinen Beyfall entweder gar entzieht, oder doch nicht völlig geben kan. [. . .] Nichts ist also zu einer vollkommenen Uberredung nöthiger, als die Wiederlegung der entgegen gesetzten Meynung, und die Beantwortung der Einwürfe, die man wieder den Hauptsatz, oder die Beweisgründe des Redners machen kan. Das schwerste dabey ist, dieselben zu errathen. [. . .] Doch das unmögliche fordert man [damit] nicht.« 491 Gottsched: AR 1736, 562 f. (GAW VII/3, 91,13–15. 16–21; 92,8 f.). 492 Gottsched: AR 1736, 565 (GAW VII/3, 93,11–15). 490

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Kapitel 2: Gottscheds Theorie der »philosophischen« Predigt

Ein eschatologischer Ausblick in Form einiger Liedzeilen führte die Predigt am Ende auf einen emphatischen Gipfel.493 Diese in knappen Umrissen nach ihrer Anlage und Durchführung skizzierte Predigt hat in der Vergangenheit Anlaß zu sehr unterschiedlichen, für sich aber jeweils typischen Beurteilungen gegeben. Walter Blankenburg vertrat die Auffassung, daß Gottsched sich zwar Verdienste um »eine natürliche und lebensvolle Sprache für die Predigt seiner Zeit«494 erworben habe; jedoch verurteilte er – nicht frei von historischer Besserwisserei – den »theologische[n] Rationalismus«495 der Predigt.496 Das diskursiv-apologetische Moment, das hinter dem Beweisverfahren ideengebend stand, wurde von ihm weder gesehen noch gewürdigt, von der historischen Situation, aus der es erwachsen und auf die es bezogen war, ganz zu schweigen. Anders dagegen der liberaltheologisch geprägte, auf klärungsfreundliche Martin Schian, der im Zug einer historischen Einordnung zu einer insgesamt positiven Einschätzung gelangte, die aber auf Kosten einer Verurteilung der Orthodoxie erkauft wurde.497 Wenn Schian allerdings glaubte, daß die Predigt in ihrem Auf bau das »übliche Schema in gemilderter Form«498 bot, entging ihm völlig die Pointe des rhetorisch-philosophischen Homiletikansatzes Gottscheds. Es blieb ja keineswegs der einzige formale Unterschied zur Predigt der Orthodoxie, wenn der Leipziger Philosophieprofessor anstelle eines exordium generale samt üblichem Exordialvers nun eine allgemeine Hinführung zum Vaterunser als Einleitung der Predigt konzipierte. Denn wenn auch die Disposition der Predigt sich in der Tat als eine Variante des alten explicatio-applicatio-Schemas erwies, so entbehrte doch der nach rhetorisch-philosophischen Vorgaben (rhetorische Anwendung des Dependenzmodells!) organisierte Abhandlungsteil der Predigt mit seiner streng logischen, nach philosophisch-demonstrativer Lehrmethode gearbeiteten Ausführung gänzlich der Entsprechung auf dem Feld orthodoxer Normalpredigt. Gravierendstes formales Anzeichen für den Bruch mit der homiletischen Tradition signalisierte die Ersetzung der in der Orthodoxie als un493

Gottsched: AR 1736, 565 (GAWVII/3, 93,17–24). Blankenburg: Auf klärungsauslegung, 106. 495 Blankenburg: Auf klärungsauslegung, 106. 496 Blankenburg: Auf klärungsauslegung, 106: »Das beigegebene Muster einer Predigt [. . .] zeigt allein durch die Formulierung des Themas [. . .] deren Tendenz. Die christliche Wahrheit muß bewiesen werden, und sie läßt sich nach Gottsched beweisen: [. . .]. Es erübrigt sich darauf einzugehen, daß sich solch auf klärerischer Rationalismus wie jeder Versuch eines Gottesbeweises als Illusion erwiesen hat.« 497 Schian: Orthodoxie und Pietismus, 130: »Die Diktion ist glatt, manchmal schwungvoll und elegant. Die Form, Bibelzitate einzuführen, ist sehr gewandt. Die Schwerfälligkeit des 17. Jahrhunderts ist zu einem guten Teil überwunden. Vor allem: Gottsched gibt, wennschon weder sehr tiefe noch besonders beweiskräftige Gedanken, so doch überhaupt Gedanken.« 498 Schian: Orthodoxie und Pietismus, 130. 494

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entbehrlich erachteten Proposition samt Partition (dispositio thematis) durch einen schlichten, thetischen Hauptsatz, der im Abhandlungsteil durch einen Ober- und Untersatz bewiesen wurde und damit der Predigt ihr syllogistisch orientiertes Gerüst gab, das nachhaltig auf die materiale Ebene durchschlug. So kehrten die in der Tradition bekannten (ja ihrerseits ebenfalls an rhetorischen Mustern orientierten) Elemente einer Predigtdisposition (dispositio concionis) in äußerlichen Umrissen zwar wieder; ihre Funktion war aber zum Teil ganz neu bestimmt worden. Signifi kant war an dem neuen Predigtverständnis in redearchitektonischer wie auch in argumentativer Hinsicht das didaktisch motivierte Bemühen um logische, auf den Intellekt zielenden Transparenz. Dem Predigthörer sollte die gedankliche Aneignung einer sprachlich vermittelten res nach Möglichkeit erleichtert und diese in ihrem Aussagegehalt nachvollziehbar und überprüf bar gemacht werden. Während die homiletische Orthodoxie sich alle Mühe gab, die ihren Predigten zugrundeliegende, höchst artifi zielle Predigtdisposition in ihren Untergliederungen und Subdivisionen vor dem Ohr des Predigthörers zu verstecken, verfolgte der Auf klärer Gottsched das Prinzip argumentativer Klarheit. Das dahinterstehende Predigtverständnis war – anders als in der Orthodoxie, die die Evangeliumsverkündigung entschieden proklamatorisch-objektiv verstand – stärker dialogischsubjektiv ausgerichtet. Auf der Ebene des Form-Inhalt-Zusammenhanges setzte die formale Struktur der Predigt damit eine weitreichende theologische Vorentscheidung um: Die Predigt war nämlich, ihr eigentliches Thema als Teil eines großen theologischen Auf klärungsprojektes auffassend, darauf angelegt, unevangelischem »Köhlerglauben« zu begegnen,499 mithin zu einem bewußt angeeigneten, selbstverantworteten Glauben zu führen und somit der Sache der Reformation zur Durchsetzung zu verhelfen.500 Mit dieser auf selbsttäti499

Wie bereits oben zitiert, hatte Gottsched: AR 1736, 539 f. (GAW VII/3, 76,7–13) sein Predigtthema mit der konfessionsbewußten Ausgangsthese begründet: »Wir müssen bereit seyn dieselbe [sc. die christliche Hoffnung] gegen iedermann zu verantworten, und unserm Glauben die Schande nicht anthun, als wenn wir ihn aus Unverstand angenommen hätten. Eine andere Kirche mag sich an einem blinden Köhlerglauben gnügen lassen. Bey der Evangelischen Wahrheit müssen wir geschickt seyn, auch ihren Feinden zu begegnen, und selbst unsern Widersachern das Maul zu stopfen.« 500 Schon 1724 hatte Gottsched in seinem Gedicht auf Johann Gottlob Pfeiffer den Kampf gegen unevangelischen »Köhlerglauben« zur Aufgabe einer an vernünftiger Logik orientierten theologischen Arbeit erklärt. An Pfeiffer gewandt stellte Gottsched: Die Nothwendigkeit und Pfl icht, GAW I, 455,99–110 die gegen die Orthodoxie gerichtete Forderung auf: »Itzt fährst du weiter fort, und hilfst die Spöttereyen Der starkvermeynten Brut, durch die Vernunft, zerstreuen. Geselle dich demnach den großen Männern bey, Die solches längst gethan. Verwirf die Phantasey, Daß ein Theologus den Menschenwitz verlassen,

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ge Artikulations- und Begründungsfähigkeit des individuellen Glaubens angelegten Zielstellung korrelierten sowohl die formale Anlage als auch die argumentative Strategie der Predigt, indem die Aspekte logischer Stringenz und rationaler Durchsichtigkeit (perspicuitas) auf diesen Ebenen in den Mittelpunkt der homiletischen Reflexion einrückten. So verdeutlichten Redearchitektur und innere Argumentationsstruktur das leitende homiletische Bemühen, einen formulierten Gedanken auf dem Weg primär argumentativ-logischer, nicht affektiv-emotionaler persuasio an den Predigthörer zu vermitteln, und veranschaulichten somit auf gelungene Weise einige wesentliche Prinzipien der »philosophischen« Predigt. Ob es auch oder gerade dieses neue Gewand der Predigt war, das dazu führte, daß Gottsched die beabsichtigte Drucklegung seiner »geistlichen Rede«, die so ganz anders war als die Predigten aus der Schule der »Leipziger Predigerkunst«, bereits 1729 untersagt wurde, kann zwar vermutet, aber nicht bewiesen werden.501 Die Weisheit, die Vernunft und das Naturlicht hassen, Ja ganz verschwören muß. Sey stets der Wahrheit Freund, Dem Aberglauben gram, und aller Spötter Feind. Dein Beyspiel mache wahr, daß wohlerwiesne Lehren Des Glaubens Aehnlichkeit auf keine Weise stören; Daß Gott, der Weisheit Brunn, kein Freund der Tyranney, Und unser Lutherthum kein Köhlerglaube sey [. . .]«. Bereits zuvor hatte Gottsched: Widmung und Vorwort, GAW V/3, 206,4 f. das iudicium authoritatis als »einen blinden Köhlerglauben« verurteilt, »der in Wissenschaften noch weit lächerlicher ist, als in der Religion«. In seinem Predigtlehrbuch begründete Gottsched dann die homiletische Notwendigkeit einer an philosophisch-rhetorischer Beweislehre ausgerichteten Predigt mit der biblisch und kirchlich-theologischen gebotenen Kritik am »Köhlerglauben«: [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 31 f.: »Die evangelische Kirche behauptet [. . .], daß ein Christ keinen blinden Köhler-Glauben haben solle. Auch will der Apostel nicht, daß seiner Gemeine Glauben auf Menschen Worten beruhen solle. Folglich muß sich kein evangelischer Lehrer einbilden, daß seine Zuhörer auf sein Wort ihm alles, was er ihnen vorträgt, glauben müsten. [. . .] Selbst die Apostel verlangten es von ihren Leuten nicht, daß man ihnen schlechterdings auf ihr Wort Beyfall geben sollte. Sie beriefen sich vielmehr nach dem Exempel ihres Lehrers [sc. Christus], auf die Schriften des A. T. und die Berrhoenser werden ausdrücklich deswegen gelobt, daß sie in der Schrift geforschet, ob sichs auch so verhielte, wie ihnen die Apostel gesagt hatten. Was zeiget nun dieses anders, als daß ein evangelischer Redner, seinen Hauptsatz auch erweisen müsse. Er muß aber auch recht bündig beweisen, das ist so, daß der Verstand seines Zuhörers von der vorgetragenen Wahrheit völlig überführt werde.« – Zur Sache siehe auch A. Ritschl: Fides implicita: eine Untersuchung über Köhlerglauben, Wissen und Glauben, Glauben und Kirche, Bonn 1890. 501 Im Verhör vor dem Dresdner Oberkonsistorium im Herbst 1737 wurde Gottsched von den »Inquisitoren« neben den besonders inkriminierten homiletischen Partien der Ausführlichen Redekunst auch vorgehalten, daß er die Zensurbestimmungen verletzt habe, indem er »eine Predigt mit eindrucken laßen, welche die Theologische Facultaet Ao 1729 zu censiren erhebliches Bedencken gefunden«; Verhörprotokoll, zit. nach D. Döring: Die Philosophie, 146.

3 Der Grund-Riß einer Lehr-Arth

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3 Der »Grund-Riß einer Lehr-Arth ordentlich und erbaulich zu predigen« (1740) Seitdem Danzel in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Entstehung von Gottscheds anonym publizierter Homiletik in ihren wesentlichen Umrissen aus briefl ichen Quellen nachgezeichnet hat,502 besteht an der Autorschaft des Leipziger Philosophieprofessors für dieses Werk – trotz bis in die jüngste Zeit hineinreichender anderslautender Aussagen – nicht mehr der geringste Zweifel.503 Zu den für die Entstehung des Predigtlehrbuchs konstitutiven Bedingungen müssen von kirchengeschichtlicher Seite die preußische Kabinettsorder vom 7. März 1739, die den reformierten Kandidaten der Theologie in Preußen das Studium der Wolffschen Philosophie im Rahmen ihrer Predigtausbildung zur Vorschrift gemacht und nach deren Maßgabe Gottsched seine Homiletik ausgearbeitet hatte, sowie von homiletikgeschichtlicher Seite eine besondere Ausgangssituation gezählt werden, die den Grund= Riß zum ersten Predigtlehrbuch der homiletischen Auf klärung werden ließ.504 Während auf die kirchengeschichtlichen Bezüge im Zusammenhang mit den Aktivitäten der Protagonisten der Berliner Alethophilengesellschaft, Johann Gustav Reinbeck und Ernst Christoph Graf Manteuffel, näher ein502

Danzel: Gottsched, 40–48. Die richtigen Zuschreibungen überwiegen zwar bei weitem die falschen, von weitreichender Wirkung war aber die gegen Tholuck gerichtete wortreiche Bestreitung von Gottscheds Autorschaft bei Schian: Orthodoxie und Pietismus, 169 in Anm. 2, die innerhalb der theologischen Forschung vielfach rezipiert wurde, weil die Ausführungen Danzels wegen ihrer literaturgeschichtlichen Kontextualisierung wenig bekannt waren. Während Schian Reinbeck als Verfasser mit guten Gründen ausgeschloß, fand die Annahme von dessen Autorschaft im Gefolge von Schuler: Geschichte, Tl. 2, 155 mit Anm. a mehrfache Wiederholung. – Eine Bestreitung von Gottscheds Verfasserschaft im Anschluß an Schian begegnet zuletzt bei Hammann: Universitätsgottesdienst, 59 f. in Anm. 30; Reinbeck als Verfasser des Grund-Risses behaupten in der jüngeren Literatur Schütz: Geschichte der christlichen Predigt, 160; Fleischer: Einleitung, in: Mosheim: Anweisung erbaulich zu predigen, 88; H. M. Müller: Homiletik: eine evangelische Predigtlehre, 88; Ch. Albrecht: ». . . klare und belebende Darstellung der gemeinsamen inneren Erfahrung«: Schleiermachers Predigtweise, untersucht an seiner Neujahrspredigt 1807, in: Wegmarken protestantischer Predigtgeschichte: homiletische Analysen/ hrsg. von A. Beutel; V. Drehsen, Tübingen 1999, 130 in Anm. 95; unentschieden zeigt sich H. M. Müller: Homiletik, TRE 15, der an einer Stelle (ebd, 537,50 f.) Reinbeck, an anderer Stelle (ebd, 562,30) Gottsched als Verfasser nennt. – Eine singuläre Variante fi ndet sich bei H. Dalton: Daniel Ernst Jablonski: eine preußische Hofpredigergestalt vor zweihundert Jahren, Berlin 1903, 175 f., wo Reinbeck und Jablonski zu gemeinsamen Verfassern des Grund-Risses erklärt werden. 504 Dies hat bereits Schian: Orthodoxie und Pietismus, 160 mit Anm. 3 gesehen, wenn er im Grund-Riß »ohne jeden Zweifel die umfassendste, sorgfältigste und praktischste Predigtanweisung der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts« erkannte, von der er glaubte »beweisen zu können, daß jene [sc. Mosheims Anweisung erbaulich zu predigen; A. S.] vom Grundriß aus gesehen, auf keinen Fall mehr diejenige Bedeutung beanspruchen kann, die Peters ihr zuschreibt«. 503

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gegangen werden wird,505 soll sich der Blick an dieser Stelle auf die spezifische homiletikgeschichtliche Konstellation richten, in die hinein die Publikation des Grund=Risses erfolgte.506 Zunächst muß man sich vergegenwärtigen, daß bis 1740 eine für den akademischen Unterricht geeignete Homiletik, die den gewandelten gesellschaftlichen, kulturellen, theologischen und homiletischen Bedingungen durchgängig Rechnung trug, in auf klärerischen Kreisen schmerzlich vermißt wurde. Zwar konnten die weitverbreiteten Predigtlehrbücher des pietistisch beeinflußten und dem philosophischen Eklektizismus eines Buddeus verpfl ichteten Friedrich Andreas Hallbauer bzw. des frühverstorbenen pietistischen und ebenfalls eklektisch eingestellten Johann Jakob Rambach507 (1693–1735) bezüglich ihrer Kritik gegenüber orthodoxer Homiletik den Ansprüchen der Philosophie Wolffs genügen. Defizite hatten diese Homiletiken nach Wolffschem Empfi nden aber bei ihrer homiletischen Theorie, der ein als inkonsequent beurteiltes Interesse unterstellt wurde, sich mit der homiletischen Tradition auf einen faulen Kompromiß zu einigen.508 Demgegenüber konnten nun aber weder Gottscheds predigttheoretisches Kapitel in der Ausführlichen Redekunst noch Mosheims immer nur beiläufig geäußerte Überlegungen zu einer Theorie auf klärerischer Predigt 509 – sei es als Anhang zu seinen Heiligen Reden, als Vorredner oder im Rahmen seiner SittenLehre510 – das akute Bedürfnis nach einem akademischen Lehrbuch befriedi505

S. u. Kap. 3, Abschn. 3.3. Explizite Überlegungen zum homiletischen Gehalt von Gottscheds Grund-Riß stellen an E. Wolff: Gottscheds Stellung, Bd. 1, 192–194; Schian: Orthodoxie und Pietismus, 96 f. 160–163; Wieckenberg: Goeze und Gottsched, 247–250. Zur Entstehungsgeschichte und zeitgenössischen Kontextualisierung des homiletischen Lehrbuchs vgl. neben Danzel: Gottsched, 40–48 auch Waniek: Gottsched, 285–287; Wehr: Johann Christoph Gottscheds Briefwechsel, 143–147; Rieck: Johann Christoph Gottsched, 59–61; Stauffer: Erfi ndung und Kritik, 29. 507 Rambach: Erläuterung über die Praecepta Homiletica (1736. 21746). – Vgl. zu ihm die z. T. veralteten Arbeiten von Schian: Johann Jakob Rambach, 89–149; Schian: Orthodoxie und Pietismus, 56–59; Lischka: Johann Jacob Rambachs, passim; zu Rambach selbst siehe auch BBKL 7 (1994), 1299–1307; J. J. Rambach: Leben – Briefe – Schriften/ hrsg. von U. Bister; M. Zeim, Giessen 1993. 508 Rambach bewegte sich mit seiner Homiletik, die die lateinischen praecepta homiletica Joachim Langes zur Grundlage hatte, in der Tradition der homiletischen Kritik Halles. – Zu Hallbauers Kritik an orthodoxer Homiletik, die ebenfalls an der Halleschen Predigtauffassung orientiert war, vgl. insbesondere J. A. Hallbauer: Abhandlung von der homiletischen Pedanterey, in: ders.: Nöthiger Unterricht, Bl. )(2r-8r; auch abgedruckt in: Beiträge zur Beredsamkeit, Tl. 2 (1743), 201–246; zum ideengeschichtlichen Profi l von Hallbauers Kritik vgl. Strassberger: Die »Leipziger Predigerkunst«, 178–185. 509 Gottsched: Rede wieder die homiletischen Methodenkünstler, GAW VII/3, 130,32–34 bezeichnete trotz überschwenglichen Lobes für den Gedankenreichtum von Mosheims predigttheoretischen Überlegungen das ihnen eigene pädagogische und systematische Problem wie folgt: »Seine [sc. Mosheims] kurze Gedanken von der geistlichen Beredsamkeit, die er bey seinen Predigten gleichsam nur beyläufi g angehänget [. . .]«. 510 Mosheim: Heilige Reden, Tl. 13 (EA 1725), Bl. **2r-7v (Vorrede). – Mosheim: 506

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gen. Die Situation spitzte sich im übrigen je länger, je mehr zu,511 seitdem der Helmstedter Theologe der immer ungeduldiger wartenden Öffentlichkeit die gewünschte Homiletik zwar wiederholt ankündigte,512 dieses Vorhaben zu Lebzeiten aber nie einlöste.513

Heilige Reden, Tl. 22 (EA 1727), 239–288 (»Send=Schreiben an einen vornehmen Mann, über unterschiedliche Dinge«; zur Homiletik ebd, 251–269). – Ders.: Gedancken von der geistlichen Beredsamkeit (=Vorrede zu Carl Heinrich Lange: Geistliche Reden, Lübeck 1732, 21744), in: Johann la Placette: Kurtzer Unterricht, Wie man eine Predigt einrichten soll, Aus dem Frantzösischen übersetzt/ und nebst Herrn Abt Moßheims Entwurff seiner Gedancken von der geistlichen Beredsamkeit/ Herrn M. Grulichs Gedancken von der heutigen Art zu predigen/ Auch andern dahin gehörigen Auszügen, herausgegeben von Georgio Gottfried Roscio, Sorau 1734, 71–79; diese Vorrede danach in: B. Bieler: Kleine Sammlung Theologischer Gedancken von der Anima Concionum, Leipzig 1745 (Angabe nach Dyck/Sandstede: Quellenbibliographie, Nr. 1745/22); sowie u. d. T. »Abhandlung von den Pfl ichten eines geistlichen Redners« in: Beiträge zur Beredsamkeit, Tl. 3 (1745), 541–576; ferner in: J. L. v. Mosheim: Teutsche vermischte Abhandlungen die derselbe als Vorreden zu verschiedenen Büchern verfertiget hat. Gesamlet und mit einem richtigen Verzeichnisse aller übrigen Schriften desselben herausgegeben von M. Johann Peter Miller, Hamburg 1750, 217–228. – Ders.: Sitten-Lehre, Tl. 41, 501–516 (Kap. 2, §. 13). 511 Der in Vetschau (Niederlausitz) amtierende Pfarrer Georg Gottfried Roscius (gest. 1759), der in einem 1734 von ihm herausgegebenen Sammelband mit Schriften zur Homiletikreform die erwähnte, 1732 zuerst publizierte Vorrede Mosheims zu Langes Geistlichen Reden mit Erlaubnis des Verfassers abermals abdruckte, sprach eine allgemein geteilte Hoffnung wie folgt aus: G. G. Roscius: Vorrede, in: la Placette: Kurtzer Unterricht, Bl. )(4v: »Wenn es des Herrn Abts Hochw. Magnificenz gefiele, die schon längst versprochene Gedancken von der geistlichen Beredsamkeit völlig aufzusetzen und heraus zu geben, so würden wir endlich unter denen Deutschen was aufzweisen haben, das dem Placette, Claude, Ancillon, Osterwald, Roques, Huët, Villiers, Arnaud, Gisbert, Fenelon, Rollin und andern vorgezogen werden könte.« 512 Gleich im ersten Band seiner Heiligen Reden (1725) stachelte Mosheim die Erwartung des Publikums an: J. L. Mosheim: Heilige Reden über wichtige Wahrheiten der Lehre JESU Christi. Nebst den Gedanken von der Ewigkeit der Höllen=Strafen. Erster Theil. Neue Aufl age, Frankfurt und Leipzig 1741, Bl. )o( 6v: »Was ich sonsten sagen könnte, will ich in meinen Gedanken von der geistlichen Beredsamkeit melden, die ich zum Besten meiner Zuhörer heraus zu geben gesonnen bin.« Sieben Jahre später zeigte er sich schon nicht mehr so sicher: Mosheim: Abhandlung von den Pfl ichten eines geistlichen Redners, in: Beiträge zur Beredsamkeit, Tl. 3, 548: »Ich habe noch den Vorsatz nicht gänzlich niedergelegt, meine Gedanken von der geistlichen Beredsamkeit aufzusetzen. Ich bin nur durch die vielen Geschäfte, die meine Bedienungen mir auflegen, genöthiget worden, auff eine Zeitlang zu vergessen.« Im Jahr 1735 erfolgte eine letzte Vertröstung: Mosheim: SittenLehre, Tl. 41, 502: »Es ist lange, daß wir einen kleinen Vorrath von allerhand Erinnerungen, die das Predigen in unserer Kirche betreffen, gesammlet und uns entschlossen haben, dem öffentlichen Urtheil der Vernünftigen denselben zu unterwerfen. Es steht dahin, ob uns die Vorsehung des HERRN eine bequeme Zeit in dem Reste unseres Lebens anweisen werde, denselben so zu verbessern und einzurichten, daß er sich den Augen der Welt zeigen kan.« 513 Eine gedrängte Zusammenfassung seines homiletischen Systems bot Mosheim immerhin noch kurz vor seinem Tod: Mosheim: Pastoraltheologie, 77–142; seine Anweisung erbaulich zu predigten brachte bekanntermaßen aber erst sein Schwiegersohn, Christian Ernst von Windheim, 1763 postum zum Druck.

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Auf diesem Hintergrund verstanden sich die Klagen des ersten »Historikers« der Wolffschen Philosophie, Carl Günter Ludovici, der 1738, also zwei Jahre vor der Publikation von Gottscheds Predigtlehrbuch, in seiner Historie der Wolffi schen Philosophie den Ausbreitungsgrad der neuen Philosophie minutiös kartographierte und dabei für das homiletische Fach zwar eine ganze Reihe von Predigten verzeichnete, die dem Anspruch der demonstrativen Lehrart genügten,514 eine ebenso geartete Homiletik aber als Desiderat anmeldete.515 Zwar mochte er solche Anweisungen in auf klärerisch-antiorthodoxer Pointierung für eigentlich auch entbehrlich halten; 516 gleichwohl räumte der Redakteur des Zedlerischen Universal-Lexicons ein, »daß wenn man bey dem jetzigen Licht der Wissenschaften seine Geschicklichkeit auch an der Prediger-Kunst zeigen wolte; man hier insonderheit Gelegenheit hätte, sich sehen zu lassen«517. Als studierter Philosoph und Theologe ließ Ludovici es sich daher auch nicht nehmen, wenigstens die Richtung zu weisen, in der ein potentieller Verfasser eine wolffi sch-philosophischen Prinzipien genügende Homiletik abzufassen hätte: »Es ist die Prediger-Kunst ein practischer Theil der Gottes-Gelahrtheit, folglich hat man bey Ausarbeitung derselben beständig auf die Absichten der Predigten zu sehen. Die Absichten der Predigten sind Uberzeugung und Erbauung. Wie man beydes erlangen solle, da muß die Weltweisheit die Gesetze vorschreiben, und zu der letzteren Absicht wird auch eine philosophische Rede-Kunst das ihrige beytragen. Solchemnach kommet alles auf die Weltweisheit an. Diejenige Philosophie würde hierbey die meisten Dienste leisten, welche sowohl zur Uberzeugung anführet, als auch das innere Wesen der Seele mit allen ihren Eigenschafften und Bewegungen deutlich vorträget. Daß beydes vornehmlich von der Wolffischen Philosophie zu rühmen sey, ist eine ausgemachte Sache. Und so würde denn ein Wolffianer am geschicktesten seyn, eine vernünfftige Anleitung zu der Prediger-Kunst zu liefern.« 518 514 Unter den erwähnten Predigern begegnet am häufigsten der Name Reinbecks; fernerhin erscheinen Zur Linden, S. J. Baumgarten, D. E. Jablonski, J. H. Kreuschner, M. G. Minor u. a.; vgl. beispielsweise Ludovici: Ausführlicher Entwurf, Tl. 1 ( 31738), 169–171; ders.: Ausführlicher Entwurf, Tl. 2 (1737), 366–373. 383. 403–406; ders.: Ausführlicher Entwurf, Tl. 3 (1738), 386–391; ders.: Neueste Merckwürdigkeiten (1738), 258. 272– 295. 515 Ludovici: Neueste Merckwürdigkeiten, 295: »So viele Predigten ich bisher erzehlet habe, die seit kurzen an das Licht getreten sind, so wenige Einleitungen in die PredigerKunst wollen zum Vorschein kommen.« 516 Ludovici: Neueste Merckwürdigkeiten, 295: »Es mag auch solche die Welt gar füglich entbehren können. Denn wer wolte nicht die Einrichtung einer Predigt nach und nach begreifen, da man von Kindes-Beinen an wöchentlich ein oder mehrere Predigten höret, die alle nach einem Leisten geschlagen, oder deutlicher, die nach einer Vorschrifft eingerichtet sind? Und wie? betreten nicht die jungen Studenten, wenn sie kaum eine Woche die Academie besehen haben, schon die Kanzeln auf dem Lande, mit solchem Beyfall, daß man an der äußerlichen Gestalt ihrer Predigten nichts auszusetzen hat.« 517 Ludovici: Neueste Merckwürdigkeiten, 296. 518 Ludovici: Neueste Merckwürdigkeiten, 296.

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Wenn Ludovici am Ende seinen Lesern mit der erfreulichen Nachricht aufwartete, daß ein entsprechendes Werk bereits unter der Feder eines bekannten Gelehrten im Entstehen begriffen sei,519 so hatte sich der in der Regel sonst gut informierte Philosophiehistoriker im Hinblick auf den vermuteten Verfasser für dieses Mal getäuscht. Nicht wie behauptet Johann Andreas Fabricius,520 damaliger Adjunkt der Philosophischen Fakultät der Universität Jena, sollte mit seinen erst 1748 zum Druck gelangten Regeln der geistlichen Beredsamkeit 521 als erster die markierte Lücke schließen, sondern sein Konkurrent Gottsched. Immerhin zeigte Ludovicis durchaus plausible Spekulation, daß ein solches Projekt gewissermaßen in der Luft lag. Recht behielt Ludovici allerdings mit seiner die Methodik der erwarteten Homiletik betreffenden Vermutung. Denn Gottsched legte seiner homiletischen Theorie in der Tat eine rezeptionsgeschichtlich wegweisende, ganz an Wolffs Seelenlehre (Psychologie) orientierte Defi nition des Erbauungsbegriffs zugrunde, die als axiomatisches Prinzip das homiletische System plausibel strukturierte (Abschn. 3.1), so daß es dem gewandelten, nunmehr antischolastischen Wissenschaftsverständnis in der Theologie Genüge leisten und damit berechtigten Anspruch erheben konnte, die erste wirkliche Homiletik der Auf klärung zu sein. Mit diesem Vorgehen war eine signifi kante, für das 18. Jahrhundert folgenreiche Anthropologisierung des ehemals biblisch-ekklesiologischen Erbauungsbegriffs verbunden (Abschn. 3.2), deren durchschlagende homiletische Plausibilität die nach 1740 in kurzem Abstand publizierten weiteren homiletischen Lehrbücher Wolffscher Prägung eindrucksvoll veranschaulichten (Abschn. 3.3).

519 Ludovici: Neueste Merckwürdigkeiten, 296 f.: »Ich habe mich daher sehr gefreuet, als ich in Erfahrung gebracht habe, daß der berühmte Herr Johann Andreas Fabritzius seine nach mathematischer Lehr-Art abgefassete und auf die Wolffi sche Philosophie gegründete praecepta homiletica dem Drucke überlassen wolle. In diesem Manne fi ndet man beyde Eigenschafften, die von dem Verfasser einer solchen Schrifft höchsterforderlich sind. Er ist ein Weltweiser, er ist anbey auch ein Redner. So habe ich denn Ursache, ihn zu der Bewerckstelligung seines Vorhabens hiermit öffentlich aufzumuntern.« 520 Fabricius (vgl. zu ihm insbesondere oben Abschn. 1.3 in Anm. 115) gehörte neben Hallbauer und Gottsched zu den bedeutendsten Vertretern der rhetorischen (Früh-)Aufklärung, der mit der 1739 besorgten Neuausgabe seiner Philosophischen Oratorie (1724) unter dem Titel einer Philosophischen Redekunst den Schritt zur Wolffschen Demonstrationsmethode vollzog. 521 J. A. Fabricius: Regeln der Geistlichen Beredsamkeit, Leipzig und Wolfenbüttel 1748. – Dyck/Sandstede: Quellenbibliographie notieren neben dieser Ausgabe (ebd, Nr. 1748/6) eine vermeintliche Erstausgabe für das Jahr 1739 (ebd, Nr. 1739/10), für die aber weder sie noch ich ein Exemplar haben nachweisen können. Offenbar wurde die Ankündigung Ludovicis als Fakt behandelt und fand so Verbreitung in der Literatur; vielleicht liegt aber auch nur eine Verwechslung mit Fabricius’ rhetorischem Lehrbuch von 1739 vor, in dem ein Kapitel der Homiletik gewidmet war: Fabricius: Philosophische Redekunst, 214–229 (§§. 364–384).

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Kapitel 2: Gottscheds Theorie der »philosophischen« Predigt

3.1 Axiomatik und Gliederung des homiletischen Systems: »Erbauung« als Strukturprinzip Gottscheds Homiletik, zu deren Entstehung ein knapper Selbstbericht aus der Feder ihres Verfassers vorliegt,522 erschien erstmals auf der Ostermesse des Jahres 1740 unter dem vom Stifter der Berliner Alethophilengesellschaft, Ernst Christoph Graf Manteuffel, vorgeschlagenen Titel: 523 Grund-Riß einer Lehr-Arth ordentlich und erbaulich zu predigen nach dem Innhalt der Königlichen Preußischen Cabinets-Ordre vom 7. Martii 1739.524 Nach dem Tod des – gleich Gottsched – zu den Mitgliedern jener Auf klärungssozietät zählenden und an der Publikation des Predigtlehrbuchs mitbeteiligten Berliner Propstes Johann Gustav Reinbeck kam es drei Jahre darauf zu einer zweiten Auflage,525 die mit einer an Graf Manteuffel gerichteten Widmung versehen war und einige textliche Ergänzungen und Präzisionen aufwies. Ihr gleichfalls veränderter Titel formulierte das homiletische Hauptanliegen Gottscheds nun wesentlich prägnanter und präziser als die erste Auflage: Grundriß einer überzeugenden Lehrart im Predigen.526 Neben der bereits erwähnten, für die 522

Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 49,21–50,33. Vgl. Danzel: Gottsched, 47 f. 524 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth; Bibliographie des Titels mit verschiedenen Besitznachweisen auch bei Dyck/Sandstede: Quellenbibliographie, Nr. 1740/13; ich habe ein Exemplar der UB Leipzig (Prak.Theol. 703) benutzt, das auf eine Schenkung Graf Manteuffels zurückgeht; zu dieser Schenkung, die in provokativer Absicht zusammen mit einer ganzen Sammlung einschlägiger Wolff-Schriften erfolgte, vgl. D. Döring: Die Philosophie, 85 in Anm. 315; ders.: Beiträge zur Geschichte der Gesellschaft der Alethophilen in Leipzig, in: Gelehrte Gesellschaften im mitteldeutschen Raum, Tl. 1 (2000), 123 in Anm. 114. 525 Mehr als eine zweite Aufl age habe ich nicht nachweisen können, auch gibt es keine Hinweise auf Doppel- oder Raubdrucke. Daher ist die Bemerkung bei Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 50,33, daß seine Homiletik »bereits etliche mal wieder gedruckt worden« sei, wohl unzutreffend. Da Gottsched selbst in einer Anmerkung zu J. G. Reinbeck: Nachgelassene kleine Schriften, nebst zwoen Vertheidigungsschriften und einem dem seligen Manne gestifteten Ehrengedächtnisse, Berlin 1743, Bl. a4r in Anm. *) zum Grund-Riß notierte: »Dieß Werk ist zum erstenmal 1740 mit einer Einleitung des s[eligen] Herrn Reinbecks, dieß Jahr aber 1743 zum andernmale verbessert herausgekommen«, kann eine von GV 51, 260 für 1741 bei Haude in Berlin behauptete, jedoch ebenfalls nirgends nachweisbare Ausgabe ausgeschlossen werden. 526 [ J. Ch. Gottsched:] Grundriß einer überzeugenden Lehrart im Predigen, nach dem Innhalte des königl. preuß. allergnädigsten Befehls, vom 7 März des 1739 Jahres, entworfen. Nebst weil. Herrn D. Joh. Gustav Reinbecks [. . .] Vorberichte, wie eine gute Predigt abzufassen sey, und D. Eachards Tractate, von der Verachtung der Geistlichen. Zweyte vermehrte Aufl age, Berlin 1743; mir stand ein Exemplar der Universitätsbibliothek Breslau (Signatur: 310870) zur Verfügung; vgl. die Bibliographie dieses Exemplars auch in: Biblioteka Uniwersytecka we Wrocławia: Katalog druków XV-XVIII w. z zakresu poetyki i retoryki zstawil Adam Skura, Wrocław 1987, 42; ein weiteres Exemplar der zweiten Aufl age befi ndet sich in der Bibliothek des Benediktinerstifts Kremsmünster; Bibliographie dieses Exemplars bei Dyck/Sandstede: Quellenbibliographie, Nr. 1743/ 9,1. 523

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erste Auflage nicht mehr rechtzeitig fertiggestellten und deshalb zunächst separat publizierten Übersetzung des pastoraltheologischen Traktats von John Eachard 527 sowie zwei im Anhang befi ndlichen homiletischen Lehrtexten ausländischer Provenienz528 enthielt die Homiletik einen umfangreichen, auf den 26. April 1740 datierten Vorbericht Reinbecks,529 ferner einen Abdruck der Kabinettsorder vom 7. März 1739530 sowie eine Vorrede des anonymen Autors, also Gottscheds,531 in der er sich über seine Arbeit programmatisch erklärte. Daran schloß sich der fast 500seitige homiletische Theorieteil an.532 (Nur nebenbei sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß Gottsched sich erst 1762 öffentlich zu seiner Verfasserschaft bekannte,533 in-

527 Eachard: Untersuchung der Ursachen; danach in [Gottsched:] Grundriß einer überzeugenden Lehrart, 489–642; vgl. zu Eachards Text E. Wolff: Gottscheds Stellung, Bd. 1, 194 f. sowie oben in Abschn. 2.2.3 in Anm. 419. 528 Im separat paginierten Anhang des Predigtlehrbuchs ([Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 1–53; 2. Zählung) befi nden sich ebd, 1–24: I. Betrachtung über die Beredsamkeit und über den Redner, aus dem frantzösischen Buche eines ungenannten la Langue genannt, übersetzt (s. o. in Abschn. 2.2.2 in Anm. 394); ebd, 25–53: Humanae Doctrinae Usus & Commendatio Concio ad Clerum habita in Templo Beatae Mariae Cantabrigiae 24. die Julii 1719. Autore Pawlet St. John. S. T. P., Londini 1720; beide Texte auch in der zweiten Aufl age: [Gottsched:] Grundriß einer überzeugenden Lehrart, 643– 664. 665–688. 529 J. G. Reinbeck: Vorbericht und Einleitung zu einer ordentlichen und erbaulichen Lehr-Art im Predigen, in: [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, Bl. a2r-h7v (2. Aufl.: [Gottsched:] Grundriß einer überzeugenden Lehrart, I–LXXX). – Neben einigen editorischen Bemerkungen bot Reinbecks Einleitung eine in neun (ausführliche) Regeln gefaßte, durch einen Befehl Friedrich Wilhelms I. veranlaßte homiletische Anwendung der Kabinettsorder vom 7. März 1739 für die lutherischen Prediger und Predigtamtskandidaten Preußens. 530 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, Bl. h8r-i3v (2. Aufl.: [Gottsched:] Grundriß einer überzeugenden Lehrart, Bl. *5r-7v). 531 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, Bl. i4r-i8v (2. Aufl.: [Gottsched:] Grundriß einer überzeugenden Lehrart, 1–8 der separaten Paginierung vor dem homiletischen Hauptteil; hier merkwürdigerweise auf September 1739 datiert); eine Vorrede zur 2. Aufl. fi ndet sich ebd, Bl. *1r–4v. 532 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 1–492 (2. Auf.: [Gottsched:] Grundriß einer überzeugenden Lehrart, 1–486). 533 Dies erfolgte im autobiographischen Vorwort zur siebenten Aufl age (1762) seines philosophischen Lehrbuchs; falsch ist die von P. Mitchell geäußerte Behauptung (GAW XII, 446), Gottsched habe sich bereits in der sechsten Aufl ag zur Weltweisheit (1756) zur Verfasserschaft bekannt. – Unklar ist, wieso Gottsched in der nur wenig später publizierten Lebensbeschreibung seiner 1762 verstorbenen Frau erneut den Eindruck erweckte, als sei Reinbeck der Verfasser der Homiletik: Gottsched: Leben, GAW IX/2, 524,28–30: »Als nun der Herr Propst Reinbeck, über die königl. preußische Verordnung, von besserer Einrichtung der Predigten, eine so betitelte Lehrart ordentlich und erbaulich zu predigen, ans Licht stellete; [. . .]«. Vor 1762 führte Gottsched selbst enge Briefpartner, wie z. B. den Kremsmünsterer Benediktinerpater Rudolf Graser oder Johann Gottfried Reichel, über den tatsächlichen Autor noch in die Irre, indem er meistens Reinbeck als Verfasser ausgab oder zumindest insinuierte.

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offiziell jedoch spätestens 1747 als Autor enttarnt war534 und noch viel eher als solcher spekulativ gehandelt wurde.) 535 In der Vorrede begründete Gottsched seinen »philosophischen«, d. h. auf »eine deutliche, überzeugende und rührende Art des Vortrages«536 zielenden, rationalistische537 und emotionale Anteile verknüpfenden Predigtansatz in einer für den theologischen Wolffianismus signifi kanten Weise. Er verband nämlich – wie die oben analysierte Beispielpredigt aus Gottscheds Feder bereits gezeigt hat – ein religionsapologetisch motiviertes Element 538 mit 534

In: Kurze Fragen aus der Kirchen=Historia des Neuen Testaments Nach der Methode Herrn Johann Hübners bis auf gegenwärtige Zeit continuiret Und mit einem vollstündigen Register versehen. Dritte Fortsetzung, Jena 1747, 741 heißt es, daß der Verfasser des Grund-Risses einer Lehr-Arth »ein gewisser schon gedachter Professor in Leipzig seyn soll«, womit im Zusammenhang der Ausführungen nur Gottsched gemeint sein konnte. Der Königsberger Theologe Michael Lilienthal, der durch seine Mitgliedschaft in der dortigen Deutschen Gesellschaft selbst über gute Verbindungen nach Leipzig verfügte, gab kurz darauf – sei es aufgrund eigener Informationen oder auf Basis von Hübner – in einer Bibliographie homiletischer Literatur Gottsched explizit als Autor an: M. Lilienthal: Theologisch=Homiletischer Archivarius, In welchem die beste und meistentheils neueste Schriftsteller nach vorhergegangenen guten und sorgfältigen Prüfung, angezeiget werden, Welche Ueber die vornehmsten Materien, die in alle Theile der Gottesgelahrtheit einschlagen, geschrieben haben, Königsberg und Leipzig 1749, 29. – Auch [Heinsius:] Unpartheyische Kirchen-Historie, Tl. 3 (1754), 741 insinuierte um die Jahrhundertmitte unverblümt Gottsched als Verfasser: »Der seel. Reinbeck entwarf nicht nur selbst nach jener Vorschrift [sc. die preußische Kabinettsorder von 1739; A. S.] eine kurze Einleitung, wie man erbaulich predigen solle, sondern sorgte auch dafür, daß jemand (welches ein gewisser schon gedachter Professor in Leipzig seyn soll) eine ausführliche Anweisung nach dem königlichen Entwurf verfertigte [. . .]«. 535 Während der der Alethophilengesellschaft nahestehende Meuselwitzer Pfarrer Heinrich Cornelius Hecker (1699–1743) in einem an Gottsched adressierten Brief diesen bereits 1741 als Verfasser identifi zierte (D. Döring: Geschichte der Deutschen Gesellschaft, 133), legte auch ein Rezensent (Friedrich Wilhelm Kraft?) der zweiten Aufl age des Predigtlehrbuchs wenig später Gottscheds Autorschaft nahe: Nachrichten von den neuesten theologischen Büchern und Schriften 3 (1744), 336: »[. . .] und wir werden je länger je mehr in der Vermuthung bestärcket, daß Leipzig die eigentliche Vaterstadt dieses Grundrisses und der Verfasser desselben ein berühmter Mann daselbst sey, der sich um die Beredsamkeit der Deutschen besonders verdient gemacht, den geistlichen Rednern aber, so sich von den Regeln der wahren Beredsamkeit zu sehr entfernen, in seinen andern Schriften gar oft den Text gelesen hat.« 536 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, Bl. i7v; ich weise die Zitate aus Gottscheds Homiletik im folgenden lediglich nach der ersten Aufl age nach. 537 Ich verstehe den homiletischen Rationalismus Gottscheds als ein von seiner Psychologie (Dependenz des Willens vom Verstand) abhängiges philosophisches Erkenntnisprinzip. Daher kann ich der undifferenzierten Wertung bei E. Wolff: Gottscheds Stellung, Bd. 1, 193 nicht ungeteilt folgen, der zu Gottscheds homiletischem Lehrbuch tendenziös bemerkte: »Denn was Gottsched bot, war der auf Paragraphen gezogene krasse Rationalismus.« Mit Hirsch: Geschichte, Bd. 2, 419 ist gegen die theologiegeschichtliche Denunziation des auf klärerischen Rationalismus prinzipiell daran zu erinnern: »Nun ist der theologische Rationalismus eine Bestimmung des Denkverfahrens und keine Vorentscheidung über den Denkinhalt.« 538 Vgl. für diesen Zusammenhang Hirsch: Geschichte, Bd 2, 421: »Es ist ein apologe-

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einem seelsorgerlichen Aspekt, ein Kausalnexus, der sich für Gottsched aus der Analyse eines gesellschaftlichen Wandlungsprozesses ergab. Er meinte nämlich, daß nicht nur »in unsern Tagen durch den besondern Fleiß vieler gelehrter Männer in allerley Wissenschaften und freyen Künsten, auch den Lehrern der Religion mancher Vortheil zugewachsen«539 ist. Vielmehr hätten auch »die Feinde der Offenbahrung [. . .] nach ihrer Art ein vieles dazu beygetragen. Denn indem sie die Wahrheit und Gewißheit der Christlichen Religion aufs schärfste angefochten, haben sie die Lehrer des Glaubens behutsamer gemacht und ihnen Anlaß gegeben, auch die Waffen der Vernunft hervorzusuchen: um dadurch theils die Thorheit der Religions=Spötter in ihrer völligen Blösse zu zeigen, theils auch die Uebereinstimmung der Schrift mit den ewigen und nothwendigen Wahrheiten der Vernunft besser ins Licht zu setzen.« 540

Aus dieser theologisch-religionsapologetischen Konstitutionsbedingung der Predigt ergab sich ihre spezielle seelsorgerliche Relevanz. Denn: »Auch mitten in der Gemeine GOttes fi nden sich oft solche Feinde geoffenbarter Wahrheiten, denen man gebührend begegnen muß. Oder es gibt doch wenigstens schwache Gemüther, denen es zu schwer wird, sich gewisser Zweifel zu erwehren, die ihnen bey gewissen Glaubens-Lehren und Lebenspfl ichten des Christenthums einfallen. Beyde Arten von Zuhörern stossen sich oft an einem gar zu sichern Vortrag dieser hohen Wahrheiten, und nehmen daher Gelegenheit die Sachen selbst zu verspotten, die doch meistentheils nur durch eine entweder gar zu nachläßige, oder allzukünstliche Lehr-Art so unscheinbar und anstößig geworden. Nichts ist also bey solcher Beschaffenheit unserer Zeiten nöthiger, als eine deutliche, überzeugende und rührende Art des Vortrages in den öffentlichen Versammlungen der Christen, wofern man nicht die Wahrheit ihren Feinden zu Preis geben, und den Spöttern unsrer Zeiten, bey aller ihrer Unvernunft, den völligen Sieg über die Religion einräumen will.« 541

An diesem Punkt konstatierte Gottsched hinsichtlich der homiletischen Zielvorgabe Übereinstimmung mit der Intention der preußischen Kabinettsorder,542 als deren Auslegung sein Predigtlehrbuch erklärtermaßen auftrat. Er machte – die eigentlichen Initiatoren des Predigtlehrbuchs im dunklen lassend – nur vage Angaben über dessen Entstehung. Um so klarer führte er aber hinsichtlich der leitenden Interessen aus: »Ob nun wohl diese hohe Verordnung fast alles dasjenige in sich hält, was ein Evangelischer Redner in dem öffentlichen Vortrage Göttlicher Wahrheiten zu beobachten hat«, habe tischer Gesichtspunkt, der diesen ersten deutschen Rationalisten [sc. den »Wertheimer Bibelübersetzer« Johann Lorenz Schmidt; A. S.] leitet, und apologetisch ist der ganze deutsche Rationalismus geblieben.« 539 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, Bl. i6v. 540 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, Bl. i6v-7r. 541 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, Bl. i7r-v. 542 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, Bl. i7v-8r.

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man es für gut gehalten, »eine ausführliche Erläuterung des oft gedachten Königlichen Befehls« anzufertigen, die »dem heutigen Zustande der Gelehrsamkeit in allem gemäß wäre« 543. Dieses wissenschaftlich motivierte Interesse an einer zeitgemäßen Homiletik hatte Gottsched bereits im Eingangsteil der Vorrede begründet. Denn er erkannte einen theorierelevanten Zusammenhang von theologischer Bedeutung und formaler Anlage bzw. wissenschaftlicher Reflexion der Formalprinzipien der Predigt darin, daß »der wahre Glaube aber, aus welchem auch das gottselige Leben herfl iessen muß, nicht aus unmittelbaren Eingebungen; sondern wie Paulus lehret, aus der Predigt des Evangelii seinen Ursprung nimmt: So wird ja wohl ein jeder von sich selbst begreifen, daß auf die gute Einrichtung der Predigten sehr viel ankömmt«544. Die Entscheidung darüber, was eine »gute Einrichtung« der Predigt aber begründet ausmacht, betrachtete Gottsched implizit als Thema einer auf praktische Anwendung zielenden wissenschaftlich-homiletischen Reflexion, die in Anerkenntnis des Redecharakters der Predigt nicht nur (wie die Orthodoxie) die theologischen Implikationen des Predigtgeschehens in den Blick zu nehmen hatte, sondern auch und vor allem die anthropologischen. In für den theologischen Wolffianismus typischer Traditionsgebundenheit hielt er daher zwar an der für den Verkündigungserfolg entscheidenden und unter dem Predigtakt mitlaufend gedachten göttlichen Wirksamkeit der Predigt auch ausdrücklich fest, forderte aber – wie er zunächst mehr andeutete als darlegte – den »guten Vortrag« der Predigt ein, der gleichermaßen den Verstand (»rechte Ueberzeugungen«) und Willen (»guten Nachdruck«) der Zuhörer berücksichtigen sollte.545 Von dieser zwischen theologisch-dogmatischer und rhetorisch-philosophischer Perspektive vermittelnden Position 546 aus ergab sich auch sein Widerspruch gegen die (unterstellten) homileti543

Alle Zitate [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, Bl. i8r. [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, Bl. i4r-v. 545 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, Bl. i4v: »Das Wort GOttes hat zwar allemal eine Kraft, die seinem hohen Ursprunge gemäß ist: Allein die Erfahrung lehret gleichwohl, daß auch sehr viel auf den guten Vortrag desselben ankömmet, wenn jenes in dem verderbten Hertzen der Menschen, leicht Eingang fi nden, rechte Ueberzeugungen wircken, und guten Nachdruck haben soll.« 546 Vgl. [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 11 f. (Hervorhebung A. S.): »Nun wird man zwar einwenden, daß die Apostel sich keiner weltlichen und künstlichen Beredsamkeit befl issen, auch sich wohl ausdrücklich erkläret hätten, daß sie nicht mit hohen Worten, welche menschliche Weisheit lehret, zu ihren Gemeinnen gekommen wären. [. . .] Allein es ist ganz eine andere Frage, ob nicht diejenige natürliche und ungezwungene Beredsamkeit, von ihnen besessen und angewendet worden, die sich bey muntern Köpfen allezeit fi ndet, wenn sie zumal mit Ernst und Eifer von solchen Dingen reden, davon sie selbst vollkommen überzeugt sind. [. . .] Hohe Worte machen das Wesen der wahren Beredsamkeit nicht aus, sondern ein nach Beschaffenheit der Sachen eingerichteter und lebhafter Ausdruck, der wichtige Dinge deutlich vorträgt, und sie mit bündigen Beweis- und Bewegungs-Gründen unterstützet, ist von unendlich höhern Werthe. Und dieses ist es 544

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schen Abwege in Pietismus und Orthodoxie, nämlich einerseits unwissenschaftlicher Regellosigkeit,547 andererseits wissenschaftspervertiertem Regelzwang,548 denen gegenüber er als auf klärerischen Mittelweg 549 die recht bestimmte homiletische Aufgabe, die »Erbauung« des Predigthörers, setzte.550 Diese ergab sich für Gottsched aus einer predigtgegenstands- und hörerbezogen zu ermittelnden Verhältnismäßigkeit von rationalen (»Deutlichkeit des Vortrags«) und emotionalen (»überzeugenden und eindringenden Lehr-Art«) Anteilen. Die unter dem Stichwort der »Erbauung« subsumierte, dem homiletischen Lehrbuch als organisierende Mitte zugrunde gelegte Systematik erläuterte Gottsched selbst jedoch nicht näher im Vorwort, sondern behielt es sich vor, sie als genuinen Teil der homiletischen Theorie in einem diesbezüglichen Grundlagenkapitel abzuhandeln. Er folgte mit einem solchen Vorgehen einer schon in der Ausführlichen Redekunst für die Rhetorik angewandten Methode, wo er die Architektur der rhetorischen Theorie bzw. die konkreten rhetorischen Regeln aus der Bestimmung des Zweckes einer Rede deduktiv ableitete und sodann nach demonstrativer Lehrart in ihrem Zusammenhang entwickelte und erläuterte. Nachdem auf diese Weise bereits die Rhetorik ein Gewand neuer Wissenschaftlichkeit 551 erhalten hatte, sollte dieses Verfahren nun unproblematische Anwendung auf die Homiletik finden. Nach einer »historischen« Einleitung zur Geschichte der geistlichen Beredsameben, was man in den Schriften der Bothen JEsu durchgehends antrifft: obgleich auch eine höhere Kraft überall hervorleuchtet.« 547 So dürften sich Prediger nicht »nur den innerlichen Trieben des Geistes GOttes, als derer sie sich noch heute zu Tage rühmen könten, oder vielmehr ihrer Regellosen Einbildungs Kraft überlassen, und, wie sie zu reden pflegen, ohne alle Vorbereitung aus dem Hertzen predigen«; [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, Bl. i5v. 548 An barock-orthodoxe Prediger richtet [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, Bl. i5v den Vorwurf, sie hätten »die Lauterkeit Göttlicher Wahrheiten, mit vielem eiteln unlautern Menschen-Witze, und mit weit-hergesuchten Künsten verstellet«. 549 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, Bl. i6r forderte, »sich weder in dem Vortrage der himmlischen Wahrheiten gar zu nachläßig und sorglos zu bezeigen, noch auch den tyrannischen Gesetzen einer gar zu gekünstelten und gezwungenen Lehr-Art sich zu unterwerffen«. 550 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, Bl. i5r: »Ueberhaupt aber haben sie [sc. die grössesten Lehrer der christlichen Religion zu allen Zeiten] sich diese Regel gemacht, daß ein öffentlicher Lehrer sich des guten Vortrags vor allen Dingen der Deutlichkeit, und so dann einer, so viel als möglich ist, überzeugenden und eindringenden Lehr-Art befleissigen müsse, wenn er seine Haupt-Absicht, das ist, die Erbauung seiner Gemeine erlangen wolle.« 551 Vgl. zur Einforderung der demonstrativen Lehrart als Kriterium der Wissenschaftlichkeit Gottsched: Erste Gründe der gesamten Weltweisheit, GAW V/1, 203,3–204,4: »159. §. Wer einen Satz demonstriren, oder aus unläugbaren Gründen, das ist, aus Erklärungen, Grundsätzen und klaren Erfahrungen durch eine Reihe richtiger Vernunftschlüsse erweisen kann; der hat eine Wissenschaft von demselben. Es ist also die Wissenschaft eigentlich eine Fertigkeit zu demonstriren.«

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keit,552 die primär legitimatorische Absichten verfolgte,553 handelte Gottsched daher im zweiten Hauptstück »Von der Erbauung, als dem Hauptzweck eines evangelischen Redners, und der daraus fl iessenden Natur der geistlichen Beredsamkeit« 554 und legte auf diese Weise seiner Predigttheorie – wie man in heute geläufiger homiletischer Terminologie sagen würde – eine prinzipielle Homiletik zugrunde.555 Die Umsetzung dieses Gedankens gestaltete sich nach den zurückliegenden Ausführungen wenig überraschend. Aus der Reflexion des Erbauungsbegriffs wurde eine Gliederung für die homiletische Theorie gewonnen, die sich im wesentlichen am Aufriß des in der Ausführlichen Redekunst entwickelten (und im Zusammenhang mit der Analyse von Gottscheds Beispielpredigt bereits mitgeteilten) allgemeinen Redemodells orientierte. Die Begründung für die jeweilige Legitimität und Plausibilität einer homiletischen Entscheidung folgte ebenfalls den im Rahmen der Rhetorik vorgebrachten Argumenten. Nach der noch zur prinzipiellen Homiletik gehörenden Erörterung der »einem evangelischen Prediger nöthigen Vorbereitung und Eigenschaften«556 wurden daran anschließend im vierten bis zehnten Hauptstück die einzelnen, rhetorisch-philosophisch geforderten Teile einer Predigt (Hauptsatz, Eingang, Erklärung, Beweis etc.) behandelt, und zwar nach Maßgabe der auf klärerisch reformierten inventio-Lehre.557 Im elften bis vierzehnten Hauptstück entwickelte Gottsched dann die noch übrigen rhetorisch-homiletischen Bearbeitungsphasen der Predigt (dispositio, elaboratio/elocutio, pronuntiatio) in homiletischer Perspektive. Die wissenschaftssystematische Neuerung Gottscheds läßt sich dabei vielleicht am einfachsten im Vergleich mit Hallbauers 1723 erstmals erschienener Homiletik zeigen. Während Gottscheds Predigtlehrbuch den oben skizzierten Aufriß bot,558 wies seine Gliederung mit der Hallbauers v. a. im er552 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 1–22: 1. Hauptstück, Von dem Ursprunge und den Schicksalen der geistlichen Beredsamkeit, bis auf unsere Zeiten. 553 Der insgesamt ungeschichtliche (gegen Schian: Orthodoxie und Pietismus, 160 in Anm. 3) Charakter von Gottscheds Homiletik bzw. der ihr vorgeschalteten historischen Einleitung hat mit der deduktiven Ableitung der homiletischen praecepta aus einem »philosophischen« Wesens-Begriff der Homiletik zu tun, wie er für die rationalistische Regelpoetik analog von Birke: Gottscheds Neuorientierung, 575 formuliert wurde: »Gottsched tritt also mit dem Anspruch auf, seine Regeln seien natürliche, also ewige und unverbrüchliche Gesetze [. . .]«. 554 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 22–53. 555 Vgl. für die heuristisch zwar sinnvolle, praktisch aber durchaus problematische Unterscheidung von prinzipieller, materialer und formaler Homiletik Müller: Homiletik, TRE 15, 526,53–527,28. 556 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 53–80 (3. Hauptstück). 557 Vgl. zu diesem ganzen Komplex Stauffer: Erfi ndung und Kritik, passim. 558 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth (Hst. = Hauptstück): I. Hst.: Von dem Ursprunge u. den Schicksalen der geistlichen Beredsamkeit bis auf unsere Zeiten.

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sten Teil zwar auch Gemeinsamkeiten auf,559 die beider Zugehörigkeit zur Gruppe der rhetorischen Frühauf klärer unterstreicht. Ein näherer Blick offenbart aber auch Differenzen (v. a. im zweiten Teil), die damit zu tun haben, daß Hallbauer als ein unter dem Einfluß eklektischer Philosophie stehender Predigttheoretiker den bewußten Ausgleich mit der orthodoxen Tradition suchte,560 die eine Bearbeitung der Homiletik als rheorica sacra, d. h. vor allem als homiletische Textwissenschaft, verfochen hatte. Eine solche, für die Gottschedzeit typische Gleichzeitigkeit von homiletisch ungleichzeitigen Konzeptionen dokumentieren im übrigen auch die homiletisch einschlägigen Beiträge im »Zedler«, wo unter verschiedenen Stichworten das II. Hst.: Von der Erbauung, als dem Hauptzweck eines evangelischen Redners, und der daraus fl iessenden Natur der geistlichen Beredsamkeit. III. Hst.: Von denen einem evangelischen Prediger nöthigen Vorbereitung und Eigenschaften. IV. Hst.: Von den Hauptsätzen geistlicher Reden. V. Hst.: Von den Eingängen der geistlichen Reden. VI. Hst.: Von den Erklärungen der Haupt-Sätze. VII. Hst.: Von den Beweißgründen, womit ein Haupt-Satz bestärcket wird. VIII. Hst.: Von der Beantwortung der Einwürfe. IX. Hst.: Von den Bewegungs-Gründen und der Erregung und Dämpffung der Gemüths-Bewegungen. X. Hst.: Von den Illustrantibus oder Erläuterungen. XI. Hst.: Von der Disposition, oder Anordnung der Rede. XII. Hst.: Von der Ausarbeitung einer geistlichen Rede und der Schreibart überhaupt. XIII. Hst.: Von den Hülfs-Mitteln und Zierrathen der guten Schreibart. XIV. Hst.: Von dem anständigen Vortrage einer geistlichen Rede. 559 Die Gliederung von Hallbauer: Nöthiger Unterricht ( 51747) ist identisch mit der Erstausgabe 1723: Erster Theil. Cap. I: Von der Historie der Homilie. Cap. II: Von der Homilie überhaupt. Cap. III: Von den Stücken, welche von einem Prediger erfordert werden. Cap. IIII: Von den Hülfsmitteln, deren sich ein Prediger zu bedienen. Anderer Theil. Cap. I: Vom Text und dessen Erwehlung. Cap. II: Wie man den Verstand eines erwehlten Textes zu suchen habe. Cap. III: Von der Abhandlung des Textes. [=analytische Predigt] Cap. IIII: Von der Abhandlung einer aus dem Text fl iessenden Lehre. [=synthetische Predigt] Cap. V: Von der erbaulichen Anwendung des Textes, und einer abgehandelten Lehre. Cap. VI: Von der Ausarbeitung der Predigt. Cap. VII: Von den äusserlichen Stücken, die bey Ablegung einer Predigt zu beobachten sind. Dritter Theil. Cap. I: Von Casual=Predigten. Cap. II: Von Casual=Reden. Cap. III: Von Catechisiren. 560 Zu Hallbauers eklektischem Ansatz bei seiner Kritik orthodoxer Homiletik siehe nochmals Strassberger: Die »Leipziger Predigerkunst«, 178–185.

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Kapitel 2: Gottscheds Theorie der »philosophischen« Predigt

orthodoxe und auf klärerische Predigt- und Homiletikverständnis nebeneinander dargelegt werden.561 Nicht anders als in der pietistischen Homiletik bildete dabei der neue hörer- und nicht mehr textbezogene Erbauungsbegriff die Grundlage für die Kritik an orthodoxer Predigt und eine darauf auf bauende Neukonzeption der Homiletik,562 die bei Gottsched – und dies charakterisierte seinen auf klärerischen Standpunkt – im Vorzeichen der Wolffschen Psychologie stand. 3.2 Die Anthropologisierung des Erbauungsbegriffs Gottscheds Bemühungen um eine defi nitorische Klärung des (homiletischen) Erbauungsbegriffs fügten sich in dessen neuzeitliche begriffsgeschichtliche Transformationsphase ein,563 über die hinsichtlich ihrer Gesamtentwicklung, insbesondere aber bezogen auf den Gang im 18. Jahrhun-

561 Das »exegetische« Homiletikverständnis der Orthodoxie wird formuliert in: [Anonym:] Methode (Prediger=), in: Zedler 20 (1739), 1306: »Methode (Prediger=) Methodus homiletica, ist eine Wissenschaft den Biblischen Text also zu handeln, daß aus demselben vorgestellet wird, was entweder nach den ausdrücklichen Worten darinnen lieget, oder was aus demselben durch einen rechtmäßigen Schluß folget«; parallel dazu wird das neue, auf klärerische Homiletikverständnis auf den Punkt gebracht in [Anonym:] Predigerkunst, in: Zedler 29 (1741), 246: »Predigerkunst, Homiletick, Geistliche Beredsamkeit, Oratoria Sacra, ist diejenige Wissenschaft, welche die Regeln an die Hand giebet, wie eine gute Predigt abzufassen und vor der Gemeine zu halten sey.« 562 Vgl. für die pietistische Sicht beispielsweise im 1713 gehaltenen, aber erst postum veröffentlichten Collegium Pastorale von A. H. Francke: Collegivm Pastorale über D. Ioh. Ludouici Hartmanni Pastorale Euangelicum. Erster Theil; [. . .] Mit einer Vorrede herausgegeben von Gotthilf August Francken, Halle 1741, 417: »Wenn wir nicht dahin kommen, daß es uns in den Predigten nur zu thun sey um die Erbauung der Zuhörer, sondern bleiben bey der homiletischen Kunst: so ist das nichts anders, wenn man es bey dem Licht besiehet, als eine Marckt=Schreyerey, da man seine Raritäten zu Marckte bringet, und wird deswegen ein schweres Gericht auf solche dermaleinst warten.« Angewendet auf eine konkrete homiletische Frage hieß es bei ihm daher ebd, 444 f.: »Heydnische Histörchen und solche Sachen, die nur mehr flosculi oratorii sind, als zur Erbauung dienen, soll man fahren lassen. Es streiten selbige wider die Würde des Lehr=Amts und der Evangelischen Lehre.« Vgl. hierzu auch E. Peschke: Das Collegium Pastorale August Hermann Franckes 1713, in: Reformation und Neuzeit: 300 Jahre Theologie in Halle/ hrsg. von U. Schnelle, Berlin; New York 1994, 172 mit Anm. 166. 563 Vgl. die Überblicke bei E. Ch. Achelis: Erbauung, RE3 5 (1898), 446–448; M. Doerne: Erbauung, RGG3 2 (1958), 538–540; H.-H. Krummacher: Erbauung, HWP 2 (1972), 601–604; G. Krause: Erbauung II. Theologiegeschichtlich und praktisch-theologisch, TRE 10 (1982), 22–28; A. Beutel: Erbauung, RGG4 2 (1999), 1385 f. Vgl. auch W. Brückner: Thesen zur literarischen Struktur des sogenannt Erbaulichen, in: Literatur und Volk im 17. Jahrhundert: Probleme populärer Kultur in Deutschland/ hrsg. von W. Brückner; u. a., Tl. 2. Wiesbaden 1985, 499–507. – Erstaunlich wenig Erkenntnisse für den (früh-)neuzeitlichen Wandel des Erbauungsbegriffs bietet der literatur- und musikwissenschaftlich dominierte Sammelband: Aedificatio: Erbauung im interkulturellen Kontext in der Frühen Neuzeit/ hrsg. von A. Solbach, Tübingen 2005.

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dert, noch große Unklarheiten bestehen.564 Maßgeblicher Ausgangspunkt der auf klärerischen Defi nitionsbemühungen war die Karriere des biblisch adaptierten Erbauungsbegriffs im Pietismus. Entgegen der älteren Auffassung, die diesen für dessen spätere Sentimentalisierung verantwortlich machte, ist mittlerweile deutlich geworden, daß der neutestamentliche Wortgebrauch 565 in seiner ursprünglich ekklesiologischen Semantik vom Pietismus wiedergewonnen und dabei zu einer programmatischen Chiffre pietistischen Reformstrebens ausgebaut wurde.566 Lediglich die Selbsterbauung und die Erbauung des Nächsten wurde hierbei stärker betont und auf dieser Basis die »E[rbauung] der Kirche als eines Ganzen eher als Frucht der E[rbauung] des Einzelnen«567 verstanden. Unklar sind jedoch die Schaltstellen und Wege der seit der Auf klärung einsetzenden Anthropologisierung, Sentimentalisierung und Ästhetisierung des Erbauungsbegriffs,568 was auch für dessen homiletische Inanspruchnahme zutrifft.569 Gottsched hatte – ohne dies im einzelnen zu reflektieren – bereits in der Ausführlichen Redekunst die Erbauung des Hörers zum fi nalen Zweck der 569

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Krause: Erbauung, 22 leitete seine Ausführungen zur theologiegeschichtlichen Verwendung des Erbauungsbegriffs mit der entschuldigenden Bemerkung ein: »Da jedoch kaum Teilforschungen vorliegen, können hier nur einige Hauptlinien skizziert werden«; A. Haizmann: Erbauung als Aufgabe der Seelsorge bei Philipp Jakob Spener, Göttingen 1997, 59 in Anm. 21 stellte fest: »Die insgesamt unklare Entwicklung des Begriffs seit der Reformation ist – von theologischer Seite – wohl im 18. Jahrhundert (und dort wiederum im Bereich der Auf klärung) noch am allerwenigsten erforscht«; ähnlich Hammann: Universitätsgottesdienst, 295 in Anm. 19: »Eine – bislang noch ausstehende – begriffsgeschichtliche Untersuchung der Verwendung des Erbauungsgedankens in der Orthodoxie, im Pietismus und in der Auf klärung würde m. E. zu fruchtbaren Ergebnissen führen.« 565 Vgl. dazu G. Friedrich: Erbauung I. Neues Testament, TRE 10 (1982), 18–21; Haizmann: Erbauung, 55 f. 566 Vgl. Krummacher: Erbauung, 602 f.; Haizmann: Erbauung, passim. 567 Krummacher: Erbauung, 602. 568 Krummacher: Erbauung, 602 f.: »Erst als eine Folge der der E[rbauung] dienenden Formen des religiösen Lebens, die der Pietismus entwickelt, und zugleich wohl eines wachsenden Abstandes von der pietistischen Frömmigkeit scheint sich im Laufe des 18.Jh. der im einzelnen noch nicht aufgehellte Prozeß einer Subjektivierung und Psychologisierung, ja Sentimentalisierung des Begriffs zu vollziehen [. . .]«; Krause: Erbauung, 26,36– 38: »Wahrscheinlich haben Empfindsamkeit und Aufklärung durch Reduktion des Begriffs auf natürliche Frömmigkeit, moralischen Wert und ästhetische Gefühle den stärksten Anteil an seiner Säkularisierung«; Beutel: Erbauung; 1385: »Begünstigt durch die Popularisierung, die der Pietismus dem Wort E[rbauung] hat angedeihen lassen, unterliegt es im 18. Jh. einem Prozeß zunehmender Säkularisierung und Subjektivierung, der es vielfach zum Ausdruck eines moralischen Werts oder eines ästhetischen Gefühls werden läßt.« 569 Nicht auf dem Stand der Forschung befi ndet sich Hammann: Universitätsgottesdienst, 295, der im Zusammenhang mit Ausführungen zum homiletischen Erbauungsbegriff bei Johann Benjamin Koppe (1778) die veraltete Auffassung vertritt, daß die »individualistische Fassung des Erbauungsbegriffs bei Koppe (und in der gesamten Auf klärungshomiletik) (. . .) zweifellos ein Erbe des Pietismus (ist)«; ebenso Albrecht: ». . . klare und belebende Darstellung«, 130. Eklatanter Unkenntnis der Quellen entspringt eine mit Hinweis auf die postume Homiletik Mosheims gemachte Behauptung bei F. Wintzer: Die

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Predigt erklärt.570 Im Grund-Riß setzte er in jenem zweiten Hauptstück 571 abermals für die – wie er sich ausdrückte – »öffentlichen Reden« »eines Dieners Christi« »die Erbauung der Gemeine [als] die nächste und unmittelbare Absicht desselben« 572 und führte dazu Näheres aus. Das neutestamentliche Bild, wonach »die Kirche mit einem Tempel verglichen wird, wo die Gläubigen auf den Grund der Propheten und Apostel, darinn JEsus Christus der Eckstein ist, auferbauet werden sollen«, problematisierte er als eine Redensart, bei der die »metaphorische Bedeutung des Wortes durch die Gewohnheit schon fast gänzlich weggefallen«573 ist. Im Anschluß an Ausführungen des in Halle pietistisch unterwiesenen, dann aber zum Wolffianismus »konvertierten« Göttinger Philosophieprofessors Georg Heinrich Riebow,574 die dieser über das Problem der erbaulichen Predigt als Vorrede zu einer englischen Predigtübersetzung wenig zuvor publiziert hatte,575 behauptete Gottsched, daß von der Semantik des Wortes »nichts mehr übrig geblieben [ist], als der Begriff eines Unterrichts in den geoffenbarten Wahrheiten, und eine Aufmunterung zur Erfüllung der Christen-Pfl ichten. Wer nämlich so prediget, daß seine Zuhörer mit einem erleuchtetern Verstande, und mit dem festen Vorsatze, fromm und christlich zu leben, aus der Versammlung nach Hause gehen; der Predigt [!] erbaulich.« 576

Auf dieser Grundlage kam Gottsched zu seiner maßgeblichen Defi nition von Erbauung, die wie folgt lautete: Homiletik seit Schleiermacher bis in die Anfänge der »dialektischen Theologie« in Grundzügen, Göttingen 1969, 71 in Anm. 85: »Der Begriff ist i[m] ü[brigen] von Joh. Lor. von Mosheim in die ›neuere‹ Schulhomiletik eingeführt worden«; richtig dagegen der Hinweis auf die begriffsgeschichtlich bedeutsame Rolle von Gottscheds Predigtlehrbuch bei Albrecht: ». . . klare und belebende Darstellung«, 130, wo die Verfasserschaft aber fälschlich Reinbeck zugeschrieben wird; unzutreffend die von Krause: Erbauung, 27,7 f. vertretene Auffassung, der Begriff umfasse bei Lorenz Mosheim lediglich »das movere der Rhetorik als ›rühren und bewegen‹«; richtig dagegen die Bemerkungen zu Mosheims homiletischem Erbauungsbegriff bei H. M. Müller: Homiletik, TRE 15, 537,43–45; sowie Dreesman: Erbauliche Auf klärung, 81–85. 570 Gottsched: AR 1736, 533 (GAW VII/3, 71,20–22): »Ein Prediger muß keinen andern Ruhm von seiner Beredsamkeit erwarten, als den ihm die Erbauung seiner Zuhörer geben kan.« 571 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 22–53: II. Hauptstück, Von der Erbauung, als dem Hauptzweck eines evangelischen Redners, und der daraus fl iessenden Natur der geistlichen Beredsamkeit. 572 Alle Zitate [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 22. 573 Beide Zitate [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 23. 574 Zu Riebow s. u. in Kap. 4, Abschn. 2.2. 575 G. H. Riebow (Ribow): [Vorrede von erbaulichen und unerbaulichen Predigten], in: Jacob Foster: Heilige Reden über Wichtige Glaubens= und Lebens=Lehren, Nebst einer Vorrede Hrn. Georg Heinrich Ribows, Aus dem Englischen ins Hoch=Teutsche übersetzet von August Titteln, Göttingen und Jena 1739, Bl. b1r-c7v; Bezug auf diese Vorrede bei [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 23. 576 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 23.

3 Der Grund-Riß einer Lehr-Arth

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»1) daß ein evangelischer Redner bedacht seyn müsse, den Verstand seiner Zuhörer von dem, was er noch nicht weis, zu unterrichten, und von dem, was er schon weis, zu überzeugen. 2) daß er auch den Willen seiner Zuhörer theils vom Bösen abzuziehen, theils zum Guten zu lencken; oder, wo er schon im Stande der Bekehrung stehet, zum Wachsthum im Guten zu ermahnen, oder in der Ausübung guter Werkke eifriger zu machen, suchen müsse.« 577

Mit dieser Ausrichtung des Erbauungsbegriffs auf psychologisch-anthropologische Konstitutionsbedingungen des Predigtaktes wurde eine anthropologische Wende in der Homiletik formuliert, die die seelische Beschaffenheit des Predigthörers zum Ausgangs- und Zielpunkt der homiletischen Reflexion erklärte: »Wenn also der Gegenstand eines evangelischen Redners, nämlich seine Zuhörer, Menschen sind, die Verstand und Willen haben, [zwei] Kräfte der Seelen, die von verschiedener Fähigkeit und Beschaffenheit seyn können: So folget auch, daß er sich nach denselben so viel als ihm möglich ist, wird richten müssen, um bey allen Arten derselben einige Erbauung zu wirken.« 578

Im Anschluß an diese Grundthese erörterte Gottsched dann ausführlich die homiletischen Implikationen eben jener auf Verstand und Willen bezogenen Ausrichtung des Erbauungsbegriffs. Dabei kam er zunächst auf die verstandesbezogenen Konsequenzen zu sprechen.579 So erforderte – um nur einige Beispiele für die Argumentation zu geben – die vernünftige Beschaffenheit der menschlichen Seele seiner Ansicht nach, »daß ein Lehrer, der erbaulich predigen soll, seinen Zuhörern, so viel als möglich ist, deutliche Begriffe von GOtt und göttlichen Dingen, von der Seele u[nd] von ihren Kräften, ingleichen von der ewigen Seeligkeit und v[on] den Mitteln dazu zugelangen beybringen müsse«580.

Neben der auf diese Weise begründeten Notwendigkeit deutlicher Sachund Begriffserklärungen für die Predigt, ergab sich ebenso zwanglos die (theologisch begründete) Notwendigkeit von Beweisgängen,581 die zwar ih577

[Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 24. [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 24 f. 579 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 25–34. 580 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 25 f. 581 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 27 f.: »Doch auch diese Urtheile und allgemeine Sätze muß ein Christ nicht blindlings annehmen. [. . .] Will also ein evangelischer Lehrer hier thun, was seines Amtes ist, und auch in dieser Absicht erbaulich predigen; so muß er seinen Zuhörern nichts vortragen, was er ihnen nicht beweiset. [. . .] Alle diese Schlüsse aber muß ein erbaulicher Lehrer, nach den Regeln der Vernunftlehre so überzeugend und nachdrücklich zu machen wissen, daß ein jeder, der ihn höret, davon überführet werde, und keinen Zweifel mehr daran habe, ob es auch wahr sey, was er vorgetragen hat.« Ebd, 31 f. wurde die Notwendigkeit von Beweisen in der Predigt mit dem bereits oben in Anm. 500 zitierten Hinweis gerechtfertigt, »daß ein Christ keinen blinden Köhler-Glauben haben solle«. 578

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Kapitel 2: Gottscheds Theorie der »philosophischen« Predigt

rer Form, nicht aber ihrem Inhalt nach auf der Basis einer vernünftigen Logik anzustellen wären. Dies erfordere vom Prediger, daß er »recht bündig beweisen [müsse], das ist so, daß der Verstand seines Zuhörers von der vorgetragenen Wahrheit völlig überführt werde«582 . Die auf diesem Wege homiletisch zu leistende Auf klärung des Verstandes sah Gottsched im übrigen nicht nur abgesichert durch die Kabinettsorder,583 in der es – wie er ausdrücklich zitierte – hieß, »daß sich die Studiosi Theologiae bey Zeiten in der Philosophie, und einer vernünftigen Logick, als z. E. des Professoris Wolfens, recht fest setzen sollen, damit sie lernen mögen, sich klare und deutliche Begriffe von der gantzen Theologie, und insbesondre von denen zu erklärenden Texten zu machen, dieselben nach ihrem wahren Sinne einzusehen, die darinn enthaltenen Wahrheiten zu erweisen, und bündige Schlüsse zur Application daraus, auf eine überzeugende Weise zu ziehen« 584.

Vielmehr ergab sich die Legitimität der solcherart explizierten, verstandesbezogenen Evangeliumsverkündigung – etwa im Falle der auf deutliche Begriffe zielenden Predigtabschnitte – auch durch die biblische Bezeugung, die es dem Prediger zur Pfl icht mache, »deutliche Begriffe in ihnen [sc. den Zuhörern; A. S.] zu erwecken, alle Dunckelheit der Worte und Sachen, so viel als sichs thun läßt, zu vertreiben, und in ihrem Verstande so zu rednen, ein helles Licht anzuzünden«. Denn: »Die Schrift bedient sich dieser Redensarten allezeit, wenn sie von der Unwissenheit und von dem Erkenntnisse göttlicher Dinge redet. Jene wird allemal eine Finsterniß, eine Dunckelheit, ja eine Nacht genennet. Diese hergegen heißt allemal ein Licht, eine Erleuchtung, und ein Tag. Der Verstand der Heyden, die von GOtt nicht wusten, wird verfi nstert genennnet; und der Heyland heist selbst ein Licht, zu erleuchten die Heyden.« 585

Ähnlich argumentierte Gottsched auch hinsichtlich der Erbauung des Willens, indem er die homiletisch relevante (und theologisch-dogmatisch geläufige) Unterscheidung von Glaubenslehren und Lebenspfl ichten in rhetorischer Perspektive (Verstand – docere; Willen – movere) aufnahm und willenspsychologisch interpretierte: »Die evangelischen Wahrheiten sind nicht alle theoretisch, sondern viele, ja die meisten und nöthigsten sind practisch, und sollen also nicht nur verstanden und geglaubet, sondern auch ausgeübet werden. Nun hat der Mensch einen Willen, der sich nicht ohne Bewegungsgründe zum Thun und Lassen entschließt. Der Mensch 582

[Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 32. Der Text der Kabinettsorder ist abgedruckt im Quellenanhang zur vorliegenden Arbeit (Nr. 2). 584 Zit. bei [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 28 f. (im Original alles Fettdruck). 585 Beide Zitate [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 30. 583

3 Der Grund-Riß einer Lehr-Arth

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strebt seiner Natur nach allemal nach dem Guten, insoweit es ihm bekannt, und sein Verstand davon davon überführet und lebendig gerührt ist. Wenn also der Wille etwas begehren soll, so muß man ihn durch die Vorstellung des Guten dazu lencken; und wenn er etwas verabscheuen soll, so muß man ihm deutlich zeigen, daß eine solche Sache oder Handlung böse sey.« 586

Gottscheds Wahrnehmung der homiletischen Alltagssituation, auf die sich seine Analyse bezog, stimmte dabei ganz mit der pietistischen, die fehlende Orthopraxie bemängelnden Kritik am orthodoxen Predigtwesen überein und war nur hinsichtlich ihrer Konsequenz unterschiedlich pointiert: »Man weis insgemein die Lebenspfl ichten des Christenthums sehr wohl aus dem Gedächtnisse herzusagen: allein man hat keine Lust, dieselben auszuüben; man hat keine Neigung das zu thun, was GOtt von uns fordert. Woher kommt das? Der Verstand ist nicht davon überführt.« 587

Auf der Grundlage solcher philosophischen, willenspsychologischen Klärungen, die als Ausweg aus einer homiletischen Sackgasse gemeint waren, brachte er selbst auch deutlich die Neuheit seines Ansatzes zum Ausdruck.588 Die aus der Analyse des Erbauungsbegriffs gewonnenen sechs Pfl ichten eines Predigers, die zugleich die Grundlage für die Gliederung des homiletischen Lehrbuchs abgaben, faßte Gottsched abschließend – gleichsam als eine Kurzformel seines homiletischen Reformprogramms – noch einmal wie folgt zusammen: »1) deutlich erklären. 2) Gründlich erweisen. 3) Der Gegner Einwürfe widerlegen. 4) Alles dunkle und schwere erläutern. 5) Die Gemüther durch Bewegungsgründe lenken, und 6) die Affecten theils dämpfen, theils erregen. Von allen diesen Stücken werden wir also in unsrer geistlichen Redekunst handeln müssen.« 589

Wie schon des öftern festgestellt, folgte Gottsched bei der Definition des Erbauungsbegriffs einem Seelenmodell, das in seinen entscheidenden Punkten Vorstellungen der Psychologie (Seelenlehre) Christian Wolffs zur Grundlage hatte.590 Es ist hier nun nicht nötig, diesem in allen seinen Ein586

[Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 34 f. [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 35. 588 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 35: »Diese Gründe also muß ein erbaulicher Redner nach dem Exempel der Schrift und andrer grossen Moralisten, seinen Zuhörern fleißig einschärfen, und dieß ist eine neue Pfl icht evangelischer Lehrer, auch den Willen seiner Zuhörer durch kräftige Bewegungsgründe anzugreifen.« 589 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 37. 590 Löffler: Anthropologische Konzeptionen, 126 kommt bei ihrer Untersuchung von Gottscheds Seelenlehre zu dem Ergebnis: »Gottscheds Seelenmodell (. . .) ist mit dem Wolffschen nahezu identisch, sowohl was die Ausdifferenzierung der einzelnen Vermögen als auch was ihren Funktionszusammenhang betrifft«; die einzig namhafte Neuerung gegenüber Wolff besteht in der Einführung des Geschmacks als einer eigenen Fähigkeit des Verstandes; zu Gottscheds insbesondere im Rahmen seiner Weltweisheit entwickelten Psychologie vgl. die detaillierten Ausführungen ebd, 122–137. 587

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zelheiten nachzugehen; gleichwohl dürfte es hilfreich sein, sich die wesentlichen Eckpunkte von Wolffs Seelenlehre (in vereinfachter Form) zu vergegenwärtigen,591 um das rationalistisch-intellektualistische Achtergewicht von Gottscheds Homiletik auf dieser Basis besser verstehen zu können. Wolff unterschied innerhalb der Seele zunächst zwei unterschiedliche Seelenvermögen: das Begehrungs- und das Erkenntnisvermögen. Innerhalb dieser beiden Grundvermögen der Seele wurde dann eine nochmalige, hierarchische Differenzierung eines jeweils oberen und unteren Seelenteils mit qualitativ unterschiedlichen Seelenkräften vorgenommen.592 Auf der Seite des Begehrungsvermögens bildeten Gemütsbewegungen, Leidenschaften und Affekte die untere Kraft, die zur sinnlichen Begierde bzw. sinnlichen Abneigung führte. Die obere Kraft des Begehrungsvermögens wurde als Wille (Wollen) bzw. als vernünftige Abscheu (Nicht-Wollen) bezeichnet. Im Bereich des Erkenntnisvermögens fand sich analog dazu die Unterscheidung einer unteren und oberen Erkenntniskraft. Wahrnehmungen erfolgten danach im unteren Seelenteil über die Einbildungs- oder die Empfi ndungskraft, wohingegen bei den Kräften des oberen Seelenteils Vernunft und Verstand unterschieden wurden. Um die terminologische Differenziertheit dieses (vereinfachten) Modells anzudeuten: Als Fähigkeiten der Vernunft galten Wolff das Schlußvermögen und die Einsicht in den Zusammenhang der Wahrheiten, während der Verstand das Vermögen mit sich führte, Eigenschaften und Wirkungen zu unterscheiden bzw. eine deutliche Vorstellung des Möglichen zu erlangen.593 Man kann sich das Vier-Kräfte-Schema der Seelenlehre Wolffs demnach wie folgt vorstellen: 594

591 Ich beziehe mich im folgenden insbesondere auf Löffler: Anthrolologische Konzeptionen, 108–121, der ich wesentliche Klärungen zum Verständnis von Wolffs Psychologie verdanke; ferner R. Sommer: Grundzüge einer Geschichte der deutschen Psychologie und Aesthetik von Wolff-Baumgarten bis Kant-Schiller: nach einer von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin preisgekrönten Schrift des Verfassers, Würzburg 1892, 1–23. Zu Wolffs Psychologie siehe auch die Beiträge des Sammelbandes: Die Psychologie Christian Wolffs: systematische und historische Untersuchungen/ hrsg. von O.-P. Rudolph; J.-F. Goubet, Tübingen 2004. 592 Zum Vier-Kräfte-Schema der Wolffschen Seelenlehre in der Anwendung auf Georg Friedrich Meier siehe G. Schenk: Die Begründung der »Ästhetik, Logik, Ethik« als normative Wissenschaft durch Georg Friedrich Meier (1718–1777), in: Auf klärung und Erneuerung: Beiträge zur Geschichte der Universität Halle im ersten Jahrhundert ihres Bestehens (1694–1808)/ zur Dreihundertjahrfeier im Auftrag des Rektors hrsg. von G. Jerouschek; A. Sames, Hanau; Halle 1994, 107. 593 Meier unterscheidet beispielsweise zwölf untere/sinnliche Erkenntnisvermögen; vgl. Schenk: Die Begründung, 108 in Anm. 7. 594 Bei der Darstellung des Seelenmodells folge ich (vereinfachend) einem Schaubild bei Löffler: Anthropologische Konzeptionen, 384.

3 Der Grund-Riß einer Lehr-Arth

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Seele

Erkenntnisvermögen

Begehrungsvermögen

obere Kraft

Verstand/Vernunft (deutliche Erkenntnis)

vernünftige Begierde/Wille (deutliche Bewegungsgründe)

untere Kraft

Einbildungskraft/Empfi ndung (undeutliche Erkenntnis)

sinnliche Begierde/Leidenschaften (undeutliche Bewegungsgründe)

Der Wille kann nach diesem Modell nur dann in Bewegung gebracht werden, wenn ihm durch deutliche Vorstellungen erweckte Bewegungsgründe zur Verfügung stehen, um nach Maßgabe des als gut oder böse Erkannten etwas zu tun oder zu lassen.595 Entsprechend dazu verhält es sich mit den sinnlichen Begierden, die auf undeutliche Vorstellungen der Empfindungsoder Einbildungskraft zurückgehen und die aufgrund ihrer defi zitären Erkenntnisqualität zu falschen Urteilen im Handeln führen.596 Man kann hier also von einer doppelten Dependenz sprechen: auf der Ebene der oberen Seelenkräfte wurde von Wolff eine Dependenz des Willens vom Verstand, auf der Ebene der unteren Seelenkräfte hingegen eine Dependenz der sinnlichen Begierde von der Einbildungs- bzw. Empfi ndungskraft gedacht.597 Von hier aus ergab sich dann nicht allein die willenspsychologisch notwendige Vorordnung der Verstandesauf klärung im Bereich der Ethik.598 Gleichzeitig begründete dieses hierarchische Modell auch eine Abwertung der durch Einbildungs- oder Empfi ndungskraft erlangten sinnlichen Erkenntnis innerhalb der ästhetischen Anschauungen (beispielsweise im Bereich der Poetik oder Homiletik),599 der im Falle Gottscheds nur ein positives Recht 595 Den letztlich recht komplizierten, als Abfolge mehrerer (nämlich sieben) Stufen gedachten Prozesses der Willensbewegung expliziert am Beispiel Meiers Schenk: Die Begründung, 108. 596 Vgl. Wolff: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun, 109 (§. 181): »Was von den Sinnen gesaget worden, gielt auch von der Einbildungs=Kraft: auch sie verleitet zu falschen Urtheilen [. . .]«. 597 Vgl. zur selben Auffassung Meiers Schenk: Die Begründung, 108: »Da die die unteren Begehrungskräfte ihren Grund in den unteren Erkenntniskräften haben, behandelt Meier diese [. . .]« etc. 598 So heißt es bei Wolff: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun, 238 f. (§. 373; Hervorhebung A. S.): »Derowegen da der Verstand urtheilen muß, was Gut und Böse, und was unter dem Guten das bessere ist; so wird der Wille vollkommener gemacht, oder gebessert, wenn man den Menschen zu einer lebendigen Erkäntnis des guten bringet. Und also kan der Wille nicht anders als durch den Verstand gebessert werden. Es erhellet auch dieses aus der Natur des Willens. Der Wille entstehet aus Bewegungs=Gründen: Und also kan man ihn nicht anders beykommen, als das man Bewegungs=Gründe in die Seele bringet. da nun die Bewegungs=Gründe Vorstellungen des guten und bösen sind, diese Vorstellungen aber für den Verstand gehören; so muß dem Verstande zu solcher Erkäntnis verholffen werden, wenn man den Menschen bessern will.« 599 Vgl. beispielsweise die für die Ethik getroffene, aber für die Ästhetik ebenso gültige Aussage bei Wolff: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun, 111 (§. 183): »Die Herrschafft der Sinnen, der Einbildungs=Krafft und Affecten machet die Sclaverey des Menschen aus.« Und ebd, 111 f. (§. 184): »Wer demnach dieses Hindernis aus dem Wege

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in den Schranken des Satzes vom zureichenden Grund eingeräumt wurde und die daher lediglich als eine durch Vernunft und Natur domestizierte sinnliche Erkenntnis dem Wunderbaren Raum gewährte.600 Die theologisch-homiletische Applikation seiner Überlegungen hatte Wolff selbst in einer für die deutsche Auf klärung nicht zu unterschätzenden, ausgesprochen folgenreichen Weise in der »Deutschen Politik« (1721) vorgenommen, wo er den Predigern die staatstheoretisch unersetzbare Rolle von »Lehrern der Tugend« zuwies.601 Im auf den 8. September 1728 datierten »Vorbericht« zur dritten Auflage seiner »Deutschen Ethik« hatte Wolff zudem selbst erstmals einen philosophischen Kriterien verpfl ichteten Rahmen für die Definition des theologisch-homiletischen Erbauungsbegriffs vorgelegt. Er führte hier zu seiner philosophischen Ethik aus, daß »ich auch schon in der Vorrede zu der andern Auflage erinnert, daß Prediger sich mit Nutzen meiner Moral bedienet, indem sie nach Anleitung derselben alle Wahrräumen will, der muß seine Sinne, der Einbildungs=Krafft und Affecten widerstehen, und sich also von der Sclaverey loß machen, und in die Freyheit, welche ihr entgegengesetzet ist versetzen können. Die Krafft der Seele sich von der Sclaverey loß zu reissen, und in die Freyheit zu versetzen, das ist, seinen Sin(n)en, der Einbildungs=Krafft und den Affecten zu widerstehen, und der Vernunfft Gehöre zu geben, nennen wir die Herrschaft über die Sinnen, Einbildungs=Krafft und Affecten.« 600 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 27 forderte daher: »Er [sc. der Prediger] muß sie [sc. die Zuhörer] von sinnlichen Dingen zu allgemeinen und abstracten Gedankken von der Welt und solchergestalt zu ihrem Urheber erheben«; zur poetologischen Beurteilung der Einbildungskraft durch Gottsched vgl. zusammenfassend Löffler: Anthropologische Konzeptionen, 130 f. 601 Ch. Wolff: Vernünfftige Gedancken Von dem Gesellschafftlichen Leben der Menschen Und insonderheit Dem gemeinen Wesen Zu Beförderung der Glückseeligkeit des menschlichen Geschlechts Den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet, Halle 1721, 254 f. (§. 317) bestimmte hier die Aufgabe der Prediger und der Predigt im öffentlichen Gemeinwesen mit durchgehenden Hinweisen auf entsprechende Paragraphen seiner »Deutschen Ethik« wie folgt: »Da nun der Wille des Menschen gebessert wird, wenn man ihn zu einer lebendigen Erkänntniß des Guten bringet (. . .); so hat man davor zu sorgen, daß es im gemeinen Wesen niemanden an nöthigen Unterricht von dem Guten und Bösen fehle.« Und ebd, 256 f. (Hervorhebung A. S.): »Da über dieses nöthig ist, daß ein Mensch, der tugendhaft leben will, sich seines guten Vorsatzes beständig erinnert (. . .); so müssen dieses [. . .] bey Erwachsenen [. . .] die Prediger in den öffentlichen Versammlungen verrichten. Woraus erhellet, daß man die Predigten auch deswegen zu besuchen hat, damit man seiner Pfl icht erinnert wird, und dannenhero auch diejenigen sich einzufi nden verbunden sind, die vor sich wissen, was man thun und lassen soll. Ein anderes ist wissen, was gut und böse ist; ein anderes hingegen öffters daran gedencken.« Ferner ebd, 258 f. (§. 319): »Da die Erkäntniß GOttes die Ausübung der Tugend und Unterlassung der Laster erleichtert (. . .)[,] im gemeinen Wesen aber davor zu sorgen ist, daß die Leute tugendhafft werden, und die Laster fl iehen (. . .): so hat man auch davor zu sorgen, wie sie in der Erkäntniß GOttes zunehmen. Derowegen [. . .] hat man auch gute Anstalten zu machen, [. . .] öffentliche Lehrer zu bestellen, die gründliche Erkäntniß von GOtt haben und andere darinnen unterrichten, auch zugleich zeigen können, wie man als Bewegungs=Gründe zur Tugend und wieder die Laster die göttlichen Vollkommenheiten gebrauchen kan, folgends jedermann zur Gottseligkeit anzuführen (. . .)«.

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heiten, die sie erkläret, zu Bewegungs=Gründen eines christlichen Wandels gemacht, und in ihrer Ordnung die Bewegungs=Gründe von der inneren Beschaffenheit der Handlungen, denen Eigenschaften GOttes, dem Wercke der Erlösung und dem Zustande des Gewissens nach dieser dreyfachen Erkänntniß zu grosser Erbauung ihrer und ihrer Zuhörer getrieben« 602 .

An diese Vorgaben schloß Gottsched nahtlos an. Neben der offensichtlichen Abhängigkeit von Wolffs Erbauungsverständnis zeigen sich aber auch theologiegeschichtliche Kontinuitäten zur pietistischen Auffassung von »Erbauung«. Grundsätzlich ist es für die auf klärerische, auf Perfektionierung der ethischen Selbstverantwortlichkeit und Mündigkeit des Christen abhebenden Defi nition des Erbauungsbegriffs zunächst nicht unwichtig gewesen, daß sie sich auf der Linie einer von Luther gepflegten Übersetzungspraxis wähnen konnte, nach der dieser die griechischen Termini für »Erbauung« und »erbauen« (in Abgrenzung zu den Schwärmern) meist mit »Besserung« oder »bessern« wiedergegeben hatte.603 (Bei Spalding muß daher – um ein Beispiel aus der späteren homiletischen Literatur zu geben – an Stellen, wo von »Besserung« die Rede ist, häufig einfach »Erbauung« gelesen werden.) 604 Von hier ausgehend – und dies belegt einmal mehr den Zusammenhang von Pietismus und Auf klärung – konnte Gottsched auch an die von Spener wegweisend vorgetragene Definition anschließen, die die Erbauung des Predigthörers prozessual als Mehrung des Glaubens und dessen Früchte auffaß-

602 Ch. Wolff: Vernünfftige Gedancken Von der Menschen Thun und Lassen, Zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit, den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet. Die fünffte Aufl age hin und wieder vermehret, Franckfurt und Leipzig 1736, Bl. ):():():(7r (Vorbericht §. 12; Hervorhebung A. S.). 603 Beispielsweise hatte Luther 1 Kor 14, 26 wie folgt übersetzt (WA.DB 7, 127): »Wenn jr zusamen komet, so hat jglicher Psalmen, er hat lere, er hat zungen, er hat offenbarung, er hat auslegung, lasset alles geschehen zur besserung«; vgl. dagegen die Korrektur dieser Übersetzung (»Erbauung« statt »besserung«) im Text der revidierten Lutherbibel. – Der von Gottsched im Grund-Riß erwähnte Riebow: Vorrede, Bl. b3r hatte daher seine Ausführungen zum Begriff einer erbaulichen Predigt mit dem zutreffenden Hinweis eingeleitet: »Der seel. D. Luther hat das Wort oIkodom3 und oIkodom4a durch Besserung und oIkodom eKn durch bessern übersetzet, mit welchem Erasmvs Schmidivs ***) [***) in Annot. ad Nov.T. ad. c. VII. Matth. v. 24. p. 155.] einstimmig ist, und das letztere durch eines Nutzen und Wachsthum befördern übersetzet hat.« – Zu Luthers Erbauungsbegriff vgl. auch Krummacher: Erbauung, 602; Beutel: Erbauung, 1385. 604 J. J. Spalding: Gedanken über den Werth der Gefühle im Christenthum (11761; 5 1784)/hrsg. von A. Beutel; T. Jersak, Tübingen 2005, 230, 27–30 spricht beispielsweise von der »aufgeklärte[n] männliche[n] Gottesfurcht der Tillotsone, Osterwalde, Reinbecke u. a. m. die durch Erkenntnisse und Bewegungsgründe sich und andere bessern wollen«. – Zur »Erbauung« als »Besserung« siehe auch Haizmann: Erbauung, 98–102 (mit Rekurs auf Luther). Nicht zuzustimmen ist seiner Ansicht, daß der Begriff der »Besserung« in der Auf klärung »beziehungslos neben dem der Erbauung« (ebd, 100 in Anm. 28) steht. Vielmehr steht »Besserung« als nichtmetaphorischer Ausdruck im Zusammenhang begriffsaufklärerischer Bemühungen synonym für »Erbauung«.

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te605 und damit die verstandes- und willensbezogene Seite des Erbauungsbegriffs im Gesamtzusammenhang der Pia desideria ebenfalls unter dem Stichwort der »Besserung« thematisiert hatte.606 Wohl in der durch Spener und den Pietismus gegebenen Tradition konnte dann Mosheim in seiner Sittenlehre (1735) die Predigt ganz auf die zwei von Spener genannten und bei Gottsched später reformulierten Aufgaben ausrichten, indem er feststellte: »Wer mit Nutzen607 zu einer Gemeine reden will, muß allezeit auf zwey Dinge sehen: Einmahl auf den Zweck seiner Arbeit; vors andre auf die Menschen, die er erbauen soll. Der Zweck einer Predigt ist zwiefach. Der Verstand der Zuhörer soll aufgekläret und allezeit mehr erleuchtet werden: ihr Wille soll unter das Joch des HErrn gebeuget, und bewogen werden, entweder den Weg der Gottseligkeit anzutreten oder auf demselben zu bleiben.« 608 Obwohl Mosheim nicht als theologischer Wolffianer gilt, lagen einer solchen Auffassung prinzipielle Übereinstimmungen mit der Psychologie Wolffs und deren homiletische Applikation zugrunde, wie sich in anderem Zusammenhang deutlich zeigte.609 Angesichts dieser geballten Präsenz einer auf Verstand und Willen des Predigthörers abzielenden Behandlung der Homiletik in der Zeit vor Gott605 Spener: PD 78,31–79,4 äußerte im Zusammenhang mit seinem 6. Verbesserungsvorschlag den Wunsch: Es sollen die Theologiestudenten »[v]ornemlich aber in den Predigten sich also üben / daß ihnen bald gezeigt werde / wie sie alles in solchen Predigten zur erbauung einzurichten. Wie ich dann jetzo noch dieses vor das 6. mittel anhänge / wodurch der Christlichen Kirchen zu bessern stand geholfen werden möchte / wo nemlich die Predigten auch also von allen eingerichtet würden / daß der zweck deroselben / nemlich glaube und dessen früchten / bey den Zuhörern bestmüglichst befördert werden.« 606 Vgl. die im Abschnitt »Erbauung und Besserung« bei Haizmann: Erbauung, 98–102 angestellten Überlegungen; vgl. auch ders.: Erbaulichkeit als Aufgabe der Predigt bei Philipp Jakob Spener, in: Klassiker der protestantischen Predigtlehre, 48–65. 607 Im vorliegenden Zusammenhang beschreibt der »Nutzen« zunächst den in der orthodoxen Homiletik usus genannten Anwendungsteil der Predigt. Jedoch liegt damit zugleich eine Formulierung vor, die Spaldings spätere Frage nach der »Nutzbarkeit des Predigtamtes« und ihre auf klärungstheologische Beantwortung anklingen läßt, was Licht auf das (auch) erbauungsbezogene, keineswegs utilitaristische Interesse von Spaldings Schrift wirft. 608 Mosheim: Sitten-Lehre, Tl. 41, 504 f. – Unabsichtlich spiegelt die Nähe von Mosheims (und damit auch Gottscheds) Erbauungsbegriff zu pietistischen Vorstellungen ein Sammelband mit Beiträgen zu »Klassikern der protestantischen Predigtlehre« wider, wo auf einen Beitrag zu Spener (Haizmann: Erbaulichkeit als Aufgabe der Predigt, 48–65) eine ähnlich pointierte Erörterung von Mosheims homiletischem Programm folgt (Dreesman: Erbauliche Auf klärung, 74–92). 609 Mosheim: Abhandlung von den Pfl ichten eines geistlichen Redners, in: Beiträge zur Beredsamkeit, Tl. 3, 559–561: »Unsre Seele hat zwo Haupt=Kräfte, Verstand und Willen. Beyde haben ihre Reinigkeit und Unschuld verlohren. Beyde müssen gebessert werden, wenn der Mensch sol zu GOtt gebracht werden. Ein geistlicher Lehrer muß beyde daher zu gewinnen suchen«; vgl. auch ebd, 561–570, wo Mosheim die Dependenz des Willens vom Verstand in ihrer homiletischen Bedeutung näher erläutert.

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sched überraschte es daher kaum, wenn theologische Wolffianer auch unabhängig vom Leipziger Predigtreformer ans Werk gingen, den Erbauungsbegriff noch vor diesem ebenfalls im Licht der Wolffschen Philosophie zu profi lieren. Die Überfälligkeit eines solchen Unternehmens war ja nicht ohne Grund auch in der eingangs referierten homiletischen Situationsanalyse von Ludovici bemerkt worden. Der ebenfalls bereits erwähnte Göttinger Philosophie- und spätere Theologieprofessor Georg Heinrich Riebow hatte daher beispielsweise kurz vor Gottsched (1739) entsprechende Überlegungen zur Defi nition des Erbauungsbegriffs angestellt, weil auch er innerhalb der seit 1700 weitläufig geführten Debatte um das Problem homiletischer Erbauung eine klare Begriffsbestimmung vermißte. Im Habitus eines auf begriffl iche Klarheit dringenden theologischen Wolffianers stellte er ärgerlich fest: Man streite »von erbaulichen und unerbaulichen Predigten, [. . .] ohne daß man einmal wisse, was erbaulich ist, oder nicht« 610. In Anknüpfung an Luthers Erbauungsverständnis und mit Blick auf 1 Kor 3, 16 und Röm 14, 19 f. erklärte Riebow dann: »Worin also der Gläubige kan einen Wachsthum erhalten, worin er kan gebessert werden, dasselbe macht die Erbauung nach dem Sinn Pauli aus. Es kan uns aber bey einiger Einsicht in den Zusammenhang unsers Glaubens nicht unbekannt seyn, daß ein Christ in zweyen Stücken in der Erkentniß, und der Tugend, im Glauben und der Liebe wachsen müsse an dem, der das Haupt ist, Christus, Eph. IV. v. 14. 15. Wir nennen also die Erbauung die Beförderung der Erkentniß der göttlichen Wahrheiten und der Tugenden bey den Gläubigen.« 611

Der pietistisch beeinflußte Wolffianer Riebow setzte aus diesem Grund (und in diesem Fall auch etwas abweichend von Gottsched) als erste homiletische Regel einer erbaulichen Predigt: »Eine Predigt, die den Zuhörer in einem Lehr= Satz fest setzet, ist so wohl erbaulich, als diejenige, welche ihm einen Ubungs=Satz einschärffet.« 612 Angesichts der zugrunde gelegten, von Wolff abhängigen Psychologie kann es aber nicht verwundern, wenn der Göttinger Wolffianer die weiteren homiletischen Regeln dann in ähnlichen Bahnen wie kurz darauf Gottsched entwickelte, obschon natürlich nicht in der diesem eigenen systematischen Geschlossenheit.613 610

Riebow: [Vorrede], Bl. b1v. Riebow: [Vorrede], Bl. b4v. 612 Riebow: [Vorrede], Bl. b7r. – Während Gottsched das Verhältnis von Verstandesbelehrung und Willensbewegung in der homiletischen Konstellation von Sowohl-Als-auch entfaltet, formuliert Riebow an dieser Stelle ein Entweder-Oder. Das inkludiert dann aber doch wieder das seelenpsychologische Sowohl-Als-auch. Siehe dazu auch das Zitat in der folgenden Anmerkung. 613 Vgl. beispielsweise die Predigtdefi nition bei Riebow: [Vorrede], Bl. b5r: »Eine Predigt ist eine Rede über die göttlichen geoffenbahrten Wahrheiten. Dieselbe sind von zweyerley Art, entweder Glaubens=Lehren oder Lebens=Pfl ichten. Bey einer Predigt muß man also die Beförderung entweder der Erkentniß der geoffenbahrten Wahrheiten 611

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So erweist sich das vom Pietismus propagierte Erbauungsparadigma zwar in der Tat nicht als Urheber einer sentimentalistischen Interpretation des Erbauungsbegriffs im 18. Jahrhundert, aber sehr wohl als Schaltstelle zu dessen psychologisch-anthropologischer Interpretation in der Auf klärung, indem nämlich bereits die pietistische Predigt in Inhalt und Form ganz an den Bedürfnissen der Zuhörer orientiert wurde, die in perfektionistisch mißdeutbarer Form eine die »Besserung« der Zuhörer befördernde Aufgabe wahrnehmen sollte. Damit aber war das auf Tugendfortschritt zielende Anliegen der homiletischen Auf klärer mehr als nur verbal präfiguriert. 3.3 Reaktionen und Rezeptionen Die Wirkungen von Gottscheds homiletischem Lehrbuch sind hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Rezeptionsweisen deutlich zu differenzieren, um ein sowohl umfassendes als auch ausgewogenes Bild seiner historischen Bedeutung zu gewinnen. So ist zwar nicht in diesem, aber in anderem Zusammenhang vorgesehen, die negativen Rezeptionen (Kritik) ausführlich zu thematisieren,614 die – hauptsächlich in Form gegen den Grund-Riß gerichteter Publizistik – die orthodoxen und pietistischen Gegner der »philosophischen« Predigt auf den Plan rief. Deren Einwände faßte Johann Georg Walch als ein auf seiten der eklektischen »Übergangstheologen« zwischen den Fronten positionierter, gegen die neue Predigtweise eingenommener Autor615 einmal wie folgt zusammen: »Libri huius auctor [sc. der Verfasser des Grund-Risses] non solum philosophicam concionandi rationem commendat; sed etiam senoder die Ubung der Gottseligkeit sich zum Ziel setzen. Daraus folget, die Predigt soll erbaulich seyn, und wir sehen zugleich, worin die Erbauung bestehet; Der Verstand muß von den Wahrheiten unterrichtet werden, der Wille muß zum Guten, zur Ausübung der Christlichen Tugenden beweget werden.« Riebow folgerte (gleich Gottsched) daraus die notwendige Auf klärung von Begriffen in der Predigt: ebd, b8v-c1r: »Man muß in der Haupt=Sache eben die Reguln beobachten, die man bey einem Vortrage, durch welchen man den Verstand überzeugen, und den Willen zum Guten bewegen will, sonst gebrauchet. Das erstere kan nicht erhalten werden, wo man nicht deutliche und eingeschränckte Begriffe von den Wörtern giebet, und wo die Sätze nicht aus ihren Gründen durch eine richtige Folge hergeleitet werden. Dieses giebet uns eine neue Regul an die Hand: In einer erbaulichen Predigt muß man von den Wörtern, wo es geschehen kan, deutliche und festgestellte Begriffe beybringen, und nach den Reguln der Auslegung der Heiligen Schrifft, und einer rechtmäßigen Folge das, was man behauptet, gehörig herleiten. Die Nothwendigkeit der deutlichen Begriffe erhellet daraus, weil wir vor dem gemeinen Mann reden, welcher wenige aufgeklärte Begriffe besitzet.« 614 Siehe dazu Kap. 4 der Arbeit. 615 Vgl. v. a. die zuerst als Vorrede zu einem Predigtband (1745) erschienene Stellungnahme gegen die demonstrative Lehrart in der Predigt: J. G. Walch: Abhandlung von dem verderbten und gesunden Geschmack in Ansehung der Predigten [=Vorrede zu Carl Bertheau: Heilige Cantzelreden, 1745], mit Anmerkungen erläutert und vermehret von Johann Christian Dommerich, in: Beiträge zur Beredsamkeit, Tl. 4 (1747), 753–804 (19. Beitrag).

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tentias de sermonibus sacris, de interpretatione scripturae, de dogmatibus tradit, quae minus rectae sunt; nec adprobari possunt« 616 . Neben solcherart mehr polemisch-dogmatisch motivierten Auseinandersetzung mit Gottscheds Grund-Riß bildete es eher die Ausnahme, wenn ein Autor in sachlichruhiger Diktion seine Einwände gegen Gottscheds Homiletik formulierte. Als Beispiel für eine solches Vorgehen kann die bereits mit einigem zeitlichen Abstand auf dem Boden der crusianischen Philosophie stehende und daher gegen den philosophischen Wolffianismus eingestellte Homiletik desGöttinger Theologen Paul Jakob Förtschs (1722–1801) 617 gelten, die gleich mehrfach die Auseinandersetzung mit Thesen des Grund-Risses suchte und demgegenüber alternative Antworten formulierte, etwa in der homiletisch wichtigen Frage des Predigtthemas (Hauptsatzes) oder beim Problem der für die »philosophische« Predigt so charakteristischen Rededisposition mit der von Gottsched psychologisch begründeten Abfolge von Erklären, Beweisen, Widerlegen und Bewegen.618 Mit Förtschs Homiletik wurde jedoch ein fortgeschrittener Punkt in der homiletischen Diskussion markiert, der bereits die Überwindung der »philosophischen« Predigtweise andeutete, auf die gleichfalls andernorts näher eingegangen werden soll.619 Einem Verdikt wie dem Walchs standen die positiven Rezeptionen der Predigttheorie Gottscheds übergewichtig gegenüber. Sie reichten von der Propaganda seiner Homiletik im allgemeinen und der des Lehrbuchs im besonderen durch den Gottsched-Kreis620 über die öffentlichkeitswirksame Empfehlung des Grund-Risses durch auf klärungsfreundliche Rezensenten sowie Nachrichten von dessen Verwendung im akademischen Unterricht bis hin zu Beispielen klassischer literarischer Rezeption.621 Zu den homiletikgeschichtlich gesehen wohl stärksten Wirkungen ist zu rechnen, daß mit dem Grund-Riß der Prototyp einer aufklärerisch-»philosophischen« Homiletik vorgelegt worden war, in dessen Fahrwasser (den auf klärerischen Erbauungsbegriff inbegriffen) die protestantische Predigttheorie nach 1740 die Idee einer »philosophischen« Predigt in unzähligen Varianten reproduzierte, ohne daß dabei in vielen Fällen ein expliziter Bezug auf Gottscheds Homiletik nachweisbar ist. Dieser, die rezeptionsgeschichtliche Untersuchung erschweren616

Walch: Bibliotheca theologica selecta, Tom. 4 (1765), 964. P. J. Förtsch: Anweisung zum erbaulichen Predigen vornehmlich zum Gebrauch academischer Vorlesungen herausgegeben, Göttingen 1757; zu Förtsch und seiner Homiletik vgl. Hammann: Universitätsgottesdienst, 251–261. 618 Vgl. Förtsch: Anweisung, 62 f. (zum Hauptsatz). 130–132 (zur Disposition); weitere, z. T. auch positive Bezugnahmen auf den Grund-Riß ebd, 43 f. 268 f. 318. 619 Siehe unten Kap. 5 der Arbeit. 620 Ausführlich dazu unten Kap. 3. 621 Nicht zutreffend ist der bei Stauffer: Erfi ndung und Kritik, 29 in Anm. 27 gegebene Hinweis auf angebliche Ausführungen von E. Reichel: Gottsched, Bd. 2, 498 f. zur zeitgenössischen Rezeption von Gottscheds Predigtlehrbuch. 617

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de Umstand spiegelte in gewisser Weise die historischen Entstehungsbedingungen von Gottscheds homiletischem Lehrbuch wider, das sich als anonyme Schrift zur autoritativen Beglaubigung strittiger homiletischer Thesen nur bedingt eignete622 und bei dem durch die ausdrückliche Beziehung zur preußischen Kabinettsorder zugleich eine gewisse territorialkirchlich-konfessionelle Engführung mitgesetzt war, die einer überregionalen Rezeption der ursprünglich die reformierten Prediger betreffenden Verordnung im Einzelfall durchaus hinderlich sein konnte. Hingegen beförderte die geistige Verwurzelung der Homiletik in der Philosophie Wolffs ein jeweils selbständiges Zurückgehen der verschiedenen Autoren auf deren leitende philosophisch-rhetorische Grundlagen. Dabei korrelierte ein unabhängig ausgeübter Zugriff auf die Philosophie Wolffs (bzw. seiner Schüler) samt einer darauf selbständig errichteten Homiletik methodisch den auf klärerischen Anspruch auf Selbstdenken, bei dem eine homiletische Testimonienpraxis, wie sie noch die Orthodoxie gepflegt hatte,623 (zumindest theoretisch und erklärtermaßen) als ohnehin nicht mehr sachgemäß empfunden und dementsprechend in der Regel auch nur äußerst vorsichtig gepflegt wurde. Der behauptete prototypische Charakter von Gottscheds Homiletik entsprach dabei bereits zeitgenössischer Wahrnehmung. Nachdem beispielsweise der Herausgeber einer zwischen 1741 und 1747 erschienenen Sammlung von Schriften zur auf klärerischen Predigtreform Kenntnis vom Grund-Riß erlangt hatte, nahm er ohne sichtliches Bedauern von der Vollendung seiner bereits halbfertigen, eigenen Homiletik Abstand, weil er in Gottscheds Predigtlehrbuch die weitgehende Umsetzung der eigenen Vorstellungen erblickte, die seine Homiletik überflüssig machte.624 Daran zeigte sich auch, daß eine weitgehend parallele Konstruktion einer Predigttheorie aus dem Geist der Philosophie Wolffs (wie bereits beim Erbauungsbegriff am Beispiel Riebows gezeigt) strukturell bedingt nicht nur möglich, sondern geradezu 622 In diesem Umstand ist auch ein Grund zu suchen, weswegen der Grund-Riß immer wieder Reinbeck zugeschrieben wurde, um wenigstens auf diesem Wege eine theologische Autorität für die darin vertretenen Anschauungen in Anspruch nehmen zu können! 623 Vgl. dazu Strassberger: Die »Leipziger Predigerkunst«, 214–216. 624 Johann Matthias Cappelmann merkte zu seinem Abdruck der preußischen Kabinettsorder von 1739 in: Beiträge zur Beredsamkeit, Tl. 1 (1741), 189 in Anm. 191 an: »So bald wir diese allergnädigste Königliche Verordnung erblicket, entstund gleich in uns ein Verlangen mit verschiedenen Erklärungen dieselbe ans Licht zu stellen. Wir sahen in derselben einen vollkommenen Innhalt einer vernünftig-geistlichen Wohlredenheit und aller Eigenschaften, die einen geistlichen Redner beliebt, und erbaulich zu machen vermögend sind. [. . .] Wir hatten auch die Feder zu dieser Arbeit [. . .] willig angesetzet. Kaum waren wir mit der Helfte unserer Arbeit fertig, so kam ein gelehrtes Buch unter der Auffschrift: Grundriß einer Lehrart ordentlich und erbaulich zu predigen [. . .] nebst dem Vorbericht des Herrn Propst Reinbecks, zum Vorschein. Der Herr Verfasser war beinahe in allen Stücken mit uns einig. Wir stunden also von unsrer Arbeit ab, und preisen diesen Grundriß unsern Lesern bestens an.«

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immanent veranlagt war. Um das daran geknüpfte rezeptionsgeschichtliche Potential im Rahmen einer Wirkungsgeschichte von Gottscheds Homiletik mit erfassen zu können, möchte ich es als strukturelle Rezeption ansprechen, die als signifi kanter Ausdruck für die homiletikgeschichtliche Repräsentativität und die gesellschaftlich-theologische Plausibilität der von Gottsched vorgetragenen homiletischen Anschauungen im Lager der theologischen Wolffianer gewertet werden kann. 3.3.1 Zeitschriftenpresse Für sich genommen löste der Grund-Riß zunächst kein besonders lautes Rauschen im Blätterwald der auf klärerischen Presse aus.625 Er wurde vielmehr als so zeitgemäß empfunden, daß er kaum Furore machte. Wo man die Neuerscheinung zur Kenntnis nahm, stellte man sich – wenig überraschend – mehrheitlich hinter den Autor der anonymen Homiletik.626 Während die Hamburgischen Beyträge ganz allgemein »den besondern Wehrt dieses sehr gründlichen und nützlichen Werkes« lobten und deshalb der Auffassung waren, daß es »gewiß mehr den Namen eines schönen Gebäudes als eines blossen Grundrisses verdienet« 627, hoben die auf klärungsfreundlichen Göttingischen Zeitungen von gelehrten Sachen insbesondere das zeitgemäße Niveau von dessen homiletischer Theorie hervor und meinten: »Er [sc. der Verfasser des Grundrisses] zeiget sich als einen rechtschaffenen Kenner dessen, was die alten und neuen Lehrer der weltlichen Redekunst, den Absichten derselben und den Vorschriften der Natur gemäß, denen eingeschärfet haben, welche zur Erreichung derselben diesen sichern Weg erwehlen wollen.« 628

Man lobte neben der Anwendung reformrhetorischer Einsichten die Ausrichtung der Predigttheorie an der Philosophie Wolffs629 und kam zu dem zusammenfassenden Urteil: 625

Es war weder möglich noch sinnvoll, die gesamte zeitgenössische Zeitschriftenpresse nach Rezensionen von Gottscheds Predigtlehrbuch zu durchforschen; daher kann der folgende Überblick nur den Charakter eine Momentaufnahme beanspruchen. 626 Unter den mir bekannt gewordenen Rezensionen äußerten sich freundlich bis euphorisch: Göttingische Zeitungen von gelehrten Sachen 1740, 50. Stück (23. Juni), 421–424; Hamburgische Beyträge zur Aufnahme der gelehrten Historie und der Wissenschaften 1 (1740, LV. Stück, 18. Juli), 449–452; Nachrichten von den neuesten Theologischen Büchern und Schrifften 1 (1742), 33–50; ebd, Bd. 3 (1744), 335– 337 (Rez. Grund-Riß, 2. Aufl.); Lilienthal: Fortgesetzte Theologische Bibliothec (1744), 827 f. 627 Beide Zitate Hamburgische Beyträge 1 (1740), 451. 628 Göttingische Zeitungen von gelehrten Sachen 1740, 421 f. 629 Göttingische Zeitungen von gelehrten Sachen 1740, 422 f.: »Der unerschrokkene Herr Verfasser träget kein Bedenken, die Galle und Thränen vieler geistlichen Lehrer zu reizen, welche dafür halten, die Philosophie, und sonderlich die Wolfi sche, mache, daß ein Prediger im Grunde verderbet werde. Er dringet nicht nur darauf, ein angehender evangelischer Redner müsse die Philosophie, sondern vornehmlich die Wolfi sche lernen:

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»Diese Einleitung und der ganze Grundriß haben vor vielen Büchern ihrer Art dieses voraus, daß sie nicht nur von denen, vor welche sie eigentlich geschrieben sind, mit Nutzen gelesen werden können; sondern daß sie allen die von Predigten unrecht urtheilen, [. . .] den Verstand öffnen, und sie zu gründlichen und behutsamen Beurtheilungen geschickt machen können.« 630

Ein anderer Rezensent erkannte bei seiner im Ton recht nüchtern und sachlich gehaltenen Beurteilung analog dazu den begrüßenswerten Versuch, die akademische Homiletik an den allgemeinen Entwicklungsgang der Wissenschaften anschlußfähig zu machen und führte aus: »Seit dem man angefangen, die Wissenschafften überhaupt, und die Lehrart zu verbessern, wie dieselben sollen fortgepflantzet und erweitert werden, hat die geistliche Beredsamkeit auch ihren Anteil daran genommen. Es sind eben nicht viel Jahre, daß man die weltliche Beredsamkeit von allerley Mißbräuchen und leeren Worten gesäubert hat. Man hat sie gesucht, vernünftiger, ordentlicher und mehr überzeugend einzurichten. Da es hierinne glücklich von statten gegangen, so will man in unsern Tagen eine solche Verbesserung in den geistlichen Reden eben für so nohtwendig, besonders bey uns Deutschen, halten. Gegenwärtiger Grundriß ist eine Probe davon.« 631

Daher mutmaßte derselbe Rezensent gelegentlich der zweiten Auflage wohl zu Recht: »Es hat so viel Liebhaber gefunden, daß der Verleger eine neue Auflage besorgen müssen [. . .].« 632 3.3.2 Akademische Vorlesungstätigkeit Über dieses allgemeine Stimmungsbild hinaus zeigten sich meßbare Wirkungen sodann vor allem im akademischen Bereich. Hier wurde Gottscheds Homiletik – gewissermaßen noch druckfrisch – umgehend für akademische Vorlesungen herangezogen. Unter dem Datum des 5. April 1741 kündigte beispielsweise der Rostocker Magister Joachim He(i)nrich Pries (1714– 1763) 633 für das Sommersemester mit einer Einladungsschrift seine Lektionen an.634 Dabei gedachte er nicht nur die Metaphysik nach dem Lehrbuch Und man siehet es ihm wohl an, daß er nicht aus Gehorsam allein, sondern vornehmlich aus Ueberzeugung darauf dringe.« 630 Göttingische Zeitungen von gelehrten Sachen 1740, 424. 631 Nachrichten von den neuesten Theologischen Büchern und Schrifften 1 (1742), 33. 632 Nachrichten von den neuesten Theologischen Büchern und Schrifften 3 (1744), 335. 633 Pries (zu ihm DBA I 981, 307–320) wurde nach seinem Theologiestudium in Rostock und Jena 1738 zum Magister promoviert und übte seit dieser Zeit eine Lehrtätigkeit aus; 1743 übernahm er an der Rostocker Johanniskirche ein Predigtamt und kurz darauf in der Philosophischen Fakultät zugleich einen Lehrstuhl für Moralphilosophie. 634 J. H. Pries: Die Gelehrsamkeit als eine nöthige Eigenschaft eines Geistlichen Redners vertheidiget gegen einige Einwürfe und ladet zu seinen Akademischen Vorlesungen ein Joach. Henr. Pries, Rostock [1741]. – Zu Pries’ Schrift und ihrer Frontstellung gegen

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des bekannten Wolffianers Friedrich Christian Baumeister vorzutragen, sondern ebenso »(d)ie Oratorie über Herrn Gottscheds Redekunst« und »(d)ie Homiletik nach denen Reguln, die der Herr Verfasser des Grundrisses einer Lehrart ordentlich und erbaulich zu predigen vorgeschrieben« 635. Vermutlich noch ein Semester vor Pries, nämlich bereits im Wintersemester 1740/41, ging – wie Gottsched nicht ohne berechtigten Stolz zu berichten wußte – ein anderer, ungleich namhafterer Theologe als der kaum bekannte Rostocker Magister ebenfalls dazu über, den Grund-Riß seinen akademischen Lehrstunden zugrundezulegen: »Der sel. D. Baumgarten in Halle [hat] 636 nachmals viele Jahre über diese Lehrart erbaulich zu predigen, Vorlesungen gehalten. Herr Hofprediger Boysen zu Quedlinburg, der selbige bey dem itztbenannten Theologen selbst gehöret, hat die Güte gehabt, mich solches zu versichern, als er den Urheber des Buches noch gar nicht in Erfahrung gebracht hatte.« 637

Daß Baumgarten damit den Anweisungen einer königlich-preußischen Kabinettsorder nachkam, die die Verwendung von Gottscheds Predigtlehrbuch in den preußischen Universitäten vorschrieb, gehört zu den besonderen Umständen, über die an anderer Stelle ausführlich zu handeln sein wird.638 Da besagter Boysen (ein Gottsched-Korrespondent der Jahre 1754 bis 1756) bereits im Frühjahr 1741 sein Studium in Halle (wo übrigens Gottscheds Homiletik seit 1740 unter der Autorenschaft Reinbecks bei dem Buchhändler und Verleger Carl Hermann Hemmerde zum Preis von 12 Groschen im Sortiment war) 639 beendet hatte,640 ist auf dieses frühe Datum für Baumgartens homiletische Vorlesungen nach Gottscheds Grund-Riß rückzuschließen.641 Dazu paßt, daß Manteuffel in einem auf den 24. Oktober 1740 datierten Brief an die Gottschedin mitteilte, daß Baumgarten bei Haude, dem pietistische Kritik am auf klärerischen Ideal eines erudierten Predigers s. u. Kap. 4, Abschn. 2.1.3. 635 Beide Zitate Pries: Die Gelehrsamkeit, 22. 636 Gottsched fügte in der Originalpassage an dieser Stelle die vielleicht etwas übertriebene, aber jedenfalls ganz unspezifi sche Angabe ein: »[. . .] und viele andere Lehrer auf preußischen hohen Schulen haben [. . .]«. 637 Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 50,26–33. 638 S. u. Kap. 3, Abschn. 3.2.2. 639 Wöchentliche Hallische Anzeigen 1740 (Nr. XXVII, 4. Juli), 433 f. 640 Zu Friedrich Eberhard Boysens (1720–1800; zu ihm ADB 3 [1876], 226 f.) 1737 in Halle begonnenem und im Frühjahr 1741 dort abgeschlossenen Theologiestudium vgl. F. E. Boysen: Eigene Lebensbeschreibung. Erster Theil, Quedlinburg 1795, 89–173; zu seinem Unterricht bei Baumgarten ebd, 144: »In Halle Theologie studiret und die Theologie nicht bey Baumgarten studiret haben, würde ein unverzeihliches Verbrechen gewesen seyn und Jedem Schande gemacht haben«; ausführlich zu Baumgartens Unterricht (ohne einen Hinweis auf homiletische Vorlesungen) ebd, 144–151. – Suchier: Gottscheds Korrespondenten, 19, verzeichnet elf Briefe Boysens an Gottsched im o. g. Zeitraum. 641 In den gedruckten Verzeichnissen der öffentlichen Vorlesungen der Universität Halle (vorh. UAH) erscheinen um 1740 allerdings überhaupt keine Homiletikvorlesungen

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Berliner Verleger von Gottscheds Grund-Riß einer Lehr-Arth, einem Alethophilenmitglied, 20 bis 30 Exemplare besagter Homiletik zum Zwecke seiner Vorlesungen bestellt habe.642 Erst zu einem späteren, im Moment nicht genau zu ermittelnden Zeitpunkt ging Baumgarten dann dazu über, die Predigtlehre nach einem eigenen, 1752 auch publizierten Entwurf vorzutragen.643 Die Einflüsse des Modells der »philosophischen« Predigt Gottschedscher Prägung auf ihn sind nicht zu übersehen, zumal bereits Emanuel Hirsch auf anderer Quellengrundlage feststellte, daß bei Baumgarten »klar der Grundsatz ausgesprochen [wird], daß der eigentliche Grund der Bestimmung des Willens die Überzeugung des Verstandes sei« 644. Die Wertschätzung von Gottscheds Homiletik in Halle mag schließlich auch ein Votum des seit 1740 wieder am Ort seiner einstigen Vertreibung lehrenden Christian Wolff unterstreichen, das dieser, den Vergleich mit einer (mir nicht zu ermittelnden) Homiletik ziehend, gegenüber Manteuffel äußerte: »Das Buch von der überzeugenden Lehrart im Predigen645 fi nde ich gegründeter [als ein anderes, ungenanntes Werk, mit dem Wolff Gottscheds Homiletik vergleicht; A. S.] und dabei viele Gelehrsamkeit, welche bei einem dergleichen Werke sehr nötig ist. Unterdessen dörfte ich das wenigste auf dem Katheder sagen, so würde gleich ein Land=Geschrei werden, daß ich nichts thäte, als mich über die Religion auf halten und der Schrift zu spotten.« 646

Möglicherweise sprachen sich mit dem letzten Satz noch Sensibilitäten aus, die aus der Zeit seiner schmählichen Vertreibung herrührten. Oder aber diese Bemerkung war als ein Hinweis auf die (freilich) doch recht paradoxe Situation zu verstehen, daß der Philosoph sich in Halle beim Thema »Wolffianismus und Theologie« in Stillschweigen üben mußte, wohingegen der (in diesem Fall als Verfasser vermutete) Theologe sich ungestraft äußern konnte. Wie dem auch sei: Gottscheds Homiletik erfreute sich an der Halleschen Theologischen Fakultät unproblematischer Benutzung, was insofern nicht weiter überrascht, als das Buch durch die preußische Kabinettsorder vom 8. Februar 1740 durch Friedrich Wilhelm I. und noch vor der RückBaumgartens, was aber nichts weiter heißen will, da die von Boysen bezeugte Lektion privatim angeboten worden sein könnte. 642 Manteuffel an L. A. V. Gottsched, Berlin, 24.10. 1740, Ms 0342, Bd. 6a, Bl. 383 f., hier: Bl. 384r; vgl. auch den Hinweis auf diese Stelle bei Wehr: Johann Christoph Gottscheds Briefwechsel, 158. 643 S. J. Baumgarten: Anweisung zum erbaulichen Predigen, für seine Zuhörer [. . .] Nebst einem Auszuge der Erläuterungen aus den homiletischen Vorlesungen, und einer anderweitigen Vorrede desselben, herausgegeben von Johan Philip Christian Bast, Frankfurt am Main 1752 ( 21770). 644 Hirsch: Geschichte, Bd. 2, 374. 645 Wie die Titelbezeichnung verrät, lag Wolff ein Exemplar der zweiten Aufl age von Gottscheds Homiletik vor. 646 Zit. bei E. Wolff: Gottscheds Stellung, Bd. 1, 192 f.; der Brief datiert auf den 7. Juni 1743.

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kehr Wolffs nach Halle quasi offiziell für den Homiletikunterricht an der brandenburg-preußischen Landesuniversität legitimiert war. 3.3.3 Literarisch-materiale Rezeption: drei Beispiele ( Johann Matthias Cappelmann, Johann Melchior Goeze, Rudolph Graser) Aus den vielfältigen positiven literarischen Rezeptionen von Gottscheds Homiletik soll der Hinweis auf drei, vom Ansatz her verschiedene Fallbeispiele genügen,647 um an ihnen stellvertretend das Spektrum derjenigen Rezeptionslinien zu veranschaulichen, die in diesem Zusammenhang umfassende Berücksichtigung fi nden könnten und möglicherweise bei anderer Gelegenheit noch einmal näher untersucht werden sollen. Erstes Beispiel: Der erwähnte Johann Matthias Cappelmann, als Jenaer Student ein Gottsched-Korrespondent im Jahr 1734,648 hatte als Prediger zu Steinhagen (Grafschaft Ravensberg) bei Bielefeld 649 mit seinen Beiträgen zur 647 Darüber hinaus fungierte beispielsweise Gottscheds Predigtlehrbuch als ein homiletischer Bezugspunkt neben anderen in der Abhandlung über die theologische Simplizität des bekannten Zürcher Zimmermann: Meditatio, 462–500; unter Verwendung eines langen Zitates aus [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 159–163 argumentierte Zimmermann ebd, 481 f. gegen den aus auf klärerischer Sicht empfundenen »Mißbrauch« biblischer Exegese in der orthodoxen Predigt. – Ebenso erwähnte der Tübinger theologische Wolffianer Canz in der Vorrede zu einer Predigtsammlung den Grund-Riß als Paradebeispiel zeitgemäßer Homiletik; I. G. Canz: Vorrede, in: Johann Friedrich Stein: Geistliche Reden über alle Evangelia, an den Sonn= Fest= und Feyertagen durchs ganze Jahr öffentlich gehalten, und nebst einem Anhang Predigten von verschiedener Gattung herausgegeben, mit einer Vorrede Herrn Jsrael Gottlieb Canzens, Carlsruhe 1748, Bl. **3v. – Ferner berief sich der Göttinger Professor Magnus Crusius im Rahmen einer Vorrede zu einem anderen Predigtband auf ein »Urtheil des ungenannten Autoris von dem Berlinischen Grundriß einer Lehrart ordentlich und erbaulich zu predigen, p. 19«; M. Crusius: Versuch einer Critic Von den besondern Eigenschaften und Kennzeichen der vornehmsten Frantzösischen Reformirten Redner, in: Zweite Sammlung von auserlesenen Heiligen Reden, welche von denen berühmtesten und gelehrtesten Lehrern der Reformirten Kirche In Frantzösischer Sprache gehalten, In solcher eintzeln heraus gegeben, und wegen ihrer Vortreffl ichkeit Mit Fleiß in die Teutsche Sprache übersetzet worden, Nebst einer Vorrede Sr. Hochwürden Herrn Magnus Crusius. Erfurt 1743, Bl. )()(3r. – Derartige Beispiele punktueller literarischer Rezeption des Grund-Risses ließen sich erheblich vermehren. 648 Vgl. Suchier: Gottscheds Korrespondenten, 21. 649 Zu Cappelmann (1714–1764) vgl. F. W. Bauks: Die evangelischen Pfarrer in Westfalen von der Reformation bis 1945, Bielefeld 1980, 74; W. Mersmann: Johann Matthias Cappelmann (1714–1764): ein Gelehrter auf der Steinhagener Kanzel, in: 650 Jahre Kirchengemeinde Steinhagen/ hrsg. von den Kirchgemeinden Steinhagen. [o. O.] [1984], 65–75. – Nach dem Studium in Jena und Halle (immatrikuliert 15. 5. 1736) und einer ersten, wegen Widerständen der Gemeinde nicht angetretenen Pfarrstelle in Gütersloh war Cappelmann von 1740 bis zu seinem Tod Pfarrer von Steinhagen; Bauks notiert ihn fälschlich als Verfasser eines »Magazins für Prediger. Lemgo 1741 ff.«. – Zu den Umständen seiner nicht angetretenen Pfarrstelle siehe eine Anmerkung Cappelmanns zu [Anonym:] Sendschreiben eines vornehmen Geistlichen, über den ersten Theil dieser Beiträge, etc. Mit beygefügter Antwort dem Drucke übergeben von Johann Matthias Cappelmann, in: Beiträge zur Beredsamkeit, Tl. 2 (1743), 421–424 in Anm. 392; zur Genese

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Beredsamkeit derer geistlichen Redner (1741–1747) 650 ein publizistisches Projekt am Buchmarkt etabliert, das pressegeschichtlich gesehen als Vorläufer einer homiletischen Fachzeitschrift insofern eine recht eigentümliche Angelegenheit darstellte, als hier 24 aufsatzlange Beiträge zur auf klärerischen Predigtreform mit fortlaufender Paginierung (989 Seiten) über einen Zeitraum von sechs Jahren hinweg in vier Teillieferungen zu einem opulenten Oktavband vereinigt und durch ein abschließendes Register inhaltlich erschlossen wurden. Blickt man vom ältesten (1723) 651 bis zu den jüngsten, 1747 abgedruckten Aufsätzen,652 leistete Cappelmann hier in gewisser Weise die Arbeit eines Chronisten des homiletischen Diskurses im zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts. Die Beiträge (teils Erst-, teils Wiederabdrucke) 653 wurden von Cappelmann (und dies machte die besondere, beinahe einzigartige kommunikationsgeschichtliche Rolle der Sammlung im Kontext der aufklärerischen Predigtreform aus) mit insgesamt 935 durchnumerierten, gelegentlich ausgesprochen umfangreichen Anmerkungen begleitet, mit deren Hilfe Aussagen des Obertextes entweder bekräftigende und erklärende oder aber zurückweisende, abschwächende und stellenweise auch schneidendironische Kommentierung erfuhren; zum Teil wurden sogar ganze Beiträge nur zum Zweck kommentierender Destruktion aufgenommen.654 Auf diese seiner Wolff-Anhängerschaft bemerkte ebd, 424: »Man erzehlte uns viel von einer geheimen Untersuchung, die man in Berlin wegen dieser Weltweisheit niedergesetzet. Wir, die wir niemahls die Wahrheit nach den Aussprüchen grosser Männer, sondern nach der Erkenntniß, die uns davon eigen ist, beurteilen, nahmen die Schriften des Hn. Canzlers Wolffs, und die Beschuldigungen seiner Gegner, deren damahls verschiedene und viele ans Licht traten, selbst zur Hand, und wandten auf die Untersuchung derselben nicht wenige Zeit. Wir wurden aber bald gewahr, wie unbillig die leztere oft abgefasset. Es kan sein, daß daher unsere Hochachtung gegen den Hn. Wolffen, doch nein, nicht gegen den Hn. Wolffen, sondern den Wahrheiten, die wir bei ihm gründlich abgehandelt antrafen, ihren ersten Ursprung genommen.« Zu diesen Vorgängen ausführlich unten Kap. 3, Abschn. 3.2.1. 650 Beiträge Zur Beredsamkeit Derer Geistlichen Lehrer. Mit Anmerkungen ans Licht gestellt von Johann Matthias Cappelmann, Theil 1, Lemgo 1741; Theil 2, ebd. 1743; Theil 3, ebd. 1745; Theil 4, ebd. 1747. 651 Hallbauer: Abhandlung von der homiletischen Pedanterie (1723), in: Beiträge zur Beredsamkeit, Tl. 2 (1743), 201–246 (7. Beitrag). 652 Beispielsweise J. F. Stein: Abhandlung 1. Von den Haupttheilen einer geistlichen Rede. 2. Der Frage, ob die Weltweisheit auf der Canzel gebraucht werden dürfe? 3. Daß hauptsächlich JEsus und sein Verdienst solle geprediget werden. Nebst einem Eingang von den Regeln der Beredsamkeit, in: Beiträge zur Beredsamkeit, Tl. 4 (1747), 803–862 (20. Beitrag). 653 Neben einer ganzen Reihe von Beiträgen aus Cappelmanns Feder begegnen Namen bekannterer Autoren, wie z. B. Hallbauer (7. und 24. Beitrag), Mosheim (15. Beitrag) und Reinbeck (9. Beitrag); aber auch ganz unbekannte Namen, wie der erwähnte und mit zwei Beiträgen vertretene Baden-Durlachische Hofprediger Johann Friedrich Stein, oder der mit Cappelmann befreundete Heinrich Friedrich Reischauer, der »auf der hohen Schule in Jena drei Jahr ein academischer Freund« war (Cappelmann ebd, 618 in Anm. 596), sind vertreten. 654 So beispielsweise bei J. M. Cappelmann: Auszug aus des Herrn Joachims Oporins

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Weise wurde der homiletische Diskurs selbst Gegenstand auf klärerischer Analyse, und die Lektüre des in Sachen auf klärerischer Predigtreform unentschiedenen Lesers wurde auf diesem Wege nachhaltig im Sinne des theologisch-homiletischen Wolffianismus konditioniert und kanalisiert. Gottscheds Predigtlehrbuch stellte bei diesen Kommentierungen quantitativ gesehen zwar keinen herausgehobenen Referenzbezug dar, war aber doch durch die persönliche Erklärung Cappelmanns beim Abdruck der preußischen Kabinettsorder in besonderem Maße qualitativ gewürdigt worden655 und erfuhr (neben beiläufigeren Erwähnungen) 656 nachdrückliche Empfehlung beispielsweise für die Behandlung der Affektenlehre, also der Übertragung eines zentralen Teilbereichs der Wolffschen Psychologie auf die Homiletik.657 Den Kontext dieser Empfehlung bildete dabei ein Beitrag des – homiletisch weitgehend auf der Linie Gottscheds befindlichen – Baden-Durlachischen Hofpredigers und Gottsched-Korrespondenten Johann Friedrich Stein (1707–1771),658 der an der kommentierten Stelle sich im Rahmen einer homiletischen Erläuterung der auf klärerischen docere- und [. . .] Alte und einzige Richtschnur überzeugend und erwecklich zu predigen. Entworfen von Johann Matthias Cappelmann, in: Beiträge zur Beredsamkeit, Tl. 1 (1741), 125–160; S. Deyling: Gedanken von der Art erbaulich und überzeugend zu predigen und wie ferne insbesondere die sogenannte demonstrativisch-philosohische Methode in heiligen Reden könne und dürfe gebrauchet werden?, in: ebd, Tl. 3 (1745), 515–540. Bei einem Abdruck eines dritten Textes übernahm ein anderer die zuvor von Cappelmann geübte Rolle des homiletischen Zensors: J. G. Walch: Abhandlung von dem verderbten und gesunden Geschmack in Ansehung der Predigten. Mit Anmerkungen erläutert und vermehret von Johann Christian Dommerich, in: ebd, Tl. 4 (1747), 753–804; zu den höchst parteiischen Anmerkungen Dommerichs (1723–1767; zu ihm ADB 5 [1877], 326 f.) notierte ein zeitgenössischer Rezensent: Neue Theologische Bibliothek 1 (1747), 393: »Wir zweifeln, daß die Anmerkungen nach des Herrn D. Walchs Sinne gerathen.« 655 Beiträge zur Beredsamkeit, Tl. 1 (1741), 189 in Anm. 191, wo Cappelmann bemerkte: »Wir stunden also von unsrer Arbeit ab, und preisen diesen Grundriß unsern Lesern bestens an. Wir werden uns stets auf denselben beziehen [. . .]«. Ein Rezensent (Nachrichten von den neuesten Theologischen Büchern und Schrifften 1 [1742], 98 f.) notierte angesichts dieser Erklärung: »Er [sc. Cappelmann] bezeuget übrigens eine gute Einsicht in die Weltweißheit, und eine besondere Hochachtung für die Wolfi sche, wie er denn, den zu Berlin heraus gekommenen Grundriß überall billiget, und seinen Lesern anpreißet.« 656 Vgl. Beiträge zur Beredsamkeit, 219 in Anm. 218; 257–259 in Anm. 246; 319 in Anm. 285; 473 f. in Anm. 437; 855 in Anm. 845 u. ö. 657 Cappelmann in: Beiträge zur Beredsamkeit, 448–450 in Anm. 410: »In Erregung und Dämpfung derer Affecten kömt viel auf eine natürliche Geschicklichkeit an. Man kennet Männer von schlechten Ansehen und Verdiensten, die aber besondere Gaben besitzen, die menschliche Leidenschaften zu erregen. Ein geistlicher Redner ist zu dieser Pfl icht vor viele andere verbunden. [. . .] Wer in diesem Stück was gründliches fassen will, muß den Berlinischen Grundriß [. . .] nachlesen.« 658 J. F. Stein: Vernünftige und schriftmässige Gedanken von der geistlichen Beredsamkeit im Predigen, in: Beiträge zur Beredsamkeit, Tl. 3 (1745), 429–514 (13. Beitrag). – Zu Stein siehe DBA I 1217, 309 f.; einen Brief Steins an Gottsched aus dem Jahr 1738 verzeichnet Suchier: Gottscheds Korrespondenten, 73.

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movere-Auffassung klar für eine »deutliche«, »überzeugende« und zugleich »nachdrückliche« Predigt erklärt hatte.659 Welche homiletische Relevanz Cappelmanns kommentierende Empfehlung der Gottschedischen Affektenlehre eignete, erhellt in diesem Zusammenhang eine zeitgleich dazu, von Gottscheds späterem ästhetiktheoretischem Antipoden, Georg Friedrich Meier, geäußerte Auffassung zur Sache. Nach Meier wird ein Redner, Dichter oder Lehrer (und als ein solcher galt allgemein ein Prediger) erst durch eine detaillierte Kenntnis der menschlichen Seelenkräfte überhaupt dazu befähigt, »die Gemüther seiner Leser und Zuhörer zu entzünden, und nach seinem Gefallen, bald diese, bald jene, Leidenschaften zu erregen, zu vermehren, zu lindern, zu unterdrücken, nachdem es seine Absicht erfordert« 660. Cappelmanns Empfehlung von Gottscheds Darlegungen zur Affektenlehre betraf demnach einen Kernbereich der homiletischen Praxis. Zweites Beispiel: Wie stark die Plausibilität einer am gesellschaftlichen Wandel orientierten Predigt, wie sie Gottsched vertrat, bereits um 1750 auch in Kreisen einer vermeintlich »verspäteten Orthodoxie« 661 war, läßt sich an einem Schüler Baumgartens ablesen: dem als Hamburger Hauptpastor und Lessing-Gegner bekannt gewordenen Johann Melchior Goeze (1717–1786).662 Dieser zeigte sich – unbemerkt von der kirchen- und homiletikgeschichtlichen, nicht aber von der literaturgeschichtlichen Forschung663 659

Stein: Vernünftige und schriftmässige Gedanken, 447 f. führte in seinem Beitrag aus: »Wil also ein Redner den Beifall der Verständigen erhalten, so muß er zuvorderst deutlich, ordentlich und zierlich sprechen. Hernach muß er das richtig und gründlich beweisen, was er sagt, Wenn nun diese Beweise in einem geschickten Vortrag eingekleidet, die Gründe lebhaft ausgesprochen, anmuthig erläutert und nachdrücklich eingeschärfet werden; so werden die Affecten und Gemüthsbewegungen dadurch erwecket, und, wo es nöthig ist, unterdrücket«; an dieser Stelle schaltete Cappelmann die oben zitierte Anmerkung (s. o. Anm. 657) ein. 660 G. F. Meier: Theoretische Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt, Halle 1744, § 13, zit. nach Schenk: Die Begründung, 108; das Exemplar der UB Leipzig wird derzeit leider vermißt. 661 Verspätete Orthodoxie: über D. Johann Melchior Goeze (1717–1786)/ hrsg. von H. Reinitzer; W. Sparn, Wiesbaden 1989. 662 Zu Goeze siehe auch: Johann Melchior Goeze 1717–1786. Abhandlungen und Vorträge/ hrsg. von H. Reinitzer, Hamburg 1987; F. Kopitzsch: Politische Orthodoxie: Johan Melchior Goeze 1717–1786, in: Profi le des neuzeitlichen Protestantismus. Bd. 1: Auf klärung, Idealismus, Vormärz, Gütersloh 1990, 71–85. 663 Auf einen briefl ichen Kontakt Goezes mit Gottsched, bei dem jener sich als homiletischer Schüler des letzteren erklärte, hatte zuerst Danzel: Gottsched, 48 hingewiesen und sich bei dieser Gelegenheit verwundert: »Paradox genug klingt es, daß sich dem Wirken Gottscheds in diesem Fache [sc. der Homiletik] auch der später so berüchtigte J. M. Goeze anschließt«; vgl. im Anschluß daran auch Grosser: Gottscheds Redeschule, 46. Zur homiletischen Abhängigkeit Goezes von Gottsched liegt mittlerweile eine eigene Studie von Ernst-Peter Wieckenberg: Goeze und Gottsched, 233–263 vor, die sich mit meinen Forschungen in vielen Punkten überschneidet. Ich danke Herrn Wieckenberg vielmals für die freundliche Überlassung des Manuskriptes seines mittlerweile auch gedruckten Beitrages.

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– bei eigenen predigttheoretischen Überlegungen völlig auf der Linie der von Gottsched aufgestellten Regeln.664 Dabei teilte er nicht nur die kritischen, gleich Gottsched mit spitzer Zunge vorgetragenen Ausfälle gegen die orthodoxe Homiletik fast wortwörtlich,665 sondern er verteidigte auch die im Gottsched-Kreis propagierte Auffassung über das Recht der Vernunft in der Predigt unter Benutzung derselben Argumente.666 Das vermeintliche Rätsel löst sich mit einem versteckten Hinweis auf ein eigenes Exemplar des Grund-Risses,667 das Goeze vielleicht sogar auf direkte Emp664

J. M. Goeze: Vorrede von der Gründlichkeit einer evangelischen Predigt, in: Samlung auserlesener Canzel=Reden, über wichtige Stellen der H. Schrift: Welche verschiedene, berühmte und verdiente Lehrer der Evangel. Lutherischen Kirche, itziger Zeit, ausgearbeitet: An das Licht gestellet von Johann Melchior Goezen. Zweiter Theil, Magdeburg 1755, 1–52. 665 Vgl. beispielsweise Goeze: Vorrede von der Gründlichkeit, 28, wo dieser mit Blick auf die Jahrgangsmethode mit Worten Gottscheds kritisiert: »Heißt das nicht, aus dem vesten prophetischen Worte, eine wächserne Nase machen?«; zu dieser gegen die Homiletik Orthodoxie gerichteten Kritik siehe Gottsched: AR 1736, 527 (GAW VII/3, 67,35) sowie ders.: Grund-Riß einer Lehr-Arth, 159. Weitere Übereinstimmungen bestehen in der von Goeze: Vorrede von der Gründlichkeit, 36 geäußerten Kritik an der barocken Vorliebe zur Allegorie, für die er – gleich Gottsched – Johannes Riemer und Valerius Herberger als Negativbeispiele anführte. Vgl. schließlich auch J. M. Goeze: Vorrede, in: Johann Anton Trinius: Homiletische Grundrisse über besondere Stellen der heiligen Schrift; größtentheils aus Leich- und Casualpredigten berühmter und verdienter Gottesgelehrten genommen und gesammlet, Zelle und Leipzig 1759, Bl. b1v, wo sich Goeze der von [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 106–111 geäußerten Kritik an allegorischen Predigtdispositionen in Löschers Unschuldigen Nachrichten anschließt. Die Beispiele solcher Übereinstimmungen ließen sich erheblich vermehren. 666 Goeze: Vorrede von der Gründlichkeit, 5: »Ist es etwa nicht möglich, daß ein Gottesgelehrter seine Sätze, die er behauptet, auf eine eben so scharfe und bündige Art erweisen kan, als der Weltweise seine Wahrheiten? Fehlet es uns an Gründen, auf welche wir unsere Lehren bauen können? Stehen uns die allgemeinen Wahrheiten der Vernunft und Erfahrung nicht sowohl zu Dienste, als den Philosophen?« Und ebd, 19 f. meinte er: »Es komt also bey der Gründlichkeit einer Predigt, sowohl auf die Beweisgründe selbst, als auch auf die Art und Weise an, wie aus denselben die Schlüsse hergeleitet werden. Die Beweisgründe selbst können aus einer doppelten Quelle geschöpfet werden. Es sind entweder solche, welche uns die Vernunft und Erfahrung darbieten, oder welche wir aus dem geoffenbarten Worte GOttes hernehmen. Ob es erlaubt sey, Gründe und Wahrheiten der Vernunft, in der Theologie zu brauchen, insonderheit, ob es rathsam sey, sich derselben in Predigten zu bedienen? sind Fragen, über welche in unsern Tagen viel gestritten worden, und über welchen Streit, sich die Nachkommen sehr verwundern werden. [. . .] Die Vorrede, welche der seel. Pr[obst] Reinbeck, dem zweiten Theile seiner Betrachtungen über die Augspurg. Confeßion, vorgesetzet, hat diesen Streit so gründlich entschieden, und die gemisbrauchten und falsch erklärten Stellen der heiligen Schrift, in ihrer wahren Absicht, so deutlich dargestellet, daß ich meine Leser, die von diesen Streitigkeiten einen hinlänglichen Unterricht verlangen, nur darauf verweisen darf.« Zur erwähnten Vorrede Reinbecks s. u. in Kap. 3, Abschn. 3.1. 667 Da Goeze: Vorrede von der Gründlichkeit, 25 aus Eachard: Untersuchung der Ursachen mit der Seitenangabe »592« zitiert, ist zu schlußfolgern, daß ihm ein Exemplar der zweiten Aufl age von Gottscheds Grund-Riß vorlag, was durch den Eintrag eben dieses Titels in: Bibliotheca Goeziana, seu catalogus librorum ex omnia scientia praestantissi-

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fehlung Baumgartens, der, wie erwähnt, nach Gottscheds Homiletik las, anschaffte.668 Das erste explizite Anzeichen für Goezes Anschluß an Gottscheds Homiletik reichte freilich ein paar Jahre weiter zurück, da der zu dieser Zeit noch in Magdeburg tätige Pfarrer am 12. Mai 1753 eine eigene, zum Druck gebrachte Leichenpredigt zur Begutachtung nach Leipzig übersandte.669 Aus dieser sollte Gottsched »wahrnehmen, daß ich bey der Ausarbeitung dieser Rede, so wohl Dero Regeln, als den schätzbaren Mustern zu folgen, mich bemühet habe, welche Dieselben der Welt vor die Augen geleget haben« 670. Goeze, der mit diesem Bekenntnis vermutlich auf seinen Anschluß an jene Regeln rekurrierte, die Gottsched in seiner Ausführlichen Redekunst im Abschnitt von »Trauerreden und Parentationen« aufgestellt hatte,671 verfolgte mit dieser Auffrischung eines bereits vier Jahre zurückliegenden persönlichen Kontaktes672 die durchschaubare Absicht, mit seiner Leichenrede im Rezensionsteil der von Gottsched herausgegebenen, renommierten Zeitschrift Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit Berücksichtigung zu fi nden.673 Bestärkung erfuhr Goeze dabei mutmaßlich durch eine erste, positive Rezension einer von ihm besorgten Predigtübersetzung.674 Seine Hoffnung sollte in vollem Umfang in Erfüllung gehen.675 Wenn Goeze sich morum rarissimorumque, qui post mortem b. possessoris, viri quondam plurim. reverendi, G. F. Goeze [. . .] in aedibus Eimbecianis inde a die XXIX Octobr. MDCCXCII publica auctionis lege divendentur, Hamburg [1792], 146 (Nr. 1009) bestätigt wird. 668 Goeze hatte zwischen 1734 und 1738 in Jena und Halle studiert und blieb auch nach seiner unter Baumgarten erfolgten Promotion zum Dr. theol. und seinem Abschied von Halle mit seinem einstigen Lehrer in Kontakt. Der von Goeze herausgegebenen Predigtsammlung: Samlung auserlesener Canzel=Reden. Zweiter Theil (Magdeburg 1755) hatte er eine Zuschrift an Baumgarten vorangestellt, in der er ebd, Bl. )(3v-4r seine Verehrung gegenüber dem Lehrer wie folgt zum Ausdruck brachte: »Es ist mir allemahl eine ganz besondere Freude, wenn ich mich einen Schüler und Verehrer des grossen Baumgarten nennen, und der Welt versichern kan, daß ich einige Gründe habe zu hoffen, daß ich an diesem Manne, Dessen Vorzüge die späten Nachkommen erst recht schätzen werden, einen Gönner, ja, wenn ich mich dieses Ausdrucks bedienen darf, einen Freund habe: [. . .]«. 669 Johann Melchior Goeze an Gottsched, Magdeburg, 12. 5. 1753, UBL Ms 0342, Bd. 8, Bl. 315r-v; vgl. zu diesem Brief auch Danzel: Gottsched, 48. 670 Goeze an Gottsched, Bl. 315r; der Brief Goezes an Gottsched ist vollständig abgedruckt bei Wieckenberg: Goeze und Gottsched, 234 f. 671 Wieckenberg: Goeze und Gottsched, 236 f. 245 in Anm. 42. 672 Goeze an Gottsched, Bl. 315r. 673 Goeze an Gottsched, Bl. 315v: »[. . .] wenn es Ihnen gefallen könnte, in denen so angenehmen und überall beliebten Neuesten aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, das Andenken dieses wahr[en] Menschenfreundes [sc. des Verstorbenen], zu verewigen«. 674 Jacob Bessonnet: Erbauliche Predigten über verschiedene Stellen der heiligen Schrift. Aus dem Französischen übersetzt von Johann Melchior Goetze, Prediger an der Stephanskirche zu Aschersleben, mit einer Vorrede Romanus Tellers, Leipzig 1750. – Rez. durch Gottsched in: Neuer Büchersaal 10 (1750), 380. 675 [ J. Ch. Gottsched]: Rez. Johann Melchior Goeze: Gedanken über die Ewigkeit, welche bey dem Sarge des weiland Hochwohlgeb. Hernn Gottlieb von Häseler [. . .] zu

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später in einer seiner zahlreichen Predigtsammlungen über die von ihm »gebrauchte Lehrart« dahingehend erklärte, daß er, »so viel als mir möglich gewesen, diese Hauptzwecke vor Augen gehabt, den Verstand meiner Leser zu überzeugen, und ihren Willen in heilige Bewegungen zu setzen, und zu dem Ende allen möglichen Fleis angewandt, sowohl gründlich als angenehm und rührend zu schreiben« 676 , zeigte dies in aller Deutlichkeit, wie sehr er mit den homiletischen Hauptforderungen Gottscheds übereinstimmte. Daß dafür ein prinzipieller Anschluß an grundlegende Überzeugungen der philosophischen Auf klärung, wie sie ihm mutmaßlich von seinem Lehrer Baumgarten vermittelt worden waren, die Voraussetzung bildete, lehrt eine andere, ganz frühe Bemerkung Goezes. In seiner zweiten Veröffentlichung, einer 1740 in Aschersleben gehaltenen und 1742 veröffentlichten Predigt schrieb er über den Begriff der Freiheit, daß sie »in der Kraft des Willens [bestehe], denen Schlüssen und Urtheilen, die ein reiner und aufgeklärter Verstand nach einer genugsamen Überlegung gefasset hat, gehorsam und Folge zu leisten« 677. Drittes Beispiel: Eine der vielleicht überraschendsten und bislang noch am wenigsten erforschten Rezeptionslinien von Gottscheds Homiletik reichte mit der Überschreitung der territorial-konfessionellen Grenzen der protestantischen Auf klärung Mittel- und Norddeutschlands tief in den römischkatholischen Süden des Alten Reiches hinein. Angesichts ihrer homiletikge-

Magdeburg im März 1752 in einer Stand- und Trauerrede vorgetragen worden, in: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 1753, 638 f.: »Gegenwärtige Standrede verdienet, vor sehr vielen ihres gleichen, eine Aufmerksamkeit der Kenner. Ihr ehrwürdiger Herr Verfasser gehöret unter die kleine Zahl der Geistlichen, die auch Redner zu heißen verdienen. Denn seit dem die liebe Homiletik sich, in ihren Kunstgriffen von einem Texte zu reden, so sehr von den wahren Regeln der Ueberredungskunst entfernet hat: so ist es etwas seltenes, daß sich jemand von ihren Abwegen, wieder auf die rechte Bahn, zum Tempel der Suada, zu rechte fi ndet. Hier herrschet nämlich eine edle Art zu denken, ohne Schwulst; ein feuriger Witz, ohne Rauch; ein erhabner Ausdruck, ohne Dunkelheit; eine feine Schreibart ohne eine Sucht neue Wörter zu backen, oder alte auf eine seltsame Art zusam(m)en zu fl icken. [. . .] Dem beredten Herrn Past. Götzen aber wünschen wir mehr solche Gelegenheiten, sein treffl iches Talent auf eine so bewegliche und rühmliche Art anzuwenden.« – Den vollständigen Text der Rezension bietet jetzt auch Wieckenberg: Goeze und Gottsched, 263. 676 J. M. Goeze: Heilsame Betrachtungen des Todes und der Ewigkeit, auf alle Tage des Jahres. 2. Theil, Breslau und Leipzig (1755) 41767 (Vorrede), zit. bei: Wieckenberg: Goeze und Gottsched, 252. 677 J. M. Goeze: Die geystliche Freyheit der Glaubigen [Text: 2 Kor 3, 17], in: Samlung auserlesener und überzeugender Canzel-Reden Nach dem Glauben der Auserwählten GOttes und der Erkentniß der Wahrheit zur Gottseligkeit. Ueber Wigtige Wahrheiten der geoffenbahrten Lehre GOttes und unsers Heilandes JEsu Christi, Aus dem Munde und der Feder Berühmter Geistl. Redner jetziger Zeit. Mitgetheilet von Theophilo und Sincero. Sechster Theil, Hamburg und Leipzig 1742, 196; vgl. auch Wieckenberg: Gottsched und Goeze, 251 f.

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schichtlichen Bedeutung soll diese Linie hier etwas ausführlicher berücksichtigt werden. Pater Rudolf Graser678 (1728–1787), ein als Prediger und Homilet bekannter Anhänger des Leipziger Sprachreformers aus dem österreichischen Benediktinerstift Kremsmünster,679 zeigte sich in seiner homiletischen Tätigkeit 680 zu einem erheblichen Teil durch den Grund-Riß beeinflußt und wurde auf diesem Wege zu einem wichtigen, vielleicht sogar maßgeblichen Vermittler auf klärerischer Predigtauffassungen an das süddeutsche katholische Milieu.681 Die dergestalt markierten homiletikgeschichtlichen Zusam678 Zu Rudolf (Rudolph) Graser siehe ADB 49 (1904), 508 f.; K. Kienesberger OSB: Der Gottschedianer P. Rudolf Graser OSB und seine Fluchtreise nach Paris (1760/61) im Spiegel des überlieferten Briefwechsels: eine Episode aus der Zeit der Auf klärung in Kremsmünster, in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 109 (1998), 304–309. 679 B. Bianco: Wolffianismus und katholische Auf klärung: Storchenaus Lehre vom Menschen, in: Katholische Auf klärung – Auf klärung im katholischen Deutschland/ hrsg. von H. Klueting in Zusammenarbeit mit N. Hinske; K. Hengst, Hamburg 1993, 76 stellte fest: »[. . .] waren in Österreich vor allem Salzburg und Kremsmünster und später auch Wien die Stätten, wo der Wolffianismus am meisten verbreitet war. [. . .] Und gerade in Kremsmünster, dem wichtigen Benediktinerstift in Oberösterreich, [. . .] konnten sich die Wolffschen Lehren zusammen mit den Sprachkonzeptionen Gottscheds in der 1744 gegründeten Ritterakademie mühelos verbreiten.« Zur geistigen Situation Kremsmünsters zu Beginn des 18. Jahrhunderts vgl. auch Kienesberger: Der Gottschedianer, 294–297 sowie H. Sturmberger: Studien zur Geschichte der Auf klärung des 18. Jahrhunderts in Kremsmünster, in: Mitteilungen des österreichischen Instituts für Geschichtsforschung 53 (1939), 423–480; zu Graser ebd, 457. 474–476. 680 Auf predigttheoretischer Seite sind insbesondere zu nennen: R. Graser: Vollständige Lehrart zu predigen oder wahre Beredsamkeit der christlichen Kanzel nach der Vorschrift der berühmtesten Redner Frankreichs und Deutschlands in gründlichen Regeln verfaßt. Mit Erlaubniß der Obern, Augsburg 1768 (weitere Ausgaben: Salzburg 1766, Augsburg 1770, Augsburg 1774); ders.: Praktische Beredsamkeit der christlichen Kanzel, in Regeln, Exempeln, und vollständigen Mustern; mit einer Vorrede begleitet von P. Maurus Lindemayr, Augsburg 1769 (weitere Ausgabe: Augsburg 1774). – Die wichtigsten Predigtsammlungen Grasers notiert ADB 49, 508 f.; vgl. auch Katalog gedruckter deutschsprachiger Predigtsammlungen/ hrsg. von W. Welzig. Bd. 2, Wien 1987, 60– 64. 638. 681 Grasers explizites Interesse an Gottscheds Grund-Riß erwähnen E. Wolff: Gottscheds Stellung, Bd. 1, 199; Waniek: Gottsched, 561 f.; Waniek hat ebd, 562 (in Kenntnis des Briefwechsels zwischen Graser und Gottsched; vorhanden in UB Leipzig) die Ansicht vertreten: »Graser ward in der That später ein berühmter Kanzelredner, der die Bestrebungen Gottsched’s auf dem Gebiete der Rhetorik durch zahlreiche deutsche Schriften auf das katholische Deutschland übertrug und 1779 auch Mitglied der bairischen Gesellschaft ad excolendam eloquentiam sacram wurde.« – Die wichtige Rolle, die Graser bei der Reform der katholischen Barockpredigt spielte, wird indirekt anschaulich bei Herzog: Geistliche Wohlredenheit, der sich durchgängig auf Grasers Homiletik bezieht; vgl. ebd, 517 die Einträge zu Graser im Register. Eine (allerdings bloß beiläufige) Erwähnung Grasers fi ndet sich auch bei J. Kehrein: Geschichte der katholischen Kanzelberedsamkeit der Deutschen von der ältesten bis zur neuesten Zeit: ein Beitrag zur allgemeinen Literaturgeschichte. Erster Band: Geschichte, Regensburg 1843, 190 f.: »Rudolph Graßer, Benedictiner zu Kremsmünster, wird den bessern katholischen Kanzelrednern beigezählt. Sei-

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menhänge, die noch so gut wie gar nicht untersucht sind682 und bei denen (wie auch im Falle Gottscheds) die gewöhnlich praktizierte Trennung zwischen Sprach- und Predigtreform endlich aufzugeben ist,683 können hier nur andeutungsweise aufgezeigt werden, allzumal sie eigentlich im weiteren Kontext einer »katholischen« Wolff-Rezeption einzuordnen sind, für die gleichfalls nur wenige Vorarbeiten vorliegen.684 Die Kontakte Gottscheds nach Österreich hatten zunächst durch eine Reise nach Wien im Jahr 1749 einen ganz erheblichen Aufschwung genommen.685 Unter den österreichischen, vorzugsweise an Fragen einer Sprachreform interessierten Korrespondenten686 bestand mit dem Benediktiner P. Placidus Amon (1700–1759) seit 1750 ein briefl icher Kontakt ins Kloster Melk,687 den der gerade einmal 24jährige Ordensbruder Rudolf Graser für ne Predigten sind belehrend und empfehlen sich durch logische Ordnung, durch Deutlichkeit und Faßlichkeit der Gedanken und der Sprache. Der Styl ist mehr didaktisch als rednerisch, der Ausdruck würdevoll.« 682 Die Bedeutung des Gottschedischen Einflusses auf Graser wurde im Gefolge der grundlegenden Arbeit Schachingers (s. u.) bislang einseitig auf das sprachreformerische Potential beim Kampf um eine deutsche Einheitssprache reduziert; vgl. stellvertretend für viele Belege F. M. Eybl: Predigt, katholische, in: LitLex 14 (1993), 231; ders.: Christliche Rhetorik III. Katholizismus, in: HWRh 2 (1994), 213: »Mit der Durchsetzung der Gottschedianischen puritas-Norm (R. Graser, I. Wurz) greift in der christlichen Redekunst Deutschlands verspätet nationalsprachliche Sprachreinigung Platz [. . .]«. 683 Bereits Kienesberger: Der Gottschedianer, 303 notierte den konstitutiven Zusammenhang von Sprach- und Predigtreform bei Graser, ohne aber diesem Aspekt weiter nachzugehen: »Der Eifer P. Rudolf Grasers für Gottscheds Sprachreformpläne verfolgte dabei noch ein weiteres Ziel: die Verbesserung der deutschsprachigen katholischen Predigtkunst. Darum übernahm er dessen Grammatikregeln und rhetorisch-homiletischen Prinzipien, blieb zeitlebens Gottschedianer und unternahm wohl auch seine Fluchtreise nach Paris 1760/61, um gegebenenfalls mit Vertretern der vielgerühmten französischen Kanzelberedsamkeit Kontakt aufzunehmen, bevor er sich im Geiste seines großen Mentors selbst daranmachte, die nachbarocke katholisch-deutsche Homiletik wirkungsvoll zu erneuern und den deutlich verändernden soziokulturellen Gegebenheiten anzupassen.« 684 Zum »Nachweis katholischer Elemente im Bau der Wolffschen Philosophie«, die ihre Rezeption im Katholizismus begünstigten, vgl. H. Schöffler: Deutsches Geistesleben zwischen Reformation und Auf klärung: von Martin Opitz zu Christian Wolff, Frankfurt am Main 21956, 200–208, Zitat: 200; zur »relativ einfach[en]« katholischen Wolff-Rezeption vgl. die Notiz bei U. G. Leinsle: Einführung in die scholastische Theologie, Paderborn u. a. 1995, 336 f. (mit Literaturhinweis); sowie I. Stasiewicz-Jasiukowa: Christian Wolff, die Wolffianer und der Katholizismus in Polen, in: Europa in der Frühen Neuzeit, Bd. 5 (1999), 445–453; zur insgesamt zeitversetzten Rezeption der Philosophie Wolffs im Katholizismus siehe M. Wundt: Die deutsche Schulphilosophie, 210 f. 301– 304; zusammenfassend Bianco: Wolffianismus, 1993, 67–103. 685 Vgl. Waniek: Gottsched, 548–567; E. Wolff: Über Gottscheds Stellung, Bd. 1, 248–257. 686 Dazu Wehr: Johann Christoph Gottscheds Briefwechsel, 252–269. 687 Ausführlich R. Schachinger: Die Bemühungen des Benedictiners P. Placidus Amon um die deutsche Sprache und Literatur, in: Studien und Mittheilungen aus dem Benedictiner- und Cistercienser-Orden mit besonderer Berücksichtigung der Ordensgeschichte und Statistik 9 (1888), 430–445. 618–627; 10 (1889), 96–106. 282–290. 477–485.

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seine dem gleichen Ziel verpfl ichteten Aktivitäten fruchtbar zu machen gedachte. Am 13. Januar 1752 trat er an Amon mit der schriftlichen Bitte heran, ihn in den Kreis der österreichischen Sprachverbesserer aufzunehmen,688 ein Kreis von Gleichgesinnten, die Gottsched als Autorität über die Maßen bewunderten. Bald darauf faßte Amon den Entschluß, den Eifer des jungen, den belles lettres ausgesprochen zugewandten Kremsmünsterer Konventualen dem Leipziger Sprachmeister anzuempfehlen.689 Anfang März löste er diese Absicht ein.690 Da Gottscheds Reaktion positiv ausfiel,691 wagte es der junge Benediktiner nach einigem Zögern, im darauffolgenden Winter ein eigenes Anschreiben aufzusetzen,692 das einen zwar nur ein Jahr währenden Brief kontakt mit Gottsched eröffnete,693 an dessen Ende aber ein von Leipzig ins Benediktinerstift geschmuggeltes Buchpaket mit reformhomiletischer Literatur stand, worunter sich u. a. ein Exemplar von Gottscheds Grund-Riß befand. Dieses wird noch heute in der dortigen Bibliothek aufbewahrt und zeugt von der einstigen, halb konspirativen Verbindung zwischen dem katholischen Benediktinerpater und dem protestantischen »Literaturpapst« in Sachen »Predigtreform«.694 Habent sua fata libelli! Wie war es 644–660; Höhepunkt der diesbezüglichen Aktivitäten war die 1761 erfolgte Gründung der Deutschen Gesellschaft in Wien. 688 Graser an Amon, Kremsmünster, 13. 1. 1752, zit. nach Schachinger: Die Bemühungen, Bd. 10, 285 f.; der bis Dezember 1755 reichende Briefwechsel zwischen Graser und Amon ist abgedruckt ebd, 285–290. 477–485. 644–660. 689 Schachinger: Die Bemühungen, Bd. 10, 290. 690 Amon an Gottsched, Melk, 2. 3. 1752, zit. nach Schachinger: Die Bemühungen, Bd. 10, 103: »Rudolph Graser, ein noch junger Benedictiner zu Cremsmünster, zeigt in seinen Briefen einen ungemein grossen Eifer und Lehrbegierde in der deutschen Sprache an, darinn er eine Vollkommenheit zu erreichen glaubt. Es reizt ihn auch ein natürlicher Trieb zur deutschen Dichtkunst, wie er neulich schrieb, mehr als anders wohin: und er gibt bey seinen wenigen Jahren gewisslich gute Proben und Hoffnung von sich, dass er es hierin sehr weit bringen könne; besonders wenn Eu. Hochedl. ihm dazu einen schriftlichen Antrieb machen wollten.« 691 Gottsched an Amon, Leipzig, 25. 5. 1752, zit. nach Schachinger: Die Bemühungen, Bd. 10, 106: »P. S. Könnte denn der wackere Geistliche zu Cremsmünster, Herr Rudolf Graser, nicht zu dero Arbeiten [sc. zum Plan Amons, ein deutsches Wörterbuch zu schreiben] etwas mit beytragen? Oder ist vielleicht sein Geist nur zum Parnass gebohren? Es sey nun eins oder das andre; so freue ich mich über seine patriotische Bemühungen, und wünsche etwas von seiner Feder zu sehen.« 692 Graser an Gottsched, Kremsmünster, 12. Wintermonat ( Januar) 1752 [recte: 1753], UBL, Ms 0342, Bd. 17, Bl. 559r-560v. 693 Insgesamt sind vier Briefe Grasers an Gottsched sowie zwei an die Gottschedin, die unter den österreichischen Gottschedianern eine annähernd große Bewunderung wie ihr Mann genoß, überliefert; der letzte Brief Grasers (Gegenbriefe fehlen leider) datiert auf den 18. Wintermond ( Januar) 1754, UBL, Ms 0342, Bd. 19, Bl. 40r-41v; eine Reihe von Hinweisen und Indizien zwingen zu dem Schluß, daß die Korrespondenz umfangreicher und ausgedehnter war, als die erhalten gebliebenen Schreiben ausweisen. 694 Für die Überlassung einer Kopie der Vorrede zur zweiten Aufl age von Gottscheds Homiletik sowie weitere Unterstützung bin ich P. Daniel Sihorsch OSB (Kremsmünster) zu herzlichem Dank verpfl ichtet.

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im einzelnen dazu gekommen, daß eine protestantisch-auf klärerische Homiletik ihren Weg in ein österreichisches Benediktinerkloster fand? Innerhalb des mit Amon geführten Briefwechsels ließ Graser erstmals im Sommer 1752 einen Hinweis auf seine Orientierung am predigtreformerischen Vorbild Gottscheds fallen. Er fragte bei seinem Briefpartner in Melk im Zusammenhang mit seiner bevorstehenden Primiz an, ob Amon ihm nicht das von Gottsched zur eloquentia corporis empfohlene Traktat Faucheurs695 beschaffen könne.696 Bis Weihnachten des Jahres beschäftigten wiederholt Fragen der Besorgung dieses Textes den Briefwechsel der beiden; am Ende beschwor Graser seinen Ordensbruder geradezu, ihm diesen endlich zu beschaffen.697 Kaum verwunderlich, daß Amon Auskunft darüber begehrte, was der Kremsmünsterer Gottsched-Anhänger ausgerechnet an diesem Buch für einen Narren gefressen hatte.698 Graser – rhetorisch völlig von Gottscheds Ansichten infiziert 699 – war um keine Antwort verlegen: »Verwundern sich E. H. nur nicht, dass ich mich so sehr nach Facheurs Tractat sehne. Denn ich bin fürs erste völlig überredet, dass keine Rede einen rechten Eindruck bey den Zuhörern machen kann, wenn ihr der äusserliche Vortrag fehlet; gesetzt dass dieselbe auch ganz unvergleichlich abgefasset wäre.«700 Neben diesem theologisch-dogmatisch unverdächtigen Büchlein korrespondierte man aber auch über ungleich heikleres Schrifttum zur Pre695

[Faucheur:] CONRARTS Gründlicher Unterricht (1709); siehe dazu oben in Abschn. 1.3.2. 696 Graser an Amon, Kremsmünster, 6. 8. 1752, zit. nach Schachinger: Die Bemühungen, Bd. 10, 485: »P. S. Können mir E. H. nicht des Facher [!] Tractat de l’action de l’Orateur von Wien aus verschaffen? Es ist auch unter Conrarts Namen im Deutschen herausgekommen. Dieses Werklein kann mir dereinst beym Predigen gut zu statten kommen. Mir gilt es gleich viel, ob ich es französisch oder deutsch bekomme. [. . .] Gottsched führt es in seiner Dichtkunst im Kapitel von Trauerspielen zu Ende an.« 697 Graser an Amon, Kremsmünster, 28. 10. 1752, zit. nach Schachinger: Die Bemühungen, Bd. 10, 650: »Ich beschwöre E. H. abermal, verhelfen Sie mir zu des Faucheurs Anweisung zur Leibesbewegung eines Redners.« 698 Amon an Graser, Traiskirchen, 17. 11. 1752, zit. nach Schachinger: Die Bemühungen, Bd. 10, 651: »Mein! warum bestreben sie sich so sehr um Faucheurs Anweisung zur Leibesbewegung eines Redners. Ein geistlicher Redner hat ja mehr auf den geistlichen Nutzen seiner Zuhörer, als auf den eitlen Dunst seiner geschickten Leibesstellung zu sehen?« 699 Gelegentlich einer geplanten Übersetzungsarbeit äußerte sich Graser gegenüber Amon, Kremsmünster, 23. 3. 1752, zit. nach Schachinger: Die Bemühungen, Bd. 10, 478 f. über die von ihm gefaßten Grundsätze der beabsichtigten Tätigkeit: »Die Regeln zu übersetzen will ich aus Gottscheds Redekunst holen; aber zu Mustern sollen mir alle die Stücke dienen, die ich entweder in besagter Redekunst zerstreuet antreffe, oder in der Schaubühne lese: es seyn dieselben aus Gottscheds oder seiner Gemahlinn Feder gekommen.« Unter dem Datum des 18. 5. 1753, zit. ebd, Bd. 10, 655 bekannte Graser zu seiner Predigttätigkeit: »Ich muß es bekennen, daß mir Gottscheds Redekunst, die ich mir so ziemlich geläufig gemachet habe, dabey sehr gute Dienste thut.« 700 Zit. nach Schachinger: Die Bemühungen, Bd. 10, 653. – Vgl. zu Gottscheds Auffassung von der notwendigen Einhaltung grundlegender Regeln zur eloquentia corporis

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digtreform, von dem Graser durch die Lektüre einschlägiger GottschedSchriften Kenntnis erlangt hatte.701 So bemühte er sich parallel zum Faucheur, auch in den Besitz eines Exemplars der Predigten Mosheims zu gelangen.702 Mitten in diese Erörterungen hinein schrieb Graser seinen ersten Brief nach Leipzig,703 in dem der selbsterklärte Schüler Gottscheds den Wunsch offenbarte, »zu allmähliger Einführung des guten Geschmackes in unserm Oesterreich, alle Kräften mit anzuspannen«704. Ein paar Monate darauf war der junge Pater bereits im Besitz einer stattlichen Liste homiletischer Reformschriften, die ihm von Gottsched mitgeteilt worden war. In ihr empfahl dieser – dem homiletischen Geschmackswandel der letzten Jahre bereits Rechnung tragend – als predigtpraktisches Vorbild nun nicht mehr Mosheim, sondern stattdessen seinen eigenen Schüler Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem sowie für die theoretischen Belange die eigene Homiletik (freilich noch immer unter Reinbecks Namen): »E. H. haben die große Güte für mich gehabt, mir eine gute Anzahl der besten Prediger bekannt zu machen. Ich nehme mir demnach die Freyheit einige davon von Gottsched: Ausführliche Redekunst. GAW VII/1, 415–443, wo ebd, 417,22 eine von mehreren Erwähnungen von Faucheurs Text begegnet. 701 Nach Auskunft des Briefwechsels mit Amon war Graser bereits vor seiner Kontaktaufnahme im Besitz der wichtigsten Werke Gottscheds. So besaß er u. a. eine Ausgabe der Grundlegung der deutschen Sprachkunst, der Ausführlichen Redekunst, der Critischen Dichtkunst, der Deutschen Schaubühne sowie der von Johann Joachim Schwabe herausgegebenen Proben der Beredsamkeit aus Gottscheds Rednergesellschaft. 702 Graser an Amon, Kremsmünster, 7. 9. 1752, zit. nach Schachinger: Die Bemühungen, Bd. 10, 646 f.: »Von des H. Kanzlers Mosheim h. Reden habe ich [ergänze: beim Buchhändler Kraus] die Aufl age und den Preis zu wissen verlanget. Gewiss, die Auszüge, die uns H. Gottsched in seiner Redekunst davon giebt, sind auserlesen. Ich hätte Lust, das ganze Werk zu kaufen. Was darinn lutherisch ist, das lasse ich lutherisch seyn; die treffl ichen Sittenlehren aber, die ohnediess auf unseren Kanzeln sehr seltsam sind, wollte ich mir zu Nutze machen. Wie gefällt E. H. meine Meinung?« – Amon an Graser, Traiskirchen, 14. 9. 1752, zit. ebd, Bd. 10, 647: »E. E. sind ganz wohl daran, da Sie sich um die Reden des H. Kanzlers Mosheim bestreben. Sie sind mir zwar niemal zu Gesichte gekommen: doch trage ich eine sonderbare Hochachtung gegen diesen vortreffl ichen Mann, dem Gottsched hin und wieder so ausnehmende Lobsprüche seiner Beredsamkeit beygeleget hat. E. E. thun auch recht, dass Sie gleich einer fleissigen Imme das süsse Honig aus desselben Schriften saugen; das lutherische Gift aber den Spinnen überlassen wollen.« – Graser an Amon, Kremsmünster, 16. 10. 1752, zit. ebd, Bd. 10, 649: »H. Kraus antwortet mir nicht auf mein Schreiben vom 7 Sept. Er hat es doch meinem Mitbruder P. Constantin [. . .] mündlich versprochen, mich mit einer Antwort zu beehren, und indessen nachzusuchen, ob des Taucheur [!] Tractatlein, und des H. Mosheim heilige Reden nicht unter seinen Büchern befi ndlich wären.« 703 Graser an Amon, Kremsmünster, 17. 12. 1752, zit. nach Schachinger: Die Bemühungen, Bd. 10, 653: »Mit Mosheims Reden kann ich ja noch eine Zeit zuwarten. Ich will mich nämlich bey Gottscheden vorher erkundigen, ob nicht etwa andere dergleichen Reden im Drucke sind, die mir vielleicht noch besser anstünden.« 704 Graser an Gottsched, 12.1. 1753, UBL, Ms 0342, Bd. 17, Bl. 559v.

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Denenselben zu verlangen. Richten mir E. H. zur Gnade des Herrn Abt von Jerusalem geistliche Reden; Flechiers Lob= und Trauerreden nebst Dero reinbeckischen Lehrart, und den zweyen fränzösischen Tractatchen von dem äußerlichen Vortrage bald zusammen, damit der Sensenhändler 705, welcher künftige Jubilatemesse [in Leipzig; A. S.] besuchen wird, selbige für baare Bezahlung übernehmen kann.«706

In einem darauffolgenden Schreiben wurde der Handel perfekt gemacht. Graser listete zur Sicherheit die gewünschten Titel noch einmal auf, die – wie Gottsched handschriftlich daneben ausrechnete – 2 Taler 10 Groschen kosten würden.707 Gleichfalls wurde das Leipziger Quartier besagten Sensenhändlers, Herr Weinmeister aus Kirchdorf, bekanntgegeben (in Herrn Hochmanns Hof in der Petersstraße), über den die Büchersendung abgewikkelt werden sollte. Da der Briefwechsel zwischen Gottsched und seinem reformhomiletisch interessierten Schüler danach eine Lücke von einem dreiviertel Jahr aufweist, ist keine Nachricht über den weiteren Verlauf des halb konspirativ organisierten Transfers überliefert, dem Graser im Mai d. J. in gespannter Erwartung entgegenfieberte.708 Das in Kremsmünster vorhandene Exemplar von Gottscheds Homiletik709 läßt aber darauf schließen, daß alles glatt ging und kein unliebsamer Zwischenfall die heikle Fracht in unberufene Hände fallen ließ.710 Über die Auswirkungen dieses Imports protestantischer Auf klärungshomiletik in ein österreichisches Benediktinerkloster, geben die Schriften 705 In Grasers Schreiben an die Gottschedin (8.2. 1752, UBL, Ms 0342, Bd. 18, Bl. 83r) hieß es dazu: »Ich habe einen Sensenhändler in unserer Nachbarschaft erfraget, der jährlich die Jubilate= und Michaelsmesse zu Leipzig besuchet. Dieses Mannes kann ich mich sehr gelegen bedienen, solche Dinge von Leipzig hierher zu bringen, die bey anderer Gelegenheit garzu viel Frachtgeld erfordern würden.« 706 Graser an Gottsched, Kremsmünster, 13.4. 1753, UBL, Ms 0342, Bd. 18, Bl. 232v. 707 Graser wünschte, folgende Bücher zu erwerben (UBL, Ms 0342, Bd. 18, Bl. 232r): 1. Jerusalems geistliche Reden in 2 Teilen, 2. Flechiers Lob- und Trauerreden, »3. Die reinbeckische Lehrart erbaulich zu predigen vor alle andern 4. Den Faucheur, und die Methode nouvelle pour bien animer un discours.« – Den letzten Text erwähnt Gottsched: Ausführliche Redekunst, GAW VII/1, 417,22 f. 708 Graser an Amon, Kremsmünster, 18. 5. 1753, zit. nach Schachinger: Die Bemühungen, Bd. 10, 655: »Wie, wenn ich erst jenes Handbibliothekchen von Predigern besitzen werde, welches ich mit nächsten durch Gottscheden von Leipzig aus zu erhalten hoffe?« 709 Eine Abbildung des Titelblatts dieses Exemplars bei Kienesberger: Der Gottschedianer, 459. 710 Graser war durch Amon vorgewarnt, der bei seinem Umzug von Melk nach Traiskirchen solche Schwierigkeiten gerade noch vermeiden konnte: Amon an Graser, Traiskirchen, 17. 11. 1752, zit. nach Schachinger: Die Bemühungen, Bd. 10, 651: »Die Schachtel mit meinen Büchern hat auf der Hauptmaut zu Wien über vier Wochen den Arrest gehalten; nun ist sie endlich davon befreyet, mir wieder zurückgekommen. Mosheims Reden dörften ein unglücklicheres Schicksal zu befürchten haben, wann sie auf Wien kämen, da die kritischen Aufseher etwas schärfer darein gehen. Es wäre also rathsamer, dass sie über Linz gebracht würden.«

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Grasers Auskunft, die hier aber nicht en detail untersucht werden können. Es darf zumindest darauf verwiesen werden, daß bereits der Aufriß von Grasers Reformhomiletik, wohlmöglich der ersten ihrer Art im deutschsprachigen Raum,711 ganz den Einfluß von Gottscheds Grund-Riß atmete. Graser integrierte sogar Teile des Anhangs von Gottscheds Predigtlehrbuch in seiner Gliederung, indem er z. B. Eachards pastoralethische Ausführungen zum gesunkenen Ansehen der Geistlichen in einer »Einleitung« in direkter homiletischer Perspektive thematisierte.712 Auch sonst begegneten in vielen Formulierungen sprachliche Anleihen, die unmittelbar aus Gottscheds Homiletik geschöpft waren, bis hin zu einem versteckten Zitat, das ausgerechnet im Zusammenhang mit der für die »philosophische« Predigt so zentralen Lehre von den Beweisgründen gegeben wurde.713 Es sprach daher für sich, wenn 711 Immerhin bemerkte bereits [Paul Wilhelm] Keppler: Beiträge zur Entwicklungsgeschichte der Predigtanlage, in: ThQ 74 (1892), 183: »Eine kleine Wendung zum bessern bezeichnet der redselige P. Rudolf Graser«; für Neumayr: Die Schriftpredigt, 71 ist Graser ein »nachbarocke[r] Homiletiker« bzw. ein »Kind einer bereits auf klärerisch angehauchten Zeit«. 712 Mit Gottscheds oben (in Anm. 558) gegebenen Aufriß ist folgende Gliederung von Graser: Vollständige Lehrart zu vergleichen: Einleitung von Wichtigkeit des Predigtamtes, und dem Verfalle desselben, sonderlich auf dem Lande. I. Hauptstück: Von der Kanzelberedsamkeit überhaupt; wie sie beschaffen seyn soll. II. Hptst.: Von den erforderlichen Eigenschaften, und Vorbereitungen eines Predigers. III. Hptst.: Von den allgemeinen Pfl ichten eines geistlichen Redners, bey einer Predigt überhaupt, und von der einwendigen Einrichtung derselben ins besondere. IV. Hpst.: Von den Hauptsätzen der Predigten; wie sie beschaffen seyn sollen; und wie man sie erfi nden soll. V. Hpst.: Von der Eintheilung der Predigten, und dem Kanzelspruche. VI. Hpst.: Von den Eingängen. VII. Hpst.: Von den Erklärungen. VIII. Hpst.: Von den Beweisgründen. IX. Hpst.: Von Beantwortung der Einwürfe. X. Hpst.: Von den Beweggründen und Nutzanwendungen. XI. Hpst.: Von den Erläuterungen. XII. Hpst.: Von den Gemüthsbewegungen. XIII. Hpst.: Vom Beschlusse. XIV. Hpst.: Von der Anordnung und Einrichtung einer geistlichen Rede.

[Es schließen an: XV–XXIII. Hpst.] 713 Ein langes Zitat aus [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 221–223 bot Graser: Vollständige Lehrart, 341–343 mit folgender Einführung: »Wo soll nun ein geistlicher Redner, diese so wohl kleinen, als großen Beweisgründe herholen? Ich will, bevor ich diese Frage beantworte, die ausdrücklichen Worte eines großen Redners unsrer Zeit anführen, die ich in seiner geistlichen Redekunst, im Capitel von den Beweisgründen, lese, und woraus man lernen wird, wie unsere Beweisgründe beschaffen seyn sollen, woher sie auch immer mögen geholet werden. ›Indem ich, sagt er, die Nothwendigkeit der Beweise erwiesen habe: so wird man leicht begreifen, daß ich, von solchen Beweisen rede, die, nach den Regeln der Vernunftlehre, (Logik) eingerichtet sind; und die schärfste Prüfung eines geübten Weltweisen aushalten. Dieses muß, wider diejenigen erinneret werden, die

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Graser seinen Erfolg als Prediger ausdrücklich mit dem Selbstunterricht aus Gottscheds Homiletik in Verbindung brachte,714 einer Homiletik, die er so hoch schätzte, daß er sie – um für katholische Ohren anstößige Stellen bereinigt – in einem Auszug zum Druck bringen beabsichtigte.715 Es bliebe in diesem Zusammenhang auch zu prüfen, welchen direkten oder indirekten Einfluß Graser mit seinen Aktivitäten auf die Herausbildung der Auf klärungshomiletik im süddeutschen Katholizismus genommen hat. Derzeit wird recht pauschal angenommen – genaue Untersuchungen fehlen716 –, daß sie (wie z. B. im Fall des wichtigen Salzburger Homiletikers Ignaz Wurz SJ [1727–1787] 717 oder des bayrischen Auf klärers Heinrich sich, auf der Kanzel, insgemein solcher schlechten, und ungegründeten Art der Beweise zu bedienen pflegen, die gar nicht Stich halten, sondern vernünftigen Zuhörern nur Anlaß zum Spotten geben. = = = Unsere Regel geht also dahin, daß ein geistlicher Redner, in der Logik, wohl geübt seyn; und mit der größten Sorgfalt, dahin sehn müsse, daß er lauter bündige und scharf schlüssende Beweise anführe; nicht oder Wortspiele, Gleichnißreden, Allusiones, Accomodationes und andere Scheingründe brauche, die sich, in keine richtige Schlußrede (Syllogismus) bringen lassen; und den Verstand der Menschen nicht überzeugen können.‹« 714 Graser an Amon, Kremsmünster, 12. 9. 1754, zit. nach Schachinger: Die Bemühungen, Bd. 10, 658: »Ich wurde zu unserer Hof kanzel bestimmet, wo ich seither das Amt eines Rosenkranzpredigers verrichte. [. . .] und ich kann E. H. ohne Ruhmredigkeit versichern, dass mich sowohl Gelehrte, als Unstudierte mit grossem Beyfalle anhören. Dieses habe ich Gottscheds Redekunst, Steinbecks [recte: Reinbecks, d. h. Gottscheds; A. S.] Lehrart, und einigen andern deutschen Schriften zu danken, die ich nimmermehr ausser Acht lassen werde.« 715 Graser an Amon, Kremsmünster, 30. 10. 1755, zit. nach Schachinger: Die Bemühungen, Bd. 10, 659: »Ich hätte aber auch Lust, die reinbeckische Lehrart ins Kurze zu bringen, indem ich alle überflüssigen, eckelhaften und unkatholischen Stellen, und was dergleichen Dinge sind, weglassen wollte. [. . .] Ich meines Theils, habe sie etliche Male durchgelesen, und ich kann nichts anders sagen, als dass sie unvergleichlich ist. Es wäre zu wünschen, dass diese treffl iche Anleitung in den Händen aller angehenden Prediger wäre.« Das hier geäußerte Vorhaben ist nicht zur Umsetzung gelangt bzw. später durch Grasers eigene Homiletik obsolet geworden. 716 Ähnlich der protestantischen Forschung zur Auf klärungspredigt und -homiletik ist für den katholischen Kontext eine Konzentration auf die fortgeschrittene Auf klärung, exponiert vertreten durch Johann Michael Sailer (1751–1832; zu ihm LThK 3 8 [1999], 1431–1433), zu beobachten. 717 Zu Wurz siehe ADB 44 (1898), 354 f.; BBKL 14 (1998), 192 f.; LThK 3 10 (2001), 1329. – Keppler: Zur Entwicklungsgeschichte, 185 f. behandelt Wurz’ Homiletik in direktem Anschluß an Graser; Ueding: Auf klärung, in: HWRh 1 (1992), 1237 f. bringt wohl eher zufällig Gottsched, Mosheim und Wurz in einen unmittelbaren, wenngleich sehr plausiblen und erst noch näher zu klärenden Zusammenhang, für welchen letztern Graser eine Bindegliedfunktion gespielt haben könnte: »Gottsched betont im wesentlichen die Zuständigkeit der allgemeinen Redekunst auch für die Predigt [. . .] und verweist im übrigen auf das vortreffl iche Exempel: ›Hat uns nicht Herr Abt Mosheim dergleichen Muster gegeben, die einem jeden zeigen können, wieweit die Regeln einer vernünftigen Beredsamkeit, eine gekünstelte Homiletik übertreffen?‹ Mosheims Lehre ist ein Produkt auf klärerischen Denkens, der Prediger soll Wissen, Erfahrung, philosophische Erkenntnis zur Glaubensdarlegung benutzen, und die Belehrung des Verstandes geht der Erbauung des Willens voran. Eine Tendenz, die sich übrigens auch in den katholischen Predigten vor

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Braun [1732–1792] 718 ) primär im Sog der französischsprachigen Kanzelberedsamkeit gestanden habe. Oberflächlich weist der rezeptionsgeschichtliche Befund bei den zuletzt genannten Homiletikern tatsächlich in diese Richtung. Doch ist dies (durch die konfessionellen Schranken strategisch bedingt) auch bei Graser der Fall,719 bei dem man ohne Überlieferung und Kenntnis des Briefwechsels mit Gottsched (und zusätzlich bestärkt durch Grasers sogenannte »Fluchtreise« nach Paris, die nicht zuletzt homiletischen Fortbildungsinteressen diente) 720 zu dem Schluß verleitet würde, daß auch dessen predigttheoretische Orientierung einseitig einer romanisch-klassizistischen Rezeptionslinie verpfl ichtet gewesen sei. In diesem Sinne ist beispielsweise der Einfluß der von Graser repräsentierten doppelgleisigen, französisch-klassizistischen und deutschsprachlich-auf klärerischen Linie einer katholischen Predigtreform, wie sie etwa auch bei P. Maternus Lindemayr OSB (1723–1783) als Ergebnis eines direkten Kontaktes mit Graser ganz deutlich zu greifen ist,721 innerhalb der katholischen Auf klärungshomiletik wohl zukünftig insgesamt stärker herauszuarbeiten. Dies gilt umso mehr, als allen der Ordensgeistlichen durchsetzt und die ›Anleitung zur geistlichen Beredsamkeit‹ (1770/72) des Jesuiten I. Wurz kennzeichnet.« 718 Zu Brauns Homiletik (Anleitung zur geistlichen Beredsamkeit. München 1776), die vielerlei Übereinstimmungen mit Auffassungen Grasers bzw. Gottscheds aufweist, vgl. Ch. Keck: Das Bildungs- und Akkulturationsprogramm des bayerischen Auf klärers Heinrich Braun: eine rezeptionsgeschichtliche Werkanalyse als Beitrag zur Kulturgeschichte der katholischen Auf klärung in Altbayern, München 1998, 107–163 (ohne einen Hinweis auf Graser); zum starken Einfluß der sprachreformerischen Schriften Gottscheds auf Braun vgl. ebd, 268–274; vgl. auch K. Matzel; H. Penzl: Heinrich Braun (1732–1792) und die deutsche Hochsprache in Bayern, in: Sprachwissenschaft 7 (1982), 120–148. – Ein direkter Kontakt zwischen Graser und Braun bestand möglicherweise über die Mitgliedschaft des Kremsmünsterer Benediktiners (seit 1779) im 1777 von Braun gegründeten Predigerinstitut (Kurfürstlich baierischen Gesellschaft zur Pflege der geistlichen Beredsamkeit) innerhalb der baierischen Akademie der Wissenschaften; vgl. dazu L. Westenrieder: Geschichte der baierischen Akademie der Wissenschaften. Erster Theil von 1759–1777, München 1804, 411; Keck: Das Bildungs- und Akkulturationsprogramm, 99 f. 719 Vgl. die Liste der bei Graser: Vollständige Lehrart, Bl. )()(4r-v (Vorrede) offi ziell genannten Literatur, die ausschließlich katholische, und darunter insbesondere französische Autoren (z. B. Blaise Gisbert), ausweist. 720 Vgl. Kienesberger: Der Gottschedianer, 303. 721 Lindemayer trat als Vorredner in Erscheinung bei Graser: Praktische Beredsamkeit (1769). – A. Brandtner: Zu einer Rhetorik des Herzens: Pater Maurus Lindemayers Leichenpredigten auf den Schwanenstädter Pfarrer Johann Ferdinand Gessl und den Baumgartenberger Abt Eugen Schickmayr, in: Oratio Funebris: die katholische Leichenpredigt der frühen Neuzeit. Zwölf Studien. Mit einem Katalog deutschsprachiger katholischer Leichenpredigten in Einzeldrucken 1576–1799 aus den Beständen der Stiftsbibliothek Klosterneuburg und der Universitätsbibliothek Eichstätt/ hrsg. von B. Boge; R. G. Bogner, Amsterdam; Atlanta/GA 1999 kommt zwar ebd, 254–257 auf Lindemayers Vorrede zu Graser: Praktische Beredsamkeit zu sprechen und erwähnt auch, daß Graser ein Parteigänger Gottscheds war, sieht aber Lindemayers homiletische Auffassungen zu einseitig in Abhängigkeit der französischen Kanzelberedsamkeit; ebd, 251 f. 255: »Lindemayer steht mit seiner Vorrede ganz im Zeichen des romanischen Reformmodells.«

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Graser seine homiletischen Ideale durch Publikation eigener und die Bearbeitung fremder Predigten722 einem breiten Publikum bekannt machte. 3.3.4 Strukturelle Rezeption Zunächst ist feststellbar, daß nach 1740 ein schlagartiges Anschwellen der homiletischen Lehrbuchproduktion zu verzeichnen ist, die inhaltlich ganz überwiegend dem Modell einer »philosophischen« Predigt, wie es Gottsched vorgezeichnet hatte, verpfl ichtet war. Beispiele dafür fi nden sich in den z. T. sehr beachteten Predigtlehrbüchern des Adjunkten der Jenaer Philosophischen Fakultät Johann Ernst Schubert 723 (1717–1774) oder des Göttinger Pfarrers und Professors der Philosophie Ernst Christian Simonetti724 (1700–1782). Beider Homiletiken wurden von Zeitgenossen explizit als von der Wolffschen Philosophie inspirierte Ergebnisse selbständigen Nachdenkens wahrgenommen und gewürdigt.725 Bereits ein Blick auf die Mittelteile ihrer Gliederungen führt handgreifl ich vor Augen, in welchen Bahnen sie die Homiletik entwickelten. Denn Simonetti726 und Schubert 727 entfalteten ihre Predigttheorien ganz im Sinne des philosophisch-rhetorischen Depen722 Z. Laselve: Sämmtliche Predigten auf alle Sonn- und Festtage des ganzen Jahres, wie auch für den Advent und die Fasten. Übersetzt, abgeändert, nach dem heutigen Geschmack eingerichtet und für alle deutschen Kanzeln brauchbar gemacht [von Rudolf Graser], 9 Bde., Augsburg 1778–1782. 723 J. E. Schubert: Anweisung zur geistlichen Beredsamkeit. Andere, verbesserte und vermehrte Aufl age, Jena 1750 (erste Ausgabe: Jena 1743). – Zu Schubert siehe DBA I 1144, 383–452; ADB 32 (1891), 635–637; zu Schuberts Teilnahme am Predigtwettbewerb Manteuffels, dessen Preisträger er wurde, vgl. bei A. Strassberger: Zwischen Predigtreform und Religionsapologetik: zur Konzeption und Durchführung einer homiletischen Preisaufgabe von 1739, in: Christentum im Übergang, 51–70. 724 Simonetti: Vernünftige Anweisung (1742 21754); zur Person DBA I 1187, 83–91. 725 In einer Rezension von Simonettis Homiletik wurde beispielsweise festgestellt: Hamburgische Berichte von den neuesten gelehrten Sachen 11 (1742), 753: »Das ganze Werk ist in der strengen Lehrart geschrieben, ob ihr gleich das eusserliche Kleid derselben fehlet.« Ferner hieß es ebd, 754: »Er [sc. der Verf.] schreibet blos aus eigenem Nachsinnen, und vermeidet allen Schmuck der Gelehrsamkeit, als wodurch Lehrbücher nur unnöthig erweitert und verstellet werden, hingegen befleißiget er sich der Reinigkeit der deutschen Sprache aufs allerbeste.« 726 Simonetti: Vernünftige Anweisung, Bl. )()(7r rückte mit einer Rechtfertigungserklärung seine Homiletik unfreiwillig in den Schatten von Gottscheds Grund-Riß, wenn er die Frage stellte, ob sein Opus überhaupt nötig gewesen wäre, »zumahlen man schon Grundrisse zur Lehrart ordentlich und erbaulich zu predigen, besitze«. Im Mittelstück seines Predigtlehrbuchs zeigten sich die strukturellen Übereinstimmungen mit Gottsched am deutlichsten. 727 Schubert: Anweisung: 4. Hauptstück, Von der ausarbeitung 1. abschnit, Von den erklärungen, die man in predigten geben sol 2. abschnit, Von den beweisen, die man in predigten füren sol 3. abschnit, Von den wiederlegungen, welche in predigten stat fi nden 4. abschnit, Von der ausarbeitung eines analytischen und synthetischen hauptinhalts.

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Kapitel 2: Gottscheds Theorie der »philosophischen« Predigt

denzmodells, wie es bei Gottsched aus der Synthese von Philosophie und Rhetorik hervorgegangen war. Entscheidende Unterstützung erfuhr die Etablierung einer an Wolff (Philosophie) und Gottsched (Rhetorik) orientierten Homiletik insbesondere durch eine Fülle von Abhandlungen, die teils die philosophische Demonstrationsmethode und den psychologisch-anthropologischen Erbauungsbegriff,728 teils die rhetorische Konzeptualisierung der Predigttheorie in der Homiletik propagierten.729 In Anerkenntnis der unumstrittenen Autorität Gottscheds als Redelehrer rekurrierten die beiden Autoren naturgemäß stärker auf dessen Ausführliche Redekunst und weniger auf seinen, in die Anonymität eingehüllten Grund-Riß einer Lehr-Arth.730 Gleichwohl – dies ist einschränkend zu bemerken – befand sich die akademische Homiletik kei728

Nur ein Beispiel: J. M. Cappelmann: Philosophisch-Theologische Gedanken über einige Fehler in Ansehung der Beweiß- und Bewegungs-Gründe in der geistlichen Redekunst, in: Beiträge zur Beredsamkeit, Tl. 2 (1743), 335 f.: Die philosophische Seelenlehre zeige deutlich, »daß der Wille des Menschen nie ohne den Vorstellungen des Verstandes etwas verlange oder verabscheue. Die Sprache der Weltweisen ist diese: Es ist nichts im Willen/ was nicht zuvor im Verstande gewesen. Er handelt nach dieser Grundregel: Was der Verstand als gut mir vorstellet/ das begehre ich/ und was er mir als böse abschildert/ das begehre ich nicht.« 729 Vgl. beispielsweise die Vorrede des Weimarer Predigers L. Reinhard: Vierte Sammlung Biblisch=Homiletischer Dispositionum, über die ordentlichen Sonn= und Festtäglichen Evangelia, durch das gantze Jahr, auf vieler inständiges Verlangen, mit einer Vorrede von der Nothwendigkeit einer Philosophischen Beredtsamkeit in Predigten, dem Druck übergeben, Leipzig 1749 (Hervorhebung A. S.; Titel nicht bei Dyck/Sandstede: Quellenbibliographie), der ebd, Bl. A4r-v argumentiert: »Daß eine wahre Beredtsamkeit in heiligen Reden nicht nur erlaubt, sondern auch nöthig sey, haben zwey gelehrte Prediger, nehmlich Herr Joh. Georg zur Linden Pastor zu S. Nicolai in Lüneburg, und Herr Moritz Carl Christian Woog, Archi-Diaconus in Dresden mit mehrern gezeiget. Daß aber eine wahre Beredsamkeit ihren festen Grund in einer reinen (nicht aber in einer verkehrten) Vernunfft=Lehre habe, das hat der Hochberühmte Philosophe Herr D. Syrbius zu Jena im letzten Capitel seiner Philosophia rationalis erwiesen; welches auch der Herr Prof. Gottsched zu Leipzig in seiner vermehrten Rede=Kunst wie auch Herr Prof. May zu Leipzig, und Herr Prof. Müller zu Jena, in ihren Einleitungen zur Redekunst, gethan haben.« 730 Eine besonders aufschlußreiche »Kette der Zeugen« bot Cappelmann beim Wiederabdruck eines zuerst 1740 erschienenen Beitrages des thüringischen Pfarrers und späteren Göttinger Universitätspredigers Friedrich Wilhelm Kraft (1712–1758; zu ihm ausführlich Hammann: Universitätsgottesdienst, 234–251): F. W. Kraft: Vernünftige Gedanken von dem was in Predigten erbaulich ist (1740), in: Beiträge zur Beredsamkeit, Tl. 2 (1743), 247–300 (8. Beitrag). Dieser hatte ebd, 257 gemeint, daß »Männer zu unsern Zeiten, deren Verdienste wir in Demuth verehren, der betrogenen Welt gezeiget [haben], daß das Wesen der wahren Beredsamkeit nicht in kunstmässigen Folgen allerhand Sachen in einer Rede, sondern in einem deutlich und gründlichem Vortrage verknüpfter Wahrheiten bestehe«. Darauf hin merkte Cappelmann ebd, 257 f. in Anm. 246 – durchaus repräsentativ – an: »Wir können hie einige nennen. Der Herr Prof. Canz, Herr Gottsched, Herr Fabricius haben ihre Regeln der Wohlredenheit auf den Gründen der gesunden Vernunft gebauet. Die aufrichtigen Verehrer der geistlichen Redekunst folgen ihrem unvergleichlichen Beispiel nach. Der Herr Verfasser des Grundrisses der Lehrart überzeugend zu predigen, gibt uns hiezu eine gute Anleitung. Und unter den Catholicken wissen wir nicht, welcher Schrift

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neswegs geschlossen im Fahrwasser Wolffs und Gottscheds, wie andere, im selben Zeitraum publizierte Predigtlehrbücher zeigten.731 Den primären Ertrag, den die um Gottsched (und Mosheim) herum organisierte Diskussion der homiletischen Auf klärer für die nächsten zwei Jahrzehnte, zum Teil aber noch weit darüber hinaus, formulierte, war die Defi nition einer auf »Erbauung« ausgerichteten Predigt als dem eigentlichen Zentralthema der homiletischen Reflexion, die weithin konstant als Belehrung des Verstandes und Bewegung des Willens unter rhetorischem Vorzeichen aufgefaßt wurde. Dies wurde jedenfalls (modifiziert oder unmodifiziert) übereinstimmend von Baumgarten732 über Mosheim733 und den Leipziger Spätauf klärer Johann Georg Rosenmüller 734 bis hin zu den evangelischen735 und katholischen736 Predigtunterweisungen des 19. Jahrhunderts wir der Christlichen Beredsamkeit des P. Gisberts, oder den Gedanken des Jes[uiten] Rapins von der Wohlredenheit den Vorzug einräumen sollen.« 731 Zur Kritik an der »philosophischen« Predigt, insbesondere aus den Reihen einer philosophisch-eklektischen »Übergangstheologie«, s. u. Kap. 4, Abschn. 2.2. 732 Baumgarten: Anweisung zum erbaulichen Predigen (1752), 1 hatte gleich im ersten Paragraphen defi niert: »Weil Predigten aus zusammenhangenden Reden zur Erbauung der Zuhörer durch götliche Warheiten bestehen, die Erbauung aber, oder Beförderung rechtmäsiger Gemütsfassung, so wol Unterricht und Uberzeugung des Verstandes, als Rührung und Bewegung des Willens erfordert; so mussen zwei Hauptstücke zu einer Predigt gehören, einmal eine Abhandlung, und zweitens eine Anwendung götlicher Warheiten [. . .]«. – Vgl. auch Hirsch: Geschichte, Bd. 2, 374, der darauf verwiesen hat, daß bei Baumgarten »(. . .) klar der Grundsatz ausgesprochen (wird), daß der eigentliche Grund der Bestimmung des Willens die Überzeugung des Verstandes sei«; daraus wird ebd, 375 der richtige Schluß gezogen, daß es Baumgarten darauf ankäme, »den Hörern nach Maßgabe ihrer Fähigkeiten einen klaren deutlichen Begriff von den göttlichen Wahrheiten und ihrer Verbindung beizubringen und sie so zur überzeugenden Erkenntnis der ihnen zur Besserung nötigen Wahrheiten zu führen«. 733 Mosheim: Anweisung (1763), 1: »Eine Predigt ist eine Rede, worin nach Anleitung eines Stückes der heiligen Schrift, eine Versammlung solcher Christen, die schon in den Gründen der Religion unterwiesen ist, theils in der Erkenntniß soll befestiget, theils zum Fleisse in der Gottseligkeit erwecket und ermuntert werden«. 734 Bei J. Ch. Dolz: D. Johann Georg Rosenmüllers Superintendenten in Leipzig, Leben und Wirken, Leipzig 1816, 68 heißt es: »Diese von Rosenmüller bezweckte Erbauung konnte nach seiner Ueberzeugung nicht anders befördert werden, als durch deutliche und faßliche Belehrung des Verstandes über die moralisch religiösen Wahrheiten, und durch fruchtbare Winke, wie man es anzufangen habe, um von dieser oder jener Tugendvorschrift die Anwendung in den besondern Verhältnissen des Lebens zu machen.« 735 Für den evangelischen Bereich vgl. den von Schleiermacher beeinflußten L. Hüffell: Ueber das Wesen, Tl. 1, 333, der in seiner dreimal aufgelegten Pastoraltheologie im Rückgriff auf Mosheim und Spalding defi nierte: »Der Zuhörer fi ndet und kann nur da Erbauung fi nden, wo sein Verstand erleuchtet und überzeugt, seine Erkenntniß weiter gebracht, und sein Herz wohlthätig ergriffen wird; nirgends anders, denn nur da fühlt er sich gestärkt, gewonnen und gebessert, und folglich erbaut;« eine ausführliche Zitation von Mosheims Erbauungsdefi nition und dessen Erläuterung erfolgt ebd, 272 f.; zu Hüffells rhetorischer Homiletik vgl. ansonsten Grünberg: Homiletik und Rhetorik, 26–37. 736 Laut dem Manuskript einer homiletischen Vorlesung im Priesterseminar Paderborn aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren auf römisch-katholischer Seite die Glie-

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Kapitel 2: Gottscheds Theorie der »philosophischen« Predigt

ausgesagt. In ihrer popularphilosophischen Verknappung drückte diese Ansicht – das sollte nicht übersehen werden – den auf klärungstypischen, optimistischen Willen zur Volksbildung aus, wie er etwa bei dem zu Unrecht verunglimpften Karl Friedrich Bahrdt in einer besonders pointiert vertretenen, das zugrundeliegende protestantische Glaubensprinzip auf die Spitze treibenden Form begegnete.737 Die Tragweite dieses Konzeptes in seinen rezeptionsgeschichtlichen Auswirkungen detailliert zu ermessen, sprengt aber bei weitem den Rahmen dieser Arbeit und muß – trotz der andernorts gegebenen Hinweise738 – eigenständigen Untersuchungen vorbehalten bleiben.

derung der Homiletik bzw. die Arbeitsschritte zur Predigtvorbereitung noch rhetorisch konzeptualisiert; Ch. Gärtner: Predigtverständnis und Predigtpraxis in Paderborn zwischen 1821 und 1962, Paderborn u. a. 2003, 185. Nach einem anderen homiletischen Manuskript von 1948 (!) zielte noch im 20. Jahrhundert die Abzweckung der Predigt auf Verstandesbelehrung und Willensbewegung; ebd, 187: »Die Elemente der Predigt[:] Die Belehrung des Verstandes [-] Die Einwirkung auf den Willen«. 737 K. F. Bahrdt: System der moralischen Religion zur endlichen Beruhigung für Zweifler und Denker: allen Christen und Nichtchristen lesbar. Bd. 3: Rechte und Obliegenheiten der Regenten und Unterthanen in Beziehung auf Staat und Religion, Riga 1792, 246 f. (Hervorhebung A. S.): »Endlich – wenn unter einer Nation die gesunde Vernunft das Ruder führt und, weder Mönche und Pfaffen durch die Ketten des Aberglaubens, noch Fürsten durch ihre Autorität, dem menschlichen Verstand im freyen Nachdenken über Wahrheit und Irrthum, Tugend und Laster, Gutes und Schädliches, Gränzen setzen, so werden nicht nur überhaupt Wissenschaften und Künste im ungehinderten Fortschritte und Wachsthume sich befi nden, sondern es werden auch insonderheit vernünftige Begriffe von der Gottheit die Moralität des Volkes immer mehr vervollkommnen und diejenige Tugend verbreiten, auf welcher alle menschliche Glückseligkeit beruht. Denn es ist unleugbar, daß die Bildung des Herzens nothwendig Folge von ächter Ausbildung des Verstandes ist, und daß Menschen, die und sofern sie richtig denken und urtheilen, auch richtig wollen und handeln [. . .].« 738 S. o. am Ende von Abschn. 2.1 sowie in Abschn. 2.2.3.

Kapitel 3

Die Propaganda der »philosophischen« Predigt im Gottsched-Kreis 1 Die Deutsche Gesellschaft zu Leipzig und ihre Tochtergründungen Die 1697 als Vertrautes Görlitzisches Collegium Poëticum gegründete und von Gottsched 1727 reformierte Deutsche Gesellschaft zu Leipzig1 ist als eine der bekanntesten deutschen Auf klärungsgesellschaften 2 nach gängiger Auffassung in erster Linie »zur Besserung der deutschen Sprache ins Leben gerufen«3 worden. Diese harmlos klingende Tätigkeitsbeschreibung darf jedoch nicht über den essentiell auf klärungspropagandistischen Charakter hinwegtäuschen, der für das Selbstverständnis dieser Sozietät und ihrer Mitglieder konstitutiv war. Denn hinter allem Wirken stand ein »emanzipatorisch-kritische[r] Anspruch«4, wie er beispielsweise in den Fragestellungen der jährlich ausgelobten Preise der Poesie bzw. der Beredsamkeit greif bar wird.5 Denn die hier geübte Praxis der Preisstiftung und Aufstellung von Preisfragen stellte den gezielten Versuch dar, »zentrale Anliegen der Frühauf klärung zu propagieren« 6 . Da bei Gottsched Denk- und Sprachreform eine unlösbare Einheit bildeten, verstand sich auch die in den Deutschen Gesellschaften praktizierte 1 Zur Gesellschaftsgeschichte bis in die Anfänge der 1730er Jahre vgl. zuletzt D. Döring: Die Geschichte; vgl. auch ders.: Johann Christoph Gottsched und die Deutsche Gesellschaft zu Leipzig, in: Gottsched-Tag, 111–130. 2 Vgl. zum allgemeinhistorischen Zusammenhang die Übersicht bei R. van Dülmen: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, Bd. 3: Religion, Magie, Auf klärung 16.–18. Jahrhundert, München 21999, 226–235; zum Forschungsstand siehe H. Zaunstöck: Zur Einleitung: neue Wege in der Sozietätsgeschichte, in: Sozietäten, Netzwerke, Kommunikation: neue Forschungen zur Vergesellschaftung im Jahrhundert der Auf klärung/ hrsg. von dems.; M. Meumann, Tübingen 2003, 1–10; vgl. auch Bödeker: Auf klärung als Kommunikationsprozeß, 89–111. 3 Van Dülmen: Kultur und Alltag, Bd. 3, 226. 4 Van Dülmen: Die Gesellschaft der Auf klärer, 51; zur Deutschen Gesellschaft ausführlicher ebd, 48–54. 5 D. Döring: Die Deutsche Gesellschaft zu Leipzig, 187–225. 6 D. Döring: Die Deutsche Gesellschaft zu Leipzig, 222. – Die Königsberger Deutsche Gesellschaft als Umschlagplatz für auf klärerisches Gedankengut thematisiert G. Koziełek: Aufgeklärtes Gedankengut in der Tätigkeit der Deutschen Gesellschaft in Königsberg (1976), in: ders.: Darstellung und Deutung: Aufsätze zur deutschen Literatur, Wrocław 1988, 142–165.

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Kapitel 3: Die Propaganda der »philosophischen« Predigt im Gottsched-Kreis

Sprachkritik bereits von ihrem Ansatz her als eine Form von Auf klärung,7 die auf Fragen der geistlichen Beredsamkeit selbstverständliche Anwendung fand. Dementsprechend wurden von den Pfarrern, die einen prozentual hohen Anteil der Mitglieder der Deutschen Gesellschaften stellten,8 Themen und Fragestellungen ihrer Berufswelt in beachtlichem Umfang in die Sozietätsarbeit eingebracht.9 Eine kommunikationsgeschichtliche Besonderheit eignete der Deutschen Gesellschaft im Kontext der übrigen Auf klärungsgesellschaften des 18. Jahrhunderts insofern, als über deren Tochtergründungen der sozietätsstiftende Geist gleich einem Netz über den gesamten deutschen Sprachraum gespannt wurde.10 Dabei fiel die unmittelbare Einflußnahme Gottscheds auf die einzelnen Gründungen und deren Tätigkeit sehr unterschiedlich aus.11 Unberührt davon erfolgte die homiletische Propaganda von Gottscheds Predigtauffassung in den Deutschen Gesellschaften auf variable Weise. Zum Kerngeschäft der Sozietätsarbeit zählten gesellschaftsinterne Sitzungsreden, die primär Zwecke nach innen gerichteter Propaganda erfüllten. Sofern diese Reden nachträglich publiziert wurden, wirkten sie aber auch sekundär als nach außen gerichtete publizistische Propaganda (s. u. Abschn. 1.1). Ein zweites, von seiner homiletikgeschichtlichen Bedeutung her besonders wichtiges Propagandamedium bildeten die von einzelnen Sozietätsmitgliedern selbständig oder unter Aufsicht angefertigten Predigtübersetzungen, mit denen die neuen Normen des gewandelten Predigtgeschmacks sowohl in Richtung eines literarisch gebildeten, nach Erbauung suchenden Lesepublikums als auch gegenüber homiletischen Fachleuten zu imitatio-Zwecken 7

Vgl. D. Cherubim; A. Walsdorf: Sprachkritik als Auf klärung: die Göttinger Deutsche Gesellschaft im 18. Jahrhundert/ hrsg. von E. Mittler, Katalog zur Ausstellung der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Göttingen 2004; W. Hardtwig: Wie deutsch war die deutsche Auf klärung?, in: Auf bruch aus dem Ancien régieme: Beiträge zur Geschichte des 18. Jahrhunderts/ hrsg. von H. Neuhaus, Köln; Weimar; Wien 1993, 178–183; vgl. auch die dem Gottschedschüler Elias Caspar Reichard (1714–1791) gewidmete Studie von D. Cherubim: Reichhard contra Knutzen: ein Fall von angewandter Sprachkritik im Zeitalter der Auf klärung, in: Braunschweigisches und Ostfälisches: Gedenkschrift für Werner Flechsig/ hrsg. von M. Wiswe im Auftrag des Braunschweigischen Landesvereins für Heimatschutz, Braunschweig 1992, 69–86. 8 Vgl. für die Göttinger Deutsche Gesellschaft die interessante Aufstellung zur Mitgliederstruktur (1738 bis 1755) bei van Dülmen: Die Gesellschaft der Auf klärer, 49; unter den auswärtigen Ehrenmitgliedern bildeten Pfarrer und Theologen mit knapp 25% den höchsten Anteil; unter den ordentlichen Mitgliedern stellten Theologiestudenten rund ein Viertel der Mitglieder. 9 Detaillierte Aufschlüsse über das Tätigkeitsprofi l der Leipziger Deutschen Gesellschaft bietet neuerdings D. Döring: Die Geschichte. 10 Zum »Netz der ›Deutschen Gesellschaften‹ im 18. Jahrhundert« vgl. Cherubim/ Walsdorf: Sprachkritik als Auf klärung, 147–149; eine Liste der nach dem Vorbild Leipzigs gegründeten Tochtergesellschaften ebd, 152. 11 Zum Einfluß Gottscheds auf die Königsberger Deutsche Gesellschaft siehe beispielsweise Krause: Gottsched und Flottwell.

1 Die Deutsche Gesellschaft zu Leipzig und ihre Tochtergründungen

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vermittelt wurden (Abschn. 1.2). Als letztes ist auch an die eigenverantwortliche Publikation von selbstverfaßten Predigten und homiletischer Fachliteratur zu erinnern, durch die sich deren Verfasser als aktive und würdige Mitglieder einer Deutschen Gesellschaft erwiesen und auf diese Weise mithalfen, dem Ideal einer »geschmackvollen« Predigt, wie es Gottsched theoretisch lehrte, zu breiter Anerkennung zu verhelfen (Abschn. 1.3). 1.1 Sitzungsreden Aus dem Bereich dieser Gattung von Propagandatexten ragte innerhalb der Leipziger Deutschen Gesellschaft eine Rede Johann Friedrich Mays (1697– 1762; Mitglied12 1723) heraus, die das Kernprinzip von Gottscheds Homiletik in besonders pointierter Fassung vorstellte. Anläßlich der Magisterpromotion eines anderen Sozietätsmitgliedes erinnerte May, der als enger Gottsched-Vertrauter als »Auf klärer par excellence«13 gilt, mit seinem Redethema an eine der Hauptforderungen des Leipziger Predigtreformers: »Ein Prediger soll ein Philosoph seyn.«14 May lieferte mit seiner Rede den offenkundigen Beleg dafür, daß die entscheidenden reformhomiletischen Gedanken im Gottsched-Kreis bereits Jahre vor dem Erscheinen der Ausführlichen Redekunst zirkulierten. In Übereinstimmung mit Gottsched vertrat May hier u. a. die der Psychologie Wolffs verpfl ichtete These, daß ein Prediger »den Verstand seines Zuhörers durch die Erkenntniß der Wahrheit zu erleuchten, und den Willen desselben durch Vorhaltung des Guten zu bewegen [habe], damit er auf den rechten Weg zur ewigen Glückseligkeit geführet werde«15. Ganz in den Gleisen von Gottscheds Rhetorikunterricht betonte in Entsprechung dazu ein anderer Gottsched-Schüler, der spätere Thüringer Pfarrer Johann Friedrich Christoph Ernesti (1705–1758; Mitglied 1729),16 ein Bruder des bekannten Johann August Ernesti, die argumentativ-logische Einrichtung der Predigt als vordringliche homiletische Aufgabe. Er führte 12 Die Mitgliedschaften bis 1741 sind verzeichnet bei E. Kroker: Gottscheds Austritt aus der Deutschen Gesellschaft: Anhang. Mitgliederverzeichnis von 1697 bis 1741, in: Mittheilungen der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung vaterländischer Sprache und Alterthümer 9 (1902), Heft 2, 42–57. 13 D. Döring: Die Geschichte, 150; zu Mays Verhältnis zu Gottsched und seiner Rolle in der Leipziger Deutschen Gesellschaft siehe ebd, 144–156. 14 J. F. May: Ein Prediger soll ein Philosoph seyn. Bey der Magister=Promotion Herrn Samuel Seidels, erwiesen, in: Der Deutschen Gesellschaft in Leipzig Eigene Schriften und Ubersetzungen, in gebundener und ungebundener Schreibart: ans Licht gestellet und mit einer Vorrede versehen, von Johann Christoph Gottsched, Leipzig 1730 [ 21742], 187–196; der Urdruck der Rede erfolgte 1727. 15 May: Ein Prediger, 189 f. 16 Zu Ernesti, dem späteren Superintendenten von Arnstadt, siehe DBA I 290, 217–220; ADB 6 (1877), 235.

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Kapitel 3: Die Propaganda der »philosophischen« Predigt im Gottsched-Kreis

aus: »Will also ein geistlicher Redner den Beyfall der Verständigen erhalten: So muß er sich diese zwo Hauptregeln vorstellen. Die erste ist: Er muß deutlich und ordentlich verfahren. Die andere: Er muß richtig und gründlich beweisen, was er sagt.«17 Mit dieser Auffassung wurden den Zuhörern nicht nur die grundlegenden Anforderungen einer »philosophischen« Predigt in Erinnerung gerufen, sondern zugleich auch die Motive für die Predigtreform benannt, die im soziokulturellen Wandel der Zeit zu suchen waren. Ernesti formulierte nämlich den »Beyfall der Verständigen« als eine Erwartungshaltung, auf die der Prediger Rücksicht zu nehmen hatte. Die theoretische Grundlage zur Lösung dieser homiletischen Aufgabe brachte Carl Günther Ludovici (Mitglied 1730) anläßlich seiner Antrittsrede wie folgt auf den Punkt: »Es müsse ein wahrer Redner, der ohnedem ein Philosoph seyn soll, auch was die Lehrart betrifft, einen Philosophen abgeben, und alle seine Reden auf eine Philosophische Art verfertigen.«18 Beinahe zeitgleich zu Ludovici verteidigte der Gottsched-Korrespondent und spätere Hauptpastor zu St. Nicolai in Lüneburg Johann Georg Zur Linden19 anläßlich seines Eintritts in die Jenaer Tochtergesellschaft 20 die Ausrichtung der Predigt an einer »philosophischen« Rhetorik. Er sprach in seiner Rede über die von den Gegnern Gottscheds bestrittene These: »Daß eine wahre Beredsamkeit in Heiligen Reden nicht nur erlaubt, sondern auch nothwendig sey.« 21 Zur Linden berief sich für seine Ausführungen zwar 17 J. F. Ch. Ernesti: Rede von der höchst=nöthigen Verbindung der Beredsamkeit mit der Gottesgelahrtheit, in: Der Deutschen Gesellschaft in Leipzig Eigene Schriften und Ubersetzungen in gebundener und ungebundener Schreibart. Der Andere Theil, Leipzig 1734, 188; zu Ernestis Rede vgl. D. Döring: Die Geschichte, 239 f. 18 C. G. Ludwig (Ludovici): Antrittsrede, in: Der Deutschen Gesellschaft Gesammlete Reden und Gedichte, Welche bey dem Eintritte und Abschiede ihrer Mitglieder pflegen abgelesen zu werden. Nebst einer vorhergesetzten ausführlichen Erläuterung ihrer Absichten, Anstalten und der davon zu erwartenden Vortheile, ans Licht gestellet, und mit einer Vorrede versehen von Johann Christoph Gottscheden, Leipzig 1732, 264. 19 Für den in Jena geborenen Zur Linden, der zwischen 1743 und 1747 ein Lüneburger Pfarramt bekleidete, teilt auch das Hannoversche Pfarrerbuch kein Geburts- und Sterbejahr mit; Die Pastoren der Landeskirchen Hannovers und Schaumburg-Lippes seit der Reformation/ im Auftrag des Landeskirchenamts Hannover [. . .] hrsg. von Ph. Meyer, Bd. 2, Göttingen 1942, 108; vgl. auch den spärlichen Eintrag in DBA I 767, 308; einen Brief Zur Lindens an Gottsched aus dem Jahr 1734 verzeichnet Suchier: Gottscheds Korrespondenten, 83. 20 Zur Deutschen Gesellschaft in Jena vgl. F. Marwinski: Der Deutschen Gesellschaft zu Jena ansehnlicher Bücherschatz: Bestandsverzeichnis mit Chronologie zur Gesellschaftsgeschichte und Mitgliederübersicht, Jena 1999; der Mitgliedseintrag Zur Lindens ebd, 39 (Nr. 11). 21 [ J. G. Zur Linden:] Daß eine wahre Beredsamkeit in Heiligen Reden nicht nur erlaubt, sondern auch nothwendig sey; ward bey dem Eintritt in die Teutsche Gesellschaft in Jena im Jahr 1731. am 6. October in einer Rede bewiesen von Z[ur] L[inden], Jena [1731]; späterer Abdruck auch in: Beiträge zur Beredsamkeit, Tl. 1 (1741), 25–56; laut einer dortigen Mitteilung Cappelmanns existiert noch ein weiterer Abdruck in: J. G. Zur Lin-

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nicht auf den zu dieser Zeit noch relativ unbekannten Leipziger Poetikprofessor, dafür aber auf Mosheim,22 der nicht erst als späterer Präses der Leipziger Deutschen Gesellschaft bei den Anhängern der auf klärerischen Predigtreform als Musterbeispiel einer »philosophisch« geläuterten Predigtauffassung galt. Andere Texte, in denen Mitglieder Deutscher Gesellschaften in kasuellem Rahmen homiletische Fragen thematisierten, haben sich aus späterer Zeit neben weiteren Beispielen aus Jena 23 auch aus den Tochtergründungen in Göttingen 24 und Gießen 25 im Druck erhalten. Mit Blick auf die erst noch zu thematisierende Rolle von Gottscheds Rednergesellschaften für die Predigtreform ist in diesem Zusammenhang eine Eintrittsrede in die Jenaer Deutsche Gesellschaft einschlägig, in der der Theologe Johann Andreas Hevelke noch 1765 die Auffassung vertrat, daß die »Gesellschaften der Redner (. . .) eine Schule angehender Geistlicher (sind)« 26 . Für den propagandistischen den: Öffentliche Zeugnisse der Wahrheit zur Gottseligkeit, bestehend in zehen geistlichen Reden, Jena 1736; hier die 3. Rede (Angabe nicht überprüft). 22 [Zur Linden:] Daß eine wahre Beredsamkeit, 5: »Meine Absicht ist gewesen zu zeigen; daß die Bemühungen, welche man übernimmt, um unsere Sprache in einen bessern Stand zu bringen, selbst in die Vorstellungen der heiligsten Wahrheiten, und in die Erbauung der Menschen ihren herrlichen Einfluß haben können. Ich brauche hier nicht ein mehreres zu schreiben; sondern ausser dem, was zur Bekräftigung meines Satzes, aus den, in der folgenden Rede angeführten Gründen erhellen wird, beruffe ich mich, auf die Vertheidigung des hochberühmten Herrn Abts Moßheim, der in seinen heiligen Reden, gegen einige unbedachtsame Einwürffe, welche allen menschlichen Fleiß und Beredsamkeit, aus dem Vortrag der Glaubenslehren verweisen wollen, vorgesetzt hat.« 23 J. F. Feddersen: Die Beredsamkeit und Dichtkunst sind die vertrautesten Freundinnen der Gottesgelahrtheit: eine Abhandlung dem [. . .] HERRN Jacob Wilhelm Blaufuß[,] der Weltweisheit Doctor[,] der teutschen Gesellschaften zu Jena und Greifswalde wohlverdientem Mitgliede bey seiner Erlangung der höchsten Würde in der Gottesgelahrtheit [. . .] glückwünschend gewidmet von einigen unter Dessen Vorsitz sich übenden Freunden der schönen Wissenschaften durch Jacob Friedrich Feddersen[,] der Gottesgelahrtheit Befl issenen und der teutschen Gesellschaft zu Jena ordentliches Mitglied, Jena 1758. Zu einer im selben Rahmen gehaltenen Rede Hevelkes (1765) s. u. 24 A. G. B. Dieffenbach: Erörterung der Frage: Ob ein Prediger von den Büchern, so man Autores Classicos nennet, ein Liebhaber seyn dürfe? Zum Zeichen der Dankbarkeit für die geneigte Aufnahme an die Königliche Deutsche Gesellschaft in Göttingen gerichtet, Lauterbach 1751. 25 J. G. Bechthold: Die von dem Durchlauchtigsten Fürsten und Herrn, HERRN Ludwig Regierenden Landgrafen zu Hessen [. . .] der hiesigen teutschen Gesellschafft durch die huldreiche Bestätigung ihrer Gesetze zugewendete unschätzbare Gnade preiset [. . .] in einer ordentlichen Rede, welche den [10.] May in dem solennen Hörsaal der Academie gehalten werden wird, [. . .] Zu welcher Feyerlichkeit vermittelst einer Abhandlung, worinnen von einigen Haupthindernissen der geistlichen Beredsamkeit in unsern Tagen geredet wird [. . .], Giessen 1765. – Zum Gießener Rhetorik- und Poetikprofessor Johann Georg Bechthold (1732–1805) und seiner Tätigkeit in der dortigen Deutschen Gesellschaft vgl. R. Seidel: Gelehrtensozietät oder Seminar?: die Teutsche Gesellschaft in Gießen (1763– 1765), in: Sozietäten, Netzwerke, Kommunikation, 43–56. 26 J. A. Hevelke: Gesellschaften der Redner sind eine Schule angehender Geistlichen. (E)ine Rede bey der feyerlichen Aufnahme in die Herzogliche Deutsche Gesellschaft zu

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Effekt, den die von Deutschen Gesellschaften publizierten Sitzungsreden leisteten, mag abschließend eine Schulrede von Laurentius Reinhard 27 stehen, in welcher der Lehrer am Weimarer Gymnasium illustre im Anschluß an und unter Berufung auf die erwähnten Überlegungen Zur Lindens bereits 1736 die »Nothwendigkeit einer Philosophischen Beredtsamkeit in heiligen Reden und Predigten« behauptete.28 Bereits seine Schüler machte er im Unterricht mit den Grundlagen einer »philosophischen« Kanzelberedsamkeit bekannt – wie es scheint unter Benutzung von Gottscheds Ausführlicher Redekunst.29 1.2 Predigtübersetzungen Einen auf weite Kreise der Öffentlichkeit zielenden Bereich homiletischer Propaganda bildeten die Übersetzungen ausländischer, vor allem englischund französischsprachiger, Predigtliteratur. Diese wurden aus der Mitte oder der Peripherie der von Gottsched geleiteten Sozietäten zumeist von Pfarrern als Übersetzern ins Werk gesetzt. Um das ganze Spektrum dieser Tätigkeiten zu erfassen, sollen hier entsprechende Aktivitäten aller drei Gesellschaftsgründungen Gottscheds eine gemeinsame Behandlung erfahren. Die homiletikgeschichtliche und literaturgeschichtliche Forschung hat in der Vergangenheit die kaum zu überschätzende Rolle ausländischer Predigtübersetzungen für die Durchsetzung der deutschsprachigen PredigtreJena abgelegt von Johann Andreas Hevelke [. . .] den 19ten des Jänners 1765, Jena [1765]. – Zu Hevelke (1741–1791) siehe DBA I 532, 398–400. 27 Zu Laurentius (Lorenz) Reinhard (1700–1752) siehe DBA I 1017, 300. 302–356; ADB 28 (1889), 65 f. 28 L. Reinhard: Einladungs=Schrifft Von der Nothwendigkeit einer Philosophischen Beredtsamkeit in heiligen Reden und Predigten, Darinnen sieben Reden, Die an dem höchsterfreulichen Geburts=Tage Der Durchlauchtigsten Fürstin und Frau, FRAUEN Sophien Charlotten Albertinen [. . .] Den 27. Julii Anno 1736. In dem Hochfürstlichen Weimarischen Gymnasio Illustri werden gehalten werden, öffentlich angezeigt [. . .], Weimar [1736]; der Bezug auf Zur Linden ebd, Bl. A1v. 29 Reinhard: Einladungs=Schrifft Von der Nothwendigkeit, Bl. B2r beendete sein Programm mit dem Aufruf: »Ihr aber, ihr werthen Gymnasiasten! die ihr euch der heiligen Gottesgelahrtheit widmet (. . .) verlasset das Vorurtheil[,] eine ordentliche und nachdrückliche Beredsamkeit müsse von der Cantzel entfernt seyn, und folget meinem guten Rath«; ein Hinweis auf Gottscheds Ausführliche Redekunst ebd, Bl. A2r. – Vgl. auch die bereits zuvor publizierte, rhetorikreformerisch motivierte Einladungsschrift von L. Reinhard: Einladungs=Schrifft von der wahren Beredsamkeit und denen darzu führenden Mitteln, worinnen vier Reden [. . .] angezeiget, und aller Patronen und Gönner nützlicher Wissenschaften hohe und ansehnliche Gegenwart, im Nahmen des gantzen Collegii geziemend erbittet Laurentius Reinhard, Weimar [1734]; ein außerordentliches Lob Hallbauers und Gottscheds um ihre Verdienste bei der Reform der deutschsprachigen Beredsamkeit ebd, Bl. )(3v.

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form regelmäßig konstatiert.30 Vor allem hat man hier Einwirkungen »in die Richtung des gedanklichen und des sprachlichen Stils und des ›guten Geschmacks‹«31 gesehen, ohne dabei das bei diesem Kulturtransfer importierte reformhomiletische Potential näher zu qualifizieren oder aber die institutionelle Verankerung der Übersetzungstätigkeit gesondert in den Blick zu nehmen, zu schweigen von den übersetzungstheoretischen Interessen, die das fremdsprachige Original nach Maßgabe bestimmter Bedürfnisse in einen vom Entstehungsort differierenden Kulturraum »über-setzten«. Für die Abmessung des mit diesem Problemkomplex in Zusammenhang stehenden predigtreformerischen Einflusses kommt erschwerend hinzu, daß häufig keine oder nur unzureichende Angaben zu den Übersetzern oder Initiatoren einer Übersetzung zur Verfügung stehen. Immerhin zeigen so vage Angaben, wie »übersetzt von einem Mitgliede der Deutschen Gesellschaft in Leipzig«32 oder »in der Königl. Deutschen Gesellschaft zu Königsberg in Preussen [. . .] übersetzet von einem ordentlichen Mitglied« 33 oder »übersezet durch ein Mitglied der Königl. deutschen Gesellschaft in Greifswald«34, daß in bestimmten Fällen ein konstitutiver Zusammenhang von Übersetzung und Sozietätsmitgliedschaft bestand, ohne daß direkt ersichtlich ist, wer konkret für die Übersetzung verantwortlich zeichnete. Das quantitative Ausmaß und die exakte Wirkung der ausgedehnten Übersetzungsaktivitäten im 18. Jahrhundert kann angesichts solcher und anderer Lücken derzeit weder in allgemein-literarischer35 noch in speziell homiletischer Hinsicht genau abgemessen werden, schon gar nicht im beschränkten Rahmen dieser Arbeit. Gleichwohl veranschaulichen Fallbeispiele hinrei-

30 So bereits Tholuck: Geschichte des Rationalismus, 103; vgl. zu ausländischen Einflüssen auf die deutsche Predigt auch Rothe: Geschichte der Predigt, 412–418; Zezschwitz: Geschichte der Predigt, 349–367; Schian: Orthodoxie und Pietismus, 131–148; sowie Waniek: Gottsched, 287 f. (mit Blick auf die Predigtübersetzungen aus dem Kreis von Gottscheds Rednergesellschaften). 31 H. M. Müller: Homiletik, TRE 15, 537,27 f. 32 P. von Neuville: Trauerrede auf den Cardinal Fleury, die er auf Befehl des Königs von Frankreich in Paris gehalten hat. [. . .] Aus dem Französischen übersetzt von einem Mitgliede der Deutschen Gesellschaft in Leipzig, Leipzig und Quedlinburg 1743. 33 P. von Neuville: Lob-und Trauerrede auf Sc. Eminenz den Herrn Cardinal von Fleury [. . .] auf Befehl des Königs in der Kirche zu Paris den 25. Maji 1743 gehalten und in der Königl. Deutschen Gesellschaft zu Königsberg in Preussen den 25. Septbr. 1743 übersetzet von einem ordentlichen Mitglied. Königsberg [1743]. – Zu beiden Übersetzungen vgl. Gottscheds Anzeige in: Neuer Büchersaal 1 (1745), 281 f. 34 Ch. F. N. LeMaître de Claville: Von dem wahren Verdienste. Aus dem Französischen übersezet durch ein Mitglied der Königl. deutschen Gesellschaft in Greifswald, Leipzig und Stralsund 1750. 35 Vgl. diesbezüglich die eigenwillige, von der Kulturgeschichtsschreibung Karl Lamprechts beeinflußte Darstellung bei W. Fränzel: Geschichte des Übersetzens im 18. Jahrhundert, Leipzig 1914.

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chend deutlich, welche grundlegende Bedeutung Deutsche Gesellschaften den Predigtübersetzungen im Rahmen ihres Tätigkeitsprofi ls beimaßen. Die in Deutschen Gesellschaften entstandenen Predigtübersetzungen (wie auch die anderen in deren Umkreis entstandenen, zumeist religionsapologetisch motivierten Übersetzungen von theologisch-philosophischer 36 , populär-theologischer37 oder religiös-erbaulicher Literatur) bedienten zunächst Aspekte der »Sprachverbesserung«, indem die Theorie einer gereinigten Sprache hier ihre auf »Geschmacksverbesserung« zielende Anwendung fand.38 Progammatisch für solche übersetzungstheoretischen Zusammenhänge waren beispielsweise die von Georg Venzky (1704–1757; Mitglied der Leipziger Sozietät 1732) 39 in der Sozietätszeitschrift veröffentlichte Abhandlung über »Das Bild eines geschickten Übersetzers«40 oder Gottscheds eigene diesbezügliche Darlegungen in der Ausführlichen Redekunst 41. Wie bereits oben42 ausgeführt wurde, fielen den Predigtübersetzungen neben sprachreformerischen und erbaulich-literarischen Zwecken (durch die der homiletische Geschmack potentieller Predigthörer normative Beeinflussung fand) auch Aufgaben homiletischer imitatio-Anleitung zu, die aus verschiedenen Gründen die englisch- bzw. französischsprachigen Predigtübersetzungen als für die deutsche Situation vorbildlich erscheinen ließen. Neben verschiedenen, unter diesen Vorzeichen stehenden Übersetzungen – wie z. B. der von der Königsberger Deutschen Gesellschaft besorgten und von Gottsched bevorworteten Übersetzung von Flechiers Lob- und Trauer36 Vgl. hierfür beispielsweise die Hinweise zu einem Mitglied der Deutschen Gesellschaft Leipzig, Johann Heinrich Liebers, bei D. Döring: Die Geschichte, 240 f. 37 Vgl. dafür die Übersetzung des Leipziger Sozietätsmitgliedes Johann Friedrich Christoph Ernesti: Jacob [ Jacques] Lenfant: Gründliche Vorbereitung die Bücher Neues Testaments nützlich zu lesen. Aus dem Französischen übersetzt. Nebst einer Vorrede von Johann Lorenz Mosheim, Leipzig 1730 ( 21745). 38 G. Fuchs: Studien zur Übersetzungstheorie und -praxis des Gottsched-Kreises: Versuch einer Wesensbestimmung des nachbarocken Klassizismus, Inauguraldissertation zur Erlangung der Doktorwürde an der Hohen Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg im Üchtland, Burg b. Magdeburg 1935; Th. Huber: Studien zur Theorie des Übersetzens im Zeitalter der deutschen Auf klärung 1730–1770, Meisenheim 1968, 6–32; A. Senger: Deutsche Übersetzungstheorie im 18. Jahrhundert (1734–1744), Bonn 1971. 39 Zu Venzky siehe DBA I 1304, 273–303; zu Venzkys späteren Aktivitäten vgl. H.-J. Kertscher: Die »Prüfende Gesellschaft« in Halle, in: Gelehrte Gesellschaften im mitteldeutschen Raum, Tl. 3, 84. 96–99. 40 G. Venzky: Das Bild eines geschickten Übersetzers, Beyträge zur critischen Historie 1734 (9. Stück), 59–114. 41 Gottsched: AR 1736, 373–378 (»Von den Uebersetzungen«) (vgl. GAW VII/2, 4– 9); vgl. auch J. Ch. Gottsched: Vorrede, vom Werthe und Nutzen der Uebersetzungen, in: Lucian von Samosata: Auserlesene Schriften von moralischem, satirischem und critischem Inhalte, durch verschiedene Federn verdeutscht, und mit einer Vorrede [. . .], Leipzig 1745, Bl. **1r – ****3v; Angaben nach Gottsched-Bibliographie (GAW XII), Nr. 289. 42 Kap. 2, Abschn. 2.2.3.

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reden (1749) 43 oder der durch den Gottschedianer Johann Joachim Schwabe (1714–1784; Mitglied 1736) 44 veranstalteten, für homiletische Fragen relevanten Übersetzung von Rollins Anweisung, wie man die freyen Künste lernen soll45 oder der von Georg Venzky unternommenen Übersetzung der Predigten des Leibniz-Korrespondenten Samuel Clarke46 – stach eine Übersetzung von Predigten John Tillotsons durch Mitglieder der Leipziger Deutschen Gesellschaft hervor, die mit einer begleitenden Vorrede Mosheims versehen war.47 In ihr begründete dieser das homiletische Recht der Übersetzung mit der besonderen Fähigkeit von Tillotsons Predigten, auf den Verstand argumentativ einzuwirken. Die Frage homiletischer imitatio im Blick, hob der Helmstedter Theologe die reformhomiletisch interessierende »Gründlichkeit« von Tillotsons Predigten hervor, die er mit den Kriterien ethischer und stilistischer »Einfalt« in Verbindung brachte.48 Dabei wiederholte seine in diesem Zusammenhang geäußerte Behauptung einer »ungeschminckten Beredsamkeit« Tillotsons das auf klärungsrhetorische und -homiletische Dogma der Priorität der Philosophie vor der Rhetorik, das Gottsched so formuliert hat-

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Gottscheds Vorrede ist abgedruckt in: GAW X/1, 327–350. Zu Schwabe, der vor seinem Eintritt in die Deutsche Gesellschaft von 1733 bis 1736 Mitglied in Gottscheds Nachmittäglicher Rednergesellschaft war und nach Gottscheds Tod zusammen mit Ludovici die Gesellschaft der freien Künste leitete, vgl. den inhaltsreichen Artikel von Gustav Waniek in ADB 33 (1891), 162–171. 45 Carl (Charles) Rollin: Anweisung, wie man die freyen Künste lernen soll. Aus dem Französischen übersetzt von Joh. Joachim Schwabe. Vier Theile, Leipzig 1737 ( 21750, 3 1760, 41770); ebd, Tl. 4 (Buch 7, Absatz 4), 359–420 handelt »Von der Beredsamkeit auf der Kanzel«; die französische Erstausgabe erschien Paris 1726/28. 46 S. Clarke: Geistliche Reden. Aus dem Englischen übersetzt von Georg Venzky, 10 Tle., Leipzig 1732–1738. – Zu Clarke (1675–1729), einem anglikanischen Theologen und Philosophen, der seit 1707 Hofprediger in London war, vgl. die Einführung zu S. Clarke: Der Briefwechsel mit G. W. Leibniz von 1715/1716: a collection of papers which passed between the late learned Mr. Leibniz and Dr. Clarke in the years 1715/1716 relating to the principles of natural philosophy and religion/ übersetzt und mit einer Einführung, Erläuterungen und einem Anhang hrsg. von E. Dellian, Hamburg 1990. 47 Johann ( John) Tillotson: Auserlesene Predigten über wichtige Stücke der Lehre JEsu Christi. Mit besonderm Fleiße aus dem Englischen übersetzet und mit nützlichen Anmerckungen versehen. Nebst einer Vorrede Hrn. Johann Lorentz Mosheims, Helmstädt 1728; die Vorrede Mosheims ebd, Bl. )(2r-8r; auch abgedruckt in: J. L. v. Mosheim: Teutsche vermischte Abhandlungen, die Derselbe als Vorreden zu verschiedenen Büchern verfertiget hat. Gesamlet und mit einem richtigen Verzeichnisse aller übrigen Schriften desselben herausgegeben von M. Johann Peter Miller, Hamburg 1750, 369–384. – Zu Tillotson (1630–1694) siehe RGG3 6 (1962), 902 (M. Schmidt); BBKL 13 (2001), 1380– 1388 (K.-G. Wesseling). 48 Mosheim: Vorrede, in: Tillotson: Auserlesene Predigten (1728), Bl. )(3v: »Man hat gesucht / seine [sc. Tillotsons] ungeschminckte Beredsamkeit zu fassen: Und man hat gefunden / daß man Ursache hätte / die Wahrheiten erst zu lernen / die er eben so redlich und einfältig vorgestellet / als gründlich und geschickt bewiesen hat.« 44

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te: »Die Wahrheiten der Vernunft brauchen keine Schminke.«49 Auf dieser Linie hielt Mosheim auch noch rund 30 Jahre nach seiner ersten Empfehlung die perspicuitas-Qualität von Tillotsons Predigten für nachahmungswürdig, wobei er zugleich einen (für die englische Predigt vielerorts konstatierten) Mangel an geistreichem »Witz« und »Lebhaftigkeit« (d. h. einen Mangel an delectare- und movere-Qualität) einräumte: »Unter den Engländern ist der Erzbischof Tillotson fast der einzige, den wir einigermaßen nachahmen können. Witz50 und Lebhaftigkeit müssen wir nicht bei ihm suchen. Aber Ordnung und Deutlichkeit fi nden wir bei ihm.«51 Bereits zwei Jahre nach der ersten Ausgabe der Tillotsonschen Predigten wurde eine zweite Auflage nötig.52 Bei dieser Gelegenheit berichtete Mosheim in einer neuen Vorrede einigermaßen empört, daß man habe feststellen müssen, »daß derjenige, dem man die letzte Ubersetzung des Abdrucks aufgegeben, sich mehr Recht über eine fremde Arbeit angemasset, als es billig ist« 53. Die Mängel der alten Übersetzung wurden von Mosheim als so gravierend eingeschätzt, daß eine Neuübersetzung unumgänglich erschien. Für dieses Vorhaben konnte Mosheim nun mit zwei neuen Übersetzern aufwarten, von denen einer – wie er ausdrücklich hervorhob – ein Mitglied der Deutschen Gesellschaft zu Leipzig sei.54 Wie aus der Vorrede zum Fortsetzungsband dieses zweiten Übersetzungsanlaufs hervorgeht,55 handelte es sich dabei um den Senior des Klosters Michaelstein, Heinrich Richard Märtens (Mitglied 1729); 56 der andere Übersetzer war der Blankenburger Hofdiakon Johann Martin Darnmann,57 der kurz darauf (1731) in den Kreis der Mitglieder der Leipziger Deutschen Gesellschaft aufstieg. Märtens’ und Darn manns Übersetzung58 stieß auf breite Zustimmung und wurde ein gro-

49 Gottsched: Vorwort (zu: ders.: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit: Theoretischer Teil. Dritte vermehrte und verbesserte Aufl age, Leipzig 1739), GAW V/3, 217,34 f. 50 Hier gleichzusetzen mit dem französischen »esprit«. 51 Mosheim: Kurze Anweisung, 165. 52 Johann ( John) Tillotson: Auserlesene Predigten über wichtige Stücke der Lehre JEsu Christi mit besonderm Fleiße aus dem Englischen übersetzet und mit nützlichen Anmerckungen versehen. Nebst einer neuen Vorrede Herrn Johann Lorentz Mosheims. Zweyte und verbesserte Aufl age, Helmstädt 1730. 53 Mosheim: Vorrede, in: Tillotson: Auserlesene Predigten ( 21730), Bl. )(2r. 54 Mosheim: Vorrede, in: Tillotson: Auserlesene Predigten ( 21730), Bl. )(3v. 55 Johann ( John) Tillotson: Auserlesene Predigten über wichtige Stücke der Lehre JEsu Christi mit besonderm Fleisse aus dem Englischen übersetzet, und mit nützlichen Anmerckungen versehen. Erste Fortsetzung, Helmstädt 1731. 56 Zu Märtens (1699–1743) siehe DBA I 796, 7–9; 17. 57 Zu Darnmann (1698–1754) siehe DBA I 222, 128; wohl irrtümlich notiert Kroker: Gottscheds Austritt, 55 Darnmanns Mitgliedschaft unter dem Namen Johann Adam Darnmann. 58 Nach Darnmanns Aussage hatte sich Märtens für die weiteren Teilbände der Tillot-

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ßer publizistischer Erfolg, durch den das Predigtvorbild Tillotsons an breite Leserkreise vermittelt wurde.59 Übersetzungsbeispiele französischsprachiger Predigtsammlungen (vor allem hugenottischer Provenienz) 60 begegnen weniger im Umfeld der Leipziger Deutschen Gesellschaft, dafür um so häufiger bei den übrigen Gesellschaften Gottscheds. Unter Hinweis auf die vielen Übersetzungen französischsprachiger Predigtliteratur hat Berthold Grosser mit Blick auf Gottscheds Rednergesellschaften sogar gemeint, daß es »(e)ntsprechend den Zeitverhältnissen [. . .] das Gebiet der geistlichen Beredsamkeit [ist], auf das sich die rhetorischen Kräfte der Gottschedschüler vor allem konzentrier[t]en« 61. Beispielsweise unternahm Johann Traugott Schulz,62 ein ehemaliges Mitglied einer der beiden Rednergesellschaften Gottscheds und Mitglied der Gesellschaft der freien Künste, eine Übersetzung der Predigten Pierre Costes, des langjährigen Pastors der französisch-reformierten Gemeinde in Leipzig,63 die nach seinem Tod von einem Anderen fortgesetzt wurde.64 Schulz’ Übersetzung war mit einer empfehlenden Vorrede des Gottsched-Schülers son-Übersetzung »anheischig gemacht, die Helffte der Arbeit zu übernehmen«; Tillotson: Auserlesene Predigten. Erste Fortsetzung, Bl. )(6v (Vorrede Darnmann). 59 Es erschienen insgesamt 8 Teile, Helmstädt 1730–136; 2. verm. Aufl. Helmstädt 1738/39; 3. Aufl. Helmstädt 1764; vgl. zu Darnmanns Ausgabe auch Schian: Orthodoxie und Pietismus, 136. 60 Vgl. für das zeitgenössische Interesse an deren Predigten auch: Erste Sammlung von auserlesenen Heiligen Reden, Welche von denen berühmtesten und gelehrtesten Lehrern der Reformirten Kirche In Frantzösischer Sprache gehalten, In solcher eintzeln heraus gegeben, und wegen ihrer Vortreffl ichkeit Mit Fleiß in die Teutsche Sprache übersetzet worden, Nebst einer Vorrede von D. Johann Christoph Pfeiffern, Pastore zu St. Johannis in Erfurt [. . .], Erfurt 1741; Zweite Sammlung [. . .] Nebst einer Vorrede Sr. Hochwürden Herrn Magnus Crusius, Erfurt 1743. 61 Grosser: Gottscheds Redeschule, 155 f., Zitat 155. 62 Zu Schulz (1731–1755) siehe DBA I 1152, 380–384; J. D. Titius: Lebensumstände weil. Herrn Johann Traugott Schulzens, in: Sammlung einiger ausgesuchter Stücke der Gesellschaft der freyen Künste zu Leipzig, Bd. 3, Leipzig 1756, 472–478; Schulz wurde zu einem ungenannten Zeitpunkt Mitglied in einer von Gottscheds Rednergesellschaften (ebd, 474), bevor er 1752 zum Mitglied der Gesellschaft der freien Künste und 1753 zum Mitglied der Deutschen Gesellschaft zu Jena ernannt wurde. 63 Zu Coste (1697–1751) siehe: In der Mitte der Stadt: die Evangelisch-reformierte Kirche zu Leipzig von der Einwanderung der Hugenotten bis zur Friedlichen Revolution/ hrsg. von H.-J. Sievers, Leipzig 2000, 157; zu einem Besuch Costes in einer Sitzung der Deutschen Gesellschaft in Begleitung Manteuffels siehe D. Döring: Die Geschichte, 23 f. in Anm. 14; zum allgemeinhistorischen Kontext vgl. K. Middell: Hugenotten in Kursachsen: Konturen eines wenig beachteten kulturellen Transfers, in: Cahiers d’études germaniques 28 (1995), 67–82. 64 P. Coste: Predigten. Aus dem Französischen übersetzt von Johann Traugott Schulze und Christian Gottlob Köllner, 4 Tle., Leipzig 1755/56; eine Vorrede Jerusalems fi ndet sich im ersten Teil; Rezension der Übersetzung durch Gottsched in: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, Jg. 1755, 858–860.

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Kapitel 3: Die Propaganda der »philosophischen« Predigt im Gottsched-Kreis

Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem versehen, der seinerseits über seine ehemalige Mitgliedschaft in Gottscheds Nachmittäglicher Rednergesellschaft dem Leipziger Professor eng verbunden war. Nur nebenbei ist darauf hinzuweisen, daß Schulz zusammen mit drei weiteren Mitgliedern der Rednergesellschaft (u. a. Wilhelm Abraham Teller) 1752 von seinem Lehrer in einer von diesem organisierten »Rednerhandlung« aufgeboten wurde, um das philosophische Panier des Wolffianismus gegen Rousseau in Stellung zu bringen.65 An predigtgeschichtlicher Bedeutung der Tillotson-Übersetzung gleich, ragte unter den französischen Predigtübersetzungen des Gottsched-Kreises eine von Adam Gottlob Rosenberg (gest. 1764),66 einem Mitglied in Gottscheds Nachmittäglicher Rednergesellschaft,67 begonnene, von Johann David Müller (geb. 1719) 68 fortgesetzte und von dem bereits erwähnten Gottschedianer Johann Joachim Schwabe vollendete Übersetzung der Predigten des Hugenottenflüchtlings Jacques Saurin69 heraus.70 Rosenberg, der als schlesischer Pfarrer im Liegnitzschen Kreis später zum abwesenden ordentlichen Mitglied der Königsberger Deutschen Gesellschaft ernannt wurde (seit 65

Vgl. Waniek: Gottsched, 613 f.; Nowak: Der umstrittene Bürger, 6–8. Zu Rosenberg vgl. DBA I 1054, 316. 67 In der von Johann Traugott Hille herausgegebenen Mitgliedsliste der 1727 gegründeten Gesellschaft (in: Neue Proben der Beredsamkeit) erscheint Rosenberg an vierter Stelle; bei dem mir vorliegenden Band ist das unpaginierte Mitgliederverzeichnis am Ende eingebunden; s. a. die Rezension des Bandes durch Gottsched in: Neuer Büchersaal 7 (1747), 378 f. 68 Zu ihm DBA I 870, 2. – Müller war zwischen 1743 und 1746 Katechet an St. Petri zu Leipzig, bevor er aus unbekannten Gründen sein Amt niederlegte und seine Spur sich danach verlor; vgl. Sächsisches Pfarrerbuch: die Parochien und Pfarrer der Ev.-luth. Landeskirche Sachsens (1539–1939)/ bearb. von R. Grünberg, 2. Teil: Die Pfarrer der ev.luth. Landeskirche Sachsens, Freiberg 1940, 622. 69 Zu Saurin (1677–1730) siehe RE3 17 (1906), 498–502 (C. Pfender); RGG 4 7 (2004), 852 f. (Ch. Strohm); vgl. auch J. Saurin: Ausgewählte Predigten/ mit einer einleitenden Monographie hrsg. von J. Quandt, Leipzig 1896 (Die Predigt der Kirche; 31). 70 J. Saurin: Predigten über verschiedene Texte der heiligen Schrift. Aus dem Französischen übersetzet und herausgegeben von Adam Gottlob Rosenberg [Teil 8 und 9: Johann David Müller; Teil 10: Johann Joachim Schwabe], 10 Teile, Leipzig 1737–1750; eine Rezension des zehnten, von Schwabe übersetzten Teils durch Gottsched in: Neuer Büchersaal 10 (1750), 288. Im selben Jahr entschloß sich Rosenberg zu einer Neubearbeitung, die er mit eben jenem zehnten Teil beginnen ließ; vgl. Gottscheds Rezension dieses Bandes in: Neuer Büchersaal 10 (1750), 472 f.; der vierte Teil (1743) der Saurin-Übersetzung ist mit einer Widmungsvorrede Rosenbergs an die Deutsche Gesellschaft zu Leipzig, der zehnte mit einer an die Deutsche Gesellschaft in Königsberg versehen. – Zur SaurinÜbersetzung Rosenbergs vgl. neben Wehr: J. C. Gottscheds Briefwechsel, 30 nunmehr insbesondere Schlott: Einer meiner damaligen, 155–185. 233–308; zur komplexen Überlieferungsgeschichte der Saurin-Übersetzung ebd, 167 f. Ich danke Herrn Dr. Michael Schlott (Gottsched-Edition der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig) an dieser Stelle sehr herzlich für hilfreiche Hinweise sowie die freundliche Überlassung eines Druckmanuskripts seines Beitrages. 66

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1749) 71 und danach auch ein Mitglied in Gottscheds Gesellschaft der freien Künste war, stand bei seinen Übersetzungsprojekten mit seinem Lehrer in engem briefl ichen Kontakt.72 Gottsched »dirigiert[e] [. . .] briefl ich die Arbeiten« und »ermuntert[e] [. . .] ihn durch editorische Hilfe« 73. Den ersten Band der Saurin-Übersetzung hatte Rosenberg mit einer homiletikgeschichtlich aufschlußreichen Vorrede versehen,74 in der er deutlich machte, daß er Saurins Predigten als »vortreffl ich[e] Stücke der geistlichen Beredsamkeit«75 ansah, die den Ansprüchen einer Verstand und Willen befriedigenden Predigt gleichermaßen Genüge täten, wobei insbesondere ihre feurige, die Herzen bewegende Art hervorzuheben sei.76 Die imitatio-Funktion der Predigten war dabei das eigentliche Motiv von Rosenbergs Übersetzung.77 Die Übereinstimmung der Predigten Saurins mit Intentionen der auf klärerischen Predigtreform bestätigte Gottsched, wenn er in seiner Rezension des ihm gewidmeten sechsten Bandes von Rosenbergs Übersetzung »die natürlichen, und ungezwungenen, und nutzerfüllten Hauptsätze« hervorhob, die nicht anders als das Resultat einer »vernünftigen« inventio gewertet werden konnten.78 71

Krause: Gottsched und Flottwell, 279. Vgl. beispielsweise den Brief Rosenbergs an Gottsched, Herrendorf, 17. 7. 1734, UBL, Ms 0342, Bd. 3, Bl. 92 f.; die Briefe von Rosenbergs Korrespondenz der Jahre 1730 bis 1756 notiert Suchier: Gottscheds Korrespondenten, 63; einige Briefe Rosenbergs an Gottsched sind mittlerweile ediert durch Schlott: Einer meiner damaligen, 225–232. 73 Beide Zitate Wehr: J. C. Gottscheds Briefwechsel, 30. 74 A. G. Rosenberg: Vorrede, in: Jacob ( Jaques) Saurin: Predigten über unterschiedene Texte der heiligen Schrift. Aus dem Französischen übersetzt von Abraham Gottlob Rosenberg. Erster Theil, Leipzig 1737, Bl. (a)4r – (b)4v. – Die Vorrede bietet in leicht zugänglicher Form nunmehr Schlott: Einer meiner damaligen, 242–254. 75 Rosenberg: Vorrede, Bl. (a)4r. 76 Rosenberg: Vorrede, Bl. (a)5v-6r: »Es ist ihm nicht genug, die Wahrheit zu behaupten, und das Herz zu rühren; er sieht zugleich auf die Einwürfe, die entweder unsre Vorurtheile oder verderbte Neigungen machen können. Selten läßt er was zurücke, so dem Sünder zur Ausflucht dienen könne. Seine Schreibart ist nach Beschaffenheit der Sache eingerichtet. Er redet natürlich, wo es auf die Erweisung der Wahrheit ankömmt. Aber desto feuriger, beweglicher ist er, wenn das Herze soll gewonnen werden.« 77 Rosenberg: Vorrede, Bl. (a)5r: »In der That habe ich bey dieser Herausgabe meistens auf diejenigen gesehen, die eben denselben Wissenschaften obliegen, denen ich mich selbst gewidmet habe, und die einmal die heiligen Wahrheiten der Lehre JEsu öffentlich vorzutragen gedenken. Vielleicht darf ich hoffen, diese Ubersetzung werde so wohl, als andre ihres gleichen, bey demjenigen Studio, welches man das Homiletische nennt, nicht ohne allen Nutzen seyn, und bey den zuweilen ziemlich trocknen Regeln der Homilie, eine nicht unangenehme Abwechselung machen. Die besten Regeln sind doch ohne geschickte Exempel ganz todt, und geben ohne derselben Erläuterung schlechten Nutzen.« – Vgl. zum Zusammenhang von exempla und imitatio anhand von Rosenbergs Übersetzung auch Schlott: Einer meiner damaligen, 177 f. 78 Gottsched: Rez. J. Saurin, Predigten, 6. Teil, Leipzig 1746, in: Neuer Büchersaal 3 (1746), 35: »Große Redner unterscheiden sich gleich durch die natürlichen, und ungezwungenen, und nutzerfüllten Hauptsätze ihrer geistlichen Arbeiten: dahergegen die falsche Beredsamkeit, oder der homiletische Schlendrian, gleich in den Sätzen, die er vortra72

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Gegenüber dem möglichen Einwand, daß man Saurins »Predigten jungen Leuten nicht leicht zum Muster vorlegen [dürfe], denn es ist gar zu sehr in ihnen philosophirt«79, griff Rosenberg die von Propst Reinbeck vorgelegte Beantwortung der Frage, »ob es auch erlaubt sey, im Predigen zu philosophiren?« 80 (s. dazu unten Abschn. 3.1), auf und führte dazu aus: Wenn das Wort »philosophieren« nur »in gutem Verstande genommen wird« 81, verstehe es sich von selbst, daß man dies nicht nur tun dürfe, sondern sogar tun müsse.82 Unterstützung für seine Position suchte und fand er neben Reinbeck in der Autorität Mosheims,83 weswegen er guten Gewissens konstatierte: »Es ist wahr, Herr Saurin hat in seinen Predigten philosophiret.« 84 Gottscheds Rezension von Rosenbergs Saurin-Übersetzung verklammerte dabei noch einmal prägnant die homiletisch-philosophische Qualität des Originals mit der Vorbildhaftigkeit der Übersetzung, das die leitenden übersetzungstheoretischen Ideale des Gottsched-Kreises bei ihren Übersetzungen ausländischer Predigten wie folgt auf den Punkt brachte: »So bündig beweist Saurin seine Sätze: und so deutlich, fl ießend und schön übersetzt unser Hr. Pastor Rosenberg: so daß man es gar nicht gewahr wird, daß er übersetzt, sondern leichte Dollmetschung für ein schönes Original halten sollte. Was kann man von dem besten Uebersetzer mehr fordern?« 85

Angesichts der Vorbildrolle Saurins für die »philosophische« Predigt konnte es im übrigen nicht überraschen, wenn bereits vor Rosenberg ein Mitglied gen will, sich durch spielende Künsteleyen, und oft gar durch ein kindisches Klapperwerk verräth.« 79 Rosenberg: Vorrede, Bl. (a)6v-7r. 80 Rosenberg: Vorrede, Bl. (a)7r. – Vgl. zu Rosenbergs diesbezüglichen Ausführungen auch Schlott: Einer meiner damaligen, 173–175. 81 Rosenberg: Vorrede, Bl. (a)7r. 82 Rosenberg: Vorrede, Bl. (b)1v-2r: »Ich komme zur letzten Bedeutung, die man dem Worte philosophiren giebt, in so fern man nicht auf die Sachen, sondern auf die Art sie zu lehren sieht. Die Deutlichkeit in Erklärungen, die Gründlichkeit im Beweisen, die Ordnung in der Eintheilung, das macht hier alles aus. Wenn anders irgend eine Lehrart philosophisch heissen soll, so muß sie sich bloß durch die angeführten Stücke diesen Namen erwerben. Sie muß richtig erklären, scharf und gründlich beweisen, zur Bewegung des Herzens zulängliche und nachdrückliche Gründe nehmen, und das alles in eine solche Ordnung fassen, wie es die Natur der sachen fordert, und der Verstand sichs am leichtesten und begreifl ichsten vorstellen kan. [. . .] Und wer wollte es alsdenn wohl für unerlaubt halten, solcher gestalt im predigen zu philosophiren; ich meyne, die christlichen Lehren deutlich erklären, gründlich zu beweisen, durch kräftige Bewegungsgründe dem Herzen beliebt zu machen, und alles in eine überzeugende Ordnung zu bringen.« 83 Rosenberg: Vorrede, Bl. (b)1v-2r in Anm. *) rekurrierte auf das einschlägige Homiletikkapitel in Mosheims Sittenlehre, in dem es auf S. 488 der Erstaufl age hieß: »›Der Unterricht durch Predigten besteht aus zwey Dingen, aus einem deutlichen Vortrage, und aus einer richtigen und gewissen Uberzeugung des Verstandes. Der Vortrag kan nie klar genug, die Uberzeugung nie gründlich genug seyn.‹« 84 Rosenberg: Vorrede, Bl. (b)2v. 85 Gottsched: Rez. Saurin, Predigten. Tl. 6, in: Neuer Büchersaal 3 (1746), 45.

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von Gottscheds Nachmittäglicher Rednergesellschaft, der Pfarrer im vogtländischen Oelsnitz und nachmalige Merseburger Stiftssuperintendent Johann David Steinmüller,86 eine Übersetzung der Passionspredigten Saurins unternommen hatte, die die Wertschätzung des Saurinschen Predigtvorbildes im Gottsched-Kreis noch einmal unterstreicht.87 Der Erfolg, den die Propaganda des Dreigestirns Mosheim, Tillotson und Saurin durch den Gottsched-Kreis verzeichnen konnte, mag dabei das Beispiel einer Predigtsammlung Johann Christian Schmidts (1706–1763) 88 veranschaulichen. Schmidt hatte mit einer längeren Unterbrechung von 1724 bis 1729 in Leipzig Theologie studiert und später (1737 bis 1739) mit Unterstützung des Bayreuther Markgrafen eine Bildungsreise unternommen, die ihn durch Deutschland (u. a. zu Christian Wolff nach Marburg), Holland, England und Frankreich führte. Kaum zum Hochfürstlich-Brandenburgisch-Kulmbachischen Kabinettsprediger zu Bayreuth berufen, publizierte er 1739 den ersten Teil einer Sammlung von Heilige[n] Reden über verschiedene Stellen heiliger Schrift 89, die bereits mit ihrer Titelgebung das Vorbild von Mosheims Heiligen Reden verrieten. Die Unschuldigen Nachrichten hoben dann auch in ihrer Rezension hervor, daß Schmidts Predigen nach dessen eigenem Bekunden ganz »nach dem Beyspiel Tillotsons, Saurins und Mosheims eingerichtet«90 waren. Der Rezensent führte dazu näher aus: »Die Ursache, warum er [sc. Schmidt; A. S.] selbige also eingerichtet, ist diese: Weil er in einer Versammlung geredet, da Leute von Vernunft, und Einsicht, und noch darzu größten Theils Gelehrte gewesen. [. . .] Diese Zuhörer, spricht er in der Vorrede, würden mit einem geistlichen Redner nicht zufrieden gewesen seyn, der weiter nichts als seufzen kan. Sie wollen Gründe sehen[.] Sie wollen Beweise haben. Sie glauben nicht mehr auf Credit, wie vor dem. Eben dahero glaubt er, man werde sich nicht über die Vernunft beschwehren dürffen, welcher er erlaubt hätte in das Heiligthum zu gehen und sich an die Seite der Offenbahrung zu stellen. Kurtz: der Herr Verfasser hat die drey oben angeführten Männer nachgeahmet.« 91

86 Zu Steinmüller (1708–1768), der im gedruckten Mitgliederverzeichnis von Gottscheds Nachmittäglicher Rednergesellschaft unter der lfd. Nr. 16 notiert wurde, vgl. ADB 36 (1893), 19; Sächsisches Pfarrerbuch, Teil 2, 905; zwei Briefe Steinmüllers an Gottsched aus den Jahren 1735 bzw. 1752 verzeichnet Suchier: Gottscheds Korrespondenten, 74. 87 J. Saurin: Reden über die Geschichte von dem Leiden unsers Herrn Jesu Christi und andern dahin gehörigen Materien. Aus dem Französischen übersetzt von Johann David Steinmüller, 2 Bde., Leipzig 1734 ( 21747, 31751). 88 Zu Schmidt siehe DBA I, 1117, 300–336; ADB 31 (1890), 741 f. (Wagenmann). 89 J. Ch. Schmidt: Heilige Reden über verschiedene Stellen heiliger Schrift. Erster Theil, Bayreuth und Hof 1739; ein Exemplar dieser Predigtsammlung war mir nicht erreichbar. 90 [Anonym:] Rez. J. Ch. Schmidt, Heilige Reden über verschiedene Stellen heiliger Schrift, 1. Teil, 1739, in: UN 1740, 73–98, Zitat 74. 91 [Anonym:] Rez. Schmidt, Heilige Reden, 1. Teil, in: UN 1740, 74 f.

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Die von Schmidt vorgebrachten Gründe für die imitatio-Qualität Mosheims, Tillotsons und Saurins waren dabei völllig mit den Ansichten Gottscheds kongruent, obwohl der spätere Bayreuther Hofprediger zu keinem Zeitpunkt ein Schüler des Leipziger Philosophieprofessors oder Mitglied einer Deutschen Gesellschaft gewesen war. Wo und auf welche Weise daher Schmidt mit den reformhomiletischen Vorstellungen in Kontakt kam, muß angesichts fehlender Auskünfte derzeit offenbleiben. Die Lektüre einschlägigen Schrifttums ist dafür jedoch nicht unwahrscheinlich. 1.3 Predigtpublikationen und homiletische Fachliteratur Ohne verläßliche Mitgliederlisten und detaillierte Untersuchungen ist die bedeutende propagandistische Rolle derjenigen vielen Pfarrer, die als Mitglieder einer Deutschen Gesellschaft – sei es in der Leipziger Muttergründung oder einer ihrer Töchter – ihre eigene Predigtpraxis an Gottscheds Regeln ausrichteten und der Predigtreform damit zu Leben und praktischer Umsetzung verhalfen, nicht exakt abzumessen. Wenn in einigen Jahren der Gottsched-Briefwechsel vollständig ediert vorliegt, werden wahrscheinlich diesbezüglich genauere Auskünfte möglich sein. Vorerst muß es genügen, mit beispielhaften Andeutungen lediglich die Richtung zu weisen, in der zukünftig zu suchen sein wird. Auch ist es an dieser Stelle unmöglich, eine nur einigermaßen verläßliche Übersicht derjenigen Predigten zu erstellen, die von Mitgliedern Deutscher Gesellschaften publiziert wurden, um auf diese Weise einen Aspekt dieser Form homiletischer Propaganda systematisch zu erfassen. Einschränkend ist dabei zu erinnern, daß im Druck erschienene Predigten ja ohnehin nur die Spitze des Eisberges darstellten; eignete doch schon ungedruckten Predigten ein wesentlicher propagandistischer Aspekt, etwa wenn sich unter Zuhörern oder Amtskollegen herumsprach, daß dieser oder jener Prediger anders als nach dem herkömmlichen, orthodoxen Predigtschema predigte. Wenn wir auf Grundlage der von Ernst Kroker 92 erstellten Mitgliederliste der Deutschen Gesellschaft zu Leipzig für den Zeitraum von 1727 bis 1741 nach jenen Mitgliedern suchen, die mit Predigtpublikationen in Erscheinung traten, zeigt sich in quantitativer Hinsicht ein auf den ersten Blick vielleicht etwas enttäuschender Befund, der jedoch durch die oben gemachten Einschränkungen Relativierung fi ndet. So haben vor oder nach ihrem Eintritt folgende Personen Einzelpredigten oder Predigtsammlungen im Druck veröffentlicht: der schlesische Pastor Adam Bernhard Pantke (Mitglied 1727); der Lübecker Rektor Karl Heinrich Lange, der Königsberger 92

Kroker: Gottscheds Austritt, 42–57 (Anhang. Mitgliederverzeichnis von 1697 bis 1741).

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Theologe Daniel Heinrich Arnoldt und der spätere Hannoversche Hofprediger und Gelehrtenhistoriker Gabriel Wilhelm Goetten (alle Mitglieder 1729); der spätere Gothaer Generalsuperintendent Johann Adam Löw (Mitglied 1735); der Göttinger Theologe Johann Friedrich Cotta (Mitglied 1736) und der Chemnitzer Pfarrer Jonathan Heller (Mitglied 1741). Alle diese Prediger zählten über ihre Verbindung zur Deutschen Gesellschaft – oder wie im Falle Hellers als Mitglied der Weißenfelser Alethophilengesellschaft – zu den Korrespondenzpartnern Gottscheds. Während über Johann Adam Löw an anderer Stelle näheres zu berichten sein wird,93 soll hier kurz der Blick auf Karl Heinrich Lange und Daniel Heinrich Arnoldt gelenkt werden. Der Lübecker Rektor Karl Heinrich Lange,94 ein Gottsched-Korrespondent der Jahre 1727 bis 174895 und Mitglied der Leipziger Gesellschaft seit 172996 , veröffentlichte im Jahre 1732 eine Sammlung Geistlicher Reden97, bei der es ihm – wie er gegenüber Gottsched briefl ich äußerte – darum ging, »zu zeigen, daß man nicht lauter elende Predigten zu halten gewohnet wäre«98. Die reformhomiletische Spitze seiner Publikation formulierten die der Predigtsammlung vorangestellten Ausführungen des Vorberichts,99 in welchem laut einem kritischen Referat der Unschuldigen Nachrichten ihr Verfasser behauptete, »daß ein Prediger zur Erbauung seiner Zuhörer suchen müsse[,] ihren Verstand zu überzeugen und ihren Willen zu bewegen, zu dem Ende aber sich eines lebhafften Vortrags und aufgeweckter Redens=Arten bedienen müsse«100. Homiletikreformerische Bedeutsamkeit kam Langes Predigtsammlung, deren Titel kaum zufällig auf Mosheims Heilige Reden anspielte, vor allem auch wegen einer zweiten Vorrede zu, die der damalige Präsident der Deutschen Gesellschaft höchstpersönlich beigesteuert hatte und in der dieser die Anliegen einer »philosophischen« Predigtkonzeption nachdrücklich verteidigte.101 Mosheims Vorrede, die bis 1750 auf verschiedene Weise noch fünf weitere Abdrucke fand, avancierte damit zum am 93

S. u. Abschn. 2.2. Zu Lange (1703–1753) siehe DBA I 737, 120–124; ADB 17 (1883), 646. 95 Suchier: Gottscheds Korrespondenten, 45. 96 Eintrittsjahr nach Kroker: Gottscheds Austritt, 55; D. Döring: Die Geschichte, 236 gibt dagegen 1728 an. 97 K. H. Lange: Geistliche Reden über wichtige Sprüche heiliger Schrift mit einer Vorrede [. . .] Hrn. Johann Lorentz Mosheims, Lübeck 1732. 98 Lange an Gottsched, Lübeck, 6. 12. 1734, UBL, Ms 0342, Bd. 3, Bl. 176v; vgl. auch D. Döring: Die Geschichte, 238; zu Langes sonstigen Tätigkeiten in der Deutschen Gesellschaft siehe ebd, 236–238. 99 In einem mir zugänglichen, aber leider unvollständigen Exemplar von Lange: Geistliche Reden (ThULB Jena) fehlte leider der Vorbericht; vgl. aber: Extract aus Herrn M. Carl Heinrich Langens Vorbericht/ so er seinen geistlichen Reden vorgesetzet, in: la Placette: Kurtzer Unterricht, 79–82. 100 UN 1736, 533. 101 Lange: Geistliche Reden, Bl. *2r-7v (Vorr. Mosheim). 94

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häufigsten publizierten reformhomiletischen Text in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, der nicht wenig dazu beitrug, das Ansehen einer auf klärerischen Predigtauffassung zu stärken. Auf der Fluchtlinie der »philosophischen« Predigt wurde auch der spätere homiletische Lehrer Herders in Königsberg, Daniel Heinrich Arnoldt (1706– 1775),102 tätig. Von Arnoldt, dem Verfasser eines Versuchs einer systematischen Anleitung zur deutschen Poesie überhaupt (Königsberg 1732), den er Gottsched zur Beurteilung überschickte,103 liegt nicht nur eine gedruckte Predigt vor, die seine Predigtweise anschaulich macht,104 sondern auch eine predigttheoretische Programmschrift: die im Rahmen seiner akademischen Tätigkeit an der Königsberger Albertina 1738 publizierte Klugheit erbaulich zu predigen105. Der noch zu Gottscheds Freunden aus der Königsberger Jugendzeit zählende Theologe, spätere Oberhofprediger sowie Präsident der Königsberger Deutschen Gesellschaft,106 hatte zwar in Halle Theologie studiert und war hier mit pietistischen Predigtanliegen in Berührung gekommen. Gleichwohl stand Arnoldt aber – wie viele andere Zöglinge Halles der 1720er und 1730er Jahre auch – zugleich im Einflußbereich der Philosophie Wolffs.107 Seine Homiletik dokumentierte dabei handgreifl ich seine biographische Synthese von Pietismus und Auf klärung, wie sie insbesondere für Königsberg kennzeichnend war und in welcher Vorstellungen der Philosophie Wolffs und Christian Thomasius’ (siehe die programmatische Bezeichnung seines ho102 Zu Arnoldt vgl. G. Kessler: D. Daniel Heinrich Arnoldt und der Pietistenkreis in Königsberg, in: Altpreußische Geschlechterkunde 8 (1934), 9–24; W.-D. Baur: Arnoldt und Hamann: eine Kontroverse um die Begründung christlicher Ethik, in: Königsberg: Beiträge zu einem besonderen Kapitel der deutschen Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts/ begründet und hrsg. von J. Kohnen, Frankfurt am Main u. a. 1994, 161–178; D. Döring: Die Geschichte, 238 f. 103 Vgl. Arnoldt an Gottsched, Königsberg, 22. 3. 1732, UBL, Ms 0342, Bd. 2, Bl. 153. – Die zweite Aufl age empfahl sich dem Leser durch die zusätzliche Formulierung, daß sie »nach demonstrativischer Lehrart« abgefaßt sei; vgl. dazu D. Döring: Die Geschichte, 239. 104 D. H. Arnoldt: Der Beförderung des Christenthums in den Häusern: stellte an dem ein und zwanzigsten Sonntage nach Trinitatis 1733. nach Gelegenheit des ordentlichen Evangelii Joh. IV. 47–54. vor, in folgender auf Begehrn dem Druck überlassenen Predigt Daniel Heinrich Arnoldt, Königsberg 1734. 105 Arnoldt: [. . .] ladet hiemit die studirende Jugend. – Arnoldt ist auch Verfasser eines homiletischen Lehrbuchs, das aber bislang unauffi ndbar ist: D. H. Arnoldt: Anfangsgründe der homiletischen Gottesgelahrtheit, zum Gebrauch seiner Zuhörer entworfen, Leipzig und Königsberg: J. J. Kanter, 1765; Rezensionen dieser Schrift in: Theologische Berichte von neuen Büchern und Schriften von einer Gesellschaft zu Danzig ausgefertiget 5 (1767), 412–417; Homiletisches Journal, in welchem Nachrichten und Urtheile von den Neuesten Predigten enthalten sind, 2. St. (1765), 72–80; 3. St. (1766), 1–5. 106 Arnoldt führte das Amt des Präsidenten nach dem Tod Johann Jacob Quandts von 1772 bis 1775; vgl. Kozietek: Aufgeklärtes Gedankengut, 143 in Anm. 2. 107 Baur: Arnoldt und Hamann, 161 spricht in anderem Zusammenhang gar von »Arnoldts Wolffi anismus«.

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miletischen Entwurfs als »Klugheit erbaulich zu predigen«) problemlos zusammenflossen. In Abhängigkeit von den Wolffschen Anteilen seiner Philosophie fanden sich bei Arnoldt deshalb auch partielle Übereinstimmungen mit Auffassungen einer »philosophischen« Predigtkonzeption.108

2 Gottscheds Rednergesellschaften Die Schlüsselrolle von Gottscheds Rednergesellschaften109 für die Durchsetzung seiner Predigtreform ist in der Vergangenheit nicht unbemerkt geblieben.110 Denn die Propaganda der »philosophischen« Predigttheorie konnte naturgemäß dort am intensivsten erfolgen, wo Gottscheds präzeptorialer Einfluß am größten war. Unter diesem Gesichtspunkt bildeten die zwei von Gottsched unterhaltenen Rednergesellschaften111 so etwas wie eine »homiletische Kaderschmiede«, zu der nur derjenige Zutritt erhielt, der sich bereits zuvor das grundlegende theoretische Rüstzeug in seinen philosophischen und rhetorischen Lektionen angeeignet hatte.112 Durch den konditionalen Zusammenhang von theoretischer Schulung und praktischer Anwendung gelang es Gottsched, den Gedanken einer auf klärerischen Predigtreform auf nachhaltige Weise im Bewußtsein seiner Schüler zu verankern.113 Innerhalb des Gottsched-Kreises bildeten die Rednergesellschaften außerdem in vie108 Arnoldt: [. . .] ladet hiemit die studirende Jugend, 3 (§. 1): »Der Zweck eines Predigers ist Ueberzeugen und Bewegen.« Ebd, 4 (§. 3): »Er muß nicht nur bereden, sondern auch überzeugen; [. . .]«; ebd, 4 (§. 4): »Es kan aber auch der geistliche Redner überzeugen; indem die Wahrheiten der Schrift, so er vorträgt, nicht blindlings geglaubet werden dörfen, auch nicht auf schwachen, sondern unumstößlichen Gründen beruhen.« Die Beispiele ließen sich vermehren. 109 Zusammenfassend zum Phänomen »Rednergesellschaft« (unter Berücksichtigung der Gottschedischen) vgl. zuletzt B. Hambsch: Rednergesellschaften, HWRh 7 (2005), 1070–1074. 110 Waniek: Gottsched, 287 bemerkte richtig: »Zahlreiche Mitglieder der Gottsched’schen Rednergesellschaften verpfl anzten den neuen Geschmack [sc. den Predigtgeschmack] als Geistliche und Lehrer durch ganz Deutschland [. . .]«; siehe auch das intimer Quellenkenntnis entspringende Urteil bei D. Döring: Johann Christoph Gottsched, in: Les grands, 392: »Schwerer greif bar ist das Wirken der Rednergesellschaften, denen Gottsched angehörte bzw. die von ihm gegründet wurden. Jedenfalls ist davon auszugehen, daß hunderte von späteren Lehrern, Angestellten des Staates und der Kirche hier in der Rhetorik eingeübt wurden, die damals bekanntlich einen höheren Rang innehatte, als dies heute der Fall ist.« 111 Zu Geschichte, Arbeitsweise und Veröffentlichungspraxis von Gottscheds Rednergesellschaften äußerten sich bislang am ausführlichsten Grosser: Gottscheds Redeschule, 91–114; D. Döring: Die Leipziger gelehrten Sozietäten, 37–40. 112 Gottsched: AR 1736, Bl. *2v-3r (Vorrede). 113 Gottsched: AR 1736, Bl. *3r bemerkte zu dem von ihm ausgeübten Einfluß in den Rednergesellschaften: »Ich muß es auch hiermit öffentlich gestehen, daß mir die beyden Tage [sc. die Übungstage der Gesellschaften], da ich die geschicktesten Proben der Beredsamkeit von den auserlesensten und lebhaftesten Köpfen hören kann, mir allemal wie eine

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len Fällen die Vorstufe zu einer Aufnahme in die Deutsche Gesellschaft und/oder die Gesellschaft der freien Künste, so daß sie den Ausgangspunkt für eine Sozietätskarriere markierten, die ihre Verbindung zu Gottsched über den Abschluß der akademischen Studien (und das damit verbundene Ausscheiden aus der Rednergesellschaft) hinaus verlängerte.114 Insofern stellten Gottscheds Rednergesellschaften »mit ihrer auf Breitenwirkung angelegten Vermittlung rhetorischer Kompetenz ein wichtiges kommunikationsgeschichtliches Komplement medialer auf klärerischer Öffentlichkeit«115 dar. 2.1 Organisation, Mitgliederstruktur, Arbeitsthemen Die homiletische Instruktion – man könnte fast sagen: Indoktrination – der Schüler erfolgte dabei vor allem auf dem Weg von Redeübungen, die unter dem Vorzeichen der Selbstauf klärung und der Affi rmierung auf klärerischer Ansichten unter Gottscheds Aufsicht abgehalten wurden. Erst durch nachträglichen Druck erlangten einige der hier vorgetragenen Übungsreden den sekundären Status publizistischer Propaganda. Gottscheds Rednergesellschaften strahlten damit weit über die universitären Grenzen Leipzigs hinaus und übten Einfluß auf andere Gesellschaftsgründungen aus, die sich nach dem Leipziger Vorbild organisierten.116 Über die Tätigkeiten und Mitglieder der 1727 gegründeten Nachmittäglichen Rednergesellschaft informieren insbesondere zwei Bände mit Übungsreden, die unter Gottscheds Ägide 1738 bzw. 1749 von Mitgliedern dieser Sozietät herausgegeben und bevorwortet wurden.117 Die Aktivitäten der 1735 gegründeten Vormittäglichen Rednergesellschaft werden hingegen von einer ähnlichen Publikation des Jahres 1743 ausschnitthaft dokumentiert.118 Zum Gründungsjahr der Nachmittäglichen Rednergesellschaft liegen divergierende Angaben vor. Das Sozietätsmitglied Johann Joachim Schwabe berichtet, daß sich anfangs einige Freunde zusammengefunden hätten, um »die Beredsamkeit der alten Griechen und Römer und der neuern Ausländer zu treiben. Damals war eben des Hrn. Prof. Gottscheds Grundriß einer vernunftmäßigen Redekunst herausgekommen, in welcher die Regeln nach den Alten eingerichtet waren. Sie wählten sich also diesen gelehrten Mann zu ihrem Anführer und Aufseher, damit sie, so wohl durch die vernünftigen Beurtheilungen, als auch durch angenehme Erndte vorkommen, darinn ich die Früchte meiner übrigen Arbeiten mit dem innigsten Vergnügen einsammele.« 114 Vgl. hierfür die bei Grosser: Gottscheds Redeschule, 101 genannten Beispiele. 115 Hambsch: Rednergesellschaften, 1072. 116 Vgl. Grosser: Gottscheds Redeschule, 152 f. 117 Vgl. Proben der Beredsamkeit (1738); Neue Proben der Beredsamkeit (1749). 118 Sammlung einiger Uebungsreden, welche unter der Aufsicht Sr. Hochedelgeb. des Herrn Profess. Gottscheds, in der vormittägigen Rednergesellschaft sind gehalten worden. Herausgegeben von Joh. Christoph Löschenkohl, Leipzig 1743.

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die schönen und vollkommenen Muster eines solchen Mannes [. . .] zu einiger Fertigkeit im Reden gelangen möchten.«119

Diese Angaben suggerieren aufgrund des auf 1729 vordatierten Publikationstermins von Gottscheds erstem rhetorischen Lehrbuch den Herbst 1728 als Gründungsjahr, eine Ansicht, der auch ganz überwiegend die spätere Literatur folgte.120 Demgegenüber bot Johann Traugott Hille im Jahr 1749 ein »Verzeichniß der sämmtlichen Mitglieder dieser Rednergesellschaft seit 1727«121, mit dem er ein um ca. ein Jahr früheres Gründungsjahr behauptete.122 Es spricht manches dafür, daß seine Angabe die richtige ist123 und daß Schwabe den Zusammenhang von Gottscheds Rhetoriklehrbuch und einer darauf bezogenen, nachträglichen Gründung auf Initiative einiger Studenten124 entgegen dem tatsächlichen Hergang konstruierte. Damit unternahm er den durchschaubaren Versuch, die klassizistische Rhetorikreform ausschließlich als Verdienst Gottscheds erscheinen zu lassen und dieses nicht durch ein vorauslaufendes studentisches Interesse in seiner Bedeutung zu schmälern.125 Zur Lebensdauer der zwei Sozietäten liegen keine gesicherten Angaben vor. Wie Gesellschaftsaktivitäten aus den 1760er Jahren belegen, war eine der beiden Einrichtungen noch bis zum Tod Gottscheds aktiv. Diese bezeichnete sich jetzt nur noch als »die Gottschedische Redner-Gesellschaft«126 , 119

Proben der Beredsamkeit, Bl. b3r-v (Vorrede J. J. Schwabe). Waniek: Gottsched, 98; E. Reichel: Gottsched, Bd. 2, 53; Aner: Theologie der Lessingzeit, 23; D. Döring: Die Leipziger gelehrten Sozietäten, 37; u. a. 121 Das auf drei Blättern unpaginiert gedruckte Verzeichnis fi ndet sich ( je nach Bibliotheksexemplar an unterschiedlicher Stelle) beigebunden in: Neue Proben der Beredsamkeit. 122 Rossmann: Gottscheds Redelehre, 200 nennt daher gegen Waniek und Reichel 1727 als Gründungsjahr; Grosser: Gottscheds Redeschule, 92 notiert in offenbarer Kenntnis der Unstimmigkeiten »1727/28«, ohne diese Angabe weiter zu problematisieren. 123 In der auf die Ostermesse 1736 datierten Vorrede Gottscheds zu seiner Ausführlichen Redekunst sprach dieser von der »schon seit acht oder neun Jahren« (Gottsched: AR 1736, Bl. *2v) bestehenden Rednergesellschaft, und räumte damit selbst einen möglichen Gründungstermin 1727 ein. 124 Grosser: Gottscheds Redeschule, 92 hält diese Schilderung Schwabes für unglaubwürdig und nimmt aus mir nicht einleuchtenden Gründen Gottsched als eigentlichen Initiator an. 125 In der an Gottsched gerichteten Widmungsvorrede hatte Schwabe (Proben der Beredsamkeit, Bl. a5v) folgendes panegyrisches Lob angestimmt: »So hat uns Dero Grundriß zu einer vernunftmäßigen Redekunst auf die ganz verlassene Bahn der alten Griechen und Römer am ersten wieder zurück geführet.« Womöglich wollte Schwabe mit dieser Bemerkung öffentlichen Irritationen oder Empfi ndlichkeiten auf Gottscheds Seite aus dem Weg gehen, wenn er von einem studentischen Verlangen nach Übung in klassischer Rhetorik berichtet hätte, das sich schon vor Gottscheds Lehrbuch äußerte. 126 E. T. Demuth: Den großen Nutzen der Naturlehre in der geistlichen Beredsamkeit erwies, bey der wohlverdienten Magisterwürde der Wohledlen und Wohlgelahrten Herrn, Herrn Johann Gotthilf Pölitzens [. . .] und Herrn Christian Friedrich Weisens [. . .], 1760 den 21sten des Hornungs, im Namen der Gesellschaft, die sich unter der Aufsicht Herrn 120

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weswegen davon auszugehen ist, es auch nur noch mit einer zu tun zu haben. Offenbar handelt es sich hier um die Nachmittägliche Rednergesellschaft, wohingegen die wegen des zeitweise starken Andrangs als Parallelgründung ins Leben gerufene Vormittägliche Rednergesellschaft zu einem unbekannten, früheren Zeitpunkt mangels Frequenz wieder eingestellt wurde. Als terminus post quem ist dafür nach dem derzeitigen Stand der Kenntnis das Jahr 1746 anzunehmen,127 als terminus ante quem kommt das Jahr 1755 in Betracht.128 Man wird dabei den Rückgang der Besucherfrequenz und das schlußendliche Eingehen der zweiten Rednergesellschaft auch ohne Kenntnis der genauen Gründe sicher mit der ab Mitte der 1740er Jahre dramatisch sinkenden Bedeutung Gottscheds in Zusammenhang bringen können. Die anfangs niedrige Mitgliederzahl der Nachmittäglichen Rednergesellschaft erhöhte sich in der Zeit nach ihrer Gründung rasch auf zwölf, später auf 16 Teilnehmer der wöchentlich stattfindenden Sitzungen.129 Wenn Schwabe berichtete, daß jedes Mitglied einmal alle vier Wochen Gelegenheit zu einem Vortrag bekam,130 bedeutete dies, daß in einer Übungssitzung vier Reden gehalten und diskutiert wurden. Nachdem – wie Schwabe im Jahr 1738 (zur Zeit des höchsten Ansehens Gottscheds) bemerkte – »(i)n den letzten Jahren« der Andrang immer größer wurde, richtete Gottsched zusätzlich die erwähnte Vormittägliche Rednergesellschaft ein, in der man hinsichtlich MitProfessor Johann Christoph Gottscheds [. . .] in der Beredsamkeit übet, ein Mitglied derselben, Ehrenfried Traugott Demuth, der Gottesgelahrtheit Befl issener, Leipzig [1760]. – Reden und Gedichte bei dem [. . .] Geburtsfeste [. . .] S. K. H. Herr Friedrich Christians [. . .] in der Gottschedischen Redner-Gesellschaft in Leipzig gehalten [. . .], Leipzig [1762]. – Singgedicht, welches Tages nach dem Hocherfreulichen Friedensfeste den 22. März 1763. früh um 10. Uhr bey einer öffentlichen Rede Herrn Carl August Janus [. . .], die von einer Friedensode Herrn Heinrich Carl Gottlieb Walzens des jüngern, [. . .] beyderseits Mitgl. der Gottschedischen Rednergesellschaft, abgelöset war, im philosophischen Hörsaale zu Leipzig abgesungen worden, [. . .] Leipzig [1763]; siehe Gottsched-Bibliographie (GAW XII), Nr. 820. 127 Wie bereits erwähnt, hielt in diesem Jahr noch Johann David Heermann »in der, unter Sr. M. dem Herrn Professor Gottsched, in der Beredsamkeit vormittags sich übenden Gesellschaft« eine Gedächtnisrede auf Luthers 200. Todesjahr; Neuer Büchersaal 2 (1746), 569. 128 J. Ch. Gottsched: Vorrede (zu: J. T. Schulz: Muster der Beredsamkeit, Leipzig 1755), GAW X/2, 412,28 (Hervorhebung A. S.) schrieb, daß Schulz ein Mitglied von »meiner vormaligen Rednergesellschaft« gewesen sei; vgl. dazu auch Grosser: Gottscheds Redeschule, 94. – In gewisser Spannung dazu steht jedoch die Aussage im Nachruf des bereits 1755 verstorbenen Schulz, in welchem Titius meinte, er sei »in die damals unter desselben [sc. Gottscheds] Aufsicht stehende Rednergesellschaft« eingetreten; Titius: Lebensumstände, 474. Während Titius nur noch von »der« (also einer einzigen) Rednergesellschaft sprach, in die Schulz eintrat (und damit das Eingehen der anderen Gesellschaft bereits voraussetzte), sprach Gottsched von einer Gesellschaft, die erst nach Schulz’ Eintritt zu existieren auf hörte. Beide Versionen führen zu einem jeweils anderen terminus ante quem. 129 Proben der Beredsamkeit, Bl. b3v-b4r (Vorrede J. J. Schwabe). 130 Proben der Beredsamkeit, Bl. b4r.

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gliederzahl und Arbeitsweise »nach einerley Gesetzen«131 wie in der ersten verfuhr. Mit Blick auf diese Parallelgründung (nichtsdestoweniger aber auch zutreffend für die Erstgründung) überlieferte Löschenkohl als Gründungszweck, »jungen Leuten nicht nur eine richtige und reine deutsche Schreibart anzugewöhnen, sondern sie auch nach den Regeln der wahren Beredsamkeit in der Ausarbeitung und im Vortrage wichtiger Wahrheiten, durch die Uebung selbst geschickt und fertig zu machen«132 . Zur Übungspraxis führte er aus: »Unser aller Bemühungen aber sind dahin gerichtet, daß, so oft wir zusammen kommen, allezeit eines aus unsern Mitgliedern seine verfertigte Rede hersaget, bey deren Verfassung wir vornehmlich darauf sehen, daß wir einen wahren und nützlichen Satz durch bündige Beweise auszuführen, den Zuhörern allen Zweifel dabey zu benehmen, und das Herz derselben auf das lebhafteste zu rühren suchen. Dabey geben wir Acht, daß unsere Schreibart aus lauter ordentlichen, reinen und lebhaften Ausdrücken zusammengesetzet sey, doch so, daß wir uns dabey vor allen schwülstigen und unnatürlichen Redensarten aufs eifrigste in Acht nehmen.«133

Vom Inhalt und Ablauf der dem Redevortrag angeschlossenen offenen Diskussion hat sich freilich kein Zeugnis erhalten. Auf welche Art und Weise Gottsched aber die Übungsreden zensierte, veranschaulicht ein handschriftliches Konvolut von hier vorgetragenen Texten, in die die Korrekturen aus seiner Hand eingetragen sind.134 Die Sitzungstage der sich in Gottscheds Privatwohnung versammelnden Mitglieder waren dabei allem Anschein nach der Mittwochnachmittag bzw. der Samstagvormittag.135 Die in gedruckter Form überlieferten Mitgliederverzeichnisse bieten keinen vollständigen Überblick über die absolute Frequenz der Sozietäten; gesicherte Informationen über Mitgliederzahlen liegen durch sie nur für Teilzeiträume vor.136 Hilles Aufstellung verzeichnet so für die Nachmittägliche Rednergesellschaft die beachtliche Anzahl von 152 Mitgliedern (Zeitraum: 1727 bis 1749); Löschenkohl nennt für die Parallelgründung die Namen von 65 Teilnehmern (Zeitraum: 1735 bis 1743). Neben den Namen informierten beide mehr oder weniger ausführlich und vollständig auch über Herkunft, Studium und spätere Stationen der berufl ichen Karriere der heute ganz überwiegend unbekannten Mitglieder. In ihrer lückenhaften Form bieten 131

Beide Zitate Proben der Beredsamkeit, Bl. b4r. Sammlung einiger Uebungsreden, Bl. **1v (Vorrede J. Chr. Löschenkohl). 133 Sammlung einiger Uebungsreden, Bl. **2r. 134 Vgl. dazu Grosser: Gottscheds Redeschule, 106 f. 135 Gottsched notierte in der Lebensbeschreibung seiner Frau: »Indessen machten ihr die beständigen Redeübungen, die sie vor ihrer Stubenthiere [!], Mittwochs und Sonnabends Jahr aus, Jahr ein hörete [. . .] allmählich eine Lust, selbst dergleichen Ausarbeitungen zu versuchen«; Gottsched: Leben, GAW X/2, 514,13–18. 136 Vgl. auch die letztlich ergebnislosen Erwägungen zur absoluten Teilnehmerzahl an Gottscheds Rednergesellschaften bei Grosser: Gottscheds Redeschule, 93 f. 132

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die Listen keine ausreichende Grundlage für aussagekräftige statistische Untersuchungen, und eine prosopographische Recherche, die versuchte, die Lücken zu schließen, würde angesichts der vorauszusehenden Schwierigkeiten den Rahmen dieser Arbeit übersteigen. Gleichwohl vermittelt eine Durchsicht der mitgeteilten Daten einen ersten Eindruck über soziale Zusammensetzung und territoriale Herkunft der Gesellschaftsmitglieder. So fällt auf, daß sich unter ihnen in erheblichem Maße Theologiestudenten sammelten, die als spätere Pfarrer und Theologen zu erstrangigen Multiplikatoren von Gottscheds Predigtreform wurden. Bezogen auf lokale Herkunft bzw. zukünftige Wirkungsorte zeigen sich (für eine kursächsische Landesuniversität kaum überraschend) Konzentrationen auf den thüringischen, kursächsischen, oberlausitzischen und niederschlesischen Raum.137 Daher ist davon auszugehen, daß neben dem gelegentlichen »Export« der »philosophischen« Predigttheorie in die übrigen deutschen Landesteile insbesondere eine größere Anzahl von späteren mitteldeutschen Pfarrern in den Rednergesellschaften ihre entscheidende homiletische Prägung erfuhren. Auf dem Hintergrund dieser Ausgangsüberlegung wäre es prinzipiell möglich, mittels vertiefender Recherchen dem territorialkirchengeschichtlichen Einfluß Gottscheds bei der Ausbreitung der Auf klärungshomiletik weiter nachzugehen. Um zumindest eine erste Vorstellung vom späteren berufl ichen Werdegang jener Personen zu erhalten, die Mitglied einer der zwei Rednergesellschaften Gottscheds waren, kann mittels einer nichtrepäsentativen Stichprobe zumindest die Tendenz markiert werden, mit der insgesamt gerechnet werden muß. Es sollen daher die späteren Berufe der ersten 50 Mitglieder der Nachmittäglichen Rednergesellschaft ermittelt und in Gruppen sortiert werden, da die dafür benötigten Angaben von Hille bereits so vollständig geliefert werden, daß nur noch einige wenige Lücken zu recherchieren sind.138 Die ersten 50 Mitglieder übten demnach im Jahr 1749, dem Jahr der Publikation von Hilles Mitgliedsverzeichnis, folgende Berufe aus:

137 Vgl. auch die Versuche regionaler Aufschlüsselungen bei Grosser: Gottscheds Redeschule, 94. 151, der für die Nachmittägliche Rednergesellschaft den Anteil von Mitgliedern aus Mitteldeutschland mit »ungefähr 50%« ermittelt hat. 138 Zur Mitgliederstruktur siehe auch Grosser: Gottscheds Redeschule, 95.

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späterer Beruf Pfarrer/Theologen akademische Lehrer Pädagogen Verwaltungsbeamte Juristen Mediziner Militärbedienstete keine Angabe Summe

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Anzahl 21 4 3 5 3 1 1 12 50

Die Gruppe der Geistlichen/Theologen läßt sich dabei weiterhin wie folgt aufschlüsseln: ein Theologe (ohne genaue Tätigkeitsangabe), ein Theologieprofessor, 13 Pfarrer/Prediger, ein Feldprediger, ein Gesandtschaftsprediger, ein Hofprediger, zwei Superintendenten, ein Generalsuperintendent. Diese Aufstellung führt nicht nur den überproportional hohen Anteil von zukünftigen Pfarrern unter den Gesellschaftsmitgliedern vor Augen,139 sondern illustriert zugleich, daß bereits 1749 erste kirchliche Spitzenämter von ehemaligen Mitgliedern besetzt werden konnten, von denen auf regionaler Ebene eine homiletische Vorbildfunktion und institutionelle Unterstützung der Predigtreform zu erwarten war. Dabei darf nicht übersehen werden, daß die Karriereentwicklung der hier interessierenden 50 Mitglieder im Einzelfall noch keineswegs abgeschlossen war, so daß zu einem späteren Zeitpunkt der Anteil höherrangiger kirchlicher Funktionsträger sich möglicherweise noch einmal erhöhte. Nicht unterschätzt werden darf in diesem Zusammenhang auch die für die Predigtreform wichtige Rolle der zahlenmäßig jedoch eher schwach vertretenen Gruppe der Pädagogen, die – wie das oben in anderem Zusammenhang erwähnte Beispiel des Weimarer Lehrers Laurentius Reinhard gezeigt hat – von Berufs wegen bereits in der Schule für die Sache einer reformierten Kanzelberedsamkeit propagandistisch tätig wurden.140 Da der Lehrerberuf aber oftmals auch nur eine Durchgangsstation für den sozial höhergestellten Pfarrerberuf darstellte, ist davon auszugehen, daß der Gedanke der Predigtreform bereits in der Schule wesentlich stärke-

139

Den überdurchschnittlich hohen Anteil an Theologen hebt auf der Grundlage einer eigenen statistischen Erhebung von 75 Personen ebenfalls hervor Schlott: Einer meiner damaligen, 156 f. 140 Vgl. auch D. Döring: Johann Christoph Gottsched, in: Les grands, 401, der notiert: »Ein für die Verbreitung Gottschedscher Ideen besonders wichtiger Personenkreis [sc. innerhalb der Gottsched-Korrespondenz] waren die Gymnasiallehrer, die im übrigen nicht selten in Leipzig seine Schüler gewesen sind.«

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re Ausbreitung fand, als die in der Aufstellung begegnende relativ geringe Zahl von Pädagogen auf den ersten Blick erwarten läßt. Zu den bekannteren Mitgliedern aus den Reihen der Nachmittäglichen Rednergesellschaft zählten etwa der erwähnte Saurin-Übersetzer Rosenberg aus Schlesien (Nr. 4), der als Übersetzer von Blaise Gisberts Homiletik in Erscheinung getretene kursächsische Pfarrer Johann Valentin Kornrumpf (Nr. 25) 141 oder der spätere Gothaer Generalsuperintendent Johann Adam Löw (Nr. 12; zu ihm ausführlich unten Abschn. 2.2). Von kirchen- und theologiegeschichtlich herausragender Bekanntheit waren der Leipziger Theologe Johann August Ernesti (Nr. 6), der Braunschweigische Hofprediger Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (Nr. 10) 142 und – aus den Reihen der Vormittäglichen Rednergesellschaft – der aus dem erzgebirgischen Jöhstadt stammende spätere Gellert-Biograph, Kopenhagener Hofprediger und Kieler Theologieprofessor Johann Andreas Cramer (Eintritt 1742) 143. Obwohl Ernesti aus homiletikgeschichtlicher Perspektive nicht gerade als klassischer Gottschedschüler gilt, scheint er doch – trotz seiner späteren Kritik an der starren Handhabung eines rationalistischen Dependenzmodells144 – in seiner eigenen Predigtpraxis hinsichtlich der Formalkriterien stark von Gottscheds Reformvorstellungen beeinflußt worden zu sein, ein Einfluß, der durch sein Predigtvorbild zwar weniger theoretisch, dafür aber ganz praktisch auf Leipziger Theologiestudenten wirksam wurde.145 Anders lag die Sache bei dem zum überregionalen Predigtvorbild aufgestiegenen Cramer, der die homiletischen Vorstellungen seines Lehrers zeitgemäß weiterentwickelte, ohne das Erbe seiner homiletischen Lehrzeit aufzugeben.146 Als ein frühes Zeugnis seiner sich bereits von Gottsched absetzenden rhetorischen Praxis veranschaulichte dies eine Ode aus dem Jahr 1747, in der der damalige Leipziger magister legens »Die geistliche Beredsamkeit« des Dresdner Oberhofpredigers Johann Gottfried Hermann (1707–1791) mit Worten besang, die an Pathos seinen Lehrer weit hinter sich ließen.147 141 Zu Kornrumpf (1709–1768) siehe DBA I 695, 234 f.; Kornrumpfs Übersetzung von Gisberts Homiletik, die in Gottscheds Augen höchstes Ansehen genoß, ging sicher auf eine Anregung seines Lehrers zurück. 142 Zu Jerusalem (1709–1789) vgl. BBKL 3 (1992), 62–67 (W. v. Kloeden); RGG4 4 (2001), 449 f. (A. Beutel). 143 Zu Cramer (1723–1788) siehe BBKL 1 (1990), 1147–1149 (F. W. Bautz); RGG 4 2 (1999), 480 f. (M. Jakubowski-Tiessen). 144 Vgl. Schuler: Geschichte, Tl. 4: Beyträge (1799), 92–106. 145 Vgl. die knappe, aber diesbezüglich aufschlußreiche Analyse einer Predigt Ernestis bei Grosser: Gottscheds Redeschule, 156 f. 146 Vgl. Grosser: Gottscheds Redeschule, 162 f. 147 J. A. Cramer: Die geistliche Beredsamkeit. An Seine Hochwürden, den Herrn Oberhofprediger D. Johann Hermann, von M. Johann Andreas Cramer, der H. Gottesgelahrtheit Candidaten, Leipzig 1747; Anzeige dieses Gedichts durch Gottsched in: Neuer Büchersaal 5 (1747), 283.

2 Gottscheds Rednergesellschaften

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Trotz der auf Gottsched zurückgehenden homiletischen Prägung Cramers darf dennoch ein Anderer für sich beanspruchen, »(d)er berühmteste und Gottsched geistig am nächsten stehende Schüler auf homiletischem Gebiet«148 geworden zu sein: Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem. Die Gottsched-Schülerschaft Jerusalems, die theologiegeschichtlich durch Karl Aner Darstellung gefunden hat,149 war homiletikgeschichtlich gesehen insofern von besonderem Gewicht, als um die Jahrhundertmitte dessen Predigtvorbild dasjenige Mosheims im Gottsched-Kreis zu ersetzen und damit propagandistisch Schule zu machen begann.150 Neben diesen kirchen- oder homiletikgeschichtlich bekannten Namen stößt man auch auf solche, die auf andere, nichttheologische Weise historische Bedeutsamkeit erlangt haben. So begegnen in den Reihen der Rednergesellschaften Gottscheds der zu »den besonders interessanten Vertretern des Wolffianismus in Leipzig«151 zählende Philosophieprofessor Johann Heinrich Winkler (Nr. 1), das Gründungsmitglied der Weißenfelser Alethophilengesellschaft Johann Lorenz Holderrieder (Nr. 21),152 der als Gottscheds »getreuster Schildknappe« bereits mehrfach erwähnte Publizist und Übersetzer Johann Joachim Schwabe (Nr. 38),153 der geistvolle Gottschedschüler und spätere Göttinger Mathematikprofessor Abraham Gotthelf Kästner (Nr. 43),154 der aus Augsburg stammende und zuletzt unter französischen Auf klärern verkehrende Friedrich Melchior Grimm (Nr. 105),155 der Leipziger Auf klärungsdramatiker und Kinderbuchautor Christian Felix Weiße (Nr. 122),156 der bekannte Verleger Johann Gottlob Immanuel Breitkopf157 148

Grosser: Gottscheds Redeschule, 157; ausführliche Erörterung dieser Konstellation ebd, 157–162. 149 K. Aner: Die Historia dogmatum des Abtes Jerusalem, ZKG 47 (1928), 76–103; ders.: Theologie der Lessingzeit, 195; Jerusalems Briefe an Gottsched verzeichnet Suchier: Gottscheds Korrespondenten, 40 f.; einige davon abgedruckt bei Danzel: Gottsched und seine Zeit, 261. 263 f. 319–322. 324–326. 150 Vgl. dafür insbesondere Waniek: Gottsched, 287 f.; siehe dazu auch oben die von Gottsched für Rudolf Graser zusammengestellte Liste homiletischer Literatur aus dem Jahr 1753, die zwar Jerusalem und Flechier, nicht mehr aber Mosheim nennt. Vgl. auch J. Ch. Gottsched: Rez. Joh. Friedr. Wilh. Jerusalem, Sammlung einiger Predigten, in: Neuer Büchersaal 1 (1745) 379 f.; ders.: Rez. Joh. Friedr. Wilh. Jerusalem, Zweyte Sammlung einiger Predigten, Braunschweig 1752, in: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, Jg. 1753, 586–593. 151 D. Döring: Die Philosophie, 97; zu Win(c)kler (1703–1770), der zusammen mit Ernesti Mitglied in Gottscheds Societas Conferentium war, vgl. ebd, 97 f. 152 Zu Holderrieder (1715–1794) siehe Lorenz: Wolffianismus, 115 mit Anm. 11. 153 Waniek: J. J. Schwabe, ADB 33, 162. 154 Zu Kästner (1719–1800) siehe NDB 10 (1974), 734–736 ( J. E. Hofmann; F. Menges); R. Baasner: Abraham Gotthelf Kästner, Auf klärer (1719–1800), Tübingen 1991. 155 Zu Grimm s. o. Kap. 2, Abschn. 2.1 in Anm. 334. 156 Zu Weiße (1726–1804) siehe LitLex 12 (1992), 224–226 (R. Wild). 157 Zu Breitkopf (1719–1794), dem Sohn des Verlagsgründers Bernhard Christoph

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sowie das literaturgeschichtlich einschlägige Brüderpaar Johann Elias (1741) und Johann Adolf Schlegel (1742) aus Meißen.158 Von und vor diesen und anderen Gesellschaftsmitgliedern wurden in Gottscheds Rednergesellschaften regelmäßig homiletische Themen in direkter oder indirekter, d. h. rhetorische Probleme betreffender Form verhandelt, durch die der homiletische Geschmack der Zuhörer entweder in ihrer Rolle als zukünftige Prediger oder als Predigthörer normative Beeinflussung erfuhr. Eine Aufl istung der im Druck überlieferten allgemein-rhetorischen, homiletisch aber gleichwohl relevanten sowie der speziell-homiletischen Vortragsthemen veranschaulicht dies: Daß gründliche Gedanken einer Rede die beste Schönheit geben.159 Von dem ungekünstelten Ausdrucke einer Rede.160 Beweis, daß die Methode, aus Collectaneen zu reden, pedantisch, thöricht und auslachenswürdig sey.161 Daß ein Prediger ein Redner seyn müsse.162 Daß eine gründliche Gelehrsamkeit einem Redner unentbehrlich sey.163 Ein Redner soll mehr zu nützen, als zu gefallen suchen.164 Daß eine vernünftige Beredsamkeit dem Vortrage der göttlichen und geoffenbarten Wahrheiten überaus zuträglich sey.165 Daß ein guter Redner ein Philosoph seyn müsse.166

Breitkopf (1695–1777), siehe ADB 3 (1876), 296–300 (O. Hase); NDB 2 (1955), 578 f. (W. Schmieder). 158 Zu Johann Adolf Schlegel (1721–1793) siehe LitLex 10 (1991), 264–266; zu seinem älteren Bruder Johann Elias (1719–1749) siehe ebd, 266 f. 159 A. B. Glauch: Daß gründliche Gedanken einer Rede die beste Schönheit geben. Bey Hn. Johann Friedrich Wilhelm von Jerusalems erhaltenen Magisterwürde 1731, in: Proben der Beredsamkeit, 19–27. 160 Ch. G. Gleinichen: Von dem ungekünstelten Ausdrucke einer Rede. Als Joh. David Steinmüller und Joh. Friedr. Hoffmann am 21. Febr. 1732 die höchste philosoph. Würde erhielten, in: Proben der Beredsamkeit, 28–40. 161 D. H. Günther: Beweis, daß die Methode, aus Collectaneen zu reden, pedantisch, thöricht und auslachenswürdig sey, in: Proben der Beredsamkeit, 103–118. 162 G. F. Bärmann: Daß ein Prediger ein Redner seyn müsse. Als Herr M. Johann Adam Löwe, im Jahre 1734. den 30 Jul. zum Lehrer und Hirten der Gemeinen Gottes zu Eythra und Bößdorf eingeweihet wurde, in: Proben der Beredsamkeit, 194–211. 163 G. Ch. Ibbeken: Daß eine gründliche Gelehrsamkeit einem Redner unentbehrlich sey, bey Hrn. Johann Jacob Bosens, im Jahre 1735. den 17. Februar erlangten Würde der Weltweisheit, in: Proben der Beredsamkeit, 230–244. 164 Georg Arnold Mehne (Meene): Ein Redner soll mehr zu nützen, als zu gefallen suchen. Bey Herrn Oltmann Gerhard Wienkens, aus Oldenburg, Abzuge aus Leipzig, im Jahre 1735. den 9 Marz, in: Proben der Beredsamkeit, 279–291. 165 J. V. Kornrumpf: Daß eine vernünftige Beredsamkeit dem Vortrage der göttlichen und geoffenbarten Wahrheiten überaus zuträglich sey (1734), in: Neue Proben der Beredsamkeit, 1–14. 166 A. G. Kästner: Daß ein guter Redner ein Philosoph seyn müsse (1736), in: Neue Proben der Beredsamkeit, 67–86.

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Daß ein Gottesgelehrter die freyen Künste wissen müsse.167 Daß ein Feldprediger ein vollkommener Gottesgelehrter seyn müsse.168 Daß ein sehr vollkommener Mann dazu gehöre, die wahre Beredsamkeit als ein Prediger recht auszuüben.169 Daß ein geistlicher Redner den menschlichen Körper wohl kennen müsse, wenn er den Namen eines vollkommenen Redners verdienen will.170

Daß diese Redethemen in enger Anlehnung an Gottscheds Ansichten bearbeitet wurden, versteht sich von selbst. In den Zusammenhang der homiletisch relevanten Themenstellungen gehörte ferner auch eine von Johann Adolph Schlegel auf Propst Reinbeck gehaltene Lobrede, die Gottscheds Ideal eines aufgeklärten Theologen und Predigers feierte.171 Kaum weniger aufschlußreich für die Frage nach den religionsauf klärerischen Implikaten von Gottscheds Predigtreform war auch die in der Nachmittäglichen Rednergesellschaft von dem aus Ratzeburg stammenden, nachmaligen Königlich-Polnischen Legationsrat Lorenz Henning Suke172 gehaltene Rede »Daß kein Land glücklich seyn könne, darinn der Aberglaube herrschet«, eine Rede, die mit dem Preis der Beredsamkeit der Deutschen Gesellschaft ausgezeichnet wurde.173 Homiletikrelevante Bezüge fanden sich schließlich auch in einer um 1739 gehaltenen Rede Kästners, die in satirischer Verkehrung (sicher zur großen Erheiterung der anwesenden Zuhörer) erklärte, »(d)aß ein Redner die Wolfische Philosophie nicht verstehen dürfe«174. Wie noch eine 1760 gehaltene Übungsrede über »(d)en großen Nutzen der Naturlehre in der geistlichen Beredsamkeit«175 zeigte, liefen Kontinuitätslinien in der in167 J. D. Hickmann: Daß ein Gottesgelehrter die freyen Künste wissen müsse (1737), in: Neue Proben der Beredsamkeit, 103–120. 168 Th. L. Pitschel: Daß ein Feldprediger ein vollkommener Gottesgelehrter seyn müsse (1739), in: Neue Proben der Beredsamkeit, 416–437. 169 J. Hönisch: Daß ein sehr vollkommener Mann dazu gehöre, die wahre Beredsamkeit als ein Prediger recht auszuüben (1739), in: Neue Proben der Beredsamkeit, 438– 452. 170 F. L. Pitschel: Daß ein geistlicher Redner den menschlichen Körper wohl kennen müsse, wenn er den Namen eines vollkommenen Redners verdienen will (1739), in: Neue Proben der Beredsamkeit, 453–464. 171 J. A. Schlegel: Lobrede auf den Hrn. Consistorialrath und Propst Reinbeck, in: Sammlung einiger Uebungsreden, 100–119. 172 Zu Suke ist nichts näheres bekannt; seine Spur verliert sich nach seinem Weggang aus Leipzig. 173 Suke: Daß kein Land glücklich seyn könne, 139–160; zu Sukes Rede siehe auch oben am Ende von Kap. 1, Abschn. 2.2; vgl. auch D. Döring: Die Deutsche Gesellschaft zu Leipzig, 219. 174 A. G. Kästner: Daß ein Redner die Wolfi sche Philosophie nicht verstehen dürfe, in: Neue Proben der Beredsamkeit, 351–371. – Gegen den Abdruck dieser und einer anderen Rede protestierte Kästner, weil er den scharfen, satirischen Ton für nicht mehr angemessen (bzw. vielleicht auch karriereschädigend) hielt; vgl. D. Döring: Die Leipziger gelehrten Sozietäten, 40; Baasner: Abraham Gotthelf Kästner, 407–412. 175 Demuth: Den großen Nutzen der Naturlehre, Titelblatt.

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Kapitel 3: Die Propaganda der »philosophischen« Predigt im Gottsched-Kreis

haltlichen Ausrichtung der Übungsreden bis in die späte Zeit der Tätigkeit der Rednergesellschaft. Den für Gottsched zeitlebens gültigen Zusammenhang von Denk- und Rhetorikreform, der für die Predigtreform von grundlegender Bedeutung war, affi rmierte einmal mehr Schwabe, der bei der Publikation der Proben der Beredsamkeit im Namen der Mitglieder in seiner Widmung an Gottsched das Bekenntnis sprach: »Wir sind größtentheils Ew. Hochedlen Zuhörer gewesen, und haben in Dero philosophischen Lehrstunden die Sachen, in Dero oratorischen Vorlesungen aber die Einkleidung derselben gelernet.«176 Angesichts einer derart massiven Propaganda wird daher nun auch plausibel, wie Gottscheds Ideen in den Köpfen seiner Zuhörer mehr oder weniger stark Fuß fassen mußten. Wie intensiv sich das in den Rednergesellschaften begründete Lehrer-Schüler-Verhältnis auch über den Abschluß des Studiums hinaus im Einzelfall fortsetzen konnte, soll das Beispiel des oben nur beiläufig erwähnten Johann Adam Löw veranschaulichen, der als Mitglied mit der Nummer »12« zur Gründungsformation der Nachmittäglichen Rednergesellschaft gehörte. Löw setzte nach Beendigung seines Studiums zu einer kirchlichen Karriere an, die näher zu betrachten sich lohnt. 2.2 Johann Adam Löw (1710–1775): zur kirchlichen Karriere eines homiletischen Gottsched-Schülers Der als Sohn eines Amtmanns und Lehndirektors 1710 im gothaischen Großneuhausen geborene und 1775 im Alter von 65 Jahren als Oberkonsistorialrat, Generalsuperintendent und Oberpfarrer von Gotha gestorbene Johann Adam Löw177 begann sein Studium an der Alma mater Lipsiensis im Frühjahr 1730.178 Dazu bemerkte Johann Gottfried Geißler, der von Löw auf Empfehlung des Leipziger Theologieprofessors Ernesti zum Leiter des Gothaer Gymnasiums berufen worden war und nach Löws Tod dessen Biograph wurde,179 daß der studiosus theologiae, »ehe er sich der Gottesgelahrtheit ganz widmete, Mathematik, Philosophie und Beredsamkeit seine erste Be176

Proben der Beredsamkeit, Bl. a4r (Widmungsvorrede). Über Löw informieren DBA I 777, 308–313; ADB 19 (1884), 296 f. (falsches Todesjahr!); J. G. Geissler: Das Andenken des [. . .] Herrn Johann Adam Löw [. . .]. Nebst einem Briefwechsel zwischen den Herrn Grafen Ludwig Zinzendorf, und dem Wohlseel. Herrn General=Superintendenten, vom Jahr 1746, Gotha 1775; Thüringer Pfarrerbuch: Bd. 1. Herzogtum Gotha/ hrsg. von der Gesellschaft für Thüringische Kirchengeschichte, Neustadt a. d. Aisch 1995, 446; Sächsisches Pfarrerbuch, Tl. 2, 554 (kein Todesjahr!). 178 Die jüngeren Matrikel der Universität Leipzig 1559–1809/ hrsg. von G. Erler, Bd. 3, Leipzig 1909, 247 (sub nomine Loewe). 179 Zu Geißler (1726–1800) vgl. K. Schmidt: Ein Gothaer Schulreformer des 18. Jahrhunderts, in: Gotha und sein Gymnasium: Bausteine zur Geistesgeschichte einer deutschen Residenz, Zur 400-Jahrfeier des Gymnasium Ernestinum/ hrsg. von H. Anz, Gotha; Stuttgart 1924, 67–95. 177

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schäftigung auf Universitäten seyn ließe. In den zwey letzten Wissenschaften wählte und folgte er dem berühmten Gottsched vorzüglich als Führer«180. Die Lehrerrolle des Leipziger Philosophieprofessors und Rhetorikreformers kommentierte Geißler zu einer Zeit ganz überwiegender Gottsched-Verachtung ungewohnt positiv: »Und wenn dieser so sehr verunglimpfte Mann, sonst keinen Schüler, als ihn [sc. Löw; A. S.] gezogen hätte, so würde dieses allein ein überzeugender Beweiß seyn, daß seine Verdienste, nicht so ganz unbeträchtlich, als man sie zu machen gesucht hat, gewesen seyn könnten. Wenigstens wurden die Proben der Beredsamkeit, die der Wohlseelige Herr Ober=Pfarrer unter der Aufsicht dieses seines Lehrers öffentlich bekannt machte [. . .] mit verdienten Beyfall aufgenommen [. . .].«181

Mit letzterem Hinweis bezog sich Geißler auf vier Übungsreden, die Löw zwischen 1731 und 1733 in Gottscheds Nachmittäglicher Rednergesellschaft ausgearbeitet, vorgetragen und mit denen er seinen späteren Ruf als Redner und Prediger begründet hatte.182 1734, im Alter von gerade einmal 24 Jahren, wurde Löw zum Pfarrer von Eythra und Bösdorf (zwei Orten nahe Leipzig, die in den 1980er Jahren infolge des Braunkohlentagebaus abgetragen wurden) bestellt, wobei es den Anschein hat, daß der unter Gottsched erworbene Rednerruhm mithalf, die Bahn für diesen keineswegs selbstverständlichen nahtlosen Übergang vom Studium in die fi nanzielle Sicherheit eines ordentlichen Pfarramtes zu ebnen.183 Anläßlich seines damit verbundenen Ausscheidens aus der Nachmittäglichen Rednergesellschaft hielt ihm der später als Mathematikprofessor in Wittenberg lehrende Georg Friedrich Bärmann184 die übliche Abschiedsrede, in der er dem angehenden Pfarrer nochmals die Kernpunkte der Gottschedischen Predigtreform unter der Überschrift »Daß ein Prediger ein Redner seyn müsse«185 in Erinnerung rief. Er schloß seine Rede mit dem an Löw gerichteten Appell, den Samen der Auf klärung getreu den Idealen der Sozietät in seine Gemeinde zu tragen:

180

Geissler: Das Andenken, 12. Geissler: Das Andenken, 12. 182 J. A. Löw: Kurze Lobrede auf weiland Hn. Heinrich Adolph Hohmann, der Rechte Befl issenen. 17. Oct. 1731, in: Proben der Beredsamkeit, 1–18; ferner eine Gedächtnisrede auf Georg den Jüngeren, Graf von Werther und Beichlingen (ebd, 41–57), eine Trauerrede auf die Gräfi n Johanna Renata von Werther und Beichlingen (ebd, 83–102) und schließlich eine Rede zum Tod des im Alter von nur fünf Monaten verstorbenen Grafen Gottlob Friedrich von Werther und Beichlingen am 25. Okt. 1733 (ebd, 143–160). 183 Nach Geissler: Das Andenken, 12 erfolgte die Berufung durch einen Reichsgraf aus dem Geschlecht jener von Werthers, auf die Löw drei seiner o. g. Reden gehalten hatte. 184 Zu Bärmann (1717–1769) siehe DBA I 48, 200–203. 185 Bärmann: Daß ein Prediger, 194–211. 181

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»Ziehen sie nur mit vielem Segen hin zu ihrer Gemeine. [. . .] Wenden sie daselbst auch die Beredsamkeit an, welche sie uns so oft gezeiget haben. Predigen sie ihrer Gemeine gründlich und gewaltig. Schärfen sie dem Verstande ihrer Zuhörer die heiligen Wahrheiten mit dem größten Eifer ein, und lenken sie den Willen der selben, durch nachdrückliche Vorstellungen. Helfen sie, durch ihr Beyspiel, die Vorurtheile des Pöbels zerstöhren, und zeigen sie, wie nützlich die Verknüpfung des Predigers mit der Kunst des Redners sey. [. . .] Allein erinnern sie sich auch öfters ihres Versprechens. Vergessen sie niemals der Stunden, die sie in unserer Gesellschaft zugebracht haben.«186

Auf den ersten Blick schien die abschließende Mahnung als reine Floskel dem kasuellen Anlaß geschuldet zu sein. Doch ahnten mutmaßlich sowohl Löw, der zu den ersten Gottsched-Schülern zählte, die den geschützten Kreis der Nachmittäglichen Rednergesellschaft in die Öffentlichkeit eines Pfarramtes verließen, als auch Bärmann, daß eine ganze Reihe von Schwierigkeiten sich der ungehinderten Anwendung der refomhomiletischen Prinzipien in den Weg stellen sollten, die die Mahnung als nur zu berechtigt erscheinen ließ. Zunächst aber ging es mit Löws Sozietätskarriere erfreulich aufwärts: Allem Anschein nach wurde er noch Ende 1734 durch Gottsched in den erlesenen Kreis der Mitglieder der Leipziger Deutschen Gesellschaft, die sich damals auf dem Zenit ihres Ansehens befand, aufgenommen. Im allerersten seiner insgesamt 24 an Gottsched adressierten Briefe187 dankte der kaum in Eythra angelangte junge Pfarrer seinem »Hochgeneigte[n] Patron« überschwenglich dafür, daß dieser ihm (offenbar ohne Vorankündigung) die Ehre erwies, ihn »bereits mit unter die Mitglieder derselben [sc. der Deutschen Gesellschaft] öffentlich zu setzen«188. Umständlich entschuldigte sich Löw, daß die fällige Antrittsrede wegen der »Schwierigkeiten[,] die ein neuer Prediger zu überwinden hat, ehe er die eingeführten Kirchengewohnheiten begreifen und ausüben lernet«, noch auf sich warten lasse und verwies zur Erläuterung auf überhäuftes Predigten, Adventszeit, bevorstehende Feiertage »und andere dergleichen zeitverderbende Dinge«189. Da Löws Name im darauffolgenden Jahr offiziell unter die Mitglieder der Sozietät gezählt wurde,190 muß davon ausgegangen werden, daß die geforderte Antrittsrede doch noch geliefert werden konnte.

186

Bärmann: Daß ein Prediger, 211. Vgl. Suchier: Gottscheds Korrespondenten, 47. – Die Durchsicht der Briefe zeigt, daß es sich bei der überlieferten Anzahl lediglich um den Bruchteil einer erheblich umfangreicheren Korrespondenz handelt. 188 Beide Zitate aus einem Brief Löws an Gottsched, Eythra, 13.12. 1734, UBL, Ms 0342, Bd. 3, Bl. 179r. 189 UBL, Ms 0342, Bd. 3, Bl. 179r. 190 Kroker: Gottscheds Austritt, 56. 187

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Über die nächste Station der kirchlichen Karriere Löws existieren widersprüchliche Angaben. Während der Löw nahestehende Geißler (und in seinem Gefolge alle späteren Autoren) den Eythraer Pfarrer ab 1740 im Archidiakonat der Weißenfelser Stadtkirche sehen,191 notiert das Gothaer Pfarrerbuch vor dieser Station noch eine zweijährige Amtszeit im nördlich von Weimar gelegenen Burgwenden (1738–1740).192 Diese Angabe kann jedoch durch das sächsische Pfarrerbuch nicht eindeutig abgesichert werden.193 Wie dem auch sei: Trotz der bestehenden Unklarheiten ist unstrittig, daß Löw bereits im Alter von dreißig Jahren in die respektable Stelle eines Weissenfelser Archidiakonats einrückte. Mit dem neuen Wirkungskreis verband sich zugleich eine neue Etappe seiner Sozietätskarriere. Denn in Weißenfels gehörte er (neben zwei weiteren ehemaligen Mitgliedern aus Gottscheds Rednergesellschaften) 194 zu einem sich regelmäßig treffenden Zirkel von insgesamt sieben Personen der Weißenfelser Stadtintelligenz, aus dem sich eine Dependance von Manteuffels Alethophilengesellschaft entwickelte.195 Ende 1740 war unter den Teilnehmern nämlich der Plan gereift, sich als Sozietät zu konstituieren, wofür man die bestehenden Verbindungen zu Gottsched organisatorisch und konzeptionell auszunutzen gedachte. Ein Weißenfelser Alethophiler der ersten Stunde notierte dazu: »Verschiedene unter den Genossen des errichteten Bundes, waren Zuhörer Sr. Hochedelgebohrnen, des Herrn Professor Gottscheds, gewesen, und hatten das gute Anden191

Geissler: Das Andenken, 12. Thüringer Pfarrerbuch, Bd. 1, 446. 193 Das sächsische Pfarrerbuch verzeichnet zweimal den Namen Johann Adam Löw mit jeweils unterschiedlichen, aber dennoch auch ähnlichen Geburtsjahren, -orten und Sterbedaten. Das Burgwendener Pfarramt wird dabei einem Johann Adam Löw zugewiesen, der – abgesehen vom gleichen Namen – keine weitere Übereinstimmung mit dem späteren Gothaer Generalsuperintendenten aufweist; Sächsisches Pfarrerbuch, Tl. 2, 554. 194 Der Weißenfelser Jurist Johann Laurentius Holderrieder (1715–1794) war einst Mitglied in der Nachmittäglichen Rednergesellschaft (Nr. 21). Der Weißenfelser Subdiakon Jonathan Heller (1716–1791), später Superintendent im kursächsischen Rochlitz, Superintendent in Chemnitz und zuletzt Pastor an St. Marien in Danzig, gehörte zu den ersten Mitgliedern der Vormittäglichen Rednergesellschaft im Jahr 1735. Zwar nicht Mitglied in einer der genannten Sozietäten, aber ebenfalls Hörer von Gottscheds Vorlesungen während seines 1734 begonnenen Studiums in Leipzig war der auch zum Weißenfelser Zirkel gehörende Mediziner Gottlob Karl Springsfeld (1714–1772) gewesen. 195 J. L. Holderrieder: Historische Nachricht von der Weißenfelsischen Alethophilischen Gesellschaft, welche, nebst dreyen derselben vorgelesenen Abhandlungen, I. Von den Ursachen der historischen Unwahrheiten, II. Von der Gewalt der Majestät über das Recht der Natur, III. Von der Natur des Eides, herausgiebt D. Joh. Laurentius Holderrieder, Leipzig 1750; A. Junge: J. Chr. Gottsched und seine Weißenfelser Freunde, in: Bilder aus der Weißenfelser Vergangenheit: Festgabe zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens des Weißenfelser Vereins für Natur- und Altertumskunde (1874–1924), Weißenfels 1925, 61–98; Lorenz: Wolffianismus, 113–144. Zu Manteuffels Sozietätsgründung vgl. zuletzt die umfassende Studie von D. Döring: Beiträge zur Geschichte, 95–150. 192

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ken ihres Lehrmeisters, durch gewechselte Briefe unterhalten.196 Es wurde daher für dienlich angesehen, ihm den gefaßten Vorsatz zu eröffenen, und sich bey denen, in Ansehung der Errichtung der Gesellschaft zu nehmenden Maaßregeln, seinen guten Rath und Beystand auszubitten.«197

Es verstand sich von selbst, daß der erbetene Rat gewährt wurde. Mehr noch: Gottsched, der auf ältere Kontakte nach Weißenfels zurückblicken konnte, die in der Vergangenheit z. B. dafür gesorgt hatten, daß er die Professur für Logik und Metaphysik (und Löw das Weißenfelser Archidiakonat?) erhielt,198 brachte für die Pläne seiner Weißenfelser Schüler Graf Manteuffel ins Gespräch, der die gewünschte Sozietät als Tochtergründung seiner Alethophilengesellschaft anregte.199 Das wurde dann auch in die Tat umgesetzt. Im Rahmen der Weißenfelser Sozietätsaktivitäten hielt Löw am 15. Februar 1741 in Gegenwart Manteuffels eine Rede zu einem vom Reichsgrafen ausgegebenen Problem der Leibniz-Wolffschen Philosophie, von der zwar noch der Titel, nicht mehr aber ihr Inhalt überliefert ist.200 Anläßlich des am 21. August 1741 erfolgten Todes von Propst Reinbeck, des theologischen Mentors der in Leipzig (vormals Berlin), Weißenfels und Stettin organisierten Alethophilen, erhielt Löw (abermals durch Manteuffel) den Auftrag, eine Gedenkrede anzufertigen. Zwar bat er wegen Zeitmangels bei Gottsched darum, von dieser Aufgabe entbunden zu werden,201 doch konnte er mit seinem Wunsch nicht durchdringen. Sei es durch Zureden oder durch ein Machtwort: der Weißenfelser Archidiakon hielt die geforderte Rede im Rahmen der Weißenfelser Gedenkveranstaltung am 7. Februar 1742.202 Vor dem Druck der Rede vertraute er sie der »Geschmacksdiktatur« 203 Gottscheds an und bat seinen ehemaligen Lehrer, »alles daran zu ändern, was wieder die Regeln der Beredsamkeit und des guten Geschmacks, auch vielleicht wieder die historische Wahrheit laufen möchte. Denn

196 Zu Hellers Briefen an Gottsched siehe Suchier: Gottscheds Korrespondenten, 37 f.; zu Holderrieders Briefen ebd, 39; zu Springsfelds umfänglicher, 1740 einsetzender Korrespondenz ebd, 73. 197 Holderrieder: Historische Nachricht, XXI. 198 Vgl. Junge: Gottsched und seine Weißenfelser Freunde, 63–67. 199 Vgl. hierzu Holderrieder: Historische Nachricht, XXI f.; Lorenz: Wolffianismus, 114–118. – Zum gelehrten Zirkel um Löw und Heller, der die Vorgeschichte der Sozietätsgründung bildete, vgl. ebd, 118–122; Junge: Gottsched und seine Weißenfelser Freunde, 79 f. 200 Vgl. Holderrieder: Historische Nachricht, XXXII; Lorenz: Wolffianismus, 130 f. 201 Löw an Gottsched, Weißenfels, 14.11. 1741, UBL, Ms 0342, Bd. 6b, Bl. 271 f. 202 Holderrieder: Historische Nachricht, XXXIII; Lorenz: Wolffianismus, 129 f. 203 Vgl. hierfür in literaturgeschichtlicher Perspektive Waniek: Gottsched, 260–345 (Kap. XI. »Gottsched’s sogenannte Diktatur«).

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sollte ich mir von meinem treuen Lehrer diejenige Gewogenheit nicht mehr versprechen dürfen, welche mir sonsten so nützlich gewesen ist?« 204

In ihrer gedruckten Fassung 205 stellte Gottsched der Rede ein denkbar vorteilhaftes Zeugnis aus, das nicht nur den Ruhm seines Schülers erheblich vermehrte, sondern zugleich seine eigenen rhetorischen Auffassungen einmal mehr öffentlichkeitswirksam affirmierte und propagierte.206 Über weitere Aktivitäten Löws unter den Weißenfelser Alethophilen ist derzeit nichts bekannt. Dafür bezeugte aber ein anderer Brief die tiefe Verehrung und Dankbarkeit, die Löw angesichts der sichtbaren Förderung gegenüber seinem ehemaligen Leipziger Lehrer empfand. Mit herzlichen Worten dankte er diesem, von dem er sich auch für die Zukunft die bislang gewährte Unterstützung erhoffte: »Mir aber kann nichts glücklicheres begegnen, als wenn ich mich Dero hohen Gewogenheit fernerhin versichern darf.« 207 Im vorletzten Jahr seiner Amtszeit versuchte Löw auf Basis seiner guten Beziehungen nach Leipzig, sich als Vermittler eines Hauslehrers für eine Weißenfelser Amtsfrau zu betätigten. In deren Auftrag erkundigte er sich bei Gottsched nach einem von »Dero beglückten Schülern in Leipzig« 208 , der für die beschriebene Anstellung die erforderlichen Voraussetzungen (Theologiestudium) erfüllte. Löws letzter Brief aus Weißenfels, in dem unter anderem der Vermittlungserfolg berichtet wurde, stellte jedoch schon die Überleitung zur 1745 erfolgten Beförderung nach Gotha her, indem er verriet, wie es zu dieser unverhofften Wendung in der berufl ichen Karriere des Weißenfelser Archidiakons gekommen war. Unter dem Datum des 14. Dezember 1744 informierte Löw seinen Lehrer nämlich über ein von ihm an Manteuffel abgeschicktes Schreiben,209 »darin ich pfl ichtmässig berichte, daß mich der Stadtrath zu Gotha zu einer Gastpredigt eingeladen habe, und daß ich gänzlich dafürhalten müsse, daß solche Veranstalltung [!] ursprünglich einem gnädigen Fürspruche Sr. Excellenz ohne Zweifel zuzuschreiben sey. Wie glücklich ist man doch, wenn die Vorsehung solche Mäcenaten giebt, die sich die Wohlfarth ihrer Verehrer so nachdrücklich angelegen seyn lassen! Die Stelle in Gotha ist zwar zu wichtig und groß für mich; daher ich mich durch vergebliche Hofnung noch zur Zeit nicht unruhig machen will. Sie giebt aber 204

Löw an Gottsched, Weißenfels, 6.5. 1742, UBL, Ms 0342, Bd. 7, Bl. 147v. J. A. Löw: Ehrendenkmal Johann Gustav Reinbeck. Rede, welche in der Alethophilischen Societät zu Weißenfels gehalten worden, in: Reinbeck: Nachgelassene kleine Schriften, 255–277. 206 Gottsched äußerte zu Löws Rede im Vorwort zu Reinbecks Nachgelassenen kleinen Schriften (zit. nach Geissler: Das Andenken, 23 f.): »Wir zweifeln nicht[,] der geneigte Leser werde mit uns wünschen, mehr solche Meisterstücke der deutschen Beredsamkeit von einer Feder zu sehen, die so wenige ihres gleichen hat.« 207 Löw an Gottsched, Weißenfels, 4.4. 1743, UBL, Ms 0342, Bd. 8, Bl. 76v. 208 Löw an Gottsched, Weißenfels, 31.10. 1744, UBL, Ms 0342, Bd. 9, Bl. 220r. 209 Der erwähnte Brief hat sich in dem von der UBL auf bewahrten Manteuffel-Briefwechsel nicht erhalten. 205

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doch Gelegenheit, neue Proben der ausnehmenden Gnade Sr. Hochgräfl. Excellenz zu erhalten [. . .]. Sollte aber ja der Sprung geschehen, so hilft zu demselben in der That nicht wenig, daß ihn einer von Eu. Magnifi zenz ehemaligen Schülern thut [. . .]« 210.

Wie war es zu diesem überraschenden Angebot gekommen, von dem Löw aus verständlichen Gründen wollte, daß Gottsched es mit äußerster Diskretion behandelte? 211 Die fraglichen Details würden sich natürlich nur durch eine Sichtung einschlägiger Akten klären lassen; gleichwohl können doch an dieser Stelle einige maßgebliche Umstände benannt werden. Manteuffel, der über beste Kontakte zum Gothaer Hof, insbesondere zu Herzogin Luise Dorothee, der späteren Briefpartnerin Voltaires,212 verfügte, hatte der von Wolffs Philosophie eingenommenen Sachsen-Gothaischen Landesmutter nicht nur Gottscheds Erste Gründe der Weltweisheit für die Prinzenerziehung besorgt,213 sondern pflegte mit ihr – wie die Gottscheds später auch – standesgemäße persönliche Kontakte.214 Die auf klärungsfreundliche Haltung der Herzogin, die mit ihrem »spätorthodoxen« Konsistorialvizepräsidenten Ernst Salomo Cyprian 215 ein gespanntes Verhältnis unterhielt,216 äußerte sich beispielsweise darin, daß sie anläßlich des Todes 210

Löw an Gottsched, Weißenfels, 14.12. 1744, UBL, Ms 0342, Bd. 9, Bl. 248v-249r. UBL, Ms 0342, Bd. 9, Bl. 249r: »N. S. Die Gothische Sache bitte ich noch zur Zeit im Herzen zu behalten.« 212 Luise Dorothée von Sachsen-Gotha: Der Briefwechsel zwischen Luise Dorothée von Sachsen-Gotha und Voltaire (1751–1767)/ übersetzt, eingeleitet und kommentiert von B. Raschke, Leipzig 1998. 213 D. Döring: Die Philosophie, 62 in Anm. 225; vgl. insbesondere den Brief Gottscheds an den am Gothaer Hof weilenden Manteuffel, Leipzig, 14. 9. 1743, UBL, Ms 0342, Bd. 8, Bl. 215 f., wo es ebd, Bl. 215r heißt: »Das besondere Glück das meinem philosophischen Handbuche wiederfahren, ist so groß, daß es mich stolz machen könnte [. . .]«. 214 Vgl. dazu neben den oben in Kap. 1, Abschn. 2.6 gegebenen Hinweisen auch J. v. d. Osten: Luise Dorothee: Herzogin von Sachsen-Gotha 1732–1767. Mit Benutzung archivalischer Quellen, Leipzig 1893, 16–30; O. Bessenrodt: Der Hof der Herzogin Luise Dorothee, in: Gotha und sein Gymnasium: Bausteine zur Geschichte einer deutschen Residenz. Zur 400-Jahrfeier des Gymnasium Ernestinum/ hrsg. von H. Anz, Gotha 1924, 57–61; Lorenz: Wolffianismus, 116 in Anm. 12; D. Döring: Die Philosophie, 62 in Anm. 225. – Zu einer am 5. September 1743 angetretenen Reise Manteuffels an den gothaischen Hof vgl. einen Brief Gottscheds an den Reichsgrafen, Leipzig, 5. 9. 1743, UBL, Ms 0342, Bd. 8, Bl. 212 f. Zu einem Besuch der Gottscheds am Gothaer Hof vgl. einen Brief der Gottschedin an Dorothee von Runckel, Kassel, 16. 6. 1753, in: L. A. V. Gottsched: Louise Gottsched – »mit der Feder in der Hand«: Briefe aus den Jahren 1730–1762/ hrsg. von I. Kording, Darmstadt 1999, 187 f.; v. d. Osten: Luise Dorothee, 136–138. 215 Zu Cyprian (1673–1745) siehe RE3 4 (1898), 365–367 (A. Tholuck; G. Müller); NDB 3 (1957), 454 f. (M. Schmidt); RGG 4 2 (1999), 507 f. (W.-F. Schäufele). 216 Vgl. v. d. Osten: Luise Dorothee, 52–55; G. Zaepernick: Die Anfänge der Auf klärung im Herzogtum Sachsen-Gotha-Altenburg und Cyprians Stellung dazu, in: Ernst Salomon Cyprian (1673–1745) zwischen Orthodoxie, Pietismus und Frühauf klärung/ hrsg. von E. Koch; J. Wallmann, Gotha 1996, 202–216. – Die Haltung der Herzogin als »freigeisterische Richtung« zu bezeichnen, der entgegenzutreten sich Cyprian »nicht ge211

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von Propst Reinbeck auf eigene Kosten eine von Manteuffel entworfene Gedächtnismünze prägen ließ,217 die an die Alethophilen in Weißenfels218 und die Deutsche Gesellschaft zu Greifswald 219 verschickt wurde. Daher war es auch nur natürlich, wenn der als Gedenkschrift veranstalteten Edition von Reinbecks Nachgelassene[n] kleinen Schriften (in der, wie erwähnt, Löws Lobrede auf Reinbeck zum Abdruck kam) eine Widmung an die Herzogin vorangestellt worden war. Ob die Berührungen der Herzogin mit der (Weißenfelser) Alethophilengesellschaft über diesen einmaligen Akt der Sympathie hinausgingen, muß augenblicklich offenbleiben. Jedenfalls könnte es auch durchaus andere Gründe dafür gegeben haben, daß Holderrieder seine Geschichte der Weißenfelser Alethophilen ausgerechnet Luise Dorothee widmete,220 als die bloße Tatsache, daß er in ihr – wie so viele andere Zeitgenossen auch – eine »deutsche Minerva«221 erblickte. Unter solchen Voraussetzungen war es nun wenig überraschend, wenn Manteuffel seine exzellenten Beziehungen nach Gotha spielen ließ, als für die Nachfolge des am 3. September 1744 verstorbenen Generalsuperintendenten und Oberhofpredigers Johann Benjamin Huhn (1684–1744) ein Mann ausfi ndig gemacht werden mußte, der nach dem Geschmack der Herzogin war. Ob Cyprian, der eine Zeit lang mit Wolff im Briefwechsel stand 222 und ohnehin bereits am 19. September 1745 starb, gegen die im Februar 1745 vollzogene Amtseinführung Löws noch Widerstand leistete, ist nicht bekannt. Die außerordentlich rasante Karriereentwicklung Löws hat Stefan Lorenz (angeregt von entsprechenden Bemerkungen Holderrieders) zu der Frage veranlaßt, »(o)b es einen Zusammenhang zwischen den alethophilischen Aktivitäten Löw[e]s und seinem Karrieresprung gegeben hat [. . .]« 223. Die scheut« habe, wird den historischen Gegebenheiten nicht gerecht; [A.] Beck: Ernst Salomo Cyprian, ADB 4 (1876), 668. 217 Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 62,19–35. 218 Löw an Gottsched, 4. 4. 1743, UBL, Ms 0342, Bd. 8, Bl. 76r. 219 Gottsched an Manteuffel, 5. 9. 1743, UBL, Ms 0342, Bd. 8, Bl. 213r. Vgl. zu diesem Brief und der Übersendung des »Schaupfennigs« an die nicht näher bezeichnete »Greifswaldische Gesellschaft« auch D. Döring: Beiträge zur Geschichte, 108 in Anm. 49; zu einem Sendschreiben Gottscheds an die Greifswaldische Deutsche Gesellschaft im Jahr 1743 vgl. auch unter Gottsched-Bibliographie (GAW XII), Nr. 274. 220 Holderrieder: Historische Nachricht, Bl. a2r-a6v. 221 H. Schneider: Luise Dorothea – die »deutsche Minerva« aus dem Hause SachsenMeiningen, in: Archiv und Regionalgeschichte: 75 Jahre Thüringisches Staatsarchiv Meiningen/ hrsg. von Norbert Moczarski, Hildburghausen 1998, 127–140. 222 Die Briefe Wolffs an Cyprian aus den Jahren 1724 bis 1727 bei Th. Wotschke: Wolffs Briefe über seinen Streit mit den hallischen Pietisten, TSZG 21 (1932), 51–74. 223 Lorenz: Wolffianismus, 130: »Ob es einen Zusammenhang zwischen den alethophilischen Aktivitäten Löw[e]s und seinem Karrieresprung gegeben hat, wissen wir nicht – freilich hat Holderrieder dies in der Rückschau in seiner ›Historischen Nachricht‹ (1750) so behaupten wollen.« Die fragliche Stelle bei Holderrieder: Historische Nachricht,

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Kapitel 3: Die Propaganda der »philosophischen« Predigt im Gottsched-Kreis

bei Lorenz noch unbeantwortet gebliebene Frage kann nach den zurückliegenden Ausführungen mit einem klaren »Ja« beantwortet werden. Bereits Zeitgenossen schätzten Löws raketengleichen Aufstieg als erklärungsbedürftig ein, wie zumindest die auffällige Beredsamkeit signalisiert, mit der Geißler die »schleunigen Beförderungen« seines verstorbenen Vorgesetzten nachträglich zu begründen suchte.224 Wenig überzeugend stellte er dessen »schleunige[n] Uebergang von der Vorbereitung zu geistlichen Aemtern, in die Aemter selbst, und von einem minderwichtigen in ein wichtigeres, und von diesen in eines der allerwichtigsten« 225, als ein Werk der Vorsehung Gottes und als Lohn des Tüchtigen dar, die Löw gerade einmal elf Jahre nach dem Abschluß seines Studiums ins höchste Kirchenamt von SachsenGotha einrücken ließen. Mit Löws Berufung in die neue Stellung verband sich noch ein letzter Gruß der Weißenfelser Alethophilen, die ihrem Mitglied aus der Ferne durch ihren Sekretär, den Mediziner Gottlob Karl Springsfeld, mit einer Glückwunschrede gratulierten und sich dabei mit dem behandelten Thema »Was das Männliche in der Beredsamkeit sey« 226 einmal mehr vor Löws rhetorischen Fähigkeiten verneigten. Wenn Löws Publikationstätigkeit der darauffolgenden Jahre sich vor allem auf den Druck von Predigten erstreckte,227 entsprach dies nicht zuletzt der besonderen Fähigkeit ihres Verfassers. Seine homiletische Gottsched-Schülerschaft fand hierbei gelegentlich handgreifl ichen Ausdruck. So begleitete er 1747 die Übersetzung einer englischen Predigtsammlung mit einer Vorrede, in der er »von allen Lehrern, welche mit Nutzen für ihre Gemeinde die Kantzel besteigen wollen,«228 forderte, daß sie bei ihren Predigten einen »doppelten Endzweck geziemend vor Augen haben sollen. Sie sind schuldig, ihre Vorbereitung zum Reden nach allen Kräften dahin zu richten, daß der Zuhörer von der Wahrheit der vorgetragenen Sätze überführet, und zugleich nach seinen innerlichen Regungen empfi ndlich beweget werde. Der Verstand muß bey ihm aufgekläret und zum völligen Beyfall gebracht; aber auch das Hertz getroffen, das Inner-

XXXVII lautet: »Ich glaube hierbey [sc. im Zusammenhang mit der Mitteilung der Mitglieder; A. S.] als etwas sonderbares anmerken zu können, daß die sieben Mitglieder, welche den Anfang zur Errichtung der Gesellschaft gemacht haben, [. . .] binnen kurzer Zeit, zu höherer Beförderung gelanget sind.« 224 Geissler: Das Andenken, 12 f., Zitat 13. 225 Geissler: Das Andenken, 12 f. 226 Vgl. dazu Lorenz: Wolffianismus, 135 f. 144. 227 Vgl. hierfür die vorwiegend Einzeldrucke von Predigten umfassende Bibliographie bei Geissler: Das Andenken, 19–24. 228 J. A. Löw: Vorrede, in: Isaac Watts: Reden, über allerhand Glaubens=Lehren und Lebens=Pfl ichten. Erster Theil. Aus dem Englischen übersetzt von Johann Gebhard Pfeil, Nebst einer Vorrede Sr. Hochw. Hn. Joh. Adam Löw, Gotha 1747, Bl. a6r.

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ste desselben angegriffen, und allerley feste Entschliessungen zum Guten darinnen auf einmal rege gemacht werden.« 229

Die in Gottscheds Nachfolge stehende Argumentation seiner Vorrede bekräftigte die doppelte Aufgabe einer erbaulichen Predigt mit folgendem Resümee: »Daher müssen die Diener des Heiligthums, wenn sie vor dem Volcke reden, keines von obigen Stücken aus der Acht lassen. Sie müssen die Uberzeugung des Verstandes und die Regung der Hertzen als zwo vertraute Freundinnen betrachten, die man, in Absicht auf die geistliche Beredsamkeit, am wenigsten von einander trennen darf, wenn man anders mit Nachdruck überreden und mit Bestande bessern will.« 230

Der Übersetzer der von Löw bevorworteten Predigtsammlung, der homiletisch-theologisch stärker in Richtung des Pietismus tendierende Pfarrer Johann Gebhard Pfeil 231 aus Geschwenda bei Ilmenau (Schwarzburg-Sondershausen), bedankte sich später mit einer an den Gothaer Generalsuperintendenten gerichteten Widmung für eine solche Unterstützung und Förderung seiner publizistischen Unternehmung.232 Im Sinne Gottscheds nahm Löw auch seine Herausgeberfunktion einer in mehreren Teilen erschienenen Predigtsammlung wahr, indem er darauf Wert legte, daß die abgedruckten Predigten den homiletischen Kriterien der Deutlichkeit und der Herzensrührung genügen mußten.233 Angesichts solcher und ähnlicher (impliziter) Beweise seiner treuen Gottsched-Schülerschaft war es nur naheliegend, 229

Löw: Vorrede, Bl. a6r-v. Löw: Vorrede, Bl. a8v. 231 Zu Pfeil (1721–1773) siehe DBA I 951, 349–352; Thüringer Pfarrerbuch: Bd. 2: Fürstentum Schwarzburg Sondershausen/ hrsg. von der Gesellschaft für Thüringische Kirchengeschichte. Bearb. von B. Möller, Neustadt an der Aisch 1997, 305 f. 232 I. Watts: Reden über allerhand Glaubens=Lehren und Lebens=Pfl ichten. Dritter Theil: Die Christliche Sitten=Lehre über Philipp. 4. Aus dem Englischen übersetzt, und mit einer Abhandlung von den Haupt=Schönheiten und Vorzügen der Sitten=Lehre JEsu begleitet von Johann Gebhard Pfeil, Gotha 1748, Bl. *2r-*6v (Widmung an Löw), hier Bl. *4v-5r: »Wer weiß nicht, daß Euer Hochwürden sich als einen Hohen Gönner dieser Wattsischen Predigten bewiesen? Wem ist unbekannt, daß Dieselben durch Dero geneigtes Urtheil meine Ubersetzung gebilliget, und mich durch Dero gütige Aufmunterung zur Fortsetzung derselben angefeuret haben? Wem ist die gelehrte Vorrede verborgen, womit Dieselben den Anfang meiner Arbeit beehret, und die gute Aufnahme derselben befördert haben?« 233 Neue Sammlung gründlicher und erbaulicher Cantzel=Andachten über die Evangelien und Episteln des gantzen Jahres auch andere wichtige Stellen der heil. Schrift, der Gemeinde Christi zur Erbauung, und rechtschaffenen Predigern zum Behuf ihrer Amts=Führung unter Aufsicht und mit einer Vorrede Sr. Hochwürden Herrn Johann Adam Löw [. . .] ans Licht gestellet. Erster Theil, Gotha und Leipzig 1754, Bl. b2v (Vorrede Löws): »[. . .] den Evangelischen Christen unserer Tage und Gegenden eine solche Sammlung von Cantzel=Reden in die Hände zu liefern, in welcher hauptsächlich Deutlichkeit mit der Erbauung vereinget anzutreffen seyn möchte«. 230

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wenn die Nachmittägliche Rednergesellschaft ihre zweite Sammlung gedruckter Übungsreden (1749) ihrem einstigen Mitglied widmete.234 Bei dieser Gelegenheit gab Johann Traugott Hille Löw ob seiner homiletischen Verdienste einer neuen Schülergeneration als Vorbild zur homiletischen imitatio aus.235 In der zwischen Löw und Gottsched unterhaltenen Korrespondenz klaffte zwischen jenem Schreiben vom Dezember 1744, in dem die Nachricht von der »Gothischen Sache« erstmals zur Sprache kam, und dem nächsten Brief eine Lücke von fast einem Jahr. Der neue Gothaer Generalsuperintendent kam in seinem Brief vom 14. Dezember 1745 auf die Publikation einer ersten Predigtsammlung des fast gleichaltrigen, 1742 zum Hofdiakon und zum Erzieher am Braunschweig-Wolfenbüttelschen Hof berufenen Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem zu sprechen.236 Bei einem Vergleich seiner eigenen mit den Predigten seines ehemaligen Kommilitonen in Gottscheds Nachmittäglicher Rednergesellschaft und Mitgliedes bei den Weißenfelser Alethophilen 237 mußte Löw einen (tatsächlichen) Qualitätsunterschied konstatieren, den er wie folgt ansprach: »Die Siegeszeichen des Herrn Jerusalems, welche durch ihren grossen Herold noch ansehnlicher werden,238 schlagen mich nieder, da vielleicht andere dadurch ermun234 Neue Proben der Beredsamkeit, Bl. (*)2r-5v (Zueignung an Löw, unterzeichnet von Johann Traugott Hille). 235 Neue Proben der Beredsamkeit, Bl. (*)3v-4r: »Eurer Hochehrwürden vortreffl iche Reden haben damals schon den größten Eindurck in die Gemüther aller Zuhörer gemacht. Sie haben einen Sporn in allen Mitgliedern zurück gelassen, in die Fusstapfen eines so großen Redners zu treten, und ihm die Ordnung der Gedanken und die Schönheit des Ausdruckes abzulernen. [. . .] Es ist eine ausgemachte Wahrheit, daß ein geistlicher Redner, der die Lehren des christlichen Glaubens deutlich beschreibet, die Zuhörer von dessen Vortreffl ichkeit überzeuget, die Beschwerlichkeiten des Christenthums unter angenehmen Bildern vorträgt, und dadurch das Reich Gottes erweitert, allen weltlichen Rednern weit vorzuziehen sey. Wo erblicke ich aber solches deutlicher und herrlicher, als in der verehrungswürdigen Person Eur. Hochehrwürden?« 236 J. F. W. Jerusalem: Sammlung einiger Predigten vor den Durchlauchtigsten Herrschaften zu Braunschw. Lüneb. Wolfenbüttel gehalten, Braunschweig 1745 (verbesserte Aufl. 1748. 61774). 237 Jerusalem wurde Anfang 1746, nach Löws Amtswechsel, zum einzigen externen Mitglied der Weißenfelser Alethophilen ernannt und verfaßte in dieser Eigenschaft ein Ehrengedicht auf den 1749 verstorbenen Manteuffel; vgl. dazu sowie zu einem im Jahr 1747 geführten Briefwechsel zwischen Jerusalem und Manteuffel bei Lorenz: Wolffianismus, 116 f. in Anm. 16. 238 Ob Löw sich hier auf briefl iche Äußerungen Gottscheds oder dessen Kurzanzeige von Jerusalems Predigten im Neuen Büchersaal bezieht, ist nicht zu klären; jedenfalls leitete Gottsched: Rez. Jerusalem, Sammlung einiger Predigten, 1. Teil, in: Neuer Büchersaal 1 (1745), 379 seine Kurzanzeige mit dem Lobspruch ein: »Ob es wohl unsre Absicht überhaupt nicht ist, ins theologische Fach zu greifen: können wir doch nicht umhin, von diesem Bändchen geistlicher Reden etwas zu erwähnen, da sie in das Feld der wahren Beredsamkeit laufen, und einen so gesunden und vernünftigen Geschmack an sich haben, als noch wenige Predigten bey uns gewiesen.« Es folgt daran anschließend eine längere Aufzählung der Vorzüge, die Jerusalems Predigten auszeichnen.

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tert werden. Ich schäme mich, daß ich so weit zurückbleibe, da wir doch beyde Einen Meister der Beredsamkeit gehöret haben. Doch beruhiget mich daß einige, daß durch sein hervorleuchtendes Exempel unser gemeinschaftlicher Lehrer vor aller Welt gerechtfertiget wird und die Früchte treuer Unterweisung geniessen kann.« 239

Gottsched versuchte (vielleicht in Reaktion darauf ), seinen Schüler zur Vertiefung der homiletischen Fähigkeiten anzuspornen. Zum Zwecke homiletischer imitatio versorgte Gottsched Löw mit Anschauungsmaterial aus eigener Feder, worauf der Beschenkte nicht nur herzlich dankte, sondern auch ein Versprechen gen Leipzig sandte: »Von Eu. Hochedelgeb. Magnificenz wiederum ein Muster der Beredsamkeit zu sehen, und mir dasselbe zu Nutzen zu machen, habe ich schon seit geraumer Zeit gewünschet [. . .]. Mein Wunsch ist glücklich erfüllet worden[,] nachdem Eu. Magnificenz mir Dero überall so laut gepriesene Werke letzthin zu übersenden beliebet haben.240 [. . .] Es soll mir auch mehr am Herzen liegen, meinen ehemaligen Lehrer nachzuahmen so weit ich kann. Denn es wird doch wohl dabeybleiben, daß der Jünger nicht über seinen Meister ist. Wäre es aber ja möglich, mit der Zeit, und nach vielen Jahren und Ubungen dem Flechier in einigen wenigen Stücken gewissermassen ähnlich zu machen, so werden Eurer Magnifi zentz Mühe, Vorschriften, und Muster nicht gantz und gar vergeblich gewesen seyn.« 241

Auch die übrigen, bis ins Jahr 1753 reichenden Briefe enthalten mehrfach Hinweise darauf, daß der Kontakt zwischen Gotha und Leipzig bis zuletzt vital blieb. So berichtete Löw 1746 an Gottsched, daß »nemlich des Herrn Grafen von Manteuffel Excellenz mir schon vor geraumer Zeit befehlen lassen, gewisse Sätze in Form einer Predigt auszuarbeiten« 242 . Und in einem Brief an den Reichsgrafen selbst gab Löw diesem im darauffolgenden Jahr ein erbetenes theologisches Urteil über eine von Manteuffel selbst in Auftrag gegebene, von Jerusalem anonym verfaßte Schrift mit dem Titel Essai sur la necessité de la Revelation.243 Im Jahr 1746 unternahm Gottsched sogar noch den Versuch, durch Vermittlung Manteuffels seinen ehemaligen Schüler als Hofprediger nach Dresden zu bringen.244 239

Löw an Gottsched, Gotha, 14.12. 1745, UBL, Ms 0342, Bd. 10, Bl. 244v-245r. Es ist nicht zu klären, auf welche Publikationen Gottscheds sich diese Bemerkung bezieht. 241 Löw an Gottsched, Gotha, 8.11. 47, UBL, Ms 0342, Bd. 12, Bl. 315r-v. 242 Löw an Gottsched, Gotha, 5.5. 1746, UBL, Ms 0342, Bd. 11, Bl. 178v. 243 Löw an Manteuffel, Gotha, 16.1. 1747, UBL, Ms 0347, Bl. 41 f.; zu der von Jerusalem im Auftrag Manteuffels veröffentlichen, 16-seitigen Schrift vgl. die Hinweise in: Katalog der Handschriften der Universitäts-Bibliothek Leipzig: neue Folge. Die neuzeitlichen Handschriften der Nullgruppe. Bd. 1, Teil 2 (Ms 0301–0600)/beschrieben von D. Döring, Wiesbaden 2002, 62 f. – Der in Bibliotheken extrem seltene Titel (ein einziges Exemplar läßt sich derzeit in der Staatsbibliothek Berlin nachweisen) fehlt in der Bibliographie bei W. E. Müller: Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem, 238–246. 244 Danzel: Gottsched und seine Zeit, 323; vgl. auch Waniek: Gottsched, 287; Gros240

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Warum der Briefwechsel zwischen beiden schließlich abbrach, läßt sich beim derzeitigen Stand der Forschung nicht sagen. Sind die späteren Briefe verlorengegangen? 245 Oder kam es doch zu einer homiletisch-theologischen Entfremdung? Für eine solche Entwicklung könnte sprechen, daß 1758 ausgerechnet Gottscheds philosophischer Antipode, der Leipziger Theologe Christian August Crusius, eine Vorrede »von der Ehrerbietung, welche ein Prediger dem göttlichen Worte, und der Gemeinde, die ihn höret, schuldig ist«, zu der von Löw herausgegebenen Neuen Sammlung gründlicher und erbaulicher Canzel-Andachten beisteuerte.246 Daß Löw zumindest in den nach 1750 ausbrechenden literarisch-homiletischen Auseinandersetzungen zwischen der Gottsched- und Klopstock-Schule treu zur Partei seines Lehrers hielt, machte andererseits seine eigene Vorrede zu eben jener Predigtsammlung deutlich.247 Eine Art Vermächtnis der homiletischen Auf klärungsbemühungen Löws enthielt sein letzter Brief an den Leipziger Lehrer. Dabei wurde eine unfreiwillige Verbindung zu der einst bei seinem Ausscheiden aus der Nachmittäglichen Rednergesellschaft geäußerten Mahnung, von den Idealen der Sozietät niemals abzuweichen, hergestellt. Bereits an anderer Stelle hatte Löw mit Blick auf die Gothaer Verhältnisse einmal in einem Nebensatz geklagt, daß »ich in einem Land wohne, wo man die Beredsamkeit (auf der Kantzel) bey nahe für Sünde hält« 248. Nun berichtete er von Hemmnissen viel grundsätzlicherer Art, die ihn zu einem (tatsächlichen oder scheinbaren) Verräter am homiletischen Erbe Gottscheds werden ließen. Einige seiner mitgeschickten Predigten rechtfertigte er nämlich mit den Worten: »Hat der Verfasser die guten Regeln der Beredsamkeit wiederum vergessen, und die kirchliche Schreibart seiner meisten Amtsbrüder angenommen, so ist dieß kein Wunder. Wie viel Jahre sind es wohl, daß er keinen Gottsched, Jerusalem und ser: Gottscheds Redeschule, 162. – In einem Brief vom 7. 4. 1746 hatte Gottsched gegenüber Manteuffel zunächst Jerusalem als »einen geschickten Mann, großen Redner, und wackern Alethophilum« (Danzel: Gottsched und seine Zeit, 323) vorgeschlagen, um dann eine Woche später Löw für die erledigte Hofpredigerstelle in Dresden zu empfehlen. 245 Warum innerhalb der von der UBL auf bewahrten Gottsched-Korrespondenz von fast 5000 Briefen die an ihn gerichteten Schreiben der letzten zehn Lebensjahre fehlen, konnte bislang nicht geklärt werden; vgl. D. Döring: Johann Christoph Gottsched, in: Les grands, 393. 246 Neue Sammlung gründlicher und erbaulicher Canzel-Andachten, Tl. 5: Nebst einer Abhandlung Sr. Hochwürden, Herrn D. Christian August Crusius [. . .] von der Ehrerbietung, welche ein Prediger dem göttlichen Worte, und der Gemeinde, die ihn höret, schuldig ist, ans Licht gestellet von Johann Adam Löw, Gotha und Leipzig 1758; die umfangreiche Vorrede von Crusius ebd, 3–115. 247 Löw: Vorrede, in: Neue Sammlung gründlicher und erbaulicher Cantzel=Andachten, Tl. 1, Bl. b3r-v; siehe dazu unten Kap. 5, Abschn. 1.2. 248 Löw an Gottsched, Gotha, 8.11. 1747, UBL, Ms 0342, Bd. 12, Bl. 315r.

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Stemler 249 mehr gehört hat? Gute Muster zu lesen, verbitten überhäufte Amtsgeschäffte. Die Zuhörer aber sind gröstentheils so beschaffen, daß sie Milch und nicht starke Speise haben wollen, oder die ersten Buchstaben des Christenthums noch erlernen müssen. Das alles verwöhnet den Griffel zu solchen Zügen, welche grossen Kennern und Meistern unmöglich gefallen können.« 250

Sollte diese selbstkritische Einschätzung Löws nicht berechnender Tiefstapelei, sondern tatsächlichen Zuständen geschuldet zu sein, scheint sich auf homiletischer Ebene ein Eindruck zu verfestigen, den Ernst Koch aus kirchengeschichtlicher Perspektive für die Auf klärungsbewegung in SachsenGotha insgesamt gewonnen hat. Koch urteilte, daß die Auf klärung, »vermittelt durch den Kreis um Herzogin Louise Dorothée, am Gothaer Hof ein[zog], ohne zunächst auf die Kirche des Landes überzugreifen. Als Einschnitt erscheinen [erst] die Jahre um 1770 [. . .]« 251. Wie Beispiele aus anderen Kontexten und Regionen zeigen, klaffte bei den homiletischen Auf klärern zwischen ihrem theoretischen, publizistisch vorgetragenen Anspruch und der praktisch-kirchlichen Umsetzung oft eine Kluft, die ihre Grenze zunächst nur allzu oft an der Beharrlichkeit der Tradition fand. Diese nötigt den Historiker dazu, das auf klärerische Wollen nicht ungeprüft mit dem Vollbringen zu identifi zieren bzw. von Einzel- auf Gruppenphänomene zu schließen.

3 Die »Gesellschaft der Wahrheitsfreunde« (Societas Alethophilorum) Mit dem Berliner Propst Johann Gustav Reinbeck und dem pensionierten Diplomaten in ehemals kursächsichen Diensten, dem Reichsgrafen Ernst Christoph von Manteuffel, kommen aus den Reihen der Berliner Alethophilengesellschaft zwei enge Verbündete Gottscheds in den Blick, die auf ihre je eigene Weise Maßgebliches zum Erfolg der auf klärerischen Predigtreform beitrugen. Während Reinbeck, ein vom Pietismus zur Auf klärung »konvertierter« Schüler August Hermann Franckes, die in kirchenhistorischer Hinsicht kaum zu überschätzende Rolle eines kirchenpolitischen Garanten der Predigtreform in Kurbrandenburg-Preußen spielte (Abschn. 3.1), erscheint der adelige Wolff-Anhänger und spiritus rector der Alethophilen Graf Manteuffel in seinem Einsatz für die Ausbreitung einer »vernünftigen« Predigtweise als paradigmatischer Vertreter jenes gesellschaftlichen Nähr-

249 Zu Stemler (1701–1773), den Weißenfelser Oberhofprediger und späteren Leipziger Theologieprofessor, siehe Lorenz: Wolffianismus, 129 (Lit.). 250 Löw an Gottsched, Gotha 3. 3. 1753, UBL, Ms 0342, Bd. 18, Bl. 136v-137r. 251 E. Koch: Die Auf klärungsbewegung im Herzogtum Sachsen-Gotha, HerChr 27 (2003), 89.

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bodens, der Gottscheds homiletischen Reformvorstellungen seine durchschlagende gesellschaftspolitische Plausibilität verlieh (Abschn. 3.3). Die Weichen für das Schicksal der »philosophischen« Predigt wurden in Kurbrandenburg-Preußen dabei 1736, dem »Entscheidungsjahr« der Wolffschen Philosophie und zugleich dem Jahr des Zusammenschlusses von Reinbeck und Manteuffel unter dem Dach einer »Gesellschaft der Wahrheitsfreunde«, gestellt. Denn als Folge der in diesem Jahr unter maßgeblicher Beteiligung Reinbecks erfolgten Rehabilitierung der Philosophie Wolffs kam es unter Friedrich Wilhelm I. – eben jenes Königs, der Christian Wolff noch 1723 unter Androhung der Strafe des Strangs ins Marburger Exil getrieben hatte – mit einer auf den 7. März 1739 datierten Kabinettsorder zu einer kultur- und universitätspolitischen Kehrtwende. Denn den reformierten Theologiestudenten und Kandidaten der Theologie in KurbrandenburgPreußen wurde nun eine frühzeitige Beschäftigung mit »Philosophie und einer vernünftigen Logic, als zum Exempel des Professor Wolffens« 252 , zur Vorschrift gemacht (Abschn. 3.2). Diese am 8. Februar 1740 auch auf die lutherischen Konfessionsangehörigen ausgedehnte Order bildete nicht nur die kirchenamtliche Grundlage des von Manteuffel initiierten und lektorierten Predigtlehrbuchs Gottscheds. Sondern sie bedeutete zugleich in kirchengeschichtlich weiträumigerer Betrachtung die kirchenpolitische Niederlage des Pietismus in Preußen, die mit der 1740 unter Friedrich II. nur noch vollzogenen Rückberufung Wolffs nach Halle endgültig manifest wurde. 3.1 Johann Gustav Reinbecks homiletische Synthese von Pietismus und Aufklärung Der im Gottsched-Kreis und unter den Alethophilen höchstes Ansehen genießende,253 1717 zum Propst und Pastor an der Peterskirche in Cölln (Berlin) und 1729 zum Konsistorialrat berufene Johann Gustav Reinbeck254 be252 Zit. nach dem Abdruck bei Ch. G. Mylius: Corporis Constitutionum Marchicarum Continuatio Prima Oder Königl. Preußis. und Churfürstl. Brandenburgische in der Churund Marck Brandenburg, auch incorporirten Landen, publicirte und ergangene Ordnungen, Edicta, Mandata, Rescripta etc. von 1737. biß 1740. [. . .], Berlin; Halle [o. J.], Sp. 325. 253 Vgl. beispielsweise Schlegel: Lobrede auf den Herrn Consistorialrath und Probst Reinbeck, 100–119; zu Reinbecks Wirken als Alethophilenmitglied liegen mittlerweile neuere Forschungen vor durch D. Döring: Beiträge zur Geschichte, passim. 254 Die Grundlage aller biographischen Darstellungen zu Reinbeck liefert bis heute A. F. Büsching: Beytrag zu der Lebensgeschichte D. Johann Gustav Reinbeck, in: ders.: Beyträge zu der Lebensgeschichte denkwürdiger Personen, insonderheit gelehrter Männer. Erster Theil, Halle 1783, 139–236; Büsching konnte sich auf eine Reihe von »übriggelassenen Papieren« Reinbecks stützen, die über verwandschaftliche Beziehungen in seinen Besitz gelangt waren; vgl. ebd, Bl. )(4r (Vorrede). Zum Inhalt dieser Hinterlassen-

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gann seine kirchliche Wirksamkeit zunächst als hoffnungsvoller Zögling Halles. Im Jahr 1683 zu Celle (Hannover) als Sohn eines Pfarrers geboren, nahm er 1701 in Halle ein Theologiestudium auf, wo er bereits im Jahr 1702 zu den ersten Mitgliedern des von Francke gerade erst gestifteten Collegii orientalis theologici zählte.255 Weil Reinbeck sich, wie Büsching berichtet, »durch rechtschaffene Gesinnung, Lehrbegierde und fähigen Kopf« 256 hervortat, zog er »die Aufmerksamkeit der theologischen Facultät stark auf sich« 257, die ihn »nicht nur in wichtigen Dingen gebrauchte, sondern ihn auch zu ihrem Adjunct annahm, und ihren theologischen Conferenzen beywohnen ließ« 258. Es scheinen vor allem zwei der pietistischen Theologen Halles gewesen zu sein, die als Lehrer stärkeren Einfluß auf den jungen studiosus theologiae ausübten. Denn 1703 veröffentlichte Reinbeck unter Joachim Justus Breithaupt schaft, die ihn auch für die Wolff-Forschung wichtig macht und über deren Verbleib heute nichts bekannt ist, führte er ebd, Bl. )(4r-v aus: »Als ich die zerstreuten Papiere zusammenbrachte, fand ich unter denselben alles, was des deutschen Philosophen Wolf Zurückberufung aus Marburg anging, und also auch eine gute Anzahl eigenhändiger wolfischer Briefe an Reinbeck, ausser denselben aber 77 Cabinetsbriefe der Könige Friedrich Wilhelm und Friedrich des zweyten an Reinbeck, die von einer noch grössern Anzahl übrig geblieben waren; unterschiedene eigenhändige Briefe von dem ehemaligen königl. polnischen und churfürstl. sächsischen geheimen Cabinets=Minister Ernst Christoph Grafen von Manteufel, und die Papiere, welche Reinbecks Unterhandlungen mit der theologischen Facultät zu Halle, über Wolfs Philosophie betrafen, noch anderer hier nicht zu gedenken.« – Vgl. auch F. Wagner: Denkmaal der Liebe, dem nunmehro in Gott ruhenden Herrn, Herrn Johan Gustav Reinbeck [. . .], in: Reinbeck: Nachgelassene kleine Schriften, 1–48; G. v. Reinbeck: Leben und Wirken des Dr. Th. Johann Gustav Reinbeck, Nach Urkunden und Familien-Nachrichten hundert Jahre nach seinem Tode mitgetheilt von seinem Enkel: ein Beitrag zur Lebens- und Charakter-Geschichte der Könige Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. von Preußen, Stuttgart 1842; G. Kramer: August Hermann Francke: ein Lebensbild. Teil 2, Halle 1882, 340–342; ADB 28 (1889), 2–5 (Wagenmann); W. Kühn: Johann Gustav Reinbeck, ein berühmter Cellenser, in: Altsachsenland. Zeitschrift für den Heimatbund Niedersachsen 2 (1908), 152 f.; W. Wendland: Siebenhundert Jahre Kirchengeschichte Berlins, Berlin 1930, 135–139; C. Buschmann: Woffianismus in Berlin, in: Auf klärung in Berlin/ hrsg. von W. Förster, Berlin 1989, 82–89; Saine: Von der Kopernikanischen bis zur Französischen Revolution, 184–191; S. Carboncini: Transzendentale Wahrheit und Traum: Christian Wolffs Antwort auf die Herausforderung durch den Cartesianischen Zweifel, Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, 155–158; RGG4 7 (2004), 247 f. (K. Hammann); Fehr: »Ein wunderlicher nexus rerum«, 169–184. Von eigenem Wert ist der Artikel von [Anonym:] Johann Gustav Reinbeck, Zedler 31 (1742), 258–268 (Bibliographie mit 82 Nummern!). – Zu Reinbeck siehe mittlerweile auch A. Strassberger: Johann Gustav Reinbeck, BBKL 29 (2008), 1149–1164; ders.: Johann Gustav Reinbeck (1683–1741): Pietismus und Auf klärung, in: Protestantismus in Preußen: Lebensbilder aus seiner Geschichte, Bd. 1: Vom 17. Jahrhundert bis zum Unionsaufruf 1817/ hrsg. von A. Beutel, Frankfurt am Main 2009, 163–183. 255 Büsching: Beytrag zur Lebensgeschichte D. Johann Gustav Reinbeck, 142. 256 Büsching: Beytrag zur Lebensgeschichte D. Johann Gustav Reinbeck, 142. 257 Büsching: Beytrag zur Lebensgeschichte D. Johann Gustav Reinbeck, 142. 258 Büsching: Beytrag zur Lebensgeschichte D. Johann Gustav Reinbeck, 142 f.

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(1658–1732) eine bald darauf nochmals aufgelegte Disputation,259 und 1707 verteidigte er als Respondent unter Paul Anton (1661–1730) eine selbst verfaßte, gegen Dippel gerichtete Abhandlung über den Sühnetod Jesu Christi.260 An diese, 1710 nochmals publizierte Abhandlung 261 knüpfte sich eine häufig zitierte Legende, die hier in den Worten Büschings Erwähnung fi nden soll; malt sie doch die Reinbeck bald zugebilligte besondere Stärke seines theologischen Argumentationsvermögens auf recht amüsante, das protestantische Konfessionsbewußtsein stärkende Weise aus. Es heißt bei Büsching: »Der Hofrath W – –, als er Hofmeister des Grafen – –, und mit demselben unter des Pabstes Benedicts des 14ten Regierung zu Rom war, besah den päbstlichen Pallast, und ging, im frommen Eifer, den Pabst zu erleuchten, und zum evangelischen Christen zu machen, so weit, daß er diese Schrift [sc. Reinbecks Disputationsschrift] heimlich in des Pabsts Bette steckte, damit er sie, wenn er sich niederlegte, fi nden und lesen mögte.« 262

Büsching behauptet zwar, es handele sich hier um eine »zuverläßige Anectote« 263. Doch ist die Quelle völlig im Dunkeln und die Umstände des Erzählten klingen doch so unglaublich, daß am Wahrheitsgehalt der Geschichte Zweifel angemeldet werden dürfen. Wie dem auch sei: Reinbeck entwickelte sich in seinem Hallenser Studium ganz zur Freude seiner Lehrer, und nach Vollendung seiner theologischen Studien wurde er 1709 auf Empfehlung der Theologischen Fakultät als Amtsgehilfe des zweiten evangelisch-lutherischen Predigers auf dem Friedrichswerder und in der Dorotheenstadt, Johann Porst (1668–1728),264 nach Berlin vermittelt. Hier begann er eine Wirksamkeit als Mann der Kirche, die ihn zeitlebens in der Stadt an der Spree halten sollte.265 Doch wann und wie wurde aus einem theologischen Hoffnungsträger Halles jener theo-

259 J. J. Breithaupt (praes.); J. G. Reinbeck (resp.): Disputatio Theologica De Perfectione Partium [. . .] ad d. XXXI. Aug. a M DCC III publice ad disquirendum proponit, Halae 1703 ( 21705). 260 P. Anton (praes.); J. G. Reinbeck (auct. et resp.): Exercitatio theologica prima de redemptione per lutron, quam occasione loci I. Tim. II, 5. 6, Halae Magdeburg. 1707. 261 J. G. Reinbeck: De Redemptione per lutron Tractatio Theologica: qua Satisfactio Christi Una Cum doctrinae hujus genuino ad sanctimoniam ductu adseritur [. . .] examinantur. Praefationem adiunxit Paulus Antonius, Halae Magdeburg. 1710. 262 Büsching: Beytrag zu der Lebensgeschichte D. Johann Gustav Reinbeck, 144. 263 Büsching: Beytrag zu der Lebensgeschichte D. Johann Gustav Reinbeck, 144. 264 Vgl. Büsching: Beytrag zu der Lebensgeschichte D. Johann Gustav Reinbeck, 145 f. – Zu Porst siehe BBKL 7 (1994), 854 (U. Rose). 265 Zur fehlgeschlagenen Berufung Reinbecks nach Hamburg siehe J. Geffcken: Die Berufung Johann Gustav Reinbeck’s nach Hamburg im Jahre 1735, Zeitschrift des Vereines für hamburgische Geschichte 2 (1847), 518–532.

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logische Wolffianer, als der Reinbeck Eingang in die Theologie- und Philosophiegeschichte266 gefunden hat? Zumindest im Jahr 1715 scheint für die Halleschen Theologen an Reinbecks Parteizugehörigkeit noch kein Zweifel bestanden zu haben. Denn Graf Erdmann II. von Promnitz zu Sorau (1683–1745), ein bekannter Anhänger des Pietismus in Schlesien, bat in diesem Jahr bei Francke um den Vorschlag für einen neuen Generalsuperintendenten, worauf hin sich der Gründer des Halleschen Waisenhauses für Reinbeck aussprach.267 In Spannung zu diesem Faktum scheint zu stehen, daß Reinbecks Biograph Büsching auf dessen Übertritt zur Wolffschen Philosophie am Ende jenes Abschnitts zu sprechen kommt, der von Reinbecks Studienzeit handelt.268 Doch ist bei genauerer Prüfung diese Zuordnung (einen genauen Zeitpunkt nennt Büsching ohnehin nicht) als Resultat der Anlage seiner halb-dokumentarischen Darstellung einzuschätzen, die hauptsächlich auf den Abdruck von Originaldokumenten und deren verknüpfender Kommentierung ausgerichtet ist. Die Einordnung des philosophischen Frontwechsels (der als solcher gar nicht thematisiert wird) an seiner jetzigen Stelle ist daher als redaktionelle Entscheidung zu bewerten, da kein besserer Platz zur Verfügung stand, auf dieses Faktum einzugehen. Denn daß die für Reinbeck entscheidende Phase der Begegnung mit Wolffs Philosophie deutlich nach seinem Studienende anzusetzen ist,269 hatte Büsching selbst an früherer Stelle plau266 Nach Hirsch: Geschichte, Bd. 2, 90 war Reinbeck unter den sich zu Wolff bekennenden Theologen »der bedeutendste«; auch für Carboncini: Transzendentale Wahrheit und Traum, 155 ist Reinbeck »der Hauptvertreter des theologischen Wolffianismus der früheren Generation«. – Zur irreführenden Stilisierung Reinbecks als Wolff-Abweichler bei Philipp: Das Werden der Auf klärung, 137 f., die auch der Unkenntnis des Beitrages von Geffcken über den Berufungsversuch Reinbecks nach Hamburg geschuldet ist, ist mit Carboncini: Transzendentale Wahrheit und Traum, 155 daran zu erinnern, daß Reinbeck als ein theologischer Wolffianer naturgemäß »nicht als ein Wolffi aner ›der strikten Observanz‹« bezeichnet werden kann und Abweichungen in der einen oder anderen philosophischen Frage von Wolff nicht die prinzipielle Wolff-Anhängerschaft in Frage stellen. Einmal mehr zeigt sich auch hieran die Grenze des »physikotheologischen« Interpretationsschemas von Philipp, wenn dieser die Predigtweise Reinbecks mit dem Prädikat »physikotheologisch« zu erfassen sucht; Philipp: Das Werden der Auf klärung, 138 in Anm. 92. 267 H.-W. Erbe: Zinzendorf und der hohe Adel seiner Zeit, Leipzig 1928, 58 in Anm. 6. 268 Es heißt bei Büsching: Beytrag zu der Lebensgeschichte D. Johann Gustav Reinbeck, 145 (vor dem Abschnitt über die Zeit der ersten Amtstätigkeit von 1709 bis 1713): Reinbecks »[. . .] Gelehrsamkeit fi ng erst an gründlich zu werden, als er Wolfs Zuhörer in der Philosophie gewesen war. Anfänglich kam ihm das philosophische System desselben so fremd und seltsam vor, daß er heftig dagegen disputierte; als er aber Wolfs Sprache, und den ganzen Zusammenhang seiner Lehrsätze gelernet hatte, fand er viel wohlgegründetes und brauchbares in seiner Philosophie, und gebrauchte es für die Theologie.« 269 Für die Annahme einer philosophischen Kehrtwende Reinbecks in der Halleschen Studienzeit plädiert G. v. Reinbeck: Leben und Wirken, 6 f.

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sibel ausgeführt. Im Zusammenhang mit seiner Wolff-Biographie, die im selben Band unmittelbar vor den Ausführungen zu Reinbeck plaziert ist, hatte er nämlich den 1721/23 geführten Streit um die Causa Wolffiana 270 dafür verantwortlich gemacht, daß Reinbeck sich – ganz so wie viele andere Zeitgenossen auch – nach einer selbständigen Überprüfung der von pietistischer Seite erhobenen Vorwürfe auf die Seite des verketzerten Philosophen schlug.271 Diese Sicht wird von eigenen Bemerkungen Reinbecks unterstützt. In einer Schutzschrift für die Philosophie Wolffs erklärte sich der Berliner Propst über den Zeitpunkt und die Motive seines Gesinnungswandels nämlich wie folgt: »Ich kann zwar nicht leugnen, daß ich, ehe die öffentlichen Streitigkeiten sich ansponnen, nicht ein ziemliches Vor=Urtheil wieder des Herrn Wolffs Person und Lehren sollte gehabt haben. Denn das Gerücht, welches mir manchmahl zu Ohren kam, ehe ich seine Schrifften selber gelesen hatte, machte mich besorgt, er möchte etwa gefährlichen Irrthümern zugethan seyn. Nachdem mir aber ein kleiner Aufsatz davon zu Händen kam, und ich die Oerter seiner Metaphysic, in welchen die angegebenen Irrthümer befindlich seyn sollten, selber nachschlug und prüfete; so fieng ich gleich an zu zweiffeln, ob man auch seinen eigentlichen Sinn getroffen hätte, und ob er der beygemessenen Haupt=Irrthümer schuldig wäre.« 272

Wenn mit dem erwähnten »kleinen Aufsatz« – wie ich meine – eben jene Zusammenstellung der in Wolffs »Metaphysik« befi ndlichen Irrtümer gemeint sein sollte, die Joachim Lange Ende 1722/Anfang 1723 der Theologischen Fakultät Halle vorlegte,273 wäre es möglich, seinen Meinungswandel konkret in den Ereignisverlauf der Causa Wolffiana einzubinden. Folgen wir seiner Darstellung weiter, so hatte der Berliner Propst sich bei seiner Lektü270 Vgl. für die Ereignisse, die zur Vertreibung Wolffs aus Halle führten, zuletzt die detaillierte, erstmals die Quellen ausschöpfende Darstellung bei A. Beutel: Causa Wolffiana: die Vertreibung Christian Wolffs aus Preußen 1723 als Kulminationspunkt des theologisch-politischen Konfl ikts zwischen halleschem Pietismus und Auf klärungsphilosophie, in: Wissenschaftliche Theologie und Kirchenleitung. Beiträge zur Geschichte einer spannungsreichen Beziehung (FS Rolf Schäfer), Tübingen 2001, 159–202. 271 A. F. Büsching: Beytrag zu der Lebensgeschichte des Freyherrn Christian von Wolff, in: ders.: Beyträge, Tl. 1, 4–9. Büschings Ansicht folgend bemerkt daher Wendland: Siebenhundert Jahre, 135 zur Chronologie der Ereignisse: »Er [sc. Reinbeck] war mit starken Vorurteilen gegen Wolff nach Berlin gekommen; aber es scheint, als ob er in der Zeit, da die Spannung zwischen Wolff und den Theologen in Halle stärker wurde, sich in die Philosophie Wolffs mehr hineingearbeitet hat.« 272 J. G. Reinbeck: Erörterung Der Philosophischen Meynung von der sogenannten Harmonia Praestabilita, [. . .] aus Liebe zur Wahrheit Und zur Verhütung fernerer verworrenen Streitigkeiten, nebst einem nöthigen Vorbericht heraus gegeben, Berlin 1737, Vf (Vorbericht; Hervorhebung teilweise A. S.); die zentralen Passagen des Vorberichts bietet auch Hartmann: Anleitung zur Historie, 724–727 in Anm. (q). 273 Vgl. dazu Beutel: Causa Wolffiana, 178 f.; das auf Grundlage von Langes Aufsatz erstellte und nicht überlieferte Fakultätsgutachten ging am 21. Mai 1723 nach Berlin ab.

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re Wolffs die Freiheit bewahrt, die inkriminierten Passagen ohne ein pietistisches praejudicium authoritatis zu lesen und stattdessen sich ein eigenes Urteil über die Philosophie des Beschuldigten entgegen der Meinung seiner Lehrer zu bilden. Woher er die für diesen Akt auf klärerischen Selbstdenkens notwendigen Impulse bezog, kann ohne tiefergehende Untersuchungen nur gemutmaßt werden. Anknüpfungspunkte könnten hier die philosophischen Lektionen bieten, die Reinbeck während seines Studiums bei Johann Franz Buddeus gehört hatte274 und die im Zeichen des philosophischen Eklektizismus der paulinischen Maxime folgten: »Prüfet aber alles, und das Gute behaltet!« (1 Thess 5, 21).275 Als unzutreffende Vermutung muß hingegen die Behauptung Buschmanns bezeichnet werden, Reinbeck habe noch in Halle als »einer derjenigen Theologen, die in besonderer Weise das Vertrauen des Francke-Kreises genossen, [. . .] die Vorlesungen Wolffs zunächst in polemischer Absicht [besucht], wohl auch, um im Auftrag seiner Lehrer Material für die Auseinandersetzung mit Wolff zu sammeln« 276 . Ganz abgesehen davon, daß Wolff nach dem jetzigen Stand der Erkenntnis erst nach dem Ende von Reinbecks Studienzeit überhaupt anfi ng, seine Vorlesungstätigkeit auf philosophische Gegenstände zu erweitern,277 wird hier die andernorts bezeugte Ausspionierung der Vorlesungen Wolffs278 ohne hinreichende Indizien einfach auf Reinbeck übertragen. Unsicher ist daher auch die Mitteilung bei Büsching, daß Reinbeck bereits in Halle bei Wolff Philosophie gehört habe.279 Gesichert ist dagegen, daß der Berliner Propst erstmals im Zusammenhang mit der im Juni 1721 gehaltenen Rektoratsrede Wolffs über die Sittenlehre der Sineser (Chinesen) sich mit einem Schreiben an die theologische Fakultät in

274 [Anonym:] Reinbeck, Zedler 31, 259; vgl. auch Buschmann: Wolffianismus in Berlin, 82 mit Anm. 29. – Buddeus lehrte seit 1693 in Halle, bevor er 1705 nach Jena wechselte. 275 Zum philosophischen Eklektizismus Buddeus’ siehe bei Sparn: Auf dem Wege, 72–77. 276 Buschmann: Wolffianismus in Berlin, 83. 277 Wolff war 1706 nach Halle gekommen und hielt zunächst mathematische Vorlesungen. Erst ab 1709/10 erscheinen explizit philosophische Vorlesungen in seinem Curriculum; vgl. Beutel: Causa Wolffiana, 163 f. Bereits vor 1712 kam es aufgrund von Vorlesungen über die zuerst 1713 publizierte Deutschen Logik zu Auseinandersetzungen zwischen Wolff und den Theologen, bes. Francke und Lange; siehe Fehr: »Ein wunderlicher nexus rerum«, 189 in Anm. 6. 278 Vgl. Beutel: Causa Wolffiana, 165 f. 279 Büsching: Beytrag zu der Lebensgeschichte des Freyherrn, 4; Büschings und sich daran anschließende Meinungen, wonach Reinbeck bei Wolff Philosophie gehört habe, bestreitet auch Fehr: »Ein wunderlicher nexus rerum«, 171 in Anm. 65. – Freilich kann die Äußerung Büschings auch dahin verstanden werden, daß Reinbeck bei Wolff Mathematiklektionen gehört hat, die ja sachlich in den Bereich des philosophischen Grundstudiums gehörten.

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Halle vermittelnd für diesen verwandte,280 ohne daß dieser Akt der Solidarität mit der auf Ende 1722/Anfang 1723 zu terminierenden Wende im Widerspruch steht. Vielmehr weist diese erste Intervention Reinbecks für Wolff darauf hin, daß seine »Konversion« zum Wolffianismus nur als Entwicklungsprozeß verstanden werden kann, der weiter zurückreichende Wurzeln hatte.281 Einige Jahre später, 1726, warf Reinbeck schließlich in einem Schreiben den Halleschen Theologen unverhüllt vor, »sie hätte[n] Wolf nicht recht verstanden« 282 . In der sich daran knüpfenden Kontroverse283 äußerte Francke in einer später nur teilweise publizierten, auf den 15. März 1726 datierten Stellungnahme, »daß er sich über des Probstes Reinbeck fast gänzliche Umschlagung in der wolfischen Sachen fast mehr betrübe, als über Wolfs Irrthümer selbst«284. Besonders aber – so Büschings Referat von Franckes Schreiben – »vermehre [es] nun seinen Jammer über den Probst Reinbeck, daß ein so alter lieber Freund, und einer der wichtigsten Zuhörer, solche Briefe schreibe« 285. Francke bat sodann Joachim Lange darum, »diese seine Worte [Reinbeck] mitzutheilen«, und er beendete die Klage über den Verlust seines Schülers mit der einschränkenden Feststellung: Der Frontwechsel des Berliner Propstes werde nicht hinreichend sein, die »aufrichtig[e] Liebe, die er allezeit zu dem Probst Reinbeck gehabt, ab[zu]ziehen, indem er hoffe, daß diese Wolke bald vorüber gehen werde« 286 . Doch Francke täuschte sich in dieser Hoffnung: Die »Wolke« ging nicht vorüber, und der einstige Schüler schwenkte nicht wieder auf die Linie seiner theologischen Lehrer zurück. Ein Jahr später ereilte Francke der Tod. Über Reinbecks ausgedehnte Berliner Amtstätigkeit und seine vielseitige publizistische Tätigkeit in extenso zu handeln, ist an dieser Stelle eben so unmöglich wie unnötig. Über seine zentrale Rolle im Zusammenhang mit der Rehabilitierung der Wolffschen Philosophie in Preußen, für die er sich 280

Vgl. Büsching: Beytrag zu der Lebensgeschichte des Freyherrn, 4 f.; Beutel: Causa Wolffiana, 185 f. 281 Buschmann: Wolffianismus in Berlin, 83 vermutete wohl zutreffend, daß »(. . .) sich bereits in seiner Hallenser Zeit Reinbecks Profi lierung zu einem prominenten Vertreter eines gemäßigten Wolffianismus im Bereich der Theologie und der staatlichen Lenkung bildungs- und kulturpolitischer Prozesse vor(bereitete)«. 282 Büsching: Beytrag zu der Lebensgeschichte des Freyherrn, 9. – Vgl. zu dieser Intervention Reinbecks für Wolff auch Beutel: Causa Wolffiana, 201. 283 Vgl. Büsching: Beytrag zu der Lebensgeschichte des Freyherrn, 9–11; sowie Kramer: August Hermann Francke, Tl. 2, 340–342; Hinrichs: Preußentum und Pietismus, 419–421. 284 So das Referat der Passagen von Franckes Stellungnahme bei Büsching: Beytrag zu der Lebensgeschichte des Freyherrn, 10; das Votum Franckes (ohne die zitierten Passagen) bietet auch Hartmann: Anleitung zur Historie, 814 f. (nach dem Erstdruck bei Joachim Lange); vgl. zum Ganzen auch Beutel: Causa Wolffiana, 201. 285 Büsching: Beytrag zu der Lebensgeschichte des Freyherrn, 10 f. 286 Büsching: Beytrag zu der Lebensgeschichte des Freyherrn, 11.

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auf das besondere Vertrauensverhältnis zu Friedrich Wilhelm I. und den Kronprinzen stützen konnte,287 und seinen möglichen Anteil am Zustandekommen der Kabinettsorder von 1739 wird im nächsten Abschnitt zu berichten sein. Seine Position als maßgeblicher theologischer Protektor Wolffs am preußischen Hof nutzte er jedoch nicht nur für auf klärungsfördernde kirchenpolitische Aktivitäten, sondern auch für eine ausgedehnte schriftstellerische Apologetik und Propaganda des Wolffianismus,288 durch die er folgerichtig ins Kreuzfeuer antiwolffischer Publizistik geriet.289 Ausgerechnet Johann Melchior Goeze hat später den Streit um die Rezeption der Wolffschen Philosophie in der Theologie, der sich an der Person des Berliner Propstes festmachte, als Ausdruck eines falschen »Religions-Eifers« der orthodoxen und pietistischen Kritiker beurteilt! 290 (Eine solche Einschätzung darf übrigens angesichts der theologisch-philosophischen Baumgarten-Schülerschaft Goezes nicht verwundern, da Goeze weit mehr Auf klärer 287 Vgl. dafür die bei Büsching: Beytrag zu der Lebensgeschichte D. Johann Gustav Reinbeck, 139–236 abgedruckten Briefe der Beiden an Reinbeck. 288 Vgl. neben seiner erwähnten Verteidigung der Lehre von der prästabilierten Harmonie u. a. auch seine Apologie der Theodizee: J. G. Reinbeck: Beantwortung der Einwürffe, Welche ihm in einer ohnlängst heraus gekommenen Schrift: Abhandlung von der Unschuld Gottes bey der Zulaßung des Bösen genannt, sind gemacht worden, Worinn zugleich diese wichtige Lehre nebst der Frage: Ob Diese Welt die beste sey, in ihr gehöriges Licht gesetzet wird, Berlin 1736 ( 21737). – Die Hochschätzung von Reinbecks publizistischer Apologetik illustriert die folgende kleine Schrift: [Anonym:] Die beste Welt Den Beschuldigungen ihrer Feinde unter die Augen gestellt Und in einem Poetischen Sendschreiben An des Herrn Consistorial=Raths und Probsts Johann Gustav Reinbecks Hochwürden Gegen ihre Lästerer vertheidigt von Einem Gelehrten aus Cassel, Berlin und Leipzig: zu fi nden in denen Buchläden, 1739; in der letzten Strophe des unpaginierten Textes muntert der Anonymus Reinbeck auf, in seinem Kampf für die Sache der Wahrheit (die mit der Philosophie Wolffs identifi ziert wird) nicht nachzulassen: »Indessen, Theurer Mann! fahr unverdrossen fort Der Wahrheit Schild zu seyn. Es kostet dich ein Wort So hört Dein König dich; so schüzt er die Bedrückten, Die vormals ohne Trost nach seiner Gnade blickten. Der Kron=Prinz hört dich auch, den schon der Heuchler scheut, Weil er die Wahrheit liebt, die allen Dunst zerstreut: [. . .] Wenn Knechte GOttes nicht mit aller Weisheit wachen, Und Männer deiner Art nicht eifrig widerstehn, Und mit vereinter Kraft dem Feind entgegen gehn: Dann nur der Weisheit Kraft, und nicht ein blindes Glauben, Kan uns dem Antichrist aus seinen Klauen rauben.« 289 Vgl. hierfür die (nicht erschöpfenden) Hinweise bei Hartmann: Anleitung zur Historie, 727 f. 1069–1072. 290 J. M. Goeze: Die gute Sache des wahren Religions-Eifers, überhaupt erwiesen (Hamburg 1770), zit. bei: Wieckenberg: Goeze und Gottsched, 250: »Ich setze hinzu, daß ich gleichfals in den Streitigkeiten, welche der Wolfi schen Philosophie halber gegen den sel. Probst Reinbeck erreget worden, keinen wahren Religions-Eifer, sondern vielmehr auf der einen Seite viel Menschliches wahrnehme.«

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als jener »verspäteter Orthodoxer« war, zu dem ihn der Lessing-Streit und die spätere Forschung gestempelt haben.291) Das zweifellos bedeutendste literarische Produkt von Reinbecks theologischem Wolffianismus waren seine Betrachtungen über die in der Augspurgischen Confeßion enthaltene und damit verknüpfte Göttliche Wahrheiten. Von 1731 bis zu seinem Tod am 21. August 1741 in zunächst vier Teilen erschienen, wurden sie von dem Tübinger Wolffianer Israel Gottlieb Canz fortgesetzt und beendet.292 Zweimal, 1732 und 1738, befahl der König, dem die Lektüre große Freude bereitete, die Anschaffung des Werks in allen preußischen Kirchen.293 Eine französische Übersetzung wurde noch zu Lebzeiten des Verfassers von Friedrich Wilhelm I. in Auftrag gegeben und nachweislich auch in Angriff genommen, aber aus ungeklärten Gründen nicht vollendet.294 Es gab auch Versuche, das Werk katechetisch nutzbar zu machen.295 Reinbecks theologisches Hauptwerk genoß unter den auf klärerisch gestimmten Kreisen ebenso große Anerkennung 296 wie es im auf klärungskritischen Lager auf Widerstand stieß.297 Denn Angriffsflächen für theologische Kritik der Wolff-Gegner bot das Werk den theologiegeschichtlichen Gegnern reichlich. Reinbecks Grundthese, daß »(d)ie göttliche(n) Wahrheiten (. . .) theils aus der Vernunfft, theils aus der Heil. Schrifft bewiesen werde(n) (können)« 298 , bediente allzu offensichtlich das methodische Hauptprinzip des (theologischen) 291

Vgl. die diesbezüglichen Erwägungen von Wieckenberg: Goeze und Gottsched, 252–262, die meine grundsätzliche Zustimmung fi nden. 292 J. G. Reinbeck: Betrachtungen über die in der Augspurgischen Confeßion enthaltene und damit verknüpfte Göttliche Wahrheiten, welche theils aus vernünftigen Gründen, allesamt aber aus Heiliger Göttlicher Schrift hergeleitet, und zur Ubung in der wahren Gottseeligkeit angewendet werden, Theil 1–4, Berlin und Leipzig 1731–1741; die Widmung des 1. Teils datierte auf den 21. Juli 1731; Theil 5–9 (fortgesetzt von Israel Gottlieb Canz): 1742–1747. 293 Fehr: »Ein wunderlicher nexus rerum«, 170; vgl. auch die diesbezügliche briefl iche Notiz Rogalls gegenüber Francke jun. vom 5.12. 1732; zit. ebd, 179. 294 Vgl. dazu die briefl ichen Materialien bei Büsching: Beytrag zu der Lebensgeschichte D. Johann Gustav Reinbeck, 202–204. 295 Th. Gutcke: Hrn. Jo. Gustav Reinbecks Betrachtungen über die in der Augspurgischen Confession enthaltene und damit verknüpfte Göttliche Wahrheiten, welche nunmehro in Frag und Antwort abgefasset sind, 2 Tle., Hamburg 1736/40. 296 Vgl. beispielsweise [ J. F.] Lamprecht: Ode auf den ersten Theil der Betrachtungen über Die Augspurgische Confession des Hn. Consistorial-Raths Reinbeck, in: Christian Friedrich Weichmann: Poesie der Nieder-Sachsen. Vierter Theil, herausgegeben von J[ohann] P[eter] Kohl, Hamburg 1732, 393–395. 297 [B. W. Marperger (?):] Zufällige Gedancken über eines vornehmen Theologi Betrachtungen der Augspurgischen Confeßion, Die darin gebrauchte Wolffi sche Philosophie betreffend, Franckfurt und Leipzig 1737 (2. Teil: 1738). – Reinbeck replizierte mit: [ Johann Gustav Reinbeck:] Abfertigung eines Anonymi, welcher in seinen sogenandten Zufälligen Gedancken den ersten Theil der Betrachtungen über die Augspurgische Confession mit einer anzüglichen Feder verschiedener Grund=Irrthümer beschuldiget, 2 Tle., Berlin 1737. 298 Reinbeck: Betrachtungen, Tl. 1, Bl. )()()(4r (Randglosse zu §. XX der Einleitung).

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Wolffianismus, wie Reinbeck es auch im zweiten Teil seiner Betrachtungen (1733) in der programmatischen Vorrede »Von dem Gebrauch der Vernunfft Und Welt=Weißheit In der GOttes=Gelahrtheit« ausführlich begründete.299 Jüngste Forschungen sprechen Reinbecks Werk aufgrund seiner »Kreuzung von Philosophie und Glaubensbekenntnis«300 »eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Transformation des geistigen Lebens des [preußischen] Staates«301 zu. So verwundert es nicht, wenn noch Friedrich Nicolai in den 1770er Jahren die mit dem Opus verbundenen Verdienste Reinbecks um die theologische Auf klärung in Preußen literarisch in seinem Sebaldus Nothanker verewigte, wobei er die konkrete religionsapologetische Veranlassung besonders hervorhob.302 Dabei ist das nur die Spitze des Eisberges, denn über die mutmaßlich breite, gewissermaßen selbstverständliche Rezeption des Werks in fach- und laientheologischen Kreisen liegen bislang keine systematischen, gesicherten Erkenntnisse vor.303 Innerhalb seiner Ausführungen äußerte sich Reinbeck auch in rezeptionsförderlicher Knappheit zur umstrittenen Frage, »ob sich die Welt=Weisheit auch wohl auch auf die Cantzel schicke«304. Mit seinen Überlegungen, die gelegentlich in einen chronologisch unmöglichen Zusammenhang mit der Kabinettsorder vom 7. März 1739 gebracht worden sind,305 avancierte der Berliner Propst zum vielbeanspruchten Kronzeugen für das theologische Existenzrecht einer »philosophischen« Predigt, dem auch ein Johann Mel299 Reinbeck: Betrachtungen, Tl. 2: Nebst einer Vorrede Von dem Gebrauch der Vernunfft Und Welt=Weißheit In der GOttes=Gelahrtheit, Berlin und Leipzig 1733, IIILXXII. 300 Fehr: »Ein wunderlicher nexus rerum«, 175. 301 Fehr: »Ein wunderlicher nexus rerum«, 182; vgl. auch ebd, 175, wo Fehr meint, daß die Idee Reinbecks, die Confessio Augustana mit der Philosophie Wolffs zu verbinden, »(. . .) die Einführung der neuen Ideen in die preußische Öffentlichkeit (erleichterte)«. 302 F. Nicolai: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Kritische Ausgabe/ hrsg. von B. Witte, Stuttgart 1991, 206: »In Kölln, in der Gegend des Schlosses, könnten noch am ersten die Freygeister anzutreffen seyn. In dieser Gegend war es auch, wo der Probst Reinbeck, im Haudenschen Buchladen auf der Schloßfreyheit, seine Betrachtungen über die Augspurgische Konfession schrieb, welche zuerst in den Damm, den Eifer und verjährtes Vorurtheil, gegen die menschliche Vernunft, für die Orthodoxie, aufgeworfen hatten, ein kleines Loch machten, das hernach so sehr erweitert worden ist.« – Vgl. D. Döring: Beiträge zur Geschichte, 132 in Anm. 153. 303 Der spätere Pfarrer Wilhelm Johann George Cleinow (1727–1798) notierte beispielsweise in seiner Autobiographie über seine theologischen Privatstudien in Königsberg in den 1740er Jahren in: ders.: Chronik 1775/ hrsg. von J. v. Gizycki, Hannover-Laatzen 2007, 34: »Des Mittags von 11 bis 12 Uhr wiederholte ich die Theologie und las dabei jedesmal, was Reinbeck in seinen Betrachtungen über die Augspurgische Confession von der abgehandelten Materie vorgetragen.« 304 Reinbeck: Betrachtungen, Tl. 2, LII (§. XXXIX). 305 Stäudlin: Geschichte, Bd. 2, 722: »Sie [sc. die Preuß. Kabinettsordre] war es auch, welche ihn [sc. Reinbeck] zur Untersuchung der allgemeinen Frage veranlaßte: ob Philosophie auf die Kanzel gehöre?«

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chior Goeze um die Jahrhundertwende noch zitable Qualität beimaß.306 Reinbecks Antwort auf die gestellte Frage selbst fiel dialektisch aus: Er schied einen mißverstandenen von einem sachgemäßen Philosophiebegriff, wobei er ersteren für den Kanzelgebrauch ablehnte, hingegen letzteren für die homiletische Behandlung der christlichen Wahrheiten für zulässig erklärte. Er begründete seine Ansicht dabei mit folgendem, nicht gerade kurzen Satz: »Allein, wer dem Volck von allen Dingen, die man prediget, richtige Begriffe beyzubringen, und ihnen daher deutliche Erklärungen zu geben, sie auch nach dem Maaß ihrer Fähigkeit auf den eigentlichen Grund zu führen suchet; und wer dabey aus der Natur, und von dem, was die Welt-Weißheit lehret, so viel anführet, als die Zuhörer zu fassen fähig sind, um sie dadurch zur Bewunderung und Verehrung der Göttlichen Macht, Güte und Weißheit zu leiten; wer auch endlich weiß, daß er verschiedene solcher Zuhörer vor sich habe, die entweder in der Verläugnung GOttes stecken, oder doch derselben sehr nahe sind, und die sonst aus der Lesung allerley Bücher ein grosses Vor-Urtheil wider die Aussprüche H. Schrifft eingesogen haben, oder sonst mit blossem Bejahen oder Verneinen nicht wollen abgefertigt seyn; und er richtet sich je zuweilen auch auf der Cantzel nach solchen Umständen, um ihnen auf eine überzeugende Art ihre Vorurtheile zu benehmen; von einem solchen sollte ich meinen, daß er wohl eben nichts ungeschicktes handele.« 307

Wie zu sehen ist, argumentierte Reinbeck (in Übereinstimmung mit Gottsched), den Blick auf die Befriedigung vernunftbezogener Bedürfnisse in der Predigt gerichtet, unter stark religionsapologetischem Vorzeichen. Diese homiletische Gemeinsamkeit zwischen beiden trug ihre predigtgeschichtlich bekannten Früchte in jener kleinen Homiletik, die Reinbeck zu Gottscheds Grund-Riß einer Lehr-Arth ordentlich und erbaulich zu predigen beisteuerte308 und die in der Vergangenheit des öfteren dazu verführt hat, Reinbeck für den Verfasser des ganzen homiletischen Lehrbuchs zu halten. Während Gottscheds Homiletik als Auslegung der zunächst nur die reformierten Konfessionsangehörigen betreffenden Kabinettsorder auftrat, verstanden sich Reinbecks weitverbreitete homiletischen Grundsätze309 als ein additiver 306 Goeze: Vorrede von der Gründlichkeit, 19–21; siehe dazu das Zitat oben in Kap. 2, Abschn. 3.3.3 in Anm. 666. – Vgl. auch die bereits oben in Abschn. 1.2 erwähnte Übernahme von Reinbecks Argumentation in Rosenbergs Beantwortung der Frage »ob es auch erlaubt sey, im Predigen zu philosophiren?«. 307 Reinbeck: Betrachtungen, Tl. 2, LIII (Vorrede). 308 J. G. Reinbeck: Vorbericht und Einleitung zu einer ordentlichen und erbaulichen Lehr-Art im Predigen, in: [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, Bl. a2r-h7v. 309 Vgl. den vollständigen Abdruck des aus neun erläuterten homiletischen Regeln bestehenden Textes in: Sammlung Kleiner Schriften von der Gottgefälligen Art zu predigen, herausgegeben von J. G. Walch, Jena; Leipzig 1747, 156–210; nur die neun homiletischen Grundsätze werden referiert (und teilweise erläutert) in: [Anonym:] Predigerkunst, Zedler 29 (1741), 254–265; Beiträge zur Beredsamkeit, Tl. 2 (1743), 301–322 (9. Beitrag); J. A. Fabricius: De regvlarvm eloquentiae sacrae scriptoribvs et historia dissertatio praevia, in: ders: Regeln der Geistlichen Beredsamkeit, LXVI.

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Kommentar, die per Erlaß vom 8. Februar 1740 nun auch auf die lutherischen Studenten, Kandidaten und Prediger ausgedehnte Kabinettsorderorder auf landesherrlichen Befehl hin konfessionsspezifisch anzuwenden.310 Wie gestaltete sich aber die praktische Umsetzung von Reinbecks Auffassung einer »philosophischen« Predigt, die in ihrer theoretischen Gestalt nur geringfügig von der Gottscheds abwich? 311 Das Thema verdient eigenständige Aufmerksamkeit und kann hier nur in Umrissen angedeutet werden. Obschon nämlich das Urteil über die Epoche der »philosophischen« Predigt in der älteren Literatur überwiegend negativ ausfiel, genossen Reinbecks Qualitäten als Prediger in der predigtgeschichtlichen Forschung stets hohes Ansehen.312 Das verweist nicht nur auf seine konkreten Qualitäten als Prediger. Sondern das positive Urteil über Reinbecks Predigten illustriert sowohl prinzipielle Stärken der »philosophischen« Predigt überhaupt, wie es andererseits zugleich auch auf unfreiwillige Weise die weithin nur selektive Wahrnehmung der historischen Zusammenhänge in der Vergangenheit verdeutlicht, indem es Reinbeck unzulässig aus seinen historischen Kontexten herauslöste. Zu den spezifischen Voraussetzungen von Reinbecks Erfolg als Prediger gehörte zunächst der zeitgenössisch alles andere als unbemerkt gebliebene Umstand, daß sich seine Predigten 313 der besonderen Wertschätzung Friedrich Wilhelms I. erfreuten. Die kirchenpolitische Schlüsselstellung Reinbecks am preußischen Hof verdankte sich daher nicht unwesentlich auch dem Einfluß, den der lutherische Propst als Prediger auf seinen reformierten Monarchen ausübte. Eine vierzehntägige Reise Reinbecks genehmigte dieser beispielsweise nur unter der Voraussetzung, daß sie erst zu einem bestimmten Zeitpunkt angetreten werden dürfe, »weil ich ehestens in Berlin seyn werde, und euch daselbst kommenden Sonntag noch predigen hören 310

Vgl. Schian: Orthodoxie und Pietismus, 158–160. Reinbeck trug daher auch »kein Bedencken, sie [sc. Gottscheds Homiletik; A. S.] demselben [sc. dem Urteil des Lesers; A. S.] aufs beste anzupreisen, und würde solches noch mehr thun, wenn es nicht dem Herrn Verfasser gefallen hätte, einige meiner gedruckten Predigten hin und wieder zum Muster mit anzuführen«; Reinbeck: Vorbericht und Einleitung, Bl. a4r; lediglich in der Frage des Exordium notierte Reinbeck eine andere Auffassung als Gottsched (ebd, Bl. a4v-a5r), wobei er diese Differenz aber als unerheblich einschätzte; ebd, Bl. a5r. – Vgl. auch die knappe, die Übereinstimmungen mit Gottsched verdeutlichende Charakteristik der Homiletik Reinbecks bei Tholuck: Geschichte des Rationalismus, 143. 312 Vgl. beispielsweise Schuler: Geschichte, Tl. 2, 151–160; Sack: Geschichte der Predigt, 19–23; Rothe: Geschichte der Predigt, 404–407. 313 Neben den vielen zu Lebzeiten im Einzeldruck verbreiteten Predigten sind unter den postum erschienenen Sammlungen besonders erwähnenswert J. G. Reinbeck: Eine Sammlung Von Zweyen über ein jegliches Sonn= und Festtägliches Evangelium Wie auch von einigen Buß=Tagen Gehaltenen Predigten. [Erster Theil,] Berlin 1734; Zweyter Theil: Berlin 1735]; ders.: Auserlesene Predigten/ hrsg. von F. E. Rambach, Berlin 1750. 311

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will«314. Manche seiner Predigten gefielen Friedrich Wilhelm so gut, daß sie auf seinen Befehl hin zum Druck gelangten.315 In Reaktion auf einen solchen von ihm veranlaßten Druck ließ der König den Berliner Propst beispielsweise am 17. März 1738 wissen, daß ihm »die Ueberschickung eurer am Weihnachtsfest gehaltenen 2 erbaulichen Predigten zum besondern Vergnügen [gereichet]«316 habe, wobei er mit eigener Hand am Ende des Schreibens hinzufügte: »Ich habe sie gestern gelesen, sie sind sehr schön.«317 Doch nicht nur die quasi königliche Autorisation sicherte speziell diesem Predigtdruck einen besonderen Grad an Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit und daraus folgend ein besonderes Gewicht für die auf klärerische Predigtreform. Bereits in einer 1729 gehaltenen Predigt hatte Reinbeck mit antipietistischer Spitze eine pauschale Ablehnung der Vernunft in Glaubensdingen als nicht sachgerecht zurückgewiesen 318 und deswegen die partielle Verwendung »philosophischer« Terminologien und Philosopheme zur Bewältigung der Predigtaufgabe gegen ihn gerichteter Kritik verteidigt.319 Mit der ersten der beiden Weihnachtspredigten ging er nun jedoch einen Schritt weiter, indem er das Modell einer »philosophischen« Predigt, wie es von Gottsched in dessen eigener Weihnachtspredigt von 1729 zur Anwendung gebracht wurde,320 seiner Predigtdisposition zugrundelegte. Er rechtfertigte (wie alle »philosophischen« Prediger seiner Zeit) die – nach kasueller Veranlassung – getroffene Entscheidung mit Hinweis auf die drängenden religionsapologetischen Herausforderungen der Zeit.321 314 Kabinettsschreiben Friedrich Wilhelms I. an Reinbeck, Potsdam, 18. August 1738, zit. bei Büsching: Beytrag zu der Lebensgeschichte D. Johann Gustav Reinbeck, 196. 315 J. G. Reinbeck: Zwey Predigten Welche über das Geheimniß Der Geburth Christi An dem Weyhnachts-Fest M DCC XXXVII. Aus dem ordentlichen Fest=Evangelio sind gehalten Und Auf Sr. Königl. Majestät von Preußen allergnädigsten Befehl, dem Druck übergeben worden, Berlin 1738; die Vorrede Reinbecks datiert auf den 4. März 1738. 316 Schreiben Friedrich Wilhelm I. an Reinbeck, Potsdam, den 17. März 1738, zit. bei Büsching: Beytrag zu der Lebensgeschichte D. Johann Gustav Reinbeck, 192. 317 Zit. Büsching: Beytrag zu der Lebensgeschichte D. Johann Gustav Reinbeck, 192. 318 J. G. Reinbeck: Die Von dem Königschen unter den Gehorsam des Glaubens gefangen genommene Vernunfft, Wurde Am XXI. Sonntage nach Trinitatis 1729. aus dem ordentlichen Evangelio in der St. Petri-Kirche vorgestellet, Und auf Verlangen dem Druck übergeben, Berlin 1730, 4 f. – Zum Einfluß der Wolffschen Philosophie auf diese Predigt siehe Fehr: »Ein wunderlicher nexus rerum«, 172–175: »Diese ist wohl eine der frühsten Predigten überhaupt, die den Satz vom zureichenden Grund und den Satz vom Widerspruch einarbeitet« (ebd, 173). 319 Reinbeck: Eine Sammlung Von Zweyen, Tl. 1 (1734), Bl. ):(2v (Vorrede): »Ob nun gleich erwehnte Predigt etwas philosophisch, wenn man es ja so nennen will, heraus kommen möchte, als welches meinem besondern Zweck nach nicht anders hat seyn können; so wird doch der geneigte Leser fi nden, daß meine übrigen Predigten, und insonderheit diejenige, welche hier mitgetheilet werden, nicht nach solcher Lehr=Art eingerichtet sind.« 320 S. o. Kap. 2, Abschn. 2.3. 321 Reinbeck: Zwey Predigten Welche über das Geheimniß, Bl. 1r-v (Vorbericht):

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Die Reaktion auf diese Predigt fiel im auf klärerischen Lager entsprechend euphorisch aus. Während Ludovici die zwei Weihnachtspredigten für »die allerschönsten« des Berliner Propstes hielt 322 und mit Blick auf die erste bewundernd deren philosophische Argumentationsstruktur notierte (»Die Lehr-Art ist durchgängig mathematisch.« 323 ), erklärte Gottsched diese Predigt kurzerhand zum homiletischen Musterbeispiel der von ihm »angepriesenen erbaulichen Lehrart«324. Von Manteuffels Übersetzung dieser Predigt ins Französische wird andernorts zu berichten sein.325 Zu erwähnen bleibt abschließend, daß einmal mehr Goeze anhand dieser Predigten (und zwar mutmaßlich aufgrund der Empfehlung in Gottscheds Predigtlehrbuch, von dem er ein Exemplar der zweiten Auflage besaß) die Vorzüge einer überzeugenden Predigtweise erläuterte, die er für geeignet hielt, »einen solchen Beweis [zu führen], welchen die Spötter und Feinde der Religion, niemals erschüttern werden«326 . Rund zehn Jahre nach Reinbecks Tod hob hingegen der bekannte Aufklärungsdichter Friedrich von Hagedorn (1708–1754) weniger auf die philosophisch-argumentative Klarheit, als vielmehr auf die empfi ndsame Wär»Wer die erste davon lieset wird vielleicht sich wundern, daß ich die vorhabende Materie auf einen solchen Fuß, wie geschehen ist, abgehandelt habe. [. . .] Ich bekenne frey, daß ich es selbst für unerlaubt halten würde, wenn ein Prediger sich einer solchen Lehr=Arth ohne Unterscheid, zu aller Zeit und an allen Orthen, bedienen wollte. [. . .] Allein, man hat dabey zugleich zu erwegen, daß es auch viele giebet, die in Glaubens=Sachen mit allerley Zweifeln behafftet sind, u. die von ihrem Zweifel nicht so leicht befreyet werden kön(n)en, wen(n) sie nicht überzeuget werden, daß die Glaubens=Puncte nichts widersprechendes, noch erdichtetes in sich fassen. [. . .] Man kann mir sicher zutrauen, daß ich die abgehandelte Materie, auf eine gantz andre, und mit der gewöhnlichen Arth der Predigten, mehr übereinstimmende Weise vorgetragen haben würde; wenn ich nicht eine besondere Veranlassung und wohl gegründete Ursachen dazu gehabt hätte.« 322 Ludovici: Neueste Merckwürdigkeiten, 277–288, Zitat 278. – Zur weiteren Beurteilung der Predigten Reinbecks im Rahmen von Ludovicis Historie der Woffi schen Philosophie siehe weiterhin Ludovici: Ausführlicher Entwurf, Tl. 1, 169. 171; Tl. 2, 366–373; Tl. 3, 387. 323 Ludovici: Neueste Merckwürdigkeiten, 279. 324 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 50 f. (§. 19), Zitat 50. 325 S. u. in Abschn. 3.3. 326 Goeze: Vorrede von der Gründlichkeit, 10. – Ebd, 9 führte Goeze außerdem aus: »Wer aus der Vernunftlehre weis, wie groß der Einfluß richtiger Erklärungen der Begriffe, aus welchen eine Wahrheit bestehet, in dem Beweis dieser Wahrheit selbst sey, ja wie der Beweis, ohne vorausgesetzte richtige und deutliche Erklärungen, unmöglich geführet werden könne; der wird sich nicht wundern, wenn ich zur Gründlichkeit evangelischer Predigten, richtige Erklärungen fordere. Sie gehören zwar vornehmlich zur Deutlichkeit derselben; allein die Gründlichkeit hat auch daran ihren grossen Antheil. Ist es nicht eine vergebliche Mühe, wenn ich meinem Zuhörer beweisen will, daß die Seele unsterblich sey, und er weis weder was Seele ist, noch was unsterblich ist, oder er hat von beiden ganz falsche und unrichtige Vorstellungen. Die bekanten beiden Predigten des sel. Pr. Reinbecks, über das Geheimniß der Menschwerdung JEsu, welche derselbe am ersten und zweiten Weynachsfeiertage gehalten, sind ohnstreitig solche Muster von gründlichen Predigten, welche die Hochachtung aller Zeiten verdienen.«

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me von Reinbecks Predigten ab327 – eine Herzlichkeit des Predigttones, die beispielsweise im Vergleich mit den außerordentlich nüchternen Predigten Mosheims auch der heutige Leser noch wahrnehmen kann. Damit verwies Hagedorn aber nicht nur auf ein gewichtiges homiletisches Erbteil Halles, das Reinbeck sich auf seinem Weg vom Pietismus zur Auf klärung bewahrt hatte. Sondern er monierte indirekt auch jenen (Reinbeck gerade nicht treffenden) Punkt, der zur Jahrhundertmitte zur innerauf klärerischen Kritik an der »philosophischen« Predigt führen sollte, da an ihr bemängelt wurde, daß sie den affektiven Anteilen im Predigtgeschehen insgesamt zu wenig Raum gewährte.328 Eben jene, von Hagedorn für Reinbeck in Anspruch genommene vorbildhafte homiletische Verschmelzung von Pietismus und Auf klärung bildete dabei aber auch das Vorbild für die homiletische Intention der Kabinettsorder Friedrich Wilhelms I., der in Reinbecks Predigten das Ideal einer erbaulichen Predigt erblickte, das den kirchen- und kulturpolitischen Entwicklungen in Preußen seit der Vertreibung Christian Wolffs am besten Rechnung trug. Wenn eingangs die Niederlage des Pietismus in Preußen mit der Kabinettsorder in Zusammenhang gebracht wurde, dann nur in jenem partiellen Sinn, nämlich als Scheitern der obrigkeitlichen Zielvorgabe, Pietismus und Auf klärung (Wolffianismus) kirchenpolitisch zu versöhnen. Auf homiletisch-systematischer Ebene dagegen gelang die Integration homiletischer Anliegen des Pietismus in der Auf klärungshomiletik perspektivisch voll und ganz, was aber kaum ausschließliches Verdienst des landesherrlichen Erlasses war. 3.2 Die preußischen Kabinettsordern vom 7. März 1739 und 8. Februar 1740 Die Gründung der Societas Alethophilorum, zu der Reinbeck als eine von zwei Gründergestalten zählte, erfolgte – wie bereits erwähnt – im Jahr 1736.329 Dieses Jahr notierte zumindest der Revers einer Gedenkmünze, deren Schauseite das horazische »Sapere aude!« als vorrangiges Ziel der Sozietäts327 Friedrich von Hagedorn an Gottlieb Fuchs, Hamburg, 13. 2. 1752: »Bleiben Sie immer bei dem Natürlichen Ihrer Schreibart. Das gesuchte Schöne, das Witzige, geht nicht so sehr zum Herzen, als was aus dem Herzen kömmt und die Worte mit sich bringt. Man empfi nde, was man sagt; man sage, ohne Noth nichts als was man empfi ndet. Das ist, meines Erachtens, die Gewalt der Reden, die z. B. Reinbeck und Sack gehalten haben«; F. v. Hagedorn: Briefe/ hrsg. von H. Gronemeyer, Bd. 1, Berlin; New York 1997, 328,26– 31. – Zu Sacks Predigtauffassung s. u. Kap. 5, Abschn. 2.1. 328 Siehe dazu ausführlich unten in Kap. 5. 329 Über die zunächst in Berlin gegründete und später nach Leipzig verlegte Alethophilengesellschaft informiert umfassend D. Döring: Beiträge zur Geschichte, 95–150; unmittelbaren Quellenwert besitzt der Artikel im »Zedler«, da er von einem ehemaligen Mitglied verfaßt wurde: [C. G. Ludovici:] Wahrheitliebende Gesellschaft, Zedler 52 (1747), 947–954; vgl. auch E. Wolff: Gottscheds Stellung, Bd. 2, 215–230.

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aktivitäten artikulierte.330 Als Stiftungstag wurde jedoch der 18. Februar 1737 angesehen,331 was darauf hindeutet, daß die Alethophilengesellschaft sich zunächst nur in einer vorläufigen Form konstituierte, vielleicht als ein Zweierbund zwischen Manteuffel und Reinbeck, die auf diese Weise ihren häufigen Zusammenkünften im »Entscheidungsjahr«332 der Wolffschen Philosophie in Preußen den humorvollen Anstrich einer für die Wahrheit der Vernunft streitenden Auf klärungssozietät geben wollten.333 Hauptveranlassung war der im Jahr 1736 unternommene letzte Versuch des Halleschen Theologieprofessors Joachim Lange, den stetig wachsenden Einfluß der Wolffschen Philosophie in Preußen doch noch auszuschalten. Erst nach dem Sieg der wolffianisch gesonnenen Hofpartei dürfte es dann am erwähnten Stiftungstag zur offiziellen Sozietätsgründung gekommen sein, zu deren Mitgliedern nun auch Gottsched, seine Frau und weitere auswärtige Alethophile zählten. Da der Kampf der Wolffianischen Auf klärer gegen den hallischen Pietismus aber bereits im selben Jahr zugunsten ersterer entschieden wurde, lag die am 7. März 1739 erlassene Kabinettsorder bereits ganz auf der Linie einer längst im Fluß befi ndlichen Entwicklung, die zur endgültigen Rehabilitierung Wolffs führte und an der die Alethophilengesellschaft, insbesondere aber Reinbeck und Manteuffel, erheblichen Anteil hatten.334 3.2.1 Zur kulturpolitischen Vorgeschichte Ein erstes einschneidendes Datum auf dem Weg zur vollständigen Rehabilitierung Wolffs in Preußen 335 stellte der 1727 erfolgte Tod August Hermann Franckes dar, auf den der von Paul Anton 1730 und von Joachim Justus Breithaupt 1732 folgte. Zudem hatte 1731 Johann Jakob Rambach 336 einen Ruf nach Gießen angenommen und war auf diesem Wege der Theo330 Zu einer Abbildung und kurzen Erläuterung der Alethophilenmedaille (mit weiterführender Lit.) siehe A. Strassberger: Alethophile, EdN 1 (2005), 194. 331 [Ludovici:] Wahrheitliebende Gesellschaft, Zedler 52 (1747), 948. 332 Ich lehne mich damit an eine Formulierung Hinrichs: Preußentum und Pietismus, 430 an, der meinte: »Das Jahr 1736 wurde so zu dem entscheidenden Jahr der Wende für das Schicksal der Wolffschen Philosophie in Preußen.« 333 Vgl. zusammenfassend Strassberger: Alethophile, 192–194. 334 Vgl. für eine solche Einschätzung auch D. Döring: Beiträge zur Geschichte, 104. 335 Für den Gang der Dinge zwischen der Vertreibung Wolffs 1723 und seiner Rückberufung 1740 vgl. die Überblicke bei F. J. Schneider: Das geistige Leben von Halle im Zeichen des Endkampfes zwischen Pietismus und Rationalismus, in: Sachsen und Anhalt: Jahrbuch der Historischen Kommission für Sachsen-Anhalt 14 (1938), 137–166; Hinrichs: Preußentum und Pietismus, 418–441. 471–473; recht kurz die Darstellung bei M. Brecht: Der Hallische Pietismus in der Mitte des 18. Jahrhunderts – seine Ausstrahlung und sein Niedergang, in: GdP 2 (1995), 329. 336 Zu Rambach (1693–1735) siehe R. Mack: Pietismus und Frühauf klärung an der Universität Gießen und in Hessen-Darmstadt, Gießen 1984, 152–167; Johann Jacob Rambach: Leben – Briefe – Schriften/ hrsg. von U. Bister; M. Zeim, Giessen 1993.

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logischen Fakultät Halle verlorengegangen. Mithin waren Anfang der 1730er Jahre innerhalb nur weniger Jahre die stärksten personellen Stützen des Pietismus an der Halleschen Universität mit einem Schlag weggebrochen. Besonders schwerwiegend wirkte sich jedoch der Verlust Franckes für die Stellung der pietistischen Partei am preußischen Hof aus. Der Gründer der Glauchaischen Anstalten hatte über einen ganz erheblichen Einfluß auf den König verfügt, den er nicht zuletzt auch seiner charismatischen Persönlichkeit verdankte. So war das harte Urteil gegen Wolff, das zu dessen Vertreibung aus Halle geführt hatte, im wesentlichen auf eine persönliche Intervention Franckes zurückgegangen.337 Mit seinem Tod war demnach der wichtigste Fürsprecher für die pietistische Sache im preußischen Machtzentrum ausgefallen, dessen Stelle durch niemanden ersetzt werden konnte. Wie sehr dadurch das atmosphärische Klima in der Folge zuungunsten des Pietismus umgeschlagen war, bekam Franckes Sohn, Gotthilf August, zu spüren. Bei einem Besuch in Wusterhausen im Jahr 1733 schlug ihm die kalte Verachtung und provozierende Herablassung des Kronprinzen bereits unverhüllt ins Gesicht.338 Dies alles blieb dem jüngeren Francke natürlich nicht verborgen. In seinem Tagebuch notierte er als Grund für diesen Stimmungsumschwung, den er nicht zuletzt Reinbeck, der ebenfalls für einige Tage bei Hofe weilte, anlastete: »Solchen Schaden tut die intempestive Liebe zu Wolff!«339 Die offenkundige Situation der politischen Schwäche des Pietismus gedachten die Anhänger Wolffs unmittelbar für sich auszunutzen. Im Ergebnis ihrer Bemühungen konnten sie den König tatsächlich zu einer ersten Rückberufung Wolffs bewegen, die der immer noch im Marburger Exil lebende Philosoph auch nach der dritten Aufforderung im Januar 1734 ablehnend beschied.340 Als dann Anfang 1734 das Verbot der Woffischen Schriften in Preußen aufgehoben wurde, bedeutete dies einen weiteren Schritt in Richtung einer Rehabilitierung des von den Pietisten verketzerten Philosophen.

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Beutel: Causa Wolffiana, 190 f. Schneider: Das geistige Leben, 142–144; Hinrichs: Preußentum und Pietismus, 431–433. – Vgl. dazu auch die seinen Aufenthalt am Hof in Wusterhausen (25. bis 30. September 1733) betreffenden Auszüge aus G. A. Franckes Diarium bei F. J. Schneider: Gotthilf August Franckes zweiter Aufenthalt am Königshof in Wusterhausen, in: Thüringisch-Sächsische Zeitschrift für Geschichte und Kunst 26 (1938), 113–124; die wichtigsten Passagen aus Franckes Diarium hatte – von Schneider übersehen – zuvor bereits Tholuck: Geschichte des Rationalismus, 64–68, mitgeteilt. 339 Zit. bei Hinrichs: Preußentum und Pietismus, 432. 340 Zeller: Wolff ’s Vertreibung, 70; H. Droysen: Friedrich Wilhelm I., Friedrich d. Große und der Philosoph Christian Wolff, in: Forschungen zur Brandenburg-preußischen Geschichte 23 (1910), 3 f.; Hinrichs: Preußentum und Pietismus, 433 f.; Buschmann: Woffianismus in Berlin, 81. 338

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Den Ernst der Lage erkennend, versuchte Joachim Lange341 die Sache der hallischen Partei in einem letzten Versuch zu retten. Zunächst wandte er sich mit Angriffen auf Siegmund Jakob Baumgarten gegen einen Feind in den eigenen Reihen.342 Baumgarten war die Stufenleiter der theologischen Ausbildung in Halle stetig emporgerückt und hatte schließlich 1734 durch Fürsprache Berliner Gönner eine Anstellung in der Theologischen Fakultät erhalten, die dabei jedoch in ihren Mitspracherechten übergangen worden war. Zum Verhängnis wurde dem späteren theologischen Glanzlicht Halles nun seine vorsichtige Annäherung an die Philosophie Wolffs, die er mit seinem Anfang 1736 bogenweise herausgegebenen Unterricht vom rechtmäßigen Verhalten eines Christen oder Theologische Moral vollzog und die ihm die einmal mehr von Daniel Strähler vorgebrachte Beschuldigung des Wolffianismus einbrachte. Joachim Lange und der jüngere Francke griffen an diesem Punkt ein und entwickelten sich zu den treibenden Kräften gegen Baumgarten, der als Dekan der Theologischen Fakultät zum Angeklagten der eigenen Kollegen wurde. Lange, der die Baumgartensche Angelegenheit in ihrem größeren Zusammenhang sah, versuchte nach einer zwischenzeitlichen fakultätsinternen Beruhigung des Streits den des Wolffianismus verdächtigten Kollegen endgültig kaltzustellen. Eine Gelegenheit bot sich ihm bei einem Besuch beim König am 6. April 1736. An diesem und den folgenden Tagen wurde er zur königlichen Tafel geladen, wo es ihm gelang, den König erneut von der Schädlichkeit der Wolffschen Philosophie zu überzeugen.343 Lange erwirkte bei ihm eine auf den 7. April 1736 datierte Kabinettsorder, in der der König mißbilligte, daß die Halleschen Theologiestudenten »sich nicht mehr so fleißig wie vor dem auf die Theologie und auf den Grund der heiligen Schrift legen, sondern sich vielmehr auf die Philosophie und unnütze Subtilitäten und Fratzen [= Phrasen?; A. S.] applizieren«344. Gleichzeitig befahl der Monarch dafür Sorge zu tragen, »daß die Jugend mehr zum studio theologico und zwar zur wahren Erkenntnis der heiligen Schrift angeführt werde, als zu unnützen philosophischen Sachen« 345. Obwohl dabei weder von der Wolffschen Philosophie noch von einem Verbot der Philosophie für Theologen ausdrücklich die Rede war, interpretierte Lange den Erlaß in eine 341 Zur Person siehe R. Dannenbaum: Joachim Lange als Wortführer des Halleschen Pietismus gegen die Orthodoxie, Diss. masch. Göttingen 1952; Joachim Lange (1670– 1744), der »Hällische Feind« oder: Ein anderes Gesicht der Auf klärung. Ausgewählte Texte und Dokumente zum Streit über Freiheit – Pietismus/ bearb. und hrsg. von M. Kühnel, Halle 1996. 342 Dazu und zum Weiteren vgl. Schneider: Das geistige Leben, 144; Schloemann: Siegmund Jacob Baumgarten, 42–50. 343 Droysen: Friedrich Wilhelm I., 4 f.; Schneider: Das geistige Leben, 145. 344 Zit. nach Schloemann: Siegmund Jacob Baumgarten, 47 in Anm. 151. 345 Zit. nach Schloemann: Siegmund Jacob Baumgarten, 47 in Anm. 151.

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solche Richtung und publizierte ihn in Halle in dem Gefühl, einen wichtigen Punktsieg errungen zu haben.346 Und auch im Lager der Wolff-Partei befürchtete man darauf hin eine ungünstige Entwicklung der Wolffschen Sache.347 Dennoch scheiterte Lange mit seiner »zweiten Verfolgung Wolffs«, wie der Kronprinz den Vorstoß Langes bezeichnete,348 auf der ganzen Linie, und zwar besonders wegen eines engagierten Einspruchs von General Friedrich Wilhelm von Grumbkow. Grumbkow, der schon am ersten Rückberufungsversuch Wolffs maßgeblich beteiligt gewesen war, bewirkte mit einer am 23. April vorgetragenen Erklärung für Wolff und gegen Lange einen abermaligen Umschwung in der Ansicht des Königs.349 Dabei machte Grumbkow unter anderem den Vorschlag, eine Kommission einzusetzen, die die Anschuldigungen Langes prüfen sollte.350 Gleichwohl plagten den König noch immer Skrupel, denn Lange hatte ihm unmißverständlich erklärt, daß die Annahme des Wolffschen Systems die ewige Verdammnis bedeuten würde.351 Am 27. Mai 1736 schlug dann Manteuffels Stunde. Der König fragte den Reichsgrafen nach seiner Meinung über Wolff und Lange. Manteuffel, der Lange wenig zimperlich für einen Idioten, Tartüff und Sophisten erklärte, der Wolff einfach falsche Behauptungen unterschiebe,352 machte den Vorschlag, Reinbecks Meinung einzuholen,353 wohl wissend, welches Ansehen dieser beim König genoß. Es läßt sich derzeit nicht sagen, ob Manteuffel und Reinbeck zu diesem Zeitpunkt bereits persönlich miteinander bekannt waren, oder ob der Reichsgraf den Berliner Propst bis dahin nur aus seinen Predigten und vom Hörensagen kannte. Am 3. Juni dinierte Reinbeck jedenfalls mit dem König, wobei der Monarch zu erkennen gab, daß er mehr und mehr von der Wahrhaftigkeit der Wolffschen Schriften überzeugt werde, allzumal das Beispiel Manteuffels ihn handgreifl ich davon überzeugt habe, wie aus einem Teufel durch die Predigten Reinbecks und die Lektüre Wolffs ein guter Christ geworden sei.354 Nicht zu Unrecht bewertete Hinrichs die mit solchen Geschichten operierende Argumentationsstrategie der 346

Vgl. Schloemann: Siegmund Jacob Baumgarten, 47 in Anm. 151. Vgl. Schloemann: Siegmund Jacob Baumgarten, 47 in Anm. 151. 348 »[. . .] la seconde persécution que l’on intende contre Wolff [. . .]«; Friedrich an Graf Manteuffel, Ruppin, 20. 4. 1736, zit. bei Droysen: Friedrich Wilhelm I., 5; vgl. Schloemann: Siegmund Jacob Baumgarten, 47. 349 Vgl. Droysen: Friedrich Wilhelm I., 6 mit Beilage Nr. 2; ebd, 25 f.; Hinrichs: Preußentum und Pietismus, 437 f. 350 Vgl. Droysen: Friedrich Wilhelm I., 26. 351 Hinrichs: Preußentum und Pietismus, 438. 352 Siehe Hinrichs: Preußentum und Pietismus, 438; D. Döring: Beiträge zur Geschichte, 102. 353 Hinrichs: Preußentum und Pietismus, 439. 354 Hinrichs: Preußentum und Pietismus, 439. 347

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Anhänger Wolffs als »frommen Betrug«355, dessen alleiniger Zweck es war, den König mit allen Mitteln für ihre Sache zu gewinnen. Am 5. Juni konstituierte sich die zuvor in Aussicht genommene Kommission, die sich aus den lutherischen Pröpsten und Konsistorialräten Reinbeck und Michael Roloff, den reformierten Hofpredigern und Konsistorialräten Daniel Ernst Jablonski 356 und Johann Arnold Nolten(ius) 357 sowie dem lutherischen Feldpropst und Potsdamer Garnisonsprediger Johann Caspar Carsted(t) 358 – alles der Wolffschen Philosophie positiv oder zumindest offen gegenüberstehende Theologen – zusammensetzte; den Vorsitz führte Staatsminister von Cocceji. Möglicherweise kam es zu eben dieser Zeit auch zur Gründung des Alethophilenbundes. Denn Reinbeck traf im Rahmen seiner Kommissionstätigkeit häufig mit Manteuffel zusammen, der vom Kronprinz den Auftrag erhalten hatte, Reinbecks vorläufiges Gutachten über die Beschuldigungen Langes für ihn ins Französische zu übersetzen.359 Am 27. Juni legte die Kommission ihr abschließendes Gutachten vor, in dem sie zu einem für Wolff günstigen Urteil gelangte, das den Philosophen von den atheistischen Irrtümern freisprach, derer Lange ihn bezichtigte.360 In historischer Perspektive bedeutete dieses Gutachten zwar noch immer keine generelle Rehabilitierung Wolffs,361 aber von nun an lief alles stetig darauf zu. Denn der »Soldatenkönig« war nun endgültig von der Unrechtmäßigkeit der Beschuldigungen Langes überzeugt. Am 11. Juli wurde Strähler in einem sehr ungnädigen Schreiben Schweigen im schwelenden Streit befohlen, und am 22. September gebot der König in einem Brief an Lange und Baumgarten, miteinander Frieden zu halten.362 Lange erhielt dabei den ernsteren Bescheid von beiden und wurde ermahnt, »durch ruhiges Stillschweigen ein nützliches Exempel einer christlichen Gelassenheit zu geben«363. Tags darauf erging eine weitere Kabinettsorder an Johann Anastasius Freylinghausen (1670–1739), den Direktor der Glaucha355

Hinrichs: Preußentum und Pietismus, 439. Zu Jablonski (1680–1741) siehe NDB 10 (1974), 212 (H. Hohlwein); BBKL 2 (1990), 1395 f. ( J. Heubach); RGG 4 4 (2001), 341 (D. Meyer). 357 Zu Nolten(ius) (1683–1740) siehe DBA I 904, 13–16. 358 Zu Carsted(t) (1684–1752) siehe DBA I 181, 118–129. 359 Vgl. Büsching: Beytrag zu der Lebensgeschichte des Freyherrn, 13; [Ludovici:] Wahrheitliebende Gesellschaft, Zedler 52 (1747), 950; E. Wolff: Gottscheds Stellung, Bd. 1, 218; D. Döring: Beiträge zur Geschichte, 100 f. 360 Der Text der Gutachten ist abgedruckt in: Vollständige Sammlung Aller derer Schrifften, Welche in Der Langischen und Wolffi schen Streitigkeit im Monat Junio 1736. Auf hohen Befehl abgefasset worden. Mit Veramanders Anmerkungen versehen und zum Druck befördert von J. F. H., Marpurg 1737, 128–165. – Vgl. Hinrichs: Preußentum und Pietismus, 439 f.; Buschmann: Wolffianismus in Berlin, 82–90. 361 Richtig der Hinweis darauf von Buschmann: Wolffianismus in Berlin, 90. 362 Vgl. dazu Schloemann: Siegmund Jacob Baumgarten, 48. 363 Zit. Schloemann: Siegmund Jacob Baumgarten, 48. 356

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ischen Anstalten, mit der Bitte, sich mit allen Kräften dafür einzusetzen, daß endlich Frieden in die Fakultät einkehre. Als ein Dokument des Meinungswandels des Königs in den Streitigkeiten um Baumgarten und die Philosophie Wolffs, aber auch als Zeugnis der inneren Kontinuität in seinem Verhältnis zur pietistischen Theologie, soll ein Auszug hier mitgeteilt werden. Der König schrieb: »Die wegen der Wolff ischen Philosophie bisher gedauerte Streitigkeiten betreffend, so ist Meine Intention, so jederzeit als auch noch, diese, dass, wenn selbe atheistisch ist und wider Gott und sein Wort gehet, solche in Meinen Landen nicht dociret werden soll. Wenn es aber wegen solcher nur auf Wortstreite und indifferente Sachen ankommet, so werde Ich gerne sehen, wenn der Professor Lange sich moderiret 364, nicht so vindicatif 365 ist, noch seine Streitigkeiten à bout poussiret 366. Ich prätendire nicht, in dieser sehr dunkelen Sache ein Richter zu sein, wenn Mir aber doch fast jedermann saget, dass die Philosophie, so lange die Welt stehet, gewesen, und es mehrenteils nur auf Wörter ankommet, so wird es Mir zu gnädigem Gefallen gereichen, wenn gedachter p. Lange sich darunter moderat bezeigen und seine gute Talents auf erbauliche und nützliche Sachen anwenden wird. [. . .] Uebrigens muss es bei der dortigen theologischen Facultät bei der erbaulichen Lehrart, so wie der selige Breithaupt und Francke solche gebrauchet haben, bleiben, alsdann es keiner philosophischen pointilles367 noch Disputirens gebrauchen wird.« 368

Noch am 1. November 1736 wurde das 1727 verhängte preußische Verbot von Vorlesungen über Wolffs Metaphysik und Moral aufgehoben, nachdem bereits Anfang 1734 – wie erwähnt – die Wolffschen Schriften vom Index genommen worden waren.369 In einem bislang unbekannten Brief Friedrich Wilhelms vom 18. November 1736 an die lutherischen Pröpste Roloff und Reinbeck, die als Kuratoren der preußischen Universitäten qua Amt eine Aufsicht über die Universität Halle ausübten, bekräftigte der König schließlich die prinzipielle Lehrfreiheit Baumgartens im Rahmen der gemachten Einschränkungen.370 Damit aber stand einer ungehinderten Rezeption und Ausbreitung der Philosophie Wolffs an der Theologischen Fakultät wie auch in den übrigen preußischen Landen nichts mehr im Wege. Die positive Gesinnung des Königs für Wolff festigte sich in der Folgezeit, so daß dessen Rückberufung von nun an verstärkt betrieben werden konnte. 364

Franz.: sich mäßigen. Franz.: rachsüchtig. 366 Franz.: zum Äußersten treiben. 367 Franz.: Spitzfi ndigkeiten. 368 Zit. nach dem Abdruck bei W. Stolze: Aktenstücke zur evangelischen Religionspolitik Friedrich Wilhelms I., JBBKG 1 (1904), 270 f.; vgl. auch Schloemann: Siegmund Jacob Baumgarten, 48 in Anm. 161; Hinrichs: Preußentum und Pietismus, 440. 369 Vgl. Fehr: »Ein wunderlicher nexus rerum«, 67 f. 370 Brief Friedrich Wilhelms I. an die Pröpste Roloff und Reinbeck, 18. 11. 1736, ELAB, Depositum St. Marien/St. Nicolai, Rep. I, Nr. 725 (unfol.). – Siehe auch die Edition dieses Briefs im Anhang dieser Arbeit. 365

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Zu diesem Zweck eröffnete Reinbeck am 2. Oktober 1737 einen Briefwechsel mit dem exilierten Philosophen, der Fragen der Rückberufung sondieren und klären sollte.371 Am Neujahrstag 1739 übersandte Friedrich Wilhelm dem Propst eine Kopie von Wolffs Porträt unter Beifügung von vier Louisdor für einen goldenen Rahmen mit den Worten, er könne ihm nichts besseres schenken.372 Drei Monate später, am 7. März 1739, wurde eben jene Kabinettsorder erlassen, in der den Theologiestudenten ein frühzeitiges Studium der Philosophie und der Logik Wolffs zum Behuf verbesserter Predigtausbildung angeordnet wurde. Am 31. Mai 1740 verstarb schließlich der greise Monarch, unter dessen Sohn Friedrich II. der einst aus Halle Vertriebene am 6. Dezember 1740 an den Ort der Vertreibung triumphal zurückkehrte. 3.2.2 Entstehung, Inhalt und Durchführung der Ordern Mit der Entstehungsgeschichte der Kabinettsorder vom 7. März 1739 verbanden sich in der Vergangenheit zum Teil widersprüchliche Ansichten.373 Wuttke behauptete ihr Zustandekommen als eine unmittelbare Folge von Wolffs Dedikation seiner Philosophia practica universalis an Friedrich Wilhelm I.374 Tholuck wiederum sah die Order durch des Königs Lektüre von 371

Die in der Rückberufungsfrage zwischen Friedrich Wilhelm I., Friedrich II., Wolff, Reinbeck und Manteuffel gewechselten Briefe bietet Büsching: Beytrag zu der Lebensgeschichte des Freyherrn, 22–116; vgl. auch Wuttke: Ueber Christian Wolff, 33–71. 372 Droysen: Friedrich Wilhelm I., 16 f. 373 Die Kabinettsorder fi ndet in der Literatur mehrfach – auch falsche datierte – Erwähnung, so z. B. bei Brecht: Der Hallische Pietismus, 329, der sie in das Jahr 1738 verlegt. Längere oder kürzere Erwähnung der Verordnung (verschiedentlich in Verbindung mit dem darauf bezogenen Predigtlehrbuch Gottscheds) in z. T. divergierenden Aussagezusammenhängen (Auswahl): F. Förster: Friedrich Wilhelm I. König von Preussen, Bd. 2, Potsdam 1835, 342–344; [G. H. L. Nicolovius:] Erinnerungen an die Kurfürsten von Brandenburg und Könige von Preußen aus dem Hause Hohenzollern hinsichtlich ihres Verhaltens in Angelegenheiten der Religion und der Kirche, Hamburg 1838, 272 f.; Wuttke: Ueber Christian Wolff, 44; Danzel: Gottsched und seine Zeit, 40; Tholuck: Geschichte des Rationalismus, 131. 143; H. Döring: Gottsched, 191; L. Geiger: Berlin 1688–1840: Geschichte des geistigen Lebens der preußischen Hauptstadt, Bd. 1, Berlin 1893, 189 f.; Briefe König Friedrich Wilhelms I., 46–51. 55; Droysen: Friedrich Wilhelm I., 17; Wendland: Siebenhundert Jahre, 137 f.; Philipp: Das Werden der Auf klärung, 137; Hinrichs: Preußentum und Pietismus, 440 f.; G. Oestreich: Friedrich Wilhelm I.: preußischer Absolutismus, Merkantilismus, Militarismus, Göttingen; Zürich, Frankfurt 1977, 83; Arndt: Einführung, in: Wolff: Vernünftige Gedanken von den Kräften, WGW I/1, 96; Buschmann: Wolffianismus in Berlin, 90 f.; Kirche im Dorf: ihre Bedeutung für die kulturelle Entwicklung der ländlichen Gesellschaft im »Preußenland«, 13.–18. Jahrhundert, Ausstellung des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz in Zusammenarbeit mit der Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Berlin 2002, 191 f.; I. Gundermann: Verordnete Eintracht: Lutheraner und Reformierte in Berlin-Brandenburg (1623–1740), HerChr 28/29 (2004/05), 155. 374 Wuttke: Ueber Christian Wolff, 44; Wuttkes Behauptung stehen seine eigenen

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Gottscheds philosophischem Lehrbuch veranlaßt.375 Und für manch anderen Autor schien die 15 Jahre nach Wolffs Vertreibung erlassene Verfügung einfach auch nur wie ein Wunder, das einer rationalen Erklärung schlichtweg ermangelte.376 Obwohl sich, wie gesehen, die Kabinettsorder377 logisch in den Entwicklungsgang der Dinge einfügte, liegen ihre eigentlichen Motive, die in ihrer Fragen des Predigtwesens und der Pfarrerausbildung betreffenden Intention zu suchen sind, dennoch im Dunklen. Ungewiß ist auch, wer die treibende Kraft für das Zustandekommen des Erlasses eigentlich war. Denn die für den Vorgang erhalten gebliebenen Akten geben darüber keine unmittelbare Auskunft.378 So ist zwar nicht auszuschließen, daß – wie in der Literatur Ausführungen ebd, 43 entgegen, denen zufolge Wolff einen Entwurf der Widmung erst am 15. März, also knapp eine Woche nach Erlaß der Order, an Manteuffel absandte; vgl. auch Droysen: Friedrich Wilhelm I., 17. 375 Tholuck: Geschichte des Rationalismus, 131: »Ja das Unmögliche geschieht. Durch einen dem Könige Friedrich Wilhelm vorgelesenen Abschnitt aus Gottscheds Buch wird derselbe bewogen, sich mit einem ihm gewöhnlichen citissime sich dasselbe zu verschreiben und wird vom Nutzen der Logik auf einemal so überzeugt, daß er ungesäumt den reformirten Kandidaten in einem Edikte befiehlt, sich zum behufe ihrer Predigten durch eine vernünftige Logik, z. E. die Wolffsche, in der Philosophie recht fest zu setzen! (1739)« – In einen engen, wenn auch nicht kausalen Zusammenhang brachte Schrader: Geschichte, Tl. 1, 318 des Königs Lektüre von Gottscheds Anfangsgründen der Weltweisheit und den Erlaß vom 7. März 1739. 376 W. Philipp: Einleitung, in: Das Zeitalter der Auf klärung/ hrsg. von dems., Bremen 1963, IC: »Nach 15 Jahrten erst ereignete sich das Wunder, daß der todkranke Soldatenkönig 1739/40 Reskripte unterzeichnete, die den reformierten und den lutherischen Predigtamtskandidaten zum Nutzen vernünftiger Predigtmethoden das Studium von Philosophie und Logik ›als zum Exempel des Professor Wolffen‹ befahlen.« 377 Der Text der Order ist außer bei [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, Bl. h8r-i3v (2. Aufl.: [Gottsched:] Grundriß einer überzeugenden Lehrart, Bl. *5r-7v) ferner abgedruckt in folgenden zeitgenössischen Publikationen: Acta historico-ecclesiastica 3 (1739), 893–897; UN 1740, 67–72; Beiträge zur Beredsamkeit, Tl. 1 (1741), 184–200; [Anonym:] Predigerkunst, Zedler 29 (1742), 265–267. In der neueren Literatur fi nden sich Auszüge oder Referate des Textes bei Danzel: Gottsched und seine Zeit, 40; Schian: Orthodoxie und Pietismus, 159 in Anm. 1; Wieckenberg: Goeze und Gottsched, 245 f. – Neben amtlichen Separatdrucken der Order, die hin und wieder in Archiven begegnen (vgl. den Hinweis auf einen solchen Druck z. B. bei Schrader: Geschichte, Tl. 1, 318 in Verb. mit Anm. 46) fi ndet sich ein Textabdruck auch bei Mylius: Corporis Constitutionum Marchicarum Continuatio I, 325–330, und zwar als Beilage A (ebd, 325–328) zur »Allergnädigsten Verordnung wegen der Prediger und Candidaten deutlichen Lehr=Art, vom 8. Febr. 1740.«, mit welcher die Ausdehnung der Order auf die lutherischen Konfessionsangehörigen verfügt wurde. Nach dieser Ausgabe wird im folgenden zitiert. – Eine Textedition der Order befi ndet sich im Anhang zu dieser Arbeit. 378 Zur Rekonstruktion der Vorgänge um die Order vom 7. März 1739 bzw. den Ausdehnungserlaß vom 7. Februar 1740 habe ich folgende Aktenbestände des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz, Berlin, eingesehen: GStA PK, HA I, Rep. 47, Nr. 16 (unfoliert!); GStA PK, HA I, Rep. 96, Nr. 303 A; GStA PK, HA I, Rep. 76 alt V, Nr. 32; GStA PK, HA XX, EM Abt. 37 b 3, Nr. 7; ELAB, Depositum St. Marien/St. Nicolai, Rep. I, Nr. 741 (unfoliert!).

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häufig vermutet – Reinbeck für das Zustandekommen eine wichtige Rolle spielte.379 Doch läßt sich dies aus den Akten nicht belegen. Für die Annahme einer tragenden Rolle Reinbecks spricht zwar der Geist der Order, der mit dessen predigtreformerischen Ambitionen völlig konvergiert. Gegen eine solche Annahme steht aber der Umstand, daß die Order zunächst für die reformierten Theologiestudenten und Kandidaten der Theologie erlassen wurde, weswegen ihre eigentlichen Protagonisten aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht im lutherischen Konsistorium,380 sondern im Reformierten Kirchendirektorium zu suchen sind. Konzentriert man sich daher auf den konfessionellen Hintergrund der Verfügung, scheint es am plausibelsten, einen Zusammenhang mit schon länger von Friedrich Wilhelm bemerkten und beklagten Mängeln der reformierten Predig anzunehmen,381 die in der 1738 erfolgten preußischen Generalkirchenvisitation vollends offenkundig geworden waren 382 und denen mit Hilfe des Erlasses gezielt abgeholfen wer379 Schian: Orthodoxie und Pietismus, 158; Wendland: Siebenhundert Jahre, 137; Kantzenbach: Protestantisches Christentum, 79; Schütz: Geschichte der christlichen Predigt, 160; Buschmann: Wolffianismus in Berlin, 91; Hammann: Reinbeck, RGG4 7 (2004), 247; Sträter: Predigt, 74; u. ö. – Den Ansichten der älteren Literatur folgend habe auch ich zuletzt eine entscheidende Rolle Reinbecks für den Erlaß der Order angenommen: Strassberger: Alethophile, EdN 1, 193; ders.: Zwischen Predigtreform und Religionsapologetik, 58. Ich korrigiere bzw. präzisiere mit den gegenwärtigen Ausführungen die dort geäußerten Ansichten. 380 Zur Organisation der kirchlichen Verwaltung und den Mitgliedern des Kurfürstlichen Konsistoriums zwischen 1701 und 1750 vgl. K. Theumel: Die Mitglieder und die Leitung des Berliner Konsistoriums vom Regierungsantritt des Kurfürsten Johann Sigismund 1608 bis zur Auf hebung des Königlichen preußischen Oberkonsistoriums 1809, JBBKG 41 (1966), 77–85. 381 So klagte der König in einem Brief vom 10. Juli 1733 gegenüber den reformierten Hofpredigern Jablonski und Noltenius, »daß die Herren Lutheraner die Hülle und die Fülle von braven, tüchtigen, ehrlichen Gottesgelehrten haben, auch ihre Predigten viel erbaulicher und herzrührender sind, als es leider bei unsern Reformirten hierselbst ist. Wenn es so gute Prediger sind, als Noltenius, Cochius, so ist es ein miraculum mundi, da doch bei den Lutheranern von 100 gewiß 80 eccellent und die andern 20 doch passable sind, und sie die englischen Spitzen und spinozistischen Dinge nicht haben, sondern ihre Predigten, so wie der sel. Franke, einzurichten halten, simpel, deutlich, vernehmlich, daß der Gelehrte und Ungelehrte es verstehen und sich zu Nutz machen kann«; zit. bei Förster: Friedrich Wilhelm I., Bd. 2, 342. 382 Vgl. den Abdruck der Anordnung der Visitation bei Ch. G. Mylius: Corporis Constitutionum Marchicarum, Oder Königl. Preußis. und Churfürstl. Brandenburgische in der Chur- und Marck Brandenburg, auch incorporirten Landen publicirte und ergangene Ordnungen, Edicta, Mandata, Rescripta Von Zeiten Friedrichs I. Churfürstens zu Brandenburg [. . .] ad annum 1736 inclusivè, [Tl. 1,] Berlin; Halle [o. J.], 565–568 (No. CXXXV: Verordnung an alle Inspectores wegen einer in der Churmarck zu haltenden General-Visitation aller Prediger und Abschaffung des Singens derer Gebethe, Seegens etc. de dato Berlin den 27. Sept. 1736), in der es u. a. heißt (ebd, 565): »So befehlen Wir Euch hierdurch allergnädigst, die unter Eurer Inspection stehende Königliche Pfarrer entweder in loco zu visitiren, und über einen aufzugebenden Text predigen zu lassen, oder dieselben zu Euch zu bescheiden, und an Eurer Stelle nicht allein über einen denenselben drey biß vier Tage vorher zuzuschickenden Text predigen, sondern auch ein Examen Catecheticum

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den sollte.383 Eine Beteiligung Reinbecks am Zustandekommen der Verfügung muß deshalb nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Denn im Rahmen seiner kirchenleitenden Tätigkeit auf lutherischer Seite arbeitete er mit der reformierten Kirchenbehörde eng zusammen,384 nicht zuletzt durch die Kontakte, die er von Amts wegen zu einzelnen ihrer Mitglieder, etwa Hofprediger Jablonski, unterhielt.385 Umgekehrt hatte auch Jablonski als ältester reformierter Hofprediger qua Amt einen Sitz im lutherischen Konsistorium.386 Der hingegen von Frensdorff dem Halleschen Hofprediger Pauli (s. u.) zugeschriebene Einfluß bei der Abfassung der Order bzw. dessen Relativierung der Rolle Reinbecks entspringt dabei hauptsächlich seiner (Frendsdorffs) Unkenntnis der gesamten, mittlerweile zur Verfügung stehenden Quellenüberlieferung, was er seinerzeit freimütig einräumte.387 Den aktenkundigen Vorgang eröffnete jedenfalls ein dreifach ausgefertigtes Schreiben Friedrich Wilhelms vom 16. Februar 1739, also drei Wochen vor Erlaß der Order, das an den reformierten Hofprediger Daniel Ernst Jablonski, dessen Sohn Paul Ernst,388 Professor in Frankfurt an der Oder, und an den Halleschen reformierten Domprediger und Inspektor am dortigen

halten zu lassen« etc. – Vgl. auch [Anonym:] Zuverlässige Nachricht von der königl. preussischen Generalkirchenvisitation, in: Acta historico-ecclesiastica 3 (1738), 251–260; [Heinsius:] Unpartheyische Kirchen=Historie, Tl. 3, 524 f. – Auch Wagenmann: Reinbeck, ADB 28, 3 sieht den irrtümlich Reinbeck zugeschriebenen Grund-Riß einer LehrArth ordentlich und erbaulich zu predigen durch die preußische Generalkirchenvisitation veranlaßt. 383 Diese Intention formuliert wohl zutreffend das Präskript der Kabinettsorder vom 7. März 1739, in welchem es heißt, daß »Unser allergnädigster Herr, von vieler Zeit her bemercket [hat], daß die Reformirten Candidati Theologiæ und angehende Prediger sich mehrentheils eine gezwungene, undeutliche und wenig erbauliche Lehr=Art und Methode im Predigen angewöhnet; solches aber dem Zweck der Erbauung in denen Gemeinden hinderlich ist: So haben Höchst Dieselben für höchst nützlich und nöthig erachtet, an die sämtliche Reformirte Professores der Theologie auf Dero Academien und Gymnasiis die allergnädigste Ordre ergehen zu lassen, daß sie die Studiosos Theologiæ folgendergestalt zum erbaulichen, deutlichen und ordentlichen Predigen, künftig mit allem ersinnlichen Fleiß anführen sollen«; Mylius: Corporis Constitutionum Marchicarum Continuatio I, 325 f. 384 Eine solche Beteiligung nimmt Schuler: Geschichte, Tl. 2, 154 an. 385 Zur konfessionskundlichen Statistik und Verfassung des landesherrlichen Kirchenregiments unter Friedrich Wilhelm I. vgl. zusammenfassend G. Heinrich: Brandenburg II. Reformation und Neuzeit, TRE 7 (1981), 116 f. 386 Vgl. dazu R. v. Thadden: Die Brandenburgisch-Preußischen Hofprediger im 17. und 18. Jahrhundert: ein Beitrag zur Geschichte der absolutistischen Staatsgesellschaft in Brandenburg-Preußen, Berlin 1959, 48. 387 Briefe Friedrich Wilhelms I., 47: »Aber man wird in der Annahme nicht irren, dass in der königlichen Cabinetsordre vom 7. März 1739 die Vorschläge Paulis mitbenutzt sind«; sowie ebd, 48 in Anm. 4. – Seine ergebnislosen Recherchen im GStA PK notiert Frensdorff ebd, 47. 388 Zu Paul Ernst Jablonski (1693–1757) siehe ADB 13 (1882), 526 f. (Redslob).

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Domgymnasium, Hermann Reinhold Pauli, adressiert war.389 Der König bat darin angesichts von nicht näher bezeichneten Mängeln im Predigtwesen der reformierten Konfessionsangehörigen um Vorschläge zur Behebung.390 Eine Antwort des Hofpredigers Jablonski ist erstaunlicherweise nicht aktenkundig, was in Verbindung mit den späteren, besonderen Aufgaben, die ihm bei der Durchführung der Order übertragen wurden, auf eine mündliche Stellungnahme hindeuten könnte. Der Hallesche Domprediger setzte in seiner Reaktion auf das Anschreiben postwendend einen kurzgefaßten, stark von pietistischen Predigtauffassungen genährten »Entwurff Eines Unterrichts Wie Candidati Theologiae ihre Predigten ordentlich, deutlich, und zum rechten Zweck der Erkänntnüß der Warheit, und außübung eines Wahren Christenthums, einzurichten haben«391 auf, den er dem König übersandte. Und auch dem Frankfurter Theologen schwebte ein ähnliches Vorgehen vor, wenn er sich anbot, in einer eigens anzufertigenden Anweisung »durch leichte regula« »angehenden Predigern von einer Christlichen, und in Kirchen vor der Gemeine Gottes sich ziemenden geistlichen redart, einen gut vernünfftigen Begriff und geschmack beyzubringen« 392 . Die Aktenüberlieferung dokumentiert dann als nächstes die Entwürfe zweier an Pauli und Paul Ernst Jablonski gerichteter Schreiben, die auf den 9. März, also bereits zwei Tage nach Erlaß der Kabinettsorder, datiert sind 393 und in denen sich der König über den Vorschlag des Halleschen Dompredigers »sehr wohl zu frieden« 394 zeigte bzw. die Anregungen des Frankfurter 389 Edition dieses Briefs in: Briefe König Friedrich Wilhelms I., 55; die Briefentwürfe überliefert in: GStA PK, HA I, Rep. 96, Nr. 303 A, Bl. 35r – Zu Pauli (1682–1750) siehe neben der Einführung von Frensdorff (Briefe König Friedrich Wilhelms I., 1–51. 56–58) auch ADB 25 (1887), 260 (H. Oesterley). 390 Briefe König Friedrich Wilhelms I., 55: »Da Ich zum öfftern bemercket habe, dass viele derer Reformirten Prediger in ihren Predigten sich gemeiniglich einer gantz gekünstelten Arth bedienen und dabey vieler mystischen und allegorischen Ausdrücke gebrauchen, dadurch aber des rechten Zweckes, nehmlich denen Zuhörern das Worth Gottes auf eine deutliche, natürliche und ordentliche Arth zu erklähren, gäntzlich verfehlen; So sollet Ihr wohl überlegen und Mir demnechst berichten, wie und auf was Arth diese eytele Methode zu predigen am füglichsten abgestellet, dahergegen insonderheit die angehende Candidati Theologiae angeführet werden können ordentlich und verständlich zu predigen, auch die Dispositiones von ihren Predigten natürlich und deutlich zu machen, damit die Zuhörer solche leicht verstehen und behalten können.« Vgl. mit einigen größeren Abweichungen GStA PK, HA I, Rep. 96, Nr. 303 A, Bl. 35r. 391 GStA PK, HA I, Rep. 96, Nr. 303 A, Bl. 46r-49r; Paulis Begleitschreiben an König Friedrich Wilhelm I., Halle, 21. 2. 1739, ebd, Bl. 38r-39v. 392 Beide Zitate GStA PK, HA I, Rep. 96, Nr. 303 A, Bl. 40r-v; Paul Ernst Jablonskis Schreiben datiert auf den 23. Februar 1739. 393 Das Schreiben an Pauli ist ediert in: Briefe Friedrich Wilhelms I., 55. Der Entwurf des Schreibens fi ndet sich in: GStA PK, HA I, Rep. 96, Nr. 303 A, Bl. 45r. 394 Friedrich Wilhelm an Pauli, Potsdam, 9.3. 1739, in: Briefe Friedrich Wilhelms I., 55.

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Theologen »sehr billig[t]e«395. Ansonsten gingen die Schreiben nicht weiter auf die gemachten Vorschläge ein, sondern konfrontierten die Angeschriebenen mit den inzwischen geschaffenen Tatsachen, indem auf beiliegende Abschriften der am 7. März erlassenen Kabinettsorder verwiesen wurde. Mit dieser verband der Monarch die Hoffnung, das sie das leisten möge, was herauszufi nden das Ziel des kurzen Befragungsprozesses gewesen war, nämlich »dass die Studiosi Theologiae auff denen Universitäten und Gymnasiis dergestalt von der eingerissenen duncklen affectirten und unverstandlichen Methode zu predigen abgewöhnet und zu einem deutlichen ordentlichen und vernünfftig überzeugenden Vortrag, angeführet werden mögen« 396.

Mehr als diese wenigen Informationen geben die Akten über den Entstehungsprozeß der Order nicht kund. Der Inhalt der zehn Punkte der Kabinettsorder selbst war folgender: 397 In Punkt 1 wurde verfügt, daß die Theologiestudenten »zur wahren ungeheuchelten Gottesfurcht und lebendiger Erfahrung derer Göttlichen Wahrheiten angeführet werden, damit sie selbst erst wahre Christen werden, und ihrer künftigen Gemeine in reiner Lehre und unsträfl ichem Wandel vorgehen können«. Außerdem sollten sie sich – wie es im nun schon mehrfach erwähnte Passus hieß – »bey Zeiten in der Philosophie und einer vernünftigen Logic, als zum Exempel des Professor Wolffens, recht fest setzen, damit sie lernen, sich deutliche und klare Begriffe von der gantzen Theologie und ins besondere von denen zu erklärenden Texten zu machen, dieselben nach ihrem wahren Sinn einzusehen, die darin enthaltene Wahrheit zu erweisen, und bindige Schlüsse zur Application daraus auf eine überzeugende Weise zu ziehen« (Punkt 2). Punkt 3 forderte die Benutzung eines »reinen, deutlichen und kurtzen Stylum« und formulierte als Predigtziel, bei den »Zuhörern klare Begriffe im Verstande, und eine gute Neigung des Willens, zu erwecken«. Auch die weiteren Bestimmungen forderten auf dieser Linie von den zukünftigen Predigern, daß die zu predigende »Glaubens= oder Lebenslehre« »kurtz, bindig und kräftig durch klare Schlüsse« auszuführen sei, damit »die Leute sowohl die Wahrheit recht begreiffen, als auch einen ernstlichen Willen fassen, denselben im Leben zu folgen« (Punkt 5). Deswegen 395 GStA PK, HA I, Rep. 96, Nr. 303 A, Bl. 45r (Schreiben Friedrich Wilhelms I. an P. E. Jablonski). 396 Friedrich Wilhelm an Pauli, Potsdam, 9.3. 1739, in: Briefe Friedrich Wilhelms I., 55; vgl. mit einigen unerheblichen Abweichungen GStA PK, HA I, Rep. 96, Nr. 303 A, Bl. 45r. 397 Allergnädigste Verordnung wegen der Prediger und Candidaten deutlichen Lehr=Art, vom 8. Februar 1740. nebst Beylage sub A. B. & C., in: Mylius: Corporis Constitutionum Marchicarum Continuatio I, 325–330, hier 325–328 (Beilage A); vgl. auch den Textabdruck der Order samt Beilagen im Anhang zu dieser Arbeit.

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ermahnte die Order auch, sich »der möglichsten Deutlichkeit im Vortrage und denen Redens=Arten« zu befleißigen und keiner »dunckeln mysterischen Redens=Arten« oder »allegorischen Ausdrücke und Methode« zu bedienen (Punkt 7). Zu ungekünstelter, nutzbringender Anwendung der Jahrgangsmethoden gaben Punkt 8 und zur rechten Anbringung von Schriftzitaten Punkt 9 Anweisung. Zu einer ordentlichen Predigtvorbereitung (Meditation) und schriftlichen Ausarbeitung der Predigt ermahnte außerdem Punkt 4. Punkt 5 formulierte auch das reformpädagogische Interesse, daß den Studenten »Anleitung gegeben werden [muß], wie sie ihren vorhabenden Text vernünftig, und nach denen Umständen ihrer Gemeine erbaulich erklären sollen«, wofür die einzelnen Punkte als Richtungsweiser anzusehen waren. Schon eine nur oberflächliche Analyse des Textes zeigt, daß die augenfällige Einforderung auf klärerischer Predigtanliegen über weite Strecken mit pietistischen Predigtanforderungen konvergierte. Angefangen beim tadellosen christlichen Lebenswandel des Theologiestudenten samt einem lebendigen Glauben, aus dem der Prediger bei seiner Predigt schöpfen müsse (Punkt 1), über die Erwartung, einen »reinen, deutlichen und kurtzen Stylum« anzuwenden und die Warnung, nicht die »eigene Kunst und Gelehrsamkeit zu zeigen« (Punkt 3), bis hin zur Forderung, die Texte »nach denen Umständen ihrer Gemeine erbaulich [zu] erklären« und jeden Predigtteil »auch allezeit sogleich auf die Erbauung der Zuhörer [zu] führen« bzw. »die Application und Anwendung, nach dem verschiedenen Zustand der Zuhörer, mit einer anständigen, rührenden, doch unaffectirten Art« zu machen (Punkt 5): Auf Schritt und Tritt begegneten homiletische Forderungen von Pietisten und Auf klärern, zu schweigen von der ihnen gemeinsamen Front gegen orthodoxe Predigtauffassungen, die in der Kabinettsorder eine mehr oder weniger deutliche Zurückweisung erfuhren (vgl. Punkt 6 bis 9). Eine die Aufklärung besonders fördernde bzw. den Pietismus besonders zurücksetzende Intention ist (abgesehen von der positiven Erwähnung der Wolffschen Philosophie in Punkt 2 und der nur sparsamen kritischen Bezugnahme auf pietistische Praktiken 398 ) nicht festzustellen. Wenn in Punkt 5 der Order freilich »die Erbauung der Zuhörer« dahingehend erläutert wurde, »daß die Leute sowohl die Wahrheit recht begreiffen, als auch einen ernstlichen Willen fassen, denselben im Leben zu folgen«399, so beinhaltete dies faktisch den 398 Hierzu gehören die Forderung nach einer schriftlich ausgearbeiteten Predigt (Punkt 4), der pietistische Predigttheoretiker (z. B. Gottfried Arnold) ablehnend gegenüberstanden, da sie das spontane Wirken des Geistes hemme, oder auch die Kritik an »dunckeln mysterischen Redens=Arten« (Punkt 7), die als Ausdruck der »Sprache Kanaan« den Spott der Auf klärer auf sich zog; vgl. H.-J. Schrader: Die Sprache Canaan: pietistische Sonderterminologie und Spezialsemantik als Auftrag der Forschung, in: GdP 4 (2004), 404–427. 399 Allergnädigste Verordnung wegen der Prediger und Candidaten deutlichen Lehr=Art, 327.

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Anschluß an die auf klärerische Interpretation des pietistischen Erbaungsbegriffs, wie er oben (Kap. 2, Abschnitt 3.2) erläutert wurde. Deutlich zu greifen ist dagegen ein Affront gegen die orthodoxe Predigttradition. Am deutlichsten sprach sich dieser im Extract der Order vom 9. Januar 1740 (s. u.) aus, mit dem alle Prediger, »welche noch nicht das 40. Jahr passiret,« aufgefordert wurden, »sich aller pur oratorischen Art zu predigen enthalten, hingegen aber, wie oberwehnt, predigen«400 sollen. Die Intention der Order muß daher insgesamt als ein gegen die orthodoxe Predigttradition gerichteter Vermittlungsversuch von pietistischen und aufklärerischen Anliegen angesehen werden, der die Integrationsbemühungen der 1736 rehabilitierten Wolffschen Philosophie in Kontexte der vormals protegierten Halleschen Theologie zum Ausdruck brachte. Eine solche, von kirchenleitender reformierter Seite unterstützte Zielrichtung stand dabei ganz in Kontinuität zu vorausgegangenen kirchenamtlichen Verlautbarungen. Denn bereits 1737 war ein preußisches Edikt erlassen worden, das die sich bekämpfenden theologischen Parteien zur Mäßigung aufrief und insbesondere die gegen den Pietismus gerichtete orthodoxe Kanzelpolemik einschränkte.401 Ferner hatte Oberkonsistorialpräsident von Reichenbach im Rahmen der Durchführung der preußischen Generalkirchenvisitation von 1738 an die von ihm besuchten Prediger zudem stets gewisse Ermahnungen gerichtet,402 die teilweise Aussagen der Kabinettsorder von 1739 vorwegnahmen bzw. in denen sowohl das Elenchusedikt von 1737 zur Sprache kam 400 Beide Zitate Allergnädigste Verordnung wegen der Prediger und Candidaten deutlichen Lehr=Art, 328. 401 Edict, welcher gestalt die Lehrer und Prediger zu verfahren haben, wann sie jemanden irriger Lehre oder der Heucheley verdächtig halten: Imgleichen, daß keine Weltliche Sachen oder Beurtheilungen der Königlichen Dispositionen in politicis & ecclesiasticis auf die Catheder und Cantzeln gebracht werden sollen, d. d. Berlin den 23. Septembr. 1737, in: Mylius: Corpus Constitutionum Marchicarum Continuatio I, 75–80; der König äußerte ebd, 75 das Mißfallen, »daß zeithero in Unseren Landen unterschiedene Prediger sich angelegen seyn lassen, zu vielmahlen auf öffentlicher Cantzel, wieder Heuchler und Maul=Christen, wie auch falsche verführische Lehrer und Irrgeister auf eine solche Art zu schelten und loßzuziehen, daß ihre Zuhörer, oder doch wenigstens viele unter denselben, nothwendig auf die Gedancken gerathen müssen, sie wolten damit ihre Gemeinde vor einem oder andern Unserer, theils in offentlichen Lehr=Amt auf Hohen= Schulen, theils auch im Predigt=Amt sitzenden Theologorum verwarnen, und selbige damit gemeinet haben«. – Das Edikt ist auch abgedruckt in: Acta historico-ecclesiastica 2 (1737), 578–584. 402 Vgl. [Heinsius:] Unpartheyische Kirchen=Historie, Tl. 3, 524: »Der Herr Oberconsistorial-Präsident von Reichenbach erhielt von Ihro Majestät Ordre, durch das ganze Land zu reisen, und die Prediger durch die Musterung paßiren zu lassen. Er reisete daher aus, erkundigte sich überall genau nach der Prediger ihren Lebenswandel, lies an iedem Orte Prediger, Schulbedienten und Küster entweder auf das Rathaus oder in die Kirche kommen, und stelete in Beyseyn allerhand anderer neugierigen Zuhörer eine genaue Untersuchung an, welche oft eine halben Tag und länger währete. Die Prediger bekamen überhaupt einige Erinnerungen, wie sie leben, predigen und catechisiren sollten; [. . .]«.

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als auch erste Fehlentwicklungen der »philosophischen« Predigtweise kritisiert wurden. Die erste Generalerinnerung und deren Erläuterung lautete: »[. . .]: 1) sie solten selbst rechte Christen seyn, werden, und auf das thätige Christenthum dringen. Hierbey wurde erinnert a) man solle kurz predigen, nemlich drey Viertelstunden, welches die Aufmerksamkeit und Erbauung befördere; b) keine, sonderlich längstvergessene und den Zuhörern unbekante, Controversien treiben, und sich mit den alten Ketzern nicht mehr herumkeifen, wovon ein eigenes Edict heraus ist; c) kein saft- und kraftloses Zeug predigen, z. E. wenn man von der Leipziger Messe handelt; d) keine philosophische hohe Dinge vorbringen, oder bekante Dinge defi niren und demonstriren; e) man solle erbauliche Lieder singen lassen, und darinnen abwechseln.«403

Die gezielte Bevorzugung einer bestimmten theologischen Richtung war in diesen Ausführungen nicht zu erkennen. Daß die gegen die Orthodoxie gerichtete Kabinettsorder von 1739 auf die staatlich protegierte Vermittlung von homiletischen Anliegen des Pietismus und der Auf klärung hinauslief, zeigte auch das oben zitierte Schreiben des Königs an Freylinghausen, in dem bei aller (zurückhaltenden) Parteinahme für Baumgarten gleichzeitig die Erwartung geäußert wurde, »bei der erbaulichen Lehrart, so wie der selige Breithaupt und Francke solche gebrauchet haben, [zu] bleiben«. In eine ähnliche Richtung wiesen dann auch offizielle Verlautbarungen bei der Umsetzung der Order. Denn bald darauf wurde am 9. Januar 1740 ein Extrakt der Kabinettsorder publiziert, der wesentliche Inhalte des Erlasses von 1739 wiederholte und diese nun nicht mehr nur für Theologiestudenten und Kandidaten, sondern auch alle reformierten Prediger, die das 40. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten, verpfl ichtend machte.404 Die Durchführung dieser Anweisung in der Praxis dokumentiert im übrigen eine umfangreiche, erhalten gebliebene Akte.405 Um die Zuhörer einer Predigt »erbaulich [zu] überzeuge[n]«, schärfte der knappe Text noch einmal die Notwendigkeit einer »erbauliche[n] Methode im Predigen« ein, indem auf »erbauliche Erklärung derer Textes=Worte« und auf die Unterdrückung »zur Erbauung gantz und gar nicht dienenden Umstände« bzw. »zur Erbauung gar nicht dienenden Sachen« gedrängt wurde.406 Zu diesem Zweck empfahl die Verordnung »die gute Art zu predigen des Ober=Hof=Predigers Jablonsky, imgleichen des Probst Reinbecks zum Muster und Exempel, [zu] nehmen, als in deren Predigten, benebst einer kurtzen, deutlichen und erbaulichen Erklärung derer Textes=Worte, 403

Acta historico-ecclesiastica 3 (1738), 253 f. Allergnädigste Verordnung wegen der Prediger und Candidaten deutlichen Lehr=Art, 327 f. (Beilage B: Extract aus der Cabinets-Ordre de Dato den 9. Jan. 1740); siehe auch die Textdokumentation im Anhang zu dieser Arbeit. 405 GStA PK, HA I, Rep. 76 alt V, Nr. 32, Bl. 1r-56r. 406 Alle Zitate Allergnädigste Verordnung wegen der Prediger und Candidaten deutlichen Lehr=Art, 327 f. (Beilage B). 404

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Schlüsse auf Schlüsse zu fi nden, wodurch die Hertzen derer Zuhörer gerühret, und von dem Grunde und der Wahrheit erbaulich überzeuget werden«407.

Die pietistische Hauptforderung nach »Erbauung« fand damit ihre hochoffizielle Verknüpfung mit Reinbecks (und Jablonskis) Predigtweise, die auf die oben angedeutete Weise die auf klärerische, auf Deutlichkeit, Ordnung und Überzeugung ausgerichtete Erklärung eines Textes mit der vom Pietismus genährten »Rührung des Hertzens« verband.408 Eine solche Intention der Order harmonierte nicht zuletzt mit der »Herzens- und Vernunftreligion König Friedrich Wilhelms I.«409, die dessen persönliche Frömmigkeit als Synthese von pietistischen und auf klärerischen Welt-, Lebens- und Glaubensauffassungen erscheinen läßt.410 Weitere Hinweise auf die obrigkeitlich gewünschte Vermittlung von Pietismus und Aufklärung fi nden sich im Zusammenhang der am 8. Februar 1740 erfolgten Ausweitung der Order auf die lutherischen Konfessionsangehörigen in den preußischen Territorien. Bei einem mit Erläuterungen versehenen Abdruck der Kabinettsorder durch den bereits erwähnten, in der Grafschaft Ravensberg411 amtierenden Johann Matthias Cappelmann412 referierte dieser partiell aus einem ihm offenbar vorliegenden Schreiben, worin es hieß, daß Propst Reinbeck für die lutherischen Prediger zur Anfertigung einer homiletischen Anwendung der Order angewiesen worden sei (in Entsprechung zu Jablonski, der dies für die reformierten tun sollte).413 Dafür sollte er (Reinbeck) sich an August Hermann Franckes Sendschreiben vom erbaulichen

407

Allergnädigste Verordnung wegen der Prediger und Candidaten deutlichen Lehr=Art, 328 (Beilage B). 408 Ohne nähere Kenntnis der historischen Veranlassung und Kontexte der Kabinettsorder notiert eine ähnliche Verbindung von Pietismus und Auf klärung als für den Geist derselben kennzeichnend der Katalogtext einer Austellung, in welcher die Akte des historischen Staatsarchivs Königsberg »Die Einrichtung der Lehrart im Predigen 1740« (GStA PK, HA XX, Etatsministerium Abt. 37 b 3, Nr. 7) gezeigt wurde; Kirche im Dorf, 192. 409 W. Gericke: Die Herzens- und Vernunftreligion König Friedrich Wilhelms I. und ein apokryphes Glaubensbekenntnis von 1696/1718, in: ders.: Glaubenszeugnisse und Konfessionspolitik der Brandenburgischen Herrscher bis zur Preußischen Union 1540 bis 1815, Bielefeld 1977, 53–67. 410 Vgl. bes. Gericke: Die Herzens- und Vernunftreligion, 62 f. 411 Die Grafschaft Ravensberg war im 17. Jahrhundert an Brandenburg gefallen. Cappelmann versicherte am Ende seines Vorberichts, daß er alles, was er zitiert habe, »copeilich besitz[e]«; Beiträge zu Beredsamkeit, Tl. 1 (1741), 188. 412 Beiträge zu Beredsamkeit, Tl. 1 (1741), 184–200. Zu Cappelmann s. o. Kap. 2, Abschn. 3.3.3. 413 Beiträge zu Beredsamkeit, Tl. 1(1741), 187: »Der berühmte älteste Hofprediger Jablonski ergrif die Feder zum allerhöchsten Gefallen Ihro Höchstsel. Majestät und zum Besten derer Evangelisch-Reformirten Candidaten Theol., um eine kurze jedoch gründliche Lehrart schlüssig und erbaulich, der Königlichen Intention gemäß, die Predigten einzurichten, zu entwerfen und in den Druck zu geben.«

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Predigen 414 orientieren.415 Cappelmann sah diese Forderung – man kann dies als Indiz für Reinbecks gelungene Synthese von Pietismus und Auf klärung werten – im Vorbericht zu Gottscheds Grund-Riß einer Lehr-Arth ordentlich und erbaulich zu predigen (in dem Reinbeck eine gedrängte, in neun Regeln gefaßte Homiletik bot) 416 vorbildlich eingelöst.417 Der Text des von Cappelmann zitierten Schreibens – eines Briefes Friedrich Wilhelms an Reinbeck vom 8. Februar 1740 – scheint im übrigen in verschiedenen Territorien bei der Einführung der Order zum offi ziellen Anweisungstext gehört zu haben. Denn eine vollständige Abschrift des Briefes ist auch im Zusammenhang der Umsetzung der Order in der lutherischen Kirche Ostpreußens überliefert.418 Diese Abschrift bestätigt nicht nur die Beauftragung des reformierten Hofpredigers Jablonski mit der Anfertigung einer bislang nicht nachweisbaren Homiletik,419 sondern auch das vom König in Reinbeck gelegte Vertrauen sowie die Erwartung, die zu schreibende Predigtanweisung tatsächlich nach dem Vorbild Franckes abzufassen.420 414 A. H. Francke: Vom erbaulichen Predigen, Oder Die Frage: Wie ein treuer Lehrer, der gern seine Predigten zur Gewinnung und Erbauung seiner Zuhörer im(m)er weißlicher einrichten, und ihnen Christum im(m)er besser verkündigen und vor die Augen mahlen wolte, die Sachen anzugreiffen habe, daß er denselbigen seinen so guten Zweck erreichen möge? In einem kurtzen Send=Schreiben von August Hermann Francke [. . .] beantwortet, und von guten Freunden, mit Consens des Autoris, zum Druck gegeben, [o. O.] 1725; auch abgedruckt in: ders.: Predigten II/ hrsg. von E. Peschke, Berlin; New York 1989, 3–10. 415 Beiträge zu Beredsamkeit, Tl. 1 (1741), 187: »›Sr. Königl. Maj. trugen hiebei zu der wahren Gottesfurcht, und gründlichen Theologischen Gelahrsamkeit des Herrn Probstes Reinbecks das allergnädigste Vertrauen, er würde eine gleiche Arbeit vor die Evangelisch-Lutherische Candidaten unternehmen, zumahl da seine Predigten in verschiedenen Cabinets-Ordres zum Modell und Norm vorgestellet worden, überdem dieses kleine Werk wenig Mühe kosten würde, wenn man des verstorbenen Prof. Frankens bekannten und in etlichen Blättern bestehenden Sendschreibens bedienen würde (de dato Berl. den 8ten Febr. 1740)‹«. 416 Reinbeck: Vorbericht und Einleitung, Bl. a2r-h7v. 417 Beiträge zu Beredsamkeit, Tl. 1 (1741), 187 f.: »Der Hr. Probst hat diesen an ihn ergangenen Befehl in Verfertigung einer Vorrede zu der Schrift, in welcher diese allergnädigste Cabinets-Ordre erkläret und erläutert worden, gehorsamst vollzogen.« 418 GStA PK, HA XX, EM Abt. 37 b 3, Nr. 7: Die Einrichtung der Lehrart im Predigen 1740, fol. 5r. Eine Edition dieses Schreibens befi ndet sich im Anhang zu dieser Arbeit. – Die einzige präzise Erwähnung dieses königlichen Befehls an Reinbeck notiert G. v. Reinbeck: Leben und Wirken, 86. 419 Ebenfalls erwähnt von Zezschwitz: Geschichte der Predigt, 320 auf mir unbekannter Quellengrundlage die nicht nachweisbare Homiletik Jablonskis: »Der Berliner Hofprediger und Superintendent Dan. Ernst Jablonski, † 1741, durch seinen Briefwechsel mit Leibnitz in weiteren Kreisen bekannt, darf mit seiner ›Vorschrift an die reformierten Kandidaten, wie eine erbauliche Predigt einzurichten sei‹, die Reihe dieser bessern, von ungesunder Scholastik im ganzen sich frei erhaltenden Vertreter aus reformierten Kreisen schließen.« 420 Der König äußerte gegenüber Reinbeck (GStA PK, HA XX, EM Abt. 37 b 3, Nr. 7, Bl. 5r): »[. . .]; Also tragen Wir auch zu Eurer wahren pietaet und Profunden Theologischen

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Doch zurück zur Chronologie der Ereignisse: Knapp eine Woche nach der Publikation des Extraktes erging am 15. Januar 1740 an das EvangelischReformierte Kirchendirektorium eine weitere Anordnung, in der den Theologischen Fakultäten in Frankfurt/Oder und Duisburg sowie den reformierten Professoren der Theologie der Universität Königsberg und an den Gymnasien zu Halle und Lingen befohlen wurde, die Theologiestudenten nicht nur in der zuvor beschriebenen Predigtmethode zu unterrichten, sondern zugleich auch »alle Quartal eine von solchen Studiosis, welche Landes=Kinder [sind], elaborirte Predigten an Uns ein[zu]schicken«421. Am 27. Januar erhielt dann das Geistliche Departement vom König in einem aktenkundigen Schreiben die mit der Publikation des Extraktes in Zusammenhang stehende Anweisung, Hofprediger Jablonski »von aller seiner sonst gewöhnlichen Arbeit« zu dispensiren, weil dieser in einer Art Predigerseminar die in Berlin »anwesende Reformirte junge Prediger und Candidaten, welche [. . .] unter 30. Jahr seynd, Wöchentlich Ein oder Zweymahl, entweder in der Kirche oder in seiner Behausung vernehmen, und selbigen zum Predigen, nach seiner Methode und LehrArth, alß welche Seiner Königl(ich)en Majest(ät) besonders allergnädigst wohlgefällt, gründlich unterrichten und anführen solle«.422

Den Schlußpunkt unter die zwei Monate vor Friedrich Wilhelms Tod noch so emsig betriebenen Maßnahmen zur Reformierung des Predigtwesens in Kurbrandenburg-Preußen bildete die bereits erwähnte, an die Konsistorialräte Reinbeck und Roloff gerichtete Verordnung vom 8. Februar 1740, in der nun die bisherigen Bestimmungen und Regelungen auch auf die lutherischen Konfessionsangehörigen in den preußischen Landen ausgedehnt wurden.423 Die Verordnung wies dazu an, die in der Residenz befindlichen lutherischen Kandidaten der Theologie mit den königlichen Anweisungen bekannt zu machen sowie »selbige auch zu desto besserer Erreichung UnseErudition das allergnädigste Vertrauen, Ihr werdet Euch dergleichen Arbeit [sc. eine zu verfassende Predigtanweisung] für die Evangelisch=Lutherische Candidaten desto weniger entziehen, da Eure Predigten in verschiedenen Cabinetsordres zum Modell und Norm vorgestellet worden, überdem dieses kleine Werck wenig Mühe kosten kann, wenn man des verstorbenen Professoris Francken Send Schreibens sich bey der verfertigung bediene.« 421 Allergnädigste Verordnung wegen der Prediger und Candidaten deutlichen Lehr=Art, 327–330 (Beilage C); Zitat ebd, 329 f.; vgl. den Textabdruck des königlichen Schreibens im Anhang zu dieser Arbeit. – Zum Aktenmaterial siehe in: GStA PK, HA I, Rep. 47, Nr. 16 (unfoliert!). 422 GStA PK, HA I, Rep. 47, Nr. 16 (unfol.). 423 Allergnädigste Verordnung wegen der Prediger und Candidaten deutlichen Lehr=Art, 325 f.; zum Text siehe im Anhang zu dieser Arbeit. – Die Umsetzung der Order in den Territorien ist z. B. für Kurbrandenburg dokumentiert in: ELAB, Depositum St. Marien/St. Nicolai, Rep. I, Nr. 741 (unfol.); für Ostpreußen dokumentiert dies eine ganze Akte: GStA PK, HA XX, EM Abt. 37 b 3, Nr. 7.

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rer hiebey führenden heilsamen Absicht, zuweilen über gewisse ihnen expresse vorzuschreibende Texte Predigten elaboriren und zur Censur einreichen zu lassen«424. Im Text der Verordnung, die in einem zweiten Schritt dann auch den lutherischen Fakultäten der kurbrandenburg-preußischen Lande bekannt gemacht wurde, hieß es über die an Reinbeck und Jablonski gerichtete, bei Mylius überlieferte Textfassung hinaus, daß hinsichtlich des Inhalts der Order vom 7. März 1739 sowie der Schreiben vom 9. und 15. Januar 1740 »in diesem Stuck zwischen Evangelisch-Reformirten und Evangelisch-Lutherischen, kein Unterschied seyn muß«, weshalb das lutherische Konsistorium angewiesen wird, sich »gleichfalls demnach zu achten«425. Damit zog die Verordnung, die auf diesem Weg die Kabinettsorder vom 7. März auch für die lutherische Theologische Fakultät in Halle verpfl ichtend machte, den endgültigen Schlußstrich unter die Wolffschen Streitigkeiten. Zugleich wurde sie aber auch zu einem Markstein auf dem Weg unionistischer Bestrebungen in Preußen,426 die – von lutherischer Seite als »Syncretismus borussicus« kritisiert – nicht nur Jablonski, sondern auch dem Einfluß Reinbecks angelastet wurden.427 Diese Entwicklung wurzelte in der Überzeugung des Königs, »daß die konfessionellen Differenzen eigentlich nur ›von die Prediger Zenckereien‹ herrührten, daß es sich hier nur um ein ›Pfaffengezänck‹ handele«428 . Über die Auswirkungen der nicht zuletzt aus unionistischen Gründen landesherrlich geförderten Predigtreform in Preußen können im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nur Andeutungen gemacht werden. Nachprüf bare Folgen zog der Erlaß von 1739/40 im Lehrbetrieb der preußischen Universitäten und auf pfarramtlicher Ebene nach sich. Daß Siegmund Jacob Baumgarten in Halle offenbar unmittelbar nach Erscheinen von Gottscheds Predigtlehrbuch Vorlesungen über selbiges abzuhalten begann, wurde be424

Allergnädigste Verordnung wegen der Prediger und Candidaten deutlichen Lehr=Art, 326. 425 Beide Zitate aus dem Entwurfstext einer ebenfalls auf den 8. Februar 1740 datierten Verordnung Friedrich Wilhelms I.: »An alle Königl. Universitates und Gymnasia Evangelisch Reformirter so wohl, als Lutherischer Religion«, Berlin, 8. Februar 1740, GStA PK, HA I, Rep. 47, Nr. 16 (unfol.). 426 Darauf verweist schon rein äußerlich der Umstand, daß die königliche Anweisung an Roloff und Reinbeck vom 8. Februar 1740 samt der Order und den Beilagen einer »Unionsakte« einverleibt wurde: ELAB, Depositum St. Marien/St. Nicolai, Rep. I, Nr. 741: Acta Von den zwischen der Lutherischen= und Reformirten=Geistlichkeit in Rücksicht der Lehrbegriffe entstandenen Zwistigkeiten, ingl: wegen Verbeßerung der lutherischen Kirchen und Schulverfaßung. 1719–1786 (unfol.). – Über die bis in die Anfänge der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. zurückreichenden unionistischen Bestrebungen informiert u. a. [Nicolovius:] Erinnerungen an die Kurfürsten, 244 f. 253. 427 Vgl. Gericke: Glaubenszeugnisse, 58. 428 Gericke: Glaubenszeugnisse, 57; vgl. auch Gundermann: Verordnete Eintracht, 155.

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reits erwähnt429 und muß als direkte Folge der nun auch für Halle verbindlichen Richtlinien430 eingeschätzt werden. Auch für die Universität Duisburg wird der Einzug der Auf klärung mit der Publikation der Kabinettsorder in Verbindung gebracht.431 Die bestürzten Reaktionen, die der Erlaß in der vom Pietismus beeinflußten Königsberger Albertina auslöste, notiert ein Brief Flottwells an Gottsched aus dem Jahr 1740, in dem es heißt: »Es ist ad Senatum Acad. ein hart Rescript von mehr als 8 Bogen von Hofe eingelaufen, dass alle jungen Studenten ja auch Prediger die N[eue?] Art zu denken, l’art de penser von Wolffen annehmen sollen; sogar, dass wer nicht Wolffi aner ist, sich keiner Beförderung zu getrösten habe und alle Prediger unter 40 J[ahren] Wolffen Schrifften sich anschaffen, lesen und auf der Cantzel anwenden sollen [. . .]«.432

Ohne auf genaue Untersuchungen zurückgreifen zu können, muß davon ausgegangen werden, daß die Kabinettsorder auch in der ostpreußischen Landesuniversität entscheidend dafür verantwortlich war, daß die pietistische Partei in der Folgezeit zunehmend an Boden verlor. Die Einführung der Order im kirchlichen Bereich illustriert ferner der Bericht einer am 12. und 13. Juli 1740 in Iserlohn abgehaltenen Synodalkonferenz der lutherischen Pfarrer der nach dem jülich-klevischen Erbfolgestreit an Brandenburg gefallenen Grafschaft Mark. Laut einer Protokollnotiz erinnerte der Synodalinspektor die anwesenden Pfarrer – dem Text zufolge offenbar zum wiederholten Mal – an die »sub dato d. 21 April annis currentis ergangen[e] Allergnädigst[e] Verordnung, in puncto der erbaulichen Lehr=Art im Predigen«433, wobei er ermahnte, »daß man in allen Classen, so wol, von seiten der Prediger als Candidaten, sich sorgfältig darnach richten möge«434. 429

S. o. Kap. 2, Abschn. 3.3.2. Nach freundlicher Mitteilung von Herrn Archivangestellten Stephan Utpatel (GStA PK Berlin) befi ndet sich im von Schrader: Geschichte, Tl. 1, 330 in Anm. 46 erwähnten, die Theologische Fakultät Halle betreffenden Aktenbestand (1726–1757) ein Druckexemplar der Kabinettsorder. Das belegt eindeutig, daß diese dort tatsächlich publiziert wurde. 431 W. Ring: Geschichte der Universität Duisburg: mit einem Lageplan, Duisburg 1920, 110. 432 Zit. nach Langel: Die Entwicklung des Schulwesens, 67. 433 Die evangelisch-lutherische Kirche in der Grafschaft Mark: Verfassung, Rechtsprechung und Lehre. Kirchenrechtliche Quellen von 1710 bis 1800. Bd. 1: Acta Synodalia von 1710 bis 1767/ vorbereitet, durchgearbeitet und kommentiert von W. Göbell, Bethel 1961, 239. – Das nur hier begegnende Datum 21. April 1740 kann die kirchenamtliche Publikation der Kabinettsordern von 1739/40, um die es angesichts der klaren inhaltlichen Bezeichnung zweifelsohne geht, in der Grafschaft Mark bedeuten. 434 Die evangelisch-lutherische Kirche in der Grafschaft Mark, Bd. 1, 239 f. – Zur Erläuterung der im Protokoll erwähnten Order verwies der Bearbeiter Walter Göbell ebd, 239 in Anm. 17 unzutreffend auf zwei zuvor (1715, 1717) erlassene Verordnungen, in denen es nicht um die »erbauliche Lehr=Art im Predigen«, sondern um die zeitliche Limitierung der Predigtdauer auf eine Stunde ging; der Hinweis auf die preußische Kabinettsorder vom 7. März 1739 bzw. ihre Ausdehnung auf die lutherischen Konfessionsangehöri430

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Daß der eben erwähnte Johann Matthias Cappelmann die preußische Kabinettsorder eigens mit einem Abdruck in seinen Beiträgen zur Beredsamkeit derer geistlichen Lehrer würdigte, kann daher nicht verwundern, denn als Steinhagener Pfarrer in der Grafschaft Ravensberg, die wie die Grafschaft Mark seit 1614 unter brandenburg-preußischer Verwaltung stand, war auch er auf die Kabinettsorder kirchenamtlich festgelegt. Die Beispiele, daß die Order ihre Adressaten in den unter brandenburg-preußischer Verwaltung stehenden Territorien erreichte, ließen sich durch entsprechende Nachforschungen zweifelsohne vermehren. Die Verbindlichkeit des königlichen Befehls für die pastorale Praxis in Preußen wird noch Jahrzehnte nach seinem Erlaß eingeschärft.435 Daß die Einführung der Order dabei in der Praxis nicht immer ungehindert vonstatten ging und womöglich v. a. von älteren Predigern orthodoxer oder pietistischer Prägung als nicht hinnehmbarer Eingriff in die allein vor ihrem Gewissen verantwortete Art und Weise der Kanzelverkündigung empfunden wurde, dokumentiert beispielsweise der aktenkundige Einspruch des bekannten reformierten Gelehrten und Theologen Jacob Elsner, der in einer Appellation an den preußischen König seine bisherige Predigtweise selbstbewußt gegenüber den angestrebten Neuerungen verteidigte436 und mit Blick auf die ausgegebenen Predigtvorbilder Reinbeck und Jablonski – beides Amtskollegen von ihm – in konfessorischem Gestus äußerte: »Die anderen Prediger [sc. Reinbeck und Jablonski; A. S.] halte in ihren Würden, und vor so gescheut daß es ihnen nicht in den Sinn kommen wird, daß ich meine Predigten nach den ihrigen einrichten soll. Davon werden wir alle vor den Richgen durch den Erlaß vom 8. Februar 1740 fehlt. Vgl. J. J. Scotti: Sammlung der Gesetze und Verordnungen, welche in dem Herzogthum Cleve und in der Grafschaft Mark über Gegenstände der Landeshoheit, Verfassung, Verwaltung und Rechtspflege ergangen sind, vom Jahre 1418 bis zum Eintritt der königlich preußischen Regierungen im Jahre 1816. Zweiter Theil: vom Jahr 1701 bis zum Jahr 1750, Düsseldorf 1826, 866 (Nr. 709). 917 (Nr. 767). 920 (Nr. 777). 435 W. H. Beckher: Preußische Kirchenregistratur, oder Kurzer Auszug Königlich= Preußischer Edicten und Verordnungen, welche in Kirchen= und Schulsachen in dem Königreich Preußen publiciret worden, und von den Erzpriestern und Predigern wie auch übrigen Kirchen= und Schulbedienten beobachtet werden müssen, oder irgend sonst dieselben angehen. Zweyte, um die Hälfte vermehrte Aufl age, Königsberg; Leipzig 1769, 97 notiert: »Wie und welcher gestalt die Predigten, von denen unter 40 Jahren seyenden Evangelischen Lutherischen und Evangelischen Reformirten Predigern, als zwischen welche kein Unterscheid seyn soll, imgleichen von den Candidatis und Studiosis eingerichtet werden sollen, insbesondere nach dem Exempel Jablonski und Reinbecks in Berlin, davon handelt das Rescript und Verordnung nebst verschiedenen Beylagen, Kön.[igsberg] 12. Apr. 1740.« 436 GStA PK, HA I, Rep. 76 alt V, Nr. 32, Bl. 14v. – Es handelt sich um die Abschrift eines auf den 22. Januar 1740 datierten Schreibens, auf der Elsners Name nachträglich von anderer Hand notiert wurde. Jacob Elsner (1692–1750; zu ihm ADB 6 [1877], 68 f.) war seit 1730 Rektor des Joachimsthalschen Gymnasiums in Berlin, später auch Konsistorialrat und Mitglied im reformierten Kirchendirektorium.

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terstuhl Jesu Christi unseres Ertz Hirten rechenschafft geben müßen. [Absatz] Die deutliche und kräfftige LehrArth Jesu und seiner H. Apostel sind mein Muster und Vorbild, dem ich mit aller Macht nachzukommen trachte. Damit werde in Gottes Nahmen fortfahren: wozu Er selbst, der Allmächtige und Gnadenreiche Licht, Geist und Krafft verleihen wolle um Jesu Christi willen Amen.«437

Wie stark die Widerstände bei der Einführung der Order insgesamt waren, läßt sich angesichts solcher zufälligen Funde derzeit jedoch nicht aussagen. Den kircheninternen Kritikern der Kabinettsorder standen die auf klärungsfreundlichen Kreise der Pfarrerschaft gegenüber, wie z. B. der nahe Rinteln wirkende Engener Pfarrer Johann Wilhelm Steinböhmer,438 der in einer 1741 von ihm publizierten Sammlung eigener Predigten äußerte, sich – freiwillig oder vorgeschriebenermaßen – nach den Regeln der Order gerichtet zu haben: »›Bey Ausarbeitung dieser Predigten ist dieses mein angelegentlichstes Geschäffte gewesen, mich nach dem allerdurchlauchtigsten Muster, welches weyland Sr. Kön. Maj. höchstseel. Andenkens in Dero vortrefl ichen Cabinets=Ordre wegen Einrichtung der Predigten, der gantzen gelehrten Welt dargestellet haben, nach dem Maaß, wie es die Beschaffenheit meiner Zuhörer erlaubet hat, gewissenhaft zu richten: Ich habe dafür gehalten, daß ich mich in so fern der Vollkommenheit selbst nähern würde, je mehr ich mich würde bestreben, diese unverbesserliche Vorschrift zu meiner Regel anzunehmen.‹«439

Daß die auf homiletische Versöhnung von Pietismus und Auf klärung ausgerichtete Order mit ihrer Empfehlung Reinbecks als Predigtmuster in der Praxis die entgegengesetzte Wirkung erzielte, indem sie die Trennung der beiden Lager forcierte, kann aus einer anderen Bemerkung Steinböhmers gefolgert werden, in der der Pfarrer mit Blick auf die Entwicklung seines Predigtgeschmacks bekannte: »›Mein Geschmack hat sich in Ansehung der Rambachischen Predigten, seit dem mir des Hrn. Reinbecks und sonderlich des unvergleichlichen Tillotsons Reden in die Hände gerathen, sehr geändert: hier herrschet Einsicht und Gründlichkeit, dort herrschet Uberfluß an Worten.‹«440

Unter diesen Umständen kann es nicht überraschen, wenn Steinböhmer Gottscheds Homiletik seinen Lesern wärmstens empfahl.441 437 438

GStA PK, HA I, Rep. 76 alt V, Nr. 32, Bl. 14v. Zu Steinböhmer (1707–1758) siehe Bauks: Die evangelischen Pfarrer in Westfalen,

489. 439

J. W. Steinböhmer: Göttliche Warheiten in öffentlichen Reden vorgetragen, Lemgo 1741, zit. nach einer Rezension des Werks in: Nachrichten von den neuesten Theologischen Büchern und Schrifften 1 (1742), 170 f. – Ein Exemplar von Steinböhmers Predigtband habe ich bislang in keiner deutschen Bibliothek nachweisen können. 440 Nachrichten von den neuesten Theologischen Büchern und Schrifften 1 (1742), 171. 441 In der Rezension von Steinböhmers Predigtband wurde der Verfasser wie folgt re-

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Über ihre konkreten historischen Bezugspunkte hinausgehend besiegelten daher die Kabinettsorder und Gottscheds Homiletik – worauf James Jacob Fehr zuletzt hingewiesen hat – »den endgültigen Sieg der Wolffianer in Preußen unter Friedrich Wilhelm, denn sie signalisierte, daß selbst in ›Religionssachen‹, die vorher von Halle gesteuert oder beeinflußt werden konnten, die politischen Instanzen zum Wolffschen Lager übergewechselt waren«442 . 3.3 Graf Manteuffel als Predigtreformer und die Entstehung von Gottscheds Predigtlehrbuch Wenn demnach bezweifelt werden muß, daß die Alethophilen als direkte Drahtzieher »hinter der Kabinettsordre Friedrich Wilhelms I. vom 7. 3. 1739 [standen]«443, so hatten doch die »Wahrheitsfreunde« mit Ernst Christoph Reichsgraf von Manteuffel444 den antriebsstarken Motor für eine ganze Serie von Propagandaaktionen, die sich allesamt um die von Gottsched theoretisch begründete und von Reinbeck praktisch vertretene »philosophische« Predigtweise sowie die preußische Kabinettssorder rankten. Selbstverständlich wiesen nicht alle homiletischen Publikationen der Alethophilen, wie etwa die des Berliner Hugenottenpredigers Samuel Formey445 oder des reformierten Berliner Hofpredigers August Friedrich Wilhelm Sack,446 Verferiert: Nachrichten von den neuesten Theologischen Büchern und Schriften 1 (1742), 170: »Zuletzt wird der Berlinische Grundriß einer Lehrart erbaulich zu predigen, als ein vortrefl iches Werck angepriesen [. . .]«. 442 Fehr: »Ein wunderlicher nexus rerum«, 178. 443 So E. Wolf: Alethophile, RGG3 1 (1957), 226. 444 Zu Manteuffel (1676–1749) siehe J. Ch. Gottsched: Personalien, oder ruhmvolles Andenken der vornehmsten Lebensumstande [. . .] Herrn Ernst Christoph des H. R. R. Grafen von Manteufel, GAW IX/1, 333–352; ADB 20 (1884), 256 f. (Flathe); E. Wolff: Gottscheds Stellung, Bd. 1, 207–230; Th. v. Seydewitz: Ernst Christoph Graf Manteuffel: Kabinettsminister Augusts des Starken: Persönlichkeit und Wirken, Dresden 1926. 445 [S. Formey:] Sur le predication, 1753; Exemplar der Bibliothek des Predigerseminars Wittenberg: 8° PTh. 35; dt.: [ders.:] Briefe vom Predigen, Bremen 1754. – Zu Johann Heinrich Samuel Formey (1711–1797), dem Sekretär der Berliner Akademie (seit 1748), siehe ADB 7 (1878), 156 f.; W. Krauss: Ein Akademiesekretär vor 200 Jahren: Samuel Formey, in: ders.: Studien zur deutschen und französischen Auf klärung, Berlin 1963, 53–62; R. Geissler: Die Hugenotten im literarischen Leben Berlins, in: Hugenotten in Berlin/ hrsg. von G. Bregulla, Berlin 1988, 374–380. 446 August Friedrich Wilhelm Sack: Vorrede von dem Nutzen moralischer Predigten, in: Jacob Foster: Reden, über wichtige Wahrheiten der christlichen Religion. Aus dem Englischen übersetzt. Erster Theil. Nebst einer Vorrede August Friedr. Wilhelm Sacks, von dem Nutzen moralischer Predigten, Frankfurt und Leipzig 1750, Bl. a7r-*7v; s. u. Kap. 5, Abschn. 2.1. – Sack (1703–1786) war auf Empfehlung Reinbecks noch unter Friedrich Wilhelm I. 1740 auf die dritte Hofpredigerstelle berufen worden, was als Ergebnis des alethophilischen Beziehungsnetzwerkes interpretiert werden kann; zu Biographie und Werk siehe BBKL 8 (1994), 1160 f. ( J. Jürgen Seidel); M. Pockrandt: Biblische Auf klä-

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bindungslinien zu Manteuffel als dem spiritus rector und unumstrittenem Haupt der »Wahrheitsfreunde« auf. Dennoch war die Intensität, mit der sich der Graf mit Fragen der Predigtreform beschäftigte, für das Wirken der Alethophilen insgesamt signifi kant. Dabei erstreckte sich sein Engagement hauptsächlich auf die Konzeption und Organisation von Propagandaaktionen bzw. auf die Motivierung der Sozietätsmitglieder zu eben solchen; daneben wurde er mit Übersetzungen von reformhomiletischen Predigtsammlungen ins Französische auch publizistisch tätig. Wenn Reinbeck für die auf klärerische Predigtreform den kirchenpolitischen Rückhalt repräsentierte, erwies sich Manteuffel daher als deren (gesellschafts)politischer Schutzpatron. Dies zeigte sich nirgends deutlicher als in der 1737 erfolgten Untersuchung gegen Gottsched wegen der homiletischen Passagen in dessen Ausführliche[r] Redekunst, wo er den nach Dresden Zitierten mit Empfehlungsschreiben an hochrangige Dresdner Politiker und Kirchenbeamte ausstattete und ihm in dieser Situation auch sonst alle nur denkbare Unterstützung zuteil werden ließ.447 Im Februar 1739 übersandte die Gottschedin, die ihres Zeichens eine »Wahrheitsfreundin« von beinahe »militante[r] Orientierung«448 gewesen zu sein scheint und dabei doch jenen Glaubensernst verkörperte, wie er für den überwiegenden Teil der deutschen Auf klärung kennzeichnend war,449 dann an den Grafen eine homiletische Satire, die dieser unter den Berliner Alethophilen zirkulieren ließ.450 Diese Satire, die eine gegen die Orthodoxie gerichtete Predigtauffassung mit einer Apologie der Wolffschen Philosophie im Sinne Gottscheds auf äußerst scharfzüngige Weise verknüpfte, war direkt von Manteuffel angeregt worden und wurde von ihm auch anonym zum Druck gebracht.451 Die Aufregung, die diese Schrift unter den Antiwolffianern auslöste, war dabei ganz erheblich.452 rung: Biographie und Theologie der Berliner Hofprediger August Friedrich Wilhelm Sack (1703–1786) und Friedrich Samuel Gottfried Sack (1738–1817), Berlin 2003. 447 S. u. Kap. 4, Abschn. 1.1.1 448 D. Döring: Die Philosophie, 85. 449 Vgl. A. Strassberger: Luise Adelgunde Victorie Gottsched und die Frömmigkeit: zur ars bene moriendi im Auf klärungszeitalter, HerChr 27 (2003), 99–120. 450 [L. A. V. Gottsched:] Horatii Als Eines Wohlerfahrnen Schiffers, treumeynender Zuruff An alle Wolfi aner, In einer Rede über die Worte der XIV. Ode des Iten Buchs betrachtet; Wobey zugleich die Neuere Wolfi sche Philosophie gründlich wiederleget wird, 1739. – Vgl. dazu W. Rieck: Eine anonyme Kanzelsatire als Verteidigungsschrift des Wolffianismus, in: Studien zur Geschichte der russischen Literatur des 18. Jahrhunderts/ hrsg. von H. Grasshoff; U. Lehmann, Bd. 4, Berlin 1970, 285–290; sowie ausführlich Strassberger: »Auf-Klärung« durch Satire?, 59–80. 451 Vgl. D. Döring: Die Philosophie, 88; ders.: Beiträge zur Geschichte, 124 f. 452 [Heinsius:] Unpartheyische Kirchen-Historie, Tl. 3, 741; hier die Schrift fälschlich Jean Des Champs zugeschrieben; vgl. Strassberger: »Auf-Klärung« durch Satire?, 61. 73 f.

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Reichlich zwei Wochen nach dem Erlaß der Kabinettsorder vom 7. März lobte Manteuffel als nächstes in einem ebenfalls anonymen, an den Hamburger Herausgeber einer Predigtsammlung gerichteten Schreiben eine goldene Preismünze für diejenige Predigt aus, die im öffentlichen Wettstreit die Lehre von der Auferstehung der Toten nach Gründen der Vernunft und der Heiligen Schrift am besten beweisen würde.453 Diese homiletische Preisaufgabe, die vermutlich die erste ihrer Art in Deutschland war, gelangte 1739/40 zur Durchführung und verband in ihrer Konzeption reformhomiletische mit religionsapologetischen Aspekten.454 Diese neue Form der Verbreitung und Propagierung auf klärerischen Wissens löste auf orthodoxer Seite einen so heftigen Widerstand aus, daß der Streit von der deutschsprachigen respublica literaria aufmerksam zur Kenntnis genommen wurde und so zur öffentlichen Anerkennung der »philosophischen« Predigt nicht unerheblich beitrug.455 Seit der Ostermesse war Manteuffel auch an vorderster Front bei der Entstehung von Gottscheds Homiletik tätig, indem er »die Korrespondenz mit Gottsched [führte] und [. . .] auf politischer Ebene den Erfolg des Werkes vor[bereitete]«456 . Obwohl die Entstehungsgeschichte von Gottscheds Homiletik (ohne Kenntnis des wahren Verfassers) erstmals kurz von Georg von Reinbeck skizziert,457 dann aber durch Danzel unter Nachweis von Gottscheds Autorschaft detailliert aufgearbeitet wurde,458 kann sie hier nicht völlig übergangen werden. Im Vorwort zu Gottscheds Homiletik berichtet Reinbeck zu den Hintergründen der Entstehung, daß es sein eigener Wunsch war, »daß jemand gefunden werden möchte, der Fähigkeit genung hätte, von allen, in erwehnter hohen Ordre befi ndlichen Puncten, gleichsam eine Auslegung zu machen, und dadurch eine etwas umständlichere Anleitung zu geben, wie ein Candidatus, oder auch selbst ein im Amt stehender Prediger, seine Predigten einzurichten, und worauf derselbe vornehmlich zu sehen hätte.«459

Weil er wegen überhäufter Amtsgeschäfte sich nicht selbst in der Lage sah, die Ausarbeitung zu übernehmen, holte er sich für die Delegierung der Ar-

453

Vgl. Schuler: Geschichte, Tl. 2, 192. Vgl. dazu ausführlich Andres Strassberger: Zwischen Predigtreform und Religionsapologetik: zur Konzeption und Durchführung einer homiletischen Preisaufgabe von 1739, in: Christentum im Übergang, 51–70. 455 Mehr dazu unten im Zusammenhang von Kap. 4, Abschn. 1.2. 456 D. Döring: Beiträge zur Geschichte, 126. 457 G. v. Reinbeck: Leben und Wirken, 85 f. 458 Danzel: Gottsched und seine Zeit, 40–48; vgl. auch E. Wolff: Gottscheds Stellung, Bd. 1, 192–195 (daran anschließend v. Seydewitz: Ernst Christoph Graf Manteuffel, 149–151); Wendland: Siebenhundert Jahre, 137 f. 459 Reinbeck: Vorbericht und Einleitung, Bl. a2v-3r. 454

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beit Rückendeckung beim König460 und fragte Manteuffel um Vermittlung eines geeigneten Autors an, der auf der Ostermesse 1739 in Leipzig bereits mit Gottsched darüber verhandelte.461 Die Idee einer von Gottsched anzufertigenden Homiletik verband sich beim Grafen mit einem älteren Plan, für den er im März 1738 den Leipziger Predigtreformer vergeblich zu gewinnen gesucht hatte. Denn nachdem Gottsched in seinem Verhör vor dem Dresdner Oberkonsistorium versprochen hatte, in einer zweiten Auflage der Ausführlichen Redekunst die homiletischen Passagen herauszustreichen,462 hatte der Reichsgraf Gottsched zu überreden versucht, das homiletische Kapitel zu ihm nach Berlin zu senden, damit er es in einem fi ngierten Raubdruck erneut zum Druck bringen könnte.463 Wohl aus Ängstlichkeit gegenüber seinen orthodoxen Widersachern hatte Gottsched dieses Angebot damals abgelehnt. Jetzt aber erklärte er sich zur Zusammenarbeit bereit und machte sich unter Manteuffels Fittichen an die Arbeit. Bereits am 6. Mai berichtete das Haupt der Alethophilen aus Leipzig gegenüber Reinbeck erste Fortschritte des Projektes.464 In der im Frühsommer einsetzenden und sich bis März des nächsten Jahres hinziehenden Ausarbeitungsphase wurden zeitweise täglich Briefe zwischen dem Reichsgrafen und Gottsched gewechselt,465 in denen Manteuffel überwiegend die Rolle des Antreibers, homiletischen Gutachters und Ratgebers zufiel. Die fertiggestellten Manuskriptbögen wurden dem Grafen zugesandt, der diese dann korrigierte und des öfteren auch Ergänzungen oder Veränderungen (etwa bei einigen besonders ausfällig geratenen Bemerkungen gegenüber Katholiken) anregte. Im September geriet die Arbeit zwischenzeitlich ins Stocken, weil Gottsched das unter höchster Geheimhaltungsstufe betriebene Projekt für verraten hielt. In einem Anfall von Panik bat er seinen Gönner flehentlich, von der Fortführung der Arbeit entbunden zu werden. Mühsam und nur unter dem Einsatz erheblicher Überredungskünste gelang es Manteuffel, seinen Schützling zur Fortsetzung der Arbeit zu bewegen. Gottsched lieferte nun weiterhin wöchentlich Bogen um Bogen, die in Berlin beim Alethophilenmitglied und Hausverleger der »Wahrheitsfreunde«, Ambrosius Haude, Stück für Stück in Druck gingen. Für den Fall, daß eine Postsendung in die Hände der Zensur fallen sollte, schrieb Frau Gottsched die Texte ihres Mannes vorher ab, um eine Identifi kation des Verfassers über die Handschrift auszuschließen. Die Arbeit gab dem Verfasser sogar Anlaß, über 460

Reinbeck: Vorbericht und Einleitung, Bl. a3v. Danzel: Gottsched und seine Zeit, 40. 462 Siehe dazu unten in Kap. 4, Abschn. 1.1.1. 463 Danzel: Gottsched und seine Zeit, 25; vgl. auch Wehr: J. C. Gottscheds Briefwechsel, 138. 464 Danzel: Gottsched und seine Zeit, 40 f. 465 Vgl. Danzel: Gottsched und seine Zeit, 40–48. 461

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gewisse Fehlentwicklungen der »philosophischen« Predigt zu reflektieren. Er meinte: »Es ist das ein gemeiner Fehler unserer neuen Wolffianischen Prediger, daß sie keine Redner sind. [. . .] Mein Freund May hat mir erzählt, wie die Leute so trocken und mager predigen, daß sie lauter Schlüsse in barbara celarent466 und recht metaphysische demonstrationes auf die Kanzel bringen. Das taugt nun ganz und gar nichts, und man muß in einem öffentlichen Vortrage auch der gründlichsten Wahrheiten, sich allemal erinnern, daß man nicht Weltweise, sondern unstudierte Zuhörer vor sich hat«467.

Manteuffel stimmte dem völlig bei und äußerte die Hoffnung, daß die in Ausarbeitung befi ndliche Homiletik dem entgegensteuern würde. Am 8. Februar 1740 erging im Zusammenhang der Ausdehnung der Kabinettsorder auf die lutherische Geistlichkeit an Reinbeck der bereits erwähnte Befehl, eine entsprechende homiletische Anweisung zu verfertigen, die die Kabinettsorder erläutern sollte.468 Da Gottscheds Homiletik zu diesem Zeitpunkt schon teilweise gedruckt vorlag, glaubte Reinbeck »Sr. Königl. Maj. Willens=Meinung durch Veranstaltung dieses Wercks schon vorgängig erfüllet zu haben«469 und kam dem Befehl formaliter dadurch nach, daß er die erwähnte, aus neun kommentierten Regeln bestehende kurze homiletische Anweisung aufsetzte und sie Gottscheds Predigtlehrbuch voranstellen ließ.470 Am 1. März 1740 schien sich dann endlich die Gelegenheit zu bieten, das mittlerweile schon weitgehend fertiggestellte Opus dem preußischen König zur Approbation vorzulegen, was aber durch die Verschlechterung seines Gesundheitszustandes verhindert wurde.471 Unterdessen neigte sich die Arbeit, der noch ein einschlägiger Publikationstitel fehlte, dem Ende entgegen. Verschiedene Titelvarianten wurden diskutiert: »Geistliche Redekunst« dürfe die Homiletik nicht heißen, befürchtete Gottsched doch, daß ein solcher Titel die Leser zu schnell auf ihn als Autor der »Ausführlichen Redekunst« führen würde. Daher machte Manteuffel in einem Brief vom 12. April 1740 eben jenen Titelvorschlag, unter dem das Buch dann als »Grund=Riß einer Lehr=Arth ordentlich und erbaulich zu predigen nach dem Inhalt der Königl. Preuß. allergnädigsten Cabinets-Ordre vom 7. Martii 1739 entworffen« zum Druck gelangte.472 Manteuffel lehnte sich mit der Titelformulierung nicht nur an zwei Haupt466 Merkworte (Phantasieworte) für verschiedene Möglichkeiten syllogistischer Schlußverfahren. 467 Zit. bei Danzel: Gottsched und seine Zeit, 46. 468 GStA PK, HA XX, EM Abt. 37 b 3, Nr. 7, fol. 5r. – Vgl. auch die Edition dieses Briefes im Quellenanhang dieser Arbeit. 469 Reinbeck: Vorbericht und Einleitung, Bl. a8v. 470 Reinbeck: Vorbericht und Einleitung, Bl. a2r-h7v. 471 Danzel: Gottsched und seine Zeit, 47. 472 Danzel: Gottsched und seine Zeit, 48.

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forderungen der Kabinettsorder an, sondern bezog sich wahrscheinlich auch unmittelbar auf den königlichen Befehl vom 8. Februar 1740, in dem Reinbeck angehalten worden war, »eine kurtze; jedoch gründliche Methode, schlüßig und erbaulich [. . .] die Predigten einzurichten«, anzufertigen.473. Manteuffel übernahm das vom König primär pietistisch konnotierte Stichwort der »Erbaulichkeit« (freilich in Gottscheds auf klärerischer Interpretation) und ersetzte das ebenfalls vernunftauf klärerischen Interessen entsprechende Stichwort der »Schlüssigkeit« durch »ordentlich« und führte auf diese Weise die vom König und vom Text der Kabinettsorder intendierte homiletische Versöhnung von Pietismus und Auf klärung im Titel eines Grund-Risses einer Lehr-Arth ordentlich und erbaulich zu predigen zusammen. Da Friedrich Wilhelm am 31. Mai verstarb, bekam er das in seinem Auftrag verfaßte Werk tatsächlich nie zu Gesicht. Aber es besteht m. E. kaum ein Zweifel, daß er dem Werk seine Approbation erteilt hätte. Bei der zweiten Auflage des homiletischen Lehrbuchs 1743, nach dem Tod des Königs und Reinbecks, glaubte Gottsched sich dann allerdings frei, dem Werk einen Titel zu geben, der seinen eigenen homiletischen Anliegen wesentlich deutlicher entsprach. Indem er eine Inkonsequenz im Titel der ersten Auflage vermied,474 fi rmierte seine Homiletik nun als Grundriß einer überzeugenden Lehrart im predigen. Klarer konnte Gottsched sein homiletisches Hauptinteresse tatsächlich nicht auf den Punkt bringen. Mit diesen Aktionen hatte sich Manteuffels Unterstützung der auf klärerischen Predigtreform jedoch nicht erschöpft. Über Jahre hinweg bemühte er sich zudem, die von ihm hochgeschätzten Predigten Reinbecks475 in Kreisen seiner adeligen Standesgenossen zu verbreiten, indem er mehrere seiner Predigtsammlungen ins Französische übersetzte.476 Bei einer dieser Predigtüber473 GStA PK, HA XX, EM Abt. 37 b 3, Nr. 7, fol. 5r. – Reinbeck referierte diesen königlichen Befehl in: [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, Bl. a8r-v mit den Worten, daß es »Se. Königl. Majestät gerne s[ä]hen, wenn der Consistorial-Rath und Probst Reinbeck [. . .] eine kurtze und gründliche Lehr=Art, die Predigten erbaulich einzurichten, zum besten der Lutherischen Candidaten im Druck heraus geben würde«. 474 Die im Titel der ersten Aufl age additiv ins Verhältnis zueinander gesetzten Attribute »ordentlich und erbaulich zu predigen« waren insofern unpräzise, als »ordentlich« eine Teilbestimmung von Gottscheds Erbauungsbegriff war. 475 In einem Brief an den Grafen Brühl (7. 6. 1738) erklärte Manteuffel emphatisch, der Propst sei »le plus grand et le plus savant predicateur«; zit. bei D. Döring: Beiträge zur Geschichte, 101 in Anm. 20. 476 Folgende Predigtübersetzungen besorgte Manteuffel selbst oder war als Übersetzer zumindest mitbeteiligt: J. G. Reinbeck: Sermons sur le mystère de la naissance de J. C. Prononcez le premier & le second Jour de Noël 1737, imprimiz par ordre de Sa Majesté; traduits par un Anonyme [Manteuffel], et par Messrs. S. Formey & J. Perard; dediez à Mr. Joachim Lange, Berlin & Leipsig 1738; ders.: Recueil de cinq sermons, traduits par un anonyme [Manteuffel] & par Mons. Jean Des-Champs, Berlin 1739 ( 21741); ders.: Nouveau recueil de quatre sermons; traduits [von Graf Manteuffel] de l’Allemand avec un ajouté de quelques pièces interéssants, Berlin & Leipsig 1741.

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setzungen wurde er zudem zum publizistischen Apologeten der Predigtreform, indem er Reinbeck vor dem Vorwurf in Schutz nahm, nur »philosophische« Predigten zu verfertigen.477 Bei einer anderen Übersetzung propagierte er die Kabinettsorder in französischer Sprache und verwies die Leser bei dieser Gelegenheit nachdrücklich auf Gottscheds Predigtlehrbuch.478 Ebenso steuerte er ein Vorwort zu einer Predigtsammlung des Berliner Hugenottenpredigers und »Alétophile français«, Jean Des Champs,479 bei, die den zeitgenössisch als »extrem« beurteilten Versuch unternahm, die Wolffsche Philosophie homiletisch anzuwenden.480 Nach dem Tode Reinbecks ging der Graf dann dazu über, das Predigtvorbild des Gottschedschülers Jerusalem zu propagieren, indem er nun dessen Predigten ins Französische übersetzte.481 Gleichzeitig gab er bei Alethophilen, wie z. B. Johann 477

Bei einer Anzeige von Reinbecks »Recueil de cinq sermons« (1739) hieß es in einer Zeitung: »Die letzte Predigt, welcher der ungenannte Uebersetzer [d. i. Manteuffel; A. S.] einen Vorbericht vorgesetzet hat, darinnen er auf die Beschuldigung, daß der Herr Probst nur philosophische Predigten machte, antwortet, hat zum Tittel: die Vernunft gefangen genommen unter den Gehorsam Christi, und ist über Joh. IV. 46–53.«; Nöthiger Beytrag zu den Neuen Zeitungen von Gelehrten Sachen, oder Umständliche Auszüge aus denen Gelehrten Monatschriften, welche In den Neuen Zeitungen von Gelehrten Sachen nicht Platz hatten, Theil 6, 20. Stück (7. November 1740), Leipzig 1740, 308. 478 Der Abdruck einer französischen Übersetzung der Kabinettsorder aus der Gazette d’Amsterdam vom 12. Juni 1739 in Reinbeck: Nouveau Recueil, 133–137; die Werbung für Gottscheds Homiletik in einem angehängten »Avis de l’Editeur« ebd, 138. 479 J. des Champs: Cinq Sermons sur divers Textes, expliqués selon la Methode du celebre Mr. Wolf, Prononces devant Sa Majeste la Reine de Prusse [. . .], Berlin 1740. – Die Schreibweise seines Namens variiert; zur Person (1707–1767) siehe U. Janssens-Knorsch: Jean Deschamps, Wolff-Übersetzer und »Aléthophile français« am Hofe Friedrichs des Großen, in: Christian Wolff 1679–1754, 254–265; dies.: The life and »Mémoires secrets« of Jean DesChamps (1707–1767): journalist, minister, and man of feeling, Amsterdam 1990. 480 Zur zeitgenössischen, von orthodoxer Seite geäußerten Kritik an diesen Predigten vgl. UN 1740, 156–158; vgl. zu Manteuffels Vorwort bei v. Seydewitz: Ernst Christoph Graf Manteuffel, 146; zu Des Champs »Sermons Wolfiens« vgl. auch D. Döring: Beiträge zur Geschichte, 104 in Anm. 33. 481 Nach dem Erscheinen der ersten Predigtsammlung Jerusalems (1745) brachte Manteuffel zunächst Übersetzungen der einzelnen Predigten zum Druck, die 1748 in einer Sammlung vereinigt erneut verlegt wurden: Discours sur l’evangile de St. Matth. ch. XXII. v. 15–22. Traduite par un anonyme, [o. O.] 1745; andere Ausgabe: Braunschweig 1745. – Discours sur l’evangile de St. Luc. ch. XVI, 1–9 [. . .]. Traduite par un anonyme, [o. O.] 1746. – Discours sur l’evangile de St. Jean XV, 26–27 et XVI, 1–4 [. . .]. Traduite par un anonyme, [o. O.] 1746. – Trois discours, prononcez en Allemand, en presence de la cour de Brounswic. Traduite par un anonyme, [o. O.] 1746. – J. F. W. Jerusalem: Recueil de six discours, prononcez en allemand par Mr. I. F. W. Ierusalem, traduits par un anonyme, et precedez d’une preface Mr. Le Baron de Wolff, Leipzig 1748. – Zu dieser Übersetzung vgl. die bei Danzel: Gottsched und seine Zeit, 319–326 zwischen Manteuffel, Gottsched und Jerusalem gewechselten Briefe; vgl. auch Waniek: Gottsched, 287 f.; zur Rezension der von Manteuffel übersetzten Einzelpredigten durch Gottsched siehe in: Neuer Büchersaal 1 (1745), 380 f.; Bd. 2 (1746), 188 f.; Bd. 3 (1746), 96. Über Gottsched ließ der Graf dem Braunschweig-Wolfenbüttelschen Hofprediger die erste Predigtübersetzung an-

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Adam Löw, Predigten zu bestimmten Themen in Auftrag482 oder aber er begutachtete die Predigten potentieller Alethophilenmitglieder.483 Zudem versuchte er im persönlichen Gespräch bei Reisen über Land, Pfarrer für eine aufgeklärte Predigt nach Grundsätzen der Philosophie Wolffs zu gewinnen, bzw. er versuchte, diese zur Benutzung von Gottscheds Predigtlehrbuch zu animieren.484 Bei Gelegenheit der Publikation von Jerusalems Predigten in der von Manteuffel angefertigten französischen Übersetzung (1748), die auf dem Titelblatt eine schöne Abbildung der Alethophilenmedaille mit dem Wahlspruch »Sapere aude!« zierte, gelang ihm schließlich auch der publizistische Coup, Christian Wolff für ein programmatisches Vorwort über die Verbindung von Vernunft und Schrift in der Predigt zu gewinnen, die von ihm ebenfalls ins Französische übersetzt wurde.485 Damit legte der nach Halle zurückgekehrte Philosoph, der in der Zeit seiner einstigen Jenaer und Leipziger Wirksamkeit selbst des öfteren gepredigt hatte,486 seinen einzigen Text onym zustellen, die das große Lob des Verfassers fand; vgl. dazu einen Brief der Gottschedin an Manteuffel vom 3. 11. 1745, abgedruckt in L. A. V. Gottsched: Louise Gottsched – »mit der Feder in der Hand«, 116 f.; vgl. dazu auch v. Seydewitz: Ernst Christoph Graf Manteuffel, 146, wo Manteuffel den Eindruck äußert, daß die französischen Übersetzungen viel stärker als das deutsche Original gekauft würden. 482 Löw an Gottsched, Gotha, 5.5. 1746, UBL, Ms 0342, Bd. 11, 178v: »[. . .] nemlich des Herrn Grafen von Manteuffel Excellenz mir schon vor geraumer Zeit befehlen lassen, gewisse Sätze in Form einer Predigt auszuarbeiten«. 483 D. Döring: Beiträge zur Geschichte, 121. 484 Vgl. dazu v. Seydewitz: Ernst Christoph Graf Manteuffel, 144 f.; D. Döring: Beiträge zur Geschichte, 122 f. 485 Die Vorrede Wolffs in französischer Übersetzung in: Jerusalem: Recueil de six discours, XI-XVII. – Die handschriftliche, in deutscher Sprache formulierte Urfassung hat sich im Wolff-Manteuffel-Briefwechsel erhalten; UBL, Ms 0347, Bl. 49 f.; der auf den 19. Februar 1747 datierte Begleitbrief Wolffs zu dem Text: ebd, Bl. 47 f.; einen (fehlerhaften) Abdruck dieses Textes bietet H. Ostertag: Der philosophische Gehalt des Wolff-Manteuffelschen Briefwechsels, Reprint der Ausgabe Leipzig 1910, Hildesheim; New York 1980 (WGW III/ 14), 178–180. 486 Vgl. Ch. Wolff: Eigene Lebensbeschreibung/ hrsg. mit einer Abhandlung über Wolff von Heinrich Wuttke, Reprint der Ausgabe Leipzig 1841, in: Ch. Wolff: Biographie, Hildesheim; New York 1980 (WGW; I/10), 128 f.: »Meine Predigten waren deswegen beliebt, auch selbst in Leipzig, wo ich das letztemahl in der Nicolaikirche am Pfi ngsttage A. 1706 geprediget, weil ich durch deutliche Begriffe die Sachen zu erklären suchte und immer eines aus dem andern deducirte, aus der Erklärung des Textes anfangs conclusiones theoreticas und nach dem aus diesen practicas zog, wo ich jeder Zeit auf die motiva media, impedimenta et remedia acht hatte und den Beweis nicht allein aus dictis scripturae, sondern aus den Begriffen führete. Es ist mir mehr als einmal gesagt worden, daß wenn man auch ungelehrte befragt, wie sie in meinen Predigten beständig ihre attention conserviren könnten, dergleichen sie in andern nicht thäten, sie geantwortet, mich könnten sie beständig verstehen, andere aber nicht, dahingegen öffters gelehrte zu mir gesaget, es wäre zwar gut, was ich gesaget, aber zu hoch für den gemeinen Mann.« Vgl. auch [Gottsched:] Historische Lobschrift, 19 f., der auf Grundlage der von ihm benutzten Selbstbiographie Wolffs über dessen Jenaer und Leipziger Zeit in enger Anlehnung an die

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vor, der in unmittelbarem Zusammenhang mit homiletischen Fragestellungen gehörte. Der Inhalt war zwar wenig spektakulär, gleichwohl durfte er aber aufgrund der Berühmtheit des Autors mit einiger Aufmerksamkeit rechnen. Wolff betonte hier stark die veränderten Zeiten, die eine religionsapologetische Veränderung der Predigtweise einforderten, und zwar wegen eines Paradigmenwechsels im allgemeinen Wahrheitsverständnis.487 Daher brachte er die für die »philosophische« Predigt typische Forderung vor, daß auf »deutliche und zusam(m)enhangende Begriffe« geachtet werden müsse, »welche in allem mit der Schrifft einstim(m)ig sind«488. Zwar räumte er ein, daß in Predigten kein vollständiges Lehrgebäude aufgerichtet werden könne, weil »daselbst bloß von eintzelen Materien, ja von eintzelen Theilen einer Materie gehandelt wird; allein es fi ndet doch auch hier ein vernünfftiger Vortrag stat sowohl in der Erklärung des vorgeschriebenen, oder selbst erwehlten Textes, als in deßen Anwendung. Und man braucht hierzu keine ander leges methodi, als desjenigen,

Quelle schrieb: »Dagegen unterließ ers nicht, sich im Predigen zu üben. Weil er sich allemal bemühete, deutliche Begriffe von den abgehandelten Materien zu geben; und eins aus dem andern herzuleiten: so gelung es ihm nicht übel damit. Diese Uebungen setzte er auch hier in Leipzig, als Magister, noch fort, und hielt noch 1706, am Pfi ngstdienstage, in der Nikolaskirche seine letzte Predigt; kurz zuvor, ehe er die mathematische Profession zu Halle erhielt. Seine Lehrart war, aus der Erklärung des Textes erstlich theoretische, sodann aus diesen auch praktische, oder sittliche Folgen zu ziehen. Die Beweise aber, pflegte er nicht nur aus biblischen Sprüchen, sondern auch aus den wesentlichen Begriffen der Sachen zu führen. Und diese Art der Ausführungen fand solchen Beyfall, daß auch Ungelehrte, wenn man sie befragte: wie es käme, daß sie seinem Vortrage die Aufmerksamkeit beybehalten könnten, welches ihnen in andern Predigten so schwer fiele? zur Antwort gaben: Es käme daher, weil sie Ihn allemahl verstehen könnten; andere aber nicht. Bey diesem Geständnisse war es zu verwundern; daß oft Gelehrte, die ihn gehöret, das Urtheil gefället: Was er sagte, das wäre zwar ganz gut; aber für den gemeinen Mann zu hoch gewesen.« 487 UBL, Ms 0347, Bl. 49v-50r (vgl. Ostertag: Der philosophische Gehalt, 179): »Wir leben zu einer Zeit, da man vernünfftig seyn wil, und die Wahrheit als Wahrheit erken(n)en, folgends in ihrem Zusam(m)enhange mit anderen und bekandten Wahrheiten einsehen, und solchergestalt dadurch daß das eine wahr ist begreiffen, daß auch das andere wahr seyn müße. Hier kan man sich nicht begnügen laßen an undeutlichen Begriffen (notiones confusae), sondern es werden deutliche dazu erfordert (notiones destinctae), und je scharfsichtiger einer ist, je vollständigere (magis adequatus) fordert er mit Recht. Und die Gründe (rationes) müßen aus den deutlichen Begriffen der Dinge hergeleitet, nicht aber außer diesen anders woher gesucht werden. Da nun die Profanität heute zu Tage immer mehr und mehr über Hand nimmet, und diejenigen, welche noch der natürlichen Religion einen Platz vergönnen, doch von der geoffenbahrten nichts wißen wollen; so ist nicht zu leugnen, daß die geoffenbahrten Wahrheiten einen andern Vortrag erforderten, als der bisher üblich gewese(ne).« 488 Beide Zitate UBL, Ms 0347, Bl. 50r; vgl. Ostertag: Der philosophische Gehalt, 179.

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darnach ein Lehrgebäude aufgerichtet werden muß, wen(n) alles auf einem festen Grunde beruhen und an einander hängen sol.«489

Den dabei auf Harmonie ausgerichteten Zusammenhang von Philosophie und Theologie brachte er abschließend in homiletischer Perspektive wie folgt zum Ausdruck: »Je mehr aber einer vernünfftig dencken gelernet, und je beßer er eine vernünfftige Metaphysik und darin(n)en gegründete Moral und Politick inne hat, folgends Vernunfft und Offenbahrung ohne Wiederspruch mit einander zu verknüpfen weiß, je beßer wird er hierin(n)en zurechte kom(m)en und [sich] als einen Meister zeigen.«490

Wolffs kurz vor der Jahrhundertmitte geäußerten Überlegungen zur Einrichtung »philosophischer« Predigten kam nachträglich gesehen beinahe der Charakter eines Vermächtnisses zu. Denn nur wenige Jahre darauf unterzog Wolffs Hallescher Kollege Georg Friedrich Meier das Modell einer zu stark an der Psychologie Wolffs orientierten Predigt einer Kritik, die zu einem nachhaltigen Einschnitt im homiletischen Diskurs führte. Manteuffel, der am 30. Januar 1749 starb, erlebte diesen Rückschlag für die von ihm geförderte »philosophische« Predigt aber nicht mehr. Sein außerordentlich lebhaftes Interesse an Fragen der Predigtreform dürfte sich dabei aus verschiedenen Quellen gespeist haben. Zum einen galten in seinen Augen die Pfarrer gewiß als »die wichtigsten ›Multiplikatoren‹ und ›opinion-leaders‹ des Ancien régime«, die »(. . .) vor dem Auf kommen des Meinungsjournalismus in der Tagespresse den stärksten Einfluß auf die Formierung der loyalen wie der oppositionellen öffentlichen Meinung (hatten)«491. Zum anderen zielte sein Auf klärungsverständnis (typisch für »Auf klärung« in Deutschland überhaupt) auf eine Denk- und Lebensreform des Einzelnen (bzw. der Gesellschaft), bei der der Bürger als Christ von der Kanzel über seine wahre »Bestimmung zum Menschen« (Spalding) »aufgeklärt« werden konnte und sollte. Obschon zwar Wolffs praktische Philosophie (Ethik) zu ihrer Begründung keines Offenbarungsglaubens mehr bedurfte, erwies sich dieser aber doch zu ihrer Durchsetzung als unentbehrlich, sodaß die Prediger hierfür in die Funktion von öffentlich bestellten »Lehrern der Tugend« eingesetzt wurden.492 Unter diesen beiden Gesichtspunkten erschien demnach in sowohl auf klärungspropagandistischer als auch in -praktischer Hin489

UBL, Ms 0347, Bl. 50r; vgl. Ostertag: Der philosophische Gehalt, 180. UBL, Ms 0347, Bl. 50r-v; vgl. Ostertag: Der philosophische Gehalt, 180. 491 A. Gestrich: Absolutismus und Öffentlichkeit: politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994, 156. 492 Siehe dazu nochmals oben in Kap. 2, Abschn. 3.2 bei Anm. 601; zur Begründung der Notwendigkeit der Religion für das Funktionieren des Staatswesens vgl. auch die in diesem Zusammenhang wichtigen Ausführungen bei Ch. Wolff: Vernünfftige Gedankken Von dem Gesellschafftlichen Leben der Menschen, §§. 366 f. 490

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sicht nichts nötiger, als die Kanzel für die Sache der Vernunft zu gewinnen und sie im positiven Sinn zum Katheder der Auf klärung zu machen.493 Manteuffel hatte dies erkannt und die Aktivitäten der Alethophilen daraufhin abgestellt.

493 Vgl. zur Rolle der Pastoren und Theologen im Auf klärungsprozeß für Preußen die Einschätzung von H. Möller: Wie aufgeklärt war Preußen?, in: ders.: Auf klärung und Demokratie: historische Studien zur politischen Vernunft/ hrsg. von A. Wirsching, München 2003, 95. Möller zitiert ebd, 95 in Anm. 29 aus der Berlinischen Monatsschrift von 1783, wo es heißt: »[. . .] um aufgeklärte Begriffe unter Tausenden zu verbreiten, kann nur eben dieser Kanzelvortrag wirksam genug sein, und ohne einen solchen verbesserten Kanzelvortrag wirken alle die Tausend schreibseligen Autoren vergeblich, welche ihr Zeitalter aufzuklären glauben«. Vgl. auch Schütz: Die Kanzel als Katheder der Auf klärung, 137– 171.

Kapitel 4

Der kirchenpolitische und publizistische Streit um die »philosophische« Predigt 1 Die lutherische Orthodoxie In Kursachsen, dem kirchenpolitischen Bezugsraum von Gottscheds akademischer Wirksamkeit, stand der Kampf der lutherischen Orthodoxie1 gegen die von der »philosophischen« Predigt verkörperten auf klärerischen Strömungen – rückblickend geurteilt – unter ungünstigen Vorzeichen. Denn eine ganze Reihe von Faktoren, die allesamt Ausdruck der im Gang befi ndlichen religiös-theologischen und gesellschaftlich-politischen Wandlungsprozesse waren, signalisierte Anfang der 1730er Jahre, daß die kulturelle Relevanz der (spät-)orthodoxen Theologie alter Prägung sich bereits weitgehend erschöpft hatte. Die Unterdrückung der Leipziger pietistischen Bewegung 1689/90, in deren Verlauf es zu einem antiorthodoxen Zweckbündnis von »Pietismus« und »Auf klärung« in Gestalt ihrer Protagonisten August Hermann Francke und Christian Thomasius gekommen war,2 hatte zwar noch mit einem scheinbaren Punktsieg der kursächsischen Orthodoxie geendet. Doch stellte sich bald heraus, daß dies ein Pyrrhussieg war. Denn mittelfristig geriet die kursächsische Theologie durch die anschließende, reichsweit geführte Pietismuskontroverse in eine überwiegend defensive Position gegenüber den von ihr selbst einst unterstützten, nun aber von den Pietisten exklusiv für 1 Als »Orthodoxe« verstehe ich im folgenden die »spätorthodoxen« Vertreter einer »konservativen« Theologieauffassung, denen die Bewahrung und Verteidigung der »reinen Lehre« aus verschiedenen, v. a. aber religionspraktischen Gründen besonders am Herzen lag. Die in ihrem theologischen Standpunkt jeweils äußerst differenziert zu beschreibenden einzelnen Vertreter der »Spätorthodoxie«, die von Fall zu Fall selbst bereits in einem bestimmten Maß von auf klärerisch-philosophischem Gedankengut beeinflußt sein konnten, verbindet im vorliegenden Zusammenhang eine theologisch »konservative« Haltung mit der entschiedenen Ablehnung der Philosophie Wolffs, die es angemessen erscheinen läßt, den Begriff pragmatisch anzuwenden. Zur begriffl ichen und zeitlichen Eingrenzung der Orthodoxie siehe zuletzt J. Wallmann: Lutherische Orthodoxie, RGG 4 6 (2003), 696–702. 2 H. Leube: Die Geschichte der pietistischen Bewegung in Leipzig: ein Beitrag zur Geschichte und Charakteristik des deutschen Pietismus (1921), in: ders.: Orthodoxie und Pietismus: gesammelte Studien, Bielefeld 1975, 153–267: ders.: Die Entscheidungsjahre der Reformbestrebungen Ph. J. Speners, NKZ 36 (1925), 155–174.

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sich beanspruchten Reformforderungen. Der »Terministische Streit« 3, in den nicht zuletzt die Leipziger und Wittenberger Theologen maßgeblich involviert waren, und die Auseinandersetzung Löschers mit dem hallischen Pietismus4 vertieften in den ersten zwei Dekaden des 18. Jahrhunderts die Gräben zwischen den Kontrahenten weiter. Seine mit Halle betriebenen Ausgleichsversuche scheiterten im Jahre 1719 darauf hin kläglich.5 So kam es im Zuge der rund drei Jahrzehnte andauernden theologischen Kontroversen zu jener theologischen Front- und Lagerbildung, die zur nachträglichen historiographischen Separation von »Orthodoxie« und »Pietismus« geführt hat und die manchem heutigen Betrachter erratischer anmutet, als sie in Wirklichkeit war.6 Die Situation der kursächsischen Orthodoxie spitzte sich weiter zu, als 1724 mit Bernhard Walter Marperger (1682–1746) 7 ausgerechnet ein von August Hermann Francke protegierter Pietist zum Oberhofprediger in Dresden bestellt wurde.8 Insbesondere die von Marperger seit 1726 betriebene und von orthodoxer Seite vergeblich bekämpfte Einschränkung des orthodoxen Lehrelenchus trug erheblich dazu bei, daß noch vor dem in Kursachsen eskalierenden Streit um Wolff und seine Philosophie eines der maßgeblichen Instrumente der Orthodoxie an innertheologischer und gesamtgesellschaftlicher Plausibilität und Wirksamkeit einbüßte.9 Der Lehrelenchus stellte dabei jenes institutionalisierte Streit- und Strafverfahren dar, mit dessen Hilfe die Orthodoxie theologische Irrtümer aufdeckte und deren Vertreter aus dem öffentlichen Diskurs ausschied.10 Diese Praxis der Festststellung der »rechten Lehre« (»Ortho-Doxie«) trug seinen Verfechtern von ihren pietistischen und auf klärerischen Gegnern den Vorwurf der »Streit3

Vgl. B. Köster: Terministischer Streit, TRE 33 (2002), 78–81. H.-M. Rotermund: Orthodoxie und Pietismus: Valentin Ernst Löschers »Timotheus verinus« in der Auseinandersetzung mit der Schule August Hermann Franckes, Berlin 1959. 5 Dazu Greschat: Zwischen Tradition, 262–317; vgl. auch M. Brecht: August Hermann Francke und der Hallische Pietismus, in: GdP 1 (1993), 507–511. 6 Umfassend dazu Gierl: Pietismus und Auf klärung. 7 Zur Person siehe ADB 20 (1884), 405 ( J. Franck). 8 Th. Wotschke: Marperger in Briefen an August Hermann Francke, ZKG 51 (1932), 169–201. 9 Zu Marpergers Beteiligung an dem Streit um den Lehrelenchus siehe Gierl: Pietismus und Auf klärung, 324–341; zum kursächsischen Elenchusedikt vom 2.10. 1726 und dem Pietismuserlaß vom 20.8. 1727 vgl. auch die parteiische Sicht bei K. Petzoldt: Der unterlegene Sieger: Valentin Ernst Löscher im absolutistischen Sachsen, Leipzig 2001, 143–148. 152; Th. Wotschke: Vom Kampfe des Pietismus gegen die Orthodoxie in Wittenberg, ZVKGS 20 (1924), 116–122. 10 Zur Praxis des Elenchusverfahrens siehe Gierl: Pietismus und Auf klärung, 93–192; eine konzentrierte Zusammenfassung zum Wesen und Vollzug des orthodoxen Lehrelenchus und seiner neuzeitlichen Krise bietet jetzt auch ders.: Lutherischer Pietismus, bes. 63–68. 4

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orthodoxie«11 ein. Die »Auf klärung« war im übrigen an der Transformation der Elenchuspraxis in eine öffentliche, auf Deutsch (und nicht mehr in der Gelehrtensprache Latein) geführte Debatte stark mitbeteiligt, wie das Beispiel Christian Thomasius’ zeigte, der den eingeleiteten »Strukturwandel der Öffentlichkeit« mit einigen maßgeblichen Beiträgen zur Pietismuskontroverse von philosophisch-juristischer Seite argumentativ unterfütterte.12 Den kommunikationsgeschichtlich virulenten Zusammenhang von Pietismus und Auf klärung, den bereits ein neologischer Auf klärer vom Schlage Wilhelm Abraham Tellers am Ende des Auf klärungsjahrhunderts in Marpergers Beitrag zum Elenchusstreit erkannte,13 formuliert neuerdings auch die Forschung. Sie erkennt in Marpergers Position ein »schönes Bild«14 für den Wandel des Elenchusverständnisses zwischen Orthodoxie und Auf klärung, indem der pietistische Oberhofprediger den Elenchus nun nicht mehr als Strafi nstrument, sondern – auf klärungskonform – als gründliches Überzeugen defi nierte. Der im Streit um den Elenchus auf orthodoxer Seite führende Dresdner Superintendent Löscher war angesichts der skizzierten Entwicklungen bei der mit Marperger besetzten Oberhofpredigerstelle vermutlich nicht nur wegen seiner orthodoxietypischen Obrigkeitskritik übergangen worden.15 In Wirklichkeit stellte sich die Lage komplexer dar. Sicher spielte der 1697 11

In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, daß die zur Charakterisierung der homiletischen »Streitsucht« der Orthodoxie wiederholt bemühte Anekdote, wonach in orthodoxen Predigtmanuskripten beim usus elenchticus lediglich die knappe Notiz gestanden habe »Hier wird gezankt!« (vgl. beispielsweise Schütz: Geschichte, 119), seinen mutmaßlichen literarischen Ursprung in der außerordentlich orthodoxiekritischen Schrift des pietistischen G. Richter: Freymüthige und unpartheyische Gedancken, 12 hat. Den »einfältigen«, d. h. faulen, dummen, orthodoxen Dorfprediger charakterisierte der durch Speners und Arnolds Überlegungen zur Predigt beeinflußte Autor ebd. mit der allem Anschein nach frei erfundenen Anekdote: »Jener [sc. der ›einfältige‹] Prediger/ wann er in Concipirung seiner Predigten auf den Usum Epan[orthoticum] kam/ gab sich nicht lange Mühe/ seine Gedancken weitläufftig aufs Papier zu werffen/ sondern schrieb nur auf einen ledigen Platz: Hier muß ich schimpffen.« Bemerkenswert und typisch für die Motivation der pietistischen Kritik, die der Orthodoxie anfangs v. a. mangelnde »Orthopraxie« vorwarf, ist der Umstand, daß die Anekdote ursprünglich auf den usus epanorthoticus bezogen war und offenbar erst später (auch?) auf den usus elenchticus ausgedehnt wurde, um so die »Orthodoxie« als »Streitorthodoxie« zu entlarven. – Nachträglich fi nde ich einen Hinweis auf Richters Argumentation bei Schian: Orthodoxie und Pietismus, 22 f. in Anm. 4. 12 Vgl. bes. Gierl: Pietismus und Auf klärung, 458–469. 13 W. A. Teller: Rez. Marperger, Lehr-Elenchus, 1727/28, in: Neues Magazin für Prediger 1, St. 2 (1793), 22–31. – Von daher verzeichnet es die inhaltlichen Beziehungen zwischen Pietismus und Auf klärung, wenn E. Wolff: Gottscheds Stellung, Bd. 1, 193 Gottscheds positive Bezugnahme auf Marpergers Lehr-Elenchus in seinem homiletischen Lehrbuch ausschließlich als rein taktisches Verhalten interpretiert. 14 Gierl: Lutherischer Pietismus, 68. 15 Eine solche einseitige Sicht legen die Ausführungen von Petzoldt: Der unterlegene Sieger, 89–122 nahe, wonach man Löscher bereits bei der Nachfolge des 1722 verstorbe-

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erfolgte und von der kirchlichen Orthodoxie aufs schärfste abgelehnte Konfessionswechsel der Albertiner bei der Wahl Marpergers eine Rolle, der es von politischer Seite ratsamer erscheinen ließ, einen kirchenpolitisch eher schwachen, pietistisch-obrigkeitstreuen, denn einen starken, orthodox-obrigkeitskritischen Oberhofprediger auf die vakante Stelle zu berufen. Doch neben solchen, auf der Hand liegenden Erwägungen dürften in Kursachen bei der Entscheidung für den aus Nürnberg »importierten« Pietismusfreund aber auch noch ganz andere Faktoren mitgewirkt haben. Wenn Marperger mit Hilfe der staatlichen Zensurbehörden ein Verbot antipietistischer Streitschriften durchsetzte, so zeigt das unter anderem auch, daß »(a)m Ende des dritten Jahrzehnts des 18. Jahrhunderts (. . .) Kursachsen in zunehmendem Maße interessiert (war), die Polemik zwischen dem Pietismus und der Orthodoxie nicht wieder aufleben zu lassen«16 . Denn daß eine konfessionsbewußte Orthodoxie bei den anstehenden politischen und ökonomischen Modernisierungsherausforderungen der Gesellschaft zunehmend als Hemmschuh empfunden wurde, zeigten auch die Entwicklungen in anderen Territorien.17 Möglicherweise stand daher die Berufung Marpergers zum Oberhofprediger auch im Zusammenhang mit der bereits 1712 erfolgten Berufung seines Vaters, des als Wirtschaftsfachmann höchst angesehenen Paul Jacob Marperger (1656–1730),18 zum kursächsischen Hofrat und Mitglied der Commerzien-Deputation nach Dresden.19 Auf diesem Hintergrund betrachteten die orthodoxen Theologen den unübersehbaren gesellschaftlichen Wandel daher mit zunehmender Sorge, da dieser auch in Sachsen zu einem breite Schichten erfassenden Stimmungsumschwung zugunsten der neuen Philosophie führte. Kaum zufällig sah sich Löscher ausgerechnet im ersten Gottesdienst der halbfertigen Frauenkirche zu Dresden (1734) dazu gezwungen, seine Zuhörer davor zu warnen, daß man »mit den heutigen Raisonneurs die Predigten vor unnöthig hält« nen Heinrich Pipping »betont überging«; ebd, 133; vgl. auch M. Schmidt: Valentin Ernst Löschers Einspruch, 358. 16 Kobuch: Zensur und Auf klärung, 98. 17 Vgl. hierfür den instruktiven Beitrag von E. Fischer: Brockes’ didaktische Poesie als Medium der Orthodoxiekritik, oder: Ursprünge der Auf klärung in Deutschland, in: Beiträge zur Komparatistik und Sozialgeschichte der Literatur. Festschrift für Alberto Martino/ hrsg. von N. Bachleitner; u. a., Amsterdam; Atlanta, GA 1997, 657–681, der am Beispiel des publizistischen und politischen Wirkens von Barthold Heinrich Brockes innerhalb der Freien Reichsstadt Hamburg aufzeigt, daß das Auf kommen der religiösen Aufklärung im politischen Interesse wurzelte, die politisch-ökonomisch »fatalen Folgen des orthodoxen Religionsfanatismus zu beheben« (ebd, 659). 18 Zu P. J. Marperger, einem der produktivsten Autoren des deutschen Kameralismus und in dieser Eigenschaft innovativen Wirtschaftstheoretiker, siehe NDB 16 (1990), 234 f. (H. Jaeger). 19 Vgl. H. Neuhaus: Friedrich August I. (1694–1733), in: Die Herrscher Sachsens: Markgrafen, Kurfürsten, Könige 1089–1918/ hrsg. von F.-L. Kroll, München 2004, 183.

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und statt dessen die Meinung hege, daß es genug sei, »durch Lesung guter Bücher, darinnen tiefsinnige Redens-Arten vorkämen, (. . .) man recht erleuchtet und gebessert werden (könne), sonderlich wenn man die neue philosophische Schriften läse«20. Angesichts der dabei vor allem von Leipzig »ausgehenden Auf klärungsphilosophie und -theologie, die auch unter den Gebildeten Dresdens viele Schüler und Anhänger hat[te]« 21, monierte der Dresdner Pfarrer und Löscher-Freund Moritz Karl Christian Woog (1684– 1762) 22 1736 im Vorwort zu einem Band von ihm gehaltener und noch im selben Jahr publizierter Predigten den als »modisch« beurteilten Wandel im Predigtgeschmack, der auch um die kursächsische Residenzstadt keinen Bogen machte: »Einige haben an der gegenwärtigen [sc. der von Woog gepflegten; A. S.] Lehr-Art auszusetzen beliebt, daß sie nicht nach der Wolffischen Philosophie eingerichtet sey. Heiliger Gott! So sollen wir armen Prediger uns im Vortrag der höchstnöthigen Kunst seelig zu sterben, mehr nach der Mode, als dem geoffenbahrten Wort Gottes richten?« 23

In den Reihen der Orthodoxie verbreitete dabei insbesondere die große Zustimmung, die Wolffs Philosophie unter der studierenden Jugend genoß, äußerste Unruhe. Um dem entgegenzuwirken, benutzte Löscher seit 1735 die publizistische Plattform einer von ihm herausgegebenen theologischen Zeitschrift, um der »den Philosophischen Studiis ergebene[n] Jugend« ein besorgtes »Quo ruitis?« (»Ach wohin verfallet ihr?« 24 ) zuzurufen. Er hoffte damit, die Angeredeten auf den Weg eines rechten, die Stellung der Theologie konservierenden, philosophischen Studiums zurückzurufen.25 20 Beide Zitate bei Ch. Wetzel: Das kirchliche Leben an der Frauenkirche zu Dresden von ihrer Weihe 1734 bis zu ihrer Zerstörung 1945 (1. Teil), in: Die Dresdner Frauenkirche: Jahrbuch zu ihrer Geschichte und zu ihrem archäologischen Wiederauf bau 7 (2001), 117. 21 Wetzel: Das kirchliche Leben, 129. – Wetzel macht als Ursprungsherd für diese Entwicklung irrtümlich Halle aus. 22 Daß Woog (zu ihm Wetzel: Das kirchliche Leben, 129 f.) keineswegs so starr orthodox war, wie er in Wetzels Darstellung erscheint, beweist der Umstand, daß eine von ihm verfaßte Vorrede zu einer Sammlung von Kasualreden (K. Ch. Woog: Lob- und TrauerReden, Leipzig 1735. 21750) Aufnahme in die Sammlung von reformhomiletischen Schriften durch Cappelmann fand: K. Ch. Woog: Abhandlung, woher es komme, daß manche die Beredsamkeit nicht auf der Canzel leiden wollen, in: Beiträge zur Beredsamkeit, T. 1 (1741), 57–124 (3. Beitrag). 23 K. Ch. Woog: Der Sarg eines gläubigen Christen als Noä Kasten wurde in erbaulichen und trostreichen Sterbens-Gedanken über die gewöhnlichen Sonn- und FesttagsEvangelien vorgestellet, und seiner Gemeinde in der Sophien-Kirche zu Dreßden Anno 1736. vorgetragen, Dresden 1736; zit. bei Wetzel: Das kirchliche Leben, 129. 24 So die Übersetzung in: Frühaufgelesene Früchte, Jg. 1738, 222. 25 V. E. Löscher: Quo ruitis? Treuherzige Anrede eines bejahrten Lehrers, an die den Philosophischen Studiis ergebene Jugend, wegen der zur Herrschafft sich dringenden neuen Philosophie. Erstes Pensum, in: Frühaufgelesene Früchte, Jg. 1735, 70–84; bis 1741

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Bei alledem war die Propaganda von Wolffs Philosophie an der kursächsischen Landesuniversität in Leipzig – wie oben bereits ausgeführt – besonders eng mit Gottscheds Namen verknüpft.26 Der von ihm hierbei ausgeübte, ganz erhebliche Einfluß auf Studenten, nicht zuletzt auch auf Theologiestudenten, gab den Befürchtungen der orthodoxen Theologen dabei konkrete Nahrung. Der 1718 von Wittenberg nach Leipzig berufene orthodoxe Theologe Heinrich Klausing (1675–1745) 27 zeichnete in einem auf den 20. Januar 1736 datierten Brief an seinen Freund Löscher ein wahres Schrekkensbild von der »philosophischen Süntfluth, da die Wolffische und höchst gefährliche und schädliche Philosophie [. . .] hier [sc. in Leipzig], in Wittenberg und Jena fast alles zu überschwemmen« 28 suche. Die exponierte Rolle Gottscheds und seiner Mitstreiter notierte er in diesem Zusammenhang wie folgt: »Da ist jetzo insonderheit H. Professor Gottsched, der dieses unter die Jugend bringet cum magno applausu [. . .]. Nebst dem sind noch einige andre Magistri, welche entweder Wolffi i oder Rüdigeri Philosophiam mit einer so freyen und frechen art vortragen, und zwar alles teutsch, daß sie dabey der studirenden Jugend sehr Schaden [. . .]. Es geschiehet dadurch, daß viele, ja sehr viele, wenn sie eine Zeitlang hier gewesen, alle religion auch wohl sensum veri Dei verlieren.« 29

Auch wenn diese Einschätzung der spezifischen Sicht eines orthodoxen Theologen über das, was in seinen Augen wahre Religion, d. h. rechten Glauben, vorstellte, entsprang, so wird dennoch ohne Weiteres plausibel, daß sich aus der Perspektive der orthodoxen Wolff-Gegner ein Zwang zum Handeln ergab. Deswegen aber den Juristen und Medizinern das Hören der philosophischen Vorlesungen zu untersagen, wie es dem durch seine Autobiographie bekannten Adam Bernd (1676–1748) 30 zu einem früheren Zeit-

publizierte Löscher 17 weitere, unter derselben Überschrift abgefaßte Texte; vgl. W. Kühnert: Quo ruitis? Bemerkungen zu Valentin Ernst Löschers Kritik an der zeitgenössischen Philosophie, in: Der Pietismus in Gestalten und Wirkungen (FS Martin Schmidt)/ hrsg. von H. Bornkamm, Witten 1975, 315–325. 26 S. o. Kap. 1, Abschn. 2. Vgl. auch D. Döring: Die Philosophie, 55–82; ders.: Der Wolffianismus, 51–76. 27 Zu seiner Stellung innerhalb der Fakultät siehe Kirn: Die theologische Fakultät, 148–151. 28 Zit. bei D. Döring: Die Philosophie, 71. 29 D. Döring: Die Philosophie, 71 f.; dieses und das vorherige Zitat auch bei F. Blanckmeister: Sächsische Kirchengeschichte, Dresden 21906, 282 f.; Greschat: Zwischen Tradition und neuem Anfang, 70. 30 Zu dem später der Abweichung von der orthodoxen Lehre Beschuldigten Adam Bernd siehe LitLex 1 (1988), 450 (R. Bezold); zu einer von Bernds Schriften, die er unter dem Pseudonym »Christian Melodius« veröffentlichte, siehe M. Schmidt: Valentin Ernst Löschers Einspruch.

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punkt vorschwebte,31 war freilich ein ganz ausgeschlossener Weg, der Situation Herr zu werden, der deswegen auch kaum ernsthaft erwogen wurde. Da Klausing von der Universitätsverfassung her kein Mittel gegeben sah, die Lehrtätigkeit der Wolffischen Professoren und Magister einzuschränken bzw. zu unterbinden,32 erwartete er sich vielmehr Hilfe vom Oberkonsistorium 33, in welchem Löscher und Marperger qua Amt gemeinsam agierten bzw. agieren mußten. Ob das Oberkonsistorium darauf hin tätig wurde und welcher Maßnahmen es sich dabei bediente, läßt sich derzeit nicht ausmachen.34 Daß jedoch bald nach Klausings Hilferuf eine spürbare Atmosphäre des Drucks den Leipziger Studienalltag zu regieren begann, geht aus einer briefl ichen Bemerkung Gottscheds vom 20. Juli 1737 hervor. Demnach beklagte er, daß »unter die Studenten die Furcht gekommen sey, es werde keiner, der die wolfische Philosophie gelernet hätte, in Sachsen ein Kirchenamt erhalten, und daß fast nur Juristen und Auswärtige die Collegia über die wolfische Philosophie besuchen«35. Was der Leipziger Philosophieprofessor zum Zeitpunkt dieser Äußerung allerdings noch nicht wußte: Ein gegen ihn gerichteter Vorstoß der kursächsischen theologisch-philosophischen Wolff-Gegner hatte längst viel konkrete Formen angenommen, die die atmosphärische Unruhe als Vorspiel kommender Ungewitter erscheinen ließ. 1.1 Sanktionen der kursächsischen Kirchenleitung 1.1.1 Das Verhör Gottscheds vor dem Dresdner Oberkonsistorium (1737) Mit einem auf den 11. Juli 1737 datierten Schreiben an den König war nämlich von der Leipziger Theologischen Fakultät ein Beschwerdeverfahren gegen Gottsched in Gang gesetzt worden, von dem der Beschuldigte erst zwei Monate später, am 17. September, Kenntnis erhielt. Denn erst zu diesem Zeitpunkt wurde ihm eröffnet, daß er sich eine Woche später, am 25. September, vor dem Dresdner Oberkonsistorium und nicht – wie gelegentlich

31 Vgl. dazu die briefl ichen Äußerungen Bernds in einem Schreiben an Löscher aus dem Jahr 1720; zit. bei Blanckmeister: Sächsische Kirchengeschichte, 281. 32 Vgl. D. Döring: Die Philosophie, 72. 33 Zur personellen Zusammensetzung des aus drei bzw. vier geistlichen und juristischen Mitgliedern zusammengesetzten Oberkonsistoriums, dem in den 1730er Jahren Christian von Loos als Präsident vorstand, vgl. die Ausführungen bei D. Döring: Die Philosophie, 73 in Anm. 266. 34 Möglicherweise geht eine am 22.3. 1737 vom König ausgesprochene Verwarnung Gottscheds wegen angeblicher anstößiger Stellen in einer Promotionsrede auf eine Intervention des Oberkonsistoriums zurück; vgl. D. Döring: Die Philosophie, 73 f. 35 Inhaltsreferat eines Briefes von Gottsched an Reinbeck vom 20.7. 1737 bei Büsching: Beytrag zu der Lebensgeschichte D. Johann Gustav Reinbeck, 188 f.; vgl. den Hinweis darauf bei D. Döring: Die Philosophie, 72 mit Anm. 262.

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geäußert – vor der Bücherkommission in Leipzig 36 einfi nden solle. Weder der Betroffene noch befreundete Personen aus seinem Umfeld, wie z. B. Mosheim, zeigten sich von dieser Entwicklung letztlich überrascht.37 Nach Gottscheds eigener Mutmaßung kam die gegen ihn gerichtete Untersuchung allein wegen der Leibnizschen Philosophie ins Rollen, die er nach seiner, in diesem Zusammehang geäußerten Aussage »zu allererst, auf dieser Universität gelehret habe«38. Im Beschwerdeschreiben der Theologischen Fakultät standen allerdings die homiletischen Partien der Ausführliche[n] Redekunst im Mittelpunkt der Kritik. Auch wenn in der Argumentation der Leipziger Theologen die Verletzung geltender Zensurbestimmungen 39 eine gewisse Rolle spielte, bildete gleichwohl das vom Oberkonsistorium im Zusammenhang mit seiner Lehraufsicht in Religionssachen über die Universität ausgeübte Recht der »Cognition in causis conscientiae« die juristische Grundlage für die in Gang gesetzte Untersuchung.40 Diese lief deshalb auch auf ein Lehrverfahren gegen den Leipziger Philosophieprofessor hinaus, in das die zensurrechtlichen Aspekte lediglich sekundär eingelagert waren.41 Da die fraglichen Ereignisse im Zusammenhang mit der Rezeption der Leibniz-Wolffischen Philosophie in Kursachsen neuerdings eine fundierte Aufarbeitung erfahren haben, kann die vorliegende Darstellung auf einige hier besonders interessierende Aspekte eingeschränkt werden.42 36 Kobuch: Zensur und Auf klärung, 159, die das Protokoll von Gottscheds Verhör vor dem Oberkonsistorium zum »Protokoll der Bücherkommission in Leipzig an das Oberkonsistorium« (ebd, 268) macht. 37 Mosheim schrieb am 23.4. 1738, ein halbes Jahr nach dem Verhör, an Gottsched, daß er »(. . .) es lange vermuthet (habe), daß Ew. Hochedelgeboren in die Hände der Inquisition gerathen würden«; zit. bei Danzel: Gottsched und seine Zeit, 25. 38 Zit. bei D. Döring: Die Philosophie, 77; vgl. Danzel: Gottsched und seine Zeit, 20. 39 Zum historischen Kontext der Bücherzensur im 18. Jahrhundert siehe B. Plachta: Damnatur – Toleratur – Admittitur: Studien und Dokumente zur literarischen Zensur im 18. Jahrhundert, Tübingen 1994. 40 Vgl. D. Döring: Die Philosophie, 73 in Anm. 266. 41 Gegen Kobuch: Zensur und Auf klärung, 158–160, die den zensurrechtlichen Aspekt (aufgrund der spezifi schen Fokussierung ihrer Arbeit) zu einseitig in den Vordergrund rückt. 42 Vgl. die hervorragende Darstellung bei D. Döring: Die Philosophie, 74–82. – Die von Döring nahezu vollständig ausgewerteten Quellen sind neben Akten des Universitätsarchivs Leipzig insbesondere: SHStA Dresden, Loc. 10752, Acta M. Wolff Balthasar Adolph von Steinwehr zu Leipzig betr. Wegen einiger herausgekommenen nachtheiligen, und von ihm in denen gelehrten Zeitungen recensirten Schrifften, ingleichen den Professorem Dialectices et Metaphysicae zu Leipzig, Johann Christoph Gottscheden betr. 1737–1738; auf bereitetes briefl iches Material bietet auch Danzel: Gottsched und seine Zeit, 20–26; auf Grundlage des von Danzel mitgeteilten Materials sind das Dresdner Verhör und seine Ergebnisse bereits recht ausführlich dargestellt in H. Döring: Gottsched, 188 f. Einen weiteren Eigenbericht über die Ereignisse aus späterer Zeit bietet Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 46–48. – Die Akten des Dresdner Oberkonsistoriums sind durch

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Den Anlaß zum Zusammenstoß mit der kursächsischen Kirchenleitung bot die Neubearbeitung von Gottscheds erstem rhetorischen Lehrbuch. Aus der Sicht des Leipziger Philosophieprofessor erfolgte dies aus folgendem Grund: »Ich setzte auf den Titel, geistlichen und weltlichen Rednern zu gut; und so redlich ich es dabey gemeynet hatte, so viel Bewegungen verursachte dieses unter einigen hiesigen Geistlichen, die noch an der alten Leipziger Homiletik43 klebeten. Diese empfunden es sehr übel, daß ich diese ihre hochheilige Diana angetastet hatte. Sie glaubten ihr geistliches Amt, ja die Religion selbst litte darunter, wenn man diese falschberühmte Kunst, in ihrer Blöße darstellete; wie ich vieleicht gar zu empfindlich gethan hatte. Deswegen verläumdeten sie mich bey den damaligen geistlichen Beysitzern des kön. Oberkonsistorii zu Dresden, dergestalt, daß ihre heimlich angeblasenen Funken endlich 1738 [richtig: 1737] in volle Flammen geriethen.«44

In der Tat formulierten die Kläger in ihrem Beschwerdeschreiben45 an den König als Hauptvorwurf, daß Gottsched sich in der Ausführliche[n] Redekunst »angemaßet [hat], von denen geistlichen Reden und Predigten in einem eigenen Haupt=Stücke46 [. . .] zu handeln«47. Der eigentliche Punkt des Anstoßes war dabei sein in diesem Zusammenhang formuliertes »Vorgeben, daß dieses das Werk einer Politischen Rede=Kunst seÿ, und [es] denen Gottesgelehrten nicht zukomme, die Homiletick zu lehren«48. Der Widerspruch der Leipziger Theologen entzündete sich demnach vorrangig am Ausgreifen des durch die Philosophie Wolffs geläuterten Rhetoriklehrers auf das Feld der Homiletik, und zwar in der von Gottsched behaupteten normativen Form, die der Theologie die vom philosophischen Standpunkt gewonnenen rhetorisch-homiletischen Regeln zur Vorschrift machte und somit die Philosophie von der ancilla theologiae zur magistra aufwertete. Entsprechend erkannten die Anhänger der orthodoxen Leipziger Predigttradition sehr richtig die prinzipielle Natur von Gottscheds Vorstoß samt der von hier ausgehenden Gefahr für das traditionelle, orthodoxe Predigt- und Theologieverständnis. Denn der Leipziger Philosophieprofessor entschied mit seiner Homiletik den in den 1730er Jahren auf voller Höhe tobenden Streit um den Geltungsanspruch der Wolffischen Philosophie in der Theologie für eine ihrer Teilden Bombenangriff auf Dresden im Februar 1945 fast vollständig verbrannt, so daß von dieser Seite keine Überlieferung vorliegt. 43 Siehe dazu nochmals oben Kap. 2, Abschn. 1.4; vgl. auch Strassberger: Die »Leipziger Predigerkunst«. 44 Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 46,14–26. 45 SHStA Dresden, Loc. 10752, Bl. 10r-12v (Ausfertigung); der Entwurf ist überliefert in UAL, Theol. Fak. 60, Bl. 23r-v. 28r-v. 46 Gottsched: AR 1736, 523–534: 5. Hauptstück (=GAW VII/3, 64,34–72,26). 47 SHStA Dresden, Loc. 10752, Bl. 10v. 48 SHStA Dresden, Loc. 10752, Bl. 10v.

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disziplinen kurzerhand zugunsten der Wolffianer und gelangte von hier aus zu einer Fundamentalkritik der homiletisch-theologischen Tradition. Indem Gottsched die von der Orthodoxie behauptete Trennung von rhetorica sacra und rhetorica profana unter dem Aspekt des Redecharakters einer Predigt für obsolet erklärte, geriet die von der orthodoxen »Leipziger Predigerkunst« ins Zentrum ihrer homiletischen Reflexion gestellte Theologizität der Predigt aus der Sicht ihrer Anhänger in ernsthafte Gefahr. Insofern war es gar nicht so »merkwürdig«49, wenn gerade Gottscheds Ausführliche Redekunst einen ebenso willkommenen wie auch geeigneten Anlaß bot, gegen den unliebsamen Autor und die von ihm betriebene philosophische Propaganda vorzugehen. Unter diesem Gesichtspunkt waren bei dem Einschreiten gegen Gottsched letztlich die selben Intentionen am Werk, die einige Jahre zuvor (1728/29) dazu geführt hatten, gegen den von Pietismus und Auf klärung gleichermaßen berührten Leipziger Prediger Adam Bernd vorzugehen, weil dieser in einer von ihm pseudonym veröffentlichten Schrift zur theologischen Willenslehre den Wechsel von der theozentrischen zur anthropologischen Betrachtungsweise vollzogen hatte.50 Lief doch nach Löschers Dafürhalten auch in Bernds Ausführungen alles darauf hinaus, »die gantze Christliche Lehre endlich aus den Hertzen zu reißen, und an derselben statt eine fladderhafte Moral und verderbliche Philosophie zu setzen«51. Neben ihrem Hauptvorwurf listeten die Leipziger Theologen aber auch noch eine Reihe weiterer Argumente auf, die ihre Forderung begründen sollten, der König werde »unsere Facultät beÿ ihrem Rechte, die Homileticam zu dociren, [. . .] wieder Prof. Gottscheds Eingriff und Unternehmen mächtigst schützen« 52 . Dabei formulierte die Mehrzahl der vorgetragenen Kritikpunkte nur Erläuterungen des o. g. Hauptvorwurfs. So verwies man auf verschiedene satirische Ausfälle in Gottscheds Ausführliche[r] Redekunst, die den geistlichen Stand herabsetzten und lächerlich machten.53 Zudem be49

So D. Döring: Die Philosophie, 74. M. Schmidt: Valentin Ernst Löschers Einspruch, 380: »Melodius [= Adam Bernd; A. S.] und seine Schrift war ihm [sc. Löscher] nur Symptom. [. . .] Mit Scharf blick [. . .] erkannte er den fundamentalen Widerspruch, der zwischen der theozentrischen und der anthropologischen Betrachtungsweise waltete und überall zutagetreten mußte.« Zum Zensurverfahren gegen Bernds Schrift vgl. Kobuch: Zensur und Auf klärung, 66–68. 51 Löscher: Kurtze Rettung der Ersten Reformations-Wahrheiten gegen die Melodischen Einwürffe, 1729, zit. bei M. Schmidt: Valentin Ernst Löschers Einspruch, 380 in Anm. 82. Die von Löscher kritisierte »verderbliche Philosophie« war im Falle Bernds ebenfalls mit der Wolffi schen zu identifi zieren, wie dessen weitere Ausführungen zeigten (ebd): »Es soll alles nothwendig zugehen, es soll in den Menschlichen Schlüssen und Actionen ein influxus physice necessarius seyn, ja derselbe soll alles thun, und doch soll Freyheit im Willen seyn, und der Verstand soll den Menschen bessern. Im übrigen soll alles auf des Menschen Werck und Thun ankommen, er soll sich selbst fromm und seelig machen, das heißt, den Himmel mit der Spanne fassen, u. s. f.« 52 SHStA Dresden, Loc. 10752, Bl. 12r-v. 53 SHStA Dresden, Loc. 10752, Bl. 10v-11r. 50

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schwerte man sich, daß der Verfasser die von ihm »gegebenen Regeln, denen Theologischen Regulis Homileticis hauptsächlich entgegen gesetzt, und die in unserer Evangelischen Kirche eingeführte Art zu predigen fast in allen Stücken verworffen, und auf unterschiedene Weise verächtlich zu machen gesuchet«54 habe. Ebenso klagte man darüber, daß der Philosophieprofessor »auch gegen die, von ihm so genannten Homiletischen Methoden= Künstler eine absonderliche Rede p. 607. sqq. und p. 572. eine ander wieder die so genannte Homiletick« 55 mit habe abdrucken lassen. Weiterhin kritisierte man, daß der Autor sich ungebührlich über die von der Leipziger orthodoxen Predigttradition entwickelte Konkordanzmethode ausgelassen und stattdessen behauptet habe, »daß der Beweiß in einer Philosophischen Demonstration bestehen«56 müsse, ja, daß er sogar »ausdrücklich schreibet, ein geistlicher Redner thue wohl, wenn er gewiße Wahrheiten, zumahl die Sitten=Lehre mehr aus der Vernunfft, als aus der Schrifft einzuschärffen suche«57. Man beschwerte sich nicht zuletzt auch über die ungebührliche Behandlung einiger verdienter Theologen, besonders aber über die Herabsetzung des noch lange nach seinem Tod als »Leipzigische[n] Chrysostomus«58 verehrten Johann Benedict Carpzov [d. J.] 59. Zum Schluß notierten die Leipziger Theologen schließlich einen Verstoß Gottscheds gegen das geltende Zensurrecht, indem sie beklagten, daß Gottsched seine 1729 gehaltene Weihnachtspredigt »ohne unsere Censur in besagtes sein Buch mit eindrukken laßen« hat, obwohl »wir aber, als er sie bald darauf [d. h. nach ihrem damaligen Vortrag; A. S.] drucken laßen wollen, zu censiren erhebliches Bedencken getragen« 60 haben. 54

SHStA Dresden, Loc. 10752, Bl. 11r. SHStA Dresden, Loc. 10752, Bl. 11r-v. 56 SHStA Dresden, Loc. 10752, Bl. 11v. 57 SHStA Dresden, Loc. 10752, Bl. 11v. 58 A. Zahn: [Parentationsrede auf Paul Christian Hilscher,] in: V. E. Löscher: Der Abschied Eines Evangelischen Lehrers von seiner Gemeinde, Ward am 12. Augusti 1730. Bey der Beerdigung Des Weyland [. . .] Herrn M. Paul Christian Hilschers [. . .] Bey Volckreicher Leichen=Begleitung vorgestellet, Dresden 1733, Bl. D1r. 59 SHStA Dresden, Loc. 10752, Bl. 12r; vgl. Gottsched: AR 1736, 27: »Ich hätte noch aus unserm Leipzig den berühmten Joh. Benedict Carpzov, und aus Halle, Aug. Herrm. Franken, dazu nehmen können; als die in ihrem Leben vor grosse Redner gehalten worden. Allein, wenn ich ihre gedruckten Predigten ansehe, so fi nde ich dort lauter magere exegetische Erklärungen der biblischen Texte; hier aber viel Worte und wenig Feuer, viel mystische Redensarten, aber wenig gründliche Vernunftschlüsse, und sonst keine Spuren einiger Beredsamkeit darin.«. – D. Döring: Die Philosophie, 145 identifi ziert den erwähnten Carpzov mit Johann Benedikt Carpzov (III.) (1670–1733), Sohn von Carpzov [d. J.]. Daß von Gottsched aber letzterer gemeint ist, ergibt sich daraus, daß dieser der ungleich berühmtere Prediger und insbesondere ein herausragender Repräsentant der von Gottsched kritisierten »Leipziger Predigerkunst« war; vgl. einige diesbezügliche Bemerkungen bei Strassberger: Die »Leipziger Predigerkunst«, 193 in Anm. 123. 60 Beide Zitate SHStA Dresden, Loc. 10752, Bl. 12r. 55

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Unter Berücksichtigung der genannten Monita erweiterten die Beschwerdeführer ihren Forderungskatalog an den König daher um den Punkt, der Theologischen Fakultät auch forthin das verbriefte Zensurrecht theologischer Literatur zu garantieren sowie – dies als dritte Forderung – »auch nicht [zu] gestatten, daß an statt einer Theologischen und Schrifftmäßigen, eine nach den Regeln seiner Rede=Kunst eingerichtete Philosophische Art zu predigen, zu großen Schaden und Nachtheil der Evangelischen Kirche, eingeführet werden möge« 61. Mit dieser dritten Forderung erhofften sich die Beschwerdeführer nichts weniger als ein obrigkeitliches Verbot der »philosophischen« Predigt bzw. eine obrigkeitliche Garantieerklärung für die »Leipziger Predigerkunst«. Doch schätzten die Leipziger Theologen den politischen Rückhalt für ihre Forderungen offenbar falsch ein. Zwar erkannte der König die eingereichten Klagen in gewisser Weise als prinzipiell gerechtfertigt an, zu einem Verbot der »philosophischen« Predigt ließ er sich aber dennoch nicht bewegen. Vielmehr wies er das Oberkonsistorium an, entgegen deren weitergehenden Strafforderungen62 vorerst nur mit einer Suspension zu drohen,63 was faktisch hieß, nur einen Warnschuß in Richtung Gottsched abzugeben. Womöglich hat man hinter dieser Richtungsvorgabe, mit der das Ergebnis des Verhörs im Vorhinein festlegt wurde, das Wirken Wolff-freundlicher Kräfte am Hof zu sehen, die sich nach Kräften bemühten, die Sache Gottscheds bzw. der »philosophischen« Predigt möglichst glimpfl ich enden zu lassen. Interessanterweise fi nden sich im Vorfeld von Gottscheds Verhör auch Hinweise darauf, daß in der für die Wolff-Gegner in Preußen ebenfalls kritischen Situation (man erinnere sich an das gerade eben zurückliegende und für den Halleschen Pietismus fatal verlaufene »Schicksalsjahr« 1736; siehe nochmals oben Kap. 3, Abschn. 3.2.1.) die an ihren Höfen mittlerweile isolierten orthodoxen bzw. pietistischen Kräfte über die Territorialgrenzen und alte Vorbehalte hinweg – vornehmlich auf dem Wege des Informationsaustauschs – im Kampf gegen die verhaßte Philosophie zu verbünden suchten. Nicht nur Marpergers publizistisches Engagement gegen die Wolffsche Philosophie64 und sein gemeinsames, gegen Gottsched gerichtetes Agieren 61

SHStA Dresden, Loc. 10752, Bl. 12v. Das Oberkonsistorium hatte mit einem Schreiben vom 2. August 1737 die Beschwerde der Theologischen Fakultät beim König unterstützt und einen Verweis, eine halbjährige Amtsenthebung sowie einen öffentlichen, gedruckten Widerruf Gottscheds gefordert; D. Döring: Die Philosophie, 75 mit Anm. 274; Kobuch: Zensur und Auf klärung, 160. 63 Schreiben des Königs an das Oberkonsistorium vom 26.8. 1737, SHStA Dresden, Loc. 10752, Bl. 15r-v. 64 Gegen Reinbecks Betrachtungen über die in der Augspurgischen Confeßion enthaltene und damit verknüpfte Göttliche Wahrheiten richte sich [Marperger (?):] Zufällige Gedancken; vgl. dazu D. Döring: Die Philosophie, 76 in Anm. 280. 62

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mit Löscher im Oberkonsistorium verdeutlichen dies, sondern auch der Umstand, daß ein Mann wie Klausing, »der offenkundig auf Leipziger Seite an vorderster Stelle gegen die Wolffianer seine Fäden (spann)« 65, sich mit dem in orthodoxen Kreisen eigentlich höchst unbeliebten Oberhofprediger über das weitere Vorgehen absprach und davon sogar den Halleschen WolffKritiker und Marperger-Freund Joachim Lange in Kenntnis setzte.66 So meldete Klausing als Ergebnis einer Unterredung mit Marperger nach Halle, »daß mit der Zeit, hier u. in Wittenberg die Philos. Wolfs solle verbothen werden, daß sie niemand lesen soll. Es ist auch, wie er [sc. Marperger] in Vertrauen versicherte, ein scharffer Befehl unter der Feder, Gottscheden . . . [Textverlust]« 67 ; ebenso berichtete Klausing dann Lange vom Ausgang des Verhörs.68 Ohne konkrete Anhaltspunkte für das, was ihn erwarten würde, machte sich Gottsched, ausgerüstet mit einem ganzen Bündel von Empfehlungsschreiben, die ihm sein Gönner Manteuffel ausgestellt hatte, auf den Weg nach Dresden. Obwohl ihm bei einem seiner dortigen Antrittsbesuche vom ehemaligen Präsidenten des Oberkonsistoriums Christian von Loos mitgeteilt wurde, daß man ihm vorwerfe, er habe »Unordnungen im gemeinen Wesen« 69 anrichten wollen, schilderte der nach Dresden Zitierte seine damalige Verfassung im Rückblick dennoch als durchaus zuversichtlich: »Da mir nichts gemeldet wurde, weswegen ich vernommen werden sollte: so gieng ich mit einer völligen Unwissenheit meines Verbrechens, aber gleichwohl mit aller Freudigkeit eines guten Gewissens dahin; stellte mich im Kirchenrathe, und erwartete mit Verlangen, was man mir eröffnen würde.«70 Das nun folgende Verhör verlief für Gottsched denkbar schlecht. Gleich zu Beginn konfrontierte man ihn mit der Anschuldigung, daß »er [. . .] in seinen collegiis und Schrifften viele anstößige Dinge vortrage, und sowohl wieder die Christliche Religion überhaupt, als auch insonderheit wieder die Evangelische Theologie und Theologos mit harten Reden und Urtheilen sich sehr vergehe, anbey der Academischen Verfaßung zuwieder handle, sich ein unbefugtes RichterAmbt anmaße, und dadurch bey der studirenden Jugend Schaden und Ärgernüß anrichte«71.

65

D. Döring: Die Philosophie, 76. Vgl. dazu U. Goldenbaum: Der Skandal der Wertheimer Bibel: die philosophischtheologische Entscheidungsschlacht zwischen Pietisten und Wolffi anern, in: dies.: Appell an das Publikum, 344 in Anm. 560. 67 Klausing an Lange, ohne Datum; zit. bei D. Döring: Die Philosophie, 76. 68 D. Döring: Die Philosophie, 76 in Anm. 277. 82 in Anm. 304. 69 Gottsched an Manteuffel, 3.10. 1737, zit. D. Döring: Die Philosophie, 77; vgl. Danzel: Gottsched und seine Zeit, 22. 70 Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 46,31–47,1. 71 Verhörprotokoll, zit. nach D. Döring: Die Philosophie, 141. 66

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Die Schwere der Anklagen dürfte die schlimmsten Vorahnungen Gottscheds übertroffen und deshalb eine schockhafte Wirkung ausgeübt haben. Anfangs versuchte er noch, sich zu verteidigen: »Prof: Er wolle nicht hoffen, daß man ihn dessen würde überführen können, er würde der Religion[,] Theologie und denen Theologis [. . .] nicht zunahe getretten seyn [. . .].«72 Doch die Gegenseite ließ nicht den geringsten Zweifel an der Beweisfähigkeit der Anklagepunkte auf kommen und stellte klar: »Es wurde regeriret, Man würde ihn deßen, was er nicht einräumen wolte, sattsam überführen können.«73 Punkt für Punkt hielten ihm dann Löscher und Marperger 74 die von der Theologischen Fakultät vorgebrachten Beschwerden vor, wobei der Leipziger Philosophieprofessor im Verlauf des scharf geführten Verhörs bereits nach wenigen Minuten einknickte. Die Machtposition, aus der heraus die Untersuchung von Seiten der »Inquisitoren« geführt wurde, trieb den auf ein Kreuzverhör wegen seiner Homiletik unvorbereiteten, als »Religionsfrevler« und »Verführer der Jugend« beschuldigten Gottsched so in die Enge, daß ihm – obschon er sich mit Sachargumenten zu verteidigen suchte – letztlich kaum eine andere Möglichkeit blieb, als beinahe jede Anschuldigung einzuräumen. In emotionsloser Sachlichkeit dokumentiert diesen Verlauf das umfängliche Verhörprotokoll75, das hier nicht in allen seinen Dimensionen ausgeleuchtet werden kann. Der Text offenbart dabei vor allem eines: daß zwischen orthodoxer und auf klärerischer Religions- und Predigtauffassung eine so fundamentale Differenz bestand, daß es ganz unmöglich war, auch nur ansatzweise zwischen den strittigen Positionen zu vermitteln. Dadurch werden einerseits die Empfi ndlichkeiten plausibel, die Gottscheds Modell einer »philosophischen« Predigt auf orthodoxer Seite hervorriefen; andererseits wird aber auch die Unfähigkeit der Orthodoxie transparent, den aufklärerischen Ansatz in seinen positiven Ansätzen wahrzunehmen. Pars pro toto für das ganze Verhör soll im folgenden eine Passage referiert werden, die diese kommunikative Patt-Situation veranschaulicht. So hielten die Dresdner Oberkonsistorialen dem nach Dresden Zitierten vor: »Er hätte sich aber auch damit sehr vergangen, daß er nicht nur in denen Predigten Philosophische Demonstrationen erfordere, sondern auch schriebe: Ein Geistlicher

72

Verhörprotokoll, zit. nach D. Döring: Die Philosophie, 141 f. Verhörprotokoll, zit. nach D. Döring: Die Philosophie, 142. 74 Daß diese beiden Theologen das Verhör führten geht zwar nicht aus dem Protokoll, aber aus einer Notiz bei Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 47,4 f. sowie seinem Brief an Manteuffel hervor; abgedruckt bei D. Döring: Die Philosophie, 153. 75 Fehlerhafter Abdruck bei Kobuch: Zensur und Auf klärung, 268–276; eine korrigierte und kommentierte Edition bietet jetzt D. Döring: Die Philosophie, 141–152. 73

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Redner thue wohl, wenn er gewiße Wahrheiten zumahl die SittenLehre NB. mehr aus der Vernunfft als aus der Schrifft einzuschärffen suche.76 Prof [Gottsched]: Philosophische Demonstrationes verstehe er von denen Articulis mixtis, welche sich nebst der Schrifft auch aus der Vernunfft beweisen ließen. Paulus habe zu Athen in seiner Predigt aus der Vernunfft die Athenienser zuüberzeugen gesucht und die Christliche Morale könne und müße ja mit vernünfftigen Gründen erklähret und bestetiget werden. Es wurde geantwortet: Dies zeige noch lange nicht, daß man überzeugend zu predigen, Philosophische Demonstrationes auf die Canzel bringen müße, auch die articuli mixti müßten vornehmlich aus dem Grunde Göttlichen Worts vorgetragen und erwiesen werden, Pauli Predigt zu Athen seye durchaus keine bloße Vernunfft Predigt gewesen, deßen wurde Professor Gottsched bei deren Vorlesung sattsam überführet. Auch ward ihm gewiesen, daß die Christliche Moral [. . .] was gantz anders sey als eine Philosophische Sitten Lehre oder ein Beweiß aus der Vernunfft von denen Pfl ichten des Menschen nach dem Licht und Recht der Natur. Prof [Gottsched]: er habe nur gemeinet bey itzigen Zeiten, da man von allen Dingen vernünfftige Gedancken und Beweise zuhaben suche, auch die so predigen solten, zu solchen und zu gründlichen Uberzeugungen anzuweisen. Es wurde regeriret. Man würde nach dem izigen Weltdünckel und Sinn den Vortrag der Christlichen Lehre nicht ändern laßen, bey demselben hätten allezeit vernünfftige Gedancken und Beweise Statt gehabt, man dringe auch auf gründliche Uberzeugungen, aber Philosophische Predigten zuhalten, da man Gottes Wort zupredigen habe, sey überaus unvernünfftig gehandelt.« 77

Diese Passage führt vor Augen, daß nicht nur die Ansichten über Vernunft und Vernunftgebrauch in der Predigt völlig unterschiedlich waren, sondern sie zeigt auch, daß die zentrale Motivation Gottscheds, nämlich mit der »philosophischen« Predigt einem gesellschaftlichen Wandlungsprozeß homiletisch Rechnung zu tragen, von den orthodoxen Kritikern nicht nur nicht verstanden, sondern als Modetorheit ausdrücklich abgelehnt wurde, der man sich aus theologischen Gründen entschieden widersetzen müsse. Man kann es als fast schon tragikomisch ansehen, wenn die »Inquisitoren« die von Gottsched eingeforderte »Vernünftigkeit« der homiletischen Beweisführung in ihrer eigenen Predigttradition längst eingelöst sahen und daher ihrerseits die Position des Auf klärers als »unvernünfftig« kritisierten.78 Hier stießen ganz offensichtlich zwei völlig konträre theologisch-homiletische Logiken aufeinander, die zwar von einem höheren Standpunkt aus betrachtet ihr je eigenes theologisches und geschichtliches Recht beanspruchen

76

Vgl. Gottsched: AR 1736, 531 (= GAW VII/3, 70,14 f.). Verhörprotokoll; zit. nach D. Döring: Die Philosophie, 144 f. 78 Wie M. Greschat: Valentin Ernst Löscher als Verteidiger der lutherischen Schulphilosophie, NZSTh 12 (1970), 175–183, hier 177 in anderem Zusammenhang ausführt, plädierte Löscher zwar für eine »gesunde Vernuft«, wandte sich aber »gegen eine sich autonom setzende Vernunft«. Löschers Beanspruchung eines Vernunftanspruches gegenüber den Wolffianern notiert auch Goldenbaum: Der Skandal, 51 mit Anm. 125. 77

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konnten, die aber unter den gegebenen historischen Bedingungen nicht vermittlungsfähig waren. Gottsched versuchte in dieser ausweglosen Lage und für seine weitere Beschäftigung an der Leipziger Universität kritischen Situation, seinen Kopf und seine bürgerliche Stellung dadurch zu retten, daß er den »Inquisitoren« entgegenkam. Er selbst äußerte den – von Löscher und Marperger vielleicht insinuierten – Vorschlag, die anstößigen Stellen bei der nächsten Auflage der Ausführliche[n] Redekunst wegzulassen; 79 ebenso unterbreitete er das Angebot, »bey einem nächstens zufertigenden Programmate was wieder die Collegia homiletica Theologorum könne gedeutet werden zu revociren« 80. Beide Maßnahmen fanden selbstredend die Zustimmung des Oberkonsistoriums. Am Schluß dieser für Gottsched so außerordentlich »fürchterliche[n] Inquisition« 81 wurde der Gemaßregelte mit dem »allergnädigsten SpecialBefehl« samt »angehangte[r] Verwarnung« bekannt gemacht, »daß bey deßen ferner Continuation wieder ihn mit der Suspension würde verfahren werden. Wornach er sich gebührend zu achten hätte. Hierauf nahme Professor Gottsched seinen Abtritt« 82 . Angesichts der klassischen Verhörsituation und des dabei ausgeübten Drucks sollte man mit einem vorschnellen moralischen Urteil über das wenig heroische Verhalten Gottscheds zurückhaltend sein.83 Gottscheds Bericht über die Dresdner Ereignisse an Manteuffel84 und Jahre später in der Fortgesetzten Nachricht entwickelte entgegen dem eben geschilderten Verlauf eine völlig andere, für ihn ungleich vorteilhaftere Sicht der Dinge, die deutlich darum bemüht war, ihn nicht wie einen Verräter an der von ihm vertretenen Sache erscheinen zu lassen. Die Fragen Löschers parierte Gottsched angeblich »mit aller Freudigkeit und meines Erachtens mit solcher Gründlichkeit, daß alle Vorwürfe gänzlich, oder doch größtentheils abgelehnet wurden« 85 ; und gegenüber den Beschuldigungen Marpergers wußte er sich ebenfalls »sattsam zu schützen, so daß man nichts rechtes auf mich bringen konnte« 86 . Die verabredeten Zensurmaßnahmen stellte er als großzügiges und letztlich unbedeutendes Entgegenkommen seinerseits dar, das seiner Sache kaum Schaden zufügte. Wenn Gottsched ab der zweiten Auflage der Ausführliche[n] Redekunst (1739) die inkriminierten homiletischen Passagen tatsächlich wegließ und sich damit in die Dresdner Vorga79

Verhörprotokoll; zit. nach D. Döring: Die Philosophie, 152. Verhörprotokoll; zit. nach D. Döring: Die Philosophie, 152. 81 Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 47,33 f. 82 Alle Zitate Verhörprotokoll; zit. nach D. Döring: Die Philosophie, 152. 83 Anders beispielsweise Danzel: Gottsched und seine Zeit, 23. 84 Gottsched an Manteuffel, 3.10. 1737; Teilabdruck dieses Briefes bei D. Döring: Die Philosophie, 153; Danzel: Gottsched und seine Zeit, 22 f.; H. Döring: Gottsched, 188. 85 Gottsched an Manteuffel; zit. nach D. Döring: Die Philosophie, 153. 86 Gottsched an Manteuffel; zit. nach D. Döring: Die Philosophie, 153. 80

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ben fügte,87 muß man billiger Weise bedenken, daß das kurz darauf veröffentlichte homiletische Lehrbuch zumindest diesen Verlust mehr als auffing. Später rühmte Gottsched sich sogar ob der mit den Auslassungen verbundenen Wertsteigerung, die die erste Auflage der Ausführliche[n] Redekunst auf dem antiquarischen Büchermarkt erlangte.88 Das fragliche akademische Programm, in dem er seine Ansprüche als Lehrer der Homiletik widerrufen sollte, publiziert er bereits am 19. Oktober 1737, keine vier Wochen nach den in Dresden getroffenen Vereinbarungen.89 Im Rahmen einer Vorlesungsankündigung lud er zu einem »Collegium Oratorium, theoretico-practicum« auf der Grundlage seiner Ausführliche[n] Redekunst ein. Auf diese bezugnehmend stellte er klar, daß die dort befi ndlichen knappen Regeln zur Verfertigung von Predigten nicht gegeben worden seien, um homiletische Lehrveranstaltungen der Theologen überflüssig zu machen, sondern um einen offenkundigen Mißbrauch der Homiletik anzuzeigen und demgegenüber auf die Regeln einer gesunden Homiletik (die längst von einigen großen Theologen befolgt würden) hinzuweisen.90 Möglicherweise im Zusammenhang mit dieser Erklärung, in der sich Gottsched im Grundsatz ebenso selbstbewußt wie mutig in aller Öffentlichkeit zu seinen homiletischen Prinzipien bekannte und die alles andere denn einen Widerruf seiner »häretischen« homiletischen Lehren darstellte, steht ein Schreiben des Oberkonsistoriums an den Rektor der Leipziger Universität, in dem die Verwarnung und die angekündigte Strafe im Falle eines zukünf87 Vgl. zu Zensurmaßnahmen der zweiten Aufl age der Redekunst UAL, Rep. I/XIX/ I/50, Acta Hn. Johann Christoph Gottscheds P. P. ausführliche Rede-Kunst und deren Censur betr. [1738]. 88 Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 47,34–48,2: »Die erste Ausgabe meiner ausführlichen Redekunst von 1736. ist dadurch bis auf die Stunde, in öffentlichen Bücherversteigerungen sehr eifrig gesuchet und theuer bezahlet worden.« 89 J. Ch. Gottsched: Generosissimos Atqve Nobilissimos Commilitones AD Praelectiones Svas Hiemales A. MDCCXXXVII. Humanissime Invitat Simvlqve Foedam Spinozismi Macvlam A Recentiori Philosophia Aliqvot Programmatibvs Amovendam indicit. Lipsiae [1737]; das Programm datiert am Ende auf das zitierte Datum. Vgl. dazu auch die eigenen Ausführungen bei Gottsched: Fortgesetzte Nachricht, GAW V/2, 47,29–34. – Den Hinweis auf diese, der Gottsched-Forschung zwar bekannte (Gottsched-Bibliographie [GAW XII], Nr. 175), inhaltlich aber bislang nicht verwertete Vorlesungsankündigung verdanke ich Dr. Hanspeter Marti (Engi/Schweiz), der mir freundlicherweise auch eine Kopie des Textes zur Verfügung stellte! 90 Gottsched: Generosissimos, Bl. B3v-4r: »§. XVII. Secundo loco, eloquentiae Cultoribus nouum offero Collegium Oratorium, theoretico-practicum, cui more solito fundamenti loco substernam, Rhetoricam meam sub titulo: der ausführlichen Redekunst, prostantem. [. . .] Inter alia sacrarum quoque orationum, pro concione habere solitarum, praecepta breuia tradidi: non quod sufficere eadem futuro oratori sacro, crediderim, inutilemque eidem fore vberiorem eloquentiae ecclesiasticae institutionem existimauerim; sed vt abusus Homileticae vulgaris praemonstrarem ipsius, hodegumque quasi agerem, ad eos oratoriae sacrae magistros sibi eligendos, qui saniorem homiliarum conficiendarum methodum, a magis Theologis obseruatam, tradere solent.«

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tigen Verstoßes nochmals bekräftigt werden.91 Insofern waren die Ängste und Vorsichtsmaßnahmen, unter denen zwei Jahre später die Ausarbeitung von Gottscheds homiletischem Lehrbuch erfolgte,92 keineswegs übertrieben. Die Widersacher Gottscheds erhofften sich angesichts der nur begrenzten Wirkung der verabredeten Strafmaßnahmen vor allem wohl einen abschrekkenden Effekt, durch den eine Wende in ihrem Kampf gegen die Philosophie Wolffs markiert werden sollte. In diesem Sinn schrieb jedenfalls Klausing wenige Wochen nach dem Verhör an Löscher: »Denn die studirende Jugend wird hier gantz verführet, durch die lose Philosophie, und andern mala, daß sie in unsern collegiis, wenn wir ihnen aus Gottes Worte und de simplicitate fidei was vorsagen, fast gar nicht mehr glauben wollen, auch wohl sensum dei verlieren. Es ist gut, daß etliche 93 von denen, die daran schuld sind, neulich ein wenig sind gesprencket 94 worden. Gott gebe, daß sie und die andern sich auch daran kehren [. . .]« 95.

Wie ein nachträgliches Echo auf die oberkonsistoriale Maßregelung des Leipziger Philosophieprofessors liest sich die etwas verspätete, Ende 1738 in Löschers Zeitschrift erschienene Rezension der Ausführlichen Redekunst, die noch einmal die Empfi ndlichkeiten der Orthodoxie artikulierte, wie sie in der Untersuchung gegen Gottsched leitend waren.96 In dieser Rezension, in der auch durchaus lobende Worte für die rhetoriktheoretische Qualität seines Werks gefunden wurden, bestritt der anonyme Rezensent jedoch entschieden den Anspruch Gottscheds, für Fragen der Theologie kompetent zu sein; die Homiletik blieb in den Augen des offenbar orthodox gesinnten Rezensenten (aus theologischen Gründen) ein Reservat (orthodoxer) Theologie. Die von Gottscheds auf klärerischem Vernunftbegriff abgeleitete und mit spitzer Zunge vorgetragene Kritik orthodoxer Homiletik wurde – wie auch schon im Dresdner Verhör – als besonders anstößig empfunden und begründete ganz maßgeblich die Empörung des orthodoxen Theologen: 91 Schreiben vom 10. Februar 1738, UAL, Rep. I/XIX/I/48, Acta Hr Johann Christoph Gottscheden, Prof. Publ. und Hrn M Wolff Balthasar Adolphen von Steinwehr betr. [1737–38], Bl. 10r-11v. 92 Siehe nochmals oben in Kap. 3, Abschn. 3.3. 93 Die Untersuchung gegen Gottsched war von Anfang an mit dem Verfahren gegen seinen Mitstreiter an der Leipziger Universität, einem Mitglied in seiner Societas conferentium und Redakteur der Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen, Wolf Balthasar Adolph von Steinwehr, verknüpft gewesen. Steinwehr, der sich in seinem am 2. Oktober 1737 erfolgten Verhör vor dem Oberkonsistorium renitenter als Gottsched zeigte, wurde mit härteren Strafen als dieser belegt; zur Untersuchung gegen Steinwehr siehe Kobuch: Auf klärung und Zensur, 76–81. 94 Spren(c)ken – mit einem Gitter versehen; siehe D. Döring: Die Philosophie, 81 in Anm. 303. 95 Klausing an Löscher, 9.11. 1737; zit. bei D. Döring: Die Philosophie, 81 f. 96 [Anonym:] Rez. Gottsched, Ausführliche Redekunst, 1736, UN 1738, 648–654.

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»Und gestehen wir gantz gerne, daß [. . .] er [sc. Gottsched] auch daher in dieser Anweisung allerley vortreffl iche Regeln gegeben, gründl. Vorstellungen gethan, pathetische Ausdrückungen dargeleget, und schöne Übungen rümlich angebracht.« 97 »Es ist aber nicht zu vergessen, daß er die so genante Prediger=Methode, oder Homiletic, gantz verächtlich tractiret, und als ein pedantisches Schul=Werk verwirfft.« 98 »Alleine, daß der Herr Prof. so viel vornehme Lehrer, welche die Homiletic Regelmäßig vorgetragen haben, und noch proponieren, und observieren, als Leute ansiehet, welche die rechte geistl. Rede=Kunst nicht verstünden, darinne können weder wir, noch andere verständige Männer ihm Beyfall geben. Uns wundert nur, wie man zu Leipzig, die Leipziger Prediger=Methode so getrost hat durchnehmen, und von andern verachten lassen können. Denn da darff man nur pag. 523, 572 und 607. nachschlagen, so wird man da sein Wunder sehen, wie die Homileten herunter gemachet werden.« 99

Unter diesem Umständen kann es nicht verwundern, wenn die orthodoxen und pietistischen Gegner der Auf klärung in Kursachsen auch nach Abschluß der »Inquisition« Gottscheds alles versuchten, das von der Theologischen Fakultät geforderte Verbot der »philosophischen« Predigt doch noch durchzusetzen. 1.1.2 Das Verbot der »philosophischen« Predigt (1742) Wie die Entwicklung der nächsten Jahre zeigte, kämpfte aber nicht nur die kursächsische Orthodoxie dabei auf schwierigem Gelände. Nach einer unvollständigen Liste in Ludovicis Ausführlichem Versuch einer vollständigen Historie der Wolffi schen Philosophie waren im Jahr 1737 reichsweit bereits 112 Lehrstühle an Universitäten und Gymnasien mit Wolffianern besetzt.100 Die mittlerweile auch offen geäußerten Klagen der kursächsischen Kirchenführer über die mangelnde Unterstützung der Obrigkeit in ihrem Kampf gegen den philosophischen Gegner machten ihre prekäre Lage für alle Welt manifest. So bemerkte der nach wie vor im Marburger Exil weilende Christian Wolff im Jahr 1739: »Die sächsischen Theologi werden ja nun bald schlimmer, als die Hallische werden, indem in einer Nota zu einer Leichenpredigt, Herr D. Loescher101 die weltliche Obrigkeit anklaget, daß sie bisher gar nicht ihr Amt thue, sich dem Fortgange meiner Philosophie zu widersetzen, und endlich schliesset, man müsse sich mit der weltlichen Gewalt dagegen setzen, ferro resecandum esse hoc malum.«102 97

[Anonym:] Rez. Gottsched, Ausführliche Redekunst, 1736, UN 1738, 648. [Anonym:] Rez. Gottsched, Ausführliche Redekunst, 1736, UN 1738, 649. 99 [Anonym:] Rez. Gottsched, Ausführliche Redekunst, 1736, UN 1738, 651. 100 Fehr: »Ein wunderlicher nexus rerum«, 167. 101 Um welche Leichenpredigt Löschers es sich hierbei handelt, habe ich nicht ermitteln können. 102 Wolff an Reinbeck, Marburg, 9. 9. 1739; zit. bei Büsching: Beytrag zu der Lebensgeschichte des Freyherrn, 33. 98

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In demselben, an Reinbeck gerichteten Brief erwähnte der Philosoph auch ein Responsum der Theologischen Fakultät zu Wittenberg, das die Anfrage beantwortete, »ob nicht einer von dem Predigtamt zu excludiren sey, weil er die wolfische Philosophie studiret?«103 Wie die Antwort der Wittenberger Theologen ausfiel, wußte Wolff nicht zu sagen. Nicht zu Unrecht spekulierte er jedoch: »Da die sächsischen Universitäten unter dem Ober=Consistorio stehen, so scheinet, bey so bewandten Umständen, wenig Gutes daselbst auszurichten seyn.«104 Daß aber neben Leipzig nun auch in Wittenberg, der zweiten kursächsischen Landesuniversität, der Einfluß der Wolffschen Philosophie zurückgedrängt werden sollte, hatte Klausing in seinem oben zitierten Schreiben an Lange angekündigt. Es dürfte also kaum bei dieser einzigen Aktion geblieben sein.105 Den letztlich unauf haltsamen Vormarsch der Philosophie Wolffs und der »philosophischen« Predigtweise bzw. die Wirkungslosigkeit der dagegen gerichteten Maßnahmen ihrer orthodoxen Gegner dokumentiert nicht zuletzt das publizistische »Zentralorgan der Orthodoxie«, Löschers Unschuldige Nachrichten. In knappen kirchengeschichtlichen Rückblicken zog man hier alljährlich Bilanz über die kirchengeschichtlich und theologisch relevanten Entwicklungen, auch den Fortgang der Wolff-Kontroverse. So resümierte man für das Jahr von Gottscheds Verhör: »Man mußte noch immer klagen, daß die neue schädliche Philosophie nach der Herrschafft über die Theologie augenscheinlich griffe.«106 Für das Jahr darauf notierte der Berichterstatter dann: 103 Wolff an Reinbeck, Marburg, 9. 9. 1739; zit. bei Büsching: Beytrag zu der Lebensgeschichte des Freyherrn, 33. 104 Wolff an Reinbeck, Marburg, 9. 9. 1739; zit. bei Büsching: Beytrag zu der Lebensgeschichte des Freyherrn, 33. 105 Die Wittenberg betreffende universitätsgeschichtliche, primär personen- oder wissenschaftsgeschichtlich ausgerichtete Literatur bietet keine Informationen für die hier interessierenden Vorgänge. Über die allgemeine universitätsgeschichtliche Situation orientiert R. Lieberwirth: Zur Geschichte der Universität Wittenberg im 18. Jahrhundert, in: Wissenschafts- und Universitätsgeschichte in Sachsen im 18. und 19. Jahrhundert: nationale und internationale Wechselwirkung und Ausstrahlung. Beiträge des internationalen Kolloquiums zum 575. Jahr der Universitätsgründung am 26. und 27. November 1984 in Leipzig/ hrsg. im Auftrage der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig und ihrer Historischen Kommission von K. Czok, Berlin 1987, 111–118; über die personellen und sonstigen Entwicklungen innerhalb der philosophischen Fakultät informiert im fraglichen Zeitraum neuerdings H. Kathe: Die Wittenberger philosophische Fakultät 1502– 1817, Köln u. a. 2002, 265–419; zur Theologischen Fakultät ist noch immer heranzuziehen W. Friedensburg: Geschichte der Universität Wittenberg, Halle 1917, 547–561; ebd, 555 auch der Hinweis auf das Wittenberger Responsum zur Wolffi schen Philosophie. Ein wenig zufällig und in der Argumentation nicht überzeugend erscheinen die Ausführungen von G. Mühlpfordt: Wittenberg und die Auf klärung: zu seiner Bedeutung für die Kulturgeschichte der Frühneuzeit, in: 700 Jahre Wittenberg: Stadt – Universität – Reformation/ hrsg. von St. Oehmig, Weimar 1995, 329–346. 106 [Anonym:] Kurtzgefaßte Kirchen=Geschichte des 1737sten Jahrs, UN 1738, 60.

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»Es ist eine Menge Streit=Schrifften wegen der Herrschafft, welche die Leibniz= Wolffi sche Philosophie durch ihre allzu hefftige Liebhaber über die Theologie gesucht, und wegen der Schädlichkeit vieler Puncten dieser Philosophie, herfür getreten.«107

Und mit Blick auf 1739 hieß es: »Die Leibnitzisch=Wolffische Philosophie hat noch auf vielen Universitäten den Meister gespielt, und selbst in Kirchen=Sachen jemehr und mehr herrschen wollen. [. . .] Es hat sich solches Ubel besonders in den Predigten gezeiget, da viele angefangen, dieselben gantz Philosophisch einzurichten, und die alte Biblische Art zu verachten; worüber allerley Schrifften gewechselt worden [. . .]«108 .

Das Jahr des Erscheinens von Gottscheds homiletischem Lehrbuch, 1740, brachte ganz neue Entwicklungen, die wie folgt berichtet wurden: »Die von der Leibnitzisch=Wolfischen Philosophie entstandene Unruhe hat sich vielmehr verschlimmert als gemindert [. . .] Wegen der neuen Predigt=Art ist allerley passirt, sonderlich bey Gelegenheit einer zu Berlin bekannt gemachten Cabinets=Ordre, und man hat angefangen, Geld=Prämie denjenigen zu setzen, welche die besten Predigten nach dem jetzigen Geschmack machen würden,109 worüber etliche Lehrer Klage geführet.«110

Obschon in den kirchengeschichtlichen Rückblicken von Löschers Zeitschrift die kursächsische Situation nicht gesondert thematisiert wurde, ist davon auszugehen, daß die Ausbreitung der »philosophischen« Predigtweise keinen Bogen um Kursachsen machte. Oder wie ist zu verstehen, daß man sich 1742 auf kirchenleitender Seite entschloß, in einem offenbar letzten Versuch dem ganzen einen Riegel vorzuschieben? Denn in einem auf den 16. November datierten oberkonsistorialen Reskript wurden alle kursächsischen Prediger angewiesen, sich der neumodischen »philosophischen« und »moralisierenden« Predigtweise zu enthalten. Stattdessen sollten sie sich die Predigt der reinen Lehre des Wortes Gottes angelegen sein lassen. Der Text der Verordnung lautete wie folgt: »Es habe das Collegium aus denen zum Consistorio eingesendeten Lehrarten wahrnehmen müssen,111 daß viele unter denn Geistlichen bloß moralisiren, und denen 107

[Anonym:] Kurtzgefaßte Kirchen Geschichte des 1738sten Jahres, UN 1739, 66. [Anonym:] Kirchen=Geschichte des 1739sten Jahres, UN 1740, 48. 109 Zu der hier angesprochenen homiletischen Preisaufgabe s. u. Kap. 4, Abschn. 1.2. 110 [Anonym:] Kurtzgefaßte Kirchen=Geschichte des 1740sten Jahres, UN 1741, 58 f. 111 Den Hintergrund des erwähnten Verfahrens bildet: Befehl, dass alle Geistlichen, in Städten, Flecken und Dörffern, einen Entwurff ihrer Methoden, oder sogenannten Jahrgänge, welche sie zu ihren Predigten erwählet, von Jahren zu Jahren, zum Obern= Consistorio einschicken sollen, d. 16. Nov. An. 1714 [recte: 1704], in: Neu=Vermehrtes und Vollständiges Corpus Juris Ecclesiastici Saxonici, Oder: Churfl. Sächs. Kirchen= Schul= wie auch andere darzu gehörige Ordnungen, nebst den in Consistorial= und Kirchen=Sachen ergangenen Ausschreiben, Mandaten und Rescripten [. . .] bis auf gegenwärtige Zeiten fortgesetzet, Dresden 1773, 466, wo es heißt: »Demnach Uns ins künfftige, 108

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Zuhörern ihre eigene Gedanken vortragen, im Gegentheil aber die Schrift ganz vergessen; fi nd daher nöthig, an den Ephorum zu rescribiren, daß er ihm untergebene Geistlichen anweisen solle, daß sie auf der Kanzel des Philosophirens enthalten, vielmehr die Predigt des Wortes Gottes lauter und rein vortragen, und also ihr Absehen auf nöthige Erbauung ihrer Zuhörer richten sollen.«112

Zu diesem Reskript, das in der predigtgeschichtlichen Literatur – oft in einem Atemzug mit einer Passage der 1739 ergangenen königlich-dänischen Instruktion zur Aufsicht über das Kirch- und Schulwesen im Herzogtum Schleswig-Holstein113 – als wirksames Mittel zum Schutz der orthodoxen Predigtweise im Kampf um die »philosophische« Predigt behauptet wurde,114 haben sich weder Spuren in den kriegsbedingt dezimierten Akten des Dresdner Oberkonsistoriums noch in den Beständen des Sächsischen Hauptstaatsarchivs auffi nden lassen.115 Zur Umsetzung des Reskripts können daher lediglich die folgenden, spärlichen Notizen aus der zeitgenössischen Literatur mitgeteilt werden: »Der Inhalt dieses den 16 Nov. 1742 ergangenen Rescripts ist von dem Herrn Ephoro der Diöces, welchem es zugeschicket gewesen, in einem Circularschreiben denen Predigern in derselben also angezeiget worden: [. . .] An unterschiedliche Prediger, die das Consistorium besonders angemerket, soll der Herr Ephorus in individuo schriftliche Erinnerung gethan haben.«116

Ob und mit welchem Erfolg damit die intendierte Einschränkung der »philosophischen« Predigt erreicht wurde, kann ohne genauere Untersuchungen, die sich jedoch angesichts der fehlenden Aktenüberlieferung schwierig gestalten dürften, nicht abschließend geurteilt werden. Gleichwohl scheint von Beschaffenheit derer so genannten Jahrgänge und Methoden, welche die Geistlichen meistentheils bey ihren Predigten sich zu erwählen pflegen, von Jahren zu Jahren gründliche Nachricht vonnöthen seyn will; [. . .]«; vgl. auch J. Ch. Lünig: Codex Augusteus oder neu=vermehrtes Corpus Iuris Saxonici, Leipzig 1724, 903. 112 Zit. nach dem Abdruck in: Acta historico-ecclesiastica 7 (1743), 31 f.; ebenfalls abgedruckt in: Patriotisches Archiv für Deutschland 3 (1785), 553 f.; Schuler: Geschichte, Tl. 2, 197. 113 Zu dieser vom »dänischen Staatspietismus« getragenen Instruktion siehe unten Kap. 4, Abschn. 2.1. 114 Rothe: Geschichte der Predigt, 408: »Wirksamer als diese [sc. die orthodox-publizistische] Polemik indessen waren die Maßregeln, welche einige Regierungen zu Gunsten der sogenannten biblischen Predigtweise ergriffen, nämlich die königlich dänische Instruction zur Aufsicht über das Kirchen- und Schulwesen im Herzogthum SchleswigHolstein und das Dresdner Oberconsistorium durch eine Verordnung über die Einrichtung der Predigten vom 16. November 1742«; Hinweise auf die zwei Erlasse in der älteren Literatur z. B. auch bei Schenk: Geschichte, 166; Lentz: Geschichte, 177 f. in Anm. *); Zezschwitz: Geschichte der Predigt, 348; u. ö. 115 Zwar bietet SHStA Dresden, Bestand Geh. Archiv, Loc. 2080/3: Concept-Rescripte des Oberconsistoriums 1740–1746, einen diesbezüglich vielversprechenden Bestand, in dem zum vorliegenden Reskript aber leider nichts gefunden werden konnte. 116 Acta historico-ecclesiastica 7 (1743), 31 f.

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der Anordnung nicht einmal ein kurzfristiger Erfolg beschieden gewesen zu sein. Denn auch in der publizistischen Kontroverse um die »philosophische« Predigt und Gottscheds 1740 erschienenes Predigtlehrbuch zogen die kursächsischen Stimmen den kürzeren. Zwei Wortmeldungen von 1742 mögen das veranschaulichen. Als Kritiker der »philosophischen« Predigt trat in eben jenem Jahr der Leipziger orthodoxe Theologe Salomon Deyling (1677–1755), ein erklärter Gegner der Wolffschen Philosophie, in Erscheinung.117 Deyling, dem 1739 der Faux pas passiert war, eine satirische Predigt der Gottschedin in Gegenwart ihrer anonymen Verfasserin für eine ernstgemeinte Schrift gegen den grassierenden Wolffianismus zu halten,118 äußerte 1742 in einer Vorrede zu einer Predigtsammlung seine Gedanken »(v)on der Art erbaulich und überzeugend zu predigen«. Dabei ging er auch auf die Frage ein, in »wie ferne ins besondere die so genannte demonstrativisch=philosophische Methode in H[eiligen] Reden könne und dürffe gebrauchet werden?«119. Obwohl er nach klassisch-orthodoxer Auffassung der Meinung war, daß »der rechte und wohl eingerichtete Gebrauch der gesunden Vernunft in Abhandlung Theologischer Wahrheiten nicht verwerfl ich, sondern nöthig und nützlich ist«120, beklagte er massiv die »unter uns einbrechenden Philosophischen Ausschweiffungen auf der Canzel, da man insgemein den biblischen Text vorbey gehet, und die Zeit mit raisonniren hinbringt«121. Dem müsse »Einhaltung gethan, und zwischen Magisterium und Ministerium der Vernunft ein genauer Unterscheid von gewissen Predigern beobachtet werden«122 . Denn: »Die Vernunft und Welt=Weißheit mag, wie bey dem Vortrag göttlicher Lehren und in geistreichen Reden und Handlungen, auch auf der Canzel dienen. Aber diese Hagar sol in Glaubens=Sachen niemals herrschen und das Regiment führen oder gebieten«123. 117

Zu Deyling, einem Mitarbeiter an den »Acta eruditorum«, vgl. ADB 5 (1877), 108 f.; zu seiner Gegnerschaft gegen die Wolffsche Philosophie siehe D. Döring: Die Philosophie, 48 f. 123 f. 118 Vgl. Strassberger: »Auf-Klärung« durch Satire?, 72 f. 119 S. Deyling: Vorrede von der Art erbaulich und überzeugend zu predigen und wie ferne ins besondere die so genannte demonstrativisch=philosophische Methode in H. Reden könne und dürffe gebrauchet werden?, in: C. A. Wolff: Erster Zehenden auserlesener Heil. Reden in welchen wichtige Wahrheiten des Glaubens auf eine ordentliche und das Gemüthe überzeugende Art aus dem Lichte der heil. Schrifft zum Theil auch aus dem Lichte der gesunden Vernunfft vorgetragen und abgehandelt werden[.] Nebst einer Vorrede Herrn D. Salomon Deylings [. . .], Erfurt 1742, Bl. )(5r-8v. – Der Text erschien danach, begleitet mit einer ausführlichen kritischen Kommentierung, in einem Abdruck in: Beiträge zur Beredsamkeit, Tl. 3 (1745), 515–540 (14. Beitrag). 120 Deyling: Gedanken von der Art, in: Beiträge zur Beredsamkeit, Tl. 3 (1745), 524. 121 Deyling: Gedanken von der Art, in: Beiträge zur Beredsamkeit, Tl. 3 (1745), 528. 122 Deyling: Gedanken von der Art, in: Beiträge zur Beredsamkeit, Tl. 3 (1745), 528. 123 Deyling: Gedanken von der Art, in: Beiträge zur Beredsamkeit, Tl. 3 (1745), 529.

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Seiner Meinung nach würde für eine dauerhafte Besserung des von Grund auf verderbten, boshaften Willens des Menschen das »künstliche raisonnieren, demonstriren und philosophiren auf der Canzel wenig oder nichts ausrichten«124. Allein die »Kraft des göttlichen Wortes, und die Gnaden=Würkung des heiligen Geistes mit dem Worte Christi, welches Geist und Leben ist«125, würde solches zu leisten vermögen. Deylings Vorrede fand 1745 Aufnahme in Cappelmanns Beiträgen zur Beredsamkeit derer Geistlichen Lehrer.126 Dabei war es nicht die Vorbildlichkeit der vorgetragenen Argumentation, die ihn zu diesem Abdruck bewegte. Vielmehr kommentierte Cappelmann Deylings Text mit 30 halb- oder ganzseitigen Anmerkungen, in denen er die kritischen Aussagen des Leipziger Theologen für entweder dem Modell einer »philosophischen« Predigt nicht widerstrebend oder gar von dieser vorbildlich umgesetzt behauptete. Auf diese Weise wurden die Kritikpunkte Deylings öffentlich als nicht stichhaltig vorgeführt und sein Einspruch damit für obsolet erklärt. Ebenfalls 1742 startete ein anderer, wahrscheinlich ebenfalls kursächsischer Pfarrer den publizistischen Versuch, zwischen Gottscheds Grund-Riß einer Lehr-Arth und der orthodoxen »Leipziger Predigerkunst« zu vermitteln.127 Angesichts der unüberbrückbaren Kluft, die sich zwischen dem orthodoxen und auf klärerischen Predigtverständnis aber aufgetan hatte und die sich kaum anschaulicher als im beinahe zeitgleichen Nebeneinander der homiletikgeschichtlich ungleichzeitigen Artikel »Predigermethode« bzw. »Predigerkunst« im in Leipzig verlegten Zedler greifen läßt,128 war dieser Vermittlungsversuch ebenso unrealistisch wie aussichtslos. Daher mutete das Vorhaben im ersten Moment auch beinahe satirisch an. Doch waren die dafür leitenden Motive in der Tat ehrlich, weil in der Festgefahrenheit der hochgradig polarisierten Debatte zu suchen. Kaum verwunderlich stieß der 124 125

Deyling: Gedanken von der Art, in: Beiträge zur Beredsamkeit, Tl. 3 (1745), 534. Deyling: Gedanken von der Art, in: Beiträge zur Beredsamkeit, Tl. 3 (1745),

533 f. 126

Zu Cappelmann s. o. in Kap. 2, Abschn. 3.3.3. [Anonym:] A. U. [,] D. zu Str. und Pr. z. W. Versuch, wie die neue Lehr=Art ordentlich und erbaulich zu predigen, mit der lange Zeit üblich gewesenen so genannten Leipziger Methode verknüpffet, diese beybehalten und jene mit Nutzen angewendet werden könnte. Nebst einer nach diesem Versuch Ausgearbeiteten Predigt, Leipzig: bey August Martini, Buchhändler auf dem alten Neumarckt, an der Ecke des Gewandgäßgens, 1742; Exemplar UB Breslau: 331633. – Den Inhalt der Schrift referiert Lilienthal: Fortgesetzte Theologische Bibliothec, 830 wie folgt: »Der mit den Buchstaben A. V. D. bezeichnete Scribent, vermeynet, daß in dem Grundriß nichts neues stehe, was nicht schon in Rebhans Concionatore zu fi nden sey. Er hält auch dafür, daß die von Hulsemanno aufgebrachte, und so lange Zeit üblich gewesene Leipziger Methode zur Ungebühr verworfen werde; als welche viele Vortheile mit sich führe, und mit der neuen Lehrart gar wohl könne combiniret werden.« 128 Vgl. nochmals [Anonym:] Methode (Prediger=), 1306–1328 sowie [Anonym:] Predigerkunst, 246–267. 127

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unbekannte Schlichter weder in der Öffentlichkeit noch bei Gottsched auf ein positives Entgegenkommen – der Vorstoß verhallte ohne jegliche Reaktion.129 So konnten Löschers Unschuldige Nachrichten für das Jahr nach dem Erlaß des kursächsischen Verbots der »philosophischen« Predigt zwar ein Abflauen der publizistischen Wolff-Kontroverse notieren, nicht aber einen Rückgang der »neumodischen« Predigtweise. Nicht direkt, aber wohl auch mit Blick auf Kursachsen wurde deshalb im kirchengeschichtlichen Rückblick für das Jahr 1743 bilanziert: »[. . .] der Sturm der Wolfischen Philosophie, welcher sich über die wahre Theologie erhoben, hat sich auch einigermaßen geleget; [. . .]. Anbey hat man noch immer Ursach gehabt über die einreissenden Philosophischen Predigten und Anti=Theologischen Satyren zu klagen.«130

Für das Jahr darauf mußte dann sogar eine weitere Zunahme der »neumodischen« Predigtweise festgestellt werden: »Mit dem Lermen wegen der herrschsüchtigen Wolffi schen Philosophie ist es nicht besser worden [. . .] Zumahl da grobe Spötter sich immer stärcker darein mischeten [. . .] und die philosophischen Predigten an vielen Orten zunahmen.«131

Mit dem Hinweis auf die »Anti=Theologischen Satyren« oder die »grobe[n] Spötter« machten die Unschuldigen Nachrichten allerdings auf einen signifikanten Punkt innerhalb der publizistischen Kontroverse um Wolffs Philosophie und die »philosophischen« Predigten aufmerksam, der auch im Rahmen der gegen Gottsched gerichteten Untersuchung und in der Rezension von dessen Ausführliche[r] Redekunst von orthodoxer Seite beklagt worden war: der als respektlos empfundene Umgang der auf klärerischen Publizistik mit ihren Gegnern, greif bar in deren Vorliebe für den satirischen Stil. Offenbar gehörte die Praxis satirischen Schreibens zu jenen neuen Kommunikationsformen der Auf klärung, die den »Strukturwandel der Öffentlichkeit« bezeichneten und mit dem die im Elenchusverfahren geübten Orthodoxen in keiner Weise zurecht kamen. 1.2 Zwischen Elenchuspraxis und Satirekritik: der publizistische Kampf der Orthodoxie gegen die »philosophische« Predigt – das Beispiel Gottfried Kohlreif(f)s Die öffentliche Debatte132 um die »philosophische« Predigt, die kurz nach 1740 ihren Höhepunkt erreichte, hatte nicht nur die in den 1730er Jahren 129

Siehe dazu Strassberger: Die »Leipziger Predigerkunst«, 217 f. [Anonym:] Kurz gefaßte Kirchen=Geschichte des 1743sten Jahres, UN 1744, 83. 131 [Anonym:] Begriff der Kirchen=Geschichte des 1744sten Jahres, UN 1745, 122 f. 132 Zu einigen grundlegenden Konstitutionsbedingungen auf klärerischer Öffentlichkeit, wie z. B. der zentralen Funktion der Presse, vgl. zuletzt U. Goldenbaum: Die öffent130

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breitflächig auf brechende »philosophische« Predigtweise und deren Propagierung durch einen 1739 von Graf Manteuffel initiierten Predigtwettbewerb bzw. die im Frühjahr 1740 erfolgte Publikation von Gottscheds Predigtlehrbuch zum Hintergrund. Sie war auch eingebettet in eine gesamtgesellschaftliche »Großwetterlage«, in der die Thronbesteigung Friedrichs II. (30. Mai 1740) und die Rückkehr Christian Wolffs nach Halle (6. Dezember 1740) jene zwei Spitzenereignisse bildeten, die die gesamte literarische und gelehrte Öffentlichkeit in außerordentliche Erregung versetzten. Eine ganze Reihe weiterer innertheologischer Auseinandersetzungen, wie z. B. der noch immer nachwirkende Streit um die Wertheimer Bibel,133 die Kontroverse um Johann Christian Edelmann134 oder die fortwährenden Zinzendorfschen Streitigkeiten,135 sorgten dabei für publizistische »Begleitmusik« aus dem theologischen Lager. Emanuel Hirsch bemerkte deshalb zutreffend, daß diese, um 1740 kulminierenden »Streitigkeiten zeig[t]en, daß Theologie und Kirche den Anbruch des Neuen in ihrer eignen Mitte zu spüren bek[a]men«136 . Vor allem durch den alle Kontroversen überlagernden Streit um die Wolffsche Philosophie wurde die (theologische) Öffentlichkeit in eine Fraktion emphatischer Befürworter und eben solcher Gegner gespalten. Eine weitreichende Folge der jahrzehntelangen Debatten war die hochgradige Polarisierung der gesamten Öffentlichkeit,137 ein Umstand, der sich auch in der Kontroverse um die »philosophische« Predigt auswirkte und der bereits Zeitgenossen negativ aufstieß.138 In literarhistorischer Perspektive bezeichnete die oben erwähnte, 1738 erschienene Rezension von Gottscheds Ausführliche[r] Redekunst in den Unliche Debatte in der deutschen Auf klärung 1697[!]-1797: Einleitung, in: dies.: Appell an das Publikum, 1–118. 133 Zu diesem hauptsächlich zwischen 1734 und 1738 geführten Streit vgl. zuletzt Goldenbaum: Der Skandal, 175–496. 134 Zu Edelmann (1698–1767) siehe RGG4 2 (1999), 1056 f. (A. Beutel); darüber hinaus siehe auch E. Scheweleit: Johann Christian Edelmann: Repräsentant der radikalen Aufklärung, in: Auf klärung in Berlin/ hrsg. von W. Förster, Berlin 1989, 297–315; H.-B. Spies: Die Flucht des Theologen Johann Christian Edelmann von Berleburg nach Hachenburg (1741), Siegener Beiträge 2 (1997), 38–50. 135 Zur öffentlichen Debatte um Zinzendorf und die Herrnhuter liegt keine zusammenfassende Darstellung vor; vgl. einstweilen D. Meyer: Zinzendorf und Herrnhut, in: GdP 2, 3–106. 136 Hirsch: Geschichte, Bd. 2, 399. 137 Auch Fehr: »Ein wunderlicher nexus rerum«, 200 konstatiert für dieselbe Zeit eine »durch die gesellschaftliche Polarisierung bedingte Zwietracht in Preußen«. 138 Bereits 1744 notierte der Königsberger Theologe und ehemalige Lehrer Gottscheds Michael Lilienthal in einer Sammelrezension zu Schriften, die in den Streit um die »philosophische« Predigt verwickelt waren: »Ueberhaupt ist dieser Streit, von der philosophischen Lehrart im Predigen, nicht in der Art geführet worden, daß er andern zum Muster dienen könnte. Iliacos intra muros peccatum & extra!«; Lilienthal: Fortgesetzte Theologische Bibliothec, 826.

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schuldigen Nachrichten den mutmaßlichen Auftakt für die orthodoxe Publizistik gegen die »philosophische« Predigt.139 Damit ist – betrachtet man die übrigen publizistischen Interventionen der Kritiker (s. u.) – ein vergleichsweise später Zeitpunkt ihres Eingreifens in die laufende Kontroverse markiert. Offenbar bedurfte es erst des Anstoßes von Manteuffels homiletischer Preisaufgabe, um den geballten Widerspruch eines orthodoxen Kritikers herauszufordern. Denn Manteuffels Idee, eine goldene Medaille im Wert von zehn Dukaten als Preis für die beste Predigt zum Thema der Auferstehung der Toten nach Gründen der Schrift und der Vernunft auszuloben,140 rief den Ratzeburger Propst Gottfried Kohlreif(f ) (1676–1750),141 der seinem Unwillen über die neue Predigtweise bereits zuvor publizistisch Luft verschafft hatte, als schärfsten Kritiker der Unternehmung auf den Plan.142 Es war die in dem Wettbewerbsverfahren erstmals für Deutschland greif bare neue Form auf klärerischer Kommunikationspraxis, mittels einer homiletischen Preisaufgabe die Öffentlichkeit für bestimmte Zwecke zu mobilisieren und dadurch bestimmte Diskurszusammenhänge zu dynamisieren, die bei der Orthodoxie mehr als nur Skepsis hervorrief. Der um Manteuffels Predigtwettbewerb geführte und für die öffentliche Anerkennung der »philosophischen« Predigt wichtige Streit wurde dabei durch einen »Schiedsspruch« Mosheims geschlichtet, bevor er nach der Jahrhundertmitte durch Johan Melchior Goeze, der als 22jähriger Predigtamtskandidat am Predigt-

139 [Heinsius:] Unpartheyische Kirchen-Historie, Tl. 3, 739–742 betrachtete Gottscheds Ausführliche Redekunst als Initialzündung einer Debatte, zu der er ebd, 741 mit den Worten überleitete: »Nach diesen entstund ein grösserer Lerm.« – Unklar ist, ob die zwei Jahre zuvor erfolgte Publikation einer Gegenschrift auf jene 1734 von Georg Gottfried Roscius in Sorau verlegte Sammlung homiletischer Reformschriften von La Placette, Mosheim und anderen Autoren, in der Gottsched mit seiner Kritik an allegorischen Predigten vertreten war (Gottsched: Auszug Aus Herrn Prof. J. C. Gottscheds Grund=Riß zur Rede=Kunst, 99 f.), einen orthodoxen oder pietistischen Hintergrund hat. Denn gegen die Sammelschrift publizierte Laurentius (Lorenz) Otto Lasius (1675–1750; zu ihm DBA I, 741, 364–376), ein Pfarrer zu Zibelle und Gräfl ich-Callenbergischer Konsistorialassessor in Muskau (Oberlausitz), der zeitweise in Halle Theologie studiert hatte. Da von Lasius’ Schrift nur noch der Titel bekannt ist, kann über die inhaltliche Ausrichtung seiner Ausführungen nur spekuliert werden. Der Titel dieser ebenfalls in Sorau publizierten Schrift lautete: L. O. Lasius: Sendschreiben, darinne erwiesen wird, daß wir in unserer evangelischen Kirche Joh. Placette Unterricht, wie man predigen solle, gar nicht bedürfen, Sorau 1736; Titel zit. nach UN 1736, 533; vgl. Hallbauer: Nöthiger Unterricht, 55. 140 Vgl. hierfür die ausführliche Darstellung bei Strassberger: Zwischen Predigtreform, 51–70; siehe auch Lentz: Geschichte der christlichen Homiletik, Bd. 2, 169 in Anm. *). – Manteuffels Urheberschaft des anonym gestifteten Predigtpreises bezeugt glaubhaft Schuler: Geschichte, Tl. 2, 192. 141 Zu Kohlreif(f ) siehe Goetten: Das Jetztlebende Gelehrte Europa, Tl. 2, 514–528; [Heinsius:] Unpartheyische Kirchen-Historie, Tl. 3, 1033–1037 mit Schriftenverzeichnis mit 36 Nummern; ADB 16 (1882), 453 (Krause). 142 Vgl. Schuler: Geschichte, Tl. 2, 192–194; Rothe: Geschichte der Predigt, 408.

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wettbewerb selbst teilgenommen hatte,143 seine abschließende Bewertung erhielt. Unter den zahlreichen gelehrten Schriften Kohlreifs, in denen sich der Ratzeburger Propst als intimer Kenner der orientalischen Sprachen und der biblischen Chronologie erwies, galt seine besondere Liebe dem Jesaja-Buch, von dem er zwischen 1737 bis zu seinem Tod ausgewählte Kapitel in 20 Einzelveröffentlichungen auslegte.144 Besonderes Kennzeichen dieser Publikationen war eine mit philologischer Detailliebe und ausgebreiteter Kenntnis biblischer Altertümer betriebene Exegese, die mit einer dezidiert zeitdiagnostischen Auslegung der behandelten Texte verbunden war. Vielleicht kann man die für heutige Leser nur schwer nachvollziehbare bibelhermeneutische Praxis Kohlreifs am besten dahingehend charakterisieren, daß hier ein profunder Bibelgelehrter und Theologe »orthodoxer Prägung« einen alttestamentlichen Propheten im Vorzeichen der Allegorese so auslegte, daß er seiner Zeit selbst zum Propheten wurde. Wegen seines Auftretens bereits von Zeitgenossen als »Surintendant General de la doctrine chretienne«145 belächelt, kann Kohlreif auch deshalb als »Orthodoxer« angesprochen werden, weil er in seinen Schriften den Lehrelenchus gegen tatsächliche oder vermutete Abweichungen von der rechten lutherischen Lehre unbeeindruckt vom Wandel der Zeit fortzuführen suchte.146 Erstmals hatte Kohlreif – noch eher beiläufig – in einer 1738 publizierten Paraphrase von Jes 33 vor einem unzeitigen Vernunftgebrauch in Theologie und Kanzelverkündigung gewarnt.147 Die Ablehnung der neuen, auf kläreri143 Eine Auswahl der eingesandten Predigten erschien im Druck in: Der Beweis des Lehrsatzes: Die Todten werden auferstehen. Nach Anlaß der öffentlichen Aufgabe im Vorber[icht] des III. Th[eils] der Canzel=Reden nach den Gründen des Glaubens und der Vernunft in einigen Reden von berühmten und begabten Lehrern ausgeführet, Bd. 1, Hamburg; Leipzig 1741 ( 21745); Bd. 2. Hamburg; Leipzig 1742 ( 21747); Goezes Predigt ebd, Bd. 2, 126–176. 144 Zu den unter den Nummern 15 bis 34 aufgeführten Schriften vgl. [Heinsius:] Unpartheyische Kirchen-Historie, Tl. 3, 1036 f. 145 [Heinsius:] Unpartheyische Kirchen-Historie, Tl. 3, 1034. 146 [Heinsius:] Unpartheyische Kirchen-Historie, Tl. 3, 1034 notierte Kohlreifs unzeitgemäße Haltung im Versuch einer biographischen Charakteristik vier Jahre nach seinem Tod mit folgenden Worten: »Er besas eine sonderbare Kentnis der morgenländischen Sprachen, der biblischen Zeitrechnung, und der Auslegungskunst der heil. Schrift, ob man gleich nicht läugnen kan, daß er sich oft als einen Liebhaber dessen, was selten und ungewöhnlich ist, bewiesen. Dennoch aber konte er bey andern nicht leiden, daß sie etwas neues vorbrachten. Der gegenwärtige Geschmack, und besonders die neuere Weltweisheit waren ihm äusserst verhaßt. In der Vertheidigung der Orthodoxie und in der Bestreitung und Bestrafung solcher Lehren, die ihm anstößig schienen, war er ungemein eifrig.« 147 G. Kohlreif(f): Das Himmlische Jerusalem In der Verbindung Mit der Erhörung des Volckes GOttes zu den Zeiten Sanheribs; Oder Eine deutliche Auslegung des XXXIII. Capitels Jesaiä, Allwo unter Andern [. . .] auch auf die Frage: Wo sind die Weltweisen? Von dem itzo bey der Christlichen Lehre im Schwange gehenden unzeitigen Gebrauch der Vernunfft und Weltweisheit gehandelt, und vor der unvermerckten Abführung von der

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schen Predigtauffassung begründete er dabei mit hörerbezogenen Vorteilen der orthodoxen Predigtweise, die er insbesondere auf der memoria-Ebene des Predigtaktes gegeben sah.148 Den von den Auf klärern so nachdrücklich betonten apologetischen Nutzen des Vernunftgebrauchs stellte Kohlreif prinzipiell in Frage, weil dadurch die Wirksamkeit des Wortes Gottes verkleinert würde, als ihr aufgrund der übernatürlichen Eigenschaften zukomme.149 Wie sich zeigte, war es insbesondere die den Wolffianern angelastete Zurücksetzung des biblischen Textes in seiner theologisch-homiletischen Begründungsfunktion, die Kohlreif als Einfall des Satans ansah und die seine Befürchtungen nährte.150 Im Jahr darauf veröffentlichte Kohlreif dann die Auslegung eines weiteren Kapitels des Jesajabuches, das er Löscher mit programmatischen Worten widmete und das ein bezeichnendes Licht auf den theologisch-philosophiheiligen Schrifft, die daher zu befürchten, treulich gewarnet wird, Ratzeburg 1738, 44 f.: »Darüm kan ich auch die Gefahr nicht bergen, welche der itzige unzeitige Gebrauch der Vernunfft und Weltweißheit/ den man bey der Christlichen Lehre einzuführen suchet, mit sich bringet. Wenn man nemlich einen Lehr=Satz aus seiner Weltweißheit nimmet, und daraus eine Lehre des Göttlichen Wortes durch viele, vermeintlich an einander hängende Vernunfft=Schlüsse beweisen will. Ich gestehe gern, daß dergleichen Dinge in der höhern GOttesgelahrtheit, und wenn man mit den Lehrern der Irrgläubigen streiten muß, einigen Nutzen haben können. Aber es zur ordentlichen Lehr=Art zu machen, mögte ich nicht rathen. Absonderlich sollte man sich dessen auf der Cantzel, wo eine gantze Gemeine zu erbauen, enthalten, weil viele nur dadurch irre gemacht und in nöthigern Sachen versäumet werden.« 148 Kohlreif(f): Das Himmlische Jerusalem, 45: »Es kan da, wie der heilige Geist uns selbst drinnen vorgehet, durch klüglich eingestreuete Gleichnisse, Historien und Dencksprüche, weit mehr zur Ermunterung der Gemüther, und zur Hülffe des Gedächtnisses ausgerichtet werden, als durch weit hergeholtes Vernünffteln: [. . .].« Denn »der Beweis, der auf Mathematische Art mit vielen an einander hängenden Vernunfft=Schlüssen geschicht, [ist] viel schwerer zu untersuchen [. . .]«. 149 Kohlreif(f): Das Himmlische Jerusalem, 46: »Machet man denn gar etwas Nothwendiges daraus, und meynet, daß den Atheisten und Naturalisten sonst nicht beyzukommen: so wird dem Worte GOttes der Fehler angetichtet, als wenn es nicht mehr so kräfftig, wie zu den Zeiten der Apostel, da so viel Heydnische Völcker, die auch Athei und ohne GOtt waren, Eph. II, 12. ja selbst Heydnische Weltweisen, ohne Weltweißheit und ohne so viele Vernunfft=Schlüsse, durch die Predigt des Wortes GOttes zum Christenthum sind bekehret worden. Also spannt man die Pferde hinter den Wagen, indem man der heiligen Schrifft durch die Vernunfft helffen will, da man doch der Vernunfft durch die Offenbarung helffen sollte.« 150 Kohlreif(f): Das Himmlische Jerusalem, 47 f.: »Hiebey werden gemeiniglich andere bisher gebräuchliche, kräfftig und bündig befundene Beweisthümer verachtet, oder hintan gesetzt: und was aus der heil. Schrifft in Betrachtung kömmt, bestehet in sehr wenigem. Sehr wenige Stellen der heil. Schrifft werden erkläret und gebrauchet. Und da man nun durchgehends bey der Christlichen Lehre diß raisonniren, und diesen Gebrauch der Vernunfft und Weltweißheit, als einen Weg einzuführen gedencket, wodurch alle Wahrheiten fest zu setzen: so werden diejenigen, die etwas weiter sehen, leicht erkennen, was das für ein Ufer sey, die Leute in den verfluchten Wahn zu stürtzen, daß man der Bibel nicht eben so hoch benöthiget. Da denn der Satan schon ferner seine bisher verborgenen Klauen hervor strecken, und eine gantz andere Vernunfft zu Marckte bringen wird.«

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schen Standpunkt der »Orthodoxie alten Schlags« warf.151 Im Zusammenhang mit chronologischen Berechnungen zu den Regierungsjahren des Königs Herodes kam Kohlreif in einem Anhang auf die »Reliquien des goldenen Adlers« zu sprechen, die Herodes einst über dem Jerusalemer Tempeltor anbringen ließ.152 Der Exkurs auf das Feld jüdischer Altertumskunde bot Kohlreif willkommene Gelegenheit, die Aktion des Herodes mit der Ausbreitung des auf klärerischen Vernunftgebrauchs und der Auslobung der goldenen Preismünze durch Manteuffels Predigtwettbewerb zu parallelisieren: »Was sodann die Reliqvien des Güldenen Adlers betrifft, welchen dieser Herodes über das grosse Tempelthor hat fertigen lassen: so mag man dafür ansehen die noch anhaltende grosse Erhebung der Vernunfft bey dem Worte GOttes, und die Goldstücke / welche man darauf zu setzen angefangen, daß sie denen sollen gegeben werden, die von einer gewissen Glaubens=Lehre, z. E. von der Auferstehung der Todten, eine solche Abhandlung aus Vernunfft und H. Schrifft einliefern, so nach dem Urtheil ich weiß nicht was für Personen, die beste ist!«153

Auch bei dieser neuerlichen Kritik an den aktuellen theologisch-homiletischen Entwicklungen nahm Kohlreif maßgeblich Anstoß an der behaupteten Mißachtung der Heiligen Schrift zugunsten hybrider Vernunftliebe. Diese sah er im Thema der Preispredigt gegeben, wonach die Auferstehung der Toten mit Gründen der Schrift und der Vernunft homiletisch bearbeitet werden sollte. Den Wunsch nach einer solchen Integration von Vernunftgründen für ein theologisches Thema lehnte er als ebenso unbiblisches wie widerchristliches Unterfangen ab: »Elende Seelen! denen die viele herrliche Zeügnisse der H. Schrifft von der Auferstehung der Todten, denen die Auferstehung Christi, denen der gantze Christliche Glaube nicht genug, das Hertz zu beruhigen und von der Todesfurcht zu befreyen. 151 G. Kohlreif(f): Die Geburt Christi im Lande Canaan / als der stärckste Grund wider das Sehnen nach Egypten: Eine deutliche Erklärung des XXX. Cap. Jes. bis zum 27. Vers. [. . .] Und einem Anhange Das Jahr der Geburt Christi mit den sämmtlichen Jahren der Zeit N. T. auch im Propheten Haggai gezeiget, [. . .] die Mondfi nsterniß vor dem Tode Herodis berechnet; Mithin Der rechte Gebrauch der Mathesis bey GOttes Wort, an Staat des itzo so hochbeliebten, aber höchstgefährlichen Misbrauchs, gelehret wird, Ratzeburg 1739; die Widmung an Löscher ebd, 3 f.: »Dem Grossen / von den Treuen in Israel durch alle Jahre des jetzigen Seculi hochgepriesenen, in der Hebreischen Sprache und zugleich in den Mathematischen Wissenschaften hocherfahrnen Theologo, Zu zeigen, daß in dieser Gegend noch viele, die Desselben unvergleichliche Verdienste in den Siegen wider die Unionisten / Pietisten / Romanisten / und nun noch wider die Mathematischen Rationalisten / in danckbarem Andencken behalten, und GOtt für die darunter erwiesene Gnade loben.« 152 Kohlreif(f): Die Geburt Christi, 114–120: »Zugabe / worinnen noch einige Anmerkungen über Jes. XXX, 26. und von den Regirungs=Jahren Herodis / wie auch von den Reliqvien seines güldenen Adlers / beygefüget werden.« – Die Anbringung des goldenen Adlers berichtet Flavius Josephus: Jüdische Altertümer/ übersetzt und mit einer Einleitung und Anmerkungen versehen von H. Clementz, Bd. 2, Berlin; Wien 1923, 474 (17. Buch, 9. Kap.). 153 Kohlreif(f): Die Geburt Christi, 117.

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Elende Seelen! die mit der Christl. Kirchen nicht singen können: Weil du vom Tod erstanden bist / werd ich im Grabe nicht bleiben: mein höchster Trost deine Auffahrt ist / Todesfurcht kan sie vertreiben. Elende Seelen! die hier in der Vernunfft einen festen Fuß zu setzen vermeynen, da die Vernunfftschlüsse an einer Seiten, und die Einwürffe der Vernunft von der andern Seite, wie die Winde sind, die das Rohr hin und her wehen. Keine Erkenntniß aus der Vernunfft wircket wahre Bekehrung. Keine Erkenntniß aus der Vernunfft macht das Hertz feste. Keine Erkenntniß aus der Vernunfft macht selig.«154

Kohlreif betrachtete es als moralisch verwerfl ich, wenn für Predigten, die doch nichts anderem als der Ehre Gottes dienen sollten, ein Geldpreis ausgesetzt und auf diese Weise die Geldgier der Prediger angestachelt würde.155 Seine Kritik hatte ihren Fluchtpunkt dabei einmal mehr in einer darin sichtbaren »Verkleinerung der H. Schrifft«156 . Kohlreifs eigenes Predigtverständnis, das er demgegenüber etwas unscharf formulierte,157 brachte (aus heutiger Sicht) zwar keine eigentlich signifikanten Differenzen zu den selbsterklärten Absichten einer »philosophischen« Predigt zur Sprache; gleichwohl wirkte die gesellschaftlich-theologische Polarisierung zwischen »Orthodoxen« und »Auf klärern« bereits so massiv, daß sich Kohlreif ohne jede Dialogbereitschaft mit Worten der Bibel selbst emphatisch von der Predigtauffassung der »Neuerer« abgrenzte: »Allein wie schlecht wird dieser Hauptzweck in den neuförmigen Predigten, und in den Anweisungen zu denselben beobachtet? Wie unzeitig wird dessen vergessen? Aber, HERR, dein Wort bleibet ewiglich, so weit der Himmel ist. Ich habe alles Dinges ein Ende gesehen, aber dein Gebot wäret. Das Gesetz deines Mundes ist mir lieber, denn viel tausend Stück Gold und Silber. Es ist auch köstlicher denn Gold, und viel feines Goldes: es ist süsser den Honig und Honigseim.«158

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Kohlreif(f): Die Geburt Christi, 117 f. Kohlreif(f): Die Geburt Christi, 118 f.: »Doch was sind es dagegen für Lehrer, nach denen man sich die Ohren jücken läßt? Es sind solche, die durch dargebothene Goldstücke sollen aufgebracht werden, Meisterstücke von Predigten zu verfertigen. Siehe, die Goldstücke sollen sie lüstern machen, daß sie sich vor andern angreiffen. Die Goldstücke sollen sie voll Geistes machen.« 156 Kohlreif(f): Die Geburt Christi, 119: »Und wie denn durch Herodis Güldenen Adler der Tempel GOttes sehr entheiliget wurde: also läufft es mit dergleichen Dingen zuletzt auf lauter Verkleinerung der H. Schrifft hinaus.« 157 Kohlreif(f): Die Geburt Christi, 119: »Kurtz: Gewissenhaffte Predigten geschehen bloß üm der H. Schrifft willen. Sie geschehen, daß den Leuten die H. Schrifft erkläret werde, die an sich eine Krafft GOttes selig zu machen. Sie geschehen, daß die Leute, dessen, was sie aus der H. Schrifft wissen, offte erinnert, und immer tieffer in Dieselbe hinein geführet werden. Sie geschehen, daß das Wort GOttes reichlich unter ihnen wohne, und sie immer mehr daraus fassen. Sie geschehen, daß die H. Schrifft verständlich, fleissig, ordentlich und fruchtbarlich von Jedermann möge gelesen, und gehöret werde(n). Das ist der Hauptzweck Christlicher Predige(n).« 158 Kohlreif(f): Die Geburt Christi, 119 f. 155

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Die von Kohlreif alternativ gedachte Zuordnung von Bibel (Offenbarung) und Vernunft stilisierte damit in der Konsequenz ein homiletisches Sachproblem zu einem Gegensatz von beinahe eschatologischer Qualität, nämlich als Entscheidungssituation für oder gegen den in der Schrift geoffenbarten Glauben. Die Polarisierung des Streits wurde von Kohlreif dabei nicht nur affi rmiert, sondern auch verstärkt, indem er die Streitteilnehmer auf der orthodoxen Seite pauschal als »Bibeltreue«, die auf der anderen Seite aber als »Bibelverächter« bzw. »Bibelfeinde« klassifi zierte. Eine solche Pauschalverurteilung mußte natürlich den empörten Widerspruch der Kritisierten provozieren. Sowohl der unter dem Pseudonym »Theophilus und Sincerus« agierende Herausgeber der Canzel-Reden und von Manteuffel designierte Organisator des Predigtwettbewerbs, Philipp Kohl (1697–1742),159 als auch der Preisträger des Wettbewerbs, Johann Ernst Schubert (1717–1774),160 stellten sich der Herausforderung Kohlreifs und replizierten umgehend. Während Schubert anläßlich eines Separatdruckes seiner Preispredigt in einer Abhandlung eine positive Darlegung der von Kohlreif grundsätzlich in Frage gestellten »Sittlichkeit« der »philosophischen« Predigt unternahm,161 beschritt der Herausgeber der Canzel-Reden den entgegengesetzten Weg: Er destruierte die Anklagen Kohlreifs in einer scharfen Verbalattacke als völlig haltlos. Er ging dabei so vor, daß er – den Gepflogenheiten der Refutationspraxis des Lehrelenchus folgend – dessen Beschwerden noch einmal zum Abdruck brachte und diese durch das Aufgreifen einzelner Sätze oder Satzfragmente Stück für Stück widerlegte.162 Besonders echauffierte er sich in diesem Zusammenhang aber über den Vorwurf der »Schriftvergessenheit«163 und über die tendenziöse Darstellung des auf klärerisch-wolffianischen Vernunftgebrauchs.164 Während Kohlreif 159 Zu dem im Lauenburgischen geborenen und als Vikar am Hamburger Domkapitel tätigen Philipp Kohl vgl. DBA I 687, 379–383; 1265, 172. 160 Zu Schubert siehe DBA I 1144, 383–452; ADB 32 (1891), 635–637; Strassberger: Zwischen Predigtreform, 67 f. 161 J. E. Schubert: Predigt von der Auferstehung der Todten, Nebst einem nötigen unterricht von der Sitlichkeit der Predigten dieser art. Die andere aufl age, Jena 1741 [Erstaufl age Jena 1740], 48–78. 162 [Ph. Kohl:] Zweyter Vorbericht. Oder: Nöthige Anmerkungen über das unnöthige und unbefugte Urtheil Herrn L. Gottfried Kohlreiff, [. . .] betreffend den Vorbericht des dritten Theils der Canzelreden, in: Samlung auserlesener und überzeugender Canzel= Reden, Tl. 4, 65–108 (1. Zählung). 163 Ein auch oben mitgeteiltes Zitat Kohlreifs wird von [Kohl:] Zweyter Vorbericht, 91 f. wie folgt kommentiert: »Also läuft es mit dergleichen Dingen zuletzt auf lauter Verkleinerung der heiligen Schrift hinaus. [. . .] Wie hart, wie lieblos, wie unerträglich ist diese Bezüchtigung! Wir gestehen, es hat uns dieses einzige hauptsächlich aufgemuntert, den unzeitigen und unbefugten Beschwerden des Hn. Pr[epositus] etwas entgegen zu setzen.« 164 [Kohl:] Zweyter Vorbericht, 79 f.: »Der Hr. Prepositus werde nicht unwillig, daß wir hier in seine Aufrichtigkeit ein kleines Mistrauen setzen. Er schreibt fein wohlbedächtig: Aus Vernunft und Schrift: Damit es das Ansehen gewinne, als solle bey dieser Abhand-

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seine Kritik in der Tradition des orthodoxen Lehrelenchus von einem theologisch-dogmatischen Standpunkt aus führte, stellte sich Kohl auf den Standpunkt des lumen rationis und maß daran den Gehalt der geäußerten Kritik. Auf diese Weise versuchte er die Diskursuntauglichkeit des Kohlreifschen Standpunktes nachzuweisen, da nach auf klärerischem Maßstab dessen Argumentation keinen einzigen Vernunftbeweis für den behaupteten Schaden einer homiletischen Integration von Schrift und Vernunft aufzubieten vermochte.165 Indem Kohl den theologisch-dogmatischen Standpunkt von Kohlreifs Vernunftkritik konsequent unterlief, konnte auch kein einziges seiner Argumente der auf klärerischen Prüfung standhalten. Kohls Refutatio fand abermalige Erwiderung durch Kohlreif. Denn nach dessen Verständnis mußte der Streit solange fortgeführt werden, bis dem Gegner das Maul endgültig gestopft würde.166 Einen zusätzlichen Anknüpfungspunkt bot nun auch Gottscheds homiletisches Lehrbuch, das 1740 auf den Markt gekommen war und das für den Ratzeburger Propst das Faß zum Überlaufen brachte. Im Rahmen einer Paraphrase von Jes 28 setzte er in einem über 100seitigen Anhang 18 Beschwerden auf, die sich primär mit dem Grund-Riß einer Lehr-Arth ordentlich und erbaulich zu predigen, sekundär aber auch noch einmal mit der besagten homiletischen Preisaufgabe und Kohls letzter Refutatio auseinandersetzten.167 Prinzipiell ging es Kohlreif damit um eine anhand von Gottscheds Predigtlehrbuch durchgeführte Generalabrechnung mit der gesamten neueren homiletischen Entwicklung, für lung [sc. der intendierten Wettbewerbspredigt; A. S.] von der Auferstehung die Vernunft obenan stehen; die heilige Schrift aber den geringeren Platz einnehmen. Die Vernunft solle allhier das grosse Wort haben; die heilige Schrift aber nicht so viel gehört werden. Oder wenigstens, die Vernunft solle mit der Schrift zu gleichem Paare gehen, und die eine so viel, als die andere gelten. Aber leget nicht der Augenschein alsofort das Gegentheil an den Tag? Man sehe doch, wie der klare Buchstabe lautet. Bey der Lehre von der künftigen Auferstehung der Todten soll gezeiget werden: I. Daß sie nach der Vernunft möglich und glaublich. II. Aber, nach der heil Schrift unleugbar und gewiß sey. Wie gros, wie offenbar ist hier nicht die Ehre der heiligen Schrift vor der Vernunft? Gewiß, so der Unterscheid zwischen dem, was möglich und glaublich, und dem, was unleugbar und gewiß ist; so weit stehet allhier die heilige Schrift über die Vernunft vorzüglich erhoben.« 165 [Kohl:] Zweyter Vorbericht, 95: »Redet aber der Hr. Probst nur allein von dem gefährlichen Misbrauche der Vernunft; so wäre es seine Pfl icht gewesen, nicht nur zu sagen, sondern auch zu beweisen, daß allhier eine solche Gefahr würcklich obhanden.« 166 Zur Praxis des »Maulstopfens«, d. h. der Verpfl ichtung zur vollständigen Refutation, innerhalb der Praxis des orthodoxen Lehrelenchus siehe Gierl: Pietismus und Auf klärung, 114–123. 167 G. Kohlreif(f): Der Ueberdruß, Viel aus der H. Bibel und von Christo zu hören, Als der Ruin des Jüdischen Tempels und Volckes: Oder Eine deutliche Erklärung des XXVIII. Cap. Jesaiä; [. . .] Mit angehängten gerechten Beschwerden über den mannichfältigen Unfug, der mit den Anführungen zu der neuen Art zu predigen getrieben wird, Ratzeburg 1740, 101–229 (»Anhang; dessen Inhalt: Achtzehn gerechte Beschwerden über den mannichfältigen Unfug/ der mit den Anführungen zu der neuen Art zu predigen getrieben wird.«).

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die er in den Fußnoten Material aus Mosheims Schriften, von in den CanzelReden abgedruckten Predigten und aus anderem reformhomiletischen Schrifttum heranzog. In gewisser Weise stellte Kohlreifs Text, den die Unschuldigen Nachrichten als »eine von den wichtigen Schrifften des Herrn Verfassers«168 lobten, ein Kompendium des gesammelten Unbehagens dar, das man auf orthodoxer Seite gegenüber der »philosophischen Predigt« hegte. Bereits der Titel der Schrift markierte die Hauptzielrichtung, in der der Ratzeburger Propst das Problem verhandelt wissen wollte: Er interpretierte den Trend zur »philosophischen« Predigt einmal mehr als »Ueberdruß, Viel aus der H. Bibel und von Christo zu hören«169. Die einzelnen Beschwerden deckten sich dabei z. T. mit jenen Vorwürfen, die auch Gottsched in seinem Verhör vor dem Dresdner Oberkonsistorium gemacht wurden. Neben dem Vorwurf des konfessionellen Indifferentismus170 kritisierte Kohlreif u. a.: »Man leget der Erkenntniß der ihr selbst gelassenen Vernunfft eine hohe Nothwendigkeit in dem Wercke der Seligkeit bey und widerspricht darinnen der heiligen Schrifft.«171 »Man eifert dermaassen für die Ehre der natürlichen Vernunfft/ daß man auch die vortreffl ichsten Theologos unserer Kirchen/ als dieser Ehre entgegen/ an ihren Ehren kräncket.«172 »Man machet nicht den gehörigen Unterscheid unter dem Licht der Natur und unter dem Licht der ihr selbst gelassenen Vernunfft/ und bedienet sich so wohl des einen/ als des andern/ verkehrter Weise.«173 »Man vermengt die Offenbarung des Göttlichen Wortes mit der Offenbarung/ die man von Fleisch und Blut hat/ und mißbraucht dazu die Lehre von den vermischten Glaubens=Articuln.«174 »Man macht unter menschlicher Redekunst und der Geschicklichkeit GOttes Wort zu lehren keinen Unterscheid / und hält Lehrer und Prediger nur für Menschliche Redner.«175 »Man setzt den Hauptzweck des lieben GOttes/ welchen er mit dem H. Predigtammte hat/ darinnen hintan/ daß die Heil. Bibel sehr wenig in Betrachtung gezogen/ und dadurch den Leuten aus den Händen gebracht wird.«176

Die letzte von Kohlreifs Beschwerden, die die kirchenpolitischen und kommunikationsgeschichtlichen Faktoren für die progressive Ausbreitung der »philosophischen« Predigt namhaft zu machen versuchte, markierte dabei weniger ein dogmatisch-theologisches Monitum als vielmehr einen Reflex der weitgehenden Hilflosigkeit, mit der die Orthodoxie den homiletischen 168

UN 1746, 89–91, Zitat 89. Kohlreif(f): Der Ueberdruß, Titelblatt. 170 Kohlreif(f): Der Ueberdruß, 101–107: »I.) Man machet sich durch diese Anführungen [sc. durch Gottscheds Homiletik; A. S.] des Abtritts zu den so genannten Reformirten sehr verdächtig« (1. Beschwerde). 171 Kohlreif(f): Der Ueberdruß, 107–115 (2. Beschwerde); dieses und die weiteren Zitate im Original alle in Sperrdruck. 172 Kohlreif(f): Der Ueberdruß, 123–125 (4. Beschwerde). 173 Kohlreif(f): Der Ueberdruß, 136–142 (6. Beschwerde). 174 Kohlreif(f): Der Ueberdruß, 146–149 (8. Beschwerde). 175 Kohlreif(f): Der Ueberdruß, 170–176 (12. Beschwerde). 176 Kohlreif(f): Der Ueberdruß, 176–184 (13. Beschwerde). 169

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Auf klärungsprozeß beobachtete. Denn als Gründe für den unauf haltsamen Erfolg der Auf klärer nannte Kohlreif in polemischem Duktus: ihren kirchenpolitischen Rückhalt (Preußische Kabinettsorder von 1739), die multiplikatorische und öffentlichkeitswirksame Rolle prominenter Fürsprecher (Mosheim, Reinbeck), ihre diskursnormierende Schreibstrategie (satirischpolemischer Stil) sowie die propagandistische Ausnutzung fi nanzieller Anreize (homiletische Preisaufgabe).177 Gerade der vorletzte Faktor, die Schreibstrategie der Auf klärer, verdient an dieser Stelle gesonderte Aufmerksamkeit. Mit ihr ist ein Punkt berührt, der zum einen bereits in der »orthodoxen« Reaktion auf Gottscheds Ausführliche Redekunst beklagt wurde und zum anderen auch von der Forschung längst als grundlegendes Kennzeichen des Auf klärungsprozesses herausgearbeitet wurde.178 Ganz offensichtlich trug die auf klärerische Vorliebe zur Satire, die in ihrer gesellschaftlichen und streitregulierenden Funktion den orthodoxen Lehrelenchus unter den Bedingungen des »Strukturwandels der Öffentlichkeit« beerbte, einen erheblichen Anteil zur Polarisierung der öffentlichen Debatten bei. Wie bereits gezeigt, gehörte satirisches Schreiben zu den auch von Gottsched und den Alethophilen geübten Techniken aufklärerischer Textproduktion. Gottscheds satirische Reden Wider die homiletischen Methodenkünstler bzw. Wider die sogenannte Homiletik179 oder die homiletische Satire seiner Frau,180 die im Gefolge ihres Mannes den Kausalzusammenhang von Denk- und Predigtreform in antiorthodoxer Zielrichtung spitzzüngig thematisierte und deswegen von Zeitgenossen als die »allerspöttischste Schrift unter allen«181 eingeschätzt wurde, mögen als Beispiele hier177 Kohlreif(f): Der Ueberdruß, 216–229 (18. Beschwerde); ebd, 216 f.: »Man ist mit allen Kräfften darüber aus/ daß die neue Art zu predigen überall/ sowohl ausserhalb als innerhalb Landes/ eingeführet werden möge; und will solches theils durch hohen Ortes erschlichene Verordnungen/ theils durch das Ansehen vornehmer Männer/ theils durch eine gewisse Art Nasenweiser und in der superfeinen Spott= und Läster=Kunst hocherfahrner Avisenschreiber/ theils durch drauf gesetzten Preis zu Wege bringen.« 178 Vgl. die klassische Darstellung bei P. Hazard: Die Herrschaft der Vernunft: das europäische Denken im 18. Jahrhundert, Hamburg 1949, 31: »Das 17. Jahrhundert hatte in der Respektlosigkeit geendet, das 18. begann voll Ironie. Die alte Satire lag nicht brach, Horaz und Juvenal lebten wieder auf; aber der Spott überschwemmte jetzt alles [. . .]«. 179 Vgl. nochmals oben Kap. 2, Abschn. 1.4.2. 180 Vgl. Strassberger: »Auf-Klärung« durch Satire?, 59–80. 181 [Heinsius:] Unpartheyische Kirchen-Historie, Tl. 3, 741; die Autoren der Unpartheyischen Kirchen-Historie bezogen ihr Urteil aus Lilienthal: Fortgesetzte Theologische Bibliothec, 826 f., wo es hieß: »Die allerspöttische Schrift, welche bey dieser Gelegenheit herausgeflogen, ist wol diejenige, die den Titul führet: Horatii Zuruf an alle Wolfi aner, 1740. Sie ist in Form einer Predigt, nach der alten und gewöhnlichen Lehrart eingerichtet, um dieselbe lächerlich zu machen; wobey des Poeten Horatii Worte, vom gemahlten Schiff, den Text abgeben sollen. In der That aber ist sie nichts anders, als eine ironische Invective gegen die Anti=Wolfianer; wobey zugleich einige bekannte evangelische Lehrer sehr höhnisch tractiret werden.«

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für stehen. Auf der Gegenseite beklagten sich andere orthodoxe Streitteilnehmer oder -beobachter – unisono mit Kohlreif – über die auf klärerische »Liebe zur Satire«182 , die »spöttischen Schriften«183 oder die »Anti=Theologischen Satyren«184, mit denen von auf klärerischer Seite der Streit um die Wolffsche Philosophie bzw. die »philosophische« Predigt angeheizt wurde. Auf diesem Hintergrund erscheint es nicht verwunderlich, wenn Kohlreifs letzte Wortmeldung fast nur noch polemische bzw. satirische Reaktionen hervorrief. So verfaßte Johan Andreas Eilers (1716–1753),185 ein Brandenburger Feldprediger beim Dragonerregiment v. Posadowsky, einen offenen Brief an den Herausgeber der Canzel-Reden.186 In diesem denunzierte er im Gefühl der turmhohen Überlegenheit eines vernunftgeläuterten Auf klärers Kohlreifs Beschwerden als Ausfluß eines »von Vorurtheilen benebelte[n] Verstand[es]«187, dessen »Thorheiten [. . .] einem jeden in die Augen fallen, der diese unreife Schrift [. . .] auch nur obenhin zu lesen sich die Mühe gibt«188. Da der Verfasser das, »was er doch billig mit ganz andern Augen ansehen sollte«, »verwegener Weise zu richten, zu lästern, verdächtig und verhaßt zu machen« sich angemaßt hatte, meinte Eilers in ironisch-bemitleidendem Ton,

182 Christian Ernst Simonetti bemerkte beispielsweise in einer Verteidigungsschrift mit Blick auf seine orthodoxen Kritiker: »Wenn diese mir recht freundlich hinterwerts einen Bakkenstreich versetzen wolten, so gebrauchten sie darzu meine allzufreie Ausdrücke, das gar zu nachdrückliche Wahrheitsagen, und die Liebe zur Satyre«; Ch. E. Simonetti: Sendschreiben an seine Feinde und ihren Nachsprechern, Berlin 1748, 26. 183 [Anonym:] Kurtzgefaßte Kirchen=Geschichte des 1740sten Jahres, UN 1741, 58: »Die von der Leibnitzisch=Wolfi schen Philosophie entstandene Unruhe hat sich vielmehr verschlimmert als gemindert, daher das bekannte Quo Ruitis in unsern Fr[ühaufgelesenen] Früchten hat fortgesetzt werden müssen: und man hat dagegen, ja überhaupt wider alle, so dem Ubel entgegen gegangen, spöttische Schrifften herfürtreten lassen [. . .].« 184 [Anonym:] Kurz gefaßte Kirchen=Geschichte des 1743sten Jahres, UN 1744, 83: »[. . .] der Sturm der Wolfi schen Philosophie, welcher sich über die wahre Theologie erhoben, hat sich auch einigermaßen geleget; [. . .]. Anbey hat man noch immer Ursach gehabt über die einreissenden Philosophischen Predigten und Anti=Theologischen Satyren zu klagen.« 185 Zu Eilers, der nach einem Studium in Halle und Jena und der Zwischenstation als Feldprediger von 1744 bis zu seinem Tod als Oberpfarrer in Bad Freienwalde (östlich von Berlin) amtierte, siehe O. Fischer: Evangelisches Pfarrerbuch für die Mark Brandenburg seit der Reformation/ hrsg. vom Brandenburgischen Provinzialsynodalverband, Bd. 2, Tl. 1, Berlin 1941, 179. 186 J. A. Eilers: Vorläufiges Sendschreiben an die S. S. T. T. H. H. Theophilum und Sincerum, Ausgeber der Canzelreden in Hamburg: Darin die vornehmsten Uebereilungen des Tit. Hrn. Lic. Kohlreiffs zu Ratzeburg, in seinem jüngsthin der Erklärung des 28sten Cap. Esa. beygefügten Anhange wieder die neue Art zu predigen, kürzlich entdecket werden, in: Samlung auserlesener und überzeugender Canzel=Reden, Tl. 5, 787–796 (II. Anhang); das Sendschreiben datiert Brandenburg, den 28. Dezember 1740. 187 Eilers: Vorläufiges Sendschreiben, 792. 188 Eilers: Vorläufiges Sendschreiben, 789 f.

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sich für so viel Unverstand »fast schämen« zu müssen.189 Fast notwendig ergab sich für ihn der Ausschluß des Ratzeburger Propstes vom homiletischen Diskurs, weil »(m)an (. . .) dem Hrn. Probst zwar sagen (könte), daß eine Religion ohne Vernunft der gerade Weg zum Aberglauben, unzähligen Irrthümern und irrigen Begriffen von GOtt, sey: Allein sein von Vorurtheilen benebelter Verstand wird doch die Verknüpfung dieser Wahrheiten so wenig einsehen, als zugeben wollen.«190 Da Kohlreif den Grundkonsens des auf klärerischen Homiletikdiskurses bestritt, d. h. dem auf klärerischen Vernunftbegriff kein theologisches Recht einräumte, weil er ihm im letzten – dies wohl das Problem der meisten »Spätorthodoxen« bei ihrer Auseinandersetzung mit der Auf klärung – verständnislos gegenüberstand, wurde er als Diskussionspartner nicht akzeptiert und daher einfach von der weiteren Diskussion ausgeschlossen.191 Eine andere Strategie verfolgte die Replik Philipp Kohls, mit der er sich am selben Ort wie Eilers zu Wort meldete.192 Auch Kohl hielt es für nahezu aussichtslos, den orthodoxen Kritiker von der Gegenstandslosigkeit seiner Anschuldigungen und Befürchtungen zu überzeugen. Nicht einmal »durch Gründe der Schrift, oder der Vernunft« würde dies zu leisten sein, wie er nicht ohne Ironie anmerkte.193 Angesichts dieser »Ausweglosigkeit« der Si189 Eilers: Vorläufiges Sendschreiben, 789: »Es ist wahr, man muß sich fast schähmen zu unseren Zeiten, da jedermann an dem Wachsthume der schönen Wissenschaften arbeitet, daß noch ein Mann, in einer so ansehnlichen Bedienung, und bey so vieljähriger Uebung, zu fi nden, dessen Verstand durch eben so viel Vorurtheile verblendet ist, als sein Wille durch Unart getrieben wird, seinen unschuldigen Bruder verwegener Weise zu richten, zu lästern, verdächtig und verhaßt zu machen, und dasjenige mit den bittersten Ausdrücken zu tadeln, was er doch billig mit ganz andern Augen ansehen sollte.« 190 Eilers: Vorläufiges Sendschreiben, 792. 191 Für die Auseinandersetzung Löschers mit der Auf klärung notiert diesen Sachverhalt Martin Greschat: Valentin Ernst Löscher, in: Orthodoxie und Pietismus/ hrsg. von dems., Stuttgtart u. a. 1982, 289: »Trotz wesentlicher Einsichten in die Aporien der Auf klärung – vor allem im Blick auf die Anthropologie – blieben seine Darlegungen jedoch im Vorfeld des Problems hängen. Löscher begriff im Grunde nicht die Neuartigkeit des Phänomens. Indem er aber die Fragen und Antworten der Auf klärung als Ausdruck einer immerwährenden bzw. einer in verschiedenen Zeiten besonders massiv wiederkehrenden ›naturalistischen‹ und ›fanatischen‹ Empörung gegen Gottes Offenbarung begriff und dagegen diese geoffenbarte Wahrheit ins Feld führte, bewegte er sich auf einer Argumentationsebene, die die Vertreter der Auf klärung unter Berufung auf Vernunft und Erfahrung gerade als eine grundsätzlich unbrauchbare attackierten, wenn man zu sicheren Urteilen kommen wollte.« 192 Ph. Kohl: Vorbericht, in: Samlung auserlesener und überzeugender Canzel=Reden, Tl. 5 ( 21743), 13–32; der Vorbericht datiert Haumburg, auf Neujahr 1741. 193 Kohl: Vorbericht, 19 f.: »Oder sollen wir uns nochmahls bemühen, den Hrn. Pr[aepositus] auf einen anderen Sinn zu bringen? Dieses halten wir für eine verlohrene Mühe, für eine fast unmögliche Sache. Er hat sich vorgenommen, bis in den Tod zu vertheidigen, daß es ein sehr schändliches, in der ganzen Christenheit unerhörtes Beginnen sey, daß man demjenigen eine güldene Gedächtnißmünze verheisse, der die Lehre von der Auferstehung in einer, den Ausgebern der Canzelreden zuzusendenden Predigt, am

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tuation streckte der Hamburger Vikar unter Vorspiegelung tief empfundenen Mitleids die Waffen und erklärte sich ironisch-satirisch bereit, den Kampfplatz zugunsten des »hochgeehrteste[n] Herr[n] Praeposite« zu räumen.194 Zur Besiegelung des angebotenen Waffenstillstandes und als Vorbild für andere gelehrte Streithändel setzte Kohl zehn Friedensartikel auf, die in der satirischen Verkehrung des auf klärerischen Standpunktes den Ratzeburger Propst vollends der Lächerlichkeit preisgeben sollten.195 So bestimmte beispielsweise der 3. Artikel, daß Kohlreif aus Anlaß des Friedensschlusses einen Gedächtnispreis im Wert von zehn Dukaten in Gold für eine Abhandlung zum Thema »Ob die Wolfi sche Philosophie der Gottesgelahrtheit mehr Nutzen oder Schaden bringe?« aussetzen sollte.196 Man kann sich unschwer vorstellen, wer mit dieser Anspielung auf Kohlreifs Kritik an Manteuffels Predigtwettbewerb die Mehrzahl der Lacher auf seiner Seite hatte. Eine nochmals variierte Strategie unterlag schließlich einer 1741 publizierten Blütenlese aus Kohlreifs Schriften, die vorgab, den Beschwerden des Ratzeburger Propstes das ihr gebührende Gehör zu verschaffen.197 Die aufklärungsfreundliche Presse lobte die über 60seitige satirische Zusammenstellung der Kohlreifschen Monita als »eine Frucht aufgeweckter Köpfe«, deren »erste[r] Anblick (. . .) es einem Jeden (zeiget), daß diese Sammlung gründlichsten und überzeuglichsten gegen allen Wiederspruch bestätigen, und am erbaulichsten abhandeln werde. Wie schwer sind denn von ihm bessere Gedanken zu hoffen! Es müßten diese entweder durch Gründe der Schrift, oder der Vernunft gewirket werden. Mit beyden aber ist alhier wieder diesen standhaften Gegner nichts auszurichten.« 194 Kohl: Vorbericht, 21: »Wohlan denn! wir ziehen uns hiermit zurück, und überlassen unserm Herrn Gegner den Kampfplatz allein. Sie leben wohl, hochgeehrtester Herr Praeposite! wir haben weiter nichts mit Ihnen zu schaffen. Gute Nacht, Ehrwürdiger Vater! Wir bieten Ihnen hiermit den Frieden und die Versöhnung an. Die acht und vierzig Jahre, in denen sie öffentlich (. . .) die Canzel betreten, die Püffe, die Sie in denselben ausgestanden, und Ihr graues Haupt erwecken in uns Regungen, denen wir nicht wiederstehen können!« 195 Kohl: Vorbericht, 23–27: »Friedensartikel zwischen dem Hoch=Ehrwürdigen und Hochgelahrten Herrn, Herrn Gottfried Kohlreiff, S. S. Theol. Licentiato, am Ratzeburgischen Thume Past. Probsten und Consistorialen, an einer; und zwischen dem Theophilo und Sincero, Ausgebern der Canzelreden in Hamburg, an der andern Seite.« 196 Kohl: Vorbericht, 24: »Weil der Herr Probst, bekanntermassen, die Händel zuerst angefangen, will er zu einiger Genugthuung, auch zum Andenken dieses merkwürdigen Friedens, aus seinen Mitteln eine güldene Gedächtnismünze, zehn Ducaten schwer, mit nächsten prägen lassen: Zu einem von neuem aufzusetzenden Preise der Beredsamkeit für denjenigen, der über folgendes Thema, (nicht eben in Form einer Predigt) am geschicktesten schreiben wird: Ob die Wolfi sche Philosophie der Gottesgelahrtheit mehr Nutzen oder Schaden bringe? Wie es mit dem Ausspruche über die eingesandten Abhandlungen zu halten, will man sich näher vergleichen.« 197 [Anonym:] Nöthiger Unterricht, für diejenigen so ihr Lehramt ordentlich und erbaulich führen wollen, aus des Herrn Lic. Gottfried Kohlreifs [. . .] Gerechten Beschwerden über den mannigfaltigen Unfug der mit der Anführung zu der Neuen Art zu predigen getrieben wird, gezogen von zween besondern Freunden der Kohlreifi schen Schriften, Franckfurt und Leipzig 1741.

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der kohlreifi schen Urtheile von der Art zu predigen gegen ihn selbst gerichtet sey«198. Offensichtlich sollte mit der vorgetäuschten Bekräftigung der (aus auf klärerischer Perspektive) als äußerst schwach eingeschätzten Argumente deren kritisches Potential unterlaufen und damit die auf klärerische Ausgrenzung der orthodoxen Position affi rmiert bzw. vorangetrieben werden. Obwohl der Text deutlich als Wissenschaftssatire kenntlich gemacht war und somit auch einen deutlich literarischen Charakter trug, zeigte man sich im orthodoxen Lager weitgehend unfähig, auf den hier zugrunde liegenden satirischen »Denkstil« (Karl Mannheim) adäquat zu reagieren. In einer Rezension der Unschuldigen Nachrichten erkannte man zwar den »höhnischen« Grundton und die vorgetäuschte Argumentationsstrategie, maß den satirischen Text dann doch an den herkömmlichen Kriterien wissenschaftlicher Textproduktion und traditionellen Gelehrtenstreits, womit die Argumentationsebene des Gegenübers prompt verfehlt wurde.199 Kohlreif reagierte auf diese Repliken noch ein letztes Mal, und zwar nicht mit einer direkten Erwiderung, sondern durch Wiederholung seiner grundsätzlichen Bedenken,200 die er gegenüber Pietisten und Wolffianern, der Auf klärungspresse (besonders dem Hamburgischen Correspondenten) 201, Gottscheds Redekunst sowie der »neumodischen« Vernunftliebe und Bibelverachtung hegte. Obwohl sich der Ratzeburger Propst bei der hier geäußerten Vernunftkritik nach Einschätzung eines zeitgenössischen Rezensenten we-

198 Beide Zitate Hamburgische Beyträge zur Aufnahme der gelehrten Historie und der Wissenschaften 2 (1741), 388. 199 UN 1741, 816: »Ein Wolffi sch=gesinnter will den redlichen Theologum, Herr Lic. Gottfr. Kohlreiffen [. . .] wegen seines Eyffers wider die neue Philosophische Predigt=Art höhnisch halten: indem er aus dessen Beschwerden über den Unfug der neuen Art zu predigen die schwächsten Stellen und Redens=Arten zusammen sucht, [. . .]. Ob dieses Widerlegen heisse, stellt man an seinen Ort: [. . .].« 200 G. Kohlreif(f): Der vornehmste Staats=Beamte am Hofe Hiskiä nach dem gestürtzten Sebna, der Knecht GOttes Eliakim. Oder eine deutliche Erklärung des XXII. Cap. Jesaiä: Zum Beweis, das des Menschen Sohn noch Sünde auf Erden zu vergeben Macht hat, auch die zum Kirchen=Raube gesattelte Pferde, vereinigte Sadduceer, gedungene Judas=Brüder, und mit ihrem abgeschmackten Geschmacks=Schnabel, wie auch unbegreiffl ich strengen Begriffs=Klauen ausgeflogene Spott=Vögel durch seine Macht schon zurück halten, verlähmen und stürtzen wird, Ratzeburg, gedruckt und zu fi nden bey Andr. Hartz, im Jahr 1741. Dem 125. Jubel=Jahr, nach Erschaffung der Welt und dem ersten Evangelio. 201 Im ersten Teil seiner Schrift ist der Hamburgische Correspondent der am heftigsten bekämpfte Feind, vgl. z. B. Kohlreif(f): Der vornehmste Staats=Beamte, 48 f. in Anm. (**). 54 f. in Anm. (*). 56 in Anm. (*). Ebd, 48 in Anm. (*) bemerkte Kohlreif zum auf klärungsfreundlichen Standpunkt der Zeitung empört: »Der Hamburgische Correspondent, der unter dem Nahmen des Unpartheyischen ihr grössester Partisan ist, gibt das Alles, auch nur in seinen dißjährigen Blättern, mit Hauffen zu lesen.« – Vgl. auch B. Tolkemitt: Der Hamburgische Correspondent: zur öffentlichen Verbreitung der Auf klärung in Deutschland, Tübingen 1995.

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sentlich deutlicher erklärte, als von seinen Gegnern zuvor behauptet,202 hatte die literarische Kontroverse seine Position mittlerweile bereits so weit unterhöhlt, daß er als Gesprächspartner kein Gehör mehr fand; die Kritik seiner Schrift blieb völlig wirkungslos und konnte somit nicht mehr im gewünschten Maße auf den weiteren Disskussionsgang einwirken. Die Wirkungslosigkeit von Kohlreifs Interventionen ging dabei nicht zuletzt auch auf Rechnung der einseitigen Parteinahme der auf klärerungsfreundlichen Presse, die als öffentlicher Schiedsrichter fungierte, sowie ein den Streit betreffendes Votum Mosheims, das im Ergebnis als maßgeblicher theologischer Schiedsspruch in der verhandelten Streitfrage angesehen wurde. Die Presse hatte dem Streit um Manteuffels Predigtwettbewerb, wie bereits die Ausschreibung und den Ausgang desselben, mit hoher Aufmerksamkeit und Anteilnahme begleitet und damit für entsprechendes Öffentlichkeitsinteresse gesorgt. Bereits anläßlich von Kohls erstem Einspruch gegen Kohlreifs Beschuldigungen kamen die Leipziger Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen zu dem Schluß, daß der Ratzeburger Propst sich mit seiner »unvernünftigen« Argumentation vom homiletischen Diskurs selbst disqualifiziert habe. Es hieß hier mit Blick auf den bisherigen Streitverlauf: »Der Herr Probst ist ungemein ungehalten, daß man auf eine Ausarbeitung einer wichtigen Lehre einen Preis gesetzet. Er kann es nicht verdauen, daß man demjenigen ein Goldstück bestimmet, welcher die Materie von der Auferstehung der Todten am besten ausführen werde. Er fi ndet so viel unerlaubtes, ärgerliches, und unchristliches darinnen, daß er sich nicht enthalten können, bitterlich darüber zu seufzen. Mit was für Ungrunde aber er solches thue, das wird ihm hier [sc. in Kohls Widerlegung; A. S.] so bescheiden, als nachdrücklich gezeiget. Seine Vorwürfe werden hinlänglich abgelehnt, seine unbilligen Urtheile umgestoßen, und seine lieblosen Beschuldigungen zurück gewiesen. Man leget ihm sein übereiltes und damit wir nichts ärgers sagen, sein unfreundliches Verfahren vor Augen; da er weder aus genugsamer Einsicht noch mit reifer Ueberlegung eine unschuldige Sache verdammet. Es würde in der That für den Herrn Kohlreif eine Ehre seyn, wenn er sich künftig nicht zu einem so unbefugtem Ankläger und sträfl ichen Richter in 202 Nachrichten von den neuesten Theologischen Büchern und Schrifften 1 (1742), 694–701, hier 700 f.: »Man wird theils aus der Aufschrift, theils aus andern Schriften des Herrn Verfassers leicht schliessen können, daß er auch in der gegenwärtigen die Liebhaber des neuen Geschmacks ziemlich hart mitgenommen habe. [. . .] Mit den Patronen der Wolfi schen Weltweisheit wird bitterer Scherz getrieben. Denn sie werden mit ihren Marcktschreyern und Avisenschreibern in eine weitläuftige Vergleichung mit den Sadduceern und Pietisten gesetzet. Der hamburgische Correspondent aber wird für andern ausdrücklich genennet. Mit dem neuen Geschmack und den philosophischen Canzelreden ist er übel zufrieden, und will den Satz durchaus nicht leiden, daß man ohne die Vernunft von den geoffenbahrten Sätzen der H. Schrift keinen Menschen überzeugen könne: desgleichen diesen: daß bey Atheistischen Leuten die Uberführung aus der Vernunft unumgänglich nohtwendig sey. Doch erkläret er sich in Ansehung des Gebrauchs der Weltweisheit wenigstens besser, als ihm seine Gegner bißher in ihren Schriften Schuld geben wollen.«

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Dingen aufwerfen wollte, welche lauter, rein und nicht im Geringsten straf bar sind.« 203

Weniger offen parteiisch gab sich Mosheims Stellungnahme, mit der dieser sowohl das Verfahren der homiletischen Preisaufgabe rechtfertigte als auch die theologische Unbedenklichkeit der neuen Predigtweise feststellte.204 Seine Wortmeldung war in der Öffentlichkeit mit Spannung erwartet worden, nachdem sie lange vor ihrem Erscheinen »bereits [. . .] in einer gewissen Wochenschrift« 205 angekündigt worden war, doch durch den plötzlichen Tod von Mosheims erster Frau nicht wie vorgesehen im ersten Band der Wettbewerbspredigten erscheinen konnte. Kohl beruhigte seinerzeit das ungeduldig wartende Publikum »im Absehen auf die von ihm [sc. Mosheim] gütigst versprochene, von vielen gewünschte, und von uns vest gehofte Vorrede, mit dem Sprichworte [. . .]: Aufgeschoben ist dennoch nicht aufgehoben« 206 . Als die Vorrede dann endlich zum Abdruck kam, lobte die Rezensionspresse sie in den höchsten Tönen und prognostizierte ihr genau jene durchschlagende Wirkung, die Kohlreif in seiner 18. Beschwerde den prominenten Fürsprechern der »philosophischen« Predigt angelastet hatte.207 Während Mosheim die von Kohlreif so vehement bestrittene theologisch-moralische Legitimität des Wettbewerbsverfahrens unter dem Gesichtspunkt von Phil 1, 18 (»Wenn nur Christus verkündiget wird, es geschehe zufalls oder rechter Weise, so freue ich mich doch darinnen, und will mich auch freuen.«208 ) für gerechtfertigt hielt, wies er die alternative Forderung nach »apostolischen« statt »philosophischen« Predigten zurück. Denn es lasse sich weder exakt bestimmen, was »apostolische Predigten« eigentlich seien,209 noch be203

Neue Zeitungen von gelehrten Sachen, Jg. 1740, 910. J. L. Mosheim: Vorrede, in: Der Beweis des Lehrsatzes, Tl. 2 (1742), 3–22; die Vorrede datiert Helmstedt, den 4. September 1741. 205 Der Beweis des Lehrsatzes, Tl. 1 (1741), Bl. a2r in Anm. (*) (Vorbericht); welche »Wochenschrift« Kohl damit gemeint hat, habe ich nicht recherchiert. 206 Der Beweis des Lehrsatzes, Tl. 1, Bl. a2v (Vorbericht). 207 Nachrichten von den neuesten Theologischen Büchern und Schriften 1 (1742), 714 f.: »Die Zierde des ganzen Wercks [sc. Der Beweis des Lehrsatzes, Tl. 2; A. S.] ist die Vorrede, so der Herr Abt Mosheim hinzu gethan hat. Er vertheidiget darinne so wol die Herren Sammeler, als die Redner, welche bey Gelegenheit des aufgesezten Preißes so ruhmwürdig gearbeitet haben. Er spricht sie von vielen ungegründeten Beschuldigungen loß. [. . .] Die Vorrede, wie sie ist, wird mehr oder wenigstens eben die Würckung haben, als wenn sie von einem andern großen Manne herkäme, der sie auf das rühmwürdigste vorzustellen sich verbindlich gemacht hätte.« 208 Mosheim: Vorrede, in: Der Beweis des Lehrsatzes, Tl. 2, 17. 209 Mosheim: Vorrede, in: Der Beweis des Lehrsatzes, Tl. 2, 19: »Ich weiß nicht, wie es die Apostel unsers Erlösers würden gemachet haben, wenn ein heidnischer Weltweiser sie aufgefordert hätte, die Lehre von der Auferstehung der Todten aus dem Grunde zu beweisen, und gegen seine Einwürfe zu vertheidigen, und wenn es Gott ihnen erlaubt hätte, diesen Wiedersacher der Wahrheit nicht durch Wunder, sondern durch Gründe und Schlüsse zu überzeugen. Was kan ich denn antworten, wenn jemand den geschickten 204

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rücksichtige eine solche Forderung, daß der Predigtgeschmack seit jeher einem steten Wandel unterworfen gewesen sei; deshalb hätten – sofern sie ihrem Zweck nachkämen – sowohl »philosophische« als auch »unphilosophische« Predigten ihr homiletisches wie geschichtliches Recht.210 Innerhalb der noch bis zur Jahrhundertmitte weiterschwelenden Debatte blieb es ausgerechnet Johan Melchior Goeze vorbehalten, aus einigem Abstand ein letztes Fazit über den »orthodoxen« Einspruch Kohlreifs zu sprechen. Bei der Übernahme der Redaktion der dritten Staffel der Canzel-Reden kam Goeze 1754 im Rahmen eines Rückblicks auf das einst von Philipp Kohl initiierte reformhomiletische Publikationsprojekt 211 auf die seinerzeit von Manteuffel lancierte homiletische Preisaufgabe zu sprechen,212 an der er selbst als gerade einmal 22jähriger Aschersleber Predigtamtskandidat teilgenommen hatte. Mit Blick auf die von Kohlreif geäußerte Kritik zog der als angeblich »verspäteter Orthodoxer« apostrophierte Goeze213 ein für sein eigenes Verhältnis zur homiletischen Auf klärung erstaunliches Resümee, das den orthodoxen Einspruch und die ihm zugrundeliegende theologische Position, als geschichtlich erledigt betrachtete. Goeze notierte:

Leuten, die diese Predigten ausgearbeitet haben, aufrücken sollte, daß sie von der Auferstehung nicht apostolisch gehandelt haben?« 210 Mosheim: Vorrede, in: Der Beweis des Lehrsatzes, Tl. 2, 20 f.: »Die Art des öffentlichen Vortrages hat sich vielfältig unter den Christen verändert. In der evangelischen Kirche, ich sage noch mehr, in der deutschen evangelischen Kirche, hat sie sich seit der Reformation wohl zehenmal verwandelt. [. . .] Welche unter allen diesen Weisen zu predigen ist die alte, deren Verlust von einigen so ernstlich bedauret wird? und welche ist im Gegentheile die neue, welche die kluge und bündige Beredsamkeit der Alten von der Canzel verbannet hat? [. . .] Wir lehren von der Canzel zu dem Ende, damit wir die Gemeine des Herrn in der Wahrheit gründen, und zur Busse und Gottseligkeit ermuntern mögen. Wer diesen Zweck vor Augen hat, und denselben durch solche Mittel zu erreichen bemühet ist, die sich zu den besonderen Umständen der Zeiten, der Menschen, der Länder schicken, der prediget mir so, wie ein Diener Jesu Christi predigen muß. Ich höre ihn: Damit ich von ihm lernen, und durch seinen Unterricht mich bessern möge; und bekümmere mich wenig darum, ob er nach der alten oder neuen, nach der philosophischen oder unphilosophischen Weise predige.« 211 Die von Philipp Kohl betreute Abteilung erschien als: (Neue) Samlung auserlesener und überzeugender Canzel=Reden [. . .], 6 Bde., Hamburg 1738–1742 (Einzelbände z. T. mehrere Aufl agen); die zweite Serie betreute als Nachfolger Kohls der Hamburger Hauptpastor Friedrich Wagner: Sammlung auserlesener Canzel-Reden über wichtige Wahrheiten Heil. Schrift, 6 Bde. und 2 Erg.-Bde., Hamburg 1743–1750; unter der Redaktion Johann Melchior Goezes erschienen schließlich: Samlung auserlesener Canzel= Reden, über wichtige Stellen der H. Schrift, 12 Bde., Magdeburg 1754–1765; sowie: Neue Samlung auserlesener Canzel-Reden, 6 Bde., Hamburg 1766–1773. 212 J. M. Goeze: Vorrede, in: Samlung auserlesener Canzel=Reden, über wichtige Stellen der H. Schrift: Welche Verschiedene, berühmte und verdiente Lehrer der Evangel. Lutherischen Kirche, itziger Zeit, ausgearbeitet: An das Licht gestellet von Johann Melchior Goezen. Erster Theil, Magdeburg 1754, 1–28 (1. Zählung). 213 Vgl. Verspätete Orthodoxie.

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»Diejenigen, welche die Verdienste des seel. Probsts um die biblische Zeitrechnung, und seine Stärke in den morgenländischen Sprachen kennen, werden sein Schicksal bedauren, welches ihn hier auf einen Kampfplatz führete, auf welchen er viel zu wenig geübt war, und einen Gegner antraf, der ihm an Einsichten, an Scharfsinnigkeit, und an Gründen, weit überlegen war.« 214

Zwar kann man Kohlreifs Schicksal unter einem unhistorischen Gesichtspunkt als durchaus tragisch beurteilen. Doch im Rahmen geschichtlicher Beurteilungskriterien wird man erkennen müssen, daß die orthodoxe Kritik – gemessen an den mittlerweile auch gesellschaftlich sanktionierten Regeln des auf klärerischen Diskurses – ungeeignet war, das intendierte Ziel zu erreichen. Wenn es nach Kohlreif dennoch nicht an Versuchen mangelte, die orthodoxe Position weiterhin zu behaupten – sei es, daß homiletische Lehrbücher die alte Predigtauffassung weiterhin verteidigten 215 oder daß ein namhafter Kirchenmann und orthodoxer Theologe wie Erdmann Neumeister als Kritiker der »philosophischen« Predigt216 den homiletischen Auf klärungsbemühungen eines Manteuffel auch zukünftig noch in die Quere kam 217 –, so 214

Goeze: Vorrede, in: Samlung, Tl. 1 (1754), 6 f. Vgl. dafür beispielsweise D. S. Bohnstedt: Ministerii Sacri Lingva Orthodoxa. Das ist: Des Lehr=Amts Lautere Lehr=Zunge, Regieret nach zweyen Reguln: I. Lehrer sollen reden mit heilsamen und untadelichem Wort. II. Lehrer sollen nicht um Worte zancken. Mit einer Zuschrift Vom Gebrauch der Lehr=Zunge gegen die Grossen dieser Welt [. . .], Jena 1742. – Die Differenz und den Abstand der auf klärerischen Predigtauffassung zur »exegetischen« Predigtauffassung der Orthodoxie formulierte im fraglichen Zeitraum beispielsweise auch eine Rezension zu J. P. Brand: Anleitung zum Gebrauch des bei den Reformirten gebräuchl. methodi concionandi, Frankfurt 1766 (Erstaufl age Frankfurt 1744), wo als ein Kerngedanke Brands referiert wird: »Die h. Redekunst ist eine Klugheit und Geschicklichkeit, das Wort Gottes recht zu erklären und zuzueignen, um die Ehre Gottes und die Auferbauung seiner Kirche zu befördern.« Diese Ansicht wird ironisch mit folgender Anfrage kommentiert: »Nun möchten wir wissen, wie der Herr Verfasser die Hermenevtik defi nirte«; beide Zitate: Homiletisches Journal, in welchem Nachrichten und Urtheile von den neuesten Predigten enthalten sind 1 (1767), 331. 216 Vgl. die einschlägige Vorrede zu E. Neumeister: Rechtschaffene Früchte der Buße aus unterschiedlichen Texten der Heil. Schrift an dem in Hamburg jährlich abgeordneten Bußtage treulich ausgewiesen und bey der werthen Gemeine zu St. Jacob hieselbst hertzlich gesuchet, Hamburg 1741, Bl. ):(3r – )()(2v. 217 D. Döring: Beiträge zur Geschichte, 123 berichtet, daß Manteuffel, der einem sächsischen Pfarrer Gottscheds Homiletik schmackhaft machen will, von diesem gefragt wird, ob denn darin auch recht häufig Erdmann Neumeister zitiert werde? »Niemals fällt auch nur dessen Name, muß der Graf zugeben. Dann könne das ganze Buch nichts taugen, meint der Geistliche, und schiebt es vom Tisch.« Der diese Szene berichtende Brief Manteuffels an Reinbeck datiert auf den 10. Dezember 1740. – Der Gottschedkorrespondent Johann Gottfried Reichel (zu ihm s. u. Kap. 5, Abschn. 1.2) wurde offenbar noch sehr viel später auf diese (oder eine andere?) Kritik Neumeisters von Gottsched angesprochen, worauf hin er ihm zurückschrieb (Starzedel, 4.1. 1754, UBL, Ms 0342, Bd. 19, Bl. 43v): »Neumeisters Critik über die neumodischen Kanzelredner ist mir nicht vorgekommen. Viele machen ihn zu einem Muster der geistlichen Beredsamkeit. Ich habe seine Priesterlippen gelesen; die zanken abscheul[ich] ingleichen sein geistliches Abel, diese Schatzkam(m)er, 215

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war doch nicht zu übersehen, daß die theologische und gesellschaftliche Akzeptanz des orthodoxen Standpunktes alten Zuschnitts seit Anfang der 1740er Jahre im homiletischen Diskurs massiv schwand. Mit einer allenfalls partiellen Kontinuität wurde daher das theologische Erbe der altlutherischen Orthodoxie dann in homiletisch veränderter, den neuen Bedingungen angepaßter Form seit der Jahrhundertmitte von kirchlich-konservativen Kreisen 218 in die neue Zeit übersetzt. So zum Beispiel vom Vater des bekannten »Radikalauf klärers« Karl Friedrich Bahrdt, Johann Friedrich Bahrdt (1713– 1775). Obwohl der Sohn seinen Vater als »orthodoxe[n] Theologus«219 charakterisierte, bescheinigte er ihm zugleich die uneingeschränkte Leistungsfähigkeit seines homiletischen Ansatzes, indem er ihm das Zeugnis einer »hinreissenden Beredsamkeit« 220 ausstellte. Unter theologiegeschichtlichem Gesichtspunkt ist mit dieser Einordnung auf den konservativ-theologischen Standpunkt des Vaters im Rahmen der auf klärungstheologischen Strömungen bzw. vor dem Hintergrund der »radikal-«auf klärerischen Ansichten von Bahrdt jr. zum Zwecke der Selbstabgrenzung hingewiesen. Ein theologischer Standpunkt im Sinne der Zugehörigkeit zur altlutherischen Orthodoxie ist damit aber nicht mehr gemeint. Ebenso belegen auch Johann Friedrich Bahrdts homiletische Schriften 221 bei näherer Sichtung den insgesamt zeitgemäß-modernen Ansatz seiner Predigttheorie, der auf der Basis eines konservativ-lutherischen Theologiefür Leuthe die viel vom Curieusen halten.« – Bei den erwähnten Schriften handelt es sich um: E. Neumeister: Priesterliche Lippen in Bewahrung der Lehre, das ist: Sonn- und Festtags-Predigten durchs gantze Jahr, Leipzig 1714 (Hamburg 21730); ders.: Geistliches Abel, in welchem I. Nicodemus, eine Catechismus-Frage, II. Stephanus, eine Streit-Frage, III. Petrus, eine Gewissens-Frage, IV. Esra, eine curiöse Frage, bey allen Sonn- und FestTags-Evangelien [. . .] vorgetragen [. . .], Hamburg 1722 ( 21734). 218 Ich greife hierfür Überlegungen von Fehr: »Ein wunderlicher nexus rerum«, 68–72 auf, der den Begriff der »Orthodoxie« zur Beschreibung der Gegner des Pietismus in Königsberg in den 1720er und 1730er Jahren plausibel problematisiert und stattdessen als Alternative den Begriff der »kirchlich Konservativen« vorgeschlagen hat. Für den Königsberger Theologen und ehemaligen Lehrer Gottscheds Johann Jacob Quandt begründet Fehr dies beispielsweise ebd, 202 wie folgt: »Es ist jedoch festzustellen, daß die Erben der traditionellen Theologie in Königsberg unter Quandt wenig Affi nität zur ehemaligen altprotestantischen Orthodoxie des 17. Jahrhunderts besaßen und eher als konservative Beschützer herkömmlicher Bräuche bezeichnet werden sollten.« 219 K. F. Bahrdt: Geschichte seines Lebens, seiner Meinungen und Schicksale. Erster Theil, Berlin 1790, 30: »Mein Vater war übrigens, was er in seiner Epoche unvermeidlich werden mußte, ein ganz orthodoxer Theologus.« 220 K. F. Bahrdt: Geschichte, Tl. 1, 29 f.: »Seine [sc. des Vaters] Kirche war immer [. . .] gedrängt vol. Und er behielt bis an seinen Tod den Ruhm eines algemein beliebten Redners, welcher durch seine hinreissende Beredsamkeit, so durch das lichtvolle und herzangreifende seiner Lehren und das hinzukommende Beispiel eines sanften, redlichen, gefälligen und in allem Betracht unbescholten tugendhaften Karakters vielen Tausenden Unterricht und Trost gegeben, und sie auf die Wege der Rechtschaffenheit und Glückseligkeit geleitet hat.« 221 J. F. Bahrdt: Praecepta oratoriae sacrae; ders.: De applicatione homiletica ad signi-

1 Die lutherische Orthodoxie

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verständnisses222 und davon abhängiger homiletischer Eigentümlichkeiten ebenso gegen »orthodox-pedantische« wie auch gegen »philosophische« Predigtauffassungen, die die Homiletik als Teil der Rhetorik betrachteten, gerichtet war.223 Für seine eigene Predigttheorie schöpfte Bahrdt aus der homiletischen Diskussion seiner Zeit, und zwar insbesondere aus den reformhomiletischen Sammelwerken Johann Matthias Cappelmanns und Johann Georg Walchs, sofern die dort abgedruckten Beiträge seinem theologisch-konservativem Standpunkt nicht widersprachen.224 So vermochte er im Ergebnis eine homiletische Position zu formulieren, die das nötige Maß an Modernität auf brachte, um mit der neuen Zeit homiletisch Schritt zu halten. Ähnliches gilt – letztes Beispiel – auch für den Wittenberger Theologen, Pfarrer und Generalsuperintendenten Carl Gottlob Hofmann (1703–1774),225 den Lehrer Bahrdts,226 der in Theologenkreisen zwar im Geruch eines »strengen Orthodoxen« 227 stand, als Prediger aber breiteste Anerkennung ficandas praelectiones Acad. disserit [. . .], Lipsiae 1752; dt. Auszug der Dissertation in: Vollständige Nachrichten von dem ordentlichen Inhalte 1753, 119–128. 222 Zu Bahrdts grundlegend lutherisch-theologischem Standpunkt, der seine Predigtkonzeption entscheidend beeinflußte, siehe in aller Kürze den deutschen Auszug aus seiner lateinischen Dissertation: J. F. Bahrdt: De sapientissimo Legis & Evangelii nexu commentatio brevis &c. D. i. Eine kurze Abhandlung von der weisen Verknüpfung des Gesetzes und Evangelii [. . .], Leipzig 1749, in: Vollständige Nachrichten von dem ordentlichen Inhalte 1749, 883–891. 223 Vgl. Bahrdt: Praecepta oratoriae sacrae, Bl. 3r-v (Vorrede), wo er mit Hallbauer die »homiletischen Pedantereyen« der vormaligen Zeiten als homiletische Torheiten verurteilt, »die [. . .] unsern aufgeklährten Zeiten Verachtens=würdig scheinen«. Zugleich »kritisierte er die einreissende Pedanterey vieler neuern«, die ihm »in ihren vermeinten oratorischen und philosophischen Reden« begegnet. 224 Bahrdt: Praecepta oratoriae sacrae, Bl. 4r, wo es über die im Geiste der Auf klärungshomiletik herausgegebenen Beiträge zur Beredsamkeit heißt: »[. . .] darinne man die besten und heilsamsten Regeln und Erinnerungen beysammen fi ndet, die man offt in vielen homiletischen Lehr=Büchern vergeblich sucht«. Und an Walch: Sammlung kleiner Schriften, wird ebd. gelobt: »[. . .] ist nicht ohne besondern Seegen, und mir wenigstens jederzeit sehr angenehm gewesen, die übereinstimmenden Gedancken der alten und neuen darinne zu lesen«. Bahrdt bekennt deshalb ebd.: »Ich bekenne aufrichtig, daß ich mir, nebst andern homiletischen Lehr=Büchern, insonderheit diese doppelte Sammlung, bey meinen academischen Vorleungen sowohl, als in meinen eignen Predigten, sehr wohl zu Nutze gemacht.« – Zu Walchs Sammlung s. u. in Abschn. 2. 225 Zu ihm, der 1739 von Leipzig auf eine theologische Professur nach Wittenberg berufen und dort auch Generalsuperintendent des Kurkreises wurde, ausführliches Material in DBA I 556, 204–299. 226 Bahrdt, der von 1730 bis 1734 in Leipzig Theologie studierte, wird von Schmersahl (DBA I 556, 255) als expliziter Schüler Hofmanns erwähnt. 227 Hirsching notierte (DBA I 556, 266): »Hoffmann war ein strenger Orthodox, Feind aller Neuerungen, und Widersacher der Herrnhuter.« – Eine Rezension seiner postum veröffentlichten Katechetik (C. G. Hofmann: Methodus catechetica, Chemnitz 1776) formulierte die »orthodoxe«, d. h. konservativ-theologische Position aus auf klärerischer Perspektive wie folgt: Journal für Prediger 7 (1777), 62: »Gerade so, wie vor hundert Jah-

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genoß.228 Im übrigen hatte der in Leipzig magistrierte Hofmann vor seiner Berufung nach Wittenberg die Homiletik in Gottscheds Nachbarschaft als Assessor der Philosophischen Fakultät mit großem Erfolg gelehrt; 229 später trat er dann mit kritischen Äußerungen über Gottscheds Integration der Homiletik in die Rhetorik hervor.230 Mit seiner 1747 veröffentlichten Homiletik 231 legte er schließlich einen expliziten Gegenentwurf zur Theorie der »philosophischen« Predigt vor.232 Darin gelang es ihm augenscheinlich, das homiletische Erbe der orthodoxen »Leipziger Predigtkunst«, wie z. B. die Konzentration auf die homiletische Textanalyse und eine akkurate Predigtdisposition (bei gleichzeitiger Weglassung von unbrauchbar erachtetem Ballast), so in die neue Zeit zu überführen,233 daß er damit den Beifall eklektischer »Übergangstheologen« fand.234

ren die Katechetik auf der Akademie zu Wittenberg mag vorgetragen worden seyn, ist diese katechetische Methode des sel. D. Hofmanns abgefaßt. Und wären wir nicht gewiß, daß ein D. Karl Gottlob Hofmann noch erst vor zwey Jahren zu Wittenberg gelebt hätte, so kämen wir in Versuchung, diese Schrift für untergeschoben zu halten oder den Verfasser derselben in das Jahr 1676. zurückzusetzen. Diese Schrift, so wenig sie einen Katecheten bilden kann, wird doch wenigstens den Nutzen haben, allen jetztlebenden Kandidaten das Seichte, Unvollständige und Abgeschmackte des akademischen Unterrichts in dem vorigen Jahrhundert ins Andenken zu bringen und ihnen den Vorzug ihrer Tage recht einleuchtend zu machen.« 228 Jöcher (DBA I 556, 256) sprach von einer »vorzügliche[n] Kanzelberedsamkeit«, die Hofmann auszeichnete, und Hirscher (ebd, 266) urteilte: »Durch seine Predigten erwarb er sich allgemeinen Beifall [. . .]«. 229 Möglicherweise gehörte auch Bahrdt zu den Hörern von Hofmanns Leipziger Homiletikvorlesungen, die nach der Mitteilung eines Biographen einen so großen Erfolg und Zulauf gehabt haben sollen, daß »darinn die bewährtesten Männer gezogen [wurden], die nachgehends durch ihre geistliche Beredsamkeit sich auf eben die Staffel geschwungen haben, auf welcher sich unser Gelehrter [sc. Hofmann] befi ndet« (DBA I 556, 215 f.). 230 Der bereits erwähnte Johann Gottfried Reichel bemerkte in einem Brief an Gottsched, Starzedel, 4.1. 1754, UBL, Ms 0342, Bd. 19, 10v mit Blick auf die erste Aufl age von Gottscheds Ausführliche[r] Redekunst und deren homiletischem Kapitel: »Ich habe für dieses Buch zu Wittenberg gestritten, als H.Dr Hofman(n) ein ungeneigtes Urteil darüber fällete.« 231 C. G. Hofmann: Grund=Sätze seiner academischen Vorlesungen über die Geistliche Beredsamkeit, Wittenberg 1747. 232 Hofmann: Grund=Sätze, 28 formulierte seinen diesbezüglichen Standpunkt wie folgt: »§. 20. Daß wir aber diese Wahrheiten, ietzo nur als geoffenbarte betrachten und anführen, geschieht nicht in der Absicht, als ob Prediger dieienigen Wahrheiten, die auch aus der gesunden Vernunfft können erkannt werden, gantz und gar nicht vortragen, noch abhandeln dürften: sondern, weil sie eben auch diese Vernunfftmäßige Wahrheiten nach und aus der Offenbarung, das ist, nach und aus der Heiligen Schrifft, vortragen sollen, damit nicht ein menschlicher, sondern ein göttlicher Glaube und Wandel, durch sie gewürcket werde: Dawieder aber in unsern Tagen durch viele so genannte Philosophische Predigten gesündiget, und dem Reiche Christi geschadet wird.« 233 Johann Friedrich Teller, Sohn Romanus Tellers (s. o. Kap. 2, Abschn. 1.4.1) und Bruder des bekannten Auf klärungstheologen Wilhelm Abraham Teller, notierte aus der

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Direkte oder indirekte Kritik an der »philosophischen« Predigt wurde auch aus den Reihen der – zum großen Teil pietistisch beeinflußten – »Übergangstheologie« 235 und damit von Vertretern jenes theologischen Spektrums geübt, das den breiten und unübersichtlichen Übergangsbereich vom scholastisch-orthodoxen zum popularphilosophisch-neologischen Theologieverständnis markierte und das zusammen mit dem theologischen Wolffianismus die erste Phase der deutschen Auf klärungstheologie bildete.236 Auch wenn die Wolffianer innerhalb der bewegten Kontroverse gelegentlich den gegenteiligen Eindruck zu erwecken versuchten, war es deshalb doch zu keinem Zeitpunkt so, als würden die Anliegen der Auf klärung exklusiv von ihnen vertreten, wohingegen die Einlassungen der pietistisch»übergangstheologischen« Kritiker einer antiauf klärerischen Gesinnung per se geschuldet seien. Vielmehr war für die antiwolffischen Vertreter der »Übergangstheologie« ein – vor allem im Anschluß an die Philosophie von Christian Thomasius und seinem Schüler Andreas Rüdiger erfolgter – philosophisch-eklektischer Standpunkt kennzeichnend, der zwischen philosophischer Vernunftschätzung und offenbarungstheologischer Vernunftskepsis von Fall zu Fall zu vermitteln suchte.237 Eine allgemeine Vernunftverach-

Sicht der fortgeschrittenen Auf klärung über Hofmanns homiletische Position und ihr Verhältnis zur »Leipziger Predigtkunst«: J. F. Teller: Von dem Gebrauche der Lieder in Predigten, in: ders.: Anekdoten für Prediger und Priester zur Unterhaltung. Zweyter Band, Leipzig 1777, 107: »Ich halte den Gebrauch der Lieder in Predigten noch immer für etwas, das zur ehemaligen sogenannten Leipziger Prediger=methode gehörte, die daselbst der gebesserte Geschmack schon längst weggestoßen, und die mit dem Wittenbergischen D. Hofmann vollends ausgestorben, bis auf das, was etwan in einigen seiner Schüler davon übrig ist, die aber wohl niemals classische Prediger werden dürften.« 234 Die Rezension Friedrich Wilhelm Krafts in: Neue Theologische Bibliothek 3 (1749), 854 urteilte über das Werk: »Die Leser werden fi nden, daß der Herr Verfasser überall den kürzesten und natürlichsten Weg erwähle. So sehr er vor den philosophischen Predigten warnet: so vernünftig werden dem die Regeln vorkommen, der nicht zugleich leugnet, daß Gottes Wort auf der Kanzel die Hauptsache sey. Er läßt eine Menge homiletische Aufsätze der Alten fahren, z. E. die fünf Genera der Texte, die sogenannten Usus, die schematischen Predigten, u. d. m. Die Beweise sind entweder wirklich beweisende, oder nur erläuternde Gründe; und die Predigt wird mit einer den vorgetragenen Sachen gemäßen Schlußrede geendiget. u. d. m.« 235 U. Sträter: Universität Halle, RGG 4 3 (2000), 1392 spricht beispielsweise im Falle S. J. Baumgartens von einem Vertreter einer »pietistische Elemente mit dem Wolffi anismus verbindene[n] Übergangstheologie«; zu weiteren Vertretern siehe Hirsch: Geschichte, Bd. 2, 318–390. 236 Vgl. dazu nochmals Aner: Die Theologie, 1–4. 237 Zur philosophia eclectica im Rahmen der auf klärungstheologischen Entwicklung siehe Sparn: Auf dem Wege, 71–89; Sparn: Philosophie, 227–263; zur Eklektik als philosophi-

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tung, auch in theologischen Dingen, etwa im Sinne eines »antiintellektuellen Affekts«238 samt daraus resultierender »Geringschätzung der Philosophie« 239, kann dabei für »den« Pietismus in toto nicht vorausgesetzt werden.240 Deshalb und angesichts der vielfältigen personellen und inhaltlichen Überschneidungen von »Pietismus« und »Übergangstheologie« empfiehlt es sich, das in diesen Zusammenhang gehörende Material nicht theologiegeschichtlich zu separieren, sondern mit Blick auf lokale Schulbildungen und Traditionen zusammenzufassen. Vor allem zwei Universitätsgründungen des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts verdienen unter dem Gesichtspunkt ihrer Bedeutung für die weitere Entwicklung der Auf klärungshomiletik erhöhte Aufmerksamkeit: die 1694 offi ziell eröffnete Hallesche Friedrichsuniversität und die 1735 ins Leben gerufene und zwei Jahre später feierlich eingeweihte Göttinger Georgia Augusta. Denn während die Kritik der vom Pietismus August Hermann Franckes geprägten »hallischen Schule«241 auf dem Boden der weiterentwickelten Wolffschen Philosophie bei Georg Friedrich Meier zur auf klärungsinternen Kritik der von Gottsched repräsentierten »philosophischen« Predigt führte (s. u. Kap. 5, Abschn. 1), lassen sich die Göttinger Einsprüche zwar zu keiner homogenen »Göttinger Schule« zusammenfassen, aber sie etablierten doch eine sichtbare Tradition kritischer Opposition gegenüber der wolffianischen Homiletik, die in den homiletikgeschichtlich ebenso bedeutsamen wie unterschätzten Entwurf Johann David Heilmanns (1763) 242 einmündete (s. u. Kap. 5, Abschn. 2).

scher Methode siehe W. Schneiders: Vernünftiger Zweifel und wahre Eklektik: zur Entstehung des modernen Kritikbegriffes (1985), in: ders.: Philosophie der Auf klärung – Auf klärung der Philosophie: gesammelte Studien/ zu seinem 70. Geburtstag hrsg. von F. Grunert, Berlin 2005, 319–342. 238 Zur Charakterisierung der Halleschen Theologen als »Vertreter des Hallischen Pietismus mit einer biblisch und glaubenspraktisch ausgerichteten Theologie von antiintellektuellem Affekt« siehe Ursula Niggli: Einleitung, in: Alexander Gottlieb Baumgarten: Die Vorreden zur Metaphysik/ hrsg., übersetzt und kommentiert von U. Niggli, Frankfurt am Main 1998, XXVIII. 239 So Brecht: August Hermann Francke, 506, der von einer »denkerische[n] Schwäche« des Pietismus redet, »die aus seiner Geringschätzung der Philosophie resultierte«. 240 Richtig ist aber die Feststellung von Wallmann: Der Pietismus, O 73, daß im Halleschen Theologiestudium ein weitgehender Verzicht auf Philosophie geübt wurde. 241 Der terminologischen Differenzierung der neueren Pietismusforschung folgend unterscheide ich »Halleschen« und »hallischen« Pietismus: während der erste Begriff ortsgebundene Bedeutung hat (der Pietismus im Zusammenhang mit der Stadt Halle, der dortigen Theologischen Fakultät, dem Waisenhaus etc.), bezieht sich der zweite Begriff auf die von Halle ausgehenden (weltweiten) Wirkungen des Pietismus; vgl. J. Wallmann: Europäische und außereuropäische Ausstrahlung des Pietismus, in: Europa in der Frühen Neuzeit, Bd. 2 (1997), 9 f. 242 [ J. D. Heilmann:] Der Prediger und Seine Zuhörer in ihrem wahren Verhältnis

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Schwer zu trennen ist in diesem Zusammenhang die konkrete Kritik an Gottscheds Homiletik von der allgemeinen Kritik an der »philosophischen« Predigt, als deren erster und maßgeblicher Theoretiker der Leipziger Philosophieprofessor ab 1740, wie gezeigt, auftrat. Denn sowohl für den Halleschen Pietismus als auch für dessen Anhänger in den übrigen preußischen Landen ist zu berücksichtigen, daß Gottscheds Predigtlehrbuch durch die Kabinettsordern vom 7. März 1739 und 8. Februar 1740 obrigkeitlich sanktioniert war, was eine explizit kritische Auseinandersetzung erschwerte, wenn nicht gar unterdrückte. Wohl nicht zuletzt deshalb liegt aus der »hallischen Schule« brandenburg-preußischer Herkunft auch keine direkte Entgegnung auf Gottscheds Homiletik vor. Gleichwohl betraf die allgemeine Kritik der »hallischen Schule«, die von dieser vor allem im Vorfeld der Kabinettsordern an der Praxis der »philosophischen« Predigt geübt wurde, auch die theoretische Konzeption des Leipziger Predigtreformers. Anders war dagegen die Lage im politisch von Brandenburg-Preußen unabhängigen Göttingen, wo Joachim Oporin 1741 eine explizite Kritik an Gottscheds Predigtlehrbuch publizierte, die ihrerseits im Kontext einer weitläufigeren, die Göttinger Universitätspolitik betreffenden Kontroverse um die »philosophische« Predigt stand. Mit Halle und Göttingen sind die Brennpunkte pietistisch-»übergangstheologischer« Kritik an der »philosophischen« Predigt natürlich keineswegs vollzählig erfaßt. Insbesondere der Jenaer Luthereditor und Kirchenhistoriker Johann Georg Walch, der als ein der »hallischen Schule« nahestehender, aber auch in Richtung Göttingen wirkender Theologe im Wolff-begeisterten Jena zusammen mit Buddeus und dem homiletisch einflußreichen Hallbauer in zahlreichen Beiträgen 243 die Flagge des »übergangstheologischen«

betrachtet. Eine Abhandlung womit die theologische Facultät zu Göttingen die Erneuerung des unter ihrer Aufsicht stehenden homiletischen Seminarii öffentlich anzeiget, Göttingen 1763. 243 J. G. Walch: Vorrede, in: Stock: Homiletisches Real-Lexicon (1734), Bl. ):(2r– ):():():():(4v; die 1. Aufl. von Stocks Homiletischem Real-Lexicon (1725) noch ohne die homiletisch einschlägige Vorrede Walchs; letzte Aufl. 41749; Separatdruck der Vorrede unter dem Titel: J. G. Walch: Die Gottgefällige Vorbereitung auf die Predigt: geschrieben a. 1733/ neu hrsg. von W. Redenbacher, Nürnberg 1845. – J. G. Walch: Abhandlung von dem verderbten und gesunden Geschmack, 753–804; auch in: ders.: Sammlung kleiner Schriften, 210–240; – Ders.: Vorrede von dem Wesentlichen der Canzelreden, in: J. Ch. Stern: Heilige Reden. Nebst einer Vorrede J. G. Walchs [. . .], Jena 1751, Bl. )(6r- [)(])(4r. – Ders.: Vorrede von den unerkanten Sünden der Cantzelredner, in: G. Büchner: Exegetisch=Homiletische Erklär= und Anwendung der Sonn= und Fest=Tags=Evangelien zum Gebrauch der Geistlichen Redner mit einer Vorrede J. G. Walchs [. . .], Jena 1752, Bl. a2r-d2v. – Ders.: Vorrede von moralischen Predigten, in: J. S. Schröer: GOttgeheiligte Amts=Reden über auserlesene wichtige Texte heiliger Schrift, Denen einige besondere

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Eklektizimus hochhielt, würde es rechtfertigen, die Jenaer Verhältnisse gesondert in den Blick zu nehmen. Obwohl Walchs Stellungnahmen direkte oder indirekte Eingriffe in den Streit um die »philosophische« Predigt darstellten, wurden sie selbst jedoch – ähnlich den Einsprüchen von Theologen anderer Fakultäten – nicht zum Gegenstand des Streites, der im folgenden besonders interessiert.244 Geradezu sinnenfällig führt sein Beispiel jedoch vor Augen, was einen eklektischen Ansatz in der Homiletik näherhin charakterisierte, weswegen ihm an dieser Stelle kurz gesonderte Aufmerksamkeit geschenkt werden soll. Die wesentlichen Merkmale von Walchs (1693–1775) 245 eklektisch-philosophischem,246 zwischen konservativ-theologischen, pietistischen und aufCasualschriften beygefüget sind. Mit einer Vorrede D. J. G. Walchs [. . .], Leipzig und Jena 1753; Bl. a2r-b4v. – Ders.: Vorrede von der Gleichförmigkeit eines geistlichen Vortrags mit dem göttlichen Wort, in: A. L. Müller: Sechsfache Dispositiones und Nuzanwendungen über alle Sonn= und Festtags=Evangelien, [. . .] nebst einer Vorrede Herrn J. G. Walchs [. . .], Jena 1754, Bl. a5r-b4v. – Ders.: Vorrede von der himmlischen Weisheit eines evangelischen Predigers, in: A. L. Müller: Geistliche Reden über das Leben JEsu, darinnen er als der Herzog der Seeligkeit nach allen Theilen seines Lebens vorgestellet wird nebst einer Vorrede Herrn J. G. Walchs [. . .], Jena 1755, Bl. b1r-8v. – Ders.: Vorrede [von Jesu Christo als dem besten Muster der Predigten,] in: G. Rost: Auszüge der heiligen Reden, welche er im Jahr 1763. gehalten. Nebst einer Vorrede J. G. Walchs, Jena 1764, Bl. a1r-8v; Titel der Vorrede nach Walch: Leben und Charakter, 74 (Nr. 285). 244 Bereits [Heinsius:] Unpartheyische Kirchen-Historie, Tl. 3 (1754), 742 überging in seiner Darstellung der Streitigkeiten um die »philosophische« Predigt (ebd, 739–742) Walch und andere mit folgender Begründung: »Wie übergehen das übrige, was etwa in fl iegenden Blättern von kleinen Leuten, oder in verschiedenen Vorreden von den Grossen, als einem Mosheim, Deyling, Walch u. a. m. in der Sache ist geschrieben worden, weil sie sich dabey mit niemand in Streit eingelassen.« 245 Zu Walch siehe u. a. [ J. E. I. Walch:] Leben und Character des wohlseel. Herrn Kirchenraths D. Joh. Georg Walch, Jena 1777; BBKL 13 (1998), 183–186 (Ch. Schmitt); D. v. Wille: Lessico fi losofico della »Frühauf klärung«: Thomasius, Wolff, Walch, Roma 1991; dies.: Johann Georg Walch und sein Philosophisches Lexicon, in: Das achtzehnte Jahrhundert: Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts 22 (1998), Heft 1: Enzyklopädien, Lexika und Wörterbücher im 18. Jahrhundert, 31–39; F. A. Kurbacher: Passion und Reflexion: zur Philosophie des Philosophen in Johann Georg Walchs Gedancken vom Philosophischen Naturell (1723), in: Auf klärung als praktische Philosophie: Werner Schneiders zum 65. Geburtstag/ hrsg. von F. Grunert; F. Vollhardt, Tübingen 1998, 253–268. 246 Zum Einfluß des philosophischen Eklektizismus auf Walch siehe [ J. E. I. Walch:] Leben und Character, 4: »In der Philosophie bediente er sich des Unterrichts zweyer sehr verschieden denkender Lehrer. Gottfried Polykarp Müller war der sogenannten Parthey der neuern Eklektiker zugethan und erklärete Buddei Lehrbücher. Hingegen wagte Andreas Rüdiger, neue Wege zu betreten. Mit diesem letztern unterhielte der Selige einen vertrauten Umgang und dieser veranlaßte, daß er in seinen jüngern Jahren die Philosophie mit großem Fleiß bearbeitete, und noch während seines Aufenthaltes zu Leipzig den Entwurf zu einem philosophischen Wörterbuch machte, den er erst nachhero zu Jena mit ausnehmenden Beyfall seiner Zeit ausführete.« – Eine Defi nition der »Eclectische[n] Philosophie« bietet J. G. Walch: Philosophisches Lexicon, Darinnen Die in allen Theilen der Philosophie [. . .] fürkommenden Materien und Kunst=Wörter erkläret, und aus der Historie er-

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klärerischen Anliegen vermittelndem Homiletikansatz treten dabei am handgreifl ichsten in einer von ihm edierten Textsammlung hervor.247 In dieser führte er unter »antiphilosophische[r]«, d. h. anti-wolffischer »Frontstellung« 248 verschiedene Gedanken zur Predigttheorie und -praxis von Luther,249 Heinrich Müller (1631–1675),250 Spener, August Hermann Francke, seinem Schwiegervater Buddeus,251 dem Speneranhänger Johann Georg Pritius (1692–1732),252 Joachim Lange, Reinbeck,253 Jean Barbeyrac254 (1674– läutert [. . .] und alles nach Alphabetischer Ordnung vorgestellet werden, Leipzig 1726, 593: »Heist diejenige Art zu philosophiren, da man die Lehr=Sätze und Schlüsse seiner Vorgänger vernünfftig brauchet, das ist, aus allem Vermögen des Judicii die Wahrheiten, sie mögen gewiß, oder nur wahrscheinlich seyn, heraus suchet, und solche lebhafft erkennet, folglich dieselben zu seinen eignen Gedancken machet.« 247 Sammlung kleiner Schriften von der Gottgefälligen Art zu predigen, herausgegeben von Joh. Georg Walch, Jena und Leipzig 1747. – Wie die auf den 26. September 1746 datierte Vorrede Walchs zeigt, erschien der Band bereits 1746; er wurde auch noch im selben Jahr rezensiert in: Nachrichten von den neuesten Theologischen Büchern und Schriften 5 (1746), 526–532; zu Walchs Sammlung vgl. auch Schian: Orthodoxie und Pietismus, 108 f. 248 Zur »antiphilosophische[n]«, d. h. gegen die homiletischen Wolffi aner gerichteten »Frontstellung« von Walch: Abhandlung von dem verderbten und gesunden Geschmack, siehe Schian: Orthodoxie und Pietismus, 108 f. 163, Zitate: 109. 249 M. Luther: Anweisung, wie die Predigten gottgefällig einzurichten sind, in: Sammlung kleiner Schriften, 1–16; aus verschiedenen Quellen von Walch kompiliert. 250 H. Müller: Betrachtungen von beweglichen und einfältigen Predigten, in: Sammlung kleiner Schriften, 16–21; Quelle: Auszug aus Müller: Geistliche Erquickstunden, Frankfurt 1700 (EA 1666), Nr. 157 (S. 228). Nr. 188 (S. 291). – Zu Müller siehe RGG 4 5 (2002), 1570 ( J. Wallmann). 251 J. F. Buddeus: Erbauliche Gedancken von Predigten, in: Sammlung kleiner Schriften, 61–82; Quelle: J. F. Buddeus: Erbauliche Gedancken von Predigten, nebst einer kurtzen Anzeige, wie es ferner in den Nachmittags=Predigten des Sonntags in der Collegen=Kirchen soll gehalten werden, Jena 1724. 252 J. G. Pritius: Gedancken von erbaulichen Predigten, in: Sammlung kleiner Schriften, 83–124; Quelle: Pritius: Vorrede zu Arndts Postille oder geistreiche Erklärungen der evangelischen Texte durchs gantze Jahr. Neue Aufl age, Frankfurt 1713. – Zu Pritius, der ab 1711 als Senior in Frankfurt am Main amtierte, vgl. RGG 4 6 (2003), 1668 f. ( J. Wallmann). 253 J. G. Reinbeck: Regeln von Abfassung einer guten Predigt, in: Sammlung kleiner Schriften, 156–210; Quelle: Reinbeck: Vorbericht und Einleitung, Bl. a2r-h7v. 254 Joh[ann] ( Jean) Barbeyrac: Gedancken von der unächten Beredsamkeit eines Predigers, in: Sammlung kleiner Schriften, 240–261; Quelle: Barbeyracs Vorrede zum 2. Teil der Französischen Übersetzung der Predigten von Tillotson: Sermons sur divers matieres importantes, Amsterdam 1708, übersetzt von Walch. – Zu Barbeyrac, dem als Theologen gescheiterten Berliner Hugenotten, siehe S. C. Othmer: Berlin und die Verbreitung des Naturrechts in Europa: kultur- und sozialgeschichtliche Studien zu Jean Barbeyracs Pufendorf-Übersetzungen und eine Analyse seiner Leserschaft. Mit einem Vorwort von Gerhard Oesterreich, Berlin 1970, 60–93; die biographischen Eckdaten ebd, XI; August Friedrich Wilhelm Sack versah im Hause Barbeyracs in Groningen seit 1726 für einige Zeit die Stelle eines Hofmeisters; Pockrand: Biblische Auf klärung, 26 f.; zu Barbeyracs Moralphilosophie vgl. S. Pott: Reformierte Morallehren und deutsche Literatur von Jean Barbeyrac bis Christoph Martin Wieland, Tübingen 2002.

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1744) und von ihm selbst 255 zusammen. Mit diesen mehrheitlich älteren Textbeiträgen versuchte er, den aktuellen homiletischen Diskurs in seinem Sinne zu beeinflussen. Walch, der in Jena asketische Vorlesungen nach Halleschem Vorbild hielt 256 und sich bei lutherisch-orthodoxen Gegnern längst als Pietist verdächtig gemacht hatte,257 legte mit seiner Sammlung ein klares Bekenntnis zum lutherisch-pietistischen Erbe ab, das ihn – obwohl er nie in Halle studiert hatte – in den weiteren Kontext der »hallischen Schule« stellte. Deren engere homiletische Traditionslinie zog er in seiner Sammlung von der gottgefälligen Art zu predigen selbst von Spener258 über Francke259 bis hin zu Joachim Lange260 aus. Eben jener Lange war es dann auch, der Mitte der 1730er Jahre von hallischer Seite den publizistischen Kampf gegen die »philosophische« Predigt aufnahm, nachdem bereits zwei Jahre zuvor Walch eine ähnlich lautende Kritik an der jüngsten homiletischen Entwicklung geäußert hatte. 2.1 Die Kritik der »hallischen Schule« 2.1.1 Joachim Lange (1735) Ein Jahr vor Erscheinen von Gottscheds Ausführlicher Redekunst sorgte Johann Lorenz Schmidt (1702–1749) mit seiner Wertheimer Bibel (1735) in den Kreisen der deutschsprachigen respublica litteraria, besonders aber in den theo255 Walch: Abhandlung von dem verderbten und gesunden Geschmack, in: Sammlung kleiner Schriften, 210–240. 256 [ J. E. I. Walch:] Leben und Character, 12 f. 257 Kurtzer Beweiss, dass der Herr D. Walch in Jena ein Pietist sey: aus einer von ihm gehaltenen Predigt entnommen und ans Licht gestellet durch einen, der die Verfälschung mit eigenen Ohren angehört. [o. O.] 1735. Vgl. auch die von Erdmann Neumeister geäußerte Bemerkung (Brief an Ernst Salomo Cyprian, Hamburg, 21. Januar 1741): »Walch wird seinen hällischen Sinn so wenig als ein Pardel seine Flecken wandeln. Ich habe es aus Erfahrung, daß die, welche orthodox heißen wollen, aber nur jemals ein wenig hallische Luft in sich gezogen hatten, tückische Satans gewesen sind«; Th. Wotschke: Erdmann Neumeisters Briefe an Ernst Salomo Cyprian, Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 26 (1925), 144. 258 Ph. J. Spener: Regeln, die er sich selbst in Ansehung der Predigten vorgeschrieben hat, in: Sammlung kleiner Schriften, 21–26; ders.: Verschiedene Anmerckungen von mancherley nöthigen Stücken, die bey einer Predigt zu beobachten sind, in: ebd, 27–44; von Walch aus verschiedenen Quellen, insbesondere Speners Bedenken, geschöpft. 259 A. H. Francke: Sendschreiben von erbaulichen Predigten (1725), in: Sammlung kleiner Schriften, 45–61; Quelle: Francke: Vom erbaulichen Predigen. 260 J. Lange: Academische Abhandlung von erbaulichen Predigten, in: Sammlung kleiner Schriften, 125–156; Quelle: J. Lange: Dissertatio Secvnda, sev Homiletica Posterior, De Concionvm Forma, De Aedificationis Scopvm Cvrativs componenda, Von erbaulichen Predigten, in: ders.: Mosaisches Licht und Recht, Das ist Richtige und Erbauliche Erklärung Der Fünff Bücher Mosis [. . .], [EA 1732] Andere Aufl age, Halle und Leipzig 1733, Appendix posterior: 57–64, übersetzt von Walch.

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logischen, für Aufsehen und Unruhe.261 Seine im Geist des Wolffianismus abgefaßte Übersetzung der ersten Bücher des Alten Testaments setzte nicht nur verschiedene Zensurbehörden in Bewegung, sondern sie löste auch eine lebhafte publizistische Debatte aus, die vier Jahre lang andauern und die im Ergebnis für die theologische und philosophische Entwicklung in Deutschland, aber auch für das Entstehen einer auf klärerischen Öffentlichkeit überhaupt, von größter Bedeutung sein sollte.262 Den publizistischen Auftakt der gegen Schmidt gerichteten Widerlegungsschriften machte im Herbst 1735 Joachim Lange, der den Bibelübersetzer als »philosophischen Religions=Spötter« »entlarvte«.263 Der »enthüllungsjournalistische« Charakter seiner Schrift bewirkte die beabsichtigte Sensation. Im Kreuzfeuer von Langes Kritik stand unter anderem die von Schmidt bei seiner Kommentierung praktizierte »demonstrativisch[e] Lehrart« 264, die nach Dafürhalten des Halleschen Theologen zu katastrophalen Folgen im homiletischen Bereich führte. Da Langes »Beschreibung« der »philosophischen« Predigt grundlegend für die Sicht der Homiletik- und Predigtgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts geworden ist, sollen dessen Ausführungen an dieser Stelle vollständig zitiert werden. Es heißt bei ihm: »§. IV. Mit allen solchen, nebst richtigen, theils unrichtigen, theils überflüßigen Dingen, möchte der Verfasser [sc. Johann Lorenz Schmidt; A. S.] meinet wegen, bey seiner vermeinten demonstrativischen Lehrart, wol einen gantzen Folianten erfüllen. Daß er aber den in den Haupt=Lehren von CHristo und der heiligen Dreyeinigkeit verfälschten biblischen Text damit ausstaffi ret, das ist so vielmehr zubedauren, so vielmehr dadurch das schon eingerissene grosse Kirchen=Uebel der jungen Cantzel=Schwätzer überhand nehmen wird. Denn nachdem von etlichen Jahren her auf einigen Universitäten einige Magistri legentes, um des eitlen applausus willen, durch allerhand Wege die Auditores von den ordentlichen Professoribus ab= und an sich gezogen, und sie auf die ihnen so hoch angepriesene neue Philosophie geführet, auch wider jene dabey Schutz gefunden haben, und die Studiosi von dannen in die Kirche GOttes ausgegangen sind, so höret man von vielen Klagen über die philosophischen Predigten, die kein Mensch verstehe, fast jederman aber 261 Zu Schmidt und seiner theologiegeschichtlich oft verkannten Bibelübersetzung siehe zuletzt W. Sparn: Johann Lorenz Schmidt, RGG4 7 (2004), 934, sowie noch immer Hirsch: Geschichte, Bd. 2, 417–438. 262 Vgl. dazu zuletzt U. Goldenbaum: Der Skandal der Wertheimer Bibel: die philosophisch-theologische Entscheidungsschlacht zwischen Pietisten und Wolffi anern, in: dies.: Appell an das Publikum, 175–496. 263 J. Lange: Der Philosophische Religions=Spötter in dem ersten Theile Des Wertheimischen Bibel=Wercks verkappet, Aber aus dringender Liebe zu JESU CHRISTO Und der reinen Mosaischen Lehre von demselben, freimüthig entlarvet, und in seiner natürlichen Gestalt dargestellet von D. Joachim Langen, Halle, im Jahr CHristi 1735 (Vorrede: 25. September 1735). – Zu dieser Schrift vgl. Goldenbaum: Der Skandal, 222–237, der ein anderer Druck der Schrift (Halle und Leipzig 1735) vorlag. 264 Lange: Der Philosophische Religions=Spötter, 26.

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mit Eckel anhöre; und insonderheit über das affectirte Definiren und Begriffe machen, also daß man in einer eintzigen Predigt wol über 50. defi nitiones höre z. E. Matth. 8, 1.u. f. Da aber JEsus vom Berge herab ging, folgte ihm viel Volcks nach: da heisset es: Ein Berg ist ein solcher erhabner Ort u. s. w. Gehen ist so viel, als u. s. w. Herab gehen heisset etc. ein Volck ist eine gewisse Menge von Leuten. Also auch v. 3. Der HErr JEsus streckte seine Hand aus, rührte ihn an, und sprach: darauf es denn heisse: Eine Hand ist ein solches Glied, das da u.f. ausstrecken, anrühren, sprechen, ist so viel, als u. s. w. Solche philosophische Cantzel=Gecke (die an statt dessen, daß sie Christum predigen solten, bey ihrem defi niren fast von lauter Möglichkeit, Würcklichkeit, Absichten, Begriffen, zureichenden Grunde u. s. w. schwätzen, und dabey so aufgeblasen sind, daß kluge Leute nur einfältige Tröpfe in ihren Augen seyn müssen) hat die neue Philosophie geboren.« 265

Wie zu sehen ist, setzte Lange mit seiner Kritik mangels des Vorhandenseins einer elaborierten Theorie bei der Praxis der »philosophischen« Predigt an. Abgesehen davon, daß seiner Meinung nach »die philosophischen Predigten [. . .] kein Mensch verstehe, fast jederman aber mit Eckel anhöre«, faßte er im wesentlichen zwei formale Eigentümlichkeiten der »philosophischen« Predigt zu einem theologischen Hauptvorwurf zusammen: Mit dem »affectirten Defi niren« sonnenklarer Begriffe und dem modischen Verwenden philosophischer Termini aus dem Fundus der Wolffschen Philosophie, wie z. B. Möglichkeit, Wirklichkeit, Absicht, zureichender Grund etc., würden die »philosophische[n] Cantzel=Gecke[n]« die Christuspredigt aufgeben, mithin zu Verrätern ihres eigentlichen theologisch-homiletischen Auftrags werden. Die theologische Legitimität des »philosophischen« Predigtansatzes war damit prinzipiell negiert. Da das Phänomen der »philosophischen« Predigt von Lange im Modus einer antiwolffianischen Kritik mit offenkundig polemischen Zügen präsentiert wird, sollte zunächst Vorsicht bei der ungeprüften Identifi zierung von »Beschreibung« und historischer Realität geübt werden. Denn für Langes Sicht ist ein parteiischer Standpunkt vorauszusetzen, der historischer Erkundung bedarf. Die Predigtgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts differenzierte hier allerdings wenig und schenkte Langes »Beschreibung«, die nicht nur von pietistischen, sondern auch von orthodoxen und – im Falle Georg Friedrich Meiers – von der innerauf klärerischen Polemik aufgegriffen wurde,266 kritiklos Glauben.267 265

Lange: Der Philosophische Religions=Spötter, 26 f. Die oben zitierte Passage aus Langes Religions=Spötter fi ndet direkte (Zitat) oder indirekte Wiedergabe (Referat, Anspielung etc.) u. a. bei [ J. F. Bertram:] Johannis Eleutherii à Verimontibus Schrifftmäßige und Gründliche Gedancken Von der menschlichen Vernunfft, und so wohl Alten als Neuen Welt=Weißheit. Den verderblichen Ausschweifungen der gegenwärtigen Zeit, entgegen gesezt, und zum Dienst der studirenden Jugend ausgefertigt. Bremen 1736, 434 f. (Zitat); E. F. Neubauer: Vorrede, Worinn die Materie von den Kennzeichen einer guten Predigt fortgesetzet wird, in: J. J. Rambach: Geistreiche Giessische Reden über verschiedene Evangelische Texte, mit nützlichen Dis266

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Neben Schmidts Bibelübersetzung als eines Exponenten der von Joachim Lange seit 1723 bekämpften Wolffschen Philosophie sind als unmittelbarer Stein des Anstoßes für seine Polemik wohl jene Entwicklungen zu veranschlagen, die sich in Halle an der Person Siegmund Jakob Baumgartens festmachten. Wie oben 268 bereits geschildert, hatten Berliner Gönner Baumgarten 1734 eine Anstellung an der Halleschen Theologischen Fakultät verschafft, ohne dabei die Zustimmung der dortigen Theologen einzuholen. Baumgarten galt für Lange als Anhänger der Philosophie Wolffs und damit als Verräter am pietistischen Erbe. Aber nicht nur der Lehrerfolg, den Baumgarten schon als magister legens unter den Studenten feiern konnte und auf den Lange in seiner Polemik tendenziös anspielte, weckte Bedenklichkeiten bei seinen pietistischen Gegnern. Der 1731 nach Gießen gewechselte Johann Jakob Rambach referierte gegenüber seinem Schwiegervater Lange in einem auf den 1. Mai 1734 datierten Schreiben die auf pietistischer Seite mit Baumgartens Eintritt in die Theologische Fakultät verbundenen Befürchtungen wie folgt: 267

»Man hat vorgeben wollen, daß durch ihn [sc. Baumgarten; A. S.] die aus Reinbekkii fructibus geschöpfte Wolf[fiana] principia den Studiosis u. Praeceptoribus, u. durch diese weiter so gar den Kindern in den Schulen des Waysenhauses instilliret würden, u. und daß es itzo nichts neues sey, Wolfi sche definitiones auf der Cantzel in der Schulkirche zu hören. Wenn dem so ist, so hat sich W[olff ] wol Ursach zu freuen, daß seine Sätze, die man zur Vorder-Thür hinausjagt, wiederum zur Hinter-Thür positionen, und einer Vorrede [. . .] zum Druck befördert von D. Ernst Friedrich Neubauer. Vierter Theil, Bremen 1740, 17 f. (Zitat); Roques: Gestalt eines Evangelischen Lehrers, Tl. 1, 303 in Anm. (e): »Dergleichen würde demjenigen ohnfehlbar begegnen, der diese Worte: da JEsus vom Berge herab ging, folgete ihm viel Volck nach; erklären, und zeigen wolte, was ein Berg sey, was da heisse zum Berge herab gehen; was durch ein Volck verstanden werde, und was das heisse, einem nachfolgen. Der gemeine Mann hat davon schon die deutlichsten Vorstellungen; und wenn er nach einer solchen Erklärung sich richten solte; so würde er sensum communem verlieren, und nicht mehr wissen was ein Berg, ein grosser Hauffen Leute u. s. f. sey« (die Anmerkung stammt vom Übersetzer Friedrich Eberhard Rambach); Fabricius: Regeln der Geistlichen Beredsamkeit, 33; G. F. Meier: Gedanken vom Philosophischen Predigen, Halle 1754, 44: »Was hilfts, wenn man dem Bauer eine Defi nition von einem Berge, von dem Gehen, und von andern solchen Sachen gibt, deren in dem Texte eine Erwehnung geschieht.« – Auf orthodoxer Seite wird Langes Sicht aufgegriffen u. a. bei H. Ch. Engelken: Programma natalium, quo rite celebrari festum nativitatis Christi, die vigesimo quinto Decembris, modo pie celebretur, ostendit insimul vero Auctorem inconsideratum Chartarum, sub rubro: Zuruf an alle Wolffianer, modeste ex rev. Concilii decreto, admonet [. . .] Hermann. Christoph. Engelcken [. . .], Rostochii [1739], 14 f. (Zitat). 267 Ausgehend von Schuler: Geschichte, Tl. 2, 109–111 (Zitat) fand Langes polemische Sicht auf die »philosophische« Predigt über Lentz: Geschichte, Bd. 2, 168 in Anm. (*) und Schenk: Geschichte, 131 f. Eingang in die Predigt- und Kirchengeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts; für letztere siehe z. B. K. R. Hagenbach: Die Kirchengeschichte des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts aus dem Standpunkte des evangelischen Protestantismus betrachtet in einer Reihe von Vorlesungen, Tl. 1, Leipzig 31856, 119. 268 Kap. 3, Abschn. 3.2.1.

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hineingelassen werden. Gott erbarme sich seiner zerütteten Kirche an allen Orten.« 269

Laut dieser Äußerung ist davon auszugehen, daß es um 1734 in der Halleschen Schulkirche, dem Ort des Universitätsgottesdienstes und diverser akademischer Akte und Übungsveranstaltungen,270 dazu gekommen war, daß einer oder mehrere Prediger »die aus Reinbeckii fructibus geschöpfte Wolf[fiana] principia« – vielleicht im Sog von dessen Betrachtungen über die in der Augspurgischen Confeßion enthaltene und damit verknüpfte Göttliche Wahrheiten und dem dort besonders in den Vorreden entfalteten Verständnis über die Verknüpfung von Philosophie und Theologie 271 – in wie auch immer gearteter Form homiletisch zur Anwendung brachten. Wer diese Prediger waren, läßt sich nicht ermitteln, wie es auch kein weiteres Zeugnis für derartige Vorkommnisse gibt. Ob Baumgarten, der ab 1728 Predigtdienst in der Schulkirche verrichtete, jener Prediger war, der die behaupteten »Wolfische[n] defi nitiones auf der Cantzel« vortrug, oder begeisterte Zuhörer von dessen Vorlesungen, muß daher offenbleiben. Daß es aber wohl vor allem die studierende Jugend war, die bei jeder sich bietenden Gelegenheit dazu überging, die in Vorlesungen im Vorzeichen der Wolffschen Philosophie gehörte Dogmatik und Ethik selbsttätig zur homiletischen Anwendung zu bringen, wird beispielsweise für Jena bezeugt, wo ein seit 1732 immatrikulierter Student berichtet, daß hier die Vorlesungsmitschriften des Wolffianers Jakob Carpov272 eine entsprechende Verwendung fanden.273 In Halle mochten dabei einmal mehr die Betrachtungen des Ex-Hallensers Reinbeck geeignet gewesen sein, die homiletische Praxis in der unterstellten Weise zu befruchten, und zwar nicht nur nach ihrer materialen, sondern auch nach 269

Zit. nach Rambach: Leben – Briefe – Schriften, 31 (Hervorhebung A. S.). Zur Verfassung und Geschichte des Halleschen Universitätsgottesdienstes seit seiner Einrichtung im Jahr 1692 siehe H. Hering: Aus dem ersten Jahrhundert des akademischen Gottesdienstes der Friedrichs-Universität in Halle a. S.: urkundliche Zeugnisse zum Gedächtnis seiner Erneuerung durch König Friedrich Wilhelm III. im Jahre 1806, Osterprogramm für 1905 und 1906, Halle 1906; ders.: Der akademische Gottesdienst und der Kampf um die Schulkirche in Halle a. S.: ein Beitrag zur Geschichte der Friedrichs-Universität daselbst von ihrer Gründung bis zur Erneuerung durch Friedrich Wilhelm III., Halle 1909; zum Auf kommen »philosophischer« Predigten fi nden sich hier keine Hinweise. 271 Reinbeck: Betrachtungen, Tl. 1 (1733 [Erstausgabe: 1731]), Bl. )(1r–)()()()()(2v; Tl. 2 (1733): Nebst einer Vorrede Von dem Gebrauch der Vernunfft Und Welt-Weißheit In der GOttes-Gelahrtheit, III-LXXII. 272 Zu Jakob Carpov (1699–1768), dem ersten unter den theologischen Wolffi anern, der die gesamte Dogmatik nach streng mathematisch-demonstrativer Lehrart entwickelte, siehe RGG4 2 (1999), 73 (A. Beutel). 273 [Brauns:] Theologische Gedan[c]ken, Tl. 3, 374: »[. . .] daß ich schon zu Jene [=Jena], woselbst bei meinem Aufenthalt das Spüken auf der Kanzel [sc. die Praxis des »philosophischen« Predigens; A. S.] damals schon anging, und des Herrn M. Carpovs Hefte herhalten musten [. . .]«. 270

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ihrer formalen Seite. Diesen Schluß lassen zumindest Äußerungen des Königsberger Pietisten Rogall zu, der bereits 1732 durch die vom preußischen König befohlene Anschaffung des Opus in allen Kirchen seines Landes einen solchen Effekt vorausgesagt hatte.274 Unter diesen Umständen ist Langes Kritik der »philosophischen« Predigten wohl letztlich auf dem Hintergrund der um 1735 verstärkt betriebenen Rehabilitierungsbestrebungen der Wolffschen Philosophie in Preußen zu interpretieren, indem sie in den Zusammenhang jener Abwehrmaßnahmen gehörte, die der hallische Pietismus insgesamt unternahm, um sich aus seiner bedrängten Lage zu befreien und das Blatt noch einmal für sich zu wenden. In der Wahrnehmung Langes stellten die – wie auch immer beschaffenen – homiletischen Applikationsversuche der Wolffschen Philosophie in Halle den negativen Exponenten ihres behaupteten verderblichen Einflusses dar, gegen den seit 1723 Front gemacht wurde.275 Von daher muß hinter Langes »Beschreibung« der »philosophischen« Predigt ein grundlegendes strategisches Interesse vermutet werden, das darauf zielte, die vermeintlichen Fehlentwicklungen nicht nur polemisch zu übertreiben, sondern auch zu verallgemeinern, um schlechterdings jede Form der »philosophischen« Predigt in Verruf zu bringen. Der Wertheimer Bibelübersetzer bot dafür wohl letztlich nur den willkommenen Anlaß. Merkwürdig erscheint in diesem Zusammenhang und auf den ersten Blick die scheinbare literarische Abhängigkeit seiner Polemik von der älteren, auf klärerischen Kritik an orthodoxen Predigten. So räumte der theologische Wolffianer Johann Matthias Cappelmann 1743 unter direkter Bezugnahme auf Langes Polemik ein, daß es in der Tat töricht sei, mit der mathematischen Methode etwas beweisen zu wollen, was völlig klar sei. Zur Begründung verwies er auf eine (von ihm aber nicht nachgewiesene und mir auch nicht nachweisbare) Stelle bei Thomasius, wo dieser diejenigen geistlichen Redner rügte, »welche die deutlichsten Sachen weitläufig erklärten«. Cappelmann fuhr in seinem Referat wie folgt fort: »Er [sc. Thomasius; A. S.] erwehlte im Scherz, in welchem er aber eine Wahrheit vortrug, folgenden Text: Mein Knecht Hans / gehe auf den Markt / und hole mir für zwei 274 Rogall kommentierte die königliche Anweisung gegenüber dem jüngeren Francke in Halle in einem Schreiben vom 5.12. 1732 wie folgt: »Gestern ist dem Ministerio ein Kgl: Rescript publiciret: daß sich alle Kirchen Reinbecks Betr: üb die Augsp: Conf: anschaffen sollen, eben so wie vormahls D. L. Licht u R. [=Joachim Langes Licht und Recht] was die armen Prediger mit den ersten machen sollen weiß ich nicht, denn es ist wenig gegeben es zu penetriren, die methode schickt sich auch meines erachtens gar [nicht] auff die Cantzel«; zit. bei Fehr: »Ein wunderlicher nexus rerum«, 179. 275 Fehr: »Ein wunderlicher nexus rerum«, 276 hat zu Recht darauf hingewiesen, daß »(d)er Vorwurf des ›Verwilderns der Gemüther‹ – der Korruption des Denkens und Redens der Jugend – und nicht der der Irrlehre [. . .] im Zentrum der Auseinandersetzung zwischen Wolffianismus und Halleschem Pietismus [lag]«.

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Pfennige Petersilie. Bei dem Worte gehen erklärt er seinem Knecht, er solte nicht reiten, nicht fahren, nicht springen, nicht laufen, sondern gehen, das sei, er solte einen Fuß nach dem andern sittsam auf heben, und Schritt vor Schritt fortsetzen, bis er auf den Markt käme, u. s. w.« 276

Die Ähnlichkeit dieser Kritik, die in satirischer Weise Methoden scholastisch-orthodoxer Predigttheorie und -praxis aufs Korn nahm,277 mit Langes Vorwürfen ist unübersehbar und wirft die Frage auf, was die pietistische und auf klärerische Kritik an orthodoxer Predigttheorie ursprünglich verband und unter welchem Gesichtspunkt es möglich war, sie einige Jahrzehnte später einfach auf die homiletischen Wolffianer zu übertragen. Zunächst aber zu einem anderen Aspekt: Indem Cappelmann die Kritik Langes an überflüssigen Defi nitionen nicht prinzipiell zurückwies, räumte er unter der Hand ein, daß die »philosophische« Predigt in der Praxis keineswegs frei von Fehlern war. So ist die von Lange beklagte homiletische Verwendung Wolffscher Terminologien durch eine auf den 30. Oktober 1737 datierte Anfrage einer lutherischen Gemeinde im Osnabrückischen belegt, die bei der Theologischen Fakultät zu Halle um ein Responsum wegen eines Kandidaten ersuchte, der »von lauter Möglichkeiten 278 auf der Cantzel rede« 279. Und auch die »Königlich dänische Instruction zur Aufsicht über das Kirchen= und Schulwesen im Herzogthum Schleswig Holstein« vom 14. Dezember 1739,280 die unter den Bedingungen des »dänischen Staatspietismus« 281 von Christian VI. (reg. 1730–1746) erlassen wurde, schien auf Mißstände in der Praxis der »philosophischen« Predigt Bezug zu nehmen, wenn dem zuständigen Generalsuperintendenten aufgetragen wurde, solche Prediger »nachdrücklich [zu] verweisen«, »die ihre Predigten mit unnützen philosophischen Redensarten und überflüssigen Beschreibungen und sogenannten Beweisthümern solcher Sachen, die ein jeder schon aus der Benennung verstehet, und an deren Wahrheit niemand zweifelt, [. . .] unverständiger Weise auszuschmücken pflegen« 282 .

276 Beide Zitate Cappelmann: Philosophisch-Theologische Gedanken über einige Fehler, 373. 277 Zu Thomasius’ satirischer Kritik an orthodoxen Predigten, die insbesondere auf die Technik negativer Amplifi kation zielte, mit deren Hilfe darüber gepredigt würde, was vom Text nicht gemeint sei, siehe Strassberger: Die »Leipziger Predigerkunst«, 191–193. 278 Nach Wolffs Metaphysik besteht in der Möglichkeit das Wesen einer jeden Sache. 279 Ludovici: Ausführlicher Entwurf, Tl. 3, 151. – Recherchen im Universitätsarchiv Halle nach diesem Responsum blieben ergebnislos. 280 Text in: Acta historico-ecclesiastica 4 (1740), 526–558. 281 Vgl. dazu M. Jakubowski-Tiessen: Der Pietismus in Dänemark und SchleswigHolstein, in: GdP 2 (1995), 450–455. 282 Beide Zitate Acta historico-ecclesiastica 4 (1740), 528; vgl. dazu auch Schuler: Geschichte, Tl. 2, 196.

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In dieselbe Kerbe schlug auch die oben 283 zitierte Ermahnung der Preußischen Generalkirchenvisitation von 1738, in der die Prediger u. a. angewiesen wurden, »keine philosophische[n] hohe[n] Dinge vor[zu]bringen, oder bekante Dinge [zu] defi niren und [zu] demonstriren« 284. Es ist daher wohl kaum zu leugnen, daß einige der »philosophischen« Predigten eine durchaus übertriebene Liebe zur Leibniz-Wolffschen Philosophie an den Tag legten, wie z. B. jene Predigt über »Die beste Welt in Christo« in Anknüpfung an 2 Kor 5, 17 f. von David Otto Wahrendorff (1713–1772) 285 oder die 1740 vom Berliner Hugenottenprediger Jean Des Champs (1707–1767) »nach der Methode des berühmten Wolff« abgefaßten Predigten,286 deren Inhalt eher philosophischen Abhandlungen als einer herkömmlichen Textpredigt glich.287 Nicht ohne Grund monierte auch Gottsched kurz vor Fertigstellung seines Predigtlehrbuchs, daß die »Wolffianischen Prediger« seiner Ansicht nach viel zu sehr trockenen Philosophen als volkstümlichen Rednern ähnelten und daher zu wenig den rhetorischen Rahmenbedingungen des Predigtgeschehens Rechnung trügen.288 In dieser Hinsicht markierten aber sowohl die Preußische Kabinettsorder von 1739 als auch das Erscheinen von Gottscheds Homiletik eine folgenreiche Zäsur, weil sie die bis dato eher experimentell betriebene, theoretisch weitgehend unreflektierte Praxis der »philosophischen« Predigt in methodisch fundierte Bahnen lenkten, so daß von nun an gezielt auf tatsächliche Fehlentwicklungen eingewirkt werden konnte. Wie stand es aber mit Langes Hauptvorwurf, die »philosophische« Predigt würde die Christuspredigt ersetzen? Hierbei handelte es sich um einen durchgehenden Topos pietistischer Kritik. So berichtete 1745 der pietistisch beeinflußte Johann Gebhard Pfeil (1721–1773), Pfarrer im thüringischen 283

Kap. 3, Abschn. 3.2.2 bei Anm. 403. Acta historico-ecclesiastica 3 (1738), 253. 285 D. O. Wahrendorf: Die beste Welt in Christo 2 Kor. 5, 17 f., in: Samlung auserlesener und überzeugender Canzel=Reden, Tl. 6 (1742), 329–434. – Zu Wahrendorff vgl. DBA I 1324, 443 f. 286 Des Champs: Cinq Sermons sur divers Textes, expliqués selon la Methode du celebre Mr. Wolf (1740). – Die Schreibweise des Namens variiert; zur Person s. o. in Kap. 3, Abschn. 3.3. 287 Vgl. die kritische Rezension von Wahrendorffs Predigt in: Nachrichten von den neuesten Theologischen Büchern und Schriften 1 (1742), 648–654. 288 Vgl. nochmals seine 1739/40 (die genaue Datierung fehlt bei Danzel) geäußerte Kritik: »Es ist das ein gemeiner Fehler unserer neuen Wolffi anischen Prediger, daß sie keine Redner sind. [. . .] Mein Freund May hat mir erzählt, wie die Leute so trocken und mager predigen, daß sie lauter Schlüsse in barbara celarent und recht metaphysische demonstrationes auf die Kanzel bringen. Das taugt nun ganz und gar nichts, und man muß in einem öffentlichen Vortrage auch der gründlichsten Wahrheiten, sich allemal erinnern, daß man nicht Weltweise, sondern unstudierte Zuhörer vor sich hat«; zit. nach Danzel: Gottsched und seine Zeit, 46. 284

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Geschwenda,289 »vor etlichen Jahren« eine »philosophische« Osterpredigt gehört zu haben, die vom Standpunkt seiner pietistischen Frömmigkeit mehr einer Einführung in die Grundlagen der Wolffschen Psychologie als einer Verkündigung des Evangeliums Christi glich.290 Nicht anders der RambachSchüler Ernst Friedrich Neubauer (1705–1748),291 der 1740 anläßlich der postumen Ausgabe von Predigten seines Lehrers in einer Vorrede Von den Kennzeichen einer guten Predigt 292 eine Kritik der »philosophischen« Predigt vortrug,293 in der er zwar eine »gesunde Philosophie« von der Kanzel nicht verdammt sehen wollte, es aber als »eine unverantwortliche Sache, und gantz und gar wider den Endzweck der Predigten, welcher ist die Menschen selig zu machen«, gerichtet ansah, »wenn man, an statt Christum und seine Gnade auf der Cantzel nach Art der Apostel zu lehren, nur mit philosophischen Brocken um sich wirft«.294 Wie Lange kritisierte Neubauer, daß »(a)us solchem philosophischen Predigen [. . .], wenn mans beym Licht besiehet, nichts als ein philosophisches Christenthum[,] philosophische Busse, philosophischer Trost, philosophische Verleugnung u. s. w. herauskommen [wird], welches alles nicht auf Christum und den wahren lebendigen Glauben, an ihn, sondern auf Vernunft=Grün-

289 Pfeil wirkte von 1742 bis 1749 als Pfarrer in Geschwenda, von 1749 bis 1758 in Magdeburg und anschließend als Oberpfarrer in Ditfurt; zuletzt (1767) amtierte er als Propst in Greifenhagen; Thüringer Pfarrerbuch, Bd. 2, 305. 290 J. G. Pfeil: Abhandlung von dem in der heutigen Welt herrschenden verschiedenen Geschmack an Predigten, in: Isaac Watts: Auserlesene Reden von heylsamer Führung des Lebens, und nutzbarer Anwendung des Todes, sowohl überhaupt, als auch aller Arten desselben, [. . .] aus dem Englischen übersetzet, und mit einer Abhandlung [. . .] begleitet von J. G. Pfeil, Gotha 1745, XIV f. in Anm. *: »Ich habe vor etlichen Jahren eine Oster=Predigt von einem solchen Weltweisen gehört, der über die Epistel, I Cor. 5, nichts anders zu reden wuste, als von dem Zusammenhang der Seelenkräfte unter einander und dem Einfluß des Verstandes in dem Willen; davon der Mann so psychologisch redete, daß man ihn mit allem Recht vor einen Plagiate des Herrn Geh. Rath Wolffens halten mußte. Er vergaß über dieser Abhandlung nicht nur des heiligen Oster=Festes, sondern auch des Herrn JEsu selbst, dessen Nahme mit keinen Titel in der gantzen Predigt gehöret wurde. Ich bedauerte nur die armen Zuhörer, die sich vielleicht gefreuet hatten, etwas von JEsu, dem für sie geopferten Osterlamme, und der darinn liegenden Kraft des neuen Lebens zu hören und zu geniessen.« 291 Zu Neubauer, der nach seinem Studium in Halle und Jena über den Umweg einer philosophischen Adjunktur in Halle durch Rambachs Vermittlung als Professor der griechischen und orientalischen Sprachen nach Gießen kam (1732) und nach dessen Tod (1736) zunächst als außerordentlicher und 1743 schließlich als ordentlicher Professor der Theologie wirkte, siehe ADB 23 (1886), 468 (G. Frank). 292 E. F. Neubauer: Vorrede von den Kennzeichen einer guten Predigt, in: J. J. Rambach: Geistreiche Giessische Reden über verschiedene Evangelische Texte, mit nützlichen Dispositionen, und einer Vorrede [. . .] zum Druck befördert von D. E. F. Neubauer. Dritter Theil, Bremen 1739, 3–66; ders.: Vorrede, Worinn die Materie, 3–100; vgl. zu Neubauers Vorrede bei Schian: Orthodoxie und Pietismus, 58–60. 293 Neubauer: Vorrede, Worinn die Materie, 17–31. 294 Alle Zitate Neubauer: Vorrede, Worinn die Materie, 21.

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den beruhet, und daher keinen Bestand hat, so wenig, als ein Haus, das auf dem Sande gebauet ist.« 295

Was diese Kritik an der »philosophischen« Predigt betraf, so hatte sich zuerst Walch, knapp zwei Jahre vor Lange, in dieser Richtung geäußert.296 An einer Stelle seiner auf den 15. Dezember 1733 datierten Vorrede zu Stocks Homiletischem Real-Lexicon trug er beiläufig, ganz ohne den Lange kennzeichnenden polemischen Affekt, einige Einwände gegen eine (mutmaßlich von der Philosophie Wolffs beeinflußte) »philosophische« Predigtauffassung vor. Im Rahmen seiner Ausführungen über das von den auf klärerischen Predigtreformern besonders eingeforderte Kriterium homiletischer Gründlichkeit vertrat er hier die Ansicht, daß zwar »alle göttliche Wahrheiten, die zum Glauben und zum Leben nöthig sind, auf eine überzeugende Art dergestalt vorgetragen werden [müssen], daß man ihre richtige Beweis=Gründe nacheinander anführet [. . .]; auch wohl nach Beschaffenheit der Sachen, wo sie der Vernunfft bekannt sind, Gründe aus der Natur beybringet« 297.

Dennoch müsse man dabei aber auch »alle nöthige Vorsichtigkeit [. . .] gebrauchen. Denn da hat man sich wohl vorzusehen, daß man nicht durch einen Misbrauch der thörichten und verderbten Vernunft von der Einfalt und Demuth, darinnen das Evangelium Christi soll geprediget werden, abkomme; daß man nicht durch philosophische Speculationen, und Demonstrationen die Krafft und das Ansehen des göttlichen Worts zernichte, und daß man kurz zu sagen, auf der Canzel nicht philosophire; sondern predige, und zwar in Beweisung des Geistes und der Krafft, 1. Cor. II, 4.« 298

Auf Grundlage seines philosophischen Eklektizismus lehnte Walch den Gebrauch der Philosophie in der Predigt zwar nicht rundweg ab, mahnte aber zur Vorsicht, indem er ein aus 1 Kor 2, 4 abgeleitetes Wesen der Predigt als eines »Beweises des Geistes und der Kraft« als normativen Orientierungspunkt der homiletischen Theoriebildung voraussetzte. Was für ein Gedankengang stand bei Walch und in der »hallischen Schule« hinter dieser Auffassung? 2.1.2 Johann Christoph Schinmeier (1737) Eine Predigtkonzeption, die am biblisch-»apostolischen« Modell eines »Beweises des Geistes und der Kraft« orientiert war, brachte auch den ehemaligen Inspektor der Lateinschule im Halleschen Waisenhaus und brandenburgischen Prediger Johann Christoph Schinmeiner (1696–1767) 299 in Gegen295 296 297 298 299

Neubauer: Vorrede, Worinn die Materie, 21 f. Walch: Vorrede, in: Stock: Homiletisches Real-Lexicon, Bl. ):():():(2v-3r (§. X). Walch: Vorrede, in: Stock: Homiletisches Real-Lexicon, Bl. ):():():(2v-3r. Walch: Vorrede, in: Stock: Homiletisches Real-Lexicon, Bl. ):():():(3r. Zu Schinmeier (Schinmeyer) siehe DBA I 1104, 225–229; ADB 31 (1890), 300–302

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satz zur »philosophischen« Predigt. Im Jahr 1736 veröffentlichte er einen pietistischen Predigtratgeber,300 in dem er fünfzehn Hindernisse einer segensreichen Führung des Predigtamtes erörterte und der von der pietistischen Zeitschrift Fortgesetzte Sammlung Auserlesener Materien zum Bau des Reichs GOttes wohlwollend aufgenommen wurde.301 Bei dieser Gelegenheit regte der Rezensent folgende Ergänzung der Ausführungen an: »Man möchte wohl zu diesen 15. Sätzen noch diesen 16ten dazufügen: XVI. Hinderlich ist, wenn das Wort und die Predigt eines Lehrers wider die Apostolische Lehr=Art nicht sowohl in Beweisung des Geistes und der Krafft, als in bloß vernünftigen Reden menschlicher Weisheit bestehet. 1. Cor. 2. v. 4.«302 Schinmeier nahm diese Anregung auf und legte vermutlich noch Anfang 1738 eine zweite Auflage seines homiletischen Ratgebers vor, der mit einer auf den 3. Dezember 1737 datierten Vorrede versehen war.303 Im Anschluß an den Vorschlag des Rezensenten rückte Schinmeier nun einen ganzen Abschnitt gegen die »philosophische« Predigt ein, dessen Hauptzielrichtung er wie folgt beschrieb: »Der Innhalt dieses 16ten Hindernisses zeiget an, daß philosophische Predigten, ohne Beweisung des Geistes und der Krafft, kei( J. Jonas); [ J.] Jonas: Johann Christoph Schinmeier, in: Pädagogische Blätter für Lehrerbildung und Lehrerbildungsanstalten 17 (1888), 13–37. Schinmeier hatte drei Jahre in Halle Theologie studiert und war darauf sieben Jahre Inspektor der Lateinschule im Waisenhaus, bevor er 1727 Prediger am Königlichen Waisenhaus in Potsdam und 1730 gegen den Willen des Magistrats zum Prediger von St. Johannis in Stettin berufen wurde. Nach Anfeindungen wurde er 1737 auf die Pfarrstelle in Rathenow (Mark Brandenburg) versetzt. 300 J. Ch. Schinmeier: Anweisung Erbaulich Zu Predigen, Worinnen XV. Hindernisses des Seegens angezeiget werden, auf Verlangen solcher, Denen es um einen reellen Segen im Lehr=Amte zu thun ist; aus Erfahrung aufgesetzet, [Stettin] 1736; Titel zitiert nach KVK. – Als homiletische Gewährsmänner für seine aus der Amtserfahrung geschöpfte Analyse von fünfzehn Hindernissen einer segensreichen Predigt berief sich Schinmeier besonders auf August Hermann Franckes Sendschreiben von erbaulichen Predigten, Joachim Langes Oratoria Sacra sowie dessen lateinische Disputationes de methodo concionandi (Halle 1729/30), Gottfried Arnolds Gestalt eines geistlichen Lehrers, Theophil Großgebauers Wächter=Stimme und andere einschlägige, in pietistischen Kreisen geschätzte Literatur; vgl. J. Ch. Schinmeier: Anweisung erbaulich zu predigen, worinnen XVI. Hindernisse des Seegens angezeiget werden, auf Verlangen solcher, denen es um einen reellen Seegen im Lehr=Amte zu thun ist, aus Erfahrung aufgesetzt, in: ders.: Sämtliche Schrifften. Zweyter Theil, Copenhagen und Leipzig 1740, 229 in Anm. (*). 301 Fortgesetzte Sammlung Auserlesener Materien zum Bau des Reichs GOttes, 38. Beytrag, Leipzig 1736, 698–702. 302 Fortgesetzte Sammlung Auserlesener Materien zum Bau des Reichs GOttes, 38. Beytrag, Leipzig 1736, 701, zit. nach Schinmeier: Anweisung, in: ders.: Sämtliche Schrifften, Tl. 2, 300. 303 Ein Exemplar des Werks hat sich zwar nicht erhalten, aber ein Abdruck dieser Ausgabe ist überliefert in Schinmeier: Sämtlichen Schrifften, Tl. 2, 219–320, nach dem ich im folgenden zitiere. – Während Dyck/Sandstede: Quellenbibliographie, Nr. 1736/38 nur die erste Aufl age sowie eine nicht nachweisbare noch frühere Ausgabe bibliographieren (ebd, Nr. 1730/36), kennen sie die zweite Aufl age und deren Abdruck in den Sämtlichen Schrifften nicht.

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nen wahren und reellen Segen schaffen könnten.« 304 Im Anschluß an die souffl ierte Bibelstelle 1 Kor 2, 4 f. (»Mein Wort und meine Predigt geschahen nicht mit überredenden Worten menschlicher Weisheit, sondern in Erweisung des Geistes und der Kraft, damit euer Glaube nicht stehe auf Menschenweisheit, sondern auf Gottes Kraft.«) wurde von Schinmeier der »philosophischen« Predigt jegliche Wirkung und damit ihre grundsätzliche theologische Legitimität bestritten, und zwar weil sie – wie der Rezensent formuliert hatte – »wider die Apostolische Lehr=Art«, d. h. die als Norm ausgegebene Predigtweise der urchristlichen Zeit, war. Auf zwanzig Seiten versuchte der brandenburgische Pfarrer diese These rund ein Jahr vor Erlaß der preußischen Kabinettsorder vom 7. März 1739, die weiterer pietistischen Kritik in Preußen einen Riegel vorschob, begründet zu entfalten.305 Eingangs postulierte er, daß »zwischen einer philosophischen und vernünftigen [ergänze: Demonstration], und zwischen der Demonstration des Geistes und der Krafft, so die Apostel gebrauchet, ein Himmel=weiter Unterscheid«306 sei. Einer grundsätzlichen Verachtung der Philosophie in der Theologie wollte auch er damit nicht das Wort geredet haben,307 aber es ginge eben doch nicht an, »wenn der Heil. Geist, von welchem alle Weisheit und Beredsamkeit dependiret, bey denen Philosophis gleichsam in die Schule gehen soll«308. Schinmeier wandte sich vehement dagegen, »eine allgemeine Methode zu predigen aus der Philosophia [zu] machen, und denen angehenden Predigern als die Beste mit Hindansetzung aller bisherigen Safft= und Krafft=vollen, ja apostolischen Lehr=Art [zu] recommendiren« 309. In sechs Punkten versuchte er darzulegen, warum die am biblischen Vorbild orientierte »apostolische Lehr=Art« einer »philosophischen« Predigt vorzuziehen sei. Neben der Wiederholung bekannter Vorbehalte, so z. B. daß der einfache Mann eine solche Predigt nicht verstünde310 oder daß die vielen Defi nitio304 Schinmeier: Anweisung, in: ders.: Sämtliche Schrifften, Tl. 2, 225 f. (Vorrede zur 2. Aufl age). 305 Schinmeier: Anweisung, in: ders.: Sämtliche Schrifften, Tl. 2, 300–320. 306 Schinmeier: Anweisung, in: ders.: Sämtliche Schrifften, Tl. 2, 300 f. 307 Schinmeier: Anweisung, in: ders.: Sämtliche Schrifften, Tl. 2, 301: »Die Theologie behält gegen die gesunde Philosophie allen Æstim; Und so nöthig eine Magd einer grossen Haushaltung, ja Wasser und Feuer in täglicher Nothdurfft sind; so nöthig achte den Dienst der Vernunfft und Philosophie. Wenn aber Wasser und Feuer zu herrschen anfangen, was für Unglück entstehet nicht?« 308 Schinmeier: Anweisung, in: ders.: Sämtliche Schrifften, Tl. 2, 301. 309 Schinmeier: Anweisung, in: ders.: Sämtliche Schrifften, Tl. 2, 302. 310 Schinmeier: Anweisung, in: ders.: Sämtliche Schrifften, Tl. 2, 303: »Bauern und ungelehrte Leute, derer die allermeisten, und die folglich die stärckste accomodation nach ihrer Fassung nöthig haben, verstehen so wenig hohe Reden der Redner, als philosophische Vernunfft=Schlüsse, zumal wenn man sie unter neuen und ungewöhnlichen Wörtern vorbringet. e.g. Vollkommenheiten, Möglichkeiten, etc.«

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nen das Evangelium Jesu Christi verdunkelten,311 äußerte er auch Einwände anderer Natur. So bilanzierte Punkt 6 eine homiletische Fundamentaldifferenz in Bezug auf das Verständnis von »wahre[r] Erbauung«312 , die durch die zuvor abgehandelten Punkte anschaulich wurde. Schinmeier vertrat beispielsweise in Punkt 5 die Ansicht, daß Vernunft in der Predigt auch nur Vernunft wirken könnte,313 weswegen beim »philosophischen« Prediger die »so nöthigen und vom Heil. Geist gewürcketen heiligen motus und affectus animi [. . .] weg[fallen], und er stehet wie ein todt Bild, & instar statuae Salis«; seine ganze rednerische Kraft bestünde ohne das Geistwirken in vergeblichen »gesticulationibus und Handschlagen«314 einer bloß profanen eloquentia corporis. Den Hintergrund für diesen Einwand bildete die besonders in der pietistischen Bibelhermeneutik herausgearbeitete Schlüsselstellung der biblischen Affekte bzw. Emphasen, derzufolge ein Prediger sich mittels oratio, meditatio und tentatio vom Affekt des zu predigenden Textes (der als Affekt des Heiligen Geistes gedacht wurde) ergreifen lassen mußte, um dadurch in die Lage versetzt zu werden, eben diesen Affekt seinen Zuhörern auch predigen, d. h. bei ihnen wecken zu können.315 Damit wurde aber von Schinmeier ein Monitum in die Debatte eingeworfen, das bereits in der Auseinandersetzung zwischen Orthodoxie und Pietismus seine grundlegende Entfaltung erfahren hatte.316 311 Schinmeier: Anweisung, in: ders.: Sämtliche Schrifften, Tl. 2, 305: »Wird man durch die philosophische Methode dahin verleitet, daß man über den vielen Defi nitionibus und Argumentationibus, die mehrentheils unnöthig und offt lächerlich sind, die Hirten=Stimme und gesundmachende Worte Christi und seines Geistes verlieret.« 312 Schinmeier: Anweisung, in: ders.: Sämtliche Schrifften, Tl. 2, 307. 313 Schinmeier: Anweisung, in: ders.: Sämtliche Schrifften, Tl. 2, 306: »Gehet nun der Prediger mit ideis abstractivis oder Vernunfft=Schlüssen schwanger, so ist die Frucht dem Saamen ähnlich. Vernunfft würcket in Vernunfft, und kan weiter nichts gekauffet werden, als was zum Verkauff dastehe.« 314 Beide Zitate Schinmeier: Anweisung, in: ders.: Sämtliche Schrifften, Tl. 2, 307. 315 Nach Johann Jakob Rambach sind Emphasen »solche Wörter und Sätze der Hl. Schrift, deren besondere Kraft darin begründet ist, daß nach dem Willen des Hl. Geistes den von ihm eingegebenen Wörtern und Sätzen der Schrift eine solche Bedeutsamkeit zugeschrieben werden muß, wie sie dem Wesen der zum Ausdruck kommenden Sache (res) angemessen ist«; zit. nach H. Bauch: Die Lehre vom Wirken des Heiligen Geistes im Frühpietismus: Studien zur Pneumatologie und Eschatologie von Campegius Vitringa, Philipp Jakob Spener und Johann Albrecht Bengel, Hamburg-Bergstedt 1974, 87 in Anm. 262. – Zur pietistischen Hermeneutik des Affekts bzw. der Emphase siehe auch Peschke: Studien, Bd. 2, 97–110; Sparn: Philosophie, 253 f.; U. Barth: Die hermeneutische Krise des altprotestantischen Schriftprinzips: Francke – Baumgarten – Semler, in: ders.: Aufgeklärter Protestantismus, 171 f. 316 Zur Emphasen- und Affektenlehre innerhalb der pietistischen Predigttheorie vgl. beispielsweise J. Lange: Von der Methode erbaulicher zu predigen, in: Ph. Ch. Zeyß: Exegetische Einleitung In die vier Evangelisten und Apostel=Geschichte: Darinnen der Text ordentlich zerleget/ das wichtigste erkläret/ und alles zur Erbauung angewendet

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Die weiteren Ausführungen affi rmierten auf der Basis des spezifischen pietistischen Theologie- und Predigtverständnisses, wie es sich in den Jahrzehnten des Kampfes mit der Orthodoxie herauskristallisiert hatte, die behauptete, theologisch nicht tolerierbare Differenz von wolffianisch-psychologischer »Vernunftpredigt« und spiritualistisch-pneumatischer »Geistrede«. Kaum überraschend griff Schinmeier daher explizit die für die »philosophische« Predigt grundlegende Dependenz-Vorstellung an.317 Dagegen brachte er einmal mehr eine Bibelstelle, nämlich 1 Kor 2, 14,318 in Stellung, in der der Vernunft hinsichtlich des Wirkens des Geistes Gottes, »das Vermögen zu capiren dreymahl abgesprochen wird. Wenn viel geschicht durch die bindigsten Vernunffts=Schlüsse; so geschicht eine convictio alluminativa, nicht illuminativa; und gehöret eine gantz andere Logic darzu, wenn diese letztere geschehen soll.«319 Wie sich zeigte, stellte Schinmeier der »Deutschen Logik« Wolffs, dem Orientierungspunkt der »philosophischen« Prediger für Bibelauslegung und homiletische Sprachlogik,320 eine pietistisch-spiritualistische »Logik des Geistes« entgegen, die er in Worten des Apostels Paulus in 1 Kor 2, 4 bezeugt fand, um auf diese Weise den übernatürlichen Offenbarungsgehalt der Predigt adäquat vermitteln zu können. Die verschiedenen Versuche einer homiletischen »Demonstration« der Übereinstimmung von Vernunft und Offenbarung 321 hielt er dementsprechend für gänzlich nutzlos, sofern zu alledem eben »nicht Demonstratio Spiritus potentiae darzu komme«322 , die wiederum nur mittels der »methodus apostolica vulgaris«323 zu gewinnen sei. Nur so könnten auch die drängenden homiletischen Probleme der Gegenwart gemeistert werden, »auf andere Art nicht«324. Aus den genannten Grünwird. Mit einer Vorrede Von der Methode erbaulicher zu Predigen/ außgefertiget von Herrn Joachim Langen, Halle im Magdeburgischen 1715, 9–13. 317 Schinmeier: Anweisung, in: ders.: Sämtliche Schrifften, Tl. 2, 314 referierte diese Vorstellung wie folgt: »Der Verstand müsse doch erst überzeuget werden, ehe es zur Bekehrung des Sünders komme«. 318 1 Kor 2, 14: »Der natürliche Mensch aber vernimmt nichts vom Geist Gottes; es ist ihm eine Torheit, und er kann es nicht erkennen; denn es muß geistlich beurteilt werden.« 319 Schinmeier: Anweisung, in: ders.: Sämtliche Schrifften, Tl. 2, 314 f. 320 Vgl. dazu auch U. Barth: Hallesche Hermeneutik im 18. Jahrhundert: Stationen des Übergangs zwischen Pietismus und Auf klärung, in: Die Hermeneutik im Zeitalter der Auf klärung/ hrsg. von M. Beetz; G. Cacciatore, Köln; Weimar, Wien 2000, 80 f. 321 Schinmeier: Anweisung, in: ders.: Sämtliche Schrifften, Tl. 2, 315: »Sagt man: Alle Wahrheiten der Theologiae revelatae wären doch nicht wider die Vernunfft, sondern höchst vernünfftig, und komme es nur auf eine gute Demonstration an.« 322 Schinmeier: Anweisung, in: ders.: Sämtliche Schrifften, Tl. 2, 317. 323 Schinmeier: Anweisung, in: ders.: Sämtliche Schrifften, Tl. 2, 311. 324 Schinmeier: Anweisung, in: ders.: Sämtliche Schrifften, Tl. 2, 319 f.: »Der HErr besetze die Cantzeln mit Männern wie Stephanus gewesen, Act. 6. dessen Weißheit und Geiste niemand zuwiderstehen vermocht, so werden nicht allein Epicurer und Heuchler,

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den bekräftigte der brandenburgische Pfarrer abschließend – Orthodoxie und homiletischen Wolffianismus bemerkenswert parallelisierend –, daß »die Geist=reiche Apostolische Lehr=Art der Kunst= und Schluß=mäßigen oder philosophischen weit vor[zu]ziehen«325 sei. 2.1.3 Johann Jacob Moser (1740/41) Die letzte hier interessierende Stellungnahme der »hallischen Schule«, die einen wichtigen Kritikpunkt aus der Zeit der Auseinandersetzung mit der Orthodoxie in der Auseinandersetzung mit den homiletischen Wolffianern aktualisierte, stand mit Gottscheds Predigtlehrbuch indirekt in Zusammenhang. Wie beschrieben, fand dieses nach seinem Erscheinen zügige Einführung in den akademischen Unterricht. So auch durch Joachim He(i)nrich Pries.326 Der Rostocker Magister veröffentlichte zu diesem Zweck eine auf den 5. April 1741 datierte Einladungsschrift, in der er zu fünf Vorlesungen, u. a. über Gottscheds Redekunst und den Grund-Riß einer Lehr-Arth ordentlich und erbaulich zu predigen, einlud. Aus diesem Anlaß handelte er das Thema ab: Die Gelehrsamkeit als eine nöthige Eigenschaft eines Geistlichen Redners vertheidiget gegen einige Einwürfe.327 Bereits die Rückseite des Titelblatts zierte ein programmatisches Zitat aus dem Romanus Teller gewidmeten Lehrgedicht Gottscheds über Die rechte Art zu predigen, in dem die Gelehrsamkeit des Predigers als jene ganz unentbehrliche Eigenschaft beschrieben wurde, mit der das homiletische Manko behoben werden sollte, daß der Geist nicht mehr direkt, sondern nur noch durch das biblische Wort vermittelt zum Glauben rufe.328 Pries’ Einladungsschrift, die neben positiven Bezugnahmen auf Gottsched, Reinbeck und Mosheim eine Vielzahl von Verbindungen zum jüngeren homiletischen Diskurs aufwies, wandte sich insbesondere gegen die Bestreitung der im Titel behaupteten These durch den bekannten Pietisten, Publizisten und Juristen Johann Jacob Moser (1701–1785).329 Dieser hatte in §. 12 der Vorrede seines 1740 veröffentlichten Theologenlexikons das pietistische Idealbild eines Theologen gezeichnet 330 und dabei die sondern auch der Naturalisten, Atheisten, Schrifft= und Religions=Spötter weniger werden, auf andere Art nicht.« 325 Schinmeier: Anweisung, in: ders.: Sämtliche Schrifften, Tl. 2, 318. 326 S. o. in Kap. 2, Abschn. 3.3.2. 327 Pries: Die Gelehrsamkeit. 328 Zu dieser Passage und ihrem Begründungszusammenhang in Gottscheds Homiletik s. o. Kap. 2, Abschn. 1.3.2 in Anm. 165. 329 Zu Moser siehe R. Rürup: Johann Jacob Moser: Pietismus und Reform, Wiesbaden 1965; zu seiner religiösen Entwicklung und theologischem Denken bes. ebd, 32–51; siehe auch die Beiträge des Sammelbandes: Johann Jacob Moser: Politiker, Pietist, Publizist/hrsg. von A. Gestrich; R. Lächele, Karlsruhe 2002. 330 J. J. Moser: Vorrede von demjenigen, was bey einer nüzlichen Lebens=Beschreibung, besonders eines Theologen, zu beobachten nöthig ist, in: ders.: Beytrag zu einem Lexico

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von Philipp Kohl im ersten Band der Canzel-Reden erhobene Forderung 331 zurückgewiesen, »ein geistlicher Redner müsse die Sprachen wissen, die ganze Philosophie verstehen, in der Redekunst, Historie, Dichtkunst, Mathematic bewandert seyn, auch Klugheit bey andern Wissenschafften, die mit der Gottesgelahrtheit nicht verbunden seynd, besitzen, etc.«332 Moser, dessen Ausführungen eine doppelte Frontstellung aufwiesen, indem sie äußerlich auf das zustimmende Referat von Kohls Forderung in den auf klärerischen Leipziger Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen rekurrierten,333 inhaltlich aber gegen das orthodoxe Ideal eines erudierten Predigers gerichtet waren,334 bezweifelte, daß mit Gelehrsamkeit auch nur eine einzige Seele bekehrt werden könnte.335 Mit Hinweis auf die im damaligen homiletischen Diskurs fast inflationär beanspruchte Bibelstelle 1 Kor 2, 1–5 stellte Moser klar, was von einem wahren Prediger tatsächlich erfordert würde: »Eines solchen werden 1 Cor. 2, 1=5. ganz anders beschrieben, und bestehen darinnen, daß er JEsum Christum selbsten lebendig erkenne und in göttlicher Krafft und Apostolischer Einfalt, ohne alle Zierde, Gepränge und Künsteley andern anpreiset. Die Bibel im Kopff und der Heilige Geist im Herzen seynd alleine hinlänglich genug einen Prediger zu machen, für deme alle fleischliche Gelehrte, alle dergleichen Demonstranten und alle solche sinnreiche Ohren=Küzler sich verstecken müssen.« 336

Nun hatte auch die Frage nach der Gelehrsamkeit des Predigers im Streit zwischen Orthodoxie und Pietismus ihre einschlägige Vorgeschichte gehabt, in der die Orthodoxie als prinzipieller Befürworter, der Pietismus aber als tendentieller Gegner eines theologisch-homiletischen Gelehrsamkeitsideals aufgetreten war.337 Pries, der Mosers Einwurf zum Anlaß nahm, der jeztlebenden Lutherisch= und Reformirten Theologen in und um Teutschland, welche entweder die Theologie öffentlich lehren, oder sich durch theologische Schriften bekannt gemacht haben. Mit einer Vorrede [. . .], Züllichau 1740, Bl. )()(2r–3v (§. 12). 331 Ph. Kohl: Vorrede von den vornehmsten Stücken der nothwendig zu beobachtenden Klugheit eines geistlichen Redners, in: Neue Samlung auserlesener und überzeugender Canzel=Reden, Tl. 1, 17–136. 332 Moser: Vorrede, Bl. )()(2v. 333 Moser: Vorrede, Bl. )()(2v mit dem Hinweis auf: Neue Zeitungen von gelehrten Sachen, Jg. 1738, 335 f. 334 Vgl. dafür die Ausführungen bei Moser: Vorrede, Bl. )()(3r-v, mit denen er gegen eine Predigtweise polemisierte, bei der »(d)es critisirens, erläuterens aus der Historie, Alterthümern, Sprachen, u. s. w. [. . .] kein End [ist]« bzw. die sich »in Widerlegung nicht nur wahrer und würcklich=zu besorgender, sondern auch vermeynter und vermoderter Ketzereyen« üben. 335 Moser: Vorrede, Bl. )()(2v: »Solle dann dieses, und ein solcher Lehrer Menschen bekehren? Nimmermehr; eines angenehmen Polster=Predigers Eigenschafften seynd dieses wohl, aber keines, der die Seelen dem Teufel aus dem Rachen reissen solle.« 336 Moser: Vorrede, Bl. )()(2v. 337 Vgl. zu diesem Gesamtproblemkomplex die differenzierenden Ausführungen von W. Martens: Hallescher Pietismus und Gelehrsamkeit: oder von der »nimia diffidentia in

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gleichzeitig Langes Polemik gegen die »philosophische« Predigt mit dem Argument »Abusus non tollit usum!« zurückzuweisen,338 konterte die Kritik des pietistischen Juristen mit dem Vorwurf, die strittigen Fragestellungen nicht sauber voneinander getrennt zu haben: »Er [sc. Moser; A. S.] vermischet den Christen mit dem geistlichen Redner. Die Bibel (nach ihrem wahren Verstande) im Kopf, und der heilige Geist im Herzen, machen zwar einen rechtschaffenen frommen Christen, aber noch keinen Lehrer der Gemeine. Wer siehet nicht? daß nach diesem Begriffe ein jeder frommer Bibelleser auftreten, und die heiligen Wahrheiten vortragen könne [. . .].«339

Gegenüber dem – wie die orthodoxen bzw. wolffianischen Kritiker polemisch meinten – enthusiastisch-»quackerischen« Predigtverständnis des hallischen Pietismus behauptete Pries, daß man den Prediger als »Lehrer der Gemeine« gemäß dem Paulus-Wort 1 Thess 5, 11 lediglich »als ein[en] Gehülffen GOttes in der Bekehrung« 340 anzusehen habe, der durch seine nachdrücklichen Ermunterungen den Sünder erschüttert und »(d)urch seinen überzeugenden Vortrag [. . .] die Vorurtheile, deren dicker Nebel die Strahlen der erleuchteten Gnade des heil. Geistes, nicht durchlassen will, [dämpfet]« sowie »durch kräftiges Zureden [. . .] den Sünder [erhitzet], dem Wege zu folgen, den ihm die Heilsordnung vorschreibet«341. Zutreffend bemerkte Pries, daß der grundsätzliche Dissens in dieser Frage wohl im Begriff der Bekehrung zu suchen sei, wobei er bei Moser einen solchen vermutete, »den man sich in Herrnhut von der Bekehrung macht«342 . Doch mit dieser Intervention Pries’ war die Kontroverse zwischen dem hochangesehenen Juristen und dem jungen Rostocker Magister nicht beendet. Moser hatte sich inzwischen mit erneuter Frontstellung gegenüber theologischem Wolffianismus und scholastischer Orthodoxie hinsichtlich seines (pietistischen) Philosophieverständnisses ausführlicher erklärt 343 und deshalb den Widerspruch des Jenenser Wolffianers Joachim Georg Darjes litteris« (1987), in: ders.: Literatur und Frömmigkeit in der Zeit der frühen Auf klärung, Tübingen 1989, 50–75. 338 Pries: Die Gelehrsamkeit, 12: »[. . .] so hat noch kein vernünftiger dieses jemahls gebilliget, sondern es als einen thörichten Mißbrauch angesehen, der aber den wahren und richtigen Gebrauch der Weltweißheit auf der Kanzel nicht auf hebet«; und ebd, 13 in Anm. 14: »Ich lobe den richtigen Gebrauch der Weltweißheit und einer gründlichen Lehrart, und tadele den Mißbrauch.« 339 Pries: Die Gelehrsamkeit, 13. 340 Pries: Die Gelehrsamkeit, 14. 341 Alle Zitate Pries: Die Gelehrsamkeit, 14. 342 Pries: Die Gelehrsamkeit, 14. 343 J. J. Moser: Schrifftmäßige Gedancken von der Verbindung der Welt=Weisheit besonders der Wolfi schen mit der Theologie Nach Erforderniß der jetzigen Zeiten denen, die sich wollen warnen lassen, zur Prüfung vorgeleget, [o. O.] 1741. – Zu dieser Schrift und ihrer Auseinandersetzung mit der Wolffschen Philosophie siehe Rürup: Johann Jacob Moser, 28 f. 42 f.

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(1714–1791) 344 erregt.345 Angesichts der von Jenaer und Rostocker Seite gleichzeitig gegen Moser gerichteten Kritik, wandte sich dieser an die Hamburgischen Berichte von gelehrten Sachen, die Pries’ Schrift nicht nur wohlwollend rezensiert, sondern sich bei dieser Gelegenheit auch wie folgt verwundert hatten: »Wir solten uns kaum einbilden, daß der Hr. geheime Rath [Moser], der doch selbst den Ruhm eines vernünftigen und vielwissenden Gelehrten zu behaupten suchet, von der Gelehrsamkeit überhaupt so geringschätzige Gedanken hegen solte. Und dennoch versichert es uns der Hr. Verfasser [sc. Pries].« 346

Auf diese öffentliche Verwunderung wollte Moser nun mit einem Erklärungsschreiben reagieren, in dem er seine Meinung in Hinsicht auf Gelehrsamkeit und Philosophie nochmals auseinanderzusetzen gedachte. Doch kamen seine diesbezüglichen Darlegungen nicht am gewünschten Ort zum Druck, weil die Postsendung wegen unzureichender Frankierung an den Absender zurückgesandt wurde. So erschien der Text im thüringischen Ebersdorf, wo sich Moser zu dieser Zeit für mehrere Jahre auf hielt,347 unter folgendem Titel: J. J. Mosers Schreiben an die Hrn. Verfasser der Hamburgischen Berichte von gelehrten Sachen, wegen Hn. M. Pries in Rostock und Hn. D. Darjes in Jena, wider ihre herausgegebenen Schriften. Ebersdorf im Vogtland 1741.348 Moser stellte in dieser Schrift klar, daß es keineswegs seine Meinung sei, einen erudierten Prediger für unfähig zu halten, das Evangelium zu verkündigen. Vielmehr habe er mit seinen, von Pries kritisierten Aussagen nur behaupten wollen, daß Gelehrsamkeit nicht als notwendige Bedingung zur Bekehrung angesehen werden könne.349 344 Zu Darjes siehe BBKL 19 (2001), 163–173 (C. Bernet); zu Darjes’ philosophischem Standpunkt siehe einführend Wundt: Die deutsche Schulphilosophie, 304–306. 345 J. G. Darjes: Abgenöthigte Vertheidigung der Ehre und Unschuld, wider die ungegründete Beschuldigungen des Cgl. Geh. Rats Moser u. seiner Schrifftmäßigen Gedankken von der Verbindung der Welt=Weisheit [. . .] zu behaupten gesuchet, Jena 1741. 346 Hamburgische Berichte von gelehrten Sachen 1741 (Nr. XXXV, 4. Mai), 292 f., Zitat 293. 347 Zum achtjährigen Aufenthalt Mosers am reußischen Hof zu Ebersdorf vgl. Rürup: Johann Jacob Moser, 38 f.; zu Mosers Sympathien für die Herrnhuter siehe R. Lächele: »Ich habe . . . mich nimmermehr entschließen können, mich unter Sie zu begeben«: Johann Jacob Moser und die Herrnhuter, in: Johann Jacob Moser: Politiker, 85–98. 348 Ein Exemplar des Drucks kann ich bislang in keiner Bibliothek nachweisen; Titelangabe nach: Hamburgische Berichte von gelehrten Sachen 1741 (Nr. LXXX, 13. Oktober), 661; vgl. auch die Bibliographie des Titels bei Rürup: Johann Jacob Moser, 267 (Nr. 13). 349 Knappes Inhaltsreferat von Mosers Schrift in: Hamburgische Berichte von gelehrten Sachen 1741 (Nr. LXXX, 13. Oktober), 661: »Der Hr. geheime Rath Moser versichert hier, daß man, der Frage wegen, ob ein Prediger auch ohne Weltweisheit und andere nöthige Wissenschaften, erbaulich und geschickt predigen könne? seinen Sinn und wahre Meinung nicht recht gefasset habe. Er fi ndet demnach nöthig, dieselbe unter andern dahin zu erklären. Ich halte einen Selsorger, (denn diese Benennung drücket den Amtszweck ungleich

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Pries sah sich durch diese Gegendarstellung in seiner Gelehrtenehre kompromittiert, wurde ihm doch unterstellt, den pietistischen Juristen weder recht verstanden noch wiedergegeben zu haben. Daher hielt er es für nötig, in einem auf den 6. August 1741 datierten Schreiben 350 öffentlich zu replizieren und zu erklären, daß es nicht seine Schuld sei, wenn Moser anders denke, als er schreibe.351 Pries referierte zum Beweis der Richtigkeit seines Referates nochmals ausführlich Mosers Argumentation, wobei er einerseits konzedierte, daß sein Gegenüber und er in der Auffassung übereinstimmten, daß Gelehrsamkeit nicht hinreichend für die Bekehrung sei. Andererseits stellte er aber auch klar, daß Moser sehr wohl geschrieben habe, daß Gelehrsamkeit ein Hindernis bei der Bekehrung von Seelen sei.352 Der Herausgeber der Hamburgischen Berichte beendete den Gelehrtendisput an dieser Stelle mit der Einsicht: »Es scheinet fast, als wan die Herren Disputirende in den ersten Grundsätzen nicht allerdings einig sind. Damit nun dieser Zwist in keinen völligen Wortstreite ausschlage, haben die Verfasser gegenwärtiger Berichte sich vorgenommen, fernerhin keinen Theil mehr daran zu nehmen.« 353

Wenngleich im bisher Ausgeführten nicht alle Kritikpunkte der »hallischen Schule« Darstellung fi nden konnten, ist die pietistischerseits grundlegende Konzeption der geistgewirkten Predigt nach apostolischem Vorbild,354 die besser aus, als ein geistlicher Redner) wan er gelehrt ist, deswegen so gar nicht für ungeschikt, Selen zu bekehren, daß ich vielmehr glaube, Got könne allerdings, nur aber in seiner Ordnung, diese Gelehrsamkeit selbst eben dazu brauchen, . . . Hingegen leugnet der Hr. geheime Raht, daß ein Prediger, wan er die Sprachen weis, die ganze Philosophie verstehet, in der Redekunst, Historie, Dichtkunst, Mathematik u. s. f. bewandert ist, auch Klugheit in andern Wissenschaften, die mit der Gottesgelahrtheit nicht verbunden sind, besitzet, dadurch tüchtig werde, Selen zu bekehren. Er leugnet dieses darum, weil er zwar wol in der heil. Schrift lese, daß der h. Geist, dem in der Bekehrung des Menschen alles zuzuschreiben ist, mit dem Wort und durch das Wort von dem gekreuzigten Jesu wirke, und daß das Evangelium eine Kraft sey, selig zu machen, alle die daran glauben. Daß aber irgendwo in der Schrift verheissen, oder ein Exempel vorhanden sey, daß Got in dergleichen Wissenschaften eine Kraft zur Bekehrung der Menschen geleget habe, finde er nirgends u. s. f.« 350 J. H. Pries: [Brief vom 6. August 1741,] Hamburgische Berichte von gelehrten Sachen 1741 (Nr. LXIV, 18. August), 532–536; Nr. LXV, 22. August, 537 f. 351 Pries: [Brief ], 534 f.: »Der Hr. g[eheime] R[at] kan von der Gelehrsamkeit eines geistlichen Redners eine andere Meinung haben, als seine Worte lauten (wie er denn auch in seinem Schreiben sich dahin erkläret, daß er die Gelehrsamkeit bei einem geistlichen Redner nicht schlechterdings verwerfe: ob er gleich dabei ein Vieles mit beibringet, welches ich ihm so schlechthin unmöglich zugeben kan, wie der Hr. g. R. richtig muthmasset.[)] Aber er kan darum noch nicht sagen: ich hätte seinen Sin nicht gefast. Warum denkt er anders, als wie er redet? Dis mus er sich selbst, und nicht mir zuschreiben. Ich halte mich an seine Worte, und darnach beurtheile ich seinen Sin.« 352 Pries: [Brief ], 535 f. 353 Hamburgische Berichte von gelehrten Sachen 1741 (Nr. LXXX, 13. Oktober), 661 f. 354 Eine frühe Schrift mit einem umfassenden Versuch der historischen Herleitung die-

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eine Wirkungsgeschichte bis in die neupietistischen Kreise des 19. Jahrhunderts nach sich zog,355 in ihren Umrissen dennoch deutlich geworden. Entsprechend der zentralen Begründungsfunktion, die der Bibelstelle 1 Kor 2, 4 dabei zufiel, verwandten die Anhänger der »philosophischen« Predigt in der Folgezeit erhebliche Energie darauf, nachzuweisen, daß diese Bibelstelle keineswegs mit den grundlegenden Prinzipien der »philosophischen« Predigt stritt.356 Es würde hier zu weit führen, diesen Teildiskurs innerhalb der übergeordneten Debatte um die »philosophische« Predigt weiter zu verfolgen. Ebenso ist es auch nicht möglich, das eigentümlich ambivalente Verhältnis, das die Vertreter der »Hallischen« Schule im Hinblick auf den Gebrauch der Philosophie in theologicis an den Tag legten, nach allen seinen Seiten zu ergründen. Denn obgleich die hallischen Kritiker beständig vom unhinterfragten Nutzen der Philosophie redeten, betonten sie aber für die Theologie doch stets deren offenbar nur begrenztes Recht. Zum Habitus der pietistischen Kritik gehörte auch die strikte Selbstabgrenzung, mit der sich die »hallische Schule« vom homiletischen Wolffianismus absetzte, obwohl doch nicht erst die neuere Forschung, sondern bereits ein orthodoxer Kritiker wie Propst Kohlreif die beiden Streitparteien so nahe beieinander sah, daß dieser darin auch den Grund zu erkennen glaubte, warum die »Pietistischen Phariseer« den »Philosophischen Sadduceern« argumentativ nicht beikommen konnten.357 Daß bei der umstrittenen homises Ideals legte vor M. G. Hansch: Gründliche Abbildung der Predigten im Ersten Christenthum; In welcher nicht allein die Prediger der ersten Christen, sondern auch ihre eigentliche Prediger=Kunst, und die übrige Anmerckungs=würdige Umstände deutlich beschrieben, und aus bewährten Kirchen=Scribenten zugleich bewiesen werden: [. . .], Frankfurt am Main 1725. 355 Zur bis ins 19. Jahrhundert hineinreichenden (pietistisch-erweckungstheologischen) Idee einer Predigt nach »apostolischem« Muster siehe J. H. F. Beyer: Das Wesen der christlichen Predigt nach Norm und Urbild der apostolischen Predigt, unter besonderer Berücksichtigung der Hauptrichtungen der neueren Theologie, Gotha 1861; J. H. Ziese: Die Rückkehr zur apostolischen Predigt oder die Aufgabe der Predigt in der Gegenwart, Itzehoe 1861. 356 Vgl. beispielsweise J. E. Schubert (praes.); J. H. Lanius (resp.): De abusu Philosophiae in orationibus sacris ad locum 1 Cor. II. 4. Von dem Misbrauch der Weltweisheit in heiligen Reden. Annuente amplissima Facultate Philosophica praeside Ioanne Ernesto Schuberto [. . .] publice disputat Ioachimus Hericus Lanius. D. XXIX. April. M. D.CCXLI, Jenae [1741]. – G. T: Zacharias (praes.); Ch. G. Peiper (resp.): Diss. philol. de persuasoriis humanae sapientiae verbis ad 1 Cor. II. 4. D. i. Eine philologische Abhandlung von der Beredtsamkeit menschlicher Weisheit über 1 Cor. II, 4. welche unter dem Vorsitze M. Gotthilf Traugott Zachariä im Oct. 1753. zur öffentlichen Prüfung der Gelehrten aussetzet der Autor und Respondent Christian Gotthold Peiper, aus Buntzlau, Halle [1753]; Inhaltsreferat in: Vollständige Nachrichten von dem ordentlichen Inhalte 1754, 523–532. 357 Bezugnehmend auf Moser: Schrifftmäßige Gedancken von der Verbindung der Welt=Weisheit, behauptete Kohlreif: Der vornehmste Staats=Beamte, 48 f. in Anm (**): »Die Pietistischen Phariseer haben dieses mit den Philosophischen Sadduceern gemein: wie also auch Hr. Moser [. . .] sie p. 23. als fleischliche Gelehrte beschrieben, welche sich

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letischen Integration philosophisch-vernunftbezogener Anliegen innerhalb der »hallischen Schule« offenbar erhebliche Differenzen bestanden, zeigt beispielsweise Rambachs Wertschätzung der Philosophie.358 Diese brachte dem für einen Lehrstuhl an der neugegründeten Göttinger Georgia Augusta in Betracht gezogenen Gießener Theologen 359 den Vorwurf seiner Halleschen Kollegen ein, selbst ein Vertreter der »philosophischen« Predigt zu sein.360 Ob unter diesen Umständen daher nicht doch innerhalb der »hallischen Schule« eine auf Francke zurückgehende Richtung expliziter Philosophiefeindlichkeit in theologicis abzuheben ist, bliebe m. E. noch zu diskutieren. Zusammenfassend zeigte der Streitverlauf zwischen homiletischen Wolffianern und »Hallischer Schule«, daß von letzterer eine ganze Reihe von Monita in die Diskussion eingebracht wurde, die ohne wesentliche Modifiaus Natur=Kräfften auf die Heil. Schrifft geleget, und darinnen vor andern viel Buchstäbliche Erkenntniß erlanget haben. Es lehren demnach beydes die Pietisten und die Wolfianer, daß der Mensch aus blossen natürlichen Kräfften, oder durch die Vernunfft, die H. Schrifft und ihre Lehre so weit fassen könne, daß er dadurch überzeuget und zum Beyfall gebracht werde. Nur ist der Unterscheid, daß die Wolfi aner diese vermeintlich natürliche Ueberzeugung, zu Seligkeit beydes nöthig und hinlänglich halten: die Pietisten aber sie nur bey einer redlichen Seele, als eine solche, worinn die Pietistisch=lebendige und seligmachende Erkenntniß einfl iesset, gelten lassen, weil sie nicht gläuben, daß der Verstand ordentlicher Weise den Willen nach sich ziehet oder rühret. [. . .] So haben nun die Hrn. Pietisten das stärckste Wasser auf der Wolfianer Mühlen gebracht. Und wie können sie denn die Wolfianer gründlich widerlegen, da sie ihnen zuerst die Bahn gebrochen?« – Zur Durchdringung von pietistischen und auf klärerischen Elementen bei Moser siehe Rürup: Johann Jacob Moser, 30–32; ebd, 50 f. 358 Dafür besonders aufschlußreich seine Ausführungen zum Nutzen der Philosophie im Rahmen seines Entwurfs des Theologiestudiums; J. J. Rambach: Wohl unterrichteter Studiosus Theologiae, oder Gründliche Anweisung / Auf was Art das Studium Theologicum zur Ehre GOttes und Nutzen der Kirche Jesu Christi, wie auch selbsteigner Seligkeit / auf der Universität anzufangen / zu mitteln und zu enden sey: [. . .] Mit einigen Anmerckungen und Vorrede Von dem rechten Gebrauch der Oration, Meditation und Tentation als einem Kennzeichen der wahren Kirche, wie auch vollständigen Registern ediret von Christian Hechten, Franckfurt 1737, 848–860. 359 Das Vorhaben scheiterte lediglich an der Verweigerung einer Freigabe durch den hessischen Landgrafen; vgl. J. Baur: Die Anfänge der Theologie an der »wohlgeordneten evangelischen Universität« Göttingen, in: Zur geistigen Situation der Zeit der Göttinger Universitätsgründung 1737: eine Vortragsreihe aus Anlaß des 250jährigen Bestehens der Georgia Augusta/ hrsg. von J. v. Stackelberg, Göttingen 1988, 18–20. 360 Mosheim: Anweisung erbaulich zu predigen, 87 berichtet von diesem Vorwurf, wobei ich nicht klären konnte, auf welche Information er sich dafür stützt: »Unter den hällischen Theologen predigte Rambach schon ganz anders, und zwar nach dieser neuen Art, wie man aus seiner Postille siehet. Er beweiset, erkläret, erwecket, vermahnet, und bedienet sich einer angenehmen Schreibart. Er zog hierdurch Ungunst auf sich, und die hällischen Theologen beschwereten sich über ihn, daß er den Weltgeist hätte, und philosophisch zu predigen anfienge.« – Zur Beeinflussung Rambachs durch die Auf klärungsphilosophie »nach der formalen Seite« vgl. Hering: Der akademische Gottesdienst, 59; zu Rambachs Homiletik siehe auch Schian: Orthodoxie und Pietismus, 55–58; zu Rambach als Prediger siehe ders.: Johann Jakob Rambach, 89–149.

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kationen bereits zuvor im Streit mit der Orthodoxie eine Rolle gespielt hatten.361 Ohne den Befund, der auf eine historisch gewachsene »pietistische Identität«362 rückschließen läßt, die als eigentliche Quelle der Kritik angesehen werden muß, in theologie- und homiletikgeschichtlicher Hinsicht erschöpfend interpretieren zu können, läßt sich daraus zumindest ableiten, daß die »philosophischen« Prediger in den Augen der »hallischen Schule« in gewisser Weise als Platzhalter homiletischer Anliegen der Orthodoxie galten und als solche kritisiert wurden. Anders gesprochen: Gemessen an den Vorstellungen, die man in Halle von einer theologisch adäquaten, d. h. nach biblisch-apostolischem Vorbild eingerichteten Predigt hatte, erschienen orthodoxe und wolffianische Predigtkonzeptionen in wesentlichen Punkten gleich konstruiert und damit auch gleich defizitär zu sein. 2.2 Göttinger Interventionen 2.2.1 Die Stellungnahmen Joachim Oporins (1736–1741) Die Göttinger Interventionen schlossen partiell an das hallische Modell der »apostolischen« Predigt an, entwickelten es aber jenseits der Engführung einer theologischen Schule, wie sie die »hallische Theologie« mit ihrem Gründungsvater August Hermann Francke verkörperte, unter eklektischphilosophischen Vorzeichen weiter, um dem auf klärerischen Bedürfnis nach vernunftgemäßer Predigt bei gleichzeitiger Sicherstellung von deren Theologizität Rechnung zu tragen. Noch bevor jedoch die Theologen der neugegründeten Göttinger Universität in die Auseinandersetzung um die »philosophische« Predigt eingrif361 J. G. Walch: Historische und Theologische Einleitung in die Religions-Streitigkeiten der Evangelisch-Lutherischen Kirche [von der Reformation bis auf die ietzige Zeit.] Anderer Theil. Andere Aufl age, Jena 1733, 543 f. referierte gelegentlich seiner Darstellung der orthodox-pietistischen Streitigkeiten einige derjenigen Punkte, die nach orthodoxer Meinung das pietistische Predigtverständnis kennzeichneten: »Es heißt noch weiter, man hielte nichts von der Prediger=Kunst, gebe die homiletischen Collegien vor unnöthig aus, und verlange, daß man ohne vorhergegangener Meditation auf die Canzel trete, und erwarte, was einem der Geist eingebe. Man müsse auf die Predigten nicht studiren, nichts concipiren, sich an keine Regel binden, um keine exegetische Ausführung bekümmern, und nur dahin sehen, daß man mystisch predige, wodurch die Predigten recht practisch und kräfftig würden«; zu Walchs Beantwortung der Vorwürfe siehe ebd, 544–548. – Zur pietistischen Kritik an der orthodoxen »Kunstpredigt«, die dem Wirken des Geistes nur unzureichend Raum gewähre, vgl. auch W. Schmitt: Die pietistische Kritik der »Künste«: Untersuchungen über die Entstehung einer neuen Kunstauffassung im 18. Jahrhundert. Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln, Köln 1958, 43 f. 362 Zur historiographischen Problematik des Identitätsbegriffs siehe zuletzt P. Stachel: Identität: Genese, Infl ation und Probleme eines für die zeitgenössischen Sozial- und Kulturwissenschaften zentralen Begriffs, in: Archiv für Kulturgeschichte 87 (2005), 397– 425.

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fen, schürte zunächst am zweiten Weihnachtsfeiertag 1735 ein Zeitungsbeitrag der Wöchentlichen Göttingischen Nachrichten – wenige Wochen nach der Publikation von Langes Religions=Spötter und ganz im Stile des Halleschen Pietisten – antiwolffische Stimmung unter seinen Lesern. Der anonyme Verfasser – nach einer Notiz Neubauers363 angeblich der Herausgeber der Zeitung, Samuel Christian Hollmann (1696–1787),364 was aber augenscheinlich eine Falschmeldung war 365 – zog in polemischer Weise gegen die Demonstrationsmethode der Wolffschen Philosophie zu Felde und schonte dabei auch deren Applikationsformen auf der Kanzel nicht.366 Der Artikel, von wem er auch immer verfaßt sein mochte, signalisierte zumindest, daß die 363

Neubauer: Vorrede, Worinn die Materie, 19 f. Zu Hollmann, dem ersten ordentlichen Professor der Philosophie an der 1734 gegründeten und 1737 offi ziell eröffneten Georg-Augustus-Universität Göttingen, siehe ADB 12 (1880), 760–762 (Wagenmann). 365 Tholuck: Geschichte des Rationalismus, 4 f. zitiert aus dem Schreiben eines gewissen Wittenbergischen Adjunkten Reinhard an Löscher aus dem Jahr 1729, in der Hollmann als Verteidiger Wolffs erscheint: »Wie traurig ist es, auch Hollmann (Professor der Philosophie) anzuklagen, daß er Wolff in Mehrerem vertheidigt, vor drei Wochen in einer Vorlesung über philosophische Moral die Lehre vom peccatum originis angegriffen, es bestehe in der privatio imaginis divinae, aber sei kein habitus. Er brennt vor Zorn über die alte Theologie und nennt nichtige Argumente theologische und diesen empfiehlt Joch!« Besonders stutzig macht, daß Hollmann sich wenige Monate vor dem ihm zugeschriebenen Zeitungsartikel briefl ich (17. 3. 1735) außerordentlich positiv über die Wertheimer Bibelübersetzung äußerte; vgl. G. Frank: Die Wertheimer Bibelübersetzung vor dem Reichshofrat in Wien, ZKG 12 (1891), 290. 366 [Anonym:] Von der Mathemathischen Lehr=Art, in: Wöchentliche Göttingische Nachrichten 1735 (XLVI. Stück, 26. Dezember), 1–4, bes. 3 f.: »So heylsahm, nützlich, und unentbehrlich, aber diese Lehr=Art, in dieser Art Wissenschaften, und also auch hauptsächlich in der Welt=Weißheit, ist; so schändlich wird dieselbe doch von vielen heutiges Tages gemißbrauchet. Man kan fast nicht ohne Eckel, und erbrechen, viele solche Schriften, in welchen man diese Lehr=Art nachäffet, ansehen, oder lesen. [. . .] Weil man nach dieser methode, oder Lehr=Art, von den ersten Grund=Sätzen den Anfang machen muß; so bedienen sie sich dieses Vorwands, von ihrer vorhabenden materie so weit auszuschweiffen, als sie nur können, und von solchen Dingen den Anfang ihrer Abhandlung zu machen, die sie bey derselben mit Recht voraussetzen könten, damit es desto mehr scheinen möge, daß sie ihre Sache gründlich ausgeführet haben. [. . .] Fangen doch viele schon an auch auf den Kantzeln mit dem Satz des zureichenden Grundes um sich zu werffen. Und, weil man nach dieser Lehr=Art keine Begriffe, die zum Grunde einer folgenden Abhandelung geleget werden sollen, ohne beygefügter defi nition, oder Erklärung, annehmen muß; so bringen viele ihre defi nitiones offt auch in Predigten auf eine so verkehrte Art, wo man derselben gar nicht nöthig hat, an, daß man Mitleyden mit solchen Leuten haben muß. Und solche Definitions-Stutzer bilden sich doch, Wunder! ein, wie klug sie es gemacht, und wie philosophisch sie ihren Vortrag eingerichtet, haben. Defi nitiones, oder Erklährungen, zu rechter Zeit zu machen, ißt, vermöge des vorher ausgeführten, so nützlich, als nöthig es ist, in einem Zusammenhange vieler miteinander verknüpfter Wahrheiten den ersten Grund von allen folgenden anzuzeigen. Aber Hand und Mund, Mutter und Vater, Berg und Thal, Wälder und Flüße, etc. in einer Predigt, oder wo man sonst etwa einen Biblischen Spruch nur paraphrasirt, defi niren wollen, zeuget von einem sehr schwachen Gehirne, und ist eben so thöricht, als aus einem Messer einen Pflugschaar machen wollen.« 364

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Parteinahme für den noch immer im Marburger Exil lebenden Wolff in Göttingen nicht ungeteilt war, was auch für die Gründung der Universität galt. Die philosophische Mittelstraße, die man hier unter der Ägide des Universitätsgründers Gerlach Adolph Freiherr von Münchhausen (1688–1770) 367 im Vorzeichen des philosophischen Eklektizismus gegenüber der neuen Scholastik der Wolffschen »Sekte« zu beschreiten gedachte,368 kennzeichnete dabei auch die Stellungnahmen von theologischer Seite. Als Protagonist trat hier, etwa ein Jahr nach Hollmanns Zeitungsartikel, der ebenfalls 1735 als einer von drei theologischen Ordinarien berufene Joachim Oporin (1695–1753) 369 in Erscheinung. Dieser heute weitgehend vergessene Theologe war auf Vorschlag des mit ihm befreundeten Mosheim, der bei der Göttinger Universitätsgründung einige maßgebliche Weichen stellte, von Kiel, wo die beiden sich kennen- und schätzengelernt hatten, geholt worden.370 Ein pietistischer Einschlag Oporins, der vielleicht auf einen kurzen Studienaufenthalt in Halle (1716) unter August Hermann Frankke zurückging,371 äußerte sich nicht nur in den lectiones paraeneticae, die unter seiner Aufsicht in Göttingen installiert wurden; 372 auch in seiner Theologie, 367

Zu Münchhausen siehe NDB 18 (1997), 523 f. (D. Brosius). Zu dem vom thomasischen Eklektizismus beeinflußten Münchhausen, der die Wolffsche Philosophie als einen Rückfall in die Zeit der Scholastik ansah und mit dieser Sicht die philosophische Ausrichtung der Göttinger Universität beeinflußte, vgl. W. Buff: Gerlach Adolph Freiherr von Münchhausen als Gründer der Universität Göttingen, Göttingen 1937, 17–23. Trotz der Vorbehalte gegen die Wolffsche Philosophie versuchte man aus universitätspolitischen Überlegungen, Wolff und bedeutende Schüler von ihm für einen Lehrstuhl zu gewinnen; ebd, 22 f.; zu den Bedingungen, unter denen Wolff nach Göttingen zu kommen gedachte, siehe dessen Schreiben vom 25. Januar 1734, in: E. F. Rössler: Die Gründung der Universität Göttingen. Entwürfe, Berichte und Briefe der Zeitgenossen/ hrsg. und mit einer geschichtlichen Einleitung versehen von E. F. Rössler, Göttingen 1855, 252–254. 369 Zu Oporin siehe Zedler 25 (1740), 1673–1676; J. O. Thiess: Gelehrtengeschichte der Universität zu Kiel. Erster Band, Kiel 1800, 322–356 (mit ausführlichem Schriftenverzeichnis!); ADB 24 (1887), 381 ([C. E.] Carstens); K. R. Lentz: Life and Theology of Joachim Oporin: Professor and Teacher of Henry Melchior Mühlenberg, Diss. theol. masch. Heidelberg 1970; Baur: Die Anfänge der Theologie, 26–34. 370 Vgl. dazu unter den zahlreichen Registereinträgen s. v. Oporin bei Rössler: Die Gründung der Universität, 498. – Zur Berufung Oporins siehe auch Lentz: Life and Theology, 7–17; zur Rolle Mosheims bei der Universitätsgründung überhaupt vgl. B. Moeller: Johann Lorenz von Mosheim und die Gründung der Göttinger Universität, in: Theologie in Göttingen: eine Vorlesungsreihe/ hrsg. von B. Moeller, Göttingen 1987, 9–40. 371 Vgl. hierfür die spärliche Notiz bei J. E. Block: Der getroste Muth der Gerechten im Tode bey öffentlicher Leich=Begängniß des weiland Hochwürdigen und Hochgelahrten Herrn Joachim Oporini, [. . .] In der Collegen=Kirche, über 2. Tim. I, 12. vorgestellet, den 12. Septembr. 1753 [. . .], Göttingen [1753], 28. – Zu »Oporin’s Pietism« vgl. die zusammenfassenden Erwägungen bei Lentz: Life and Theology, 177 f. 372 Vgl. dazu Hammann: Universitätsgottesdienst, 45–49. – Lentz’ Dissertation, die bei dem Pietismusforscher Martin Schmidt eingereicht wurde, ist durch Mühlenbergs Teilnahme an den von Oporin veranstalteten lectiones paraeneticae motiviert. 368

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die dem heutigen Betrachter wie ein zusammengewürfeltes Konglomerat »orthodoxe[r], pietistische[r] und auf klärerische[r] Elemente in eigenartiger Verknüpfung«373 erscheint, machte sich das theologische Erbe Halles bemerkbar. In zeitgenössischer Perspektive brachte Oporin mit seiner Verbindung von eruditio und pietas aber gerade alle die Eigenschaften mit, die ihn für eine Berufung nach Göttingen interessant machten. Eine solche erfolgte in der Gründungsphase der Universität nämlich in »Übereinstimmung mit der Helmstedter Fakultätspolitik des Welfenhauses« 374, derzufolge man in Fortsetzung der »Calixtinische[n] Idee der Mittelstraße« 375 die Theologische Fakultät nur »mit solchen Männern besetzen wollte, deren Lehre weder zum Atheismo noch Naturalismo leiten, welche weder die Articulos fundamentales religionis evangelicae anfechten und den Enthusiasmus einführen«, noch »solche Theologi zu berufen, welche ein evangelisches Pabstthum behaupten und andere verketzern« 376.

Der angestrebte Ausgleich zwischen Orthodoxie, Pietismus und Auf klärung, den Oporin entsprechend dieser universitätspolitischen Leitlinie vertreten sollte, stand auch bei ihm unter eklektisch-philosophischem Vorzeichen, was er mit eigenen Worten wie folgt formulierte: »Ich pflege in den controversiis Nostrarium unpartheiisch mich an die Gesetze einer gesunden logique zu binden.« 377 »Denn ich bin wahrhafftig dem sectae studio in ecclesia sehr feind, und setze moderation darum, dasz man in necessariis unitatem, in non necessariis libertatem behaupte. Der Misbrauch der an sich so schönen Vocabeln Orthodoxia et Pietismus ist mir verhast. Denn die Ketzermacherey musz nicht Orthodoxie, fanatische Schwärmerey musz nicht Pietatis studium heiszen.« 378

Gelegentlich seiner in Aussicht genommenen Berufung zog man bei dem Kieler Theologen auch Erkundigungen ein, auf welchem theologischen Fachgebiet er den Studierenden der Göttinger Alma mater insbesondere von Nutzen zu sein glaubte. Oporin nannte die Predigtlehre als sein bevorzugtes 373

Hammann: Universitätsgottesdienst, 46. R. Smend: Universität Göttingen, RGG4 3 (2000), 1233. 375 Buff: Gerlach Adolph Freiherr von Münchhausen, 14; vgl. auch das Schreiben Gerlach Adolph von Münchhausens an den geheimen Kanzleisekretär Johann Ernst von Hattorf vom 12. Oktober 1734, zit. bei Rössler: Die Gründung der Universität, 422 f. 376 Beide Zitate aus Anordnungen des Königs vom 22. Januar und 2. Februar 1734, zit. bei Rössler: Geschichtliche Einleitung, in: ders.: Die Gründung der Universität, 37; die Zitate bietet in einer abweichenden Fassung Smend: Universität Göttingen, RGG4 3 (2000), 1233 mit dem Hinweis auf Rössler: Die Gründung der Universität, 275, was ich aber nicht verifi zieren kann. 377 Joachim Oporin in einem vom Prokanzler der Kieler Universität im Zusammenhang mit seiner Berufung vorgelegten Fragekatalog (1735), abgedruckt bei Rössler: Die Gründung der Universität, 239–244, Zitat 239. 378 Rössler: Die Gründung der Universität, 241. 374

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akademisches Steckenpferd, das er mit sowohl antiorthodoxer als auch antiwolffianischer Spitze (Homiletik »nicht als eine Kunst« mit »speciellen Regeln«) auf der Mittelstraße zwischen auf klärerischen und pietistischen Interessen, zwischen »Ueberzeugung und Erweckung«, d. h. im Vorzeichen der homiletischen Verbindung von Verstandesauf klärung und Willensbewegung, pflegte. Er bekannte dazu: »Insonderheit vergnüge mich ohne eitlen Ruhm an meinen Gedanken in der Homilie. Wie ich selbige gar nicht als eine Kunst treibe, dasz ich etwa jemand predigen lehren könte, der in der Biebel und theologie ein hospes wäre; so setze in ziemlicher Deutlichkeit immer mehr und mehr, wie die Predigt mehr zur Ueberzeugung und Erweckung eingerichtet werden könne und müsze, als gewöhnlich geschieht. Ich bin ferne von speciellen Regeln, aber eine generale Regel erkläre ich mit Fleisz, nemlich wie kein Gedanke oder digression sich in der Predigt fi nden musz, welcher nicht den Sinn des heil. Geistes im Text entweder heller oder demonstrativer machen kan.«379

Oporins homiletische Hauptregel, »den Sinn des heil. Geistes im Text entweder heller oder demonstrativer [zu] machen«, bezeichnete dabei jenen Punkt, der ihn auch im kurz darauf publizierten ersten (1736) und zweiten (1737) Teil seiner Homiletik in Widerspruch zur »philosophischen« Predigt brachte.380 Wie schon Joachim Lange führte er die Auseinandersetzung in diesem homiletikgeschichtlich durchaus wichtigen,381 wenngleich bislang auch unterschätzten Text 382 in ursprünglicher Frontstellung gegen den Wertheimer Bibelübersetzer. In diesem Zusammenhang vertrat er die Auffassung, daß es 379

Rössler: Die Gründung der Universität, 241 f. J. Oporin: Die Alte und eintzige Richtschnur überzeugend und erwecklich Zu Predigen, Erkläret, verthädiget und gepriesen, Göttingen 1736; ders.: Die Alte und eintzige Richtschnur überzeugend und erwecklich Zu Predigen, Erläutert Durch zwey kurtze Abhandlungen, Daneben auch durch drey Predigten, Als Proben dieser Richtschnur Aus reiner Liebe der Wahrheit und zur freyen, doch Christlichen Prüfung anderer ausgefertigt, Göttingen 1737. – Es handelt sich bei letzterer Veröffentlichung nicht – wie bereits Schian: Orthodoxie und Pietismus, 155 in Anm. 4 richtiggestellt hat, in der homiletikgeschichtlichen Literatur aber trotzdem immer wieder behauptet wird (z. B. Hammann: Universitätsgottesdienst, 56. 58) – um eine zweite (erweiterte oder überarbeitete) Ausgabe der Aufl age von 1736; vielmehr ist der Text von 1737 vollkommen eigenständig und als Fortführung der Ausführungen von 1736 gedacht. – Zum Inhalt von Oporins Homiletik siehe Schian: Orthodoxie und Pietismus, 111–113. 155–157; Lentz: Life and Theology, 149– 160; Hammann: Universitätsgottesdienst, 56–59. 381 Auf z. B. Herders Interesse an Oporins Homiletik deutet das Vorhandensein von gleich zwei Exemplaren der Ausgabe von 1736 in dessen Bibliothek hin: Bibliotheca Herderiana, Weimar 1804, 31 (Nr. 609). 47 (Nr. 932). 382 Weder Schian: Orthodoxie und Pietismus, 111–113. 155–157 noch Hammann: Universitätsgottesdienst, 56–59 äußern sich zur homiletikgeschichtlichen Bedeutung des Textes, sondern referieren überwiegend dessen Inhalt, der lediglich mit systematischen Urteilen kommentiert wird. 380

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»als eitles Blendwerck der Verbesserung des überzeugenden Vortrags auf der Kantzel anzusehen [ist], wenn man an statt gründlicher Erklärung der Schrifft aus Schrifft heutiges Tages über die Texte zu philosophiren anfängt« 383, d. h. wenn man es unternimmt, »Begriffe in den Text hinein [zu] tragen, welche entweder nur halbe, oder wohl gar zur Sache nicht gehörige Begriffe sind: imgleichen [. . .] aus diesen Begriffen Sätze her[zu]leiten, die den Beweis und Grund von den folgenden Lehren und Pfl ichten in sich halten sollen, und [. . .] endlich Schluß=Sätze aus denselben [zu] erweisen« 384.

Oporin beklagte, daß durch die philosophische Demonstrationsmethode »leyder! offt der Uberzeugung des Geistes und der Krafft auf der Kantzel gehindert«385 würde, und zwar »aus unzeitiger Liebe zu den an sich guten philosophischen Begriffen und Sätzen«386 . Deshalb sei es notwendig, daß »unsere Teutsche Evangelische Kirche auf die Beybehaltung der alten und ächten Methode, überzeugend und erweckend zu predigen, als welche sich an den Beweis und die Erweckungs=Gründe des Prophetischen und Apostolischen Worts lediglich bindet, mit aller Sorgfalt dencken, und das Blendwerck des heutigen Philosophirens und Moralisirens über GOttes Wort offenbaren müsse« 387.

Nicht aus Anhänglichkeit an das Alte, sondern aus theologischer Überzeugung trat Oporin – wie er im zweiten, 1737 veröffentlichten Teil seiner Homiletik betonte – daher als Anwalt der »alte[n] methode zu predigen«388 auf. Wie aber sollte »der alte Apostolische Beweiß des Geistes und der Krafft«389, d. h. jenes »demonstrativer machen«390 des Heiligen Geistes bzw. der »Uberzeugung des Geistes und der Krafft auf der Kantzel«391, bewerkstelligt werden, mit dem Oporin sowohl auf der Linie der wolffianischen Predigtreform als auch der pietistischen Predigtauffassung lag? (Denn zum »überzeugenden Predigen« hatten sich unter dem Vorzeichen vernunftgeleiteter und -orientierter Argumentation Gottsched und die »philosophischen« Predi383

Oporin: Die Alte und eintzige Richtschnur (1736), 80. Oporin: Die Alte und eintzige Richtschnur (1736), 81. 385 Oporin: Die Alte und eintzige Richtschnur (1736), 51. 386 Oporin: Die Alte und eintzige Richtschnur (1736), 1 f. 387 Oporin: Die Alte und eintzige Richtschnur (1736), 2. 388 Oporin: Die Alte und eintzige Richtschnur (1737), 86 f.: »Ich defendire zwar die alte methode zu predigen, [. . .] aber ich verthädige damit nicht eine matte analysin oder eine krafftlose topic und unnütze realien. Die alte methode zu predigen, welche ich meinen Zuhörern täglich anpreise, ist der alte Apostolische Beweiß des Geistes und der Krafft. Bey dieser muß man auch heutiges Tages genau verbleiben, weil wir die alte sündliche Natur, den alten Menschen immerdar behalten. Die alte Unwissenheit der natürlichen Menschen, und die alte Widerspenstigkeit unsers Willens fordert den Vortrag des alten Worts, so da ewiglich bleibet. Es. 40. Den alten Weg von Busse und Glauben.« 389 Oporin: Die Alte und eintzige Richtschnur (1737), 87. 390 Oporin im Fragekatalog vor seiner Berufung nach Göttingen (1735), zit. bei Rössler: Die Gründung der Universität, 242. 391 Oporin: Die Alte und eintzige Richtschnur (1736), 51. 384

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ger,392 unter dem Vorzeichen des Erweises des Geistes und der Kraft nach 1 Kor 2, 4 f. aber auch die pietistischen Prediger bekannt, einem biblischen Orientierungspunkt, den Oporin bereits in einer 1735 publizierten akademischen Einladungsschrift explizit für sich beanspruchte.393 ) Näheren Aufschluß darüber brachten vor allem jene Überlegungen, die der Göttinger Theologe im zweiten Teil seiner Homiletik, und zwar in der Abhandlung Von den Gerechtsahmen und dem Gebrauch der Vernunfft auf der Kantzel,394 vorlegte. Da dieser Text die 1741 veröffentlichte Kritik Oporins an Gottscheds Homiletik teilweise vorwegnahm, ist hier näher darauf einzugehen. Zunächst unterstrich Oporin unter ausdrücklichem Verweis auf diesbezügliche Verdienste Johannes Musäus’ (1613–1681) 395 und unter positiver Beanspruchung der Auf klärungsterminologie »den ungemeinen Nutzen der natürlichen Theologie so wohl gegen die Ungläubige, als auch zur Vorbereitung anderer leicht vereitelten Gemüther, ingleichen gegen die dubia piorum«396 , weil mit deren Hilfe die »allgemeine[n] Kennzeichen einer göttlichen Offenbahrung aus dem Zusammenhang mit den natürlichen Wahrheiten von GOttes Eigenschafften und der Menschen [. . .] gründlich und nützlich auf der Kantzel aufgekläret werden können« 397. Gleichzeitig erinnerte er unter Beanspruchung des theologischen sensus communis aber auch daran, »daß man das Magisterium und Ministerium der Vernunfft in Glaubens=Sachen: das, was durch die Vernunfft und aus der Vernunfft in der Theologie hergeleitet wird, unterscheiden müsse« 398. Selbst wenn man daher »gemeiniglich dafür [hält], daß [es] um der klugen und aufgeweckten Zuhörer willen überaus nützlich sey, die Göttlichkeit der geoffenbahrten Religion durch tiefsinnige Schlüsse zu befestigen, und dem Unglauben solcher Gestalt zu begegnen«399, müsse man sich über die Grenzen eines solchen Vorgehens im klaren sein.400 Problematisch würde der Vernunftbeweis auf 392 Vgl. dafür nochmals die diesbezüglich aufschlußreiche Titelformulierung der zweiten Aufl age von Gottscheds Homiletik als: Grundriß einer Lehrart überzeugend zu predigen. 393 Einen »Erweis des Geistes und der Kraft« Christi als »des beständigen Gesetzes der akademischen Lehrkanzel der Theologen« erbrachte im Anschluß an 1 Kor 2, 4 f. J. Oporin: Perpetuuam Legem Cathedrae Theologorum Academiae ex mente et exemplo Pauli I. Cor. II, 4. 5. stabilit et nobilissimos, doctissimosque Goettingensis Academiae cives sanctioris disciplinae cultores commilitones suavissimos ad recitationes Theologicas publicas privatasque suas benivole audiendas qua decet Humanitate invitavit Joachim Oporinus S. Th. Prof. Ord., 1735; Titel zit. nach Baur: Die Anfänge der Theologie, 55 in Anm. 277. – Zu dieser Schrift vgl. auch Lentz: Life and Theology, 99–101. 394 Oporin: Die Alte und eintzige Richtschnur (1737), 9–94. 395 Zu ihm siehe RGG4 5 (2002), 1592 (Theodor Mahlmann). 396 Oporin: Die Alte und eintzige Richtschnur (1737), 13. 397 Oporin: Die Alte und eintzige Richtschnur (1737), 23 f. 398 Oporin: Die Alte und eintzige Richtschnur (1737), 13 f. 399 Oporin: Die Alte und eintzige Richtschnur (1737), 46. 400 Oporin: Die Alte und eintzige Richtschnur (1737), 44 f.: »Die natürliche Theologie

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der Kanzel nämlich dann, wenn die Zuhörer zum Glauben verführt würden, »daß die Bibel darum GOttes Wort sey, weil sie mit der Vernunfft überein kömmt. Vielmehr muß aller vernünfftige Beweiß auf der Kantzel dahin führen, daß man erkenne, die Bibel sey höchst vernünfftig darum, weil sie GOttes Wort ist.«401 Denn wahre Erbauung – so Oporin – könne von einer einseitig am menschlichen Verstand ausgerichteten Überzeugung nicht erwartet werden.402 Ihn interessierte am Predigtakt vielmehr dessen theologischer Aspekt, den er unter anderem in der von Gottsched zwar nicht geleugneten, aber als predigttheoretisch nicht operationalisierbar eingeschätzten und daher auch nicht weiter reflektierten Mitwirkung des Heiligen Geistes erblickte. Wenn Oporin dann mit Blick auf die Predigtarchitektur konstatierte, daß diese zwar einem Syllogismus gleiche, der einen formalen, äußerlichen »Gebrauch der Vernunfft unentbährlich« mache,403 hielt er aber doch zugleich für einen materialen Vernunftgebrauch einschränkend fest, »daß diese Art der vernünfftigen Auf klärung göttlicher Wahrheit nicht die hauptsächlichste auf der Kantzel sey. Denn der Beweiß aus der Vernunfft von der Nothwendigkeit und den allgemeinen Kennzeichen einer göttlichen Offenbahrung gehet nicht directe, sondern nur oblique auf die Haupt=Sache auf der Kanzel, welche ist die Uberzeugung nach dem göttlichen Wort.«404

ist, wie längst, so sonderlich heutiges Tages einem Zwerge gleich, der auf des Riesen Schulter stehet, und daher weitläufftig herum schauet. [. . .] Aus solchem allen aber ist klar, daß es ungemein schwer hält zu determiniren, was die sich selbst gelassene Vernunfft sehen oder nicht sehen könne? daß das meiste Wissen der natürlichen Theologie bloß dieses beweisen kan, daß nemlich diese und jene göttliche geoffenbahrte Wahrheiten der Vernunfft nicht eben entgegen lauffen, sondern recht annehmlich sind.« 401 Oporin: Die Alte und eintzige Richtschnur (1737), 46. 402 Oporin: Die Alte und eintzige Richtschnur (1737), 80 f.: »Erbauung aber bestehet freylich in gründlicher Uberzeugung des Verstandes, und dadurch gewirckter kräfftigen Erweckung des Willens. Solche Erbauung nun (ich will von menschlicher Uberzeugung nur hier reden) kan vom vorbesagten Mißbrauch der Vernunfft auf der Kantzel nicht erwartet werden.« 403 Oporin: Die Alte und eintzige Richtschnur (1737), 18 f.: »Was die wesentliche Stükke einer Predigt anlanget, so sind solche nicht nur die Erklärung des Textes oder die tractation, sondern auch die Nutz=Anwendung des Textes oder die usus. Denn die gantze Predigt ist eigentlich ein syllogismus, dessen major, als ohne dem bekannt, voraus gesetzet wird: Nemlich alles, was GOtt in seinem Worte saget, dem muß man glauben und folgen. Der minor aber ist die tractation, beweisend: Dies oder jenes saget GOtt: daher die conclusio ist: Das gleube und thue. Wer siehet aber nicht leicht aus dieser Haupt=Idee, daß in diesen wesentlichen Stücken einer Predigt, der Gebrauch der Vernunfft unentbährlich sey? Denn will ich in der tractation gründlich den minorem beweisen: Dieses ist der Sinn des H. Geistes und kein anderer; so muß ich so wohl bey dem vorhergegangenen scrutinio, als würcklichen explication des Textes viele vernünfftige Mittel anwenden.« 404 Oporin: Die Alte und eintzige Richtschnur (1737), 30 f.

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Daher gründete sich seiner Ansicht nach »die echte vernünfftige demonstration auf der Kantzel«405 auch auf eine gründliche Erklärung der Heiligen Schrift. Aus diesem Grund erklärte er im intentionalen Anschluß an das von der Orthodoxie auf ihre ganz spezifische Weise homiletisch operationalisierte Prinzip der sich selbst auslegenden Schrift die »Erklärung der Schrifft aus Schrifft«406 zum eigentlichen Kerngeschäft der Predigt. Ebenfalls auf dem Boden der orthodox-lutherischen Lehre über das Zusammenwirken von Schriftwort und Heiligem Geist bei der Vermittlung des Glaubens, wie es im Rahtmann-Streit am Anfang des 17. Jahrhunderts dogmatisch reflektiert worden war407 (einem Streit, auf den sich Oporin im Zusammenhang der aktuellen Streitigkeiten zwischen den »Hällisch[en]« und »Vitembergisch[en]« Theologen ausdrücklich bezog) 408 , begründete er die Forderung nach biblisch orientierter Argumentation wie folgt: »Ja endlich der Vorzug dieser Art der vernünfftigen Auf klärung, oder die demonstration der einheimischen Kennzeichen H. Schrifft hat diesen unbeschreiblichen Vortheil, daß dieselbe mit dem Beweiß des Geistes und der Krafft verbunden ist; sintemahl GOttes Geist vom Worte und dessen rechtschaffenen Erklärung nimmer geschieden wird [. . .]«.409

Gerade mit Blick auf die von Oporin ebenfalls befürwortete apologetische Aufgabe der Predigt empfahl sich nach seiner Auffassung eine bibelimmanente Predigtargumentation, denn »GOttes Wort kan und muß sich selbst durch seine einheimische Gründe und Krafft am besten verthädigen [. . .]«.410 Auf diesem Hintergrund bemängelte er den spärlichen Bibelgebrauch der »philosophischen« Prediger,411 eine Kritik, die nach ihm auch der RambachSchüler Neubauer412 und andere Gegner der »philosophischen« Predigt äußerten. Denn unter Berufung auf die Erfahrung war Oporin der festen Überzeugung, daß »aller Beweiß von der geoffenbahrten Religion, so in 405

Oporin: Die Alte und eintzige Richtschnur (1737), 28. Oporin: Die Alte und eintzige Richtschnur (1736), 80. 407 Vgl. J. A. Steiger: Hermann Rahtmann (1585–1628), RGG 4 7 (2004), 24. 408 Oporin im Fragekatalog vor seiner Berufung nach Göttingen (1735), zit. nach Rössler: Die Gründung der Universität, 239 f. 409 Oporin: Die Alte und eintzige Richtschnur (1737), 48. 410 Oporin: Die Alte und eintzige Richtschnur (1737), 62. 411 Oporin: Die Alte und eintzige Richtschnur (1737), 82: »Wie aber, wenn man auf der Kantzel die Bibel nur obenhin, wie Plato die Propheten anführet, und seine eigene weitläufftige deductiones mit einem Zeugniß der Schrifft bisweilen einmahl illustriret; so wird man die gehoffte Wirckung, nemlich eine zulängliche Uberzeugung der Zuhörer nim(m)ermehr sehen.« 412 Neubauer: Vorrede, Worinn die Materie, 22: »Man muß immer bedencken, daß die Heil. Schrift nicht nur die Norm, sondern auch der Brunnen sey, woraus man in Predigten schöpfen muß. Man muß immer vor Augen haben, daß man durch die Predigten die Menschen nicht vernünftig, sondern Christlich, folglich gläubig, fromm und selig machen soll.« 406

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den blossen principiis rationis bestehet, [. . .] das Hertz nicht fest machen [kan]«413. Von seiner biblischen Predigtmethode hegte er hingegen die gegenteilige Meinung: »Dieser Bau der vernünfftigen Uberzeugung von der Göttlichkeit des Worts und der Religion ist nicht auf Sand, vielweniger eine petitio principii. Denn man hat davon die Erfahrung ja in den Händen, und wo man will, kan man sie auch im Hertzen haben, sintemahl all derjenige, der nicht muthwillig dem so festen Zeugniß des Worts widerstrebet, dessen übernatürliche Krafft inwendig spühren wird. Die Erfahrung ist theils diejenige, die man selbst von einer Sache hat theils die man anderer Zeugniß zutrauet. Beyderley Erfahrung ist auf der Kantzel bey GOttes Wort zu urgiren [anzudringen].«414

Nur durch eine so beschaffene »vernünfftig[e] Auf klärung der geoffenbahrten Wahrheiten«, die auf Grundlage des biblischen Zeugnisses und in der Kraft des Heiligen Geistes darauf zielt, Jesus Christus als den Eckstein aller menschlichen Zuversicht zur Darstellung zu bringen, »höret« – wie Oporin sich überzeugt zeigte – »alles sceptisiren und disputiren auch noch heutiges Tages nothwendig auf«415. Nicht zuletzt darum sei sein Vorschlag auch »ein hochvernünfftiger Weg, die Wahrheit gegen den Unglauben zu erweisen«416 , den nach dem Zeugnis von 1 Kor 2, 4 bereits die Apostel beschritten hätten.417 Auf dem Hintergrund derartiger Überlegungen trat Oporin, als Gottscheds homiletisches Lehrbuch dann erschien, mit einer 142seitigen Schrift (1741) 418 in einen Disput mit dem ihm freilich unbekannten Verfasser ein. Auch wenn der Göttinger Theologe in vielen Fragen Übereinstimmung mit dem Leipziger Philosophieprofessor signalisierte, machte er doch zwei grundsätzliche Einwände geltend, die die theologische Angemessenheit von Gottscheds Modell der »philosophischen« Predigt insgesamt in Frage stellten. Oporin bemängelte nämlich erstens das auffallend geringe Interesse an 413

Oporin: Die Alte und eintzige Richtschnur (1737), 32. Oporin: Die Alte und eintzige Richtschnur (1737), 38 f. 415 Beide Zitate Oporin: Die Alte und eintzige Richtschnur (1737), 36. 416 Oporin: Die Alte und eintzige Richtschnur (1737), 35. 417 Oporin: Die Alte und eintzige Richtschnur (1737), 48 f.: »Ja ich setze annoch 4.) zum Beweiß des Vorzugs der von mir vorgeschlagenen Vernunfft=mäßigen Lehr=Art auf der Kantzel hinzu, daß selbige vernünfftige Lehr=Art selbst die Apostel gebraucht haben. Denn eben diese mit GOttes Krafft begleitet, war diejenige, wodurch die Apostel gefangen nahmen alle Höhen der Vernunfft, und alles, was sich erhebte gegen das Evangelium, unter dem Gehorsahm Christi, 2. Cor. 10. und zwar nicht mit Worten menschlicher Weißheit, sondern mit Beweiß des Geistes und der Krafft. I. Cor. II. v. 4.« 418 J. Oporin: Theologisches Bedencken über den Grund=Riß einer Lehr=Art ordentlich und erbaulich zu predigen, nach dem Innhalt der Königlichen Preußischen CabinetsOrdre Vom 7. Martii 1739. entworfen und gedruckt zu Berlin 1740. 8vo. Nach der Wahrheit, Bescheidenheit und Liebe abgefaßt von Joachim Oporin, Hannover 1741. – Vgl. zu Oporins Schrift auch K. R. Lentz: Life and Theology, 160–168; Hammann: Universitätsgottesdienst, 59 f.; Wieckenberg: Goeze und Gottsched, 257 f. 414

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der biblischen Explikation und Begründung des zu predigenden Hauptsatzes419 und zweitens den theologisch ungenügenden Erbauungsbegriff.420 Diese beiden Kritikpunkte entfaltete Oporin detalliert nach allen ihren Seiten, wobei die Ausführungen insbesondere am zweiten Punkt über früher Gesagtes teilweise hinausgingen. So bekräftigte er im Anschluß an seine früheren Überlegungen, daß »ein eintziger im rechten Zusammenhang ausgewickelter Text der H. Schrift, als der Haupt=Grund der Ueberzeugung bey einer jeglichen Predigt für die Zuhörer sicherer zu schätzen [sei], als ein Haupt=Satz ohne einen gewissen Text«421, wie es der Verfasser des Grund-Risses zumindest für möglich gehalten hatte. Anzeichen für eine diesbezügliche, konzeptionell bedenkliche Schlagseite war in seinen Augen, daß Gottscheds Homiletik sich weitgehend als bloße Anweisung zur »thematische[n] Lehr=Art«422 verstand, die die notwendige Texterklärung ins Exordium verbannte und den Erweis des Hauptsatzes statt »aus den einheimischen Gründen des Textes« durch eine »philosophische Ausführung des Haupt=Satzes« ersetzte.423 Oporin opponierte auch gegen die der Wolffschen Philosophie verpfl ichtete These Gottscheds, »daß unter den metaphorischen Schrift=Redens=Arten keine höhere, geheimere und göttliche Sachen verborgen sind, als welcherley die Welt=Weisheit lehret«424, was dem Leipziger bekanntlich das Argument geliefert hatte, die Hauptsätze mittels philosophischer Erklärungen, Beweis419 Oporin: Theologisches Bedencken, 4: »[. . .] mir deswegen sehr bedencklich, weil der Haupt=Satz nur allein soll gründlich aus dem verlesenen Text erfunden und hergeleitet, nicht aber aus demselbigen vollständig ausgeführet und hauptsächlich erwiesen werden«. 420 Gottscheds Erbauungsbegriff unterliegt nach Oporin: Theologisches Bedencken, 5 »in Absicht auf die Kantzel [einem] gar zu weitläufigen Verstande«, weil durch ihn »eine metaphysische Ueberzeugung von uncörperlichen Dingen, von GOtt, seinen Eigenschaften, von der Seele und ihren Kräften, ingleichen allgemeine und abstracte Gedancken von der Welt erfordert werden« (ebd.). Außerdem werde »denen philosophischen Erklärungen der Haupt=Sätze; [. . .] den philosophischen Beweißthümern: und [. . .] denen durch die eigene Neigung der Menschen wirckenden Bewegungs=Gründen ein unerlaubter Platz eingeräumet« (ebd.), wo doch aber die Erbauung »laut Ephes. II, 20. im Beweiß aus dem Prophetischen und Apostolischen Worte, und in scharfer Vergleichung des einem mit dem andern bestehet« (ebd.). 421 Oporin: Theologisches Bedencken, 12. 422 Oporin: Theologisches Bedencken, 23. 423 Oporin: Theologisches Bedencken, 28 f.: »Denn warum wird doch blos die im Exordio und vor der Tractation anzubringende Erklärung der duncklen Wörter des Texts für nöthig geachtet, und hingegen nicht allein die Erklärung des Textes, welche insonderheit die eigentliche Natur und die Stücke des Haupt=Satzes erläutern und erweisen kan, gar nicht gedacht, sondern auch hingegen eine guten theils fremde und philosophische Ausführung des Haupt=Satzes, [. . .] an ihre Stelle gesetzet, mithin jede Erklärung des Textes, die ich nach der bisher allgemeinen Meinung unentbehrlich, und nebst der Nutz=Anwendung für das Haupt=Werck eines Predigers halte, unter der allgemeinen rubrique des Misbrauchs ausgeschlossen?« 424 Oporin: Theologisches Bedencken, 44 f.

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und Beweggründe auszuführen; drückten diese doch auf vernünftige Weise aus, was die Schrift auf dunkle, metaphorische Weise sagte. An einem Beispiel machte Oporin aber deutlich, daß der theologische Sinngehalt mancher Worte mit einer philosophischen Erklärung keineswegs zureichend erfaßt würde.425 Ohnehin mache der Verfasser des Grund-Risses – so die Kritik des Theologen am Philosophen – von den »philosophischen Beweis=Gründen auf der Kantzel zu viel Wercks [. . .], indem er dieselbige als mit den biblischen Beweisen gleich nothwendig und gleich hell und klar zu seyn vorgiebt«426 . Auch kritisierte er, mit der Forderung, die articuli mixti durchgehend aus der Natur zu beweisen, würden Kanzel und Katheder verwechselt: Auf dem philosophischen Katheder müßten die vermischten Wahrheiten in der Tat aus der Vernunft erwiesen werden, keineswegs jedoch auf der Kanzel.427 Zwar sei ein solcher Erweis nicht prinzipiell ausgeschlossen,428 doch habe man dabei die doppelte Lehrart in der Kirche zu beachten, nämlich scholastica sive academica und popularis; letztere vertrage sich aber nicht mit langen Schlußketten und Beweisfolgen.429 Wenn der Verfasser des Grund-Risses außerdem die philosophischen Nebenbeweise den biblischen Hauptbeweisen gleichwertig zu machen suche, zeige sich zudem ein bedenkliches Abgehen von der theologischen Tradition, wie Oporin mit Hinweis auf zwei gewichtige Stimmen der lutherisch-orthodoxen Lehrtradition feststellte.430 Problematisch sei nicht zuletzt auch der anthropologi425 Anhand des von Gottsched selbst angeführten Beispiels der »Finsternis des Verstandes« erläuterte Oporin: Theologisches Bedencken, 45 f.: »Denn gewiß die Finsterniß des Verstandes bey dem sich selbst gelaßnen Menschen ist nach dem Sinn der H. Schrift nicht nur, (wie der Herr Verfasser sie erkläret,) die Unwissenheit desselben und der Mangel des Erkänntnisses GOttes und der Pfl ichten überhaupt, sondern die H. Schrift begreift darunter besonders dasjenige, was die Welt=Weisheit vormals und manchmal noch heutigen Tags für die größte Scharfsinnigkeit auszugeben pflegt I Cor. I, 21. Diese so vollständige Bedeutung des Worts: Finsterniß des Verstandes, kan ohnmöglich von der philosophie, ohne Unterricht Heil. Schrift, gelehret werden. Denn ob wol sie die Unvollkommenheit ihrer Erkänntniß vom Weg der Seligkeit gar wohl begreiffen kan; so kan sie doch von selbst nicht dahin kommen, daß sie ihre scharfsinnigste meditationes darüber gar für Thorheit erkläret.« 426 Oporin: Theologisches Bedencken, 74. 427 Oporin: Theologisches Bedencken, 74 f. 428 Oporin: Theologisches Bedencken, 77: »Und da ich übrigens gerne zugebe, daß die vermischte Wahrheiten auch auf der Kantzel aus vernünftigen Beweisen gewisser maassen zu erläutern sind; so meine nicht, daß ich eben in die Zahl derjenigen gehöre, welche der Herr Verfasser geschworne Feinde der Vernunft nennet, [. . .] denn ein anders ist, die Vernunft an gehörigen Orte mit ihren Gründen zu hören, und ein anders: die von der Vernunft erkannte Wahrheiten auf der Kantzel allemal eben so wol aus vernünftigen, als biblischen Gründen, hören sollen.« 429 Vgl. Oporin: Theologisches Bedencken, 86–92. 430 Mit Hinweis auf eine Disputation Balthasar Mentzers (1565–1627) und das bekannte dogmatische Lehrbuch Examen theologicum acroamaticum des David Hollatz (erste Aufl. 1707; letzte Aufl. 1763) war Oporin: Theologisches Bedencken, 84 der Auffassung, »daß die Meinung des Herrn Verfassers, als ob die philosophische Beweise für die vermischte

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sche Optimismus, den der Verfasser des Grund-Risses an den Tag lege.431 Gerade in diesem Zusammenhang kam Oporin zu einem vernichtenden Urteil über Gottscheds Homiletik, wenn er meinte: »Bey der Lehre des Herrn Verfassers von der Kraft der Bewegungs=Gründe fällt eine grössere Bedencklichkeit für, sintemal dieselbige a) die grosse Verdorbenheit des menschlichen Willens verkleinert. [. . .] b) Die alleinige göttliche Kraft des Worts zur Bekehrung und Heiligung verdunkelt. [. . .] c) Mit dem in H. Schrift vorgeschriebenen Gebrauch des Gesetzes und Evangelii streitet.«432

Oporins diesbezügliche Einwendungen, die der Länge und Breite nach ausgeführt und begründet wurden, griffen Gottscheds Erbauungsbegriff, der bekanntlich die Dependenz des Willens vom Verstand zur Grundlage der Predigtpsychologie gemacht hatte, an einem theologisch neuralgischen Punkt an. Oporin faßte seine diesbezüglichen Vorbehalte in der Frage zusammen, ob »[. . .] durch diese Cur [sc. Gottscheds Lehre von den Bewegungsgründen; A. S.] der Wille des Menschen also gebessert werden [kan], daß er dadurch zum GOttgefälligen Guten aufs stärckeste gereitzet und willig gemacht wird«?433 Für ihn stritt gegen Gottscheds Auffassung die eindeutige Lehre der Bekenntnisschriften, die die Verderbetheit des menschlichen Willens aussagte als ein »gänzliches Unvermögen, und einen gäntzlichen Mangel des freyen Willens in geistlichen Dingen: nicht nur einen Mangel der Liebe GOttes, sondern auch so gar eine würckliche Feindschaft gegen GOtt«434. Bezeichnender Weise fehle im Grund-Riß daher auch die homiletische Integration des tertius usus legis, wie er eigentlich in einer evangelischen Predigt zu treiben sei.435 Vorsichtig, im abermaligen Gewand einer Frage, äußerte Oporin abschließend den (nicht unbegründeten) Verdacht,

Wahrheiten auf der Kantzel gleich nothwendig und auch helle, als die biblische Beweise wären, von der bisherigen Lehr=Art unserer besten GOttes=Gelehrten abgehe«. 431 Oporin: Theologisches Bedencken, 99 hält für bedenklich, daß Gottsched besonders in moralischen Sachen vernünftige Gründe einfordert, da diese die Zuhörer besser rühren würden »als wenn man« – wie Oporin Gottsched zitiert – »immerfort mit dem Grunde a mandato divino aufgezogen kommt«. Oporin entgegnet ebd, 99 darauf: »Denn ich möchte eine pädagogische Rührung der erläuternden menschlichen Beweise nicht einmal vergleichen mit der Rührung, da das Gesetz GOttes das felsenharte Hertz des Sünders rühret, vielweniger dieser jene vorziehen. Nicht jene, sondern diese allein bestehet in Erkänntniß und Abscheu der Sünde, welches die beste Rührung ist.« 432 Oporin: Theologisches Bedencken, 113. 122. 138 (Randglossen zum Haupttext). 433 Oporin: Theologisches Bedencken, 115. 434 Oporin: Theologisches Bedencken, 116. 435 Oporin: Theologisches Bedencken, 140: »Von dieser Kraft des Gesetzes, das Gewissen von der Sünde zu überzeugen, Wunden zu schlagen, und eine Traurigkeit, so auf die geschehene Beleidigung GOttes zurück sieht, zu würcken, sind des Herrn Verfassers Bewegungs=Gründe weit entfernt, sintemal durch sie eigentlich keine Sünde erkannt, sondern nur der Schade aus der Sünde gefürchtet wird.«

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daß Gottscheds Homiletik in ihrem Kern wohl synergistisch ausgerichtet sei.436 Wie sich zeigte, trug Oporin, der Gottscheds Bemühen um homiletische Vernünftigkeit im Prinzip billigte, auf dem Hintergrund seines philosophischen Eklektizismus 437 eine dezidiert theologische Kritik vor, die dem Leipziger Philosophen die theologischen Grenzen seiner aus wolffianisch-philosophischer Perspektive entworfenen Predigttheorie aufzeigen sollte. Nur diejenigen Beobachter, die wie der spätere Göttinger Universitätsprediger Friedrich Wilhelm Kraft im Streit um die »philosophische« Predigt ebenfalls eine eklektisch-philosophische Position bezogen und ihr Urteil nicht von einer vorschnellen Parteinahme für oder gegen die Wolffsche Philosophie leiten ließen, waren in der Lage, die Argumente pro und contra Gottscheds Homiletik bzw. Oporins Kritik einigermaßen gegeneinander abzuwägen.438 Ansonsten beherrschte überwiegend Parteigeist das Feld, sei es bei den orthodoxen und pietistischen Gegnern439 oder sei es im Lager der homiletischen Wolffianer.440 Bereits in der ersten Auflage des Grund-Risses hatte Gottsched auf die verschiedentlich geäußerte Kritik an der »philosophischen« Predigt, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht auf ihn persönlich zielte, heftig reagiert: Er wies sie entschieden zurück, indem er sie als pietistisch, ja quäkerisch de436

Oporin: Theologisches Bedencken, 135 f.: »[. . .] ob gleich er [der Verfasser des Grund-Risses; A. S.] GOtt allein die Bekehrung zuschreibt, so schreibt er dennoch der eigenen Neigung des Menschen die Mitwürckung zum Wachsthum im Guten zu. Gleichfalls ist rühmlich, daß der Herr Verfasser die göttliche Bekehrung des Menschen als nothwendig zur Heiligung voraus setzt; aber hätte jene nicht billig voraus gesetzt werden sollen, als die alleinige Quelle, woraus, alle Ausübung Gott gefälliger Wercke fl iessen muß, mit gänzlicher Ausschliessung der eigenen Neigung des Menschen, als einer würckenden Ursache des geistlichen Guten?« 437 Daher schlug in Oporins Skepsis an Gottscheds Überbewertung der Vernunft bei der Begründung der articuli mixti auch nicht – wie Wieckenberg: Gottsched und Goeze, 258 meint – »das Mißtrauen der älteren Orthodoxie gegenüber der natürlichen Gotteserkenntnis durch«, sondern es sprach sich hier vielmehr die erkenntnistheoretische Skepsis des philosophischen Eklektizismus thomasischer Prägung aus. 438 Kraft notierte in seiner Rezension von Oporins Theologischem Bedencken: Nachrichten von den neuesten Theologischen Büchern und Schriften 1 (1742), 54: »Wer beyde Schrifften zusammen nimmt, wird aus jener [sc. Gottscheds Grund-Riß; A. S.] guten Unterricht, und aus dieser [sc. Oporins Bedencken; A. S.] Klugheit solchen behutsam und vorsichtig zu gebrauchen lernen.« – Zu Kraft als Göttinger Universitätsprediger (1747– 1750) siehe Hammann: Universitätsgottesdienst, 234–251. 439 Eine knappe, zustimmende Rezension von Oporins Schrift aus orthodoxem Blickwinkel bietet beispielsweise: UN 1741, 343 f. 440 [ J. D. Michaelis:] Raisonnement über die protestantischen Universitäten. Erster Theil, Frankfurt und Leipzig 1768, 257 hielt dies für die Zeit der Gründung der Göttinger Universität ausdrücklich fest: »[. . .] ein Vorurtheil vor die Wolfi sche Philosophie, und zwar vor die sectirische, die man zu Göttingen nicht einführen wollte, regierte Deutschland, und zog einen grossen Haufen junger Leute an solche Oerter, wo dise, nach dem Ruhm, den die Sectirer von ihr machten, die Stelle aller Gelehrsamkeit vertrat«.

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nunzierte.441 Das wurde der Kritik zwar nicht im mindesten gerecht, setzte den Leipziger Predigttheoretiker aber in den Stand, sich der weiteren, inhaltlichen Auseinandersetzung zu entziehen. Nachdem dann Oporins Entgegnungsschrift den Weg in seine Hände gefunden hatte,442 vereinnahmte er den unliebsamen Kritiker mit gönnerhafter Souveränität: Der Kritiker wäre gar kein Kritiker und seine Kritik letzten Endes unerheblich; außerdem stehe ihm auch eine andere Meinung zu, auf die einzugehen nicht weiter lohne.443 Doch solches Ausweichen war Strategie, um einer inhaltlichen Auseinandersetzung abermals aus dem Weg zu gehen, einer Auseinandersetzung, die die eigene Position einem kritischen Diskussionsprozeß ausgesetzt hätte. Gottsched verhielt sich an diesem Punkt so wie die meisten Wolffianer, die auf dem vermeintlich unumstößlichen Grund ihrer Philosophie von den eigenen Ansichten so überzeugt waren, daß ein nicht-wolffia441 Auf das von Oporin und im Anschluß an ihn von einem Anonymus (zu ihm im folgenden gleich mehr; s. u.) propagierte Modell der »apostolischen« Predigt entgegnete [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 78 f.: »Allein wie wird es mit der Nachahmung der biblischen Scribenten, der Propheten und Apostel [ge]halten? Diese ist uns ja unlängst von einem Ungenannten als die eintzige Richtschnur im Predigen, angepriesen worden; da er uns das philosophisch-sinnreiche Predigen verhast zu machen gesucht, und uns apostolisch zu predigen, auffgemuntert hat. Doch auch dieses läßt sich gar nicht behaupten, wenn man erweget, was die Propheten und Apostel vor einen ausserordentlichen Beystand bey ihren Predigen gehabt haben, dessen sich heute zu Tage kein Geistlicher Lehrer rühmen kann. [. . .] Es klingt auch sehr lächerlich wenn dieser Author den Bothen Jesu eine eigene Homilie und Lehrart zuschreibt; die doch gewiß weder zu Gamaliels noch eines andern Lehrers Füssen ein Collegium homileticum gehöret hatten: Sondern deren Vortrag über alle Reguln erhaben war, nachdem es der Geist ihnen gab die grossen Thaten GOttes auszusprechen. Man sieht auch wohl wo diese neu erdachte apostolische Homiletic hinzielet. Man will die heutigen Lehrer des Glaubens eine Kunst lehren, auf gut quäckerisch ohn alle Vorbereitung, und aus dem Stegreiffe, oder, wie einige zu reden pflegen, aus dem Hertzen, zu predigen, welche Lehre aber von andern mit besserm Rechte, eine Saalbaderey, und ein sinnloses Geschwätze genennet wird.« 442 Ein Exemplar weist nach: Catalogus Bibliothecae, quam Jo. Ch. Gottschedius, Nr. 3931. 443 In der neuen Vorrede zur zweiten Aufl age des Grund-Risses entgegnete [Gottsched:] Grundriß einer Lehrart überzeugend zu predigen, Bl. *2r-v auf die zwei gegen ihn publizierten Schriften, insbesondere Oporins: »Allein nach reifer Uberlegung hat man sich entschlossen, diese Vorerinnerung zu keiner Streitschrift zu machen. Zudem ist der eine berühmte Gottesgelehrte, der sein Bedenken über die Lehrart der Welt mitgetheilet, so sanftmüthig und bescheiden mit ihr verfahren, daß es ein Vergehen seyn würde, demselben zu widersprechen. Er hat unsre Regeln und Vorschläge [. . .] auch so wenig zu verwerfen gesucht, daß er sie vielmehr in den meisten Stücken durch seinen Beyfall bestätiget hat. Findet er nun gleich, daß ihm eins oder das andre bedenklich sey: so müssen wir ihm dieses seiner Einsicht nach gefällte Urtheil frey stellen: indem wir kein Recht haben, andern Meynungen zu verbiethen, oder die unsrigen aufzudringen. Ein jeder Lehrer der Kirchen und hohen Schulen, dient Gott und dem Nächsten nach seinem Vermögen: und wer bist du, der du einen fremden Knecht richtest? Die Wahrheiten, die man in diesem geringfügigen Werke vorgetragen zu haben glaubet, werden sich am besten selbst vertheidigen, wenn man sie fleißig, nach ihrem Zusammenhange lesen, und in Ausübung bringen wird.«

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nischer Kritiker kaum eine Chance hatte, als gleichberechtigter Diskussionspartner anerkannt zu werden.444 Bei der gezielt betriebenen Deplausibilisierung und Marginalisierung »übergangstheologischer« Kritik spielte die auf klärerische Presse, die unter dem Anspruch vorgetäuschter »Unpartheylichkeit« häufig auf Seiten der Wolffianer stand, eine ganz entscheidende Rolle. Beispielsweise verfaßte ein gewisser »P. A. D.« aus »B. . . in Holstein« eine (inhaltlich durchaus sachliche) Antikritik zu Oporins Theologischem Bedenken, die den anonymen Verfasser des Grund-Risses (Gottsched) und seine Theorie der »philosophischen« Predigt gegenüber der Intervention des Göttinger Theologen in Schutz nahm. Dieser holsteinische Gottsched-Apologet schickte seine Antikritik an die Hamburgischen Beyträge mit der Bitte, diese abzudrucken.445 Unter dem scheinheiligen Vorwand der »Unpartheylichkeit«, die das Blatt dazu nötige, auch autoritätskritische Meinungen zuzulassen, stellten die Herausgeber dem anonymen Oporin-Gegner ein ganzes Stück ihrer zweimal wöchentlich erscheinenden Zeitung als Podium zur Verfügung,446 wohingegen man nach Spuren eines vergleichbaren Aktes der »Unpartheylichkeit« zugunsten von Oporins Ansichten vergeblich sucht. Alles andere wäre aber bei einem Blatt, das Gottscheds homiletisches Lehrbuch als »sehr gründliche[s] und nützliche[s] Werk« gelobt hatte,447 auch überraschend gewesen. Auch Cappelmann, der Gottscheds homiletisches Lehrbuch ebenfalls emphatisch begrüßt hatte, arbeitete gezielt daran, sich und seine Leser gegen Oporins Kritik zu immunisieren. Er druckte zu diesem Zweck 1741 einen Auszug aus Oporins Alter und einziger Richtschnur überzeugend und erwecklich zu predigen, den er so geschickt mit Anmerkungen voller subtiler Ironie versah, daß oberflächlich zwar Zustimmung signalisiert, im Ergebnis aber auf das Gegenteil abgezielt wurde.448 Anders ging der Steinhagener Pfarrer zwei 444 Den Thomasianern war daher »(d)ie Verachtung, mit der Wolff und seine Schüler leicht auf Leute anderer Ansicht herabsahen«, außerordentlich suspekt, da sie selbst mit der erkenntnistheoretischen Voraussetzung operierten, »daß es wegen der Grenzen, die der menschlichen Einsicht gesetzt seien, eine unwandelbare, wahre Philosophie nicht geben könne«; beide Zitate Buff: Gerlach Adolph Freiherr von Münchhausen, 20. 445 Hamburgische Beyträge zur Aufnahme der gelehrten Historie und Wissenschaften 2 (1741; XLVII. Stück, 26. Juni), 401–408. 446 Dem Abdruck des Schreibens wurde die folgende Herausgebererklärung vorangestellt; Hamburgische Beyträge zur Aufnahme der gelehrten Historie und Wissenschaften 2 (1741), 401: »Wie wir uns in unsern Blättern jederzeit der Unpartheylichkeit befl issen haben: Also müssen wir auch alhier dieselbige Platz fi nden lassen, indem wir folgendes Schreiben, so gegen den berühmten Hn. D. Oporinus gerichtet ist, einrücken. Die Bescheidenheit, so darinnen herrschet, wird überdas dieses unser Verfahren vollkommen rechtfertigen.« 447 Hamburgische Beyträge zur Aufnahme der gelehrten Historie und Wissenschaften 1 (1740; LV. Stück, 18. Juli), 451. 448 Cappelmann: Auszug Aus des Herrn Joachims Oporins, 125–160. – Bei [Heinsius:] Unpartheyische Kirchen-Historie, Tl . 3, 740 heißt es zu diesem Abdruck: »[. . .] darinnen

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Jahre später beim auszugsweisen Abdruck einer anonymen Schrift vor,449 die die Position Oporins so massiv propagierte,450 daß auch hier eine Widerlegung geraten schien. Auf außerordentlich selektive und tendenziöse Weise zensierte Cappelmann ausgewählte Partien des Textes vom unhinterfragten Standpunkt des theologischen Wolffianismus, um auch den letzten Leser von der Substanzlosigkeit der Einwände zu überzeugen. Auch Gottsched wandte sich im Grund-Riß gegen diese Schrift. Er setzte sich aber nicht selbst mit ihr auseinander, sondern verwies auf eine andere anonyme Schrift, die auf 96 Seiten eine, in seinen Augen völlig ausreichende, Antikritik des unbekannten Oporin-Anhängers geboten hatte.451 Zeitlich parallel zu den Diskussionen um Manteuffels Predigtwettbewerb, die Predigtsatire der Gottschedin und die Moser-Pries-Kontroverse stellten daher sowohl Cappelmann als auch Gottsched mit ihrer Ablehnung jener anonymen Schrift Bezüge zu einer weiteren, um 1740 ihren Höhepunkt erreichenden publizistischen Debatte her, die bei Oporins Richtschnur nicht nur ihren Ausgang genommen hatte, sondern die auch durch anderweitige Umstände in besonderer Weise mit Göttingen verbunden war. 2.2.2 Von Rudolph Anton Brauns (1739) zu Christian Kortholt (1746) Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stand dabei der von Gottsched und Cappelmann kritisierte Anonymus, der zwischen 1739 und 1740 in drei Teilen auf insgesamt über 800 Seiten »Theologische Gedanken über die Frage« anstellte, »(o)b die Philosophisch=sinnreiche Lehr=Art im Predigen mit der Lehr=Art der Apostel und den Absichten einer Predigt bestehen könne«452 . dem Herrn Oporin seine Sätze vermuthlich wieder seinen Willen so erläutert worden, daß der Wiederspruch nicht mehr so stark aussiehet«. 449 [R. A. Brauns:] Auszug derer Theologischen Gedanken über die Frage, ob die philosophisch-sinnreiche Lehrart der Apostel und den Absichten einer Predigt bestehen könne, in: Beiträge zur Beredsamkeit, Tl. 2 (1743), 385–414 (11. Beitrag). – Es handelt sich bei dem Abdruck um Auszüge aus [Brauns:] Theologische Gedanken. 450 [Brauns:] Auszug derer Theologischen Gedanken, 403 in Anm. 370 (Cappelmann): »Wir haben gefunden, daß diese Abhandlung des Herrn Verfassers mit des Herrn D. Oporins Homilie [. . .] größtentheils übereinstimme.« 451 [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 78–80: »Allein wie wird es mit der Nachahmung der biblischen Scribenten, der Propheten und Apostel [ge]halten? Diese ist uns ja unlängst von einem Ungenannten als die eintzige Richtschnur im Predigen, angepriesen worden; da er uns das philosophisch-sinnreiche Predigen verhast zu machen gesucht, und uns apostolisch zu predigen, auffgemuntert hat. [. . .] Man lese die schönen und wohlgegründeten Anmerckungen die ein anderer Ungenannter, über die apostolisch- und philosophisch-sinnreiche Methode, als eine Antwort auff obgedachte Schrifft, vor kurtzem auf wenig Bogen in Hamburg heraus gegeben.« 452 [R. A. Brauns:] Theologische Gedanken über die Frage: Ob die Philosophisch= sinnreiche Lehr=Art im Predigen mit der Lehr=Art der Apostel und den Absichten einer Predigt bestehen könne, Entworffen von einem Liebhaber erbaulicher Predigten, Hannover 1739 [ 21740]. – [Ders.:] Theologische Gedancken über die Philosophisch=sinnreiche

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Als »Philosophisch=sinnreich«, eine von ihm in die Diskussion eingebrachte Wortschöpfung, bezeichnete er die doppelte, philosophisch-rhetorische Perspektivierung des theoretischen Ansatzes der homiletischen Wolffianer: nämlich einerseits jene die inventio, dispositio und argumentatio betreffende Forderung nach philosophisch-logischer Strukturierung der Predigt bzw. andererseits die rhetoriktheoretisch begründete Forderung nach einer bei der elaboratio anzuwendenden »sinnreichen Schreibart«.453 Sein Inkognito lüftete der Verfasser erst im dritten Teil seiner Schrift, wo er sich seinen Lesern als Rudolph Anton Brauns (1713–1788) vorstellte.454 Wer war dieser heute gänzlich unbekannte Kritiker der »philosophischen« Predigt, über den die einschlägigen Gelehrtenlexika nichts weiter zu berichten wissen, als daß er der Verfasser eben jener drei Schriften ist?455 Erste Erkenntnisse ergeben sich durch Brauns eigene Hinweise. In Abwehr der Anschuldigung, er hätte seine Argumente lediglich von Oporins Richtschnur abgekupfert, erklärte er, daß ihm bereits während seines Theologiestudiums in Jena, wo er seit Sommersemester 1732 als Hannoversches Landeskind inskribiert war,456 der Gedanke gekommen sei, eine Kritik der »philosophischen« Predigt abzufassen; erst nach seinem Abgang von der ernestinischen Landesuniversität, als die Idee längst konkrete Formen angenommen hatte, sei ihm dann die Homiletik Oporins in die Hände gefallen, die er nun »begierig, und mit sorgfältiger Untersuchung« gelesen habe.457 Lehr=Art im Predigen, Worinnen einige Erleuterungen über den ersten; und vier Proben von Predigten sowohl von der verwerfl ichen, als Apostolischen Methode enthalten sind. Zweyter Theil, Hannover 1739. – [Ders.:] Theologische Gedanken über eine Apostolische und Philosophisch=sinnreiche Lehr=Art im Predigen, worinnen die Anmerkungen, Welche ein ungenannter Herr Verfasser vor einigen Monathen wider die zwey ersten Theile heraus zu geben beliebet hat, wohlmeinend widerleget ein Liebhaber erbaulicher Predigten, Dritter Theil. Hannover 1740. 453 Zur Erklärung der sinnreichen Schreibart bei Gottsched siehe H. P. Herrmann: Naturnachahmung und Einbildungskraft: zur Entwicklung der deutschen Poetik von 1670 bis 1740, Bad Homburg u. a. 1970, 157. 454 [Brauns:] Theologische Gedan[c]ken, Tl. 3, 352. 455 DBA I 138, 329 ( Jöcher: Gelehrtenlexikon). 456 Die Matrikel der Universität Jena/ im Auftrag des Rektors hrsg. von G. Steiger, weitergeführt von H. Herz, Bd. 3: 1723 bis 1764, München u. a. 1992, 178: »Rudolphus Anton Braunseus, Herzbergâ-Hannover«. 457 [Brauns:] Theologische Gedan[c]ken, Tl. 3, 374 f.: »[. . .] daß ich schon zu Jene [=Jena], woselbst bei meinem Aufenthalt das Spüken auf der Kanzel damals schon anging, und des Herrn M. Carpovs Hefte herhalten musten, auf den Vorsaz kommen, solch Vergehn mahl in einigen Bogen zu untersuchen. Ich wurde aller Orten, woselbst ich, nach Vollendung der academischen Jahre in Jene, mich auf hielt, von dem verdorbenen Geschmak, die Philosophie samt dem Sinnreichen, im Predigen, mit den Heilswahrheiten zu vereinbaren, [. . .] immer noch mehr überführt, und entschloß mich daher, würklich zu der Arbeit, an einer dawider gerichteten Schrift, den Anfang zu machen. In dem algemeinen Entwurfe richtete ich mein Haupt=Absehn auf die biblische Uberzeugung, und, daß der modus sciendi veritates Christianas & revelatas, ganz anders beschaffen wäre, als der modus sciendi in naturalibus, folglich ein Lehrer auf der Kanzel jenen, und nicht diesen treiben

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Die Widmung des ersten Teils seiner Schrift, die dem »Herrn Vorsizer, und sämtlichen übrigen ansehnlichen Mitgliedern« »(d)er Löblichen vertrauten teutschen Redner=Geselschaft in Jena und Thüringen«458 galt, um so den fälligen Dank für die erst kürzlich erfolgte Aufnahme in die genannte Sozietät abzustatten,459 offenbarte, wie sehr ihr Verfasser noch Jahre später mit Jena verbunden war. Doch war der dortige Eklektizismus eines Buddeus, Hallbauer oder Walch wohl nicht die ausschließliche Quelle seiner homiletischen Kritik. Denn noch vor der Publikation seiner Schrift führte ihn die Studienlauf bahn nach Göttingen, wo er sich am 12. April 1737 für eine unbekannte Dauer in Theologie einschrieb.460 Ob der spätere hannoversche Pfarrer461 bereits hier oder noch in Jena seinen ab der zweiten Pfarrstelle bezeugten Magistertitel erwarb,462 läßt sich derzeit nicht klären. Jedoch wurde Brauns in Göttingen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zum homiletischen Schüler Oporins, dessen Ansichten er mit dem Jenaer Erbe verschmolz und aus eigenem Antrieb schließlich propagierte. Er tat dies nach eigenem Bekunden, weil er der Meinung war, daß Oporins Einspruch gegen die »philosophische« Predigt »noch weitläuftiger abgefasset werden könte«463. Wie gesagt: Dieses Vorhaben wuchs sich zu einem dreiteiligen Opus aus, das schließlich insgesamt über 800 Oktavseiten umfaßte. Die Parteinahme für die wolff kritische Homiletik Oporins, die der zu dieser Zeit mutmaßlich noch immer in Göttingen immatrikulierte Student mit dem ersten Teil der Theologischen Gedan[c]ken Ende 1738 unternahm, rief, als bereits im März 1739 eine zweite, jedoch auf 1740 vordatierte Auflage erschien,464 den wolffianischen Göttinger Superintendenten Georg müste. Darauf gab der Herr Professor Oporin den ersten Theil der erwehnten Schrift heraus, ich las solche begierig, und mit sorgfältiger Untersuchung [. . .]«. 458 Beide Zitate [Brauns:] Theologische Gedan[c]ken, Tl. 1, 3. 459 [Brauns:] Theologische Gedan[c]ken, Tl. 1, 4: »Ew. Ew. etc. Hoch=Edlen etc. Haben mir vor einiger Zeit die unverhofte Ehre, ohne mein Gesuch, erwiesen, mich zu Deroselben Mitgliede aufzunehmen: Ich fi nde hier Gelegenheit, öffentlich vor dieses angenehme Merkmal Deroselben Güte gegen mich, verbindlichen Dank zu sagen.« – Die Mitgliedschaft Brauns wird bei Marwinski: Der Deutschen Gesellschaft zu Jena, nicht verzeichnet. 460 Die Matrikel der Georg-August-Universität zu Göttingen 1734–1834/ im Auftrage der Universität hrsg. von G. v. Selle, Text, Hildesheim; Leipzig 1937, 15 (lfd. Nr. 619). 461 Rudolph (Rudolf ) Anton Braun[s] wurde 1742 zum Pfarrer von Avendshausen bestellt, und 1751 kam er als Pfarrer nach Groß Lengden (Göttingen); Die Pastoren der Landeskirchen Hannovers, Bd. 1, 42. 369. 462 Die Pastoren der Landeskirchen Hannovers, Bd. 1, 369. 463 [Brauns:] Theologische Gedan[c]ken, Tl. 3, 375. 464 [ J. J. Schilling:] Anmerkungen über eine apostolische und philosophisch-sinnreiche Lehrart auf der Kanzel[;] den so genannten Theologischen Gedanken eines ungenannten Verfassers von eben dieser Materie und besonders den Stellen entgegen gesetzet[,] die den göttlichen Vorzügen der Apostel so wohl als den Verdiensten einiger der ehrwürdigsten Gottesgelehrten unserer Zeiten nachtheilig sind. Hamburg 1739, Bl. )(6v-7r monierte sicher nicht ohne Grund, daß »man auf das Titelblatt des neuaufgelegten ersten

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Heinrich Riebow (1703–1774) 465 auf den Plan. Mit einer bereits erwähnten,466 auf den 19. April 1739 datierten Vorrede467 versuchte er nun der bedrängten »philosophischen« Predigt zu Hilfe zu eilen.468 Riebow beließ es nicht bei dieser einmaligen Tat, sondern er erhöhte den Druck auf die antiwolffischen Göttinger Theologen, allen voran Oporin,469 indem er nur einen Monat später ein Bedenken veröffentlichte, das auf satirische Weise die Frage erörterte, »(o)b eine strenge Lehr=Art eine Ketzerey, und der Gottseeligkeit nachtheilig sey«470. Dem dadurch provozierten »sogenannte[n] Riebowsche[n] Streit«, den die Göttingischen Wolffianer und Eklektiker darauf hin um die »philosophische« Predigt führten, lagen tiefgehende fakultätsinterne Differenzen zugrunde, die sich an der Frage nach der Rolle der Wolffschen Philosophie in der Theologie festmachten.471 Die Stellvertretersituation, die den Streit charakterisierte, signalisierte Riebows Bedencken selbst, das dem Titel nach zwar die grundsätzliche Frage der theologischen Unbedenklichkeit der Wolffschen Philosophie thematisierte, inhaltlich aber auf ein Plädoyer für die »philosophische« Predigt zulief.472 Dadurch aber sah sich die Theologische Fakultät herausgefordert. Theils, um die Neugierigkeit der Käufer noch länger zu unterhalten, allbereits neun ganzer Monate vorher, die Zahl 1740 gesetzet hat«; daher ergeben sich für die erste, offenbar auf 1739 vordatierte Aufl age sowie die zweite Aufl age die oben angegebenen Erscheinungstermine. 465 Zu Riebow (Riebov, Ribow, Ribov, Ribovius) vgl. ADB 28 (1889), 804 f.; DBE 8 (1998), 271; Baur: Die Anfänge der Theologie, 34–36; die verschiedenen Schreibweisen seines Namens ergeben sich aus Mischformen der Latinisierung (Ribovius) des deutschen »Riebow«. – Stationen seines Lebens: Studium in Halle unter Francke, Lange, Breithaupt und Anton; 1731 Adjunkt der Theologischen Fakultät Helmstedt; 1736 Superintendent in Göttingen; hier 1737 Dr. theol.; 1739 ordentlicher Professor der Philosophie; 1740 Honorarprofessur, 1741 Extraordinarius, 1745 Professor Theologiae Ordinarius; 1759 Konsistorialrat und Generalsuperintendent in Hannover. 466 Kap. 2, Abschn. 3.2. 467 Riebow: [Vorrede], Bl. b1r-c7v. 468 Daß die Vorrede gegen Brauns gerichtet war, ergibt sich aus [Brauns:] Theologische Gedan[c]ken, Tl. 3, 350: »Hätte ich den Zwek gehabt, wider den Hn. D. Riebov etwas zu erinnern: so hätte ich ja solches wider seine Vorrede, die er den, aus dem Engl. vom M. Titteln übersezten Predigten, vorgesezet, gar füglich thun können, da ich versichert worden, daß solche mich anginge, und mir darinnen gewiesen werden solte, daß ich keinen Begrif von dem Wort erbaulich hätte; [. . .]«. 469 Schuler: Geschichte, Tl. 2, 189 bezeichnet Oporins Richtschnur irrtümlich als eine Reaktion auf Riebows Angriffe. 470 [G. H. Riebow:] Bedencken über die Frage: Ob eine strenge Lehr=Art eine Ketzerey, und der Gottseeligkeit nachtheilig sey, Göttingen und Allendorff 1739. 471 J. Meyer: Geschichte der Göttinger theologischen Fakultät, ZGNKG 42 (1937), 17–20, Zitat 17; Buff: Gerlach Adolph Freiherr von Münchhausen, 23; Baur: Die Anfänge der Theologie, 34 f. 472 Vgl. die Rezension in: UN 1740, 798, wo es heißt: »[. . .] im Haupt-Werck aber will man so viel sagen: Man soll im Predigen und Lehren nicht gern einer anderen als der mathematischen Strenge sich bedienen.«

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Ebenfalls auf die homiletischen Konsequenzen abhebend, wandte sie sich deswegen am 28. Mai mit einer Beschwerde an den Kurator der Universität.473 Vermutlich im Zusammenhang dieser Anzeige, die mit einer gewissen Verzögerung auch im Lager der Wolffianer für Gesprächsstoff sorgte,474 ließ Münchhausen über einen Vertrauensmann Oporin wissen, daß er den behaupteten »dissensum circa methodum concionandi vor nichts reelles halte«475. Mit dieser Auffassung folgte Münchhausen möglicherweise der Linie seines Ratgebers Mosheim, der den »Methodenstreit« der Homiletik im Jahr 1742 für absolut irrelevant erklärt hatte.476 Gleichzeitig legte Münchhausen in einem eigenhändigen Schreiben gegenüber Oporin dar, »daß er von Ribovs Unschuld überzeugt sei, und beschwerte sich über die Verleumdungen durch Übersendung von Predigten Ribovs, deren genaue Nachschrift er anzweifelte«477. Damit aber war die universitätspolitische Marschrichtung vorgezeichnet, als Riebow, der an St. Jacobi als Prediger tätig war, seine am 8. August 1739 erfolgte Ernennung zum Ordinarius der Philosophie zum Anlaß nahm, bei der Regierung das Recht zu homiletischen und systematischen Vorlesungen in der Theologie zu beantragen. Die Theologische Fakultät stellte sich zwar in einem Votum vom 20. August gegen diese Pläne,478 konnte damit aber bei der Regierung nicht durchdringen. Diese ernannte Riebow auf dem Umweg einer Honorarprofessur (1740) und eines außerordentlichen theologisches Ordinariats (1742) schließlich doch zum ordentlichen Professor der Theologie (1745), nachdem sie bereits zuvor (1740) die interimistische Be473 Meyer: Geschichte, 18 referiert den Inhalt der Beschwerde wie folgt: »Sie hob in einer, wohl von Oporin verfaßten, Beschwerde an den Kurator vom 28. Mai 1739 hervor, ein Prediger habe die Schrift aus der Schrift zu erklären, nicht aber gelegentlich der Texte ein diesen fremdes Lehrgebäude aufzuziehen. Man wolle nicht alles Rationale aus der Predigt verbannt wissen; indes bei einer mathematischen Beweisführung ohne Schriftbeweis würde die nach Gottes Wort hungernden Seelen mit leerem Menschenwitz abgespeist, vernähmen aber nichts von Heilsordnung, Bekehrung und Gnadenwirkungen des Geistes.« 474 Wolff an Manteuffel, 17.2. 1740, zit. bei Wuttke: Ueber Christian Wolff, 60 in Anm. 2: »Wenn nicht noch der Superintendent Dr. Ribon [!] die Freyheit zu lesen hätte, wäre da selbst [sc. in Göttingen; A. S.] nichts zu thun: allein er wird von den herrschenden Theologis gedruckt. Sie haben vor einem Jahre ihn bey Hoffe verklaget, daß er zu vernünfftig und nicht schrieftlich genug predigte und ein Passagier sagte mir, der Prof. Köhler hätte sich deswegen beschweret, daß er sie, die Professores, für Heyden ansähe und aus der Vernunfft überzeugen wollte. Es kam auch dazumahl ein Befehl von Hoffe, er sollte sich deßen enthalten und aus der Schrift predigen.« 475 Zit. bei Buff: Gerlach Adolph von Münchhausen, 23; ebenfalls zit. bei Hammann: Universitätsgottesdienst, 57 in Anm. 11. – Aus beider Ausführungen geht nicht mit letzter Sicherheit hervor, in welchem Zusammenhang Münchhausen diese Ansicht äußerte. 476 Vgl. dazu nochmals oben bei Anm. 204–210. 477 So das Inhaltsreferat des Schreibens bei Buff: Gerlach Adolph Freiherr von Münchhausen, 23. 478 Meyer: Geschichte, 19.

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teiligung Riebows am akademischen Gottesdienst gegen den abermals vergeblichen Widerstand Oporins durchgesetzt hatte.479 So aber war der Wolffschen Richtung am Ende doch Eingang in die Göttinger Theologische Fakultät verschafft worden. Das von Oporin so nachdrücklich verteidigte Beharren auf einer eklektisch-philosophischen Ausrichtung fiel demnach universitätspolitischen Rücksichten zum Opfer, welche von der Sorge genährt waren, daß eine Nichtberücksichtung der Wolffianer die Georgia Augusta in Nachteil gegenüber anderen deutschen Universitäten bringen könnte.480 Noch während der »Riebowsche Streit« Göttingen beschäftigte, ging die von Brauns ausgelöste publizistische Debatte mit dessen zweitem, wahrscheinlich im Frühherbst 1739 veröffentlichten Teil der Theologischen Gedan[c]ken in die nächste Runde. Geschrieben wurde dieser Text vielleicht in Hannover, wo sein Verfasser möglicherweise die Kandidatenjahre bis zum Eintritt ins Pfarramt (1742) zubrachte.481 In seinen kritischen Passagen reagierte Brauns’ Streitschrift hauptsächlich auf das mittlerweile vorliegende Bedencken Riebows.482 Hingegen hielt Brauns eine Reaktion auf Riebows Vorrede zu Fosters Heiligen Reden, die, wie man ihm versichert hatte, direkt gegen ihn gerichtet war, für unnötig.483 Auffällig war aber, daß der Ton der Auseinandersetzung – provoziert durch den satirischen Zuschnitt von Riebows Bedencken, dessen Autor Brauns zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt war484 – erheblich schärfer wurde. Dazu trugen auf Brauns’ Seite vor allem zwei von ihm konstruierte Negativbeispiele für »philosophisch-sinnreiches« 479 480

Detailliert dazu Hammann: Universitätsgottesdienst, 63 f. Vgl. Meyer: Geschichte, 19; Buff: Gerlach Adolph Freiherr von Münchhausen,

22 f. 481 Darauf deuten der Druckort aller drei Teile (Hannover: Johann Adolph Gerken) und die Widmung des zweiten Teils an den Prediger der Kirche zu St. Jacob und Georg (Marktkirche) in Hannover, Hennig Flügge (1683–1754), hin; zu Flügge vgl. Die Pastoren der Landeskirchen Hannovers, Bd. 1, 435. 482 Vgl. beispielsweise [Brauns:] Theologische Gedan[c]ken, Tl. 2, 69–73 (§§. 22–24). 483 [Brauns:] Theologische Gedan[c]ken, Tl. 3, 351: »[. . .] ich habe aber solches mit Fleiß übergangen, und dabei gedacht: Es möge von meinen Begriffen geglaubt werden, was da wolte; gnug, daß ich überzeugt wäre, ich wüste schon lange, was erbaulich sey und nicht sey.« 484 Im dritten Teil rechtfertigte [Brauns:] Theologische Gedan[c]ken, Tl. 3, 349 seine in der Tat etwas verwunderliche Unkenntnis wie folgt: »Massen ich, GOtt ist dessen Zeuge, nicht gewust, noch geglaubt, daß er [sc. Riebow] davon [sc. dem Bedencken] der wahre Urheber wäre. Nicht gewust hab ichs; denn alle die, bei welchen ich mich dieserhalb erkundiget, haben mich alle, theils benachrichtigt, er wäre es nicht, theils, sie wüsten es nicht. Nicht geglaubet habe ichs: denn der ganze Inhalt, und dessen sämtliche Einrichtung, streitet mit den Einsichten dieses gelehrten academischen Lehrers: Jener geht die wahren Gründe vorbei, und stellt solche vor, davon gar die Rede nicht ist; diese ist durch und durch satyrisch, und das hat mich bewogen, etwas eifrig zu schreiben, welches ich sonst, der Verfasser hätte mir mögen bekant oder unbekant seyn, nicht würde gethan haben.«

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Predigen bei,485 wobei eine dieser »Retortenpredigten« erklärtermaßen nach Mosheims homiletischen Regeln abgefaßt sein wollte.486 Die auf klärungsfreundlichen Hamburgischen Berichte von gelehrten Sachen, die Brauns’ Kritik partiell zwar durchaus zustimmten, hoben in ihrer Rezension jedoch ausdrücklich auf dieses Vorgehen ab und warfen dem noch immer anonymen Oporin-Anhänger vor, daß er damit eine homiletische Kapazität wie Mosheim auf ganz unzulässige Weise mit den Entgleisungen »kleiner Geister« in einen Topf werfe.487 Mit dieser Argumentation, die im Kern einen (kritikwürdigen) Mißbrauch der »philosophischen« Predigt von einem homiletisch unverdächtigen Gebrauch unterschieden wissen wollte, wurde ganz offensichtlich die prinzipielle Infragestellung der »philosophischen« Predigt, wie sie sich Brauns mit seinen Ausführungen zum Ziel gesetzt hatte, bereits im Ansatz unterlaufen. Möglicherweise war diese Argumentationsstrategie von einer zuvor publizierten Stellungnahme Mosheims inspiriert, mit der der für die Berufung Oporins Verantwortliche und selbst Göttinger Theologe in spe vermutlich noch vor der Publikation von Brauns’ zweitem Teil der Theologischen Gedan[c]ken 488 und an prominentem Ort erstmals Position im Streit um die »philosophische« Predigt bezogen hatte. Denn in einer auf den 1. September 1739 datierten Vorrede zum sechsten Teil seiner Heiligen Reden,489 die in der Öffentlichkeit als »eine zwar kurze, aber volständige und nachdrükliche Predigerkunst« begrüßt wurde,490 äußerte sich der Helmstedter Theologe zur umstrittenen, v. a. von Brauns gestellten Frage, »(o)b es erlaubt, oder verboten sey, sinnreich und philosophisch zu pre485

[Brauns:] Theologische Gedan[c]ken, Tl. 2 (1739), Anhang, 1–47 (2. Zählung). 90–122 (2. Zählung); die positiven Beispiele der von Brauns favorisierten »apostolischeinfältigen« Predigten lieferten zwei Predigten Rambachs. 486 Vgl. dazu die Erläuterungen [Brauns:] Theologische Gedan[c]ken, Tl. 2 (1739), 77–80. 487 Hamburgische Berichte von den neuesten gelehrten Sachen 8 (1739, Nr. LXXXVI, 3. November), 729–733, hier 732 f.: »Dieses einzige achten wir nur noch zu erinnern nöthig, daß der Hr. Verfaßer sich hätte begnügen können, solche kleine Geister zu bestraffen, hingegen hätte er grosse Männer, als Wolfen, Mosheim, Reinbeck nicht mögen dadurch anzapfen, daß er die aus ihren Schriften zusammengestoppelte Stellen als Proben einer verwerfl ichen Lehrart darstellet. Denn obgleich dadurch vieleicht hauptsächlich die elenden Nachahmer solcher Männer gemeinet sind, so scheinet doch immer solche mit Fleis ertichtete Nachahmung zum Nachtheil dieser grossen Leute selbst gerichtet zu seyn.« 488 Mosheims Stellungnahme enthält keine Hinweise auf die unmittelbare Kritik an seiner Homiletik, die Brauns mit dem zweiten Teil seiner Theologischen Gedan[c]ken übte. 489 Mosheim: Heilige Reden, Tl. 6, Bl. a2r-c7v; . 490 Rez. Mosheim, Heilige Reden, Tl. 6, in: Hamburgische Berichte von den neuesten gelehrten Sachen 8 (1739), 685: »Der andere Zusatz ist die Vorrede, eine zwar kurze, aber volständige und nachdrükliche Predigerkunst, worinnen alles, was zu einer vernünftigen, ordentlichen, deutlichen, erbaulichen, beredten und gotseligen Rede auf der Kanzel gehöret, so, wie es des Hrn. Abts Weise ist, neml. unverbeßerlich, vorgetragen wird.«

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digen?«491 Mosheims Votum, das eine verwerfl iche von einer legitimen »philosophisch-sinnreichen« Predigtweise unterschied und auf diese Weise dem zentralen Anliegen der homiletischen Wolffianer prinzipiell assistierte,492 kann in seinem Effekt für die öffentliche Meinung – auch angesichts des exponierten Ortes, an dem es veröffentlicht wurde – nicht hoch genug veranschlagt werden. Während damit der Kampf um die öffentliche Meinung eigentlich schon vor Erscheinen von Gottscheds Predigtlehrbuch zugunsten der »philosophischen« Predigt entschieden war, war der Streit um Brauns’ Schriften jedoch damit noch keineswegs zu Ende. Denn ebenfalls im Herbst 1739 erschien in Reaktion auf die zwei bislang publizierten Teile von Brauns’ Theologischen Gedanken eine anonyme Gegenschrift,493 die ganz allgemein die »philosophische« Predigt, speziell aber deren Protagonisten Reinbeck,494 Mosheim495 und Riebow496 gegenüber 491

Mosheim: Heilige Reden, Tl. 6, Bl. b7r-c6r, Zitat Bl. b7r. Mosheim: Heilige Reden, Tl. 6, Bl. c3v-4r: »Heisset philosophisch predigen so viel, als die Kunstwörter, Eintheilungen und Lehrarten, die in den Schulen der Weltweisen üblich sind, auf die Canzel ziehen, den Beweis der Schrift zurücke setzen und so, wie ein Schullehrer, der die Vernunft seiner Schüler schärfet, die Gemeinen des HErrn unterrichten, die göttlichen Wahrheiten mit solchen Gründen darthun, die ein ordentlicher und mittelmäßiger Verstand nicht fassen und sich zu Nutze machen kan; so trete ich gerne auf die Seite derjenigen, die wider das philosophische Predigen eifern.« Und ebd, Bl. c4r-v: »Ist ein philosophischer Prediger ein Mann, der seinen Vortrag nach den Regeln der Vernunftlehre einrichtet, die Sachen, von denen er handelt und geschickt erkläret, die Begriffe oder Gedanken, die durch die Worte der Schrift angezeiget werden, hervorziehet und auseinander setzet, die Vernunftschlüsse, die in der Schrift vorkommen, ausführet, die Lehren der Offenbarung, die in dem Gesetze der Natur gegründet sind, wenn es nöthig ist, durch die Vernunft bestärket, alle falsche Schlüsse, alles unkräftige Geschwätze, alle Ausschweifungen einer unbedachtsamen Einbildung aus seinen Predigten verbannet und sich sehr in Acht nimmt, daß seine Worte mit der Grösse und Heiligkeit der Sachen, die er abhandelt, übereinstimmen: Ist, sage ich, ein philosophischer Prediger ein Mann von dieser Art, so wird es wohl um die Gemeine unsers Erlösers stehen, wenn sich alle Diener des Evangelii, ein jeder nach dem Maaße der Gabe, die ihm zugefallen, und nach dem Zustand seiner Gemeine, bemühen, diesen Namen zu verdienen. [. . .] Es ist in gewissen Fällen erlaubt, und in andern Fällen gar geboten, auch im scharfen und engern Verstande philosophisch zu predigen. Wer wird es einem Manne verargen, der an solchen Oertern prediget, wo die Thorheit des Unglaubens und des Zweifels viele Anhänger und Freunde hat, wenn er die Grundlehren des Glaubens und der Religion durch solche Schlüsse zuweilen bevestiget, die der Weltweise nicht verwerfen darf, wo er seine eigne Wissenschaft nicht verleugnen will?« 493 [Schilling:] Anmerkungen. – Das Werk ist rezensiert in: Hamburgische Berichte von den neuesten gelehrten Sachen 8 (1739, Nr. LXXVIII, 6. Oktober), 667–670. 494 Vgl. bes. [Schilling:] Anmerkungen, 91 f. 495 Vgl. bes. [Schilling:] Anmerkungen, 92–94. 496 Gegenüber der Kritik von Brauns an Riebow bemerkte [Schilling:] Anmerkungen, 94: »Dem Hochberühmten Göttingischen Gottesgelehrten Hn. D. Riebow, der die Weltweisheit in einer nicht gemeinen Stärke besitzet, ist [. . .] der ganze 2. Theil, als eine Widerlegung des Bedenkens über die Frage: ob eine strenge Lehrart eine Ketzerey und der Gottseeligkeit nachtheilig sey [. . .] entgegen gesetzt. Man thäte den läppischen Einwürfen aber grosse Ehre an, wenn man sie hier anführen und beantworten wolte. Unsere gegenwärtigen 492

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Brauns’ Angriffen in Schutz nahm. Ihr Verfasser behauptete – die Argumentationsstrategie Mosheims und der Hamburgischen Berichte von gelehrten Sachen fortsetzend –, daß Brauns mit seiner Kritik das Kind mit dem Bade ausschütte.497 Zwar wurde seinen Einlassungen bedingt Recht gegeben, insofern sie sich auf den Mißbrauch der »philosophischen« Predigt bezögen; prinzipiell wurden sie aber für gegenstandslos erklärt. Zur öffentlichen Herabwürdigung Brauns’ war auch der Vorwurf geeignet, daß der Hannoversche Predigtamtskandidat mit seiner Kritik lediglich Oporins Richtschnur plagiiere, in seiner Argumentation »aber, weil er die grossen Fußstapfen des erstern nicht habe ausmessen können, [. . .] unvermuthet stecken [ge]blieben [sey]«498. Die stellenweise polemische Antikritik, die Gottsched im Grund-Riß als geeignete Widerlegung von Oporins und Brauns’ Einwürfen gelobt hatte,499 stieß in der Öffentlichkeit auf große Zustimmung. Ausgerechnet die Göttingischen Zeitungen von gelehrten Sachen, die Gottscheds Homiletik mit einer euphorischen Rezension bedenken sollten,500 waren inmitten des »Riebowschen Streits« von der Antikritik so angetan, daß sie auf eine Erwiderung Brauns’ geradezu hofften, um so dem Anonymus Veranlassung für eine erneute Replik zu geben und so mehr von ihm zu lesen zu bekommen: »Man wünschet bloß deswegen eine Antwort des Gegners auf diese Anmerkungen, damit dieser geschickte Mann Gelegenheit bekomme, in einer so nützlichen Materie mehr zu schreiben.«501 Dieser Wunsch sollte in gewisser Weise in Erfüllung gehen. Doch bevor es soweit war, stellt sich hier die Frage: Wer war eigentlich jener »geschickte Mann«, dessen Antikritik auf so große Zustimmung stieß? Durch einen Hinweis Brauns’ ist die Identifi zierung des anonymen Verfassers möglich.502 Es handelt sich zweifelsfrei um den in Naumburg (oder Lauenburg?) 503 geborenen Johann Jacob Schilling (ca. 1715–1742), der 1739 unter die Kandidaten des Hamburger Ministeriums aufgenommen wurde504 Anmerkungen können auch schon dem Verfasser an vielen Orten statt einiger Antworten seyn.« 497 [Schilling:] Anmerkungen, Bl. )(4r (Vorrede). 498 [Schilling:] Anmerkungen, 47–50, Zitat 48. 499 S. o. in Anm. 451. 500 Göttingische Zeitungen von gelehrten Sachen auf das Jahr 1740 (50. Stück, 23. Juni), 421–424. 501 Göttingische Zeitungen von gelehrten Sachen auf das Jahr 1740 (1. Stück, 4. Januar), 4–6, Zitat 6. 502 [Brauns:] Theologische Gedan[c]ken, Tl. 3, 352: »[. . .] und der Hr. G.[egner] sol Schilling heissen«. 503 So DBA I 1102, 320–322. 504 Die hamburgische Kirche und ihre Geistlichen seit der Reformation/ im Auftrag des Landeskirchenrats hrsg. von W. Jensen, Bd. 3: Die Kandidaten der hamburgischen Kirche von 1654 bis 1825. Album candidatorum/ bearb. von H. Bruhn, Hamburg 1963, 211 (Nr. 801).

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und als ein solcher auch seine Antikritik schrieb. Schilling war im Sommersemester 1734, d. h. zwei Jahre nach Brauns und rund drei Jahre vor dessen Wechsel nach Göttingen, in Jena immatrikuliert worden.505 Unter diesen Umständen waren sich die beiden Kontrahenten während ihres Studiums wahrscheinlich sogar persönlich begegnet, ohne daß damit gesagt ist, daß sie darum von Anbeginn ihrer literarischen Kontroverse auch wußten. Anders als Brauns war Schilling als Jenaer Student aber offensichtlich unter den Einfluß der dortigen Wolffianer geraten, in deren Geist er zum Kritiker seines eklektisch eingestellten Gegners wurde. Wohl nicht zuletzt wegen dieser Ausrichtung wählte Schilling 1737 auch Leipzig als Studienort,506 wo er vielleicht ein Hörer Gottscheds war. Brauns nahm jedenfalls den von Schilling geworfenen Fehdehandschuh – ganz wie von den Göttingischen Zeitungen erhofft – auf. Er veröffentlichte den dritten Teil seiner Theologischen Gedan[c]ken, den er dem bislang anonymen Gegner widmete.507 Da Brauns’ Ausführungen mit keinem Wort auf den zur Ostermesse 1740 veröffentlichten Grund-Riß Gottscheds eingingen und außerdem sein Buch bereits im Juni d. J. rezensiert wurde,508 ist davon auszugehen, daß der Text im Frühjahr 1740, etwa zeitgleich mit Gottscheds Predigtlehrbuch, publiziert wurde. In diesem Text, in dem Brauns nicht nur seine eigene Identität, sondern auch die seines Gegners (obschon recht vage) offenbarte, stellte der Oporin-Anhänger konsterniert fest, daß er und seine Kritik von Schilling völlig falsch verstanden worden waren.509 Daß es sich dabei um gezielte Ignoranz gehandelt haben könnte, dieser Gedanke kam Brauns offensichtlich nicht. Vielmehr beschwerte er sich – wie die lutherisch-orthodoxen Kritiker der »philosophischen« Predigt – über die alles andere als unparteiische Rolle der Presse. Denn im Falle der Hamburgischen Berichte hatten diese zwar eine zustimmende Rezension zu Schillings Anmerkungen gedruckt, in der Brauns’ Ansichten verzeichnet dargestellt worden

505 Die Matrikel der Universität Jena, Bd. 3, 229 (Nr. 213); hier jedoch Naumburg als Geburtsort. 506 Die jüngeren Matrikel der Universität Leipzig, Bd. 3, 354: »Schilling, Ioh. Iac. Numburg. i. 29. X. 1737.« 507 [Brauns:] Theologische Gedan[c]ken, Tl. 3 (1740), 5: »Dem ungenannten Herrn Gegner widmet Die auf folgenden Blättern enthaltenen Anmerckungen über eine Apostolische und Philosophisch=sinnreiche Lehr=Art, Zu einer redlichen Prüfung, der Verfasser der so genannten Theologischen Gedanken.« 508 Göttingische Zeitungen von gelehrten Sachen auf das Jahr 1740 (52. Stück, 30. Juni), 434–437. 509 [Brauns:] Theologische Gedan[c]ken, Tl. 3, 8 f.: »Ich fand aber bei diesem Denken, ohne mühsames Nachsinnen, daß Sie [sc. sein Gegner, Schilling; A. S.] weder die Lehr=Art der Apostel, wie ich selbige, und deren Nachahmung vorgestellet, noch die Absicht, welche ich bei den, aus den Schrifften des Herrn Abts Mosheims, und des Herrn Probsts Reinbecks, angezogenen Stellen gehabt, recht verstanden.«

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waren.510 Eine von Brauns angebotene Richtigstellung wurde von diesen aber unterdrückt, obwohl sich ihr Einsender – wie er ausdrücklich und empört bemerkte – dazu der Vermittlung eines »ansehnlichen Gottes=Gelehrten in Hamburg«511 bedient hatte.512 Summa summarum bot Brauns in seiner letzten Wortmeldung eine abermalige Darlegung und Begründung seiner Thesen, und zwar im Gegenüber zu den tatsächlichen oder vermeintlichen Fehlinterpretationen und Unterstellungen Schillings. Doch hätte Brauns ahnen können, daß seine Hoffnung vergebens war, die ihm und seiner Position gebührende Anerkennung zu verschaffen und damit eine Einflußnahme auf den homiletischen Diskurs zu bewirken. Denn eigentlich war er schon längst selbst zu der ebenso zutreffenden wie auch bestürzenden Einsicht gelangt, daß seine wolffianischen Gegner sich der vorgebrachten Kritik nie stellten, sondern sich ihr stets auf die eine oder andere Weise entzogen. Denn in der Reaktion der Wolffianer hatte er folgendes Verhaltensmuster erkannt: »Was thut man denn aber gemeiniglich auf der Seite, da kein Recht, noch Wahrheit ist? Man sucht die Leute vor allen andern zu überreden, die ganze Sache habe nicht viel zu bedeuten, es sey ein Wortstreit, die Zänker verstünden die Meinung des andern nicht recht; Oder, wenn man merkt, daß dieses nicht durchgehn werde; so bedient man sich, nach Art der Zungendrescher, weitläuftiger Umschweife: die Dinge, die zur wahren Entscheidung dessen, wovon eigentlich gehandelt wird, gehören, läßt man vorbei, damit die Hauptsache unausgemacht bleibe, und führt mit vieler Weitläuftigkeit Dinge aus, die mit der Sache selbst nichts zu thun haben, und womit man den Leser bemühet, seiner Gedult Gewalt anzuthun. Die Beweise der andern führt man nicht in ihrer Stärke, sondern so an, daß sie lächerlich scheinen sollen.« 513

Eine solche Argumentationsstrategie beobachteten auch andere Streitteilnehmer, wie der Wittenberger Magister Christian Gottlieb Kluge (1699– 1759) 514. Dieser befand sich zu eben dieser Zeit in einer Auseinandersetzung 510

Hamburgische Berichte von den neuesten gelehrten Sachen 8 (1739, Nr. LXXVIII, 6. Oktober), 667–670; die ein ausführliches Inhaltsreferat von Schillings Schrift bietende Rezension schloß mit dem für Brauns unvorteilhaften Resümee ebd, 670: »Und wäre auch dieses nicht [sc. daß der Streit fortgesetzt würde; A. S.] so ist genug, daß die Hauptsachen abgehandelt sind, und daß dem Verfaßer der theologischen Gedanken die Fehler in seinen Grundsätzen und Schlüssen gezeiget worden, als welches ihn in Zukunft behutsamer und vorsichtiger machen kan.« 511 [Brauns:] Theologische Gedan[c]ken, Tl. 3, 9. 512 Herausgeber der Hamburgischen Berichte von den neuesten gelehrten Sachen (1732–1757) war der studierte Theologe und Privatgelehrte Johann Peter Kohl (1698–1778; zu ihm ADB 16 [1882], 425), für den ich derzeit nicht klären kann, ob er mit dem Herausgeber der Hamburger Canzel=Reden und Organisator des Manteuffelschen Predigtwettbewerbs, Philipp Kohl, in irgendeiner Weise verwandt war. Wäre dieses der Fall, würde es Licht auf die personale Netzwerkstruktur der wolffianischen Predigtreformer werfen. 513 [Brauns:] Theologische Gedan[c]ken, Tl. 2, 51. 514 Zu Christian Gottlieb Kluge siehe DBA I 195, 187–191; 667, 99. – Vgl. zum folgenden auch Strassberger: »Auf-Klärung« durch Satire?, 74.

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mit der Wolffianischen Lehre der Unsterblichkeit der Seele, in welchem Zusammenhang er in einer Fußnote auf die homiletische Satire der Gottschedin zu sprechen kam.515 Dabei äußerte er den Verdacht, daß die Wolffianer ihren Gegnern regelmäßig die dümmsten und schwächsten Argumente andichteten, »(g)leich als ob man wider den Wolfianismum nirgends was Gründlicheres erinnert hätte«516 . Im Lager der Leipziger Wolffianer wurden Kluges Einwendungen jedoch als unzeitgemäße orthodoxe Zänkerei abgetan.517 Unter solchen Umständen verwundert es nicht, wenn Brauns’ letzte Kritik der »philosophisch-sinnreichen« Predigt keine neue Gegenschrift mehr hervorrief, sondern mit Stillschweigen übergangen wurde. Dennoch fi ndet sich eine letzte Wortmeldung Schillings, die gewissermaßen den Schlußstrich unter die ganze Kontroverse zog. Denn rund ein Jahr nach Brauns’ drittem Teil der Theologischen Gedan[c]ken legte Schilling, der sich in seinen Anmerkungen zweimal positiv auf Gottscheds Rhetorik berufen hatte518 und als ordentliches Mitglied der Deutschen Gesellschaft zu Jena 519 in Hamburg im Geiste des Leipziger Sprachreformers tätig geworden war,520 noch kurz vor seinem frühen Tod 521 seine homiletischen Prinzipien in systematisch-unpolemischer Weise dar, ohne dabei seine Ausführungen als Antwort auf Brauns’ letzte Schrift explizit zu profi lieren. Gleichwohl ergab sich ein solcher Zusammenhang von selbst. Denn in eben jener Hamburger Zeitung, die dem oben (S. 466) erwähnten anonymen holsteinischen 515 Ch. G. Kluge: Anmerckungen über den Vorbericht und die Vorrede Zu den Reinbeckischen Gedancken von der vernünfftigen Seele und der Unsterblichkeit derselben, in welchen wider die Verfasser, wie auch überhaupt wider die neuere Weltweißheit, Verschiedenes offenhertzig erinnert wird, Wittenberg und Leipzig 1740, 214 f. in Anm. (*). 516 Kluge: Anmerckungen über den Vorbericht, 214 f. in Anm. (*): »In der Abhandlung [sc. in Horatii (. . .) Zuruf an alle Wolffi aner (1739 21740) der Gottschedin; A. S.] selbst suchet man die Gegner des Herrn Wolfs dadurch verächtlich und lächerlich zu machen, daß man wider den Wolfianismum lauter solche Gründe fürbringet, welche mit dem, von dem Herrn Prof. Gottsched widerlegten, von einerley Gehalt sind. Gleich als ob man wider den Wolfianismum nirgends was Gründlicheres erinnert hätte.« 517 Brief des Mühlhausener Superintendenten Christian Wilhelm Volland (1682–1757) an Bartholomai (Weimar), 30. Januar 1741, zit. bei Th. Wotschke: Drei Freunde unserer alten Kernlieder in pietistischer Zeit, ZVKGS 20 (1924), 89 in Anm. 1: »Von seinen [sc. Kluges; A. S.] letzten Anmerkungen wider D. Propst Reinbeck melde an, daß solche in Dresden wohl aufgenommen worden. In Leipzig aber hätten D. Jöcher und D. Teller davon räsoniert, daß dem Verfasser zwar Gelehrsamkeit und Geschicklichkeit nicht abzusprechen, doch wäre er noch der einzige in Wittenberg, der den aus der Mode gekommenen spiritum contradictionis noch besäße.« 518 [Schilling:] Anmerkungen, 8. 11. 519 Marwinski: Der Deutschen Gesellschaft zu Jena, 51 (Nr. 55). 520 Schilling errichtete in Hamburg eine poetische Gesellschaft, »die sich unter seiner Aufsicht mit der Poesie nach den Regeln der Alten u. der Vernunft in ihrer Muttersprache beschäftigte«; DBA I 1102, 320. 521 Durch Mosheim, den Abt des Klosters Marienthal, zum Vizerektor der dortigen Schule ernannt und am 23. November 1741 eingeführt, starb Schilling bereits am 31. Dezember 1742.

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Briefschreiber und seiner Kritik von Oporins Theologischem Beden[c]ken so großzügig Raum gewährt hatte, veröffentlichte Schilling zwischen März und Juni 1741 drei aufeinander auf bauende Aufsätze, in denen er den Lesern den »wahren Begriff der apostolischen Beredtsamkeit« entwickelte, ausholend bei der philosophisch-rhetorischen Abklärung der Grundlagen und Bedingungen jeglicher Redepraxis überhaupt.522 Damit bot er eine Konzeption, die Brauns’ eklektischem Entwurf einer »apostolisch-einfältigen« Predigt durch eine wolffianisches Alternative substituieren sollte. In Göttingen, dem einstigen Ausgangspunkt der überregionalen Kontroverse um Oporins und Brauns’ homiletische Schriften, hatte der Streit bereits im Sommer 1740 mit der oben erwähnten Beteiligung Riebows und Ernst Christian Simonettis (1700–1782) 523 als interimistische Prediger am akademischen Gottesdienst seine faktische Entscheidung »von oben« gefunden.524 Noch bevor Simonetti sein theologisches Extraordinariat aufgrund sexueller Verfehlungen räumen und Göttingen verlassen mußte, publizierte er 1742 ein wolffianisch beeinflußtes525 Predigtlehrbuch, das aus seinem dortigen Homiletikunterricht hervorgegangen war.526 Inspiriert von Reinbecks Vorrede zu Gottscheds Grund-Riß527 knüpfte Simonetti an die von Oporin 522 J. J. Schilling: Philosophische Herleitung des ersten und allgemeinen Begriffs der Beredsamkeit, in: Hamburgische Beyträge zur Aufnahme der gelehrten Historie und der Wissenschaften 2 (1741, XVII. Stück, 2. März), 137–142; ebd, XVIII. Stück (6. März), 145–150. – Ders.: Vernunft= und schriftmässige Herleitung des eigentlichen Begriffes der biblischen Beredsamkeit, in: Hamburgische Beyträge zur Aufnahme der gelehrten Historie und der Wissenschaften 2 (1741, XXXVI. Stück, 15. Mai), 305–311. – Ders.: Gedanken über den wahren Begriff der apostolischen Beredtsamkeit, in: Hamburgische Beyträge zur Aufnahme der gelehrten Historie und der Wissenschaften 2 (1741, XL. Stück, 1. Juni), 353–358. 523 Wie Riebow bekleidete Simonetti (zu ihm DBA I 1187, 83–91) vor seiner Berufung als ordentlicher Professor der Philosophie und zum Prediger an der Jacobikirche in Göttingen die Stelle des Oberhofpredigers in Quedlinburg. Nach seinem 1746 erfolgten Weggang aus Göttingen wurde er 1749 außerordentlicher theologischer Professor in Frankfurt/Oder sowie Diakon (1760 Archidiakon) an der dortigen Marienkirche. 524 Vgl. nochmals Hammann: Universitätsgottesdienst, 63 f. 525 Hamburgische Berichte von den neuesten gelehrten Sachen 11 (1742, Nr. XCIV, 30. November), 753: »Das ganze Werk ist in der strengen Lehrart geschrieben, ob ihr gleich das eusserliche Kleid derselben fehlet.« 526 Simonetti: Vernünftige Anweisung, Bl. )(7v (Vorrede). – Zu seiner Homiletik s. o. in Kap. 2, Abschn. 3.3.4. 527 Simonetti: Vernünftige Anweisung, Bl. )(8v–)()(1r (Vorrede): »Es hat der von so vielen Vorurtheilen gereinigte seelige Reinbeck, dessen Andenken ich wie meines Vaters verehre, weil GOtt denselben als das sittliche Werkzeug mich zu einem gesitteten Menschen, vernünftigen Christen und Lehrer seiner Gemeine zu machen, so weislich und väterlich gebrauchet, eine Anweisung zu einer Lehrart ordentlich und erbaulich zu predigen besorget, und mit einer kurtzen Einleitung, wie eine gute Predigt abzufassen sey, begleitet. Dieser Vorbericht, und die Abhandlung selbst, sind überhaupt gründlich und wol abgefast. Ein jeder wird aus der Betrachtung dieser und meiner Arbeit selbst einsehen, worinnen wir übereinstimmen, und worinnen ich weiter gedacht und weiter gegangen.«

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und Brauns bekämpfte »philosophisch=sinnreich[e] Lehrart im Predigen« 528 an und dokumentierte damit den zwischenzeitlichen Triumph der homiletischen Wolffianer in Göttingen. Doch mit dem 1742 zum ersten Universitätsprediger berufenen Christian Kortholt (1709–1751) 529 lebte die kritische Tradition Göttingens wieder neu auf. Denn mit ihm kam ein Prediger nach Göttingen, der in einer 1746 publizierten Einladungsschrift zu seinen homiletischen Privatvorlesungen 530 massiv dafür plädierte, Gottscheds Integration der Homiletik in die Rhetorik rückgängig zu machen und zu ihrer theologischen Behandlung zurückzukehren.531 Im Rückgriff auf seinen »homiletische[n] Lehrer Oporin«532 revitalisierte Kortholt die theologische Kritik am wolffianischen Predigtmodell.533 Damit leitete er eine Entwicklung ein, 528 Hamburgische Berichte von den neuesten gelehrten Sachen 11 (1742), 754: »Auch diejenigen, welche aus dem Namen einer philosophisch=sinnreichen Lehrart im Predigen ein Vorurtheil geschöpfet, werden sich an mehrere Stellen und Ausdrücke des Hn. Professors stossen.« Daß Simonettis Homiletik tendenziell gegen Oporin gerichtet ist, bemerkt auch Baur: Die Anfänge der Theologie, 36. 529 Vgl. dazu ausführlich Hammann: Universitätsgottesdienst, 222–234. 530 Ch. Kortholt: Einladung zu seinen Lehr=Stunden, in welchen er, eine Anweisung zur Geistlichen Beredsamkeit zu ertheilen gesonnen ist. Nebst einigen Anmerkungen von dem Unterscheid der geistlichen und weltlichen Beredsamkeit, Göttingen 1746. Vgl. dazu Hammann: Universitätsgottesdienst, 227–229. 531 Die Rezension von Kortholts zwölfseitiger Schrift in: Neue Theologische Bibliothek 1 (1747), 239 faßte den Hauptinhalt wie folgt zusammen: »Die Meinung des Herrn Prof. Gottscheds, als ob die Anleitung zur geistlichen Beredsamkeit überflüßig, und es vergeblich sey, die Redekunst in eine geistliche und weltliche einzutheilen, fi ndet hier und da voreiligen Beyfall. Der Herr Doctor zeiget daher, wie unrichtig dieses Vorgeben und was zwischen der geistlichen und weltlichen Beredsamkeit noch wirklich für Unterschied sey.« 532 Hammann: Universitätsgottesdienst, 227; Kortholt war während der Jahre seines Kieler Studiums (1723–1729) in die homiletische Schule Oporins gegangen; ebd, 222. 533 Vgl. beispielsweise Kortholt: Einladung zu seinen Lehr=Stunden, 7 f. (§. VI): »Es ist zuforderst höchstnöthig, daß eine nähere Anweisung gegeben werde; wie die nüzlichsten Wahrheiten aus der heiligen Schrift, auf eine leichte und deutliche Art, können hergeleitet, und bündig erwiesen werden. [. . .] Nun gehöret es zwar zu den Vorzügen unserer Zeiten; daß man mehr als jemahls, auch in den Predigten, bündige Beweise fordert. Allein, so lobenswürdig dieses an und vor sich ist; so sehr ist es zu bedauren; daß einige auf den irrigen Wahn verfallen; als wenn nur eine Reihe an einander hängender Vernunft=Schlüsse, welche aus den ersten Grundwahrheiten abgeleitet worden, den Namen eines recht bündigen Beweises verdiene. Daher sie dann dieselbe als die gröste Zierde ihrer geistlichen Reden betrachten. Es ist wahrscheinlich; es habe zu diesem schädlichen Vorurtheil die übelgegründete Lehre derer nicht wenig beigetragen, welche unter der geistlichen und weltlichen Beredsamkeit keinen Unterschied zugeben wollen.« Und ebd, 8 f. (§. VIII): »Es muß nehmlich auf der Canzel dieser Beweis: So spricht der HErr, allezeit der vornehmste seyn. Und es gilt dieses nicht nur in dem Fall, wann von Geheimnissen des Glaubens die Rede ist, von denen nur allein die heilige Schrift Nachricht ertheilet. Auch diejenigen Wahrheiten, welche gleichfals aus dem Lichte der Natur bekant sind, müssen aus dem geoffenbahrten Worte GOttes dargeleget und erwiesen werden. Dann in derselben werden sie weit volständiger vorgetragen, und in ein viel helleres Licht gesetzt, als solches, vermittels der besten Vernunft=Schlüsse, jehmals geschehen kan. Besonders ist es noth-

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die es anderen Homiletikern, wie z. B. dem Lingener Rektor Ferdinand Stosch (1717–1780),534 einem von Alexander Gottlieb Baumgarten beeinflußten Mitglied der Göttinger Deutschen Gesellschaft, oder dem oben erwähnten Crusianer und Göttinger Universitätsprediger Paul Jakob Förtsch ermöglichte, das Göttinger Ideal einer gleichermaßen »biblischen« wie vernunftgemäßen Predigt nach der Jahrhundertmitte weiterzuentwickeln.535

wendig; daß die Ermahnungen zur Tugend, und die Warnungen vor Laster sich auf die heilige Schrift gründen. (e) [(e) S. Herrn D. Joach. Oporins theologisches Bedenken über den Grundriß einer Lehr=Art ordentlich und erbaulich zu predigen. §. 16. p. 49.]« 534 F. Stosch: Gedancken von dem Neuen in Predigten, an die genennete Hochlöbliche Gesellschaft, Göttingen [o. J.] (Dyck/Sandstede: Quellenbibliographie, Nr. 1751/26 notieren 1751 als Erscheinungsjahr); ders.: Gedanken von der Apostolischen Einfalt in Predigten so wohl überhaupt als auch insbesondere in dem äusserlichen Vortrage. an die Bremische Teutsche Gesellschaft, Göttingen 1753. Stosch, der in beiden Schriften G. F. Meiers Ästhetik rezipierte, betonte sowohl die prinzipielle Rhetorizität der Predigt als auch (v. a. in letzterer von beiden) deren theologische Andersartigkeit; ebd, 10 f.: »Der Vortrag der Apostel ist kirchlich. Er unterscheidet sich gänzlich von den unheiligen, heidnischen oder auch bloß weltlichen und bürgerlichen Reden, es sei auf der Schaubühne, oder in dem Götzen=Tempel, oder auch dem gelehrten Lehrstuhl, oder vor dem Gerichte. Er ist so beschaffen, wie es sich in der Kirche, vor der Gemeine berufener Heiligen geziemet, wie ihn diese am besten verstehen und am füglichsten dadurch können überzeuget und gewonnen werden.« – Zu Stosch, dem späteren Rektor am Joachimthalschen Gymnasium in Berlin, siehe ADB 36 (1893), 462 f. (P. Tschackert). 535 Förtsch: Anweisung zum erbaulichen Predigen. – Zu Förtschs Homiletik und Predigtpraxis siehe Hammann: Universitätsgottesdienst, 251–261. Förtsch, der seine Homiletik im Gefolge der für Göttingen maßgeblichen Orientierung an der thomasischen Philosophie als prudentia-Lehre entfaltet (vgl. Förtsch: Anweisung, 1: »§. 1. Die Homilie ist eine besondre Klugheitslehre, in welcher gezeigt wird, wie man eine Predigt einzurichten habe, daß der Endzweck derselben erreicht werden kann.«), entwickelte parallel dazu auch die Katechetik als »theologische Klugheitslehre«; vgl. dazu M. Schian: Die Sokratik im Zeitalter der Auf klärung, Breslau 1900, 39–42.

Kapitel 5

Die Krise der »philosophischen« Predigt Auch wenn der Streitverlauf zu Anfang der 1740er Jahre vielleicht den Eindruck vermittelte, als ob die Anhänger der »philosophischen« Predigt den Kampfplatz als Sieger verlassen könnten, blieb die aus Kreisen der pietistisch-eklektischen »Übergangstheologie« vorgetragene Kritik, die teils grundsätzliche Bedenken anmeldete, teils auf vermittelnde Lösungen drang, doch nicht ohne Wirkung. So signalisierte die Publikation von Gottscheds Homiletik – retrospektiv gesehen – nicht den Beginn des Siegeszuges der »philosophischen« Predigt, sondern deren Höhepunkt, und die zweite Auflage seines Predigtlehrbuchs (1743) markierte bereits die Zeit ihres einsetzenden Niedergangs, der sich durch ein Anschwellen der kritischen Stimmen ankündigte. So schloß sich mit dem Tübinger Christoph Matthäus Pfaff 1 1742 ein außerordentliches Ansehen genießender Theologe den bislang geäußerten Vorbehalten gegen die »philosophische« Predigt in einer öffentlichen Erklärung – wenn auch nur en passant, so doch aber nicht ungehört – an.2 Im Jahr darauf propagierte der Frankfurter Pastor Johann Philipp Fresenius (1705– 1

Zu Pfaff (1686–1760) siehe BBKL 7 (1994), 408–412. Ch. M. Pfaff: Academische Reden Uber das so wohl allgemeine als auch Teutsche Protestantische Kirchen=Recht, Franckfurt 1747 [zuerst: Tübingen 1742], kam auf das »sinn=reich[e]« Predigen »nach der Philosophischen, Logicalischen oder gar Mathematischen Lehr=Art« (ebd, 190) zu sprechen, von dem er ebd, 191 meinte: »Es ist überhaupt ein sehr falsches suppositum, wenn man glaubet, die Bekehrung geschehe durch syllogistische und philosophische Vorstellungen. Es wäre den Layen, es wäre allen, die kein ingenium logicum oder systematicum haben, weit gefehlet, denn es versperrete solches ihnen den Weg zum Himmel=Reich. Doch was sagen wir hievon vieles? Ist das Werck der Bekehrung übernatürlich und ein Wunder, wie man zugibt, und in rechtem Sinne wahr ist, so ists ja wohl artig, wenn man saget, es werde durch eine mathematische Lehr=Art bewircket. Der Geist GOttes rühret das Hertz durch das Wort ohne viele und zusammen gekettete Schlüsse.« – Sein ursprünglich stark pietistisch beeinflußtes Homiletikverständnis hatte Pfaff zuvor wie folgt dargelegt: Ch. M. Pfaff: Rede Von der Verbesserung der hohen Schulen und Ausrottung der Pedanterey auf denselben, Welche Er Zu Tübingen im Neuen Hof den 13. Aug. 1720. als Er Die Professionem Theologiae Primariam sammt der Cantzler=Würde glücklich angetreten [. . .] öffentlich gehalten. Nach dem Lateinischen ins Teutsche übersetzet, in: ders.: Academischer Discours Von den Mängeln der Geistlichen und wie denselben abzuhelffen. Wegen seiner Fürtreffl ichkeit aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt, Franckfurth und Leipzig, 1721, 46 f.: »[. . .] Homiletic, (ich verstehe diejenige, so auf eine männliche, einfältige und lebhaffte Weise, ohne Kunst, die theoretisch= und practischen Geheimnisse vor dem Volcke, mit Gewinnung und Uberführung 2

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1761),3 der postume Herausgeber von Rambachs Praecepta homiletica, das Modell einer »apostolischen« Predigt im Geiste eines »Pietismus Rambachscher Prägung«4, wobei er mit Seitenhieben auf die homiletischen Wolffianern keineswegs zurückhielt.5 Ebenfalls 1744 veröffentlichte der berühmte Hallesche Theologe Siegmund Jakob Baumgarten, der über Gottscheds Homiletik Vorlesungen abhielt, seine Auffassung zur Frage, »obs erlaubt und ratsam sey auf der Kanzel zu philosophiren oder philosophisch zu predigen?« 6 . Dabei unterstützte er teils die Intentionen Gottscheds,7 teils widersprach er ihnen aber auch.8 Im Chor der Kritiker folgten 1745 die gleichermaßen pietistisch der Gemüther erkläret, die fleischlichen Vorurtheile bestürmet, und das Gemüth zum wahren Begriff himmlischer Dinge und zur geistlichen Veränderung anleitet«. 3 Zu Fresenius siehe ADB 7 (1878), 353 f.; RGG 4 3 (2000), 345 (K. v. Orde); G. J. Raisig: Theologie und Frömmigkeit bei Johann Philipp Fresenius: eine Studie zur Theorie und Lebenspraxis im Pietismus der frühen Auf klärung, Frankfurt am Main 1975. 4 H. Steitz: Johann Philipp Fresenius, RGG3 2 (1958), 1127. 5 J. Ph. Fresenius: Antrits=Rede von der Apostolischen Lehr=Art, als dem besten Muster nach welchem Ein Prediger des Evangelii Seine Lehren einzurichten hat: Wie solche bey Ubernehmung Seines öffentlichen Lehr=Amtes zu Franckfurt am Mayn am Sonntage Rogate 1743. in der Sanct Peters Kirche daselbst vorgetragen worden, Frankfurt a. M. 1743, 33 f.: »Ein Glaube, der nur auf Menschen=Weißheit ruhet, ist ein gekünstelter Glaube, ein menschlicher Beyfall, welchen die blose Vernunft den Gründen der Wahrheit gibt, ein todter Hirn=Glaube, der das Hertz nicht angreift, wandelt und reiniget [. . .]. Einen solchen Glauben wircken diejenigen Lehrer, welche das Wort GOttes nicht anders, als die Philosophie, tractiren, und ihre ganzte Kunst in vernünftige Reden menschlicher Weißheit setzen.« 6 S. J. Baumgarten: Kurtzgefaste casuistische Pastoraltheologie, erleutert und herausgegeben von J. F. Hesselberg, Halle 1752, 599–606 (§. 63), Zitat 599; die Frage wurde zuerst gestellt und beantwortet in: ders.: Theologische Bedencken. Dritte Samlung, Halle 1744, 335 (§. 48). 338–340 (§. 51). 7 Baumgarten: Kurtzgefaste casuistische Pastoraltheologie, 599: »Wenn diese Frage anzeigen sol, daß ein Prediger 1) sich der möglichsten Uberzeugung seiner Zuhörer, doch ohne Nachtheil der Bewegung derselben befleißige; folglich sowol den Vortrag ordentlich, deutlich, gründlich und behutsam einrichte, als auch sich aller leeren Worte, zweideutigen Ausdrucke, untauglicher Gründe, unrichtiger Schlüsse und verworner oder ungereimter Vorstellungen sorgfältig enthalte; 2) die gemischte Warheiten des götlichen Lehrbegrifs, doch ohne Nachtheil und Beiseitsetzung der biblischen Beweise, aus der Vernunft zu bestätigen und zu erleutern [. . .] suche; 3) die ersten Grundwarheiten des Geoffenbarten Lehrbegrifs gegen Freigeister und Religionsspötter zu retten, und aus der Vernunft zu behaupten sich bemühe: so ist das erste allezeit notwendig, das andere und dritte aber nach der eigenen Fähigkeit des Lehrers, auch Beschaffenheit der Zuhörer einzurichten.« 8 Würde unter einer »philosophischen« Predigt aber verstanden, daß man erstens »sich allein nach den Regeln einer genauen und scharfsinnigen Lehrart und Wissenschaft zurichten habe, folglich die äusserste Schärfe der Erklärungen und Beweise suchen, unverständliche Kunstworte gebrauchen [. . .] oder gar alles in förmliche Vernunftsschlüsse verfassen könne« (Baumgarten: Kurtzgefaste casuistische Pastoraltheologie, 600 f.), man zweitens allein gemischte Wahrheiten mit Vernachlässigung der geoffenbarten vortrage, und diese allein oder hauptsächlich aus der Vernunft sowie drittens sein Hauptwerk darin sehe, die göttlichen Wahrheiten gegen die Einwürfe der Freigeister darzutun, »so ist solches alles verwerfl ich, und streitet theils wider den Endzweck der Predigten, theils wider

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wie auf klärungsrhetorisch beeinflußten Thüringer Pfarrer bzw. Theologen Johann Gebhard Pfeil9 und Johann Georg Walch10, die ihre ausführlich begründeten Bedenken an der »philosophischen« Predigt der Öffentlichkeit zur Prüfung vorlegten. 1746 bezogen dann gleich drei Autoren auf je unterschiedliche Weise Stellung gegen die »philosophische« Predigt im allgemeinen bzw. gegen Gottscheds Integration der Homiletik in die Rhetorik im besonderen: der reformierte Bückeburger Hofprediger Johann Heinrich Meister (1700–1781) 11, der oben erwähnte Göttinger Universitätsprediger den vernünftigen Gebrauch, und die richtigen Regeln der Vernunftlehre und Weltweisheit« (ebd, 601). 9 Pfeil: Abhandlung, bes. XII–XXIII; Pfeil plädierte ebd, XLVII f. nachdrücklich für eine apostolische Beredsamkeit des Geistes, in der keine homiletische Anweisung unterrichten könnte: »Man sieht leicht, daß ich hier eine Schule des heiligen Geistes abbilde, und daß ein Lehrer in derselben nicht nach Kunstregeln, sondern nach Vorschrift und Trieb seines Meisters verfahren muß. Daher glaube ich nicht, daß die homiletische Wissenschaft an sich selbst einen Zeugen JEsu mache, oder ihm Anleitung zu einer apostolischen Predigt verschaffen könne. Ich setze zum voraus, daß ein Lehrer die seelige Veränderung an sich selbst erfahren habe und durch den Glauben an JEsu Blut aus seiner natürlichen Finsternis zum Licht des Lebens gelanget sey; [. . .].« Gleichwohl hielt er unter diesem Vorzeichen die Anwendung von »weltlichen Künsten« für keineswegs völlig unnütz, sondern empfahl ebd, XLIX in Anm. * in diesem Zusammenhang nachdrücklich die in Gottscheds Beiträgen zur critischen Historie der teutschen Sprache empfohlene Homiletik Blaise Gisberts mit folgenden Worten: »Zu Erhaltung dieses seeligen Endzwecks wird ein junger Prediger des Jesuiten, Blasius Gisberts Christliche Beredsamkeit von Herrn M. Kornrumpffen 1740. zu Leipzig ins Teutsche übersetzt mit unbeschreiblichen Seegen und Nutzen gebrauchen. Man kan auch nur aus dem Auszug dieses Buches, so in dem 23. Stück der Beyträge zur Critischen Historie der Teutschen Sprache p. 434. befi ndlich ist, sehen, wie viel köstliches in dem Buche enthalten sey.« 10 Walch: Abhandlung von dem verderbten und gesunden Geschmack, in: Beiträge zur Beredsamkeit, Tl. 4, 780–790 (§§. 7–9); der Abruck bei Cappelmann erfolgte mit dem Ziel, durch eine ganze Reihe von beigefügten Anmerkungen Walchs Kritik zu destruieren. 11 Es handelt sich um die Siegmund Jakob Baumgarten gewidmete Homiletik des in der Schweiz studierten J. H. Meister (Le Maître): Unterricht Von der Leichtesten und natürlichsten Art zu Predigen, Aus dem Französischen übersetzt, von L. F. A. Dilthey, Und von dem Verfasser selbst aufs neue durchgesehen und starck vermehret, Halle 1746, bes. 105– 175; die französischsprachige Ausgabe erschien zuvor unter dem Titel: Réfexion sur la manière de prêcher la plus simple et la plus naturelle, Halle et Leipsic 1745. – Der eklektische Theologe Friedrich Wilhelm Kraft bemerkte zur »antiphilosophischen« Pointierung dieser Homiletik, die sich ebd, 118 f. in Anm. (r) für die Ablehnung einer mystisch-pietistischen »Sprache Canaans« auf die preußische Kabinettsorder von 1739 berief, folgendes: Neue Theologische Bibliothek 1 (1747), 629–633, hier 633: »Das vierte Capitel von dem Wohlanständigen der christlichen Canzelreden, welches sonst in verschiedenen Anweisungen übergangen, oder nur zuletzt noch in der Flucht zusammen geraffet wird, ist hier das weitläufigste. Es wird unter vielen schönen Erinnerungen, auch ein Zeugniß wider die philosophischen Predigten abgelegt, das den Liebhabern derselben von einem so vernünftigen Manne, wie Herr le Maitre ist, etwas unerwartet vorkommen, aber eben deswegen von desto größerm Nachdrucke seyn dürfte.« – Zu Meister (Le Maître), der seinen Jugendfreunden Bodmer und Breitinger zeitlebens eng verbunden blieb und deshalb im

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Christian Kortholt12 sowie abermals Walch mit seiner Sammlung Kleiner Schriften von der Gottgefälligen Art zu predigen13. 1747 trug außerdem der Baden-Durlachische Hofprediger Johann Friedrich Stein (1707–1771) seine zwischen den Fronten vermittelnde Auffassung vor, die ebenso grundlegende Positionen von Gottscheds Homiletik wie auch Einwände seiner Kritiker rezipierte.14 Daran schloß sich 1748 die Kritik des ehemaligen Jenaer Adjunkten der Philosophischen Fakultät und mittlerweile zum Professor am Braunschweiger Collegium Carolinum berufenen Johann Andreas Fabricius an, der sich als bedeutendster Vertreter der rhetorischen (Früh-)Auf klärung neben Gottsched und Hallbauer für seine Kritik – wie oben anmerkungsweise erwähnt – der Polemik Langes bediente.15 Mit Blick auf die »Wolffschen Predigten« eines Jean Des Champs kritisierte er die »philosophischen« Prediger als blinde Nachahmer Mosheims, die – der göttlichen Erbauung vergessend – die Tempel Gottes mit ihren homiletischen Demonstrationen auf eine ganz falsche Art mit Philosophie füllten und so beinahe einen Rückfall in die Zeiten der Scholastik herbeiführten.16 Ein Jahr nach FabriZusammenhang mit den Literaturanschauungen der Schweizer zu beurteilen ist, siehe ADB 21 (1885), 259 (Breitinger). 12 Kortholt: Einladung zu seinen Lehr=Stunden. 13 Sammlung kleiner Schriften (vordatiert auf 1747). 14 Stein: Abhandlung 1. Von den Haupttheilen, 843–857 (§§. 12–14); Steins nachdrückliches Plädoyer für das Existenzrecht der »philosophischen« Predigt, das sich der ausgewiesenen Rezeption von Gottscheds Homiletik verdankte (ebd, 854 in Anm. 848), wurde jedoch ebd, 856 f. mit der nicht unwesentlichen Einschränkung versehen: »Doch seze ich nochmal hinzu, der Kirchenredner muß mit dergleichen Gründen aus der Vernunft sparsam, vorsichtig und klug umgehen, daß er in keine Trockenheit gerathe, und mit der Schrift alles wol verbinde, ja die Beweise der Offenbarung den philosophischen weit vorziehe.« – Zu Stein siehe DBA I 1217, 309 f. 15 Fabricius: Regeln, 33 meinte, daß mit dem Charakter eines Predigers »ein gewisser definitions- und demonstrationsküzel« streitet, der »zu unsern zeiten [. . .] junge leute gleichsam bezaubert, daß sie ihre philosophische weißheit, darin sie kaum einen anfang gemacht haben, mit grossem auf heben und geschreie auf der kanzel vorbringen. [. . .] Wie lächerlich klingt es nicht, wenn man bei den worten: Da Jesus vom berge herab gieng, folgete ihm viel volks nach, etc. sorgfältig defi nirt, was ein berg, herab gehen, nachfolgen, volk, etc. sei, und dabei gar ängstlich demonstriret, daß man von einem berge ordentlich herab zu gehen, ein sehr langes planum inclinatum haben müsse?« Gegen den Endzweck einer Predigt oder die Natur der Sache handelten nach Fabricius ebd, 19 alle diejenigen, »welche wenn sie geistliche redner abgeben wollen, die göttlichen geoffenbarten wahrheiten, dadurch man busse und glauben erwecken sol, ganz beiseite sezen, eine blosse weltliche beredsamkeit zeigen, sich nur mit philosophischen demonstrationen beschäftigen und nur auf eine ungereimte weise an der heiligen stelle ihre profangelehrsamkeit auskramen und an den tag legen [. . .]«. 16 Fabricius: Historia eloquentia sacrae, LVXXXV f.: »§. XXV. Ex quo vero venerabilis Mosheimivs inclaruit tempore, tota fere eloquentia sacra mutationem insignem passa est, accentibus ex Philosophiae castris multis nouum concionandi genus comminiscentibus, quorum non reprehenderem conatum, nisi quidam caeci illius summi viri tentarent fieri imitatores, quidam etiam omni strepitu id agerent, vt obliti aedificationis diuinae, Philosophicis suis demonstrationibus aedes sacras praepostere replerent penitus. [. . .] Sic incidimus

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cius veröffentlichte schließlich ein gewisser Johann August Mascau eine verschollene und deshalb nur noch über diverse Rezensionen nachweisbare Schrift, in der ihr nicht näher bekannter Verfasser17 den Beweis zu führen versuchte, »daß einem geistlichen Redner eine mathematische Erkenntniß nicht nöthig sey«18. Wenn es auch nicht an Versuchen fehlte, die Notwendigkeit einer »philosophischen« Predigt nach wie vor zu behaupten,19 zeigten gerade die Reaktionen auf Mascaus Einspruch, der sich gegen eine 1746 veröffentlichte Schrift des Baumgarten-Schülers Johann Christian Dommerich 20 (1723– 1767) richtete, wie stark die allgemeine Stimmung innerhalb nur weniger Jahre zuungunsten der »philosophischen« Predigt umgeschlagen war. Während schon drei Jahre zuvor die von Friedrich Wilhelm Kraft im eklektischen Geist redigierten Nachrichten von den neuesten Theologischen Büchern und Schriften Dommerichs Werk mit bissiger Ironie behandelt hatten,21 schlugen fere in eadem cum aeuo scholasticorvm, ante Lvtheri reformationem, colente summum Aristotelem pro concionibus tempora, vt nouo quodam Lvthero, nouos Stagiritas ex cathedra ecclesiastica deturbante, pous videatur.« – Der Hinweis auf Des Champs: Cinq Sermons, sowie desselben kritische Besprechung in UN 1740, 156 fi ndet sich ebd, LXXXVI in Anm. *). 17 Trotz intensiver Suche konnte ich zu Mascau keine weiteren Angaben ermitteln. 18 J. A. Mascau: Beweis, daß einem geistlichen Redner eine mathematische Erkenntniß nicht nöthig sey, in einem Sendschreiben geführet, Altona: Gebrüder Korte, 1749. – Titel der Schrift zitiert nach der Rezension in: Neue Theologische Bibliothek 3 (1749), 899 f.; weitere Anzeigen bzw. Rezensionen in: Göttingische Zeitungen von gelehrten Sachen 1749 (24. Stück, 10. März), 192; Hamburgische Berichte von den neuesten gelehrten Sachen 18 (1749, Nr. 11, 7. Februar), 86 f. 19 Vgl. beispielsweise L. Reinhard: Vorrede von der Nothwendigkeit einer Philosophischen Beredtsamkeit in Predigten, in: ders.: Vierte Sammlung Biblisch=Homiletischer Dispositionum (1749), Bl. A4r-B1v. Reinhards Plädoyer, das sich u. a. auf Mosheim und Gottsched stützte, lag folgende Defi nition der »philosophischen« Predigt zugrunde; ebd, Bl. A4v-5r: »§. II. Eine Philosophische Beredtsamkeit nenne ich die Geschicklichkeit, eine Sache so ordentlich vorzutragen, daß der Verstand überzeuget, und der Wille gelencket, und folglich das Hertz gerühret werde. Denn so dann ist die Rede ordentlich, wenn Worte und Sätze mit richtigen Begriffen und Urtheilen in einer angenehmen Verbindung stehen; sodann aber ist sie nachdrücklich, wenn, bey einer klugen Wahl der bequemsten und richtigsten Beweis=Gründe, ein Satz mit durchdringenden Worten den Gemüthern eingeflösset wird.« 20 J. Ch. Dommerich: Beweis Daß einem Geistlichen Redner Eine mathematische Erkentniß nötig sey. Lemgo 1746. – Zu Dommerich siehe ADB 5 (1877), 326 f.; DBA I 247, 228–241. 21 Nachrichten von den neuesten Theologischen Büchern und Schriften 5 (1746), 892–895; der Rezensent, vermutlich Friedrich Wilhelm Kraft selbst, las mit ironischen Spitze aus den Dommerichs Äußerungen die beständige Ermahnung heraus, daß der Prediger dieses oder jenes »mathematisch« anzustellen habe bzw. ihm eine »mathematische« Erkenntnis unumgänglich sei. Bei der inhaltlichen Zusammenfassung des Textes kommt in beinahe jedem Satz das Wort »mathematisch« vor, das der rezensierten Schrift bereits auf diese Weise etwas Absurdes unterstellt. Am Ende der Rezension heißt es ebd, 895: »Auch die Gebeter müssen nach mathematischer Erkenntniß eingerichtet seyn, das ist, ein geistlicher Redner muß die Grade der Inbrunst des Herzens und der sinnlichen

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sich nun auch die progressiven Hamburgischen Berichte von den neuesten gelehrten Sachen, die in der Kontroverse um Brauns’ Schriften noch auf Seiten der »philosophischen« Predigt gestanden hatten, auf Mascaus Seite und stimmten seinen Einwänden weithin zu.22 Dommerich blieb nichts anderes übrig, als diesen Stimmungsumschwung, der sich gegen die demonstrative Lehrart Wolffs allenthalben breitmachte, halb verwundert, halb verärgert zur Kenntnis zu nehmen und als Rückfall in längst überwunden geglaubte Zeiten zu beklagen.23 Doch konnte man dies auch ganz anders sehen. Denn die angezeigten Veränderungen waren augenscheinlich einem breitflächigen Wandel in der Beurteilung der Grenzen der Leistungfähigkeit der Wolffschen Philosophie geschuldet, der nicht als Rückschritt, sondern als Fortschritt der philosophischen Erkenntnis Einfluß auf die Rahmenbedingungen des homiletischen Diskurses nahm. Während die Wolffsche Inthronisierung der Vernunft als leitende Erkenntniskraft und die darauf abgestimmte Demonstrationsmethode für eine Generation von Gelehrten und Studenten zuvor der Grund gewesen war, den aus Halle vertriebenen PhiloBewegungen des Körpers samt ihrem Verhältniß zu einander recht zu bestimmen wissen. [. . .] Wir wollen die Prüfung dieser Sätze, die zuweilen gar seltsam klingen, andern überlassen: doch glauben wir davon hinlänglich überzeugt zu seyn, daß zu einem rechtschaffenen Gebet die Erkenntniß von den Grössen der Dinge so wenig als zur Erbauung nöthig sey.« 22 Hamburgische Berichte von den neuesten gelehrten Sachen 18 (1749), 86 f.: »Daß sich in unseren Tagen eben so grosse oder noch wohl grössere Fehler in die Beredsamkeit auf der Kanzel eindringen, als dieienigen waren, welche man vor kurzer Zeitaus derselben ausgemerzet hat: kan niemand, der die Sache vernünftig betrachtet, so leicht in Abrede seyn. Hr. Joh. Christ. Dommerich, welcher anietzo auf der helmstädtischen hohen Schule eine Lehrerstelle bekleidet, wolte vor einiger Zeit in einer eigenen Schrift erweisen, daß die mathematische Erkentnis einem geistlichen Redner unentbehrlich sey. Er hat aber in gültiger Erweisung seines Satzes, dem Hn. Mag, Maskau, nebst vielen andern so wenig ein Genüge gethan, daß er ihm in gegenwertiger Schrift das Obstat hält, und eine solche Art zu predigen, die gar zu sehr nach der Strenge einer mathematischen Lehrart eingerichtet ist, unter dieienigen Abwege zehlet, die ein ieder sich zum Predigamt Vorbereitender ernsten Fleisses zu vermeiden habe. [. . .] Er [sc. Mascau; A. S.] verschweiget den Nutzen der mathematischen Lehrart, wan sie zu rechter Zeit angebracht wird, keines weges: iedoch verhehlet er eben so wenig den mannigfaltigen Schaden, welchen die heutzu Tage auf vielen, (sonderlich lutherischen) Kanzeln erschallende, philosophische Predigten anrichten, da der gröste Hauffe, welchem die Sprache der heutigen Philosophen so zu sagen böhmische Dörfer sind, aus deren Predigten eben so klug und erbaut wieder herausgehen, wie sie hinein gekommen sind. Was eine natürlich schöne, einfeltige und dabei eine gute Erbauung schaffende Art zu predigen sey, wird von dem Hn. Verfasser hierauf gar deutlich gewiesen, und selbige auf eine löbliche Art angepriesen.« 23 J. Ch. Dommerich: Anweisung zur wahren Beredsamkeit zum Gebrauch seiner Vorlesungen. Zweite verbesserte Aufl age, Lemgo 1750, Bl. c2r (Vorrede zur zweiten Aufl age; datiert Wolfenbüttel, 8. des Herbstmonats 1749): »Fürs andere so klingt das Wort mathematische Lehrart in unsern Tagen schon in vieler Ohren ganz verdächtig. So eifrig man vor einigen Jahren darauf war, so übel ist man izo darauf zu sprechen. [. . .] So veränderlich ist der Geschmack der Menschen. So ändern sich die Zeiten, und mit denselben die Art des Vortrags. Das alte wird beständig wieder neu.«

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sophen zum obersten Lehrer aller Wissenschaften zu erheben, verschaffte sich jetzt – zum Teil noch bei Vertretern derselben, besonders aber der jüngeren Generation – ein Unbehagen Luft, das den Wolffschen Rationalismus und seine damit in Zusammenhang stehende tendenzielle Herabstufung der unteren Seelenkräfte (des Gefühls und der Sinneserkenntnis) je länger, je mehr als erkenntnistheoretisch defizitär beurteilte.24 Die u. a. von Gottsched behauptete Überlegenheit einer »gründliche[n]« Erkenntnis (die zur »Einsicht in die ersten Gründe« führe) vor der »sinnliche[n] Erkenntniß« (die sich »bloß aus der Erfahrung« herleite) 25 und die zu der vom Leipziger Philosophen, Publizisten, Literatur- und Predigtreformer mitgestalteten »Kultur der Gründlichkeit« geführt hatte,26 erschien nun zunehmend als nicht mehr zeitgemäß. So formierten sich seit Anfang der vierziger Jahre nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der Literatur Gegenbewegungen, die auf diese veränderte Situation reagierten und die auch für die Kritik am Modell der »philosophischen« Predigt Bedeutung erlangten. Vor allem stellte der unmittelbar nach der Publikation von Gottscheds Predigtlehrbuch auf brechende deutsch-schweizerische Literaturstreit 27 als ein literarisches, soziales und publizistisches Phänomen 28 ersten Ranges einen literaturgeschichtlichen Epocheneinschnitt dar, mit dem durch die Neubestimmung des Verhältnisses von Vernunft und Gefühl retrospektiv gesehen das Zeitalter der Empfi ndsamkeit eingeleitet wurde.29 Der dabei zwischen Gottsched, den Schweizern und ihren jeweiligen Anhängern in 24 Das zeigte sich auch daran, daß Christian Wolff nach seiner Rückkehr nach Halle (1740) – nicht zuletzt zu seiner eigenen Verwunderung – nie wieder an den Lehrerfolg anknüpfen konnte, wie er ihm vor seiner Vertreibung beschieden war. 25 Gottsched: Erste Gründe (Theoretischer Teil), GAW V/1, 536,10–16: »Was wir aus seinen ersten Gründen durch Vernunftschlüsse herleiten, das heißt ein gründliches Erkenntniß. Was wir aber ohne die Einsicht in die ersten Gründe, und bloß aus der Erfahrung haben; das heißt ein sinnliches Erkenntniß. Dieses letztere zeiget nur, daß eine Sache so sey; jenes aber lehret, warum sie so sey; und giebt also dem Verstande weit mehr Licht und Vergnügen.« 26 Vgl. St. Martus: Gründlichkeit: J. C. Gottscheds Reform von Zeit und Wissen, in: Scientia Poetica 6 (2002), 28–58. 27 Zur Forschungsgeschichte noch immer empfehlenswert H. O. Horch; G.-M. Schulz: Das Wunderbare und die Poetik der Frühauf klärung: Gottsched und die Schweizer, Darmstadt 1988. 28 Ich folge mit dieser Differenzierung J. Wilke: Der deutsch-schweizerische Literaturstreit, in: Kontroversen, alte und neue: Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985, Bd. 2: Formen und Formgeschichte des Streitens. Der Literaturstreit/ hrsg. von F. J. Worstbrock; H. Koopmann, Tübingen 1986, 140–151. 29 J. Viering: Empfi ndsamkeit, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, 3. neubearb. Aufl., Bd. 1 (1997), 439: »In der deutschsprachigen Literatur setzt die Empfi ndsamkeit mit den 1740 erscheinenden poetologischen Schriften von Bodmer und Breitinger ein, die in Abkehr von der Regelpoetik Gottscheds Dichtung als Ausdruck seelischer Bewegung begreifen und demgemäß deren eigentlichen Zweck darin sehen, seelische Bewegungen auszulösen.«

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mehreren Etappen geführte Streit, der ein Vorspiel bereits in den zwanziger Jahren hatte und der mit dem Erscheinen von Klopstocks Messias (1748 ff.) auf eine neue Qualitätsstufe gehoben wurde,30 entzündete sich dabei auf literarischer Ebene zunächst an der dichtungstheoretischen Beurteilung von John Miltons Paradise lost. Denn die Zürcher Kollegen und Freunde Johann Jakob Bodmer (1698–1783) 31 und Johann Jakob Breitinger (1701–1776) 32 legten mit ihren poetologischen Hauptschriften der Jahre 1740/4133 eine Apologie von Miltons Dichtung und dem ihr zugrundeliegenden Begriff der »Einbildungskraft« vor,34 die Gottscheds poetologischen Vorstellungen im wesentlichen zuwiderlief. Die zentrale These des schweizerischen Gegenentwurfs zu Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst, Breitingers Critische Dichtkunst (1740) – dem »für die Dichtungsauffassung des mittleren u[nd] späten 18. Jh. folgenreichste[n] Werk«35 –, lautete im Referat eines Literaturwissenschaftlers wie folgt: »Nicht nur das Wahrscheinliche, sondern auch das Mögliche soll Gegenstand der Nachahmung sein (können).«36 Die Konsequenz dieser Neuausrichtung der literarischen Aufgabe war: »Die Poesie wird damit gleichsam entfesselt, ihr öffnet sich das Reich der Phantasie und des Wunderbaren [. . .].«37 In sozialer Hinsicht führte der Streit zu massiven Polarisierungen und Gruppenbildungen, die weite Kreise der Öffentlichkeit erfaßten, »wobei die Affi nität zu einer der beiden Positionen entweder bereits manifest vorher bestand oder aber latent angelegt war und jetzt erst ausgelöst wurde«38. Dabei bestimmte der Streit aber nicht nur das Verhältnis der Parteien zueinander, sondern auch deren innere Struktur,39 indem sich nämlich eine von der Forschung als »Bremer Beiträger« zusam30 Waniek: Gottsched, hebt folgende drei Perioden voneinander ab: 1. Periode: Ende der 1720er Jahre (ebd, 76–82); 2. Periode: 1741–1745 (ebd, 432–480); 3. Periode: 1745– 1750 (ebd, 511–540). 31 Zu Bodmer, dem Pfarrersohn und Professor für Helvetische Geschichte am Zürcher Collegium Carolinum, siehe W. F. Bender: Johann Jakob Bodmer, LitLex 2 (1989), 47– 49. 32 Zu Breitinger, dem ordinierten Theologen, Professor für Hebräisch, Logik, Rhetorik und griechische Philologie am Collegium Humanitatis und Collegium Carolinum, einem engen Freund Bodmers, siehe W. F. Bender: Johann Jakob Breitinger, LitLex 2 (1989), 194–196. 33 Die dafür einschlägigen Schriften werden aufgezählt und vorgestellt bei W. [F.] Bender: Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger, Stuttgart 1973, 85–94. 34 Zur poetischen Konzeption Bodmers und Breitingers siehe H.-M. Schmidt: Sinnlichkeit und Verstand: zur philosophischen und poetologischen Begründung von Erfahrung und Urteil in der deutschen Auf klärung (Leibniz, Wolff, Gottsched, Bodmer und Breitinger, Baumgarten), München 1982, 124–176. 35 Bender: Breitinger, LitLex 2, 195. 36 Wilke: Der deutsch-schweizerische Literaturstreit, 143. 37 Wilke: Der deutsch-schweizerische Literaturstreit, 143. 38 Wilke: Der deutsch-schweizerische Literaturstreit, 146. 39 Vgl. Wilke: Der deutsch-schweizerische Literaturstreit, 146.

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mengefaßte Gruppe junger Autoren40 von Gottsched abspaltete und sich gegen die von ihrem Lehrer vertretenen Ansichten wandte. In soziologischer Perspektive setzte der Streit als Konfl iktgeschehen daher in ganz erheblichem Maß »Antriebskraft für den Wandel der ästhetisch-literarischen Kultur des 18. Jahrhunderts in Deutschland« 41 frei, durch den es zu der skizzierten Veränderung der Leitideen im dichterischen Schaffen kam. Die unterschiedlichen Auffassungen wurden dabei vor allem auf dem Weg einer publizistischen Kontroverse ausgetragen, »wie man dergleichen zuvor nicht gekannt hatte«42 . Wie sich an Breitingers Critischer Dichtkunst zeigen läßt, einem Werk, in dem sich »Aspekte Leibniz-Wolffscher Provenienz mit rhetor[ischer] Tradition u[nd] dem [ästhetischen] Neuansatz Baumgartens«43 verschränkten, korrelierten mit dem Literaturstreit Entwicklungen auf philosophischem Gebiet, die anfangs in besonderer Weise mit dem Namen des in Halle, später in Frankfurt/Oder wirkenden Philosophen Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762) 44 verbunden waren. Denn der jüngere Bruder des bekannten Theologen Siegmund Jakob Baumgarten wurde zum »Erfinder der Ästhetik«, indem er der Wolffschen Logik der oberen Erkenntniskräfte eine erkenntnistheoretisch gleichwertige Logik der unteren Erkenntniskräfte an die Seite stellte und damit das System der Wolffschen Philosophie um die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis erweiterte.45 Die Entstehung dieser neuen Wissenschaft bewertete ein Philosophiehistoriker als »ein Ereignis von umfassender geschichtlicher Bedeutung« im Zusammenhang »einer der wichtigsten Umwälzungen innerhalb des europäischen Selbstbewußtseins überhaupt«46 . Anregungen für seine Überlegungen fand der jüngere Baum40 Ch. M. Schröder: Die »Bremer Beiträge«: Vorgeschichte und Geschichte einer deutschen Zeitschrift des 18. Jahrhunderts, Bremen 1956. 41 Wilke: Der deutsch-schweizerische Literaturstreit, 148. 42 Wilke: Der deutsch-schweizerische Literaturstreit, 148. 43 Bender: Breitinger, LitLex 2, 196. 44 Zu Baumgarten siehe BBKL 15 (1999), 94–100 (M. Kohlhäufl ). 45 Zu Baumgartens Ästhetik vgl. J. Ritter: Ästhetik, ästhetisch, HWP 1 (1971), 555– 557; U. Franke: Kunst als Erkenntnis: die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Gottlieb Baumgarten, Wiesbaden 1972; Schmidt: Sinnlichkeit, 177–250; G. Schenk: Wesen und Funktion der Ästhetik als Universitätsdisziplin aus der Sicht ihrer Begründer A. G. Baumgarten und G. F. Meier, in: Europa in der Frühen Neuzeit, Bd. 2 (1997), 109–124; G. Dürbeck: Einbildungskraft und Auf klärung: Perspektiven der Philosophie, Anthropologie und Ästhetik um 1750, Tübingen 1998, 182–195. – Die theologischen Implikationen der mit Baumgartens Ästhetik verbundenen anthropologischen Wende in der Schriftlehre (biblische Hermeneutik) analysiert auf hohem Reflexionsniveau zuletzt P. Bahr: Darstellung des Undarstellbaren: religionstheoretische Studien zum Darstellungsbegriff bei A. G. Baumgarten und I. Kant, Tübingen 2004, 11–170. 46 A. Baeumler: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft (1923), Reprografi scher Nachdruck der 2., durchgesehenen Aufl age 1967, Darmstadt 1981, 1.

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garten selbst wiederum beim Wolff-Schüler Breitinger, der bereits in seiner 1727 veröffentlichten Schrift Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungskraft über eine solche »Logik der Phantasie« nachgedacht hatte.47 Nachdem Baumgarten bereits als Lehrer am Halleschen Waisenhaus in seiner Magisterarbeit 1735 die Ästhetik als eine neue, auszubildende Wissenschaft gefordert und in seiner Metaphysica 48 auch erste Ausführungen dazu vorgelegt hatte, trug er 1742 die Ästhetik erstmals in einer Frankfurter Vorlesung vor, aus der dann seine 1750 veröffentlichte Aesthetica 49 hervorwuchs. Darin behauptete er die Wahrnehmung des Schönen durch den ästhetischen Sinn auch in metaphysischer Hinsicht als analog zum objektiven Wahrheitsgehalt der cognitio rationalis, weshalb er auch der Dichtung Wahrheitscharakter zuschreiben konnte.50 In der Konsequenz seiner Überlegungen galt im »(d)as ›auf schöne Weise Denken, in dem der schöne Geist aesthetisch das Kunstwerk hervorbringt‹, [als] die Form, in der [. . .] Empfinden und Fühlen zum Grund einer ästhetischen Repräsentation von Welt werden«51 – eine Vorstellung von durchaus homiletischer Relevanz. Während demnach für die »ästhetische« Kritik an der »philosophischen« Predigt neben dem zuletzt genannten Gesichtspunkt auch die poetologische Pointe von Baumgartens Ästhetik wichtig wurde (derzufolge dem ästhetischen Ausdruck eine – im Gegensatz zur Eindeutigkeit des Begriffs – vielsagende, lebhafte und ins Gemüt gehende Kraft beizumessen ist) 52 , ging mit der im deutsch-schweizerischen Literaturstreit vorgenommenen Neubewertung des Wunderbaren auch eine veränderte Funktionsbestimmung der 47 Vgl. dazu W. [F.] Bender: Rhetorische Tradition und Ästhetik im 18. Jahrhundert: Baumgarten, Meier und Breitinger, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 99 (1980), 486. 48 A. G. Baumgarten: Metaphysica, Halle 1739 ( 71779). 49 A. G. Baumgarten: Aesthetica. Traiecti cis Viadrum [Frankfurt an der Oder] 1750. – Eine Vorlesungsnachschrift von Baumgartens Ästhetik (wahrscheinlich aus dem Jahr 1750) bietet B. Poppe: Alexander Gottlieb Baumgarten: seine Bedeutung und Stellung in der Leibniz-Wolffschen Philosophie und seine Beziehungen zu Kant. Nebst Veröffentlichung einer bisher unbekannten Handschrift der Ästhetik Baumgartens, Inaugural-Disseration zur Erlangung der Doktorwürde der Hohen Philosophischen und Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Münster in Westfalen, Borna; Leipzig 1907, 59–258; vgl. auch M. Jäger: Kommentierende Einführung in Baumgartens »Aesthetica«: zur entstehenden wissenschaftlichen Ästhetik des 18. Jahrhunderts in Deutschland, Hildesheim; New York 1980. 50 Gegen Gottsched »betont Baumgarten eine der Kunst und Dichtung eigene, dem Gefühl allein verpfl ichtete, ästhetische Wahrheit«; U. Franke: Ein Komplement der Vernunft: zur Bestimmung des Gefühls im 18. Jahrhundert, in: Pathos, Affekt, Gefühl: philosophische Beiträge/ hrsg. von I. Craemer-Ruegenberg, Freiburg i. Br.; München 1981, 140. 51 Ritter: Ästhetik, HWP 1, 558. 52 Franke: Ein Komplement der Vernunft, 141: »Der ästhetische Ausdruck ist, im Gegensatz zur Eindeutigkeit des Begriffs, vielsagend, lebhaft und von einer ins Gemüt gehenden Kraft.«

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Dichtung einher, die in homiletischer Gewandung die Erweiterung des Erbauungsbegriffs um die Kategorie der »Rührung« bewirkte.53 Denn nach Baumgarten sind »schön denken« und »rührend denken« synonym, weil »schön« die Kennzeichnung der Fähigkeit ist, »empfindend und fühlend von dem, was ist, angerührt zu werden und Rührung und Empfi ndung des Herzens hervorzurufen« 54. Als derjenige, der das Kritikpotential dieser neuen Anschauungen nach der Jahrhundertmitte am schlagkräftigsten gegenüber der »philosophischen« Predigt in Stellung brachte, trat seit den 1740er Jahren ein Schüler Alexander Gottlieb Baumgartens hervor, der als Anhänger und Briefpartner der Schweizer zugleich zum maßgeblichen Gegner von Gottscheds Literaturund Kunstauffassung wurde: der Hallesche Philosophieprofessor Georg Friedrich Meier.

1 Die Herausforderung durch die »ästhetische« Predigt 1.1 Die Kritik Georg Friedrich Meiers (1753/54) Der im nahe Halle gelegenen Ammendorf geborene Meier (1718–1778) 55 besuchte als Sohn des dortigen Pfarrers wegen seiner kränklichen Leibeskonstitution die Schule des Halleschen Waisenhauses nur kurzzeitig, was seiner geistigen Verwurzelung im »hallischen Millieu« jedoch keineswegs Abbruch tat. Verschiedener Umstände halber hatte Meier schon von früher Kindheit an Gelegenheit bekommen, sowohl die führenden pietistischen Theologen der Universität Halle kennenzulernen, als auch sich mit der Philosophie Wolffs vertraut zu machen. 1730 wurde seine Ausbildung mit Christoph Semler, dem Archidiakon an der Halleschen Ulrichskirche, einem Privatlehrer anvertraut, der in pysikotheologischem Geist Lehrstunden an der Universität abhielt.56 Nach einer Mitteilung seines Freundes Samuel

53 Wilke: Der deutsch-schweizerische Literaturstreit, 143: »Sie [sc. die Dichtung; A. S.] soll nicht mehr nur erbauen und belehren [. . .], sondern sie soll auch das Herz und Gefühl bewegen, erheben, ja rühren.« 54 Ritter: Ästhetik, HWP 1, 558. 55 Zu Meiers Leben und Werk siehe ADB 21 (1885), 193–197 (F. Muncker); E. Bergmann: Die Begründung der deutschen Ästhetik durch Alex[ander] Gottlieb Baumgarten und Georg Friedrich Meier. Mit einem Anhang: G. F. Meiers ungedruckte Briefe, Leipzig 1911, 25–37; R. Pozzo: Georg Friedrich Meiers »Vernunftlehre«: eine historisch-systematische Untersuchung, Stuttgart-Bad Cannstadt 2000, 63–88. – Eine Biographie mit (unvollständiger) Werkbibliographie legte zuletzt vor G. Schenk: Leben und Werk des halleschen Auf klärers Georg Friedrich Meier, Halle 1994. 56 H.-J. Kertscher; Günter Schenk: Reflexionen über Georg Friedrich Meiers »Frühe Schriften«, in: Europa in der Frühen Neuzeit, Bd. 6 (2002), 289.

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Gotthold Lange (1711–1781),57 dem Sohn des 1744 gestorbenen Joachim Lange, Vertreter der ersten Halleschen Dichterschule und erstem Biographen Meiers, bot sich dem früh zur Professorenlauf bahn Bestimmten auf diese Weise »die beste Gelegenheit, die sogenannten Wolfianer und Antiwolfianer in der Nähe kennen zu lernen, und ihre Schriften zu lesen und zu studiren«58. In seiner Studienzeit an der Halleschen Fridericiana, wo Meier seit 1735 für Theologie inskribiert war, wurde der Pfarrerssohn dann maßgeblich von den Baumgarten-Brüdern, dem Theologen Siegmund Jakob und dem Philosophen Alexander Gottlieb, beeinflußt. Es wäre interessant und reizvoll, dieser bemerkenswerten Konstellation eigens nachzugehen, beispielsweise mit Blick auf Meiers spätere Auffassung über das Verhältnis von Theologie und Philosophie,59 was hier aber nicht erfolgen kann. Bei dem Theologen hörte Meier jedenfalls nach eigenem Bekunden »Dogmatic, Moral, Kirchenhistorie, Polemic, christliche Alterthümer, Homiletic, und beständig, Exegetica« 60 ; bei dem Philosophen, der seine Zuhörer bereits Ende der dreißiger Jahre mit der Ästhetik bekannt machte,61 lernte er aber dessen weiterentwickelte Wolffsche Philosophie kennen. In metaphysischen Belangen stand Meier daher zwar noch ganz in der Tradition der Leibniz-Wolffschen Schule, in erkenntnistheoretischer Hinsicht aber bereits unter dem Einfluß empiristischer Anschauungen. Seine persönliche Zuwendung zur Ästhetik, Poetologie und Kunstkritik erfolgte dabei eigenen Worten zufolge »ein paar Jahr« 62 nach Erlangung der Magisterwürde (1739), dem Jahr, in dem er sich auch habilitierte. Als der jüngere Baumgarten 1740 einem Ruf nach Frankfurt/Oder folgte, übernahm sein Schüler als magister legens dessen Lehrver57 Zu Lange siehe ADB 17 (1883), 651–653 (E. Schmidt); LitLex 7 (1990), 142 f. (K. Bohnen). 58 S. G. Lange: Leben Georg Friedrich Meiers (Halle 1778), zit. bei Kertscher/ Schenk: Reflexionen, 290. 59 Zu eindimensional sind m. E. die diesbezüglichen Ausführungen von G. Gawlick: Ein Hallischer Beitrag zum Streit der Fakultäten: Georg Friedrich Meiers Betrachtungen über das Verhältniß der Weltweisheit zur Gottesgelahrtheit (1759), in: De Christian Wolff à Louis Lavelle: métaphysique et histoire de la philosophie. Recueil en hommage à Jean École à l’occasion de son 75e anniversaire/ éd. par R. Theis; C. Weber, Hildesheim 1995, 71–84. – Zur Religionsphilosophie des späteren Meier siehe auch G. Gawlick: G. F. Meiers Stellung in der Religionsphilosophie der deutschen Auf klärung, in: Zentren der Aufklärung I, 157–176; U. Dierse: Nachträge zu G. F. Meiers Religionsphilosophie, in: Aufklärung und Skepsis: Studien zur Philosophie und Geistesgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts. G. Gawlick zum 65. Geburtstag/ in Verbindung mit H.-U. Horche und W. Strube hrsg. von L. Kreimendahl, Stuttgart-Bad Cannstadt 1995, 33–46. 60 So das von Samuel Gotthold Lange überlieferte Selbstzeugnis Meiers, zit. bei Pozzo: Georg Friedrich Meiers »Vernunftlehre«, 73. 61 Schneider: Das geistige Leben von Halle, 162 f. 62 S. G. Lange: Leben Georg Friedrich Meiers (Halle 1778), zit. bei Kertscher/ Schenk: Reflexionen, 290.

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pfl ichtungen samt der »zahlreiche[n] Zuhörerschaft« 63, bevor er 1746 in eine außerordentliche philosophische Professur einrückte. Durch einen anonymen Beitrag, der 1741 in Gottscheds Beyträge[n] zur critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit publiziert wurde und als dessen Verfasser Meier bis heute diskutiert wird,64 wurde Baumgartens Ästhetik- und Dichtungsverständnis erstmals einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als der Leipzig-Zürcher Literaturstreit bereits hohe Wellen schlug. Anfangs schien Meier noch auf der Seite Gottscheds zu stehen; zumindest betonte der Hallenser in einem Brief vom 2. November 1743 gegenüber dem Leipziger Dichtungstheoretiker, daß er sich mit dessen Schriften beschäftigt habe und sich ihnen außerordentlich verpfl ichtet fühle.65 Jedoch wandelte sich Meier in der 1743/44 aufflammenden literarischen Auseinandersetzung um den Geschmacksbegriff, der zwischen den Vertretern der ersten Halleschen Dichterschule um Samuel Gotthold Lange und Jakob Immanuel Pyra (1715–1744) 66 und dem Gottsched-Kreis kontrovers diskutiert wurde, zum Gegner von Gottscheds Dichtungsauffassung.67 Was ihn dabei konkret zu seinem Parteiwechsel bewegte, ist nicht belegt.68 Auf diesem Hintergrund knüpfte Meier seit 1746 auch briefl ichen Kontakt zu den Schweizern,69 an die er ein seiner Beurtheilung der Gottschedischen Dichtkunst (1747) vorangestelltes Anschreiben richtete, welches seinen Parteiwechsel öffentlich machte.70 Bereits 1744 hatte Meier, der »[. . .] Thomasius gedanklich näher[stand] als seinem Lehrer Christian Wolff«71, mit einer Wolff gewidmeten Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt eine Analyse der unteren Begehrenskräfte der Seele vorgelegt, die die Basis für seine spätere Ästhetik, die Kultivierung der unteren (sinnlichen) Erkenntniskräfte durch ästhetische Erziehung, legte.72 63

ADB 21, 193 (F. Muncker). Vgl. Kertscher/Schenk: Reflexionen, 293 f. 65 Abgedruckt bei Bergmann: Die Begründung, 230 f. 66 Zu Pyra, dem Freund Langes, siehe LitLex 9 (1991), 249 f. (K. Bohnen); zu Pyras Dichtungstheorie siehe Zelle: »Logik der Phantasie«, 55–72; Jacob: Heilige Poesie, 55– 110. 67 Vgl. zu diesen Vorgängen Bergmann: Die Begründung, 128–140; Kertscher/ Schenk: Reflexionen, 295–298. 68 H. Reiss: Georg Friedrich Meier (1718–77) und die Verbreitung der Ästhetik, in: Geschichtlichkeit und Gegenwart: Festschrift für Hans Dietrich Irmscher zum 65. Geburtstag/ hrsg. von H. Esselborn; W. Keller, 2. verb. Aufl., Köln; Weimar; Wien 1996, 20. 69 Der Briefwechsel ist abgedruckt bei Bergmann: Die Begründung, 241–268. 70 Dazu Kertscher/Schenk: Reflexionen, 299 f. 71 G. Schenk: Hermeneutik und Vernunftlehre aus pietistischer Sicht, in: Die Hermeneutik im Zeitalter der Auf klärung/ hrsg. von M. Beetz; G. Cacciatore, Köln; Weimar; Wien 2000, 41. 72 Vgl. Schenk: Die Begründung der Trias, 106–109; Pozzo: Georg Friedrich Meiers »Vernunftlehre«, 148–154. 64

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Die erste wissenschaftliche Ästhetik in Deutschland publizierte Meier in eben demselben Jahr unter dem Titel Gedancken von Scherzen.73 Nachdem Meier im Wintersemester 1745/46 Ästhetik nach Baumgartens Kollegheft gelesen hatte, reifte in ihm der Entschluß, nach Rücksprache mit seinem Lehrer eine eigene deutschsprachige Veröffentlichung zu diesem Thema in Angriff zu nehmen, nicht zuletzt um Gottscheds Position in den laufenden Streitigkeiten gezielt zu schwächen. Aufgrund von allerlei Mißgeschicken kam es jedoch erst zur Ostermesse 1748 dazu, daß Meier den ersten Teil seines ästhetisch-philosophischen Hauptwerkes, die Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften74, publizieren konnte. Für deren Konzeption nutzte er »Baumgartens knappe Propositionen zur Begründung der Ästhetik im Rahmen der Vermögenspsychologie für ein pragmatisch ausgerichtetes Programm der ästhetischen Erziehung«75. Meiers Vorstellungen vom Schönen fanden zur selben Zeit in den ersten drei, anonym in den Bremer Beiträgen publizierten Gesängen von Klopstocks Messias 76 ihre literaturpraktische Realisierung. Dementsprechend rühmte Meier in seiner auf Betreiben Bodmers noch 1748 fertiggestellten, aber erst 1749 publizierten Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias den bis dato unbekannten Dichter und sein Werk aufs höchste.77 Meiers Rezension sowie die nachgeschobene Verteidigung Seiner Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias, wider das 75. Stück der Hallischen Zeitungen (Halle 1749) trugen nicht nur erheblich zur bald enthusiastische Züge annehmenden Klopstock-Begeisterung des Publikums bei, sondern sie vertieften auch die bereits bestehende Kluft zum Leipziger »Literaturpapst«. Mit Gottscheds Vorrede zur vierten Auflage seiner Critischen Dichtkunst begann ab 1751 zwischen Halle und Leipzig schließlich der sogenannte »äs73 Schenk: Leben und Werk, 38–40. – Auszüge aus Meiers Schrift in G. F. Meier: Frühe Schriften zur ästhetischen Erziehung der Deutschen in 3 Teilen, Tl. 1: Das Streben nach den philosophischen Grundsätzen einer neuen deutschen Dichtung/ hrsg. von H.-J. Kertscher; G. Schenk, Halle 1999, 71–110. 74 G. F. Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften, 3. Teile, Halle 1748–1750 (2. verb. Aufl. Halle 1754–1759 [= Nachdruck Hildesheim u. a. 1976]; 3. verb. Aufl. Halle 1769). 75 G. Dürbeck: Fiktion und Wirklichkeit in Philosophie und Ästhetik: zur Konzeption der Einbildungskraft bei Christian Wolff und Georg Friedrich Meier, in: Faktenglaube und fi ktionales Wissen: zum Verhältnis von Wissenschaft und Kunst in der Moderne/ hrsg. von D. Fulda; Th. Prüfer, Frankfurt am Main u. a. 1996, 33. 76 Zu Klopstocks Messias unter theologie- und kirchengeschichtlichen Gesichtspunkten siehe H. J. Benedict: Singe, unsterbliche Seele, der sündigen Menschen Erlösung: Klopstocks Messias als Erbauungsbuch und Liebesmedium, PTh 85 (1996), 256–265; W. Sparn: »Der Messias«: Klopstocks protestantische Ilias, in: Protestantismus und deutsche Literatur/ hrsg. von J. Rohls; G. Wenz, Göttingen 2004, 55–80. 77 Vgl. dazu Kertscher/Schenk: Reflexionen, 310–313; H.-J. Kertscher: Gotthold Ephraim Lessings Kritik an Georg Friedrich Meiers Messias-Rezension, in: Die Hermeneutik im Zeitalter der Auf klärung, 237–254.

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thetische«78 bzw. »neologische Krieg«79, in dem der Leipziger Dichtungstheoretiker nun nicht mehr nur seine Schüler in den Kampf vorschickte, sondern endlich auch selbst das Wort ergriff.80 Nachdem Meier ein Jahr darauf seine philosophiegeschichtlich wichtige Logik der oberen Erkenntniskräfte, die Vernunftlehre 81, publiziert hatte,82 veröffentlichte er auf dem Höhepunkt des Halle-Leipziger Literaturstreites schließlich eine Schrift, die in der Vorstellung der Ursachen, warum es unmöglich zu sein scheint, mit Herrn Professor Gottsched eine nützliche und vernünftige Streitigkeit zu führen (Halle 1754) mit seinem Leipziger Gegner endgültig abrechnete. Auf dem Hintergrund der eingangs skizzierten philosophischen Voraussetzungen und im Kontext der zuletzt genannten literarischen Auseinandersetzungen trat Meier schließlich auch seit März 1753 als »einer der vorzüglichsten Gegner gegen die durch Wolf veranlaßte Predigtmethode« 83 in Erscheinung. Er tat dies nicht nur in seinem Beruf als Philosophieprofessor, der er seit 1748 endlich war, sowie als anerkannter Literaturkritiker und Klopstock-Apologet, sondern zugleich auch als langjähriger Predigtpraktiker 84 sowie vor allem als akademischer Lehrer der Homiletik, als der er sich ausweislich eines erhalten gebliebenen Vorlesungsmanuskriptes seit 1749 an der Fridericiana betätigte.85 Zunächst veröffentlichte er seine kritischen Überle78

Den »ästhetischen Krieg« behandelt Bergmann: Die Begründung, 200–224. So die Kapitelüberschrift bei Waniek: Gottsched, 567–611. 80 Auszüge aus den wichtigsten Schriften zum zwischen Halle und Leipzig geführten »kleinen Dichterkrieg« der Jahre 1745 bis 1754 siehe Meier: Frühe Schriften zur ästhetischen Erziehung der Deutschen, Tl. 2: Der »kleine Dichterkrieg« zwischen Halle und Leipzig/ hrsg. von H.-J. Kertscher; G. Schenk, Halle 2000. 81 G. F. Meier: Vernunftlehre/ nach der bei J. J. Gebauer in Halle 1752 erschienenen ersten Aufl age in zwei Teilen hrsg., bearb. und mit einem Appendix versehen von G. Schenk, 3 Tle., Halle 1997. – G. F. Meier: Auszug aus der Vernunftlehre, Halle 1752. 82 Vgl. dazu die umfassende Studie von Pozzo: Georg Friedrich Meiers »Vernunftlehre«; sowie ders.: Prejudices and Horizons: G. F. Meiers Vernunftlehre and its Relation to Kant, Journal of the History of Philosophy 43 (2005), 185–202; zu den sprachphilosophischen Konsequenzen von Meiers Vernunftlehre siehe auch Schenk: Hermeneutik und Vernunftlehre, 42–47. 83 Schuler: Geschichte der Veränderungen, Tl. 3, 16. 84 Lange: Leben Georg Friedrich Meiers (1778), zit. bei Pozzo: Georg Friedrich Meiers »Vernunftlehre«, 75, notiert aus dem Lebenslauf Meiers über seine Studienjahre: »1. Ich fieng sehr zeitig an, für mich selbst Ausarbeitungen zu machen, sonderlich Predigten. 2. Ich fieng sehr zeitig an, für meinen Vater zu predigen, und hernach predigte ich auch sehr ofte für andere Prediger [. . .]«. – Zum Vergleich: Gottsched stellte seine regelmäßige Predigttätigkeit erst mit der Übernahme der ordentlichen Philosophieprofessur ein, was vielleicht auch für Meier anzunehmen ist. 85 Pozzo: Georg Friedrich Meiers »Vernunftlehre«, 315 f. notiert in seinem Quellenverzeichnis ein in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin auf bewahrtes Vorlesungsmanuskript Meiers mit dem Titel: Anfangsgründe der allgemeinen geistlichen Beredsamkeit, zum erstenmahle vorgelesen im Sommer des 1749. Jahres. – Ich habe dieses Manuskript, das der homiletischen Forschung bislang unbekannt ist, nicht eingesehen, da eine Berücksichtigung desselben den Rahmen der hier vorgesehenen Untersuchung überstiegen hätte. 79

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gungen im wirkungsgeschichtlich eher begrenzten Rahmen der Wöchentlichen Hallischen Anzeigen, wo er den Lesern seine Gedancken vom philosophischen Predigen unterbreitete.86 Die große Resonanz, die mutmaßlich besonders aus dem hallischen Umfeld und nach eigener Mitteilung Meiers insbesondere von Geistlichen kam, veranlaßte ihn jedoch, seine Überlegungen erheblich auszubauen und noch im selben Jahr – vordatiert auf 1754 – unter demselben Titel als eigenständige Schrift zu publizieren, die 1762 eine zweite Auflage erlebte.87 Während daher den zwar knappen, aber dafür um so prägnanteren Darlegungen in den Wöchentlichen Hallischen Anzeigen die zeitliche Priorität zukam, war die auf 77 Seiten erweiterte Separatpublikation, die homiletikgeschichtlich nur selten mehr als bloße Erwähnung gefunden hat,88 die wirkungsgeschichtlich eigentlich durchschlagende Schrift. Im folgenden sollen die zentralen Aussagen beider Wortmeldungen als systematische Einheit betrachtet werden. Ausgangspunkt der Überlegungen war die Behauptung (oder Feststellung), daß »(i)n unsern Tagen [. . .] die Klagen, über das philosophische Predigen, fast allgemein [sind]« 89. Insbesondere gäben die jungen Theologen Anlaß für eine Vielzahl dementsprechender Beschwerden.90 Das Problematische an der allenthalben geäußerten Kritik sei jedoch (und Meier dachte hier wohl vor allem an die von pietistischer Seite geäußerte), daß »(d)ieienigen, die diese Klagen führen, [. . .] sich unvermerckt dahin verleiten [lassen], daß sie alle Schuld auf die Weltweisheit schieben«, weswegen man auch »[. . .] über das ietzige Verderben der hohen Schulen [seufzet], als wenn auf denselben heute zu Tage keine geistreichen und erbaulichen Prediger mehr gezogen werden könnten« 91. Zur Ehrenrettung der Weltweisheit und der homiletischen Ausbildung an Universitäten sah sich der Hallesche Philosoph deshalb zur Untersuchung der Frage herausgefordert, 86

G. F. Meier: Gedancken vom philosophischen Predigen, in: Wöchentliche Hallische Anzeigen, Jg. 1753 (Nr. XII, 19. März), 193–202. 87 G. F. Meier: Gedanken vom Philosophischen Predigen, Halle 1754 (77 S.); [ 21762]. – Die Vordatierung ergibt sich aus einer Bemerkung in §. 1, wo Meier ebd, 3 (Hervorhebung A. S.) schreibt: »Ich habe, in dem zwölften Stücke der hallischen wöchentlichen Anzeigen dieses Jahres, eine kurtze Abhandlung vom philosophischen Predigen drucken lassen. [. . .] Diese Abhandlung hat sonderlich bey verständigen Geistlichen Beyfall gefunden, und man hat gewünscht, daß dieselbe etwas weitläuftiger möchte ausgeführt werden.« 88 Ein ausführliches Referat der Schrift bietet Schuler: Geschichte, Tl. 3, 16–28; vgl. auch Stäudlin: Geschichte, Bd. 2, 723 f.; Schenk: Leben und Werk, 105 f. 89 Meier: Gedancken (1753), 193. 90 Meier: Gedancken (1753), 193: »Wenn die iungen Gottesgelehrten von Universitäten kommen, so philosophiren sie auf den Kanzeln. Man beschwert sich über sie, man klagt über die Dunckelheit, Unverständlichkeit und Unerbaulichkeit ihres Vortrags auf der Kanzel.« 91 Beide Zitate Meier: Gedancken (1753), 194.

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»ob es erlaubt sey, philosophisch zu predigen; damit man, selbst nach den Grundsätzen einer gesunden Weltweisheit, begreiffe, daß das Philosophiren auf den Kanzeln ungereimt sey, und damit man wenigstens überzeugt werde, daß vernünftige Lehrer auf den Universitäten, den iungen Gottesgelehrten diese abgeschmackte Thorheit nicht einflössen«92 .

Vermuteten Einwänden vorauseilend, wehrte Meier bereits im Eingang den Verdacht ab, er sei möglicherweise gar nicht kompetent, öffentlich über die Brauchbarkeit einer bestimmten Predigtweise zu urteilen.93 Dem hielt er entgegen, daß sein Beruf als Philosophieprofessor es von ihm geradezu fordere, sich allem Mißbrauch der Weltweisheit zu widersetzen, allzumal die Homiletik, zumindest überwiegend, als Teil der Redekunst aufgefaßt würde, deren Behandlung unbestrittener Maßen eine Aufgabe der Philosophie sei.94 Meier ging es demnach um den philosophischen, nicht theologischen Erweis der Unmöglichkeit der »philosophischen« Predigt,95 womit er die homiletischen Wolffianer mit ihren eigenen Waffen zu schlagen gedachte. Zu diesem Zweck formulierte er eine fünffache Aufgabenstellung: 1. zeigen, was man unter »philosophischen« Predigten überhaupt zu verstehen habe; 2. beweisen, daß solches Predigen ein Fehler sei; 3. die gebräuchlichsten Fehler der »philosophischen« Prediger anführen; 4. untersuchen, woher diese kämen; 5. Mittel benennen, um diese Fehler zu vermeiden.96 Von besonderem Interesse war dabei zunächst Meiers Defi nition der »philosophischen« Predigt, zeigte diese doch, daß es kein polemisches Konstrukt war, das er als Zielscheibe auf baute, sondern (zumindest zu einem Gutteil) 92

Meier: Gedancken (1753), 195. Meier: Gedanken (1754), 4: »Vielleicht werden einige von denenjenigen, welche die Thorheit, auf der Kantzel zu philosophiren, begehen, sagen: weil ich kein Prediger und kein Gottesgelehrter von Profeßion sey, so hätte ich weder das Geschick noch das Recht, von irgends einer Art zu predigen öffentlich mein Urtheil zu sagen.« 94 Meier: Gedanken (1754), 5: »Mein Amt fordert von mir, daß ich, so viel in meinem wenigen Vermögen steht, mich allen närrischen und schädlichen Mißbräuchen der Weltweisheit aufs möglichste widersetze. Da ich nun zu beweisen im Stande zu seyn glaube, daß das philosophische Predigen ein lästerlicher und schädlicher Mißbrauch der Weltweisheit sey, so bin ich allerdings berechtiget, wider dieses Uebel zu schreiben. Die Homiletic ist überhaupt ihrem grösten Theile nach ein Stück der Redekunst, und diese gehört unleugbar mit in den Umfang der Weltweisheit.« 95 Meier: Gedanken (1754), 10 f.: »Wenn man, selbst nach den Grundsätzen einer gesunden Weltweisheit, begreiffen lernt, daß es ungeschickt und widersinnisch heraus komme, wenn man auf den Kantzeln philosophirt, so gereicht dieses allerdings zur Rettung der Ehre der Weltweisheit und vernünftiger Weltweisen. Die gesunde Weltweisheit enthält nicht den geringsten Grund, aus welchem erwiesen werden könnte, daß man philosophisch predigen müsse; man kan vielmehr, wie aus dem folgenden erhellen wird, aus derselben beweisen, daß man nichts weniger thun müsse, als philosophisch zu predigen. Die philosophischen Prediger mißbrauchen also die Weltweisheit, und zwar entsteht dieser Mißbrauch nicht aus der Weltweisheit, sondern aus der Schuld der philosophischen Prediger.« 96 Vgl. Meier: Gedanken (1754), 15 f. (§. 9). 93

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das von Gottsched entwickelte Predigtmodell. Denn als Kennzeichen eines »philosophischen« Predigtvortrags nannte er: »Nemlich in einem solchen Vortrage hat man die Absicht, seinen Zuhörern eine philosophische Erkenntniß einzuflößen. Durch diese Erkenntniß bemühet man sich, die Wahrheit dem tiefsinnigen und von der Sinnlichkeit gereinigten Verstande deutlich und überzeugend vorzustellen, so viel das letzte nemlich sich um der Schrancken des menschlichen Verstandes willen thun läßt. Zu dem Ende läßt man in einem philosophischen Vortrage, so viel möglich ist, alles weg, was die Einbildungskraft, die Leidenschaften, und alle untere Kräfte der Seele gar zu rege machen könte, damit der tief nachdenckende und überlegende Verstand in seinen Beschäftigungen nicht gestöhrt werde.« 97

Auf Grundlage dieser Kennzeichen formulierte Meier als allgemeinen Begriff einer »philosophischen« Predigt: »Nemlich sie ist eine Predigt, welche nicht nur in einem philosophischen Vortrage besteht, sondern in welcher auch viele philosophische Wahrheiten angeführt werden. Eine philosophische Predigt wird also, um einer zweyfachen Ursach willen, philosophisch genennet. Einmal um ihres Inhalts willen, indem sie viele Wahrheiten enthält, die nur der Weltweisheit gehören, und von einem Menschen nur hinlänglich erkannt werden können. Und zum andern um ihrer Beschaffenheit willen, indem sie eine philosophische Erkenntniß und ein philosophischer Vortrag ist, oder indem sie durchgehends nach den Regeln der Vernunftlehre eingerichtet ist.« 98

Wollten die »philosophischen« Predigten aber nach den Regeln der Vernunftlehre eingerichtet sein, so müßte sich auf derselben Grundlage auch deren Ungereimtheit erweisen lassen. Denn wenn sich zeigen ließe, daß der Predigtvortrag eines Lehrers 1. der Natur der Wahrheiten, die er vorzutragen habe, zuwider laufe, 2. seinen Zweck verfehle und 3. sich in der Art seiner Beschaffenheit nicht auf seine Zuhörer schicke, wäre nach den Maßstäben philosophischer Vernunftlehre erwiesen, daß dieser unvernünftig, d. h. wider die Regeln einer gesunden Vernunft, sei.99 Der nachfolgende Beweis jener drei Thesen offenbarte, daß die neue erkenntnistheoretische 97

Meier: Gedanken (1754), 19. Meier: Gedanken (1754), 21. 99 Meier: Gedanken (1754), 25–27: »Und da will ich einen dreyfachen Beweis führen. In der Weltweisheit, und insonderheit in der Vernunftlehre, wird auf eine unwidersprechliche Art bewiesen: 1) Daß ein jedweder Vortrag dergestalt eingerichtet werden müsse, daß er der Natur derjenigen Wahrheiten, welche vorgetragen werden sollen, gemäß sey; 2) daß ein jedweder Vortrag seiner Absicht, die man bey demselben von Rechts wegen haben muß, gemäß seyn müsse; und 3) daß ein jedweder Vortrag sich für die Zuhörer, die von Rechts wegen dem Vortrage beywohnen, schicken müsse. [. . .] Wenn demnach ein Lehrer einer solchen Art des Vortrags sich bedient, welche der Natur der Wahrheiten, die er vortragen soll, zuwider ist; wenn er den Zweck seines Vortrags durch dieselbe hindert; wenn er sich in der Art seines Vortrages nach seinen Zuhörern nicht richtet: so handelt er als ein unverständiger Mensch, sein Vortrag ist eine Frucht der Narrheit, und er handelt unleugbar wider die Regeln der gesunden Vernunft.« 98

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Perspektive auf die unteren Erkenntniskräfte, wie sie in Baumgartens und Meiers Ästhetik gelehrt wurde, als roter Faden die Argumentation durchzog. Mit Blick auf die Natur der in einer Predigt vorzutragenden Wahrheiten forderte Meier in seinem ersten Beweis – ausgehend vom Begriff der Kanzelrede – die homiletische Berücksichtigung von drei Kriterien: Erstens müßten im weitesten Sinne theologische Wahrheiten vorgetragen werden oder aber Vernunftwahrheiten, »dadurch in ihm [sc. dem Zuhörer; A. S.] die Religion befördert werde«.100 Zweitens müßten die vorgetragenen Wahrheiten »auch von Einfältigen und Ungelehrten eingesehen werden können, oder von Jedermann, wenn er nur Menschenverstand hat«101. Drittens müßten sie »auf eine nähere Art erbaulich seyn, und in das Verhalten der Menschen einen nähern Einfluß haben«102 . Mit letzterem orientierte Meier die Predigt am homiletischen Erbauungsbegriff, den er als eine handlungsbezogene Erkenntnis definierte, die nicht auf nicht-rationale, sondern – und dies macht seine neue Sicht anschaulich – »auf eine anschauende, rührende und lebendige Art« erfolgen sollte.103 Die oszillierende Reflexion dieser drei Kriterien würde dabei klären, welche Materie Anspruch erheben könne, zur »Kantzelwahrheit« erhoben zu werden.104 Die »philosophische« Predigt jedoch verstoße gegen die genannten Forderungen, so beispielsweise gegen die dritte, indem sie »[. . .] die homiletischen Wahrheiten nicht als homiletisch erbauliche Wahrheiten vor[stellt]«.105 100 Meier: Gedanken (1754), 28 f.: »Eine Predigt ist ein mündlicher erbaulicher Vortrag theologischer Wahrheiten, an einen vermischten Haufen Zuhörer. Diejenigen Wahrheiten, welche in einer Predigt vorgetragen werden sollen, müssen folgende Eigenschaften haben: 1) Sie müssen theologische Wahrheiten seyn, oder solche Wahrheiten, die ein Teil der gesamten Erkenntniß GOttes sind, wenn man dieselbe in ihrem weitesten Umfange nimt. Oder es müssen solche Wahrheiten seyn, welche von Jedermann, der Menschenverstand hat, dergestalt erkannt werden können, daß dadurch in ihm die Religion befördert werde.« 101 Meier: Gedanken (1754), 29. 102 Meier: Gedanken (1754), 29. 103 Meier: Gedanken (1754), 29. 104 Meier: Gedanken (1754), 29: »Wahrheiten, welche diese drey Eigenschaften an sich haben, sind nur die Kantzelwahrheiten. Folglich werden von der Kantzel alle übrige, juristische, medicinische, philosophische, critische, historische Wahrheiten u. s. f. ausgeschlossen. Ja ein Prediger kan so gar einen Fehler begehen, wenn er alle theologische Wahrheiten auf der Kantzel, ohne den gehörigen Unterschied zu beobachten, vorbringt. Es gibt viele theologische Wahrheiten, welche zwar in den gelehrten Abhandlungen der Gottesgelahrtheit mit Recht vorgetragen werden, welche aber nicht auf die Kantzel gehören, weil eine Predigt ein erbaulicher Vortrag theologischer Wahrheiten seyn soll, der Jedermann faßlich und erwecklich ist.« 105 Meier: Gedancken (1753), 196 f.: »Wer also philosophisch prediget, der bringet viele Sachen vor, wodurch die Erbaulichkeit theologischer Wahrheiten, so wie sie in einer Predigt nöthig ist, gehindert wird. Der philosophische Vortrag stellt die theologischen Wahrheiten nicht als homiletisch erbauliche Wahrheiten vor.«

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Der zweite Beweis rekurrierte auf die Absicht einer Predigt. Diese bestehe in der Erbauung, oder anders gesagt: der »gesamte[n] Besserung des gantzen Menschen«, weshalb eine Predigt auch vorrangig »auf die Ausübung« zu zielen habe.106 Folglich müsse in der Predigt eine Erkenntnis vorgetragen werden, »wodurch der gantze Mensch in Bewegung gesetzt werden kan«107, d. h. »alle Kräfte des Menschen, die untern und die obern, der Verstand und die Sinnlichkeit, der Wille und die Affecten u. s. w. in Bewegung gesetzt werden können«.108 Die homiletische Aufgabe bestünde mit anderen Worten daher in folgendem Ziel: »Die gantze Seele, auch eines Ungelehrten, soll durch eine Predigt, zur anschauenden Erkenntniß und zum Gefühl göttlicher Wahrheiten, gelangen.«109 Die »philosophische« Predigt – so schlußfolgerte Meier – genüge auch dieser Forderung nicht, weil sie anstatt auf eine »anschauende Erkenntniß« auf eine »unumstößlich und deutlich gewisse Erkenntniß der Wahrheit« abziele,110 die sich daher, »beynahe gantz allein, auf die obern Kräfte der menschlichen Seele« konzentriere.111 Im dritten Beweis behauptete Meier »die Thorheit des philosophischen Predigens« mit Blick auf die Zuhörer, für die sich nämlich eine solche Predigtweise »gar nicht schickt«112 . Denn: »Wer einen philosophischen und gelehrten Vortrag verstehen, und durch denselben gerührt werden will, der muß ein Studirender und wohl gar selbst schon ein Gelehrter seyn.«113 Das könne für die überwiegende Zahl der Zuhörer aber nicht angenommen werden; ja nicht einmal für die gelehrten unter ihnen bestünde die philosophische Notwendigkeit, »philosophisch« zu predigen.114 106 Meier: Gedanken (1754), 34: »Den andern Beweis, daß das philosophische Predigen eine thörichte Sache sey, leite ich aus der Absicht einer Predigt her, und der ist leichter zu führen, als der vorhergehende. Durch eine Predigt soll nemlich eine Erbauung gewürckt werden, welche die, oder der gantzen menschlichen Natur hervor bringen kan. Eine Predigt muß, zunächst auf die Ausübung, gehen.« 107 Meier: Gedanken (1754), 35. 108 Meier: Gedanken (1754), 35. 109 Meier: Gedanken (1754), 35 (Hervorhebungen A. S.). 110 Meier: Gedanken (1754), 35 f.: »Ein philosophischer Vortrag kan, die vorhin angeführte Absicht einer Predigt, nicht erreichen, sondern er hindert dieselbe vielmehr. Der philosophische Vortrag geht nicht zunächst, auf die Ausübung der Wahrheiten. Sein nächster Zweck ist, die unumstößlich und deutlich gewisse Erkenntniß der Wahrheit. Er ist mehrentheils so beschaffen, daß er keine anschauende Erkenntniß zunächst hervorbringt.« 111 Meier: Gedancken (1753), 197: »Ein philosophischer Vortrag kan diese Absicht nicht erreichen, sondern er hindert dieselbe vielmehr. Ein solcher Vortrag macht nur, vornehmlich dem tiefsinnigen Verstande, die Wahrheit begreifl ich und zunächst, beynahe gantz allein, auf die obern Kräfte der menschlichen Seele. Folglich hindert ein Prediger selbst seine Absicht, wenn er auf der Kantzel philosophiret.« 112 Beide Zitate Meier: Gedanken (1754), 36. 113 Meier: Gedanken (1754), 36. 114 Meier: Gedancken (1753), 198: »Am allerleichtesten erhellet die Thorheit des philosophischen Predigens daher, weil es sich für die Zuhörer einer Predigt gar nicht schickt.

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Nachdem Meier also in dreifacher Weise einige allgemeine Fehler der »philosophischen« Predigt benannt hatte, kam er nun auf eine ganze Reihe von speziellen Fehlern zu sprechen, die als Folge von Verstößen gegen die homiletischen Hauptforderungen anzusehen waren. Beispielsweise kritisierte Meier im Anschluß an Joachim Langes Polemik als den ersten solcher Fehler, »wenn man eine Predigt mit einer Menge von accuraten Defi nitionen anfült«115 und daher etwa »dem Bauer eine Defi nition von einem Berge, von dem Gehen, und von andern solchen Sachen gibt, deren in dem Texte eine Erwehnung geschieht«116 . Nach seiner Ansicht lag hier ein Verstoß gegen die Forderung nach homiletischer Erbaulichkeit vor, da solche Prediger »die erklärte Sache nicht auf die Art erbaulich vorstellen, wie zu einer Predigt erfordert wird«117. Aufschlußreich für seinen homiletischen Standpunkt war auch der vierte von Meier kritisierte Fehler. Als Folge der homiletischen Konzentration auf die oberen Erkenntniskräfte bemängelte er an den »philosophischen« Predigern, daß »ihre gantzen Predigten nur, oder gröstentheils, theoretisch sind«118 . Zwar erklärten sie ihr Thema sehr ausführlich, bewiesen dieses auch gründlich und beantworteten stets die Einwürfe der Gegner; aber »sie besitzen keine Geschicklichkeit, die ausgeführte Wahrheit recht rührend und beweglich ans Hertz zu legen«119. Dieser Fehler, der nach Meier den Namen eines »grossen Fehlers« verdiente,120 konnte nach seiner Einschätzung verschiedener Ursache sein, u. a. »weil sie [sc. die »philosophischen« Prediger; A. S.] in dem Vorurtheil stecken, daß eine deutliche und überzeugende Erkenntniß auch allemal die Hertzen rühre[n]«121 müsse. Meier kritisierte damit ein mechanistisches Verständnis der Vorstellung der Dependenz des Willens vom Verstand, an der er für die Homiletik gleichwohl grundsätzlich festhielt.122 Seine Ansicht war jedoch: »Der wichtigste Theil der Predigt ist Wer einen philosphischen und gelehrten Vortrag verstehen, und durch denselben gerühret werden will, der muß selbst gelehrt seyn. [. . .] Nun ist klar, daß der gröste Haufe der Zuhörer einer Predigt aus den Leuten bestehet, die nicht einmal ein natürliches Geschick zur Gelehrsamkeit besitzen. [. . .] Und wenn auch ein Prediger lauter gelehrte Zuhörer haben solte, so muß er doch nicht philosophisch predigen, weil kein Gelehrter in eine Predigt gehen muß, um eine gelehrte Erkenntniß theologischer Wahrheiten zu erlangen.« 115 Meier: Gedanken (1754), 42. 116 Meier: Gedanken (1754), 44. – Vgl. auch Meier: Gedancken (1753), 198 f.: »Erstlich ist es höchst lächerlich, wenn man eine Predigt mit einer Menge von accuraten Defi nitionen füllt. [. . .] Was hilfts, wenn man dem Bauer eine Defi nition von einem Berge, von dem Gehen, und von andern solchen Wörtern giebt, die in einem Texte vorkommen.« 117 Meier: Gedanken (1754), 40. 118 Meier: Gedancken (1753), 199. 119 Meier: Gedancken (1753), 200. 120 Meier: Gedanken (1754), 50: »Dieser Fehler verdient, den Namen eines grossen Fehlers, in der That.« 121 Meier: Gedanken (1754), 49. 122 Meier: Gedancken (1753), 200: »Eine iede Predigt muß nothwendig einen theore-

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der practische, in welchen man sich bemühet, die abgehandelte Wahrheit recht rührend und pathetisch vorzustellen, um den Willen der Zuhörer zu bewegen.«123 Nur um des praktischen Teiles der Predigt willen würde daher auch der theoretische vorausgeschickt,124 weswegen sich dieser dem letzteren auch ganz unterordnen müsse. In seinen Gedancken vom philosophischen Predigen unterzog Meier abschließend auch die Argumentationsstrategie ihrer Anhänger einer Kritik, indem er ihnen Wortspielerei vorwarf.125 Damit wandte sich der Hallesche Predigttheoretiker implizit gegen die u. a. auch von Mosheim geäußerte Auffassung, daß eine »philosophische« Predigt dann als homiletische Notwendigkeit anzusehen sei, wenn mit ihr die homiletischen Kriterien der Deutlichkeit, Gründlichkeit und Ordentlichkeit realisiert würden.126 Meier hielt dieser unspezifischen Interpretation der »philosophischen« Predigt entgegen: »Es ist wahr, der Gebrauch der Worte ist willkührlich, und man könnte also einen Vortrag philosophisch nennen, in welchem man sich der Deutlichkeit, der Ordnung, des Zusammenhangs und der Gründlichkeit befleißiget. Und wenn dieses ist, so würde es eine grosse Narrheit seyn, zu sagen, man müsse nicht philosophisch predigen. Aber das heißt mit dem Worte spielen, und den philosophischen Vortrag anders erklären, als er erklärt werden muß. Die Deutlichkeit, Ordnung, die Gründlichkeit, und wie die vorhin angeführten Vollkommenheiten des Vortrags alle heissen mögen, sind allgemeine Vollkommenheiten des Vortrags, welche der philosophische Vortrag mit allen übrigen guten Arten des Vortrags gemein hat.«127

Betreffend der Gegner von Meiers Gedan[c]ken vom philosophischen Predigen ist die Vermutung geäußert worden, daß sich der Hallesche Philosophieprofessor, der unter dem Einfluß der philosophischen Ästhetik die Homiletik als Anweisung zur »Kunst zu predigen« auffaßte128 und in diesem Sinn später tischen Theil haben, weil, ohne Erleuchtung des Verstandes keine Besserung des Willens möglich ist.« – Meier: Gedanken (1754), 50: »Eine jedwede Predigt muß nothwendig aus zwey Theilen bestehen, aus einem theoretischen und einem practischen. Der theoretische Theil ist unentbehrlich, weil ohne Erleuchtung des Verstandes keine Besserung des Willens möglich ist.« 123 Meier: Gedancken (1753), 200. 124 Meier: Gedanken (1754), 50: »Der practische Theil ist der wichtigtste Theil der Predigt, um dessentwillen der theoretische vorausgeschickt werden muß.« 125 Meier: Gedancken (1753), 200: »Man könnte zwar das philosophische Predigen auf eine Art erklären, daß es lobenswürdig sey. Man könnte nemlich sagen, daß derienige, welcher sich eines recht deutlichen, gründlichen und ordentlichen Vortrages auf der Kantzel bedient, philosophisch predige. Und alsdenn würde man allerdings behaupten müssen, daß alle dieienigen elend predigen, die nicht philosophisch predigen. Allein das hiesse mit den Worten spielen, und den philosophischen Vortrag anders erklären, als er erklärt werden muß.« 126 Mosheim: Heilige Reden, Tl. 6, Bl. c3v-6r. 127 Meier: Gedanken (1754), 16 f. 128 Meier: Gedanken (1754), 72: »Sonderlich solten diejenigen, welche sich auf Univer-

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auch ein gerühmtes, homiletikgeschichtlich aber vergessenes Lehrbuch veröffentlichte,129 mit seinen Ausführungen gegen die Schüler seines einstigen homiletischen Lehrers Siegmund Jakob Baumgarten stellte.130 Ob dies in einem engeren Sinn zutrifft, kann hier nicht geklärt werden; in einem weiteren Sinn dürfte diese Annahme jedoch zutreffen. Ungewiß ist auch, ob sich Meiers Ausführungen gegen einen möglichen Gebrauch von Gott scheds homiletischem Lehrbuch im akademischen Unterricht richteten, wie er 1740 für die preußische Fridericiana vorgeschrieben worden war. Für eine solche Praxis käme freilich der ältere Baumgarten nicht in Betracht, da er zwar – wie oben beschrieben – anfangs seine homiletischen Lehrstunden nach dem Grund-Riß einer Lehr-Arth ordentlich und erbaulich zu predigen eingerichtet hatte, spätestens im Sommersemester 1750 aber nach einem eigenen Entwurf die Homiletik las.131 Unbegründet ist indes die Annahme, in dieser Schrift ein Zeugnis zu sehen, das die ersten Denkresultate von Meiers Lokke-Rezeption mitteilen soll.132 Diese These kombiniert die ab 1754 bezeugte Beschäftigung Meiers mit Lockes Essay concerning Human Understanding133 mit der fälschlich für dasselbe Jahr angenommenen Erscheinung der Gedan[c]ken vom philosophischen Predigen, deren erste Fassung jedoch (wie oben ausgeführt) bereits im März 1753, also vor dem sicher bezeugten terminus post quem der Locke-Beschäftigung, veröffentlicht wurde.134 sitäten auf die Gottesgelahrtheit legen, die Homiletic fleißiger treiben, als es von vielen zu geschehen pflegt. Allein ich verstehe eine Homiletic, aus welcher man die wahre Kunst zu predigen ausführlich lernen kan.« Es schließen sich ebd, 72 f. einige Gedanken zum Gegenstand einer solchen Homiletik an. 129 G. F. Meier: Kunst zu Predigen, Halle 1772. – Zu dieser Homiletik einige Ausführungen bei Schenk: Leben und Werk, 164–167. S. G. Lange: Leben des Herrn Professor Meier, Halle 1778, 153 urteilte über diese Homiletik, daß sie »unter den seit vielen Jahren herausgekommenen homiletischen Anweisungen ohnstreitig die beste [sei]. Sie hat tausend Vorzüge, die aber dem Schwätzer ewig unbekannt bleiben werden. Es ist eine Metaphysic der Predigten, eine Aesthetic des geistlichen Vortrages [. . .]«. 130 Schrader: Geschichte, Bd. 1, 293 sah viele der »philosophischen« Prediger unter dem Einfluß Baumgartens: stehen »Ein Lehrer [sc. ist Baumgarten], der nach dem Überschwang der Askese die lernbegierige Jugend zu wissenschaftlicher Betrachtung und eignem Denken führte, muste freilich grossen und weiten Anklang fi nden, was auch aus der Zahl der von ihm erforderten theologischen Gutachten erhellt. Der Einfluss seiner Methode zeigte sich selbst in der Predigtweise seiner Schüler, an welcher G. Fr. Meier den philosophischen Anstrich tadelte.« 131 Nach der Herausgebernotiz in der auf den 1. September 1751 datierten Vorrede zu S. J. Baumgarten: Anweisung zum erbaulichen Predigen, Bl. *6v ging der Text auf eine Vorlesung zurück, die Baumgarten »vor anderthalb Jahren« gehalten hatte. 132 Schenk: Leben und Werk, 105: »Meier jedenfalls rezipierte Locke gründlich und teilt seine Denkresultate in einigen Schriften mit. Erste Ansätze erkennt man bereits in der 1754 erschienenen Schrift Gedanken vom philosophischen Predigen.« – Zu Meiers Schrift vgl. ausführlicher ebd, 105 f. 133 Vgl. dazu Schenk: Leben und Werk, 104. 134 Schenk: Leben und Werk, 104 in Anm. 214 verweist sogar auf den Urdruck der Gedan[c]ken im Vertrauen auf die Selbstmitteilung Meiers, der in seiner auf 1754 datierten

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Um »zum Gefühl göttlicher Wahrheiten« zu gelangen, stelle Meier demnach die anschauende und rührende Erkenntnis in die Mitte der predigtpsychologischen Reflexion. Bringt man seine dergestalt philosophisch-ästhetisch begründete Kritik an der »philosophischen« Predigt in Zusammenhang mit den parallel laufenden poetologischen Klärungsbemühungen (an denen er ebenfalls mitwirkte), bleibt mit Blick auf deren rhetorisch-homiletische Implikationen festzuhalten, daß die Poetologie der Schweizer auf eine »Rekonstruktion der Regeln der Affektsprache«135 zielte, bei der »die so gewonnene Affekt-Grammatik [. . .] die Figurenlehre der Rhetorik ersetz[en]«136 sollte. Damit erhielt die ursprünglich pietistische Geist-Rhetorik, wie sie dem hallischen Modell einer »apostolischen« Predigt zugrundelag und die in transformierter Gestalt Eingang in die Hermeneutik Baumgartens fand,137 für Meier, den theologischen Baumgarten-Schüler, eine literaturtheoretische Pointierung, die mit der Kritik an der »affektarmen Gründlichkeit« der »philosophischen« Predigt auch theologisch-hermeneutisch korrelierte. Literaturgeschichtlich führte die hier greif bare »pietistische Transformation des Rhetorischen«138 »zu einem rhetorisch-ästhetisch gewendeten, dynamisierten Verständnis religiöser Sprache und Zeichen«139, das auch auf homiletischer Ebene den Widerspruch der Gottschedianer herausfordern mußte. 1.2 Reaktionen Wollte man die Vorwürfe Meiers, die Ausdruck einer ganz bestimmten Wahrnehmungsperspektive und einer eigenen Sachlogik waren, auf ihre Stichhaltigkeit überprüfen, setzte dies im Rahmen einer historischen Bewertung eine komplette Analyse seines homiletischen und philosophischen Schrift behauptet hatte, daß die erste Textfassung »in dem zwölften Stücke der hallischen wöchentlichen Anzeigen dieses Jahres« erschienen sei. Eine Überprüfung der Angabe hätte ergeben, daß Meier hier vom Jahrgang 1753, und nicht vom Jahrgang 1754 redet. 135 Till: Transformationen der Rhetorik, 410. 136 Till: Transformationen der Rhetorik, 410. 137 Zur Rezeption der pietistischen Emphasen-Hermeneutik bei Baumgarten vgl. Bahr: Darstellung des Undarstellbaren, 135, die am Beispiel einer 1742 veröffentlichten Dissertation eines Baumgarten-Schülers die dahinterstehende Auffassung folgendermaßen referiert: »Gott selbst habe den metaphorisch-evidentiellen Gebrauch der Sprache geheiligt, als der [ergänze: er?] sich dem Menschen auf diese Weise offenbart habe. Deswegen muß auch [ergänze: die] Auslegungslehre eine solcherart auf die Affekte zielende Sprache berücksichtigen.« Bahr erläutert ebd, 135 die Folgen dieser Auffassung wie folgt: »Der Geist, der den toten Buchstaben lebendig werden läßt, wird im Grunde nicht mehr supratextuell, als von außen eingreifende Macht bestimmt, sondern als Energie, die eine dynamische Verbindung von heiligem Text und affektual getroffenen Leser in der Erfahrung des Lesens und Hörens erzeugt. Die logische Inkommensurabilität der individuellen religiösen Ergriffenheit wird so tendentiell durch die Psychologisierung der Rhetorik ästhetisch erklärt.« 138 Bahr: Darstellung des Undarstellbaren, 128. 139 Bahr: Darstellung des Undarstellbaren, 130.

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Systems voraus. Dies kann hier nicht erfolgen. Gleichwohl kann darauf hingewiesen werden, daß – obwohl die für die »philosophische« Predigt kennzeichnende psychologische Priorität des docere-Aspektes in der Predigtpraxis in der Tat zur Vernachlässigung der willenspsychologischen Aspekte führen konnte – in Gottscheds Predigtkonzeption die »rührenden«140 Aspekte auf theoretischer Ebene keineswegs so unterbelichtet waren, wie man aus Meiers Kritik schließen könnte. Beispielsweise hatte der seit 1739 in Leipzig studierende Christian Nicolaus Naumann (1720–1797), ein mit Gottsched persönlichen Umgang pflegender Jurist,141 bereits im Jahre 1740 (mutmaßlich von Gottsched inspirierte) Überlegungen zu einem affektorientierten Predigtideal angestellt,142 das er durch den Berner Pfarrer und Professor Johann Georg Altmann (1695–1758), einem Schweizer Anhänger Gottscheds,143 idealiter verkörpert sah.144 Insbesondere war aber in den zurückliegenden Streitigkeiten mit Zürich und Halle der Ausgleich zwischen Vernunft und Gefühl auch innerhalb der Gottsched-Schule bereits so weit vorangeschritten, daß Meiers Einwände diese kaum noch in toto treffen konnten. Denn im Gefolge des Streites mit den Schweizern hatten sich mit Johann Andreas Cramer und Johann Adolf Schlegel zwei einstige Mitglieder in Gottscheds Vormittäglicher Rednergesellschaft und Gehilfen des Leipziger Philosophieprofessors145 von ihrem einstigen Lehrer getrennt: Sie wurden zu Mitbegründern der Bremer Beiträ140 Gottsched verwandte »rühren« und »bewegen« (movere) gelegentlich synonym; vgl. beispielsweise die zugleich einmal mehr Gisberts Bedeutung unterstreichende Bemerkung bei [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Arth, 296 f.: »Am eyfrigsten aber hat die Nothwendigkeit die Herzen zu rühren, der Pater Gisbert getrieben. Nach dem er im ersten Cap. die Prediger beschrieben, die nur mit der Vernunft reden, so handelt er im 2ten Cap. von dem Mangel der Salbung oder der Krafft zu bewegen bey den meisten Predigern.« Vgl. auch die Entsprechung von »rühren« und »bewegen« im Vergleich mit Fénelon, auf die Stauffer: Erfi ndung und Kritik, 42 mit Anm. 63 hinweist. 141 Zu Naumann ADB 23 (1886), 302–305 (F. Muncker); zu seinem Kontakt mit Gottsched siehe Waniek: Gottsched, 501. 142 Naumann: Entwurff des Begriffes von der Vollkommenheit (1740). – Der gerade einmal zwanzigjährige Naumann wünschte sich als Prediger einen »geistlichen Demosthenes« (ebd, 10), der sich von der »Hitze des Affects« (ebd, 12) übermeistern ließe und »durch den gewaltsamen Einbruch der Leydenschafften alles auf einmahl überschwemmt« (ebd, 14), kurz gesagt »einen Chrysostomus [. . .], der ohne den Schein grosser Gelehrsamkeit, ohne die nachgeahmte Scharfsinnigkeit der neuern Ausländer, ohne theoretische Reden, die zwar auf den Verstand mit philosophischen Gründen dringen, in der Bewegungs Kunst aber matt seyn« (ebd, 16). 143 Zu Altmann siehe NDB 1 (1953), 226 (L. Beringer); Waniek: Gottsched, 451 f. 144 Nach Naumann: Entwurff des Begriffes, 16 (Hervorhebung A. S.) hatte Altmann »die rührende Vorstellung und die edle Einfalt der Alten am besten und am glücklichsten erreichet«. 145 Zur Mitgliedschaft der beiden in Gottscheds Rednergesellschaft s. o. Kap. 3, Abschn. 2.1. – Siehe neben den dort angegebenen Literaturhinweisen zur literaturgeschichtlichen Einordnung Cramers auch: LitLex 2 (1989), 470–472 (M. Luserke).

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ge146 (1744–1748), dem »Organ [ihrer] publizistischen Sezession von Gottsched«147. Als Freunde Christian Fürchtegott Gellerts148 (1715–1769) betätigten sich die beiden dichtenden und schriftstellernden Theologen fortan nur noch als literaturtheoretische »Halbgottschedianer«149, die das Erbe ihres Lehrers – auch in homiletischer Hinsicht – zwar nicht aufgaben, aber an wesentlichen Punkten weiterentwickelten. Stellvertretend für diese Gruppe homiletischer Gottschedschüler äußerte der predigtgeschichtlich vergessene, zeitgenössisch aber einflußreiche Schlegel150 die Ansicht, daß eine Predigt alle Seelenkräfte, auch die unteren, beanspruchen müsse, wenn sie ihr Ziel erreichen wolle.151 Trotz dieser und ähnlicher Annäherungen von Gottsched-Schülern an Meiers Forderung nach »rührenden« Predigten, blieben publizistische Reaktionen auf dessen Kritik an der »philosophischen« Predigt nicht aus. 146 Unter den Bremer Beiträgen versteht man die ersten vier Bände der in Bremen erschienenen Neue[n] Beyträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes. – Vgl. zu dieser Zeitschrift neben der umfassenden Studie von Schröder: Die »Bremer Beiträge«, auch Wilke: Literarische Zeitschriften, Tl. 2, 49–57. 147 Wilke: Literarische Zeitschriften, Tl. 2, 57. 148 Cramer schrieb später eine vielbeachtete Biographie Gellerts: J. A. Cramer: Christian Fürchtegott Gellerts Leben, Leipzig 1774; zum z. T. intensiven Briefwechsel Cramers und v. a. Schlegels mit Gellert siehe in Ch. F. Gellert: Briefwechsel/ hrsg. von J. F. Reynolds.,Bd. 1–4 (1740–1766), Berlin; New York 1983–1996. – Zu Gellert, dem studierten Theologen, der lediglich aus gesundheitlichen Gründen auf ein Pfarramt verzichtete, der aber auf theologischer Seite bislang primär als Dichter geistlicher Oden und Lieder wahrgenommen wird, siehe TRE 12 (1984), 298–300 (R. Mohr); RGG 4 3 (2000), 603 ( J.-U. Fechner); eine detaillierte Studie zum (beträchtlichen) Einfluß Gellerts auf den Entwicklungsgang der theologischen Auf klärung fehlt. 149 Schröder: Die »Bremer Beiträge«, 216. 150 Vgl. Gellert an J. A. Schlegel, Leipzig, 18.3. 1764: »Denn so vortreffl ich sie [sc. Schlegels Predigten; A. S.] sind, (Zolikofer der Deutsche Prediger unsrer reformirten Gemeine spricht, sie wären die vollkommensten, die er noch gelesen hätte; u. er hat sicher die besten gelesen) [. . .]«; Gellert: Briefwechsel, Bd. 4, 19,4–7; von einer bestimmten Predigt Schlegels, die Gellert zu »[s]einer Erbauung [. . .] gelesen« (ebd, 19,8 f.) hatte, fällte er ebd, 19,9–15 das günstige Urteil: »Der Plan [sc. die Predigtdisposition; A. S.] ist alles, was man verlangen kann, genau, vollständig die Sache erschöpfend, und doch dabey einfältig, natürlich, leicht zu behalten, und eben das, was auch ungeübte Zuhörer im Dunkeln denken u. erwarten müssen. Die Ausführung ist eben so genau, pünktlich u. läßt nichts vorbey, was der Sache Deutlichkeit, Licht, Leben u. Nachdruck ertheilen kann. Der Ausdruck ist der gewählteste u. prächtigste, den die geistliche Beredsamkeit verträgt.« 151 J. A. Schlegel: Vorrede von den Vorzügen der christlichen Beredsamkeit vor der heidnischen, in: C. G. Clausnitzer: Predigten von der Erhöhung Jesu; mit einer Vorrede von den Vorzügen [. . .] von J. A. Schlegeln, Leipzig 1753, Bl. )(3v: »Die Beredsamkeit beschäfftigt sich nicht mit einer Kraft der Seele allein. Ihr ist es nicht genug, daß sie die Einsichten des Verstandes erweitert, daß sie die Einbildungskraft mit edeln und lebhaften Bildern anfüllt; sie will auch in das Herz reden. Die Gewalt, die sie über die Affecten ausübt ist ihre Stärke. Wer zweifeln wollte, daß die christliche Beredsamkeit in den rührenden Bewegungsgründen die heidnische weit zurücklasse, der müßte mit der Natur unsrer heiligen Religion sehr wenig bekannt seyn.«

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Den Anfang machte eine Schrift, von der zurzeit leider nicht entschieden werden kann, in welcher Beziehung sie zur Gottschedschule stand. Es handelt sich dabei um eine 1754 anonym erschienene und 1755 vermehrt aufgelegte Schrift, die bedauerlicherweise nur noch bibliographisch nachweisbar ist, die aber den Auftakt für drei weitere Schriften mit jeweils unterschiedlichen Verfassern bildete.152 Ihr Titel lautet: Angestimmtes Triumphlied vieler Geistlichen bey Gelegenheit der Meierschen Gedanken von philosophischen Predigten.153 Über den genauen homiletischen Standpunkt dieses verschollenen ironisch-satirischen Textes auf einen Gegner der »philosophischen« Predigt154 läßt sich nur spekulieren, allzumal eine 1756 publizierte Replik gegen das Angestimmte Triumphlied, die diesbezügliche Rückschlüsse bieten könnte, ebenfalls verlorengegangen ist. Der Titel dieser Entgegnungsschrift aus der Feder eines abermals anonymen Autors lautete: Die Tschirpende Grille, d. i. unpartheyische Beurtheilung eines übelausgesonnenen Triumphsliedes vieler Geistlichen. Fr. und L. 1756.155 Nach Mitteilung des anhalt-zerbstischen Predigtamtskandidaten August Gottlob Friedrich Koltitz (1728–1799),156 eines einstigen Gottschedschülers und damaligen -korrespondenten, der 1757 als Dritter mit einer Allegorische[n] Beurtheilung einer iüngstherausgekommenen Schrift, welche betitelt ist: Die schirpende Grille157 in die Kontroverse eingriff, sollte ein gewisser »Pastor Wolder« Verfasser dieser Wortmeldung gewesen 152 Über die Abfolge des Streits mit einigen Hinweisen auf den Inhalt der z. T. nicht mehr nachweisbaren Schriften informiert [ J. Ch. Gottsched:] Rez. Allegorische Beurtheilung einer jüngst herausgekommenen Schrift, welche betitelt ist: Die schirpende Grille. 1757, in: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, Jg. 1758, 71–74. 153 Titel nach GV 147, 104. – Den Titel der zweiten, vermehrten Aufl age 1755 bibliographiert eine Rezension von [Gottsched:] Rez. Allegorische Beurtheilung, 72 wie folgt: »Angestimmtes Triumphslied vieler Geistlichen, bey Gelegenheit der Meierischen Gedanken vom philosophischen Predigen, nebst einer geheimen Nachricht von diesem Triumphsliede.« 154 [Gottsched:] Rez. Allegorische Beurtheilung, 72 notierte zu dieser Schrift: »Es war leicht zu sehen, das das Triumphslied in ironischer Schreibart abgefasset war; welche sich nicht überall so zu verstellen wußte, daß es einem wahren Triumphe ähnlich gesehen hätte: wie etwa vor 18 oder 20 Jahren: der horazische Zuruf an alle Wolffi aner abgefasset war.« – Zum »horazische[n] Zuruf« siehe [L. A. V. Gottsched:] Horatii Als Eines Wohlerfahrnen Schiffers (1739). 155 Titel (im GV nicht nachweisbar) zit. nach [Gottsched:] Rez. Allegorische Beurtheilung, 72 f. 156 Der in Zerbst geborene Koltitz legte nach seinem Studium in Wittenberg und Leipzig 1752 das Kandidatenexamen ab und arbeitete zunächst als Pagenlehrer in Zerbst, bevor er 1758 zum Diakon in Coswig bestellt wurde und dort seit 1779 bis zu seinem Tod als Propst amtierte; H. Graf: Anhaltisches Pfarrerbuch: die evangelischen Pfarrer seit der Reformation/ hrsg. vom Landeskirchenrat der Evangelischen Landeskirche Anhalts, Dessau 1996, 320 f.; zu Koltitz vgl. auch DBA I 691, 309–337. 157 [A. G. F. Koltitz:] Allegorische Beurtheilung einer iüngstherausgekommenen Schrift, welche betitelt ist: Die schirpende Grille, [o. O.] 1757. – Koltitz nennt sich in der Widmungsvorrede ebd, Bl. B2v als Verfasser.

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sein.158 Aufgrund von Hinweisen einer vierten Schrift, in der sich schließlich ein dritter Anonymus mit Koltitz solidarisierte,159 läßt sich jener »Pastor Wolder« als Matthias Werner Wolder (1706–1780) identifi zieren, der im zehn Kilometer von Zerbst entfernten Schora (Herzogtum Magdeburg) amtierte.160 Aus den Ausführungen Koltitz’, der während seines 1747 in der Messestadt fortgesetzten Theologiestudiums mit Gottsched in nähere Bekanntschaft getreten war und bis zu dessen Tod einen regen Brief kontakt unterhielt,161 geht außerdem hervor, daß Wolder den Zerbster Predigtamtskandidaten in seiner Tschirpenden Grille fälschlich als Autor des Angestimmte[n] Triumphlied[s] behauptet oder zumindest insinuiert und bei dieser Gelegenheit zugleich eine Reihe weiterer beleidigender Unterstellungen vorgetragen hatte.162 Dagegen sah sich Koltitz zu einer Verteidigung und Ehrenrettung genötigt. Angesichts der bereits durch Wolder eingeleiteten Privatisierung des Streits stand das ursprünglich streitmotivierende homiletische Problem bei Koltitz längst im Hintergrund.163 Lediglich an einer einzigen Stelle bekann158

[Koltitz:] Allegorische Beurtheilung, Bl. A2r (Widmung): »Sr. Wohlehrwürden dem HERRN Pastor Wolder übersendet diese Blätter A. G. F. Koltitz [. . .]«. 159 [Anonym:] Die gelehrte Blösse des Herrn Past. W. durch ihn selbst bewiesen, [o. O.] 1757; mir stand eine Kopie des Textes nach dem Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München zur Verfügung. – Der anonyme Verfasser, der in seinen Ausführungen Koltitz mehrfach als seinen Freund bezeichnet, war vielleicht Johann Adolf Schlegel, der 1754 als Pastor und Professor ans Zerbster Gymnasium berufen wurde und aller Wahrscheinlichkeit nach mit Koltitz in persönlichem Kontakt stand. 160 In einem auf den 23. Heumond ( Juli) 1757 datierten Brief Koltitz’ an Wolder (abgedruckt bei [Anonym:] Die gelehrte Blösse, 3–11; vgl. [Gottsched:] Rez. Allegorische Beurtheilung, 74) sprach der Zerbster Predigtamtskandidat seinen Gegner als einen »alte[n] Prediger« an ([Anonym:] Die gelehrte Blösse, 7), der auch Verfasser einer Schrift gegen die Herrnhuter sei (ebd, 8). – Matthias Werner Wolder (1720 Waisenhaus Halle; 1725–1728 Studium in Wittenberg; seit 1731 bis zu seinem Tod Pfarrer in Schora; Auskunft der Pfarrerkartei der Kirchenprovinz Sachsen/Halle) ist Autor folgender Schrift: Drey gleissende Ursachen denen Herrnhutischen Brüdern geneigt zu seyn, Wittenberg 1749. Bei einem von [Anonym:] Die gelehrte Blösse, 6 in Anm. *, erwähnten Sohn Wolders handelt es sich um Johann Friedrich Wolder (1733–1798), den späteren Pfarrer von Callenberg im Schönburgischen (Sächsisches Pfarrerbuch, Tl. 2, 1035), dessen Mitwirkung bei einer Wittenberger Dissertation im Jahr 1757 nachgewiesen ist; vgl. Ch. S. Georgi (praes.); J. F. Wolder (resp.): Dissertationem theologicam de oculo Domini omnia vidente, ad locos Matth. IX, 18–26, et XXIV, 15–28 illustrandos [. . .], Wittenbergae 1757. 161 DBA I 691, 315 f. – Von dieser Korrespondenz haben sich jedoch nur sechs Briefe aus den Jahren 1754 bis 1756 erhalten; vgl. Suchier: Gottscheds Korrespondenten, 43. 162 Vgl. dafür die nicht ganz eindeutigen Ausführungen bei [Koltitz:] Allegorische Beurtheilung, Bl. A3r-B1r. – Auf Grundlage dieser Ausführungen ist die in GV 147, 104 behauptete Verfasserschaft Koltitz’ für das Triumphlied hinfällig. 163 Vgl. [Gottsched:] Rez. Allegorische Beurtheilung, 73: »Der Verf. derselben [sc. der Tschirpenden Grille; A. S.] muß Ursache gefunden haben, sich der Sache [sc. dem Angestimmten Triumphlied; A. S.] anzunehmen. Daher hat er sich aufgemachet u. auf den vermeynten Urheber der ersten Schrift eine recht homiletische Anklage verfertiget; darinn er

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te sich Koltitz, der Anfang 1755 in Gottscheds Gesellschaft der freyen Künste und Wissenschaften aufgenommen worden war,164 zum Homiletikverständnis seines ehemaligen Lehrers.165 Daß der Zerbster Gottsched-Schüler vor allem in Fragen der (geistlichen) Beredsamkeit dem Leipziger Rhetorik- und Predigtreformer folgte, unterstreichen dabei auch die Aussage eines Briefes166 sowie eine 1750 veröffentlichte Sammlung von Reden.167 Im vorliegenden Zusammenhang formulierte Koltitz’ homiletisches Credo jedoch keine Antithese zu Meier (dem er vielmehr einen Lobspruch widmete),168 sondern den Dissens mit Wolder, dessen konservativ-theologisches Predigtverständnis ihn als »orthodoxen« Gegner der »philosophischen« Predigt in Erscheinung treten ließ. Vermutlich lieferte diese homiletikgeschichtliche Zuordnung auch den Grund dafür, warum der Schoraer Pfarrer publizistisch Einspruch gegen die Verteidigung der »philosophischen« Predigt im Angestimmte[n] Triumphlied erhob.169 Klarer als in dieser nur halb rekonstruierbaren publizistischen Kontroverse waren die Verhältnisse bei einem anderen Gottschedschüler, der im Zusammenhang des Halle-Leipziger Literaturstreits den von Klopstock repräsentierten und von Meier propagierten Literaturgeschmack in dezidiert homiletischer Perspektive problematisierte. Es handelte sich dabei um den in ihn recht schematisch, mit einer tschirpenden Grille vergleicht, und eine gute Kenntniß dieses Ungeziefers zeiget. Allein, da er die Hauptfrage des Streits verließ, und persönliche Vorwürfe gegen den vermeynten Gegner vorbrachte, die ihn bey Unverständigen beschimpfen konnten; so fand dieser es für rathsam, seine Ehre zu retten.« 164 DBA I 691, 319. 165 [Koltitz:] Allegorische Beurtheilung, 30: »Ich beurtheile eine geistliche Rede nach den allgemeinen Grundsätzen einer vernünftigen Redekunst eben so wohl, als eine weltliche. Eine gesunde Homilie ist nur eine genauere und speciellere Anwendung dieser Grundsätze.« 166 In einem Brief Koltitz’ an Gottsched, Zerbst, 16.1. 1754, UBL, Ms 0342, Bd. 19, Bl. 34r, bezeichnete der Zerbster Predigtamtskandidat seinen einstigen Lehrer »als ein[en] so grosse[n] Beförderer der schönen Wissenschaften überhaupt und der Beredsamkeit insbesondere«. 167 Koltitz: Versuche in der Beredsamkeit und Wolredenheit (1750). – Vielleicht darf man aus diesen redepraktischen Aktivitäten rückschließen, daß Koltitz Mitglied in Gottscheds Rednergesellschaft war. 168 [Koltitz:] Allegorische Beurtheilung, 29 bekannte auf nicht-satirische Weise: »Uebrigens erkläre ich den Herrn Prof. Meier für einen so geschickten, als berühmten Mann, dessen Schriften eine Zierde des gegenwärtigen Jahrhunderts sind. Ich lese und studiere dieselben seit langer Zeit.« 169 Auf Wolders konservativ-theologisches Predigtverständnis lassen verschiedene Bemerkungen bei Koltitz sowie beim Verfasser der Gelehrten Blösse rückschließen. Und auch [Gottsched:] Rez. Allegorische Beurtheilung, 72 verortete die ganze publizistische Kontroverse als eine Auseinandersetzung zwischen spätorthodox bzw. theologisch-konservativer und »philosophischer« Predigtauffassung, wenn er zum Streit zusammenfassend meinte: »Man will nämlich heute zu tage, beschimpfungsweise, alles philosophisch nennen, was von dem alten Schlendrian der Homilie, von dem alten Postillengeschmacke, in elendem Exegesiren, Umschreiben, oder besser, Tavtologisiren, abweicht.«

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der Niederlausitz geborenen Johann Gottfried Reichel (1727–1778),170 der zeitweilig in Leipzig studierte und hier in Verbindung mit Gottsched trat. Das enge Verhältnis, in dem er und sein Lehrer noch zur Zeit von Meiers publizistischer Intervention standen, dokumentiert dabei die intensive Korrespondenz, die die beiden damals führten.171 Manch vertrauliche Information, etwa über die Hintergründe der Zensur des homiletischen Kapitels von Gottscheds Ausführliche[r] Redekunst, wurde dabei ausgetauscht.172 Erst dadurch wurde bei Reichel auch überhaupt das Interesse geweckt, das homiletische Lehrbuch Gottscheds kennenzulernen und zu erwerben.173 Ob es bei seinen nachfolgenden Interventionen zugunsten Gottscheds eine besondere Rolle gespielt hat, scheint jedoch eher fraglich. Bevor nämlich Reichel 1757 aus dem Dunstkreis Gottscheds verschwand, indem er als Dreißigjähriger auf eine Professur für Geschichte an die zwei Jahre zuvor gegründete Moskauer Universität berufen wurde, kämpfte er als Mitglied von Gottscheds Gesellschaft der freyen Künste174 im »neologischen Krieg« der Jahre 1750 bis 1756 an der Seite seines Leipziger Lehrers und des von ihm zum Dichterfürsten gekrönten Christoph Otto Freiherr von Schönaich (1725–1807) gegen Klopstocks Messias und den neuen Dichtungsge170 Zu Reichel vgl. den dürftigen Eintrag in DBA I 1011, 123 f.; ausführlichere Angaben bietet U. Lehmann: Der Gottschedkreis und Russland: deutsch-russische Literaturbeziehungen im Zeitalter der Auf klärung, Berlin 1966, 48–58. 171 Für den Zeitraum zwischen 1753 bis 1756 sind 40 Briefe Reichels an Gottsched überliefert; vgl. Suchier: Gottscheds Korrespondenten, 60; drei dieser Briefe abgedruckt bei Danzel: Gottsched, 382–386. 172 Dies geht aus drei Briefen Reichels an Gottsched hervor, die zwischen dem 16. Dezember 1753 und dem 19. Januar 1754 gewechselt wurden; UBL, Ms 0342, Bd. 18, Bl. 591v: »Noch eine Frage, die wichtiger ist: Warum steht in der zwoten Ausgabe der Redekunst im praktischen Theil nicht das Capitel von geistlichen Reden? Wer die Gottesgelahrtheit und ihre Redekunst inne hat, der kan in Gottes Nahmen predigen: und braucht keine besondere Anweisung. Bin ich in diesem Hauptstücke orthodox?« – Ebd, Bd. 19, Bl. 10v: »Die Geschichte des Capitels von geistlichen Reden in der Redekunst, wird mir sehr angenehm seyn, wenn Euro Magnificenz bey Gelegenheit und Muße mich davon unterhalten wollten. Ich habe für dieses Buch zu Wittenberg gestritten, als H.Dr Hofman(n) ein ungeneigtes Urteil darüber fällete.« – Ebd, Bd. 19, Bl. 43v: »Die Geschichte der Redekunst ist mir sehr angenehm gewesen. Ich danke dafür gehorsamst [. . .]«. – Bei dem erwähnten »H.Dr. Hofmann« handelt es sich um den oben erwähnten (Kap. 4, Abschn. 1.2) erwähnten Wittenberger Theologen Carl Gottlob Hofmann, von dem sich ein Brief an Gottsched aus dem Jahr 1746 erhalten hat; vgl. Suchier: Gottscheds Korrespondenten, 39. 173 Reichel, dem offenbar von Gottsched das Stichwort des Grund-Risses einer Lehr-Arth souffl iert worden war (ohne daß dabei ein Hinweis auf die Verfasserschaft Gottscheds fiel), bemerkte in einem Brief an diesen, Starzedel, 19.1. 1754, UBL, Ms 0342, Bd. 19, Bl. 43v: »[. . .] drey Personen haben, nach dem Ausspruche eines Professors, an der Lehrart erbaul. zu predigen gearbeitet; näml. Reinbeck, sein Amanuensis, und der sel. Haude. Ich kann das Buch nicht auftreiben, und will mich bis zur Jubilate Meße gedulden. Oporin hat sehr darüber geseufzet: ander Leuthe mehr.« 174 Zu Mitgliedern und Aktivitäten dieser Sozietät siehe Waniek: Gottsched, 611– 655.

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schmack.175 So veröffentlichten der als Hofmeister zu Starzedel in der Niederlausitz wirkende Reichel und von Schönaich gemeinsam ein Neologisches Wörterbuch176 , in dem sie vermeintliche Stilblüten der neuen, von Klopstock inspirierten Ästhetik zusammentrugen,177 um auf diese Weise »die Sprache der Empfi ndsamkeit [. . .] mit nüchternem Raisonnement lächerlich zu machen«178 . Im Zusammenhang des teilweise auf niedrigem Niveau geführten »neologischen Krieges« profi lierte sich Reichel auch als Autor eines gegen Georg Friedrich Meier gerichteten Pamphlets,179 weil dieser die für ihn so unerträgliche »Klopstockisie dickbäckisch ausposaunt[e]«180. Dies schloß Fragen der Kanzelberedsamkeit ausdrücklich mit ein. Denn in einem Brief vom 16. Dezember 1753, einige Wochen nach der Publikation von Meiers Gedan[c]ken vom philosophischen Predigen, schimpfte der Starzedeler Hofmeister in einem Brief an Gottsched über den wachsenden Einfluß, den »Klopstock und Consorten« auf die Predigt gewannen: »Wenn es doch möglich wäre das reimlose Ottergezüchte zu dämpfen! Es ist den Heuschrecken ähnl[ich] die überal ihre Bruth fallen lassen. Die Leser werden überlistet: denn sie halten das unsinnige Zeug für einen wahren Auswurf der poetischen Begeisterung. Ein guter Freund, dem ich eine kleine Abhandlung von dem Nutzen der schönen Wissenschaften in der Kanzelberedsamkeit zugedacht habe, sol sich von dem guten Geschmacke getrennet haben, und sol anfangen seine Belesenheit in Klopstock und Consorten auf der Kanzel zu verrathen! Wenn unsere kleinen Kanzelredner erst ästhetisch, und ihre geistlichen Reden schöpferisch, mahlerisch, und ätherisch werden, über die Zuhörer hinschweben, und sie das Zeug von den Kanzeln herab lächeln sollen, so ist es aus. Dann muß man sich fürchten müßen die Possen lächerlich zu machen.«181

Das hier angesprochene, homiletikgeschichtlich zwar bekannte,182 bislang aber noch nie genauer untersuchte, gleichwohl einhellig verurteilte Phänomen des »ästhetischen« Predigens,183 das bereits am Ende des 18. Jahrhun175

Ausführlich dazu Waniek: Gottsched, 567–611. – Zu Schönaich siehe auch LitLex 10 (1991), 353. 176 [Ch. O. v. Schönaich:] Die ganze Aesthetik in einer Nuß, oder Neologisches Wörterbuch, als ein sicherer Kunstgriff, in 24 Stunden ein geistvoller Dichter und Redner zu werden [. . .], [o. O.] 1754; [ J. G. Reichel:] Der ganzen Aesthetik in einer Nuß, oder des neologischen Wörterbuchs erster Anhang, [o. O.] 1755. 177 Zu Reichels Mitarbeit siehe Waniek: Gottsched, 587 f. 601. 605. 609 f.; Lehmann: Der Gottschedkreis, 49. 178 Waniek: Gottsched und die deutsche Litteratur, 589. 179 [ J. G. Reichel:] Trostschreiben an den Herrn Professor Meier über seine Kriegserklärung an den Herrn Prof. Gottsched, abgelassen von der Gesellschaft der kleinen Geister, [o. O.] 1756. 180 Reichel in seinem satirischen Epos »Bodmerias«, zit. bei Waniek: Gottsched, 588. 181 Reichel an Gottsched, Starzedel, 16.12. 1753, UBL, Ms 0342, Bd. 18, 591r-v. 182 Vgl. Schuler: Geschichte, Tl. 2, 205 f. 183 Auf der Grundlage Schulers und eigener Beobachtungen urteilte beispielsweise Schian: Predigt, 692 f. in revisionsbedürftiger Weise: »Bei ihm [sc. Christoph Christian

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derts als eine ebensolche Modetorheit wie das »philosophische« Predigen belächelt wurde,184 mag in der Praxis – ähnlich den »philosophischen« Predigten – zu einzelnen Übertreibungen und Entgleisungen geführt haben.185 In predigttheoretischer Betrachtung waren die »ästhetischen« Predigten, die in der homiletischen Diskussion bis in die 1770er Jahre eine Rolle spielten,186 aber doch nur der predigtpraktische Exponent jener Entwicklungen Sturm (1740–1786); A. S.] zeigen sich auch starke Spuren der damals auf kommenden poetisch-ästhetischen Predigtart. Sie besteht darin, daß manche Prediger unter dem Einfluß von Klopstocks Messias, Youngs Nachtgedanken, Ossians, Yoriks empfi ndsamen Reisen u. dgl. sich im Schwulst hochtrabender, pathetischer Phrasen nach dem Geschmack eines Lohenstein oder in süßlich sentimentaler Sprache gefielen, ja sogar im höheren Ton Klopstockscher Hexameter predigten. [. . .] Glücklicherweise ging diese Geschmacksverirrung infolge der Rüge von G. F. Meier (Kunst zu predigen 1772 S. 52) u. a. rasch vorüber.« Vgl. auch Schenk: Geschichte, 170. 184 J. R. Schlegel: Kirchengeschichte des achtzehnten Jahrhunderts. Zweyter und letzter Band. Erste Abtheilung, Heilbronn 1788, 170 f. urteilte in kritischer Distanz, die sich dem weiterentwicklten Predigtverständnis seiner Zeit verdankte, über »philosophische« und »ästhetische« Prediger gleichermaßen abfällig: »Nebenher traten zu gleicher Zeit philosophische Redner auf, die auf der Kanzel die Sprache des Katheders führten, und weder den Verstand ihrer Zuhörer erleuchteten, noch ihr Herz erwärmten; und auf diese folgten süß lallende Schwätzer, die, von der Messiade begeistert, überall Seraphe erblickten, Enthusiasmus an die Stelle der ruhigen Ueberzeugung sezten, und statt eines mit edler Einfalt begabten, lichtvollen Vortrags die Zuhörer mit poetischen Rednerblumen mehr zu belustigen, als zu belehren und zu rühren suchten.« 185 Schwer einzuschätzen ist beispielsweise das vom Gottsched-Schüler Löw (s. o. Kap. 3, Abschn. 2.2) geäußerte Verdikt über die grassierende Klopstock-Begeisterung auf der Kanzel, bei dem es sich vielleicht um eine positionelle Kritik auf Grundlage des für Löw maßgeblichen, von Gottsched geprägten Predigtgeschmacks handeln könnte. Löw meinte 1754 in der Vorrede einer von ihm herausgegebenen Predigtsammlung: Neue Sammlung gründlicher und erbaulicher Cantzel=Andachten, Tl. 1, Bl. b3r-v: »Verschiedene rechtschaffene Männer benachrichtigen uns glaubwürdig, daß an vielen Orten sich die Dichtkunst in das Heiligthum einschleiche, nicht in der Absicht, daselbst Lieder in höhern Chor zu singen; [. . .] sondern in der unerhörten Absicht, das gekünstelte Gewebe des geistlichen Redners, mit ihren Bildern und Gemählden, auf das prächtigste zu schmükken, und seinen ungebundenen Vortrag, durch solche Ausdrückungen, welche ihr sonst allein eigen sind, recht schimmernd zu machen. Das ist ohne Zweifel ein Mißbrauch, den man nicht übersehen kann. Klopstocks Messias bleibt für mir in seinem Werthe; ich kenne vernünftige Männer, welche Kräfte haben, ihn mit Verstande zu lesen: Und des Englländers Young übersetzte Nachtgedanken mögen meinetwegen ein poetisches Meisterstück heissen. Nur auf der Cantzel muß man nicht ihre Sprache reden.« 186 Unauffi ndbar ist bislang die vermutlich in diesen Zusammenhang gehörende Schrift: Unvorgreifliche Gedancken über die so beliebte neue Art zu predigen, Helmstedt 1757; Titel nach Walch: Bibliotheca theologica selecta, Tom IV, 964; GV 44, 165 nennt zwei andere Ausgaben: 1750. 1756 (ohne »unvorgreifl iche«). – Siehe ferner [Anonym:] Gedanken von aesthetischen Predigten, entworfen von M., Rostock und Wismar 1760. – Als einen von mehreren kritischen Reflexen auf das Problem der »ästhetischen« Predigt aus der Diskussion der 1760er Jahre verweise ich auf G. Less: Betrachtungen über einige neuere Fehler im Predigen welche das Rürende des Kanzelvortrages hindern. Bei Ubernehmung der Aufsicht über das hiesige Prediger Kollegium, Göttingen 1765, 22: »Beim Erhabenen verunglücken viele unserer Kanzelredner noch mehr. [. . .] Die wenigsten haben einen richtigen Begrif vom Pathetischen und Erhabenen. [. . .] Wie ungereimt ist es daher? wenn

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im erkenntnispsychologischen und geschmackstheoretischen Bereich, wie sie von Georg Friedrich Meier in Frontstellung zur »philosophischen« Predigt erstmals problematisiert worden waren. Da Gottsched die von Meier repräsentierte philosophische Entwicklung nicht mitvollzog, konnte er auch die sich daraus ergebenden Neuorientierungen für den sprachlichen Ausdruck (Stil) nicht tolerieren. In einer Vorrede, die der Leipziger Philosophieprofessor 1755 einer Sammlung von Musterreden voranstellte, kritisierte er vielmehr den neuen Geschmackswandel, mit dem sich die »ästhetische« Sprachauffassung die Redepraxis um ihn herum eroberte: »Heute zu Tage hat man den gekünstelten und gefi rnißten Ausdruck lieb gewonnen; und meynet, wenn man nur kühn, neu und wild, d. i. ästhetisch reden könne: so habe man die ganze Dichtkunst und Beredsamkeit in seiner Gewalt.«187 Auf dieser Kritiklinie formulierten dann Gottschedianer wie Reichel auch ihre dezidiert homiletische Kritik an der »ästhetischen« Predigt. Zu diesem Zweck veröffentlichte der Starzedeler Hofmeister im Frühjahr 1755 in der von Gottsched herausgegebenen Sozietätszeitschrift Sammlung einiger ausgesuchten Stücke der Gesellschaft der freyen Künste zu Leipzig einen Aufsatz, der der Ansicht Ausdruck verlieh, daß ein Prediger »in der Schreibart kein Neuling«, d. h. in den umstrittenen Fragen des Geschmacks und Stils kein »Neologe« sein dürfe.188 In Würdigung der philosophischen Revolution des Wolffianismus und der Sprachreformen Gottscheds, die sich laut Reichel in Mosheim zu homiletischer Vorbildlichkeit zusammengefunden hat-

der Prediger, welcher hohen Dingen ein gemeinen, vertrauliches Ansehen geben soll: dergleichen Ausdrücke die im Klopstock und Milton schön sind auf der Kanzel braucht. Dem Gelehrten ist es ein Eckel, und dem Ungelehrten ganz unverständlich«; zu Leß (1741–1792) und dessen homiletischen Traktat ( jedoch ohne einen Hinweis auf Leß’ Stellung gegenüber der »ästhetischen« Predigt) vgl. Hammann: Universitätsgottesdienst, 262– 291, bes. 267–272; zu dem – von Schian erwähnten – angeblichen Einspruch Meiers gegen die »ästhetischen« Predigten, der tatsächlich aber einen Einspruch gegen deren Mißbrauch darstellt, siehe Meier: Kunst zu predigen, 52: »Seitdem ein Versuch einer allgemeinen Theorie aller schönen Wissenschaften, unter dem Namen der Aesthetic, bekannt geworden: seitdem hat man auch den Namen ästhetischer Predigten gehört, und einige Thoren haben angefangen damit großzuthun, daß sie ihrer Meinung nach die Gabe besitzen, ästhetisch zu predigen. Wenn nun ein solcher Thor einemal einen Ausfall in eine Dorf kirche thut, und in dem Tone einer Meßiade, der noch dazu meistens sehr schlecht nachgeahmt ist, eine Dorfgemeinde zu erbauen sucht: so würde er eben so klug handeln, wenn er seine Predigt in arabischer Sprache hielte.« 187 J. Ch. Gottsched: Vorrede [zu: Muster der Beredsamkeit, hrsg. von J. T. Schulz, Leipzig 1755], GAW X/2, 419,9–13. 188 J. G. Reichel: Erweis, ein geistlicher Redner solle in der Schreibart kein Neuling seyn, in: Sammlung einiger Ausgesuchten Stücke, der Gesellschaft der freyen Künste zu Leipzig 2 (1755), 401–416.

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ten,189 skizzierte der Gottschedschüler die neuesten homiletischen Entwicklungen dabei wie folgt: »Nach und nach fi ng man an, mit deutschen Buchstaben eine andere Sprache zu schreiben, und mit deutschen Wörtern eine neue Sprache zu reden. Es ist vielen geistlichen Rednern das Unglück begegnet, daß sie von der natürlichen Schreibart abgegangen; und durch eine übelgerathene Nachahmungssucht, in eine Schwulst und übertriebene Schreibart gerathen sind, die eben so neologisch, als die epischen Gesänge der klopfstockischen Anbether aussiehet. [. . .] Der Wurmsamen190 der Dichter ist leider! auch auf das Feld der Redner gefallen: und es sind aus diesem Samen häufige Neologisten hervorgeschossen.«191

In Orientierung an dem auch für die Predigt verbindlichen Stilideal seines Lehrers hielt Reichel gegenüber der Vieldeutigkeit und dem Pathos des »ästhetischen« Sprachausdrucks an der Eindeutigkeit und Nüchternheit der »philosophischen« Sprachtheorie fest.192 Er betonte – der Kritik Meiers unfreiwillig Recht gebend – die homiletische Präferenz der docere-Funktion der Predigt, indem er forderte: »Ein geistlicher Redner soll deutlich reden; damit er unterrichte.«193 Denn selbst wenn man meine, daß die Einfältigen unter den Zuhörern mit den an sich klaren Wahrheiten der Offenbarung überfordert wären und einer »undeutlichen«, bildhaften Sprache bedürften, 189 Reichel: Erweis, 403 f.: »Die Verbesserung der deutschen Sprache, für deren Ehre ein berühmter Gelehrter noch vorzüglich arbeitet, hat, nebst andern Bemühungen verschiedener Gesellschaften, der geistlichen Beredsamkeit nicht geringe Vortheile zuwege gebracht. Ich hätte hier Gelegenheit, auch den Verbesserern der Weltweisheit eine Schmäucheley zu sagen: aber es sind verhaßte Leute, die man an gewissen Orten nicht ohne Gefahr loben kann: besonders an solchen Orten, wo man ihre Schriften niemals gesehen, niemals gelesen; sondern nur ihre Namen mit einem gewöhnlichen Banne gehöret hat. Man wird mir aber doch erlauben, daß ich den Namen des Herrn Kanzlers von Mosheim nenne. Seine heiligen Reden machten vor dreyßig Jahren die meisten geistlichen Redner aufmerksam; und zeigten die Möglichkeit, auch auf der Kanzel beredt zu seyn. Von dieser Zeit an, sah man eine Menge heiliger Reden in die Welt fl iegen, über deren Werth und Unwerth ich nicht urtheilen kann. So viel ist gewiß: viele marterten sich, wie ein Mosheim zu reden, ehe sie sich die Mühe nahmen, wie ein Mosheim zu denken.« 190 Dieses ist Anspielung auf eine dreiteilige Kampfschrift der Gottschedianer gegen Klopstock und den neuen Literaturgeschmack; [D. W. Triller:] Der Wurmsamen. Ein Helden=Gedicht, Gesang 1–3, Frankfurt 1751/52; vgl. Waniek: Gottsched, 574–578. 191 Reichel: Erweis, 404. 192 Reichel: Erweis, 405: »Wörter sind Zeichen unserer Gedanken. Bringen wir es dahin, daß wir ordentlich und richtig denken; so wird unsere Schreibart auch ordentlich und richtig seyn: denn gemeiniglich sind bey einer übertriebenen und gezwungenen Schreibart die Gedanken selten gründlich; wann sie auf die Probe gestellet werden. Diesem Schicksale sind die Neulinge in der Schreibart unterworfen.« 193 Reichel: Erweis, 407; vgl. auch ebd.: »Ein geistlicher Redner hat also Wahrheiten vorzutragen, die deutlich sind. Läßt er sich nun von einem thörichten Wahne dahin reißen, diese deutlichen Wahrheiten mit neuen Wörtern, ungewöhnlichen Redensarten, kühnen Metaphoren, malerischen Allegorien, und weitläuftigen Umschreibungen zu umhüllen: so wird er den Zuhörern unverständlich; folglich unterrichtet er nicht. Und was ist denn sonst der Endzweck seiner Predigten?«

1 Die Herausforderung durch die »ästhetische« Predigt

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wäre doch unumstritten, daß »die meisten unserer Glaubenslehren und Lebenspfl ichten, so klar, und so deutlich vorgetragen, und in der Offenbarung für den gemeinen Verstand so faßlich niedergeschrieben sind«194, daß sie durch einen »undeutlichen« Predigtvortrag nicht verdunkelt werden dürften. Während Reichels Reaktion offenkundig machte, daß Gottsched und die auf ihn fi xierten Schüler im Streit mit Zürich und Halle hartnäckig an den einstmals für richtig befundenen philosophischen und literaturtheoretischen Positionen festhielten und bei den strittigen Fragen ihren Gegnern keinen Schritt entgegenkamen,195 schien Mosheim, der 1747 als Kanzler, Konsistorialrat und ordentlicher Theologieprofessor von Helmstedt nach Göttingen gewechselt war, angesichts der nicht zuletzt vom neuen Ort seines Wirkens aus beständig vorgetragenen Kritik am Ende doch einzulenken. Denn ein Jahr vor seinem Tod räumte er im Entwurf seiner Pastoraltheologie (1754) – zeitgleich mit Meiers Gedan[c]ken vom philosophischen Predigen – die Berechtigung der v. a. theologischerseits geäußerten Forderungen nach einer stärkeren biblischen Rückbindung der »philosophischen« Predigt ein und schlug als Alternative eine Verbindung von »philosophischer« und »biblischer« Predigt vor.196 Die Ausführungen seiner 1763 postum veröffentlichten Homiletik, die bestimmte Kritikpunkte an der »philosophischen« Predigt abermals affi rmierte,197 machten aber deutlich, daß er im Kern dennoch ein Befürworter derjenigen »philosophischen« Prediger blieb, »welche es für keine Sünde halten, bey der geistlichen Beredsamkeit sich der Regeln der Vernunft zu bedienen, und die Predigten nach den Gesetzen der weltlichen Beredsamkeit abzufassen«198. Mit taktischem Geschick okkupierte er den 194

Reichel: Erweis, 407. Bereits der seinem Lehrer Gottsched wohlwollend gegenüberstehende A. G. Kästner: Betrachtungen, 78 hatte deshalb in gesamtbiographischer Perspektive über diesen geurteilt: »Dieses scheint der Fehler zu seyn, der das Meiste zu Gottscheds Falle beygetragen hat. Er blieb bey den Einsichten stehen, die er sich in seinen jüngern Jahren erworben hatte.« 196 Mosheim: Pastoraltheologie, 88 f. beurteilte die jüngsten Entwicklungen im deutschen Predigtwesen wie folgt: »Dem ohngeachtet sind zwo Secten der Homileten in unserer Kirchen entstanden, die noch jetzund einander in den Haaren liegen, und vielleicht wohl niemals werden vereiniget werden. Die eine ist die Secte der Rationalisten, die alles auf der Kanzel nach den ersten Gründen der Vernunft will ausgeführet und abgehandelt wissen. Die andere, ist die Secte derjenigen, die von nichts als einer einfältigen Erklärung der Sache und der Lehren, die in der Schrift stehen, wissen will. Man könnte diese Secte, die Secte der Scriptuariorum nennen. Das ist aber am allergescheutesten, der die Lehrsätze dieser beyden Secten auf eine gewisse Weise zusammen verbindet, und sich dabey stets nach den Umständen der Gemeine, zu der er reden muß, richtet.« 197 Mosheim: Anweisung erbaulich zu predigen, 88 f. – Vgl. für die Kritik am zu sparsamen Bibelgebrauch der »philosophischen« Prediger die Stellenhinweise für die zweite Aufl age seiner Homiletik (1771) bei Schuler: Geschichte, Tl. 2, 187 mit Anm. e). 198 Mosheim: Anweisung erbaulich zu predigen, 87. 195

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Begriff der »biblischen« Predigt für seine Zwecke, indem er behauptete, daß ein rechter »philosophischer« Prediger eben das sei, was die Kritiker forderten: ein biblischer Prediger.199 Und auch auf die Herauforderung der »ästhetischen« Predigt schien Mosheim noch positiv reagiert zu haben, wenn er den für sie zentralen Begriff der auf »Rührung« ausgerichteten »Empfindungskraft« in seine eigene Definition des Erbauungsbegriffes integrierte. Denn laut einem auf 85 Seiten reduzierten, »hin und wieder berichtigt[en] und ergänzet[en]« Auszug aus seiner Homiletik aus dem Jahr 1773 übersetzte er »Erbauung« als eine »Besserung zu Gott im Glauben, die hauptsächlich den Verstand und Willen selbst, demnächst auch die Empfi ndungskraft betrifft« 200. Ein quellenkritischer Vergleich mit der Erstausgabe seiner Anweisung erbaulich zu predigen zeigt jedoch, daß die vermeintliche Integration der »Empfi ndungskraft« als nachträglicher Herausgeberzusatz einzuschätzen ist,201 mit dem Mosheims Predigttheorie – zumindest an diesem Punkt – nachträglich auf jenes Niveau gehoben werden sollte, das der Göttinger Predigttheoretiker selbst tatsächlich nicht mehr erreicht hatte.

199 Mosheim: Anweisung erbaulich zu predigen, 88: »Ein biblischer Prediger ist eigentlich nichts anders, als ein Mann, der nichts anders saget, als was seinen Grund in der Bibel hat, und der die göttlichen Wahrheiten, die er vorträgt, auf eine bündige Art aus der heiligen Schrift herleitet. Solche Prediger müssen wir alle seyn, und das ist es eben, was die philosophischen Prediger thuen.« 200 J. L. v. Mosheim: Anweisung erbaulich zu predigen. In einem fruchtbaren Auszug, zum Theil in genauere Ordnung gebracht, hin und wieder berichtigt und ergänzet von D. George Joachim Mark, Bützow und Wismar 1773, 5; zit. bei Wintzer: Die Homiletik seit Schleiermacher, 71 in Anm. 85; Haizmann: Erbauung, 59 in Anm. 21. 201 Vgl. Mosheim: Anweisung erbaulich zu predigen (1763), 13, wo Mosheims Erbauungsdefi nition lediglich auf eine doppelte, an der Wolffschen Psychologie orientierte Predigtabsicht abhebt (Verstand/Erkenntnis und Willen/Handeln): »Es sollen nämlich die Zuhörer 1) in ihrer bereits erlangten Erkenntniß der Religion befestiget, und dieselbe erweitert werden. 2) Sollen sie zum Fleisse und Wachsthum in der Gottseeligkeit erwecket und ermuntert werden. Diese Absichten einer Predigt nennen wir in der gemeinen Sprache mit einem Worte die Erbauung.« Die Erklärung der Defi nition ebd, 13 f. führt diese zweifache Zweckbestimmung nochmals in aller Deutlichkeit aus: »Die Absicht einer Predigt ist gedoppelt. Die eine bezieht sich auf den Verstand, die andere auf den Willen der Zuhörer. Es soll erstlich der Verstand derselben in den Religionswahrheiten mehr gegründet werden: [. . .] Zweytens soll der Wille der Zuhörer gebessert werden.« Diese psychologische Dichotomie schlägt sich in einer homiletischen Zweiteilung nieder; ebd, 15: »Wir sehen in unserer Kirche auf den Verstand und Willen zugleich, und wir haben eine solche Predigtform angenommen, daß beydes, Verstand und Herz, sein Theil bekommt. Unsere so genannte Tractation in der Predigt gehet auf den Verstand; die Nutzanwendung, oder der sogenannte Usus, auf den Willen.« Die Vorstellung einer »Empfi ndungskraft«, die homiletisch zu integrieren wäre, spielt bei diesen Überlegungen keine Rolle.

2 Die Herausforderung durch die »moralische« Predigt

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2 Die Herausforderung durch die »moralische« Predigt Ein Blick auf den homiletischen Diskurs abseits der bisherigen Fokussierung auf Gottsched und Meier macht jedoch deutlich, daß noch von einer ganz anderen Seite das Problem affektiver »Rührung« ins Zentrum der Reflexion rückte, eine Entwicklung, die den 1755 verstorbenen Mosheim tatsächlich unberührt ließ.202 Denn parallel zu Klopstock, der um die Jahrhundertmitte die »herzrührende Schreibart«203 unter formal-ästhetischen Gesichtspunkten zum Höchsten erklärte, dessen ein Redner fähig war,204 und auf diese Weise gegen das »kalte« Raisonnement der »philosophischen« Poeten und Prediger opponierte,205 nahm auch von theologisch-religionsphilosophischer Seite ein neues Christentumsverständnis Einfluß auf die homiletische Diskussion, indem Religion nun objektiv-theologisch als Moral bzw. subjektiv-anthropologisch als moralisches Gefühl bestimmt wurde. In der Folge dieses ebenfalls um 1750 einsetzenden theologiegeschichtlichen Wandlungsprozesses wurde »(d)as Rührungsmoment des ethischen Affekts« 206 in den Mittelpunkt der Reflexionsanstrengungen gestellt. Diese kreisten – analog zur Ausformulierung der literarisch-ästhetischen Theorie der Empfi ndsamkeit, in der die Einflüsse der moral-sense-Philosophie eines Shaftesbury oder Hutcheson eine tragende Rolle spielten 207 – um eine auf das Gefühl der 202

Nicht zuletzt aus dem Grund, daß in Mosheims Predigt zu wenig Pathos spürbar sei, schränkte der Göttinger Theologe und Orientalist Johann David Michaelis (1717–1791) die homiletikgeschichtliche Bedeutung Mosheims schon 1768 erheblich ein: [Michaelis]: Raisonnement, Tl. 1, 128 f.: »Wer Mosheims Verdiensten alle Gerechtigkeit widerfahren läßt, wird seine Kirchengeschichte vor ein Muster einer guten Geschichte, und der Ewigkeit werth halten, aber von seinen Predigten wird er sagen, sie seyn die Mode einer kurzen Zeit gewesen, und vielleicht fragt noch künftig ein Critikus, woher es komme, daß so viel Weitläufigkeit und Kunst, so viel schöne Redensarten, bey denen Demosthenis Zuhörer schläfrig geworden wären, haben gefallen können?« 203 K. L. Schneider: Klopstock und die Erneuerung der deutschen Dichtersprache im 18. Jahrhundert, Heidelberg 21965, 87–110, Zitat: 87 (Kapitelüberschrift); zum Stilideal der Schweizer und der Sprache Klopstocks im Spiegel der gegnerischen, v. a. gottschedischen Kritik vgl. ebd, 29–40. 204 F. G. Klopstock: Von der heiligen Poesie (=Vorrede zum 1. Bd. des Messias, 1755), in: ders.: Ausgewählte Werke/ hrsg. von K. A. Schleiden, München1962, 1009: »Das Herz ganz zu rühren, ist überhaupt, in jeder Art der Beredsamkeit, das Höchste, was sich der Meister vorsetzen, und was der Hörer von ihm fordern kann.« 205 F. G. Klopstock: Von der besten Art über Gott zu denken (1758), in: Der nordische Aufseher/ hrsg. von J. A. Cramer, Bd. 1, Kopenhagen und Leipzig 1760, 314: »Es giebt eine kalte, metaphysische Art, die Gott beynahe nur als ein Objekt einer Wissenschaft ansieht, und eben so unbewegt über ihn philosophirt, als wenn sie die Begriffe der Zeit und des Raumes entwickelte. Eine von ihren besondern Unvollkommenheiten ist diese, daß sie in den Ketten irgend einer Methode einhergeht, welche ihr so lieb sind, daß sie jede freyere Erfi ndung einer über Gottes Größe entzückten Seele fast ohne Untersuchung verwirft.« 206 Robling: Ethos, HWRh 2, 1541. 207 Nach G. Sauder: Empfi ndsamkeit, LitLex 13 (1992), 204 »steht ihre [sc. der moralsense-Theorie] zentrale Bedeutung für die empfi ndsame Tendenz hierzulande außer Frage.

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göttlichen (moralischen) Wahrheiten ausgerichtete Predigtkonzeption, die das Ideal eines »Predigers der Tugend und Empfi ndsamkeit« formulierte, der nicht mehr primär die Sprache der Vernunft, sondern auch und vor allem die »Sprache des Herzens« zu führen verstand.208 Während der einstige Alethophile und 1740 zum reformierten Berliner Hofprediger berufene August Friedrich Wilhelm Sack 209 die daraus fl ießende Forderung nach einer »moralischen« 210 Predigt im Jahr 1750 erstmals explizierte, wurde der Lassaner und Barther Pfarrer Johann Joachim Spalding (1714–1804) 211 zum grundlegenden Theoretiker dieses klassischen Typs neologischen 212 Predigtverständnisses. In einer 1761 erschienenen Schrift bestimmte er den religionstheoretischen »Werth der Gefühle im Christenthum« 213 dahingehend, daß sich in Korrelation zum »ästhetischen« Predigttyp die Ansicht durchsetzen konnte, daß »(. . .) da keine wahre und vollständige Erbauung statt haben (kann), wo die Sprache des Herzens fehlet«214. Sack, der für Spalding eigentliche theologische Lehrer,215 der im übrigen mit Klopstock und Wieland in briefl icher Verbindung stand, trat dabei kaum zufällig zwei Jahre nach seinem Plädoyer für die »moralische« Predigt in den Sie setzt voraus, daß jedem menschl. Herzen ein ›natürliches Gesetz‹ des ›immediate feeling and fi ner internal sense‹ eingeschrieben sei [. . .]«; an anderer Stelle erklärte ders.: Der empfi ndsame Leser, in: Das weinende Saeculum: Colloquium der Arbeitsstelle 18. Jahrhundert Gesamthochschule Wuppertal, Universität Münster, Schloß Dyck vom 7.–9. Oktober 1981, Heidelberg 1983, 11 ganz ähnlich: »Ich lasse hier die eher ideengeschichtlichen Prozesse, vor allem den Komplex des moral sense beiseite, der zweifellos im Zentrum einer Theorie der Empfi ndsamkeit zu situieren ist.« Denn nach Gerhard Sauder: Empfi ndsamkeit. Bd. 1. Stuttgart 1974, XVIII stellte die moral-sense-Theorie »die einzige umfassende Theorie der Empfi ndungen (im Sinne der Empfi ndsamkeit) dar«, die »(. . .) sehr schnell in Frankreich und Deutschland rezipiert worden (ist)«. 208 Vgl. G. Sauder: Empfi ndsamkeit – Sublimierte Sexualität?, in: Empfi ndsamkeiten/ hrsg. von K. P. Hansen, Passau 1990, 172 unter Verwendung eines Zitats aus einer anonymen Schrift von 1780: »Die Sprache der Empfi ndungen, ›die man würklich fühlt, nennt man die Sprache des Herzens‹«. 209 Zu Sack s. o. in Kap. 3, Abschn. 3.3. 210 Zu einer unzutreffenden Darstellung der »moralischen« Predigt und des um sie geführten Streites kommt Schenk: Geschichte, 168. 211 Zu Spalding siehe RE3 18 (1906), 553–557 (Hagenbach/Wagenmann); BBKL 10 (1995), 868–870 (Th. K. Kuhn); TRE 31 (2000), 607–610 (D. Bourel); RGG 4 7 (2004), 1534 f. (A. Beutel). 212 Neologisch: hier nicht im literatur-, sondern im theologiegeschichtlichem Sinn. 213 Spalding: Gedanken über den Werth der Gefühle (11761; 51784). 214 J. J. Spalding: Ueber die Erbauung, als den eigentlichen Zweck der Predigten (1768), in: Vier Abhandlungen über einige wichtige und gemeinnützige Wahrheiten der Homiletik von Spalding, Salzmann, und Resewitz. Zur Beförderung eines richtigen Geschmacks in der Kanzelberedsamkeit, vornehmlich bei angehenden Predigern, Berlin 1783, 21; der Text ist ein Wiederabdruck der Vorrede Spaldings zu dessen Neue[n] Predigten (Berlin 1768). 215 Das theologiegeschichtliche Abhängigkeits- und Beeinflussungsverhältnis Sack – Spalding erörtert J. Schollmeier: Johann Joachim Spalding: ein Beitrag zur Theologie der Auf klärung, Gütersloh 1967, 184–210. 224–229.

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literarischen Streitigkeiten um den empfi ndsamen Dichtungsbegriff als Bundesgenosse der »Bremer Beiträger« auf, wo er über die von Gottsched vertretene »Andacht der Vernunft« hinausgehend eine »Andacht der Einbildungskraft« propagierte.216 Denn nach der Theorie der ästhetischen Denkart zielte die Poesie auf die Hervorbringung »moralische[r] Schönheit«,217 ein Ziel, das sich problemlos in theologische Konzepte von der Bestimmung des Menschen integrieren ließ. Die Schnittmenge zwischen ästhetisch-literarischer und homiletisch-theologischer Theorie war im vorgestellten Problemzusammenhang daher von ganz erheblichem Umfang. 2.1 August Friedrich Wilhelm Sack (1750) und Johann Joachim Spalding (1761) Sacks Idee einer »moralischen« Predigt, die er bei der Gelegenheit einer Predigtübersetzung des englischen Predigers Jacob Foster (1697–1753) vorlegte, zielte nach eigenem Bekunden weniger auf eine forcierte Behandlung der christlichen Sittenlehre im Koordinatensytem einer glaubenstheoretische und -praktische Aspekte trennenden Dogmatik, sondern vielmehr auf eine konsequent auf die christliche Existenz ausgerichtete Auffassung und Verkündigung aller, auch der glaubenstheoretischen, Sätze des Christentums.218 Zwar wollte der Berliner Hofprediger nicht behaupten, daß dogmatische Predigten »keine nützliche Predigten wären«, insofern die Glaubens216 A. F. W. Sack: Gedanken über die Frage: Wie weit Erdichtungen in Epopeen, welche Begebenheiten in der Religion zum Gegenstande haben, zugelassen seyn können?, in: Sammlung Vermischter Schriften, von den Verfassern der Bremischen neuen Beyträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes, Bd. 3 (1752), 38; zit. bei Jacob: Heilige Poesie, 11 f. in. Anm. 43: »Kann man die Bemühung, durch gründliche Beweise sich von der Wahrheit der Religion zu überzeugen, die Andacht der Vernunft nennen: so kann auch theils die Erfi ndung frommer und dabey vernünftiger Entdeckungen, theils das Vergnügen darüber die Andacht der Einbildungskraft heißen.« 217 So hieß es beispielsweise bei Klopstock: Von der heiligen Poesie, 1001: »Der letzte Endzweck der höhern Poesie, und zugleich das wahre Kennzeichen ihres Werts, ist die moralische Schönheit. Und auch diese allein verdient es, daß sie unsre ganze Seele in Bewegung setze.« Vgl. in diesem Zusammenhang auch Dürbeck: Fiktion und Wirklichkeit, 35, wo betont wird, daß die Ästhetik Meiers »auf eine Verbesserung der gesamten menschlichen Vermögen angelegt ist und damit [. . .] in eine Anthropologie mündet«. Wie Dürbeck weiter ausführt, habe dies bereits Ernst Cassirer hervorgehoben, der aus seiner Philosophie der Aufklärung ebd. wie folgt zitiert wird: Die Ästhetik Meiers wolle »nicht nur dem System der Philosophie, sondern vor allem und in erster Linie der Lehre vom Menschen dienen. [. . .] Denn die ›schönen Wissenschaften‹ bilden jetzt nicht mehr ein bloßes, relativ selbständiges Teilgebiet des Wissens, sondern sie ›beleben den ganzen Menschen‹ und machen ihn erst zu dem, was er sein kann und sein soll«. 218 Sack: Vorrede von dem Nutzen, Bl. *1r: »Durch moralische Predigten verstehe ich nicht allein solche Predigten, in welchen die christliche Sittenlehre nach der Ordnung eines förmlichen Lehrgebäudes stückweise verhandelt wird; auch nicht allein solche, in welchen der Redner, ausser der Ordnung, diese oder jene besondere Pfl icht nach ihrem Umfange erkläret und anbringet: sondern ich nenne moralische Predigten auch solche, in welchen die heiligen Wahrheiten des Glaubens der Christen überhaupt ganz practisch

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artikel auch für ihn nach wie vor »den Grund der ganzen christlichen Sittenlehre« 219 bildeten. Gleichwohl drang er – Meiers Kritik an der zu theoretischen Ausrichtung der »philosophischen« Predigt aus theologischer Perspektive indirekt bekräftigend – darauf, »daß man die Glaubenslehren nicht zu trocken und von der Moral zu sehr abgesondert vortrüge, sondern bey der Erleuchtung des Verstandes allezeit auf die Rührung und Besserung des Herzens mit sähe« 220. Dieses glaubenspraktische Interesse war bei ihm von einer als schädlich und irrig erachteten Trennung des Glaubens von der Tugend, die zu viel Gewicht auf die rechte Lehre, zu wenig Aufmerksamkeit aber auf das rechte Tun legte, motiviert,221 der damit gewehrt werden sollte.222 In sowohl antiatheistischer 223 als auch antipietistischer 224 Zielrichtung ging es Sack um eine »moralische« Begründung des Christentums, da vorgetragen werden, so wie dieselbe das beständige Gesetz der Gemüths=Neigungen und des Wandels der Gläubigen seyn müssen.« 219 Beide Zitate Sack: Vorrede von dem Nutzen, Bl. *1v. – Vgl. auch Sack: Vorrede von dem Nutzen, Bl. *2r: »So viel ist also unstreitig gewiß: Pfl icht und Glaube sind von Gott selber durch das heiligste und stärkste Band mit einander verknüpft, welches kein Mensch trennen darf. Und man würde gar nicht absehen, wozu überhaupt auch die reinste Glaubenslehre in der Welt nützen sollte, wann sie nicht zugleich der Grund zu einer Pfl icht wäre [. . .].« 220 Sack: Vorrede von dem Nutzen, Bl. *1v. 221 Sack: Vorrede von dem Nutzen, Bl. *3r-v: »Es bestehet also der Nutzen moralischer Predigten überhaupt darin, daß solche den Zuhörer vor dem höchst gefährlichen Irrthume verwahren, als wann der Glaube nur trösten nicht aber heiligen müsse, und die blosse Beypfl ichtung und Annehmung der Glaubenslehren schon ein hinlänglicher Grund der Beruhigung und Seligkeit der Menschen sey.« 222 Sack: Vorrede von dem Nutzen, Bl. *7r-v: »Einmal: den Glauben von der Tugend, und das Christenthum von der Moral trennen wollen, ist die größte und schädlichste Ketzerey, die nur immer zur Gefahr der Seelen erdacht werden kann. Ein Abweg ist so gefährlich als der andere: den Glauben ohne Moral, und die Moral ohne Glauben predigen. [. . .] Der Glaube ist eigentlich die Sonne, welche alle Gegenden der Moral erleuchten und fruchtbar machen muß, wann die Tugend, die himmlische Tugend, zu ihrer gehörigen Reise kommen, und Gott ihrem Ursprunge und Muster gefallen soll.« 223 Sack: Vorrede von dem Nutzen, Bl. *3v: »Durch gute moralische Predigten wird die Ehre der christlichen Religion mehr gerettet, und von dem verläumderischen Vorwurfe der Ungläubigen befreyet, als ob dieselbe in bloßen Glaubens=Artickeln und speculativen Begriffen des Verstandes bestehe, die zur Beßrung des Menschen nichts beytrügen, und von gar keinem Nutzen zur Ordnung und zum Wohl des gemeinen Wesens wären.« 224 Sack: Vorrede von dem Nutzen, Bl. *4v-5r: »Durch moralische Predigten [. . .] wird auch auf der andern Seite der Schwämerey am kräftigsten vorgebeugt, indem dadurch der Mensch in seinen Pfl ichten gehörig unterrichtet, der Gebrauch des gesunden Verstandes bey ihm unterhalten, und also sein Gemüth vor aller Ansteckung des Aberglaubens verwahret wird. Denn der Grund aller schwärmerischen und enthusiastischen Ausschweifungen liegt darin: daß der Mensch entweder zu einer verwirrten Andächtigkeit und Furcht vor Gott verleitet wird, dabey mehr Aengstlichkeit und Kopf hängerey, als wahre Einsicht und Erleuchtung ist, oder daß er den Gebrauch seiner Vernunft in der Religion vor gefährlich hält, oder auch, daß er sich verkehrte Begriffe von dem Glauben macht, und denselben an die Stelle der Rechtschaffenheit und Tugend setzt [. . .].«

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seiner Ansicht nach allein der tätige Glaube sich des Trostes der Gnade Christi gewiß sein könne.225 Ohne detaillierte Ratschläge zu geben, wie seine (mehr die homiletisch-materiale Seite des Predigtaktes betreffenden) Überlegungen zur predigtpraktischen Anwendung gebracht werden könnten, rühmte Sack den von ihm bevorworteten Foster im Sinne eines imitatiowürdigen Exempels als »eine[n] der stärksten und gründlichsten Moralisten, die je die Canzel nach ihrer eigentlichen Bestimmung gebraucht haben«, da dessen Predigten »fast alle ganz moralisch«226 im vorgestellten Sinn seien. Obschon Sacks eher beiläufig geäußerte Gedanken zur »moralischen« Predigt – sie mögen auf die religions- und christentumstheoretischen Überlegungen der Spalding’schen Bestimmung des Menschen bezogen gewesen sein oder nicht 227 – in der Folgezeit vereinzelt rezipiert wurden,228 blieb es gleichwohl der systematisch-theologischen und homiletischen Reflexionsarbeit Spaldings vorbehalten, das in Umrissen vorgetragene Plädoyer für die »moralische« Predigt mit der notwendigen philosophischen Begründung zu versehen. Damit wurde die Idee der »moralischen« Predigt in eine für die fortgeschrittene Auf klärungstheologie signifi kante, predigtgeschichtlich aber oftmals moralistisch mißverstandene Form gebracht, mit der – um Johann Friedrich Teller (1739–1816),229 den Bruder des bekannten Berliner Auf klärers Wilhelm Abraham Teller, als Beispiel anzuführen – eigentlich nichts anderes beabsichtigt wurde, als den entschiedenen Willen zu konsequent praxisbezogener, d. h. glaubenspraktischer, Verkündigung in zeitbezogener Perspektive zu formulieren.230 Eben jener Teller, Pfarrer im damals noch 225 Sack: Vorrede von dem Nutzen, Bl. *2r-v: »Allein, man bedenkt nicht, [. . .] daß eigentlich, nach der unveränderlichen Beschaffenheit unserer vernünftigen Natur, kein wahrer Trost in unserer Seele haften könne, der sich nicht auf die Rechtschaffenheit unseres Gemüths, oder auf das innere Bewußtseyn gründet, daß wir mit einem aufrichtigem Herzen uns in unseren Pfl ichten üben.« Daher postulierte er ebd, Bl. *3r: »Nicht, als wann die Beobachtung unserer Pfl icht, an ihr selbst betrachtet, die eigentliche und einzige Qvelle unserer Hoffnung und unseres Trostes sey, dann das ist und bleibet allein die Gnade Gottes in Jesu Christo; sondern weil diese ewig fl iessende Qvelle aller Glückseligkeit und alles Trostes sich nur in solche Seelen ergiesset, und sich auch nur in solche ergiessen kann, die rechtschaffen sind und sich mit Aufrichtigkeit in ihren Pfl ichten üben.« 226 Beide Zitate Sack: Vorrede von dem Nutzen, Bl. [a]8r. 227 Vgl. aus der mittlerweile umfangreichen Forschungsliteratur zu Spaldings Jugendschrift: Die Bestimmung des Menschen/ hrsg. von N. Hinske, Hamburg 1999 (Auf klärung 11, H. 1); A. U. Sommer: Sinnstiftung durch Individualgeschichte: Johann Joachim Spaldings »Bestimmung des Menschen«, ZNThG 8 (2001), 163–200; A. Beutel: Spalding und Goeze und »Die Bestimmung des Menschen«: frühe Kabalen um ein Erfolgsbuch der Auf klärungstheologie, ZThK 101 (2004), 426–449. 228 Vgl. dafür beipielsweise die Aufnahme zentraler Aussagen Sacks bei Zimmermann: Meditatio, 490 f. u. ö. 229 Zu Teller siehe DBA I 1259, 241–244. 230 J. F. Teller: Von moralischen Predigten, in: ders: Anekdoten für Prediger und Priester, Bd. 6, Leipzig 1785, 12 f.: »Vor allen Dingen sollte man ein moralisch Thema von einer moralischen Predigt unterscheiden, und moralisch predigen sollte nicht blos heisen Moral, oder

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kursächsischen Zeitz, brachte an anderer Stelle beiläufig den für die Theoriebildung der »moralischen« Predigt entscheidenden Beitrag Spaldings dahingehend auf den Punkt, daß er – unter mutmaßlichem Bezug auf die bis dahin erschienenen vier Auflagen von dessen Werth der Gefühle in dem Christenthum – bemerkte, daß »ein Spalding das Wesen der Religion im Gefühle setzt« 231. Da für den Religionsbegriff Spaldings in der Zeit seines Lassaner und Barther Pfarramts (1749–1764) kaum detaillierte Forschungen vorliegen,232 kann es hier nur darum gehen, einige damit in Zusammenhang stehende Schnittstellen aufzuzeigen, die für die Fortführung des auf klärerischen Homiletikdiskurses von Bedeutung geworden sind. Als Spaldings Gedanken über den Werth der Gefühle in dem Christenthum 1761 erschienen, lösten sie umgehend eine öffentliche Kontroverse aus,233 in der man – wie ein Chronist vermerkte – »(a)m meisten aber [. . .] gegen die Hypothese des Hrn. Sp[alding] vom Gewissen eingewandt« 234 hat. Was war an diesem Punkt der Überlegungen Spaldings so herausfordernd? Zwar hielt der Barther Pfarrer im Rahmen seines theologisch-homiletischen Erbauungsbegriffs an den zwei Hauptkomponenten des dichotomisch konstruierten Seelenmodells grundsätzlich fest und befürwortete in theologisch-homiletischer Perspektive die »aufgeklärte männliche Gottesfurcht der Tillotsone, Osterwalde, Reinbecke u. a. m. die durch Erkenntnisse und Bewegungsgründe sich und andere bessern 235 wollen« 236 . Jedoch beabsichtigte er über die Tugendlehre predigen, sondern es sollte heisen pracktisch predigen – Nicht nur von Sitten reden, sondern Sitten zu verbessern suchen, und die Glaubenswahrheiten pracktisch – so seinen Zuhörern vortragen, daß ihnen allemal auch bey diesen ihre Pfl ichten entgegen kommen; daß wir, indem wir ihnen ihren Beyfall abgewinnen, und ihren Verstand von der Wahrheit überzeugen, zugleich sie für dieselbe einnehmen, ihr Herz empfi ndlich rühren, es dahin bringen, daß sie dem, was wir ihnen sagen, beypflichten – daß sie ganz Entschlüssung werden, das Maaß ihrer Pfl ichten zu erfüllen.« 231 J. F. Teller: Anekdoten für Prediger und Priester zur Unterhaltung, Bd. 3, Leipzig 1778, 282. 232 Zur Forschungssituation siehe A. Beutel: Einleitung, in: Spalding: Gedanken über den Werth der Gefühle, XXV–XXXVIII; zur Bestimmung der Religion als Gefühl beim späten Spalding siehe ders.: Auf klärer höherer Ordnung?, die Bestimmung der Religion bei Schleiermacher (1799) und Spalding (1797), ZThK 96 (1999), 366–375. – Keine Hinweise auf die hier interessierende Problemkonstellation bieten die Ausführungen zu Spalding bei F. Th. Brinkmann: Glaubhafte Wahrheit – erlebte Gewißheit: zur Bedeutung der Erfahrung in der deutschen protestantischen Auf klärungstheologie, RheinbachMerzbach 1994, 187–217. 233 Vgl. auch Beutel: Einleitung, in: Spalding: Gedanken über den Werth der Gefühle, XXXV–XXXVIII. 234 Kurze Fragen aus der Kirchenhistorie des Neuen Testaments nach der Lehrart Hernn Johann Hübners bis auf gegenwärtige Zeit fortgesetzet. Siebente Fortsetzung. Zweyte Abtheilung, Jena 1766, 1226; zu den Einwänden gegen die erste und die späteren Aufl agen von Spaldings Schrift ebd, 1226–1229. 235 Zur Synonymität von »bessern/Besserung« und »erbauen/Erbauung« bei Spalding s. o. in Kap. 2, Abschn. 3.2 bei Anm. 603 f. 236 Spalding: Gedanken über den Werth, 230,27–30 (Hervorhebung A. S.).

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Psychologie Wolffs hinausgehend, die »Zurechtbringung unsers Gemüths« 237, auf die der Dienst der Verkündigung des Evangeliums nach Spaldings Verständnis eigentlich zielte, nicht allein auf »philosophischem« Wege, sondern auch »vermittelst eines lebendigen Eindrucks der [ab 2. Aufl. 1764 präzisiert zu: erkannter; A. S.] Bewegungsgründe in das Gewissen« 238 zu leisten. Hierfür plädierte Spalding in partieller Verlängerung rationalistischer Erkenntnistheorien für einen »Weg der ruhigern Ueberzeugung« 239, weil nach seiner Auffassung zum Werk der Bekehrung »(. . .) klare und gewisse Erkenntnisse dazu(gehören), die in stillen Stunden des Nachdenkens eine jede Prüfung aushalten« 240. Es stand für ihn außer Frage, daß diese notwendige Auf klärung des Verstandes »(. . .) nicht aus der Hitze der Gemütsbewegungen (entstehet), sondern (. . .) eine kältere Ueberzeugung (erfordert)« 241. Gleichwohl kritisierte er – in prinzipieller Übereinstimmung mit Meiers Kritik an der »philosophischen« Predigt – die in ihr bestehende Übergewichtung »trockene[r] Theorie« 242 , wodurch die eigentlich beabsichtigte Bewegung des Willens auch nur bloße Theorie blieb. Gegenüber dem üblichen Gebrauch Wolffscher Affektenlehre erinnerte er daran, daß es »in der großen Angelegenheit der Besserung und des Christenthums nicht bloß darauf ankömmt, nur die Leidenschaften in Bewegung zu bringen, als welche doch gleichsam nur in einer, und zwar der untern, Gegend der Seele ihr Gebiet haben« 243, sondern den Willen tatsächlich in Bewegung zu setzen. Dafür dürfe ihm nicht bloß mitgeteilt werden, was er nach Einsicht vernünftiger Gründe tun solle, sondern er müsse auch direkt erweckt und gerührt werden. Um dies zu erreichen, modifizierte Spalding das dualistische Seelenmodell, indem er zwischen Verstand und Willen ein vermittelndes Bindeglied einführte, das er »Regung« nannte. Von diesem behauptete er, daß es teils Handlungsimpulse von den Leidenschaften (Affekten), teils vom Gewissen als dem Sitz eines moralischen Gefühls beziehe, das die angestrebte Willensbewegung tatsächlich auszulösen in der Lage sei.244 Diese Annah237

Spalding: Gedanken über den Werth, 235,8 f. Spalding: Gedanken über den Werth, 235,10–12. 239 Spalding: Gedanken über den Werth, 237,20 f. 240 Spalding: Gedanken über den Werth, 242,29–31. 241 Spalding: Gedanken über den Werth, 242,31–243,2. 242 Spalding: Gedanken über den Werth, 242,2–8: »Nur mögte ich auch ja nicht, daß man auf der andern Seite bey ewigen Erklärungen und Beweisen stehen bliebe. Ferne sey vor allen zur Erbauung bestimmten Vorträgen die trockene Theorie, die vielleicht mit ihrer Gründlichkeit dem Verstande Genüge thut, aber auch, als ein Licht ohne Wärme, kein Leben durch die Seele ausbreitet.« 243 Spalding: Gedanken über den Werth, 240,30–241,2. 244 Spalding: Gedanken über den Werth, 245,27–246,6: »Es scheinet mir daher eine große Lücke voraus zu setzen, wenn man beständig bloß von Einsichten und Handlungen spricht. Zwischen beiden stehet unstreitig noch die Regung in der Mitten, die zwar in einem heftigern Grade von sinnlichen Empfi ndungen und Leidenschaften, mit einer sanf238

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me sah Spalding auch durch Ausführungen des Osnabrücker Gymnasialdirektors und späteren Göttinger Theologen Johann David Heilmann (1727– 1764), eines ehemaligen Baumgarten-Schülers, bestätigt.245 In einer Vorrede hatte dieser detaillierte Überlegungen zu »den eigentlichen Vorzügen eines pracktischen Vortrages« angestellt246 und dabei ebenfalls die Idee eines dem moral sense verpfl ichteten »practischen Sittenlehrer[s]« 247 propagiert, ein homiletisches Ideal, das vielleicht nicht zuletzt durch Spaldings Übersetzung von Shaftesburys Sitten=Lehrern 248 in Deutschland populär wurde. Als Konsequenz seiner Überlegungen richtete Spalding deshalb an den Prediger die neue Forderung, in seinen Predigten stets darauf zu achten, tern und ausgebreiteten Kraft aber von dem Gewissen, von dem ruhigen und doch durchdringenden Gefühl des Rechts, der Ordnung und der Schicklichkeit kömmt; und die letztere Art ist die Thätigkeit, die der Prediger, und überhaupt der Sittenlehrer, der bessern will, vornehmlich zu erwecken hat.« 245 Spalding: Gedanken über den Werth, 246,6 bemerkte im Anschluß an das letzte Zitat: »So urtheilen Männer von Einsicht [. . .]« und schaltete an dieser Stelle eine Anmerkung ein, in der er ebd, 246,30 f. auf »D. Heilmann in der Vorrede zu Roques Schule des Christen« verwies. 246 J. D. Heilmann: Vorrede von den eigentlichen Vorzügen eines pracktischen Vortrages, in: Jacques Emanuel Roques [de Maumont]: Schule des Christen. Aus dem französischen übersetzt und mit einer Vorrede [. . .] begleitet, Zelle 1757, I–LXI. 247 Zu Heilmanns Unterscheidung eines theoretischen von einem praktischen Sittenlehrer und dem ausschließlichen Interesse an letzterem siehe Heilmann: Vorrede, XIIIXV, Zitat: XIII, in welchem Zusammenhang er ebd, XIII–XV mit einer Spitze gegenüber der »philosophischen« Predigt betonte: »Er [sc. der praktische Sittenlehrer; A. S.] sol dieselbe [sc. die subtile Deutlichkeit, die Strenge der Ordnung und die Folge der Gedanken, wie sie in den theoretischen Wissenschaften geübt würden; A. S.] nur dazu brauchen, die Rührung des Herzens und die Neigung des Willens, die allezeit seine vornehmste Absicht seyn müßen, auf eine einem vernünftigen Wesen anständige Art zu erhalten. Nun ist aber der Rührung und dem bewegenden Eindruck nichts so sehr zuwieder, als ein anstrengendes und geschärftes Nachdenken auf tiefsinnige Wahrheiten. Die Seele setzt sich dabey gewisser Maaßen außer sich; und verlieret nach dem Maas ihr inneres Gefül, als sie demselben mühsamer nachhängt. Eine fasliche aber doch richtige und fruchtbare Vorstellung seines Gegenstandes, eine lebhafte Schilderung, eine kenntliche und leicht anzuwendende Bezeichnung der Handlungen, eine wohlgewählte Beziehung auf deutliche Gesetze, eine fülbare Bedeutung von der Billigkeit derselben, eine nachdrückliche Vorstellung der nachtheiligen oder erwünschten Folgen einer Handlung wird nicht nur zu diesem Zweck hinlänglich, sondern auch weit nutzbarer seyn, als die scharfsinnigsten Untersuchungen und Beweise. [. . .] Die algemeinen Begriffe von Tugend und Laster, und gleichsam die Obersätze zu den Beweisen davon, hat uns die Natur, oder doch ein der Natur so gemäßer Eindruck, daß er derselben Stelle vertrit, bereits ins Herz gelegt: und man darf gröstentheils nur von dem übrigen Arten der Handlungen zeigen, daß sie unter gedachte Gattungen gehören, um die Ueberzeugung algemein zu machen.« 248 Anthony Ashley Cooper, Earl of Shaftesbury: Die Sittenlehrer oder Erzehlung philosophischer Gespräche, welche die Natur und die Tugend betreffen: nebst einem Schreiben an den Übersetzer [d. i. Johann Joachim Spalding], Berlin 1745. – Zu Spaldings Übersetzung und seiner begleitenden Vorrede siehe auch Rebekka Horlacher: Bildungstheorie vor der Bildungstheorie: die Shaftesbury-Rezeption in Deutschland und der Schweiz im 18. Jahrhundert, Würzburg 2004, 71 f.

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»daß nach und nach nicht bloß die Einbildungskraft und der Affekt, sondern auch die eigentliche Ueberzeugung und besonders das Gewissen mit dabey intereßiret« werde, damit »also der ganze Mensch das werde, was er werden soll« 249. Um tatsächlich zu bessern, d. h. zu erbauen, müsse der Prediger daher in seiner Predigt stets »eine gewisse Sprache des Gewissens« 250 führen, die den Predigthörer dahin bringe, »nach und nach auf wiederholte Eindrükke des göttlichen Lichts, die Schande der Sünde, das Elend der Eitelkeit, die Würde der Tugend und die Glückseligkeit der Gemeinschaft Gottes fühlen [zu] lernen« 251. Gegenüber rationalistischen Engführungen in der Homiletik betonte Spalding aus diesem Grund auch: »Eben dieser Eindruck im Gewissen ist wol ohne Zweifel der beste Grund, worauf sich die moralische Besserung bauen lässet; und wo es daran fehlet, da werden immer nur todte Einsichten oder blinde Geschäftigkeiten bleiben, von welchen weder eines noch das andere einen Christen macht.« 252

Damit aber brachte Spaldings willenspsychologisch perspektivierte Theorie des Gefühls eines »durch richtige Erkenntnisse erweckte[n] und gerührte[n] Gewissen[s]« 253 in der Tat eine einschneidende theologische (und damit zusammenhängende homiletische) Neuorientierung. Das von ihm betonte »Gefühl« war in religionstheoretischer Perspektive – wie bereits Martin Peters festgestellt hat – in dieser Fassung zwar noch nicht mit dem Gefühl in Schleiermachers Sinn identisch, denn es meinte überwiegend ein »natürlich moralisches Empfinden, die moralisch-praktische Ergänzung des ›gesunden Menschenverstandes‹« 254. Gleichwohl führte dieser Gefühlsbegriff perspektivisch auf Schleiermachers Verständnis hin.255 249

Beide Zitate im Zusammenhang bei Spalding: Gedanken über den Werth, 244,13–

17. 250

Spalding: Gedanken über den Werth, 248,2 f. Spalding: Gedanken über den Werth, 247,32–248,2 (Hervorhebungen A. S.). 252 Spalding: Gedanken über den Werth, 245,22–27. 253 Spalding: Gedanken über den Werth, 240,19 f. – Zum Zusammenhang von »moralischem Gefühl« und »Gewissen« bemerkt H. Nordmann: Johann Joachim Spalding: ein Bild aus dem geistigen Ringen der deutschen Auf klärung, Inauguraldissertation zur Erlangung der Licentiatenwürde der hochwürdigen theologischen Fakultät der FriedrichWilhelms-Universität zu Berlin, Naumburg 1929, 14: »In engstem Zusammenhang mit diesem moralischen Gefühl steht das Gewissen. Beide lassen sich bei Sp[alding] kaum unterscheiden. Höchstens kann man sagen: das Gewissen ist eine im Bewußtsein sich vollziehende Folgeerscheinung des moralischen Empfi ndens, in dem dessen theologische Seite sich stärker ausprägt.« 254 Peters: Was können wir von der Predigtlehre des Rationalismus lernen?, 833 f. in Anm. 1. 255 Zu Übereinstimmungen und Differenzen der Spaldingschen und der Schleiermacherschen Bestimmung der »Religion als Gefühl« vgl. neben Beutel: Auf klärer höherer Ordnung?, 366–375 auch J. Rohls: Frömmigkeit als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit: zu Schleiermachers Religionstheorie in der »Glaubenslehre«, in: Internationaler 251

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Es verwundert also nicht, wenn die sensualistische Neukonzeption der Predigt durch Spalding den oben erwähnten, heftigen Widerspruch herausforderte. Beispielsweise legte der Diakon der Mohrunger Stadtkirche Sebastian Friedrich Trescho (1733–1804),256 ein Mann, dem Herder vor Beginn seines Königsberger Studiums (1762) zwei Jahre lang als Famulus zur Hand ging, eine Beurtheilung der Schrift: vom Werth der Gefühle in dem Christenthum 257 vor, »in der er Spalding mit Häme und Spott übergoß und ihn bald einen Pelagianer, bald einen Sozinianer schalt« 258. Unter den durchaus verschieden motivierten Einwendungen der Kritiker Spaldings erregte nicht zuletzt der mit Händen zu greifende Einfluß der englischen moral-sense-Theorie eines Shaftesbury und Francis Hutcheson Widerspruch,259 der sich auch in Spaldings Predigtpraxis bemerkbar machte.260 Anläßlich der Berufung Spaldings zum ersten Pfarrer an die Berliner Nikolai- und Marienkirche nahm daher eine anonyme Streitschrift dessen Barther Abschieds- und seine Berliner Antrittspredigt zum Anlaß, die ihnen zugrundeliegende These vom »moralische[n] Sinn oder Geschmack, oder [dem] sittliche[n]« bzw. »moralische[n] Gefühl« kritisch zu diskutieren.261 Obschon – wie ein zeitgenössischer Berichterstatter mit Hinweis auf eine Rezension in Friedrich Nicolais Allgemeiner Deutscher Bibliothek mitteilte – aufmerksame Beobachter in diesem Zusammenhang durchaus bemerkten, »daß er [sc. der anonyme Verfasser; A. S.] den Hr. Sp[alding] fast beständig zu hart beurtheilte; so erkannte man doch auch, daß dieser das hutchesonsche System vom moralischen Gefühl in allen seinen Schriften zum Grunde legte, und die evangelischen Zusätze mehr als Zusätze und nähere Bestimmungen desselben, damit zu verbinden scheine, als daß sie, wie es auf der Canzel seyn sollte, zum einzigen Erkenntniß= und Bestimmungsgrunde des Vortrags gemacht wären. Dieses System gebe [zwar] seiner Beredsamkeit ihren eigenen sanften und edlen Ton; aber deswe-

Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984/ hrsg. von K.-V. Selge, Teilbd. 1, Berlin; New York 1985, 221–252. 256 Zu Trescho siehe ADB 38 (1894), 574 f. (P. Tschackert). 257 [S. F. Trescho:] Beurtheilung der Schrift: vom Werth der Gefühle im Christenthum, Frankfurt am Main 1764. 258 Beutel: Einleitung, in: Spalding: Gedanken über den Werth, XXXVII. 259 Zur Shaftesbury- und Hutchesonrezeption bei Spalding siehe Nordmann: Johann Joachim Spalding, passim; Schollmeier: Johann Joachim Spalding, 145–167; Horlacher: Bildungstheorie, 64–76. – Zur Rezeption des moral sense aus literaturgeschichtlicher Perspektive siehe auch J. Engbers: Der »Moral-Sense« bei Gellert, Lessing und Wieland: zur Rezeption von Shaftesbury und Hutcheson in Deutschland, Heidelberg 2001. 260 Die homiletischen Auswirkungen von Spaldings Anschluß an die moral-sense-Theorie sind m. W. noch nie genauer untersucht worden. 261 [Anonym:] Unterredung über zwo Predigten des Herrn Spaldings, Leipzig 1765, 16–18, Zitate: 17. 16; ich habe das Exemplar der Bibliothek der Franckeschen Siftungen (Halle) benutzt (Signatur: 149 M 123).

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gen müsse er nicht zum allgemeinen Muster der Canzelberedsamkeit aufgestellet werden, weil die wenigsten Zuhörer dasselbe verstehen [. . .]« 262 .

Damit aber wurde eine neue Etappe der homiletischen Diskussion eingeleitet, die mit der »philosophischen« Predigt nur noch auf Umwegen in Beziehung stand. 2.2 Ausblick Mit Spalding hatten sich die Wortmeldungen zur »moralischen« Predigt freilich nicht erschöpft. Zwei Jahre nach dessen Überlegungen zum Werth der Gefühle im Christenthum legte der bereits erwähnte, 1758 als Nachfolger Mosheims nach Göttingen berufene Johann David Heilmann eine homiletische Programmschrift vor, in der er anläßlich der Wiedereröffnung des Göttinger Predigerseminars und der Wiederaufnahme der akademischen Gottesdienste nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges über Rahmenbedingungen und Möglichkeiten der »moralischen« Predigt auf außerordentlich hohem Niveau reflektierte.263 Vielleicht wegen des bereits 1764 erfolgten Todes Heilmanns oder aus anderen Gründen fand seine rund 150 Seiten umfassende Schrift – trotz nachdrücklicher Empfehlungen 264 und vereinzelter Rezeption durch Zeitgenossen – nicht die Anerkennung und Verbreitung, die sie aus homiletikgeschichtlicher Perspektive eigentlich verdient hätte. Ob z. B. Schleiermachers homiletische Theorie in irgendeiner Weise von Heilmann, dessen Buch sich neben Spaldings Nutzbarkeit des Predigtamtes als einzige weitere Homiletik aus der Zeit des 18. Jahrhunderts in einem Exemplar in seiner Bibliothek befand,265 beeinflußt war, bliebe erst noch zu untersuchen. Jedoch böte für eine solche Annahme nicht nur der noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts festgestellte homiletische Wert der Überlegun262

Kurze Fragen aus der Kirchenhistorie, 1364 f. Siehe [Heilmann:] Der Prediger. 264 Anläßlich eines positiven Verweises auf Heilmanns Homiletik bei F. G. Resewitz: Beantwortung der wichtigen Frage: wie man seinen Predigten diejenige Vollkommenheit geben könne, welche die gemeinnützigste, und zugleich die höchste ist? (1766), in: Vier Abhandlungen (1783), 87 sah sich der Herausgeber dieses Beitrages knapp 20 Jahre nach der Erstveröffentlichung genötigt, wie folgt für Heilmanns Schrift zu werben: »Diese Schrift des sel. Heilmanns [. . .] ist, wie wir fürchten, nicht so bekannt, als sie es zu seyn verdient. Möchten doch alle angehende Prediger sie hauptsächlich studiren! es würde sowohl für sie, als auch für ihre Gemeinen, mehr Nutzen dadurch gestiftet werden, als durch noch so viel homiletische Vorlesungen auf Universitäten, deren Hefte sie sorgfältig auf bewahren, und die sie, wenigstens im Anfang der Führung ihres Amtes, noch zuweilen zu Rathe ziehen.« 265 Schleiermachers Bibliothek. Bearbeitung des faksimilierten Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbücher des Verlages G. Reimer/ besorgt von G. Meckenstock, Berlin; New York 1993, 39 (Nr. 652 des faksimilierten Rauchschen Auktionskatalogs); Spaldings Homiletik ist verzeichnet ebd, 39 (Nr. 664) in einem Exemplar der 3. Aufl age 1791. 263

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gen Anknüpfungspunkte,266 sondern auch das in ein gottesdienstliches Gesamtgeschehen eingeordnete homiletische Erbauungsverständnis Heilmanns (s. u.) weckt einige darauf hinweisende Assoziationen. Gesichert, obschon noch längst nicht hinreichend detailliert erforscht, ist dagegen, daß der junge Herder sein frühes homiletisches Bekenntnis Der Redner Gottes267 ganz unter dem Eindruck von Heilmanns Schrift abfaßte und sich dabei in vielen Punkten von dessen Ausführungen leiten ließ.268 Anders als die homiletikgeschichtliche Forschung gelegentlich annahm, waren die Ausführungen Heilmanns nicht gegen orthodoxe Predigtkonzeptionen gerichtet,269 sondern gegen die »philosophische« Predigt mit ihrem primär kognitiv ausgerichteten Erbauungsverständnis, wie es auch Mosheims Position kennzeichnete.270 In detaillierter Kenntnis der Gegenposition und der an ihr v. a. durch Oporin und seinen Schüler Brauns geübten 266 J. M. Schröckh: Christliche Kirchengeschichte seit der Reformation. Achter Theil, Leipzig 1808, 173 f. referierte ausführlich und zustimmend Teile von Heilmanns Argumentation, die ebd, 174 in das positive Gesamturteil einmündeten: »Ueberhaupt fl ießt aus dieser ganzen Schrift die große, von dem Prediger nie genug zu beherzigende Lehre, daß er, bey der Wahl seines Hauptsatzes, sich allemal zuerst selbst fragen müsse, ob derselbe sogleich würkliche Theilnahme des Zuhörers, und gleichsam ein Mitarbeiten desselben erregen könne; indem sonst die am scharfsinnigsten und sinnreichsten ausgedachten Gegenstände, sogar Hauptlehren der Religion, die er ungezweifelt glaubt, denselben kalt und unbelebt lassen werden.« 267 J. G. Herder: Der Redner Gottes, in: ders.: Theologische Schriften/ hrsg. von Ch. Bultmann; Th. Zippert, Frankfurt am Main 1994, 9–17; die Herausgeber gehen von einer Abfassungszeit »vermutlich im Frühjahr 1765 kurz nach Antritt seiner [Herders] Kandidatenstelle in Riga« (ebd, 879) aus. 268 Th. Zippert: Bildung durch Offenbarung: das Offenbarungsverständnis des jungen Herder als Grundmotiv seines theologisch-philosophisch-literarischen Lebenswerks, Marburg 1994, 80–84; ders.: [Kommentar zu: Der Redner Gottes], in: J. G. Herder: Theologische Schriften/ hrsg. von Ch. Bultmann; Th. Zippert, Frankfurt am Main 1994, 879– 887; Hammann: Universitätsgottesdienst, 276 f. 269 In dieser Richtung fehlinterpretiert den Text W. L. Federlin: Die Kunst des Hörens und Redens: kooperative Prinzipien in Johann David Heilmanns Gottesdienstverständnis und Ausbildungskonzept für das öffentliche Predigtamt, in: ders.: Kirchliche Volksbildung und bürgerliche Gesellschaft: Studien zu Thomas Abbt, Alexander Gottlieb Baumgarten, Johann David Heilmann, Johann Gottfried Herder, Johann Georg und Johannes von Müller, Frankfurt am Main u. a. 1993, 153: »Die orthodox homiletische Variante, mit der sich Heilmann auseinandersetzt, [. . .]« etc. 270 Zutreffend Zippert: Bildung durch Offenbarung, 80, der dazu ausführt: »Die Standardwerke zur Homiletik erwähnen diese [sc. Heilmanns] Abhandlung nicht. Statt ihrer wird die ›Anweisung, erbaulich zu predigen‹ des 1755 verstorbenen Lorenz von Mosheim als zeittypisch hingestellt. Nun scheint es, daß sich Heilmann implizit gerade von dieser für den rationalistischen Zweig der Auf klärung typischen Schrift kritisch absetzt«; vgl. auch ders.: [Kommentar zu: Der Redner Gottes], 882. – Die gegen Zippert vorgebrachten Einwendungen Hammanns: Universitätsgottesdienst, 276 in Anm. 73, die das homiletische Interesse Mosheims an der Rührung des Herzens hervorheben, verkennen ebenso die Pointe von Heilmanns Ausführungen wie sie die prinzipielle Dominanz des kognitiven Aspekts in Mosheims homiletischer Theorie nivellieren.

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Kritik 271 legte Heilmann eine die affektive Herzensrührung betonende Konzeption der »moralischen« Predigt vor, die Prediger und Hörer als eine im Rahmen des gottesdienstlichen Gesamtgeschehens aufeinander bezogene Kommunikationsgemeinschaft homiletisch zusammenführte.272 Denn für Heilmann bestand »die richtige Abwartung des Gottesdienstes« »in lauter Beschäftigungen des Herzens« 273, woraus für ihn folgte, daß »wir [. . .], was den Vortrag des Lehrers betrift, [. . .] einen auf bloßen Unterricht des Verstandes abzielenden Vortrag ausgeschloßen zu sehen wünschen müßen«274. Für Heilmann hieß das keineswegs, daß »ein Vortrag, der seiner Hauptansicht nach ganz auf das Herz wirken sol, unmöglich ohne Unterricht seyn«275 könne. Gleichwohl spitzte er aus den bereits bei Spalding genannten Gründen das Erbauungsverständnis auf eine affektiv zu leistende sittlich-moralische Besserung des Menschen zu.276 Im Gefolge von Meiers Kritik an der »philosophischen« Predigt kritisierte Heilmann, der zwischen 1746 und 1756 in Halle als bevorzugter Schüler S. J. Baumgartens Theologie studiert hatte 271 Siehe dazu nochmals oben Kap. 4, Abschn. 2.2.1 und 2.2.2. – Im Auktionskatalog von Heilmanns Bibliothek (Catalogvs Librorvm B. Io. Dav. Heilmann [. . .] in qvo librii generis et argvmenti [. . .] indicantvr [. . .] die 5. Nov. & sqq. 1764 divendentvr. Pars I; II, Gottingae [1764]) fi ndet sich (zusammengebunden mit anderen homiletischen Schriften der Auf klärung der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts) Oporins Richtschnur überzeugend und erwecklich zu predigen (ebd, II, 19 [Nr. 281]); weiterhin verzeichnet der Katalog ebd, II, 20 (Nr. 302) einen weiteren Sammelband mit Gottscheds Homiletik in der Ausgabe von 1740 sowie Brauns’ Theologische Gedanken über die Frage: Ob die Philosophisch=sinnreiche Lehr=Art und Schillings Anmerkungen darüber. 272 Wesentliche Einsichten zum Verständnis von Heilmanns Abhandlung bieten die Ausführungen von Zippert: Bildung durch Offenbarung, 80–84; ders.: [Kommentar zu: Der Redner Gottes], 879–884. 273 Beide Zitate [Heilmann:] Der Prediger, 9. 274 [Heilmann:] Der Prediger, 10. 275 [Heilmann:] Der Prediger, 10. 276 [Heilmann:] Der Prediger, 74 f. defi niert Erbauung als »die ganze sittliche Besserung eines Menschen, wodurch das Gemüt und dessen ganze Verfassung in dieienige Ordnung gebracht, und mit denenienigen Vorzügen und Tugenden ausgerüstet wird, wodurch es der ursprünglichen Einrichtung und Bestimmung unsers unsterblichen Geistes wieder änlich, und folglich Gott Wohlgefällig wird. [. . .] Und so kann man in der weitesten Bedeutung unter Erbauung alles das begreifen, was auf einige Weise zur wahren Ausbeßerung und Ausschmückung der Seele gereicht, so daß auch die Verbeßerung unsrer Einsichten und Kentniße eine Art Erbauung sey. Allein was sind die besten und richtigsten Einsichten, wenn dabey die Neigungen und Begierden der Seele in ihrer natürlichen Unordnung und Verdorbenheit bleiben? Was ist gebesserter Verstand mit einem verkehrten Herzen? [. . .] Die wahre Erbauung gehet also auch vornehmlich auf das Herz und dessen Neigungen«; vgl. auch ebd, 95 f.: »Ein Lehrer bey christlichen Gemeinen, wie dieselben ordentlicher Weise eingerichtet und beschaffen sind, hat seine Zuhörer, überhaupt und von dem grösesten Theil derselben zu reden, als Personen zu betrachten, die wenig eigentliche Belehrung und Unterricht in den algemeinen Wahrheiten der Religion wohl aber ihre gesamte Erbauung von ihm erwarten. Mithin ist er seinen Zuhörern keine theoretischen Abhandlungen, sondern rürende Betrachtungen und bessernde Anweisungen schuldig.«

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und hier aus nächster Nähe Zeuge des zwischen Halle und Leipzig geführten »neologischen Krieges« geworden war, in Fortsetzung eigener, früher angestellter Überlegungen sowie in inhaltlicher Übereinstimmung mit Sack und Spalding die weithin übliche Trennung von explicatio und applicatio.277 (Inwieweit er dabei von den homiletischen Überlegungen seines Lehrers Baumgarten beeinflußt war,278 muß hier offengelassen werden.) Im Affront gegen eine rationalistische Predigtkonzeption à la Gottsched oder Mosheim forderte er jedenfalls, daß »(. . .) keine andere als moralische Predigten, das ist solche, worin die Wahrheiten der Religion auf eine Weise vorgetragen werden, daß dadurch das Herz der Zuhörer gerüret, und ihre auf eine diesen Wahrheiten gemäße Weise in Bewegung gesezt werden, für die Kanzel (gehören) [. . .]«.279

Deswegen war er auch der Auffassung, daß »dogmatische Predigten, oder solche, worin blos eine den ruhigen Verstand unterrichtende und überzeugende Theorie der Glaubenslehren vorgetragen wird, (. . .) so wenig für die Kanzel (gehören) als die Vorlesung einer theologischen Dissertation.« 280

In systematischer Perspektive erscheint mit einer solchen Position die Konzeption der »philosophischen« Predigt innerauf klärerisch prinzipiell überwunden. Das bedeutete freilich nicht die fortgesetzte Anwendung bestimmter, z. T. auch zentraler Elemente ihrer Theorie in der Praxis. Dieser Fragestellung müßte aber in einer wirkungs- und rezeptionsgeschichtlich orientierten Untersuchung nach allen ihren verschiedenen Seiten gesondert nachgegangen werden, wobei die bereits oben 281 gegebenen Hinweise zumindest erste Anhaltspunkte für entsprechende Erkenntnisse bieten. Im Rahmen einer solchen Recherche würde sich zweifelsohne zeigen, daß der Ertrag der Kon277 [Heilmann:] Der Prediger, 97: »Nur dieses wollen wir also sagen: ein Vortrag, der blos darauf eingerichtet ist, zu unterrichten, oder den denkenden Verstand, es sey nun von dogmatischen, oder auch von moralischen Wahrheiten mit logisch wahren Begriffen zu bereichern, und der höchstens am Schlus mit einer so genanten praktischen Anwendung begleitet ist, ein solcher Vortrag gehöret bey dem feierlichen Gottesdienst nicht für die Kanzel.« 278 Insbesondere wären dahingehend zu überprüfen S. J. Baumgarten: Unterricht vom rechtmäßigen Verhalten eines Christen, oder Theologische Moral, zum academischen Vortrag ausgefertiget, Halle [1738] 31744, 510–518 (§. 203: »Pfl ichten der Lehrer beim Vortrage götlichen Worts.«); ders.: Theologische Bedencken, 3. Samlung, 335–345 (Anhang); ders.: Anweisung zum erbaulichen Predigen (1752). Vgl. auch ders.: Kurtzgefaste casuistische Pastoraltheologie, 550–628, wo bereits zuvor erschienenes homiletikrelevantes Material abermals zum Abdruck kam. 279 [Heilmann:] Der Prediger, 97. 280 [Heilmann:] Der Prediger, 97. 281 Kap. 2, Abschn. 2.2.3.

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troverse um die »philosophische« Predigt keineswegs rein negativ war, sondern vielmehr in grundsätzlichen Fragen ein langanhaltender Konsens erzielt wurde. So warf Johann Friedrich Teller, dem in diesem Zusammenhang das letzte Wort zugestanden werden soll, 1785 noch einmal eben jene Frage auf, die ein halbes Jahrhundert zuvor so kontrovers debattiert worden war: »Soll denn der Prediger ein Philosoph seyn?«282 Teller, der orthodoxe Bruder des Berliner Neologen, gab selbst folgende salomonische Anwort: »Er soll allerdings ein Philosoph seyn, nur nicht den Philosophen auf der Kanzel machen. Er soll auf der Kanzel nicht philosophiren, nicht Philosophie – aber doch philosophisch predigen, und das heißt – ordentlich – gründlich - deutlich – überzeugend. Ohne Philosoph zu seyn, wird er das niemals können.« 283

Damit wurde aber auf dem Höhepunkt der Auf klärung in Deutschland ein Ertrag der nicht zuletzt durch Gottsched initiierten Debatte bilanziert, der eine seiner Intentionen bleibend festhielt. Dieser Konsens sollte noch für längere Zeit Bestand haben, bevor er auf dem Hintergrund einer abermals veränderten gesellschaftlichen Situation neuerlich hinterfragt wurde.

282 J. F. Teller: Soll denn der Prediger ein Philosoph seyn?, in: ders.: Anekdoten für Prediger und Priester, Bd. 6, Leipzig 1785, 191–195. 283 Teller: Soll denn der Prediger ein Philosoph seyn?, 192; vgl. auch ebd, 194: »Nun noch einmal auf die Frage zu kommen: Soll der Prediger Philosoph seyn? so könnte ich auch so antworten: Als Prediger nicht – dazu braucht er nur seine Homiletik, und allenfalls Uhsens Redner – Aber als Redner braucht er sie schlechterdings – und so giebt es denn wenig Prediger die Redner sind, weil es wenige giebt die Philosophen sind.« – Die erwähnte Rhetorik ist: E. Uhse: Wohl-informirter Redner, worinnen die oratorischen Kunst-Griffe vom kleinesten bis zum grösten, durch kurtze Fragen und ausführliche Antwort vorgetragen werden (Reprint der 5. verb. Ausg. Leipzig 1712), Kronberg 1974.

Schlußbetrachtung Die homiletikgeschichtliche Konstellation »Gottsched und die ›philosophische‹ Predigt« wurde auf den zurückliegenden Seiten im fächerübergreifenden Spannungsfeld von Theologie, Philosophie, Literatur und Politik untersucht. Daraus ergeben sich entsprechend unterschiedliche Perspektiven, unter denen ein Fazit gezogen werden kann. So ließen sich aus den Darlegungen beispielsweise Aussagen für die literaturwissenschaftliche Gottsched- oder Predigtforschung ableiten.1 Doch muß auf solche Überlegungen hier verzichtet werden, um stattdessen die in der Arbeit maßgebliche kirchengeschichtliche Perspektive, die nach dem Verlauf des Prozesses der homiletischen Auf klärung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts fragte, in den Mittelpunkt zu stellen. Im Anschluß an die in der Einleitung entwickelten Untersuchungsperspektiven wird deshalb der Blick zunächst (1.) auf das Problem der »philosophischen« Predigt und Gottscheds Anteil an ihrer Konzeption bzw. (2.) auf die Frage nach deren Propagierung und dem auf sie bezogenen homiletischen Diskurs zu richten sein. Abschließend (3.) soll überlegt werden, welche Rückschlüsse sich daraus für die theologische Beurteilung des Prozesses der homiletischen Auf klärung in Deutschland ziehen lassen. 1 Umgekehrt zu der in der vorliegenden Untersuchung eingeschlagenen Richtung, die dem Einfluß rhetorisch-poetologischer Konzeptionen auf die Predigt(theorie) nachging, könnte mit Walter Jens auch danach gefragt werden, welche Rückwirkungen die Predigtreform auf die Wandlungen des literarischen Geschmacks hatte. Bereits 1965 äußerte Jens dahingehend: »[. . .] und in der Tat, wenn in Deutschland die Rede jemals einen Einfluß auf den Stil der Nation gewann, so ist es die geistliche Sprache gewesen [. . .] Man sieht, die Wissenschaft von der Beredsamkeit hat hierzulande noch manches zu tun. Die Bedeutung der Predigt für die deutsche Sprache und Literatur ist überhaupt noch nicht untersucht worden – die Bedeutung der Postillen, die [. . .] den Büchermarkt des siebzehnten, die Bedeutung der Predigtsammlungen, die den Markt im achtzehnten Jahrhundert beherrschten. Auch der Einfluß [. . .] des großen Johann Lorenz von Mosheim, der die Geburtsstunde deutscher Prosa einleitete, der Einfluß Schleiermachers und Claus Harms’ auf den Sprachstil ihrer Zeit sind noch nicht analysiert, obwohl zumindest im Fall Lorenz von Mosheims die Zeugnisse der größten Weggefährten – Herder, Lessing und Gottsched allen voran – die Spuren aufweisen könnten, die dieser Kanzelprediger, der im Jahre 1732 die Präsidentschaft der ›Deutschen Gesellschaft‹ zu Leipzig annahm, im Schrifttum seiner Zeit hinterließ«; W. Jens: Von deutscher Rede (1965), in: ders.: Reden, Leipzig; Weimar 1989, 23 f.

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1. Wie sich gezeigt hat, war der Begriff der »philosophischen« Predigt zeitgenössisch umstritten. In der auf sie bezogenen Diskussion standen mehrere Begriffsdefi nitionen, die alle den Anspruch erhoben, die »philosophische« Predigt zutreffend abzubilden, neben- bzw. gegeneinander. Entscheidend für die jeweilige Wahrnehmung und Beschreibung des konkreten predigt- bzw. homiletikgeschichtlichen Phänomens war dabei die positive oder negative Haltung diesem gegenüber, die wiederum vom jeweils eigenen Predigtverständnis abhing. So verkörperte die »philosophische« Predigt für einen orthodoxen Kritiker den nicht hinnehmbaren Versuch, die biblischen Lehren durch philosophische Vernunftbeweise zu ersetzen, weshalb aus seiner Perspektive die Anhänger der neuen Predigtweise als »Bibelfeinde« erschienen, die für die Kanzelverkündigung ausschließlich auf die Kraft der menschlichen Vernunft, nicht aber auf die selbstwirksame Kraft des göttlichen Worts setzten.2 Die pietistischen Kritiker, allen voran Joachim Lange, identifizierten hingegen die »philosophische« Predigt im Kontext des Halleschen Kampfes gegen die Wolffsche Philosophie mit deren theologisch nicht tolerierbarer Anwendung auf der Kanzel, die sich in einer unangemessenen Benutzung philosophischer Schultermini und affektierter Definiersucht äußerte, welches in ihren Augen die evangelische Christuspredigt ersetze.3 Und ein auf klärerischer Homiletiker notierte ein Jahr nach Gottscheds Tod vom Standpunkt einer um die »moralische« Predigt erweiterten Predigttheorie einen doppelten Begriff der »philosophischen« Predigt, wobei ihm der eine offenbar akzeptabel, der andere aber als eine »Ausartung« des ersteren erschien.4 Aufs ganze gesehen war der Begriff der »philosophischen Predigt« ein relativ später, erst nach 1730 auf kommender Kampf begriff, der im Zusammenhang mit der Kontroverse um den Geltungsanspruch von Christian Wolffs Philosophie in der Theologie, insbesondere seit dem 1734 aufflammenden Streit um die Wertheimer Bibelübersetzung, von seinen Gegnern zur Bezeichnung schon längst vorhandener homiletischer Entwicklungen in 2

Siehe dazu oben in Kap. 4, Abschn. 1.2. Siehe dazu oben in Kap. 4, Abschn. 2.1.1. 4 [ J. F. Hess:] Prüfung der philosophischen und moralischen Predigten, [Zürich] 1767, 11 f.: »Man scheint unter philosophischen Predigten dergleichen hauptsächlich zu verstehen, worinn die Wahrheiten der natürlichen Theologie abgehandelt und mit solchen Beweisen unterstützt werden, welche nicht die eigenthümlichen Geheimnisse oder Wahrheiten des Christenthums sind, sondern mit unserer Vernunft aus der Natur der Dinge hergeleitet werden. [. . .] Ich weiß wohl, daß man auch ausgeartete Reden, die in dieses Fach zu gehören scheinen, mit eben dem Namen benennet, ob sie gleich in wesentlichen Stükken davon unterschieden sind, und wirkliche Vorwürfe und Tadel verdienen; [. . .] Z. B. solche Predigten, worin philosophische Wahrheiten nach der philosophischen Lehrart und in der Schulsprache abgehandelt, nirgends auf die Autorität der Offenbahrung gestützt, oder worin auf gleiche Art von Pfl ichten geprediget, oder die Verdienstlichkeit der guten Werke gelehrt wird.« 3

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die Diskussion eingebracht wurde. Die Kritisierten besetzten dabei den Begriff aus diskurstaktischen Gründen positiv, indem sie versuchten, ihm einen Inhalt beizulegen, der den eigenen Intentionen entsprach. Dabei wurde jedoch auch hier kein abschließender Konsens darüber erreicht, was mit ihm letztlich bezeichnet werden sollte. Vielmehr begegneten selbst in den Reihen der Befürworter der »philosophischen« Predigt durchaus unterschiedliche Begriffsbestimmungen, die jedoch alle in der Minimalforderung konvergierten, philosophisch orientierte Vernunftargumentationen in irgend einer Weise in die Predigt zu integrieren bzw. den Predigtauf bau und die Predigtsprache an »vernünftigen«, d. h. philosophisch geläuterten Prinzipien eines gewandelten Geschmacks zu orientieren. Man kann diese Intention, die ihren Ausdruck in der Forderung nach »ordentlichen«, »deutlichen«, »gründlichen« und »überzeugenden« Predigten fand, unter einem weiten Begriff der »philosophischen« Predigt zusammenfassen, wie ihn beispielsweise Johann Lorenz von Mosheim 5 oder Siegmund Jakob Baumgarten6 gegenüber orthodoxer bzw. pietistischer Kritik verteidigten. Daneben stand seit den 1730er Jahren ein enger Begriff der »philosophischen« Predigt, der über den Bedeutungsgehalt des weiten Begriffs hinaus durch die (in verschiedenem Umfang realisierte) homiletische Integration Wolffscher Beweisverfahren (Demonstrationsmethode), Terminologien und Philosopheme gekennzeichnet war. Homiletisch-material orientierten sich die Prediger dieser Gattung »philosophischer« Predigten zur Erläuterung und Explikation der biblischen Lehren an Wolffs Metaphysik, Ethik, Politik etc. und homiletisch-formal an dessen Logik bzw. einer daran ausgerichteten Rhetorik. Zur Unterscheidung von den übrigen »philosophischen« Predigten könnte man diese Predigten als »Wolffische Predigten« und ihre Befürworter in Analogie zu den theologischen Wolffianern als homiletische Wolffianer bezeichnen. Die Variationsbreite der von ihnen praktizierten »philosophischen« Predigt reichte dabei von der partiellen Aufnahme Wolffscher Begriffl ichkeiten und Argumentationen durch den Berliner Propst Johann Gustav Reinbeck bis hin zu den Predigten »sur divers Textes, expliqués selon la Methode du celebre Mr. Wolf«7 des Berliner Hugenotten Jean Des Champs. Während die Integration von Vernunftgründen in die Predigtargumentation neben der Wolffschen Philosophie auch auf der Basis anderer philosophischer Konzeptionen erfolgen konnte (etwa der thomasischen oder in spä5 Siehe dazu oben in Kap. 4; Abschn. 2.2.2 in Anm. 492; vgl. auch Kap. 5, Abschn. 1.1 bei Anm. 126. – Nach Kantzenbach: Protestantisches Christentum, 93 mußte sich Mosheim wegen seines besonderen Predigtpublikums »doch weitgehender, als es ihm vielleicht lieb ist, auf die philosophische Predigt einlassen«. 6 Siehe dazu oben in Kap. 5 in Anm. 7. 7 Siehe die Bibliographie des Titels unten im Quellen- und Literaturverzeichnis.

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terer Zeit der crusianischen Philosophie), verband den engen und weiten Begriff der »philosophischen« Predigt daneben eine von der Wolffschen Psychologie (Seelenlehre) explizierte Vorstellung, die von den genannten alternativen Philosophien so nicht vertreten wurde: die Lehre von der Dependenz des Willens vom Verstand. Auf die christliche Ethik angewandt erlangte diese psychologische Theorie zentrale Bedeutung für den Predigtauf bau und den Inhalt der meisten »philosophischen« Predigten. So vertrat beispielsweise Mosheim in seiner Sittenlehre (1735) in Übereinstimmung mit der Wolffschen Psychologie die Auffassung, daß erst der Verstand des Zuhörers überzeugt werden müßte, bevor zur Bewegung des Willens geschritten werden könne, und zwar in Fortsetzung des alten orthodoxen explicatio-applicatio-Schemas.8 Und Gottsched? Dieser entwickelte sich in Leipzig vom Vertreter eines weiten Begriffs der »philosophischen« Predigt zum maßgeblichen Theoretiker ihres engen Bedeutungsgehaltes. In wesentlichen reformhomiletischen Fragen war der 1724 aus Ostpreußen nach Leipzig Geflüchtete noch von seinen Königsberger Lehrern Johann Heinrich Kreuschner, dem Philosophen, und Johann Valentin Pietsch, dem Poetikprofessor, beeinflußt worden,9 was auf die damals weit verbreitete Zirkulation reformhomiletischer Gedanken verweist. Unter der Anleitung seines Leipziger Mentors Johann Burchhard Mencke, der im mutmaßlichen Zusammenhang mit der in Deutschland kaum zeitverzögert rezipierten Querelle Gottscheds Blick auf »die Alten«, d. h. im Falle der Rhetorik auf Cicero und Quintilian, lenkte,10 entwickelte er die mitgebrachten reformhomiletischen Ansätze im Vorzeichen der für ihn normativen Philosophie Wolffs und der sprachreformerischen Bestrebungen eines Thomasius und Leibniz systematisch weiter.11 Als Folge der von der Wolffschen Philosophie dominierten auf klärerischen Denkreform, die aufgrund ihres universalistischen Zuschnitts für alle Bereiche des Wissens Gültigkeit beanspruchte, setzte sich Gottsched zum Ziel, die Schulrhetorik nach französischem Vorbild klassizistisch, d. h. gemäß den Regeln antiker Rhetorik, zu reformieren. Die Predigt wurde von ihm dabei zum ersten Mal in seinem Grundriß zu einer vernunfftmäßigen Redekunst (1728; vordatiert auf 1729) als Sonderfall einer Rede aufgefaßt, die sich von anderen Reden nur durch die von ihr behandelten Materien, nicht aber in den sie konstituierenden, von Philosophie und Rhetorik reflektierten Geschmacksnormen und Kommunikationsmechanismen unterschied.12 In elaborierter Form vertrat er diese Auffassung in 8

Siehe dazu oben Kap. 2, Abschn. 3.2 in Anm. 609. Siehe dazu oben Kap. 1, Abschn. 1.1. 10 Siehe dazu oben in Kap. 1, Abschn. 2.2. 11 Siehe dazu oben Kap. 2, Abschn. 1. 12 Siehe dazu oben Kap. 2, Abschn. 1.3. 9

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seiner Ausführlichen Redekunst (1736), die entsprechend der Formulierung auf dem Titelblatt »geistlichen und weltlichen Rednern zu gut« konzipiert war.13 Seinen klassizistischen Rhetorikansatz, der auf eine vorbildhafte Vergangenheit zurückgriff, um die Gegenwart zu erneuern, übertrug Gottsched in der Homiletik auf die frühchristliche Antike. Denn in dieser Zeit sah Gottsched nicht nur die geforderte stilistische »edle Einfalt« des homiletischen Ausdrucks, sondern auch die exempla-geeigneten ethischen Tugenden eines Predigers idealisch präfiguriert, was im Ergebnis die Übertragung des rhetorischen vir-bonus-Ideals auf die Kirchenväter bedeutete.14 Seine rhetoriktheoretisch bestimmten Überlegungen zu einer dem Geschmack der Zeit angepaßten »philosophischen« Predigt erläuterte er dabei mittels einer selbstverfaßten Beispielpredigt,15 die den doppelten Brennpunkt seiner reformhomiletischen Bestrebungen deutlich hervortreten ließ. Denn um seinem Verkündigungsauftrag umfassend zu entsprechen, sollte der Prediger als Theologe sowohl Philosoph als auch Redner sein. Unter diesem Gesichtspunkt wurde Gottsched auch selbst zum Kritiker von Fehlentwicklungen der »philosophischen« Predigt, wenn er z. B. beklagte: »Es ist das ein gemeiner Fehler unserer neuen Wolffi anischen Prediger, daß sie keine Redner sind.«16 Als Rhetoriktheoretiker wußte Gottsched um die homiletische Notwendigkeit rhetorisch-persuasiver Techniken, die eine Predigt erst zu der von ihm geforderten Rede machte, wie sie für einen gemischten Kreis von Zuhörern erfordert wurde. Eingebettet in den maßgeblich vom Pietismus vorangetriebenen Wandel des neuzeitlichen Theologen- und Predigerideals verkörperte für Gottsched der ihm befreundete Mosheim jene imitatio-fähige Einheit homiletisch relevanter Tugenden, die ihn zum – bereits 1727 in den Vernünftigen Tadlerinnen propagierten17 – Vorbild der auf klärerischen Predigtreform machten. Daß Mosheim zeitweise der von Gottsched als Senior geleiteten Deutschen Gesellschaft in Leipzig als Präses vorstand, versinnbildlicht dabei handgreifl ich den engen Zusammenhang von auf klärerischer Predigt- und Sprachreform. In den Augen der Öffentlichkeit erschienen die beiden Protagonisten dieser einflußreichen Auf klärungssozietät dabei als ein gemeinsam agierendes Doppelgespann, in dem zwei zeitgenössisch herausragende Vertreter von Theologie und Philosophie als Bundesgenossen eines gemeinsamen Zieles agierten. Dabei profi lierte sich der eine mehr als Praktiker, der andere aber mehr als Theoretiker einer Reform der »heiligen Rede«. 13

Siehe dazu oben Kap. 2, Abschn. 2.1. Siehe dazu oben Kap. 2, Abschn. 2.2. 15 Siehe dazu oben Kap. 2, Abschn. 2.3. 16 Zit. nach Danzel: Gottsched und seine Zeit, 46; siehe zu diesem Zitat oben in Kap. 3, Abschn. 3.3 bei Anm. 467. 17 Siehe dazu oben in Kap. 2 in Anm. 177. 188. 247. 258. u. ö. 14

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Die entscheidende theologische Vertiefung von Gottscheds Theorie der »philosophischen« Predigt erfolgte in seinem anonym veröffentlichten Predigtlehrbuch Grund-Riß einer Lehr-Arth ordentlich und erbaulich zu predigen (1740, 21743). In Anerkenntnis der Tatsache, daß die Predigt nicht die drei offi cia der klassischen Rhetorik bedient, sondern einer eigenen Zwecksetzung folgt, stellte er den vom Pietismus ererbten theologischen Erbauungsbegriff in die Mitte seiner homiletischen Systematik.18 Für seine Defi nition des Erbauungsbegriffs schloß Gottsched an entsprechende Vorgaben Christian Wolffs an,19 die von ihm unter dem Einfluß der Wolffschen Psychologie (Seelenlehre) und Ethik für die Homiletik expliziert wurden. Unter Zugrundelegung des bereits erwähnten Dependenzmodells (Abhängigkeit des Willens vom Verstand) und in Verlängerung pietistischer Intentionen sowie in Übereinstimmung mit seiner auf Lebenspraxis zielenden Philosophie richtete Gottsched die Erbauung zentral auf die Praxis des Glaubens (Ethik) aus, zu der mittels der vernunftgemäßen Explikation von rationalen Handlungsgründen angeleitet werden sollte.20 Grundsätzlich ist bei der Würdigung von Gottscheds homiletischer Konzeption zu berücksichtigen, daß er mit seiner Theorie der »philosophischen« Predigt mehr Exponent als Vorreiter einer bestimmten homiletikgeschichtlichen Entwicklung war. Aufgrund der theoretischen Vorprägung zentraler Bausteine der »philosophischen« Predigt in den seit 1713 (»Deutsche Logik«) bzw. seit 1720 (»Deutsche Metaphysik«) in schneller Folge veröffentlichten Schriften Christian Wolffs war eine parallele, von Gottsched unabhängige Reflexion und Rezeption ihres homiletikrelevanten Potentials naturgemäß angelegt. Gleichwohl war es der Gottsched eigenen Fähigkeit zu schulmäßiger Systematisierung vorbehalten, mit seinem Predigtlehrbuch der schon längst praktizierten »philosophischen« Predigt eine konsistente Theorie zur Seite zu stellen, die den Namen der ersten umfassenden Homiletik der Aufklärung verdient. Die materiale Rezeption seiner Theorie im lutherischen Protestantismus wurde dabei u. a. am Beispiel Johann Melchior Goezes veranschaulicht, während das Beispiel Rudolph Grasers den z. T. erheblichen Einfluß von Gottscheds Predigttheorie auf die Reform der süddeutschen römisch-katholischen Kanzelberedsamkeit illustrierte.21 Außen vor blieb dabei – trotz einiger Andeutungen 22 – die homiletikgeschichtlich relevante Frage nach der Fortwirkung von Gottscheds Theorie der »philosophischen« Predigt nach der Mitte des 18. Jahrhunderts, deren Beantwortung den gesetzten Rahmen der Arbeit aber gesprengt hätte. 18 19 20 21 22

Siehe dazu oben Kap. 2, Abschn. 3.1. Siehe dazu oben in Kap. 2, Abschn. 3.2 das Zitat bei Anm. 602. Ausführlich dazu oben in Kap. 2, Abschn. 3.2. Siehe dazu oben Kap. 2, Abschn. 3.3.3. Siehe dazu oben Kap. 2, Abschn. 2.2.3.

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2. Die große Schar von Anhängern, die Gottsched insbesondere in den 1730er und 1740er Jahren um sich sammeln konnte, spricht dabei zunächst ganz allgemein für die starke Anziehungskraft, die er und seine philosophischen, poetologischen, rhetorischen und homiletischen Gedanken auf Vertreter vor allem der jungen Generation auszuüben vermochten. Sein unmittelbar evidenter, obschon im einzelnen schwer exakt abzumessender präzeptorialer Einfluß erstreckte sich dabei im Rahmen des philosophischen Grundstudiums auch auf Theologiestudenten – sei es in seinen Leipziger Vorlesungen oder überall dort, wo seine Schriften zur Grundlage akademischer Lektionen gemacht wurden. Ebenso evident ist auch die multiplikatorische Funktion der zahlreichen Schüler, die sich als Leser seiner Schriften, als Vorlesungshörer oder als Mitglieder in seinen Sozietäten um ihn scharten und in seinem Sinn reformhomiletisch tätig wurden.23 Während die ausgebreitete Publizistik seiner Anhänger dafür sorgte, daß seine Ansichten im öffentlichen bzw. akademischen Diskurs bald überproportional präsent waren, gestaltete sich die Anwendung der reformhomiletischen Theorien in der kirchlichen Praxis, vor allem in der Anfangszeit, nicht immer problemlos. Im Gegensatz zu den Schullehrern, die in ihrem Unterricht offenbar ohne größere Schwierigkeiten reformhomiletisch tätig werden konnten,24 hatten die Prediger sich gegen das natürliche Beharrungsvermögen der Institution und der volkskirchlichen Tradition zu behaupten, die einer ungehinderten Anwendung der neuen Normen anfangs entgegenstanden.25 Doch war die Überwindung dieses Hindernisses nur eine Frage der Zeit. Am Beispiel des Gottschedschülers Johann Adam Löw wurde deutlich, daß Gottscheds Sozietäten ein karriereförderndes Netzwerk etablierten, über das einzelne Mitglieder frühzeitig in wichtige kirchliche Positionen einrücken konnten.26 Dadurch wurden wichtige personelle Brückenköpfe für die Verankerung der theologischen Auf klärung innerhalb der Kirchenorganisation geschaffen. Wie das Beispiel Kursachsens zeigt, konnte die zunehmende Ausbreitung der »philosophischen« Predigt, trotz gezielter kirchenpolitischer Interventionen (Verhör Gottscheds vor dem Dresdner Oberkonsistorium; Reskript von 1742),27 allenfalls behindert, nicht aber verhindert werden. Grund dafür war u. a. die nachlassende politische Unterstützung der orthodoxen bzw. die im Gegenzug einsetzende Förderung der auf klärungstheologischen Position, die verschiedenen, in der Arbeit nicht genauer untersuchten Motiven geschuldet war. Während in Kursachsen die politische Entwicklung in 23 24 25 26 27

Siehe dazu oben Kap. 3, Abschn. 1 und 2. Siehe dazu oben am Ende von Kap. 3, Abschn. 1.1. Siehe dazu oben am Ende von Kap. 3, Abschn. 2.2. Siehe dazu oben Kap. 3, Abschn. 2.2. Siehe dazu oben Kap. 4, Abschn. 1.1.

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Richtung des »aufgeklärten Absolutismus« unter dem Vorzeichen des Konfessionswechsels der Albertiner entsprechend gewirkt haben dürfte, mochten hingegen in Kurbrandenburg-Preußen die unionistischen Bestrebungen des Herrscherhauses mit ein Grund dafür gewesen sein, daß durch die Kabinettsorder vom 7. März 1739 zunächst die reformierten, durch Erlaß vom 6. Februar 1740 dann aber auch die lutherischen Prediger auf eine Predigtweise festgelegt wurden, die sich an der Logik Christian Wolffs orientieren sollte.28 Für diese Entwicklung hatte hier – ebenso wie im konfessionspolitisch anders organisierten Kursachsen – die seit Jahrzehnten geführte Pietismuskontroverse erheblich vorgearbeitet, indem in deren Verlauf der orthodoxe Lehrelenchus durch landesherrliche Edikte ausgeschaltet und die kirchen- und gesellschaftspolitische Dominanz der Orthodoxie somit bereits im Vorfeld des Streits um die »philosophische« Predigt entscheidend geschwächt worden war.29 Auch wenn nach derzeitigem Wissensstand die preußische Kabinettsorder vom 7. März 1739 nicht unmittelbar auf Anregungen Johann Gustav Reinbecks zurückging, so ist doch unzweifelhaft, daß sie den Endpunkt eines Beurteilungswandels der Wolffschen Philosophie durch Friedrich Wilhelm I. markierte, der wesentlich dem prowolffschen Engagement des lutherischen Berliner Propstes zu verdanken war. Dadurch wurden aber der 1723 aus Halle vertriebene Philosoph und seine Philosophie noch vor der Thronbesteigung Friedrichs II. (1740) prinzipiell rehabilitiert, was zu dessen schlußendlicher Rückberufung an den Ort seiner einstigen Vertreibung führte.30 Das von der Kabinettsorder vorgestellte homiletische Ideal war an der theologischen Versöhnung von hallischem Pietismus und theologischem Wolffianismus orientiert, wie sie v. a. Reinbecks Theologie repräsentierte und mit der er als »philosophischer« Prediger par excellence von großem Einfluß auf den »Soldatenkönig« war.31 Die tatsächliche Wirkung der Kabinettsorder, die der Monarch ein Jahr vor seinem Tod in Ausübung des von ihm verwalteten ius circa sacra erließ, war kirchen- und universitätspolitisch ambivalent: Obwohl mit ihr die theologische und kirchliche Versöhnung von Pietismus und Auf klärung von obrigkeitlicher Seite befördert werden sollte, wurde sie innerkirchlich als Punktsieg der (homiletischen) Wolffianer über ihre (pietistischen) Kritiker interpretiert, was zunächst zur fraglosen Stärkung der auf klärerischen Position im homiletischen Diskurs und in der Kirchenorga28

Siehe dazu oben Kap. 3, Abschn. 3.2.2; ein Textabdruck der Order befi ndet sich im Anhang dieser Arbeit. 29 Das kursächsische Elenchusedikt datiert auf den 2. Oktober 1726, das kurbrandenburg-preußische auf den 23. September 1737; zu letzterem s. u. im Quellenverzeichnis: Edict, welcher gestalt die Lehrer und Prediger zu verfahren haben. 30 Siehe dazu oben Kap. 3, Abschn. 3.2.1. 31 Siehe dazu oben Kap. 3, Abschn. 3.1.

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nisation führte. Mittelfristig führte der homiletische Diskurs dann aber doch – und zwar nicht nur in Preußen – zu einer homiletischen Verschmelzung von Anliegen des Pietismus und der Auf klärung, was allerdings kein exklusives Ergebnis der preußischen Kabinettsorder war. Der auf klärerischen Predigtreform eignete über ihre innerkirchliche und kirchenpolitische Dimension hinaus aber auch eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung. Das auffallend starke predigtreformerische Engagement Graf Manteuffels, der die Alethophilengesellschaft in den Dienst der von Gottsched propagierten Predigtreform stellte, illustriert dabei einerseits das nicht nur vom Bürgertum, sondern auch vom Adel unterstützte Bedürfnis nach einer Predigt, die dem gewandelten Geschmack der Zeit Rechnung trug; andererseits erhellt es aber auch die strategische Schlüsselstellung, die der Predigtreform von den »Auf klärern« für den gesamtgesellschaftlichen Prozeß der Auf klärung beigemessen wurde, indem die Kanzel aus strategischen Gründen als »Katheder der Auf klärung« funktionalisiert wurde.32 Denn sowohl die Prediger als »Lehrer der Tugend« als auch die Predigt als Unterweisung in den göttlichen und bürgerlichen Pfl ichten waren nach Wolffs »Deutscher Politik« staatstheoretisch unentbehrlich. Nicht zuletzt zeigte dies auch die von Manteuffel bei Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem in Auftrag gegebene und von diesem anonym verfaßte Schrift Essai sur la necessité de la Revelation.33 Die innertheologische Diskussion um die theologische Legitimität der »philosophischen« Predigt wurde angesichts ihrer gesellschaftsrelevanten Bedeutung auch öffentlich, auf hauptsächlich publizistischem Wege geführt. Die Klärung der strittigen Fragen verlief dabei durchaus unübersichtlich. Der von Gottsched auf Basis der Wolffschen Philosophie hergestellte Zusammenhang von Denk-, Sprach- und Predigtreform wurde in den Argumentationen selten stringent durchgehalten; oft bestimmten nur Einzelaspekte der homiletischen Systematik die Diskussion, in der sich theologisch-dogmatische, homiletische, erkenntnis- und moralphilosophische, ästhetische, rhetorische usw. Interessen vielfach überlagerten. Der Diskurs um Gottscheds Integration der Predigt in die Rhetorik bzw. seine rationalistische Predigttheorie bildete dabei nur einen, wenngleich wichtigen Teilbereich der allgemeinen Debatte um die »philosophische« Predigt. Der kirchenpolitische und publizistische Streit offenbarte zunächst die fundamentale frömmigkeitsgeschichtliche Differenz, die das orthodoxe vom auf klärerischen Predigtverständnis trennte. Wie das gegen Gottsched gerichtete Verhör vor dem Dresdner Oberkonsistorium zeigte, war das die Streitparteien konstituierende Theologie-, Philosophie-, Sprach- und Wirk32 33

Siehe dazu oben Kap. 3, Abschn. 3.3. Siehe dazu oben Kap. 3, Abschn. 2.2 bei Anm. 243.

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lichkeitsverständis so grundverschieden, daß eine Verständigung bzw. ein Ausgleich zwischen den Posititionen unmöglich war.34 Obwohl die Einwände der Orthodoxie z. T. durchaus Schwachstellen der »philosophischen« Predigt benannten, blieben ihre publizistischen Interventionen wirkungslos. Der Diskursverlauf zeigte nämlich, daß es den homiletischen Auf klärern gelang, die orthodoxe Kritik gezielt zu deplausibilisieren und ihre Kritiker im Diskursgeschehen zu isolieren. Das »Making of Homiletical Enlightenment« vollzog sich im Blick auf die homiletische Kontroverse dabei so, daß auf dem Boden einer gewandelten Streitkultur der orthodoxe Lehrelenchus samt seinen strikten Regeln des auf Latein geführten Gelehrtenstreits in eine öffentliche, auf Deutsch geführte Debatte überführt wurde, in der der orthodoxe Gegner mittels satirischer Schreibstrategien seine öffentliche Bestrafung erfuhr und so vom weiteren Diskursgeschehen disqualifiziert wurde.35 Dabei kam der überwiegend auf klärungsfreundlichen Presse eine kommunikationsgeschichtliche Schlüsselstellung zu, indem sie nicht nur als Schiedsrichter des öffentlichen Streits fungierte, sondern unter dem nicht selten vorgetäuschten Anstrich der Unparteilichkeit auf klärungsfreundliche Positionen massiv förderte bzw. auf klärungskritische Meinungen marginalisierte oder unterdrückte. Das Streitgeschehen um die »philosophische« Predigt zeigte an diesem Punkt, daß ein gesellschaftlicher Rückhalt für die »alte« Orthodoxie nicht mehr gegeben war, weshalb eine »neue« Orthodoxie als konservativ-theologisches Luthertum nur dann Bestand haben konnte, wenn es ihr gelang, sich auf die gewandelten Diskursbedingungen einzustellen und ein Predigtverständnis zu entwickeln, das grundlegende Ansichten des auf klärerischen Ansatzes rezipierte. Der Streit zwischen Pietismus und Wolffianismus um die »philosophische« Predigt offenbarte weiterhin, daß der gesellschaftliche Raum, in dem sich der Streit vollzog, aus den verschiedensten Gründen längst so polarisiert war, daß schablonierte Darstellungen des Gegners und seiner Position die differenzierte, inhaltliche Auseinandersetzung mit ihm ersetzten. Obwohl beispielsweise der hallische Pietismus nicht prinzipiell als philosophiefeindlich bezeichnet werden kann (wenngleich auch kaum zu übersehen ist, daß es vor allem im Umfeld August Hermann Franckes entsprechende Tendenzen gab), war die sachliche Auseinandersetzung mit Wolffs Philosophie seit seiner Vertreibung aus Halle zu einem unversöhnlichen theologischen und kirchenpolitischen Parteienstreit mutiert, in dem sich beide Seiten von einer Schwarz-Zeichnung des Gegners jenen propagandistischen Effekt erhofften, der den entscheidenden Vorteil in der öffentlichen Debatte bringen sollte. Inwieweit der Streit um die »philosophische« Predigt ganz im Sog dieser 34 35

Siehe dazu oben Kap. 4, Abschn. 1.1. Siehe dazu oben Kap. 4, Abschn. 1.2.

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Entwicklung geführt wurde, verdeutlicht dabei das Beispiel Joachim Langes.36 Obwohl der hallische Pietismus in der Kontroverse um die »philosophische« Predigt mit den Auf klärern die Frontstellung gegen die orthodoxe Homiletik teilte, machte die einseitig theologische Ausrichtung des pietistischen Predigtverständnisses37 eine Verständigung mit den Anhängern einer anthropologisch-philosophisch orientierten Predigtkonzeption schwierig, weshalb auch hier die geäußerten Einwände zunächst ergebnislos verhallten.38 Mittelfristig zeigte sich aber, daß die insbesondere von Vertretern einer eklektisch-philosophischen »Übergangstheologie« aufgenommenen Impulse pietistischen Predigtverständnisses nach 1740 doch noch zu einer effektiven Kritik an der »philosophischen« Predigt führten, die ihre prinzipielle theoretische Überwindung vorbereitete.39 Am Beispiel Joachim Oporins wurde dabei deutlich, daß auf dem Boden der im eklektisch-philosophischen Geist gegründeten Göttinger Universität eine kritische Traditionslinie gegen die »philosophische« Predigt etabliert werden konnte, die zum homiletikgeschichtlich bedeutsamen Gegenentwurf einer »moralischen« Predigt bei Johann David Heilmann führte.40 Bereits zuvor konnte auf dem Boden der weiterentwickelten Wolffschen Philosophie die »philosophische« Predigt durch den Halleschen Philosophieprofessor Georg Friedrich Meier um die Jahrhundertmitte auch »ästhetisch« überwunden werden.41 Die innerauf klärerische Korrektur der rationalistischen Engführungen der »philosophischen« Predigt durch eine erkenntnis- und moralphilosophische Neubewertung des Gefühls war dabei dem Umstand geschuldet, daß sich nun auch im theologisch-homiletischen Sektor Tendenzen Raum verschafften, die mit dem literaturgeschichtlich so bezeichneten Phänomen der »Empfindsamkeit« in engem Zusammenhang standen. 3. Gottsched, »ein Mann von brav auf klärerischer Redlichkeit, die viel vom Denkstil eines nüchternen protestantischen Pastors hat«42 , wurde in der zurückliegenden Untersuchung als paradigmatische Figur der homiletischen Entwicklung im zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts vorgestellt. Dabei bildete die vorausgesetzte systematische Einheit von Theologie/Homiletik, Philosophie und Literatur/Rhetorik im Kontext des allgemein-historischen Auf klärungsprozesses die Grundlage für die verschiedenen biographischen und homiletikgeschichtlichen Sondierungen in kirchengeschichtlicher Ab36 37 38 39 40 41 42

Siehe dazu oben Kap. 4, Abschn. 2.1.1. Siehe dazu oben Kap. 4, Abschn. 2.1.2. Siehe dazu oben Kap. 4, Abschn. 2.1.3. Siehe dazu oben Kap. 4, Abschn. 2.2. Siehe dazu oben unter Kap. 5, Abschn. 2. Siehe dazu oben Kap. 5, Abschn. 1. Holz: Gottsched, 113.

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sicht. Bezogen auf die Leitfrage nach dem historischen Verlauf des homiletischen Prozesses der Auf klärung evozieren die gemachten Beobachtungen in systematischer Perspektive verschiedene methodologische und theologische Erwägungen. Wie die Untersuchung gezeigt hat, verhalf die Anwendung ausgewählter literaturtheoretischer und -geschichtlicher Schlüsselbegriffe (wie z. B. »decorum«, »Geschmack« oder »Empfi ndsamkeit«) oder philosophisch-psychologischer Theoreme (wie z. B. das Dependenzmodell), die homiletische Entwicklung an entscheidenden Punkten transparent zu machen. Angesichts des im 18. Jahrhundert noch von allen Theologiestudenten absolvierten philosophischen Grundstudiums sowie der erst im 19. Jahrhundert einsetzenden Professionalisierung der akademischen Disziplinen kann es nicht verwundern, wenn das heute von nichttheologischen Fächern verwaltete Wissen zur Lösung der damaligen homiletischen Probleme auf selbstverständliche Weise herangezogen wurde. Daher darf es bei der heutigen historischen Aufschlüsselung der homiletischen Phänomene auch nicht ausgeklammert bleiben. Eine fast ausschließlich ideengeschichtlich (theologiegeschichtliche) Analyse, wie sie beispielsweise noch Reinhard Krauses Untersuchung zur Predigt der späten Auf klärung unternahm,43 kann daher weder unter homiletik- noch unter kirchengeschichtlichen Gesichtspunkten befriedigen. Gottsched, der die Predigttheorie als Teil der Rhetorik betrachtete, stand in ideengeschichtlicher Perspektive am Ende einer Entwicklung, in der die Homiletik als methodische Kunstlehre auch Gegenstand der Lehre in der philosophischen Fakultät war. Unter diesem Vorzeichen trat er als Philosoph und Rhetoriker an, die Homiletik angesichts eines einschneidenden gesellschaftlichen Umbruchs umfassend neu zu reflektieren. Evangelische Verkündigung hatte sich nach seinem wie nach gesamtauf klärerischem Verständnis als »Predigt in der Zeit«44 zu verstehen. Als entscheidendes Kriterium innerhalb der homiletischen Trias von Text-Prediger-Gemeinde wurde dabei der Predigthörer gesehen, der zum Mittelpunkt der homiletischen Reflexion erklärt wurde und auf den hin die beiden anderen Aspekte des homiletischen Geschehens ausgerichtet bzw. untergeordnet wurden. Der massiv auf kommenden, rational ausgerichteten Religionskritik sollte in einer apologetischen Reaktion mit Hilfe der Wolffschen Philosophie, die die Einheit von Vernunft und Glauben lehrte, auf Augenhöhe, d. h. ebenfalls rational entgegengetreten und so dem neuen Bedürfnis nach vernunftgemä43

Krause: Die Predigt der späten deutschen Auf klärung. Vgl. die thematisch interessante, methodisch aber unbefriedigende Untersuchung von Hans Mohr: Predigt in der Zeit: dargestellt an der Geschichte der Predigt über Lukas 5, 1–11, Göttingen 1973. – Zu Mosheims lebensweltlich-zeitbezogenem und damit auch auf klärungstypischen Predigtansatz vgl. nochmals dessen Aussage oben Kap. 4, Abschn. 1.2 in Anm. 210. 44

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ßer Argumentation Rechnung getragen werden. Diese anthropologische Zuspitzung der Homiletik ist in der Vergangenheit mit dem Schlagwort einer hörerbezogenen »Akkomodation« als dem »homiletischen Programm der Auf klärung« belegt worden.45 Mir scheint diese Terminologie irreführend zu sein, denn sie sagt nicht wirklich Homiletikspezifisches aus. Denn eine mehr oder minder starke »Herablassung« zum Zuhörer war eine zu allen Zeiten gültige, vom aptum gesteuerte Forderung an den Prediger, deren konkrete homiletische Umsetzung lediglich auf jeweils ebenso zeit- wie epochentypische Weise erfolgte. Innerhalb eines solchen Akkomodationsverständnisses müßte dann Luther als erster homiletischer Auf klärer gelten.46 Der auf klärerische Begriff der »Akkomodation« bezeichnet aber das Programm der auf klärerischen Theologie insgesamt, was sich theologischmaterial insbesondere in dessen programmatischer Verwendung in der Bibelhermeneutik (mit sehr langer Vorgeschichte) bzw. in der Dogmatik niederschlägt.47 Sucht man deshalb nach einer spezifischen Ausprägung des auf klärungstheologischen Akkomodationsgedankens in der Homiletik, dürfte man diesen mutmaßlich im Zusammenhang der Theorie homiletischer »Popularität« fi nden, wie sie ausgehend von Johann David Heilmann (1763) im letzten Drittel des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts bestimmend für den homiletischen Diskurs wurde.48 Die auf klärungshomiletische Differenz zu den Predigtkonzeptionen der Orthodoxie und des Pietismus, die im Streit um die »philosophische« Predigt die zwei maßgeblichen Alternativmodelle darstellten, läßt sich im Rahmen des genannten homiletischen Schemas auf folgende Kurzformel bringen: Während in der orthodoxen Homiletik der (verbalinspirierte) Bibeltext im Mittelpunkt der homiletischen Aufmerksamkeit stand und die beiden 45 Ch.-E: Schott: Akkomodation – Das Homiletische Programm der Auf klärung, in: Beiträge zur Geschichte der Predigt: Vorträge und Abhandlungen/ hrsg. von H. Reinitzer, Hamburg 1981, 49–69. – Schotts Beitrag bietet im Detail neben Richtigem auch Falsches. Grundsätzlich zu hinterfragen ist seine Rede von einer um 1800 verorteten »philosophischen« Predigt (ebd, 57 f.); ebensowenig wird man so absolut wie undifferenziert behaupten können, daß Mosheim »den Charakter der Predigt als Rede und den Hörer als Teil des Predigtprozesses wiederentdeckt hat« (ebd, 55). 46 Vgl. dazu bereits Krause: Die Predigt, 16. 47 Für die Hermeneutik siehe L. Dannenberg: Schleiermacher und das Ende des Akkomodationsgedankens in der hermeneutica sacra des 17. und 18. Jahrhunderts, in: 200 Jahre »Reden über die Religion«: Akten des 1. internationalen Kongresses der SchleiermacherGesellschaft Halle 14.-17. März 1999/ hrsg. von U. Barth; C.-D. Osthövener, Berlin; New York 2000, 194–246; zum dogmatischen Gehalt des Begriffs der »Accomodation« in der Auf klärungstheologie siehe auch [H. Gräfe:] Examinatorium über die Dogmatik der evangelischen Kirche, Quedlinburg; Leipzig 1830, 32–34. 48 Vgl. insbesondere Th. K. Kuhn: »Popularität«: Anmerkungen zur Theoriebildung auf klärerischer Kommunikation, in: Christentum im Übergang, 161–171; siehe auch auch H. Bausinger: Herablassung, in: ». . . aus der anmuthigen Gelehrsamkeit«: Tübinger Studien zum 18. Jahrhundert, FS Dietrich Geyer, Tübingen 1988, 25–39.

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anderen Aspekte der homiletischen Trias (Prediger und Hörer) ihm zu- bzw. untergeordnet wurden, bildete im Pietismus der vom Heiligen Geist erweckte Prediger den homiletischen Dreh- und Angelpunkt. Auf der so konfigurierten Ausgangsbasis fand der theologische Parteienstreit dann auch seinen entsprechend polarisierten Austrag. Gegenüber der von Gottsched und den Anhängern der »philosophischen« Predigt mit einer gewissen Einseitigkeit propagierten Anthropologisierung des Predigtgeschehens, pochte die Orthodoxie daher auf das von ihr mittels einer rhetorica sacra homiletisch operationalisierte protestantische sola-scriptura-Prinzip. Hingegen betonte der Pietismus die homiletisch unentbehrliche Wirksamkeit des Heiligen Geistes, die seiner Auffassung nach mit dem inspirierten Prediger stand und fiel und die zu entsprechenden Konzeptionen einer »Rhetorik des heiligen Geistes« (Hanspeter Marti) führte. Aus homiletisch-systematischer Perspektive wird man feststellen müssen, daß jede der Parteien im Rahmen des homiletikgeschichtlichen Entwicklungsprozesses zwar einen Einzelaspekt der homiletischen Trias in betonter Weise herausarbeitete, dabei aber in der Tendenz zu unsachgemäßer Vereinseitigung stand. Das geschichtliche Verdienst der »philosophischen« Predigt war demnach, die durch den Wandel der Zeit herausgeforderte Anthropologisierung der Homiletik als Aufgabe erkannt und einer ersten, wenngleich noch unvollkommenen Lösung zugeführt zu haben. Dabei erwies sich die Auf klärungshomiletik jedoch als selbstkritisch genug, bestimmte Defizite ihrer Konzeption im Laufe der Zeit selbst zu erkennen und zu korrigieren. So fand beispielsweise die von orthodoxen wie »übergangstheologischen« Kritikern diagnostizierte Textvernachlässigung der »philosophischen« Predigt Problematisierung und Korrektur in der Neologie. Ohne auf die entsprechende homiletikgeschichtliche Entwicklung hier näher eingehen zu können, veranschaulicht den diesbezüglich maßgeblichen Einschnittpunkt innerhalb der theologischen Diskussion eine Rezension in Friedrich Nicolais Allgemeine[r] Deutschen Bibliothek – der bedeutendsten Zeitschriftengründung des Auf klärungsjahrhunderts, der durch die Periodisierung von Schulers Predigtgeschichte auch ein maßgeblicher Einfluß auf die homiletische Entwicklung beigemessen wurde.49 Anläßlich des vierten Teils der nach demonstrativer Lehrart verfaßten Dogmatik des bekannten theologischen Wolffianers Jakob Carpov diskutierte ein anonymer Rezensent im Todesjahr Gottscheds (1766) das Für und Wider des Einflusses der Wolffschen Philosophie auf die Theologie, wie er auch für die Homiletik von Bedeu49 Schuler: Geschichte der Veränderungen, führte den zweiten Teil seiner Darstellung »von Speners Zeiten bis auf die Erscheinung der Allg. Deutschen Bibliothek und des Journals für Prediger« bzw. den dritten Teil »von Erscheinung der Allg. Deutschen Bibliothek und des Journals für Prediger bis auf unsere Zeit«.

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tung war.50 Neben Positivem 51 bilanzierte er aber auch Kritisches.52 Als größten Mangel sah der unbekannte Rezensent dabei an, daß der theologische Wolffianismus den Anschein erweckt habe, als verbinde er in der theologischen Arbeit Vernunft und Schrift. Dies sei aber nicht der Fall gewesen, weshalb der Theologie und dem christlichen Glauben das Abhandenkommen ihres eigentlichen Erkenntnisgrundes drohe.53 Jedoch konnte der Rezensent an diesem Punkt ein gewandeltes Bewußtsein konstatieren. Denn: »Glücklicher Weise kömmt man von diesem Abwege zurück.«54 Wie gesagt: Ob und wie die Neologie die gestellte Aufgabe, den Bibeltext homiletisch adäquat zu integrieren, gelöst hat, kann hier nicht erörtert wer50 [Anonym:] Rez. Jacob Carpov, Oeconomia salutis novi Testamenti, seu Theologiae revelatae dogmaticae methodo scientifica adornatae, tom. IV, Rudolstadt und Leipzig 1764, in: Allgemeine Deutsche Bibliothek 2, Stück 2 (1766), 182–203. 51 [Anonym:] Rez. J. Carpov, Oeconomia salutis novi Testamenti, tom. IV, in: Allgemeine Deutsche Bibliothek 2, Stück 2 (1766), 183: »Daß die Einführung der mathematischen Lehrart in die Theologie von großem Nutzen gewesen, das wird niemand läugnen, der den Zustand der theologischen Gelehrsamkeit des vorigen und gegenwärtigen Jahrhunderts zu vergleichen im Stande ist, ihr hat man es zu danken, daß der Geist der Prüfung unter uns allgemeiner geworden ist, und daß man mehr Mühe als jemals angewandt hat, sich von dem, was man vortragen wollte, deutliche und bestimmte Begriffe zu machen.« Und ebd, 184 hieß es weiter: Der »Geist des Selbstdenkens und der eigenen Prüfung hat sich auf diese Revolution so sichtbar in Deutschland verbreitet, [. . .] daß er, bey allen den Fehlern, darin er ausgeartet ist, immer eine glänzende Seite in der Geschichte der Gottesgelahrtheit unseres Vaterlandes bleiben wird. Mehr Licht, mehr Ordnung und eine richtigere Abwägung der Beweißgründe ist dadurch in alle Theile der theologischen Wissenschaft, und selbst in die Kritik eingedrungen.« 52 [Anonym:] Rez. J. Carpov, Oeconomia salutis novi Testamenti, tom. IV, in: Allgemeine Deutsche Bibliothek 2, Stück 2 (1766), 185: »Freylich müssen wir hierbey gestehen, daß, wie bey allen menschlichen Unternehmungen, Mißbrauch mit unterlaufen und aus dem Mißbrauch mancher Schaden erwachsen ist. Man hat philosophische Lehrsätze und Hypothesen in das System der Religion herübergetragen, deren Gewißheit nicht ausgemacht waren, oder, wenn sie auch gewiß waren, deren die Theologie doch entrathen konnte. Man hat das gewisse und wahrscheinliche, das problematische und ausgemachte, das, was die Schrift dunkel gelassen, und das, was sie in ein helles Licht gesezt, vermittelst dieser Methode nach einem Leisten geformt, und alles demonstriren wollen, weil man alles zu demonstriren zu können glaubte.« 53 [Anonym:] Rez. J. Carpov, Oeconomia salutis novi Testamenti, tom. IV, in: Allgemeine Deutsche Bibliothek 2, Stück 2 (1766), 185 f.: »Und was wir für den wichtigsten Schaden halten; man hat oft die Auslegungswissenschaft der Schrift und die sorgfältige Prüfung und Berichtigung ihrer Regeln ganz beyseite gesezt, und sich damit beholfen, wenn man eine Auslegung, die man zum Beweise nützen konnte, vor sich gefunden; daraus hat man willkührliche Begriffe gemacht, aus denen man hernach das, was man beweisen wollte, auch mit leichter Mühe zu beweisen im Stande war. Der Schein ist also zwar da gewesen, als philosophire man mit der Schrift; aber aus der Schrift ist nicht immer philosophirt worden. Und wäre man auf diesem Wege fortgegangen, so würde die heilige Schrift nicht mehr der Erkenntnißgrund der Religionswahrheiten, sondern höchstens ein Zeuge gewesen seyn, der das aussagen mußte, was man zur Conclusion brauchte.« 54 [Anonym:] Rez. J. Carpov, Oeconomia salutis novi Testamenti, tom. IV, in: Allgemeine Deutsche Bibliothek 2, Stück 2 (1766), 186.

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den. Gleichwohl stellt sich dem Kirchenhistoriker angesichts der weiteren theologie- und homiletikgeschichtlichen Entwicklung die grundsätzliche Frage, ob das schon beinahe klassische Drei-Stufen-Schema Karl Aners, das zur makroskopischen Untergliederung der Auf klärungsepoche an der theologiegeschichtlichen Konstellation von Vernunft und Offenbarung orientiert ist, von der Kirchengeschichtsschreibung nicht besser aufgegeben werden sollte. Denn der Prozeß der homiletischen Auf klärung brachte – anders als es Aners Schema behauptet – keine Verschärfung (Steigerung) des Vernunft-Offenbarung-Problems, sondern dessen religiös-affektive Vertiefung. Dies impliziert die weitergehende Frage, inwieweit die Kirchenhistoriographie der Auf klärungszeit ihre primäre Aufmerksamkeit von theologiegeschichtlichen Orientierungen abziehen und verstärkt den kulturellen Kontexten des theologischen Auf klärungsprozesses zuzuwenden sollte. Welcher Erkenntnisgewinn bei einer solchen Ausweitung des Blicks zu gewärtigen ist, wollte die vorliegende Untersuchung andeuten.

Quellenanhang 1. Friedrich Wilhelm I. an die Pröpste Roloff und Reinbeck, 18. November 1736 Fundort: ELAB, Depositum St. Marien/St. Nicolai, Rep. I, Nr. 725 (unfol.) Urschrift (unpubliziert) Würdige besonders liebe getreue, ich habe gerne auß Eurem Schreiben v. 12. t. dieses ersehen, daß Ihr Eure Sorge mit auff die Wohlfahrt der Universitaet Halle, und insonderheit der Theologischen Facultaet richtet, auch darinnen die so nöthige harmonie wieder herzustellen trachtet. Weil nun dieses ebenfalß Mein augenmerck ist, ich auch dem Professor Baumgarten zwar verbothen, Sich in seinem amt aller dunckeln abstracten und neuerlichen methode zu enthalten, dagegen aber derjenigen einfältigen und lauteren Lehr=arth, welche die verstorbenen Vorgänger Spener Francke Breithaupt p mit vieler Frucht, gebrauchet, zu bedienen, so ist doch mein Wille nicht, daß jemand demselben über die Thesin oder andere theile der Theologie einen disput erregen, und selbige, Sich allein vindiciren soll. Sondern es bleibet einem jeden professori freÿ, das zu lesen, was Er der Jugend am nützlichsten zu sagen erachtet, worüber Ich denn auch unter dem heutigen dato Meine Willens Meinung der besagten Facultaet zu erkennen gegeben, ihr sollet also ferner, so viel an Euch ist, denen genannten gliedern, zur cultivirung der rechtschaffenen Einigkeit und des Friedens anräthig seÿn, auch den p Baumgarten ins besondere erinnern, was Er Mir letzthin so theuer versprochen, daß Er die Jugend lediglich auff das ungekünstelte und thätige Christenthum führen wolle. Ich bin Wilhelm Cossenbladt1 den 18 t. Nov: An die Pröbste Roloff u. Reinbeck. 1

Kossenblatt, Kirchenkreis Beeskow.

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Quellenanhang

2. Die preußischen Kabinettsordern vom 7. März 1739 und 8. Februar 1740 Aktenüberlieferung: GStA PK, HA I, Rep. 47, Nr. 16, unfol. (Urschrift der Kabinettsorder vom 7. 3. 1739). ELAB, Depositum St. Marien/St. Nicolai, Rep. I, Nr. 741, unfol. (Urschrift des Anschreibens an die Pröpste Roloff und Reinbeck vom 8. 2. 1740 [s. u.]; Abschriften der Kabinettsorder und der Beilagen B und C [s. u.]). GStA PK, HA XX, EM Abt. 37 b 3, Nr. 7, Bl. 7r ff. (Abschriften der Kabinettsorder samt Anschreiben und Beilagen A, B und C [s. u.]). Urdruck (Separatdruck) u. a. vorhanden in: GStA PK, HA I, Rep. 47, Nr. 16 (unfol.). Weitere (Teil-)Drucke der Kabinettsorder vom 7. März 1739 in: Acta historico-ecclesiastica 3 (1739), 893–897. UN (Fortgesetzte Sammlung von Alten und Neuen Theologischen Sachen) 1740, 67–72. [Gottsched:] Grund-Riß einer Lehr-Art (1740), Bl. h8r-i3v. Beiträge zu Beredsamkeit, Tl. 1 (1741), 184–200. [Anonym:] Predigerkunst, Zedler 29 (1741), 265–267. [Gottsched:] Grundriß einer überzeugenden Lehrart (1743), Bl. *5r-7v. Mylius: Corporis Constitutionum Marchicarum, Cont. I, Sp. 325–330. [A. B. König:] Versuch einer Historischen Schilderung der Hauptveränderungen, der Religion, Sitten, Gewohnheiten, Künste, Wissenschaften etc. der Residenzstadt Berlin seit den ältesten Zeiten, bis zum Jahre 1786. Tl. 4, Bd. 1: Enthält die Regierungsgeschichte König Friedrich Wilhelms des Ersten von 1713 bis 1740, Berlin 1796, 320–326. Schian: Orthodoxie und Pietismus, 159 in Anm. 1 (Abdruck der Punkte 1–3. 10). Ein Referat der zehn Punkte der Order bietet zuletzt Wieckenberg: Goeze und Gottsched, 246 f. Die Textwiedergabe folgt dem Abdruck bei Mylius. |325> Allergnädigste Verordnung wegen der Prediger und Candidaten deutlichen Lehr=Art, vom 8. Febr. 1740. nebst Beylage sub A. B. & C. Friderich Wilhelm, König in Preussen [etc.] Unsern [etc.] Es wird Euch bereits vorhin bekannt seyn, allenfalls zeigen nebenliegende Abschriften, was respective den 7ten Martii 1739. den 9ten Januarii und 15. ejusdem a. c.

2. Die preußischen Kabinettsordern vom 7. März 1739 und 8. Februar 1740

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wegen derer Evangelisch=Reformirten Prediger und Candidaten Lehr=Art vor Cabintes-Ordres ergangen, und das Evangelisch=Reformirte Kirchen= Directorium deshalb vorgeschlagen hat. Wann es nun damit bey denen Evangelisch=Lutherischen auf eben die Weise einzurichten ist; So befehlen Wir Euch in Gnaden, sämtliche in hiesigen Residentzien befi ndliche Evangelisch=Lutherische Candidatos Theologiæ dessen zu bedeuten, selbige auch zu desto besserer Erreichung Unserer hiebey führenden heilsamen Absicht, zuweilen über gewisse ihnen expresse vorzuschreibende Texte Predigten elaboriren und zur Censur einreichen zu lassen. Seynd [etc.] Berlin, den 8ten Febr. 1740. An die Consistorial-Räthe und Pröbste Roloff und Reinbeck. Da Seine Königl. Majestät in Preussen, [etc]. [etc]. Unser allergnädigster Herr, von vieler Zeit her bemercket, daß die Reformirten Candidati Theologiæ und angehende Prediger sich mehrentheils eine gezwungene, undeutliche und wenig erbauliche Lehr=Art und Methode im Predigen angewöhnet; solches aber dem Zweck der Erbauung in denen Gemeinden hinderlich ist: So haben Höchst Dieselben für höchst nützlich und nöthig erachtet, an die sämtliche Reformirte Professores der Theologie auf Dero Academien und Gymnasiis die allergnädigste Ordre ergehen zu lassen, daß sie die Studiosos Theologiæ folgendergestalt zum erbaulichen, deutlichen und ordentlichen Predigen, künftig mit allem ersinnlichen Fleiß anführen sollen. I. Vor allen Dingen sollen die Studiosi Theologiæ zur wahren ungeheuchelten Gottesfurcht und lebendiger Erfahrung derer Göttlichen Wahrheiten angeführet werden, damit sie selbst erst wahre Christen werden, und ihrer künftigen Gemeine in reiner Lehre und unsträfl ichem Wandel vorgehen können. II. Es sollen dieselben sich bey Zeiten in der Philosophie und einer vernünftigen Logic, als zum Exempel des Professor Wolffens, recht fest setzen, damit sie lernen, sich deutliche und klare Begriffe von der gantzen Theologie und ins besondere von denen zu erklärenden Texten zu machen, dieselben nach ihrem wahren Sinn einzusehen, die darin enthaltene Wahrheit zu erweisen, und bindige Schlüsse zur Application daraus auf eine überzeugende Weise zu ziehen. III. Sie sollen zu einer vernünftigen, deutlichen und überzeugenden Art zu reden angewöhnet werden, dergestalt, daß ihr Vortrag weder niederträchtig und gemeine, noch hochtrabend, verblühmt, künstlich und gezwungen sey. Dahero sie sich einen reinen, deutlichen und kurtzen Stylum angewöhnen, und mehr bemühet seyn müssen, ihren Zuhörern klare Be-

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Quellenanhang

griffe im Verstande, und eine gute Neigung des Willens zu erwecken, als ihre eigene Kunst und Gelehrsamkeit zu zeigen. IV. Deswegen sollen sie unterwiesen werden, ihre Predigten ordentlich zu meditiren, und die Sachen, so sie vortragen wollen, erst recht deutlich zu verstehen, so wird es ihnen nicht schwer seyn, davon klar und begreifl ich zu reden, wobey es nöthig ist, daß solche angehende Prediger ihre Predigten vorher schriftlich abfassen, welches ihnen Gelegenheit giebet, nichts unbedachtes öffentlich vorzutragen, und eine gute Ordnung zu beobachten. V. Zu diesem Ende muß ihnen Anleitung gegeben werden, wie sie ihren vorhabenden Text vernünftig, und nach denen Umständen ihrer Gemeine erbaulich erklären sollen, wozu gehöret, daß sie eine in dem Text liegende Göttliche Wahrheit, es sey dieselbe eine Glaubens= oder Lebens=Lehre zum Grunde der Predigt vorstellen, dieselbige in ordentliche und wenige Stücke abtheilen, und jedes Theil auf eine verständliche Weise erklären, auch allezeit sogleich auf die Erbauung der Zuhörer führen, wobey sie alles, was zum rechten Begrif nöthig ist, kurtz, bindig und kräftig durch klare Schlüsse ausführen müssen, imgleichen soll die Application und Anwendung, nach dem verschiedenen Zustande der Zuhörer, mit einer anständigen, rührenden, doch unaffectirten Art, gemachet werden, daß die Leute sowohl die Wahrheit recht begreiffen, als auch einen ernstlichen Willen fassen, derselben im Leben zu folgen. VI. Wenn die Texte lang sind, als in denen Evangelien und Episteln, so sollen sie nicht iedesmahl den gantzen Inhalt weitläufftig erklären, welches denen Zuhörern zu behalten nicht wohl möglich ist, sondern nur eine und die andere Göttliche Lehre daraus solide und deutlich demonstriren, die übrigen Materien aber auf eine andere Zeit versparen, weil diese Texte alle Jahr wieder vorkommen. VII. Wie nun zum Unterricht der Leute nichts diensamer ist, als wenn der Lehrer sich der möglichsten Deutlichkeit im Vortrage und denen Redens= Arten bedienet; Also sollen die Studiosi Theologiæ angewöhnet werden, sich der dunckeln mysterischen Redens=Arten aus denen Propheten und der eingerissenen allegorischen Ausdrücke und Methode sorgfältig zu enthalten, und wenn ja dergleichen bey Gelegenheit einfl iessen müssen, solche denen Zuhörern durch ordentliche und deutliche Worte und vernünftige Begriffe klar zu machen. VIII. Wegen der Methode derer Predigten müssen sie sich hüten, daß sie weder auf eine gekünstelte und gezwungene Art derselben fallen, noch ihren Vortrag unordentlich thun, und alles unter einander werffen, so daß die Leute die Predigt weder verstehen, noch zu ihrem Nutzen behalten können, dahero soll ihnen eine natürliche und leichte Ordnung im Predigen angewöhnet werden, damit darin alles Ketten=weise zusammen hänge, und eines aus dem andern fl iesse.

2. Die preußischen Kabinettsordern vom 7. März 1739 und 8. Februar 1740

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IX. Zu diesem Ende ist nöthig, daß sie die Sprüche Heiliger Schrift, so sie zum Beweise der Lehren oder Vermahnungen anführen, mit rechter Uberlegung auswählen, und nicht unnöthiger Weise eine Menge von Sprüchen anziehen, sondern nur die deutlichsten, und welche genug sind, einen klaren Begriff von der Sache zu machen. X. Uberhaupt aber muß ihnen ernstlich eingeschärfet werden, daß sie die wahre Absicht derer Predigten beständig vor Augen haben, und also dieselben nicht aus eitelen und irdischen Motiven, sondern als vor dem Angesicht des grossen GOttes in heiliger Furcht halten, und dessen alleinige Ehre und die Beförderung der Seligkeit ihrer Zuhörer zum eintzigen Zweck haben müssen[.] Seine Königliche Majestät befehlen also Dero würcklichem Geheimen Etats-Ministre von Brand, und Præsidenten von Reichenbach, allergnädigst, das nöthige dieserhalb überall zu besorgen. Potsdam, den 7. Martii 1739. Friedrich Wilhelm (L. S.) Ordre an den Etats-Minist[r]e von Brand und Præsident von Reichenbach. Extract aus der Cabinets-Ordre de Dato den 9. Jan. 1740. Nach Sr. Königl. Majestät allerhöchstem Befehl sollen die Candidati und Studiosi Theologiæ zu einer vernünftigen, deutlichen und erbaulichen Methode im Predigen angeführet werden, keine hohe oratorische Redens= Arten noch künstliche allegorische und verblümte Worte gebrauchen, die auf den Catheder wohl schön seyn, aber auf der Cantzel nichts nutzen, kein thätiges Christenthum befördern, und ohne Kraft und Rührung sind, keine unnütze repetitiones machen, noch die mehrere Zeit der Predigt mit gar zu weitläuftiger Erklärung derer Textes=Worte, auch Anführung vieler zur Erbauung gantz und gar nicht dienenden Umstände und Ausschweiffung zubringen, sondern alle Candidati und Studiosi Theologiæ sollen die Logica rechtschaffen erlernen, ihre Texte wohl eintheilen, selbige auf eine kurtze iedoch verständliche Art erklären, bey ieder Eintheilung die Application gleich hinter her mit anhengen, bey Erklärung derer Worte des Textes sich nicht lange auf halten, keine unnütze digressiones und zur Erbauung gar nicht dienende Sachen mit einmischen, sondern alles kurtz, bindig und durch klare Schlüsse ausführen, auch eine rührende und unaffectirte Art, sich auszudrucken, gebrauchen, und zu dem Ende die gute Art zu predigen des Ober=Hof=Prediger Jablonsky, imgleichen des Probst Reinbecks zum Muster und Exempel nehmen, als in deren Predigen, benebst einer kurtzen, deutlichen und erbaulichen Erklärung derer Textes=Worte,

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Quellenanhang

Schlüsse auf Schlüsse zu fi nden, wodurch die Hertzen derer Zuhörer gerühret, und von dem Grunde und der Wahrheit des Vortrages erbaulich überzeuget werden. Wie denn auch diejenige Prediger, welche noch nicht das 40. Jahr passiret, sich aller pur oratorischen Art zu predigen enthalten, hingegen aber, wie oberwehnt, predigen; diejenigen aber, welche das 40. Jahr passiret, und ihre so lange gewöhnte Art zu predigen schwerlich ändern können, hierunter übersehen werden sollen. Allerdurchlauchtigster [etc.] [etc.] Ewr. Königl. Majestät haben vermöge Cabinets-Ordre vom 9ten dieses allergnädigst gut gefunden, daß zu Beforderung eines thätigen Christenthums Dero Prediger sich auf der Cantzel aller gekünstelten, allegorischen und verblümten Worte und Redens=Arten enthalten, ihre Texte wohl eintheilen, dieselbe auf eine kurtze, ie= doch verständige Art erklären, bey ieder Eintheilung die Application so gleich hinten anhängen, alle unnütze repetitiones, digressiones und weitläuftige Erklärungen, so zur Erbauung nicht dienen, vermeiden, hingegen dieselbe kurtz, bindig, und durch klare Schlüsse ausführen sollen, zu dem Ende auch allergnädigst beliebet, daß alle Candidati Theologiæ und neu angehende Pred= iger die Logica rechtschaffen erlernen, und mit allem Fleiß sich darin üben sollen. Da Wir nun Ew. Königl. Majestät geheiligte Absichten ins Werck zu setzen allerunterthänigst bemühet sind; Als wollen Ew. Königl. Majestät denen Theologischen Facultæten zu Franckfurth und Duisburg, wie auch denen Professoribus Theologiæ der Universitæt zu Königsberg, imgleichen denen Gymnasiis zu Halle und Lingen in Gnaden anzubefehlen geruhen, daß sie nach Ew. Königlichen Majestät allergnädigst beliebten Methode die Studiosos Theologiæ mit allem Fleiß unterrichten und anführen, auch alle Quartal eine von solchen Studiosis, welche Lan= des=Kinder, elaborirte Predigten an Uns einschicken, und dabey nicht allein die Anzahl derer Landes=Kinder, so in ihrem Vaterlande gedencken befördert zu werden, beyfügen, sondern auch von ihrer Aufführung mit Bericht abstatten sollen. Wir verharren in tiefster Submission. Berlin, den 15. Januar. 1740. Ew. Königl. Majestät allerunterthänigste [etc.] [etc.] Zum Evangelisch=Reformirten Kirchen=Directorio verordnete Præsidenten, Räthe und Diener.