Johann Christoph Gottsched (1700-1766): Philosophie, Poetik und Wissenschaft 9783050060576, 9783050060347

Johann Christoph Gottsched is one of the key figures in the early German enlightenment. This volume covers the entire ga

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German Pages 467 [468] Year 2013

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
EINLEITUNG Johann Christoph Gottsched – Philosophie, Poetik, Wissenschaft
I. PHILOSOPHIE UND WELTANSCHAUUNG
»Erscheinet doch endlich, ihr güldenen Zeiten! / Da Weisheit und Tugend die Menschen regiert.–« Johann Christoph Gottsched als Aufklärer
»[D]arinn ich noch nicht völlig seiner Meynung habe beipflichten können.Gottsched und Wolff
Anleitung zur Moral – mit und ohne Wolff Zur praktischen Philosophie von Johann Christoph Gottsched
Gottsched als theologischer Aufklärer Zur Kritik einiger theologie-, philosophie- und literaturgeschichtlicher Gottschedbilder
Induktion und Experiment in den Ersten Gründen der gesamten Weltweisheit Johann Christoph Gottscheds
Gottsched und die Entstehung der Ästhetik
II. POETIK, RHETORIK, GRAMMATIK
Gottscheds vier Literaturgeschichten
Was Wunder? Gottscheds Modaltheorie von Fiktion
Natur- und Gottesbezug in der Poetik Gottscheds und der Schweizer
Die Geburt der gereinigten Schaubühne aus dem Geist des Aischylos Gottscheds Theaterpoetik
Kritische Dichtkunst – Optionen der Gottschedischen Dramentheorie
Rhetorik der Aufklärung – Aufklärung der Rhetorik
Sprachwissenschaftliche Konzepte bei Gottsched
III. VERMITTLUNG
Gottsched als Universitätslehrer
Gottsched und die zeitgenössische Publizistik
»WAs ist das wieder vor eine neue Hirn-Geburt?« Ordnungsdenken und Textverbünde in Gottscheds moralphilosophischem Programm
Literarisches Gattungssystem und politischer Diskurs Johann Christoph Gottsched übersetzt den Lehrbegriff der Staatskunst von Jakob Friedrich Bielfeld
Anmerkungen zu Pieter van Musschenbroeks Elementa physicæ und ihrer Edition durch Gottsched
ÖFFENTLICHER ABENDVORTRAG
Johann Christoph Gottsched und die deutsche Aufklärung
IV. Anhang
Gottsched-Bibliographie 1985–2012
Personenregister
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Johann Christoph Gottsched (1700-1766): Philosophie, Poetik und Wissenschaft
 9783050060576, 9783050060347

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Eric Achermann (Hg.) Johann Christoph Gottsched (1700 – 1766)

Werkprofile Philosophen und Literaten des 17. und 18. Jahrhunderts

Herausgegeben von Frank Grunert und Gideon Stiening Wissenschaftlicher Beirat: Wiep van Bunge, Knud Haakonssen, Marion Heinz, Martin Mulsow, Merio Scattola und John Zammito

Band 4

Diese Reihe versammelt textnahe Interpretationen von umfassenden Werkkomplexen einzelner Philosophen, Wissenschaftler und Literaten des 17. und 18. Jahrhunderts. Im Fokus stehen Werke von Autoren, die in den Diskussionen ihrer Zeit als Anreger von Innovationen oder als Hersteller von Synthesen eine gewichtige Rolle spielten, ohne dass die Forschung deren Bedeutung bislang hinreichend wahrgenommen hätte. Bei den in den Bänden der Reihe publizierten Analysen geht es um eine genaue Rekonstruktion der internen Strukturen eines Œuvres und der Diskussion seiner theoretischen Leistungen im Kontext des jeweiligen zeitgenössischen Problemhorizontes. In der doppelten Perspektive eines internen wie externen Blicks werden neue sachliche Einzelheiten ebenso aufgedeckt wie die Genese und die Produktivität von Theoriezusammenhängen, wodurch neue Grundlagen für die Erschließung der intellektuellen Kultur des 17. und 18. Jahrhunderts entstehen.

Eric Achermann (Hg.)

Johann Christoph Gottsched (1700 – 1766) Philosophie, Poetik und Wissenschaft Herausgegeben in Zusammenarbeit mit Nadine Lenuweit und Vincenz Pieper

Akademie Verlag

Abbildung auf S. 5: Johann Jacob Haid: Porträt des Philosophen Johann Christoph Gottsched, in: Bilder=sal heutiges Tages lebender und durch Gelahrtheit berühmter Schrifft=steller, in welchem derselbigen nach wahren Original=malereyen entworfene Bildnisse in schwarzer Kunst, in natürlicher Aehnlichkeit vorgestellet, und ihre Lebens=umstände, Verdienste um die Wissenschafften, und Schrifften aus glaubwürdigen Nachrichten erzählet werden, von Jacob Brucker, der königl. Preuß. Societät und Wissenschafften Mitglied und Johann Jacob Haid/ Malern und Kupfferstechern, Drittes Zehend, Augsburg 1744, [unpag.].

Lektorat: Mischka Dammaschke Einbandgestaltung: hauser lacour unter Verwendung eines Kupferstichs von B. Picartin aus dem Jahre 1728, in: Richard Cumberland: Traité Philosophique des Loix Naturelles, traduit du Latin par Monsieur Barbeyrac, Amsterdam 1747. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. © 2014 Akademie Verlag GmbH www.degruyter.de/akademie Ein Unternehmen von De Gruyter Gedruckt in Deutschland Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN 978-3-05-006034-7 E-Book-ISBN 978-3-05-006057-6

Johann Christoph Gottsched (1700–1766)

In memoriam Detlef Kremer (1953–2009)

Inhaltsverzeichnis

ERICH ACHERMANN

Einleitung: Johann Christoph Gottsched – Philosophie, Poetik, Wissenschaft........................................................................................................13

I. PHILOSOPHIE UND WELTANSCHAUUNG OLIVER SCHOLZ

»Erscheinet doch endlich, ihr güldenen Zeiten! / Da Weisheit und Tugend die Menschen regiert.« Johann Christoph Gottsched als Aufklärer ........................................................................................27

GIDEON STIENING

»[D]arinn ich noch nicht völlig seiner Meynung habe beipflichten können.« Gottsched und Wolff ......................................................................................39

FRANK GRUNERT

Anleitung zur Moral – mit und ohne Wolff. Zur Praktischen Philosophie von Johann Christoph Gottsched.............................................................61

ANDRES STRASSBERGER

Gottsched als theologischer Aufklärer. Zur Kritik einiger theologie-, philosophie- und literaturgeschichtlicher Gottschedbilder ......................................................................................................................................81

JAN-HENRIK WITTHAUS

Induktion und Experiment in den Ersten Gründen der gesamten Weltweisheit Johann Christoph Gottsched..............................................................................97

DAGMAR MIRBACH

Gottsched und die Entstehung der Ästhetik ....................................................................................113

8

Inhaltsverzeichnis

II. POETIK, RHETORIK, GRAMMATIK KLAUS WEIMAR

Gottscheds vier Literaturgeschichten ............................................................................................... 131

ERIC ACHERMANN

»Erscheinet doch endlich, ihr güldenen Zeiten! / Da Weisheit und Tugend die Menschen regiert.« Johann Christoph Gottsched als Aufklärer...................................................................................... 147

TOMAS SOMMADOSSI

Natur- und Gottesbezug in der Poetik Gottscheds und der Schweizer................................................................................................................................ 183

PETER HESSELMANN

Die Geburt der gereinigten Schaubühne aus dem Geist des Aischylos. Gottscheds Theaterpoetik ........................................................................................ 203

THOMAS ALTHAUS

Kritische Dichtkunst – Optionen der Gottschedischen Dramentheorie..................................... 221

DIETMAR TILL

Rhetorik der Aufklärung – Aufklärung der Rhetorik...................................................................... 241

GERDA HASSLER

Sprachwissenschaftliche Konzepte bei Gottsched.......................................................................... 251

III. VERMITTLUNG HANSPETER MARTI

Gottsched als Universitätslehrer........................................................................................................ 269

RÜDIGER OTTO

Gottsched und die zeitgenössische Publizistik ................................................................................ 293

CHRISTIAN MEIERHOFER

»WAs ist das wieder vor eine neue Hirn-Geburt?« Ordnungsdenken und Textverbünde in Gottscheds moralphilosophischem Programm .................................................................................................... 339

MERIO SCATTOLA

Literarisches Gattungssystem und politischer Diskurs Johann Christoph Gottsched übersetzt den Lehrbegriff der Staatskunst von Jakob Friedrich Bielfeld.............................................................. 359

Inhaltsverzeichnis

9

HOLGER STEINMANN

Anmerkungen zu Pieter van Musschenbroeks Elementa physicæ und ihrer Edition durch Gottsched...................................................................379

ÖFFENTLICHER ABENDVORTRAG DETLEF DÖRING

Johann Christoph Gottsched und die deutsche Aufklärung ..........................................................389

ANHANG Bibliographie .........................................................................................................................................407 Personenregister ...................................................................................................................................463

EINLEITUNG

ERIC ACHERMANN

Einleitung Johann Christoph Gottsched – Philosophie, Poetik, Wissenschaft

Sind wir bereit, Abraham Gotthelf Kästners Betrachtungen über Gottsched’s Charakter aus dem Jahre 1767 als das erste Dokument einer um Objektivität bemühten, im Ansatz bereits historischen Auseinandersetzung mit einer der einflussreichsten Figuren der vorausgehenden Jahrzehnte zu erachten, so stehen wir rund 250 Jahre annähernd ununterbrochener Gottsched-Forschung gegenüber. Die Feststellung mag nicht nur dazu verleiten, das Fehlen eines erwartbaren, vielleicht gar erwünschten Forschungsberichts mit gängigem Verweis auf Zeit und Ort reuevoll zu entschuldigen, sondern auch dazu, einen Blick auf den Anfang dieses Anfangs zu werfen: Gottsched’s Name ist der neuen deutschen Litteratur einer der bekanntesten; bekannt mag nun berühmt oder berüchtigt heißen.1

Da ist er also schon, der zentrale Topos, der auch heute noch den Anfang zu so vielen Darstellungen von Gottscheds Wirken und Werken macht. Was er zum Ausdruck bringt, ist die schiere Unmöglichkeit, sich der Wertfrage zu enthalten, angesichts der massiven Werturteile, die auf dem Gegenstand lasten und diesen oft zu erdrücken drohen. Die Unmöglichkeit, so scheint es, resultiert aus der verständlichen Abneigung, die sich Gottsched durch sein Agieren in der sehr energisch geführten Debatte mit den Schweizern und ihren Verbündeten verdient hat. Vergleichen wir jedoch den Ton dieser Debatte, den angeblich so herrischen Charakter des Leipziger Professors mit Ton und Charakter seiner Widersacher,2 oder auch Kontrahenten beliebig anderer zeitgenössischer Querelen, so erscheinen beide wenig singulär. Der Grund liegt anderswo: Gottsched wird – wie wenige andere Figuren der Kulturgeschichte – sich selbst zum Maßstab gesetzt. Sein eigenes Programm wird entweder auf die Aporien hin betrachtet, die diesem per se inhärieren, oder aber auf die Inkonsequenzen, die sich bei seiner Umsetzung durch das bald uneinsichtige, bald unaufrichtige Verhalten unseres Protagonisten ergeben. Die Freiheit des Denkens nämlich, die Gottsched so nachdrücklich einfordert, diene bloß dazu, die Herrschaft dieses Denkens, dieses eigentliche Diktat der Vernunft, zu kaschieren. Eine solche Forderung 1

2

Abraham Gotthelf Kästner: Betrachtungen über Gottsched’s Charakter. In der deutschen Gesellschaft vorgelesen den 12. September 1767. In: ders.: Gesammelte poetische und prosaische schönwissenschaftliche Werke. Bd. 2. Berlin 1841. ND Frankfurt a. M. 1971, S. 165–172, hier S. 165. Vgl. Detlef Döring: Der Literaturstreit zwischen Leipzig und Zürich in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Neue Untersuchungen zu einem alten Thema. In: Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Hg. von Anett Lütteken und Barbara Mahlmann-Bauer. Göttingen 2009, S. 60–104, hier S. 97–104.

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Eric Achermann

und die damit einhergehende Haltung mögen zwar während kurzer Zeit emanzipativ gewesen sein, in der Hauptsache jedoch ermöglichten sie es, eine dogmatische Festung zu errichten, welche die kommenden Generationen mit ihrem weiter entwickelten Freiheitsbegriff mühsam abzutragen hatten. Auch heute noch äußert sich der Usurpationsverdacht ungebrochen in Titulierungen, denen wir in der einschlägigen Literatur regelmäßig mit oder ohne Anführungszeichnen begegnen können: allen voran ›Literaturpapst‹, dann auch ›Alleinherrscher‹, ›Tyrann‹ – sowie in weiteren Bezeichnungen von etwas beschränkterer Machtfülle wie ›Schulmeister‹, ›Richter‹, ›Apostel der Aufklärung‹ etc. Außer für den bereits erwähnten unerfreulichen Charakter stehen sie für einen angeblichen Regularismus, der während gut zwei Jahrhunderten die Stichworte zur deutschen Aufklärung lieferte: akademisch, pedantisch, bieder. Mit Erfolg hat sich zwar die neuere Aufklärungsforschung gegen die Vereinnahmung der Aufklärung durch die Begriffe der Vernunft und des Vernünftelns zur Wehr gesetzt und das gesamte Zeitalter in der Folge von Kondylis’ bahnbrechender Abhandlung Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus aus dem Jahre 1981 unter das Schlagwort der »Rehabilitation der Sinnlichkeit« gestellt. Doch gerade dieser neuen Sichtweise scheint sich ein Gottsched zu entziehen.3 Im Gegensatz zu den französischen und britischen Haupttendenzen kenne die Aufklärung in Deutschland einen Sonderweg, dessen Verlauf wesentlich durch eine statische Rezeption Wolffs und dessen Intellektualismus bestimmt sei. Doch nicht genug, dass sich der Wolffianismus, darin Descartes nicht unähnlich, einer angemessenen Behandlung der Sinnesvermögen widersetze; er stelle darüber hinaus die praktischen Forderungen, die er aus der Vernunft ableitet, in den Dienst der bestehenden Verhältnisse, die er zu stabilisieren, im besten Fall zu optimieren, nicht aber zu überwinden trachte.4 Die stillschweigende Voraussetzung, dass Aufklärung zu Demokratie und einem konfessionsungebundenen Denken verpflichte, nicht aber die eine oder andere der bestehenden politischen oder religiösen Ansichten bekräftige, ist weder für eine Geschichte der Aufklärung noch für Geschichte tout court haltbar. Sie ist darüber hinaus in systematischer Hinsicht unergiebig, da sie sich der wesentlichen normativen Frage verweigert, wie denn das Verhältnis zwischen Erkenntnis und Handeln zu fassen sei. Für einen Wolffianer nämlich, und dies scheint mir der springende Punkt, ist Erkenntnis deontisch relevant, mehr noch: Sie ist entscheidend. Vielleicht wird die wiedergewonnene Popularität, die rationalistische Argumente in der gegenwärtigen Erkenntnis- und Moralphilosophie genießen, einen unaufgeregteren Blick auf mutmaßliche Dialektiken der Aufklärung erlauben, als ihn sich Ideologiekritiker und -kritikerinnen angewöhnt hatten, welche die Moderne unter die Ägide eines pathologischen Subjekts stellten. Das wiedererwachte Interesse an den klassischen Texten des sogenannten neuzeitlichen Rationalismus darf jedoch nicht dazu führen, die historischen Bedingungen dieses 3

4

Bezeichnenderweise spielt Gottsched in dieser Geschichte nur eine marginale Rolle, nämlich als Gegner des Ästhetikers Georg Friedrich Meier, der »seine Verachtung für Wolffianer wie Gottsched kaum verhehlt«; Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. München 21986, S. 561. Für diese Ansicht, dass Aufklärung und Absolutismus sich gegenseitig ausschließen müssen, vgl. die besonders markige Version bei Karl Otmar Freiherr von Aretin: Europa im Spannungsfeld zwischen Aufklärung und Absolutismus. In: Der aufgeklärte Absolutismus im europäischen Vergleich. Hg. von Helmut Reinalter und Harm Klueting. Wien, Köln 2002, S. 21–32.

Einleitung

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Denkens und die zahlreichen Peripetien, welche dessen Verbreitung artikulieren, zugunsten einer reinen Lehre zu vernachlässigen, deren Vermittlung ihren Hauptvertretern selbst immer wieder Anlass zu einer differenzierten Betrachtung der menschlichen Natur und der gesellschaftlichen Bedingungen boten. Denn ebenso wenig wie Wolff verkennt Gottsched die Bedeutung der Erfahrung,5 ja er verleiht bei aller Nähe zu Wolff in seiner eigenen Psychologie und Anthropologie sowohl den ästhetischen Vermögen6 als auch dem Streben nach Glückseligkeit ein noch größeres Gewicht. Geradezu als Charakteristikum kann festgehalten werden, dass diese Philosophie zutiefst durch das Verhältnis von System und Geschichte bestimmt wird. Beide Autoren nämlich lagern die Erfahrung dem Erlangen und Vermitteln vernünftiger Erkenntnis genetisch vor,7 ohne die Erfahrung deshalb in ihrer philosophischen Dignität über die Vernunft zu stellen. Angesichts dieser reflektierten Bedingtheit menschlichen Denkens und Handelns erscheint es doppelt unangebracht, dass sich ein Teil der älteren und neueren Forschung darin gefällt, Gottsched Verhaltensabweichungen von einer an sich schon falschen Haltung vorzurechnen: Fordere der Leipziger Philosophieprofessor zwar rigoros, alles einem vernünftigen Examen zu unterziehen, so bleibe er dennoch auf halbem Weg stehen, denn er bringe ja den Mut nicht auf, den kirchlichen und staatlichen Institutionen dasjenige zu sagen, was er aus seinen eigenen Prämissen heraus zu sagen hätte. Auch sein Einsatz für Wolff und Leibniz führe zu einer bloßen Verflachung von deren Denken, benehme er – dem zweiten selbstredend mehr als dem ersten – doch Tiefe und Kraft, indem er sie mit Rücksicht auf eine bürgerliche Leserschaft popularisiere und ohne Rücksicht auf deren Sprengkraft in allzu scharf bemessene Beete streue. Was französische Literatur und Gelehrsamkeit betrifft, als deren eifrigster zeitgenössischer Vermittler er gilt, so schwanke er zwischen sklavischer Bewunderung und patriotischer Ablehnung, so dass es nicht verwundern mag, dass die Zeitgenossen in ihm sowohl den DeutschFranzosen als auch den Franzosenfresser erkennen.8 Dort aber wo ein progressiver Geist durch das ästhetische Empfinden der Franzosen wehe, wende er seinen Kurs ab, sei es aus Unverständnis, sei es aufgrund der seichten Moral, die sein Kunstverständnis prägt. Nicht anders verhält er sich mit den Griechen, die er bald mit der ihm eigenen Apodiktik über alles stelle, um handkehrum, und stets zur Unzeit, an ihnen rumzumäkeln. Kurz, der Verdacht, dass Gottsched unter Umständen gar zu differenzieren wüsste, weicht der Prämisse, die eben diese Differenzen ausschließt. So dient nicht bloß der Name ›Gottsched‹ als epochales Etikett (›Gottsched-Zeit‹), vielmehr gilt der ganze Gottsched als Verkörperung eines flachen Aufklärungsverständnisses. Unbestrit5 6 7

8

Vgl. Katrin Löffler: Anthropologische Konzeptionen in der Literatur der Aufklärung. Autoren in Leipzig 1730– 1760. Leipzig 2005, insbesondere S. 128–131. Vgl. Hans Poser: Gottsched und die Philosophie der deutschen Aufklärung. In: Gottsched-Tag. Hg. von Kurt Nowak und Ludwig Stockinger. Stuttgart 2002, S. 51–70, vor allem S. 64–67. Zur Bedeutung der psychologia empirica und der ›Seelengeschichte‹ für die Entwicklung der Anthropologie vgl. Norbert Hinske: Wolffs empirische Psychologie und Kants pragmatische Anthropologie. Zur Diskussion über die Anfänge der Anthropologie im 18. Jahrhundert. In: Aufklärung. Interdisziplinäre Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte 11/1 (1999). Die Bestimmung des Menschen. Hg. von dems., S. 97–107. Zu Gottscheds diesbezüglicher Haltung vgl. nun Rüdiger Otto: Leibniz, Gottsched und die deutsche Kulturnation. Hannover 2012, insbesondere S. 15–30.

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Eric Achermann

ten bleibt hierbei, dass Johann Christoph Gottsched eine, wenn nicht die zentrale Figur der deutschen Frühaufklärung ist. Sein Beitrag zur Entwicklung der deutschsprachigen Sprach-, Rede-, Dicht- und Bühnenkunst findet in jeder besseren der entsprechenden Fachgeschichten Erwähnung, seine feste Absicht, diesen Künsten wo möglich eine wissenschaftliche Begründung, eine überschaubare kritische Historie sowie eine klare und elegante Darstellung zu verleihen, bisweilen gar Anerkennung. Wohl im Gedenken an den großen Niemand aus Lessings 17. Literarturbrief ist es aber vor allem die Literaturgeschichte, die sich – trotz gelegentlicher Versuche – am schwersten tut, die einmal gefällten Urteile zu Dichtungs- und Theaterkonzeptionen zu revidieren. Gottscheds Unverständnis von Dichtung, was deren Wesen, deren Meisterwerke sowie auch das eigene poetische Treiben betrifft, erweist sich offenbar gar zu deutlich, und dies nicht zuletzt auch im Vergleich mit demjenigen seiner Zeitgenossen. Der Vergleich nämlich führe nicht nur die Kontingenz der Gottschedschen Position vor Augen, sondern auch deren übermäßige Beschränktheit. Die erwähnten Urteile lassen sowohl die Programmatik als auch die philosophischen, poetologischen sowie wissenschaftlichen Zusammenhänge der Gottschedschen Überlegungen außer Acht. Die neuere Forschung hat begonnen, den zahlreichen Facetten dieses umfangreichen Werkes Beachtung zu schenken. So erscheint Gottsched nicht bloß als wichtiger Popularisator der Leibnizschen und der Wolffschen Philosophie,9 sondern auch als das Vorbild zahlreicher Zeitschriftenprojekte,10 als der Reformer zeitgenössischer Homiletik,11 als die Drehscheibe bei der Vermittlung europäischer Gelehrsamkeit12 und schließlich als ein attraktiver, wenn auch diskreter Pol klandestiner Zirkel.13 Die folgenden Beiträge setzen sich zum Ziel, die inneren und äußeren Zusammenhänge von Gottscheds unermüdlichem Schaffen deutlicher hervor treten zu lassen. Sie gehen mit einer Ausnahme14 auf die Tagung ›Gottsched. Aufklärer‹ zurück, deren Vorgabe lautete, den Theoretiker Gottsched und sein Programm der Aufklärung in den verschiedenen Bereichen seines Wirkens zur Sprache zu bringen. Das weite Spektrum, das vom philosophischen Selbstver9 10 11

12

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Detlef Döring: Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz’ und die Leipziger Aufklärung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Stuttgart, Leipzig 1999. Gabriele Ball: Moralische Küsse. Gottsched als Zeitschriftenherausgeber und literarischer Vermittler. Göttingen 2000. Andres Straßberger: Johann Christoph Gottsched und die ›philosophische‹ Predigt. Studien zur aufklärerischen Transformation der protestantischen Homiletik im Spannungsfeld von Theologie, Philosophie, Rhetorik und Politik. Tübingen 2010. Günter Gawlick: Johann Christoph Gottsched als Vermittler der französischen Aufklärung. In: Zentren der Aufklärung III. Leipzig. Aufklärung und Bürgerlichkeit. Hg. von Wolfgang Martens. Heidelberg 1990, S. 179-204; Catherine Julliard: Gottsched et l’esthétique théâtrale française. La réception allemande des théories françaises. Bern, Berlin 1998. Marie-Hélène Quéval: Johann Christoph Gottsched und Pierre Bayle – ein philosophischer Dialog. Gottscheds Anmerkungen zu Pierre Bayles Historisch-critischem Wörterbuch. In: Diskurse der Aufklärung. Luise Adelgunde Victorie und Johann Christoph Gottsched. Hg. von Gabriele Ball, Helga Brandes und Katherine R. Goodman. Wiesbaden 2006, S. 145–168; Martin Mulsow: Freigeister im Gottsched–Kreis. Wolffianismus, studentische Aktivitäten und Religionskritik in Leipzig 1740–1745. Göttingen 2007. Bei dem Beitrag handelt es sich um eine aktualisierte Version eines Gastvortrags, den ich im Sommer 2003 im Rahmen des Gießener Sonderforschungsbereichs ›Erinnerungskulturen‹ gehalten habe.

Einleitung

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ständnis bis zur Realisierung des hierin implizierten Programms reichte, barg und birgt natürlich Gefahren, sind zahlreiche Schriften Gottscheds doch kaum dem Inhalt, weniger noch dem Anlass nach bekannt. Durch die intensive Forschungstätigkeit aber, die von der Arbeitsstelle ›Edition des Briefwechsels von Johann Christoph Gottsched‹ an der ›Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig‹ ausgeht, ist dieses Risiko maßgeblich verringert worden. Den Editoren und Editorinnen unter der Leitung DETLEF DÖRINGs ist es zu verdanken, dass das erste Jahrzehnt dieses Jahrhunderts riesige Fortschritte in der Erforschung von Gottscheds akademischem und städtischem Umfeld, seiner Korrespondenten und seiner Funktion in den wissenschaftlichen Sozietäten verzeichnen konnte.15 Was also konnte näher liegen, als Detlef Döring die anspruchsvolle Aufgabe zuteil werden zu lassen, den Blick aufs Ganze zu wagen? Sein öffentlicher Abendvortrag Johann Christoph Gottsched und die deutsche Aufklärung wird hier unverändert reproduziert und schließt den Band ab. Die drei vorausgehenden Sektionen sind Gottscheds philosophischer Position, seinen Arbeiten zum Trivium sowie schließlich seiner Rolle als Lehrer, Publizist und Übersetzer gewidmet. Das Hauptaugenmerk liegt dabei weder auf der Erforschung der Lebensumstände noch dem praktischen sprachpflegerischen, dichterischen und theaterreformerischen Wirken, sondern auf den systematischen und wissenshistorischen Aspekten, die zur Erklärung der zentralen Argumente der Gottschedschen Schriften sowie deren enormer zeitgenössischer Wirkung beitragen: I. OLIVER SCHOLZ ist es um Gottsched als Aufklärer zu tun. Das Selbstverständnis Gottscheds sei ein philosophisches, seine Haltung eine programmatisch aufklärerische, was ihm soviel bedeute wie Aberglauben- und Vorurteilskritik sowie die Forderung, selbst und frei zu denken. Das prüfende Geschäft, wozu eine solche Einstellung verpflichtet, steht nicht im Widerspruch zur ›Eklektik‹, vielmehr besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Kritik und einer prinzipiellen Offenheit für neue Argumente. Am deutlichsten zeige sich Gottscheds Haltung dort, wo er sich mit einem Intoleranz fördernden und rational nicht begründbaren Glauben konfrontiert sieht. So lässt sich der Kern der Gottschedschen Programmatik mit Verweis auf die HorazStelle erfassen, die sich bekanntlich ja nicht erst bei Kant, sondern bereits auf dem Avers der Gedenkmünze der ›Aletophilen‹ findet: »Sapere aude!« Die Verbreitung des Wolffianismus im deutschsprachigen Raum erforderte – in Anbetracht der Dimension und Schwierigkeit des Wolffschen Œuvres – eine intensive Popularisierungstätigkeit. Als wichtiger, wenn nicht wichtigster Propagator muss Gottsched genannt werden. Nach eigener Aussage ließ es Gottsched aber nicht bei der bloßen Wiedergabe Wolffscher Philosopheme bewenden, sondern folgt auch hierin seinem Grundsatz, frei zu prüfen und sich ergo 15

Hier sei einzig auf die Buchpublikationen der letzten Jahre verwiesen: Detlef Döring: Johann Christoph Gottsched in Leipzig. Ausstellung in der Universitätsbibliothek Leipzig zum 300. Geburtstag von J. Chr. Gottsched. Stuttgart, Leipzig 2000; Gottsched-Tag. Wissenschaftliche Veranstaltung zum 300. Geburtstag von Johann Christoph Gottsched am 17. Februar 2000 in der Alten Handelsbörse in Leipzig. Hg. von Kurt Nowak und Ludwig Stockinger. Stuttgart, Leipzig 2002; Detlef Döring: Die Geschichte der Deutschen Gesellschaft in Leipzig von der Gründung bis in die ersten Jahre des Seniorats Johann Christoph Gottscheds. Tübingen, Niemeyer 2002; Die Universität Leipzig und ihr gelehrtes Umfeld 1680–1780. Hg. von Hanspeter Marti und Detlef Döring. Basel 2004; Johann Christoph Gottsched in seiner Zeit. Neue Beiträge zu Leben, Werk und Wirkung. Hg. von Manfred Rudersdorf. Berlin 2007.

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Eric Achermann

Freiheiten zu nehmen. GIDEON STIENING stellt zum einen fest, um welche Lehrinhalte es sich hierbei handelt, und zum zweiten, wie diese Abweichungen begründet werden. Obwohl Leibniz bei allem Lob, das seiner Theodizee zuteil wird, im Vergleich zu Wolff von eher marginalem Einfluss erscheint, so gibt ihm Gottsched just bei der Bestimmung der Philosophie den Vorzug. Wolffs Begriff der Philosophie als einer Wissenschaft vom Möglichen sei zu spekulativ und müsse eudämonistisch umgedeutet werden. Gottsched verleiht so unter expliziter Berufung auf Leibniz der Philosophie ein anthropologisches und prudentistisches Fundament. Was jedoch Leibniz’ prästabilierte Harmonie betrifft, so gibt er sich agnostisch und verteidigt gar – darin über Wolffs vorsichtige Skepsis hinausgehend – die Plausibilität des influxus physicus. Bezüglich des Satzes vom zureichenden Grund wiederum folge Gottsched eher Leibniz, der den Satz als indemonstrabel bezeichnet. Gewichtige Abweichungen lassen sich schließlich in den anthropologischen Anteilen der Dichtkunst feststellen, die sich nicht nur von Wolff, sondern auch von Baumgartens metaphysisch und erkenntnistheoretisch fundierten Ästhetik unterscheiden. Ebenfalls mit dem Wolffschen Vermächtnis setzt sich FRANK GRUNERT auseinander, wobei der Fokus hier auf Gottscheds praktischer Philosophie liegt. Wie für andere Zeitgenossen ist auch für Gottsched praktische Philosophie nicht Philosophie über Praxis, sondern vielmehr Anleitung zu einem tugendhaften Leben. Nachdrücklich hebt Grunert hervor, dass bewusste Abweichungen von Lehrinhalten einer Systemphilosophie wie derjenigen Wolffs nichts anderes heißen kann, als Irrtümer auszumerzen und damit die Verbesserungsfähigkeit des Originals zu behaupten. Die Freiheiten, die sich Gottsched nimmt, sind im Wesentlichen: 1) Relativierung des Ideals mathematischer Demonstrierbarkeit und somit der normativen Kraft moralischer Demonstration, 2) eine gewisse Minimierung der normativen Kraft von demonstrativer Erkenntnis im Vergleich zu Sinneserfahrung oder der überführenden Erkenntnis aus Exempeln, 3) daraus resultierend die Möglichkeit einer stärkeren Anbindung an die moralischen Präzepte der protestantischen Ethik sowie schließlich 4) eine relative Aufwertung der Lektüre moralischer Schriftsteller und Dichter zur Einübung moralischer Lehrsätze. Aus der kritischen Untersuchung dreier Forschungsbeiträge zur theologischen und religiösen Position Gottscheds entfaltet ANDRES STRASSBERGER ein Gottsched-Bild, das den Königsberger Pastorensohn einer ›Hermeneutik des Verdachts‹ enthebt und als durchaus typisch für eine breite Strömung der protestantischen Aufklärung in Deutschland erscheinen lässt. Insbesondere wird festgehalten, dass von einer Kritik am Offenbarungslauben bei Gottsched nicht die Rede sein könne. So resultiere Reinbecks und Mosheims Wertschätzung nicht etwa aus deren Unkenntnis über den Wolf im Schafspelz, den sie mit Gottsched vor sich hätten, sondern aus geteilten Überzeugungen. Insbesondere fordert Straßberger von einer Aufklärungsforschung, die sich mit Fragen der Religion und Theologie auseinandersetzt, die einmal gewählte Perspektive – hier die Orthodoxie, dort die daraus abgeleitete Heterodoxie und Häresie – kritisch zu reflektieren, entspreche sie doch keineswegs dem Selbstverständnis eines Gottsched. So erscheint es falsch, Gottscheds zweifelsohne personalistisches Gottesbild als deistisch zu bezeichnen, bloß weil er sich hinsichtlich anderer Fragen – Toleranz, Verhältnis von Vernunft und Offenbarung, Kritik des Wunderglaubens – von der Position gewisser Zeitgenossen abhebt, welche die wahre Gottesgelehrsamkeit von solchen Überlegungen frei zu halten trachten. JAN-HENRIK WITTHAUS untersucht den Stellenwert des Experiments in Gottscheds naturwissenschaftlichen Überlegungen, wie sie sich insbesondere in den Ersten Gründen der gesammten

Einleitung

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Weltweisheit profilieren. In einem ersten Schritt geht es ihm darum, Gottscheds ExperimentBegriff in Beziehung zum wohlbekannten Gegensatzpaar zu setzen, das wir in erster Linie Cassirer verdanken: rationalistischer Systembegriff vs. spezifisch aufklärerischer, anti-systematischer Duktus. Daran gemessen erscheine Gottsched symptomatisch für eine aufklärerische Haltung, die Experiment und Beobachtung in den Vordergrund rückt und im Experiment – wie so mancher Zeitgenosse – den Ausweis der Überlegenheit der Modernes über die Anciens erkennt. Nichtsdestotrotz bleibe er den systemphilosophischen Vorstellungen des erfüllten Raums und der Weltharmonie Leibniz’ und Wolffs verpflichtet. Wie groß die gedankliche Nähe des Begründers der Ästhetik zum erfolgreichsten zeitgenössischen Verfasser einer Dichtkunst ist, dieser Frage geht DAGMAR MIRBACH nach. Obgleich Baumgarten Gottsched nur selten erwähnt, sind Übereinstimmungen nur schon deshalb zu erwarten, weil sich sowohl Gottsched als auch Baumgarten programmatisch auf Wolff berufen. Zudem wissen wir, dass Baumgarten vor Erscheinen der eigenen Metaphysica Gottscheds Erste Gründe der gesammten Weltweisheit als Unterrichtsbuch verwendet hat. Der wesentliche Unterschied aber liegt in der Behandlung der Psychologie, die sich bei Baumgarten stärker an die Leibnizische Monadologie, bei Gottsched hingegen an Wolffs Psychologia empirica anlehnt. So findet sich bei Gottsched nichts, das dem fundus animae Baumgartens vergleichbar wäre. Dies äußert sich überdeutlich in der Bestimmung des Dichtungsvermögens, das Baumgarten den unteren, Gottsched aber den oberen Erkenntnisvermögen zurechnet. II. Gottsched unterscheidet in seiner umfassenden Behandlung des Trivium – der Poetik, Rhetorik und Grammatik also – drei Schriftenreihen, die sich je nach Adressatenkreis als wissenschaftlich, schulisch und akademisch bestimmen lassen. In sich sind die Werke funktional untergliedert in dogmatische, exemplarische und historisch-kritische Teile. Diese planvolle Einrichtung dient KLAUS WEIMAR als Ausgangspunkt, den spezifisch literaturhistorischen Beitrag des Leipziger Philosophieprofessors festzustellen. So entspreche die Tilgung der exemplarischen Anteile in der vierten Auflage des »besonderen Teils« der Critischen Dichtkunst der ursprünglichen Absicht, die nun konsequent realisiert werde. Anstelle der Exempel trete dasjenige, was wir als Gottscheds ›erste Literaturgeschichte‹ bezeichnen können. Einer zweiten begegnen wir im Anfangskapitel derselben Dichtkunst unter dem Titel »Vom Ursprunge und Wachsthume der Poesie«, wobei die darin geäußerten anthropologischen Überlegungen wohl als »späthumanistisches Auslaufsmodell« zu betrachten sind. Wie Gottscheds Korrespondenz und seine Fortgesetzte Nachricht vermuten lassen, so waren die Beyträge als Vorarbeiten zu einer Literaturgeschichte gedacht, an welcher Gottsched dreieinhalb Jahrzehnte gearbeitet und die er wohl auch fertiggestellt hat. Mehr Fortüne als das verschollene Manuskript hatte der Nöthige Vorrath zur Geschichte der deutschen Dramatischen Dichtkunst, Gottscheds vierte Literaturgeschichte. Wie verhält sich das Wahrscheinliche zum Glaubhaften, und wie verhalten sich beide zum Wunderbaren? Gottscheds diesbezügliche Überlegungen, die ja im Zentrum des Literaturstreits stehen, aber auch entscheidend seine Position in der Querelle des Anciens et des Modernes bestimmt, sehen sich immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, ambivalent, widersprüchlich und willkürlich zu sein. ERIC ACHERMANN versucht zu zeigen, dass Wolffs Modallogik, insbesondere die Vorstellung möglicher Welten, Gottsched zu einer Fiktionstheorie führt, welche konsequent die dichterische Freiheit gegenüber dem, was wirklich ist, zugunsten hypothetischer Wesen

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interpretiert, die unter gewissen Umständen sein können. Dies gelingt ihm, indem er die ursächliche Verknüpfung der Dinge über die widerspruchsfreie Bestimmung der Wesen stellt. Vor dem Hintergrund eines allgemeinen Säkularisierungsprozesses untersucht TOMAS SOMMADOSSI die theologischen und philosophischen Voraussetzungen des Zürcher Literaturstreits. Er betont nicht nur die regionalen und religiösen Differenzen zwischen den Schweizern und den Leipzigern, sondern fragt nach den Konsequenzen, welche diese Positionen für das Verhältnis von Wirklichkeit und dichterischer Darstellung haben. Gottscheds Poetik räume der Empirie eine höhere Bedeutung ein, sei es doch die Natur, die gesetzhaft bestimmt den Wahrscheinlichkeitsbegriff und den Ähnlichkeitsbegriff orientiere, während die Zürcher der Transzendenz in Werken der Dichtkunst einen ehrenvollen Platz einräumen. Der »Vorsprung« der Zürcher erscheint somit als ein durchaus relativer, der eher der historischen Geschmacksentwicklung als einer philosophischen oder gesellschaftspolitischen Progressivität geschuldet ist. PETER HESSELMANN stellt die Grundzüge von Gottscheds Theaterpoetik seit seinen ersten programmatischen Äußerungen in den Vernünftigen Tadlerinnen und dem Biedermann dar. Insbesondere Gottscheds Lektüre von Boileaus Art poétique und Daciers Übersetzung von Aristoteles’ Poetik sei es zu verdanken, dass Gottsched sich nach den ersten Theatererfahrungen in Leipzig der Bühne zuwende. Auf die Missstände in der Hofmannschen Truppe reagiert Gottsched mit der ebenso legendären wie legendenhaften Ausrottung des Unsittlichen, um so nicht zuletzt das Theaterwesen gegen die Vorbehalte der Geistlichkeit zu rehabilitieren. Dabei argumentiert Gottsched nicht etwa konfessionsgebunden; in seinem näheren Umfeld entstehen die Übersetzungen der Theaterpoetiken des Jesuitenpaters Charles Porée sowie d’Aubignacs La pratique du théâtre. Seinem Cato stellt er eine Übersetzung von Fénelons Pensées sur la tragédie voran. Es sind Effizienz und emotionale Intensität, die im Zentrum dieser klassizistischen Theaterpoetik stehen und die jeweilige Entscheidung beim Verfassen und bei der Aufführung der Stücke zu leiten haben. Noch bis Ende des 18. Jahrhunderts lässt sich ein Fortwirken der Gottschedschen Reform feststellen; sie erscheint also keineswegs bereits in ihrem Ursprung obsolet. THOMAS ALTHAUS betrachtet Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst unter dem Gesichtspunkt intendierter Systematik und asystematischer Irritationen. Der Fokus liegt dabei auf denjenigen Kapiteln, die sich mit der Bestimmung und dem Gelingen von Tragödie und Komödie beschäftigen, sowie auf Gottscheds eigener Dramenproduktion. Dabei lasse sich eine bestimmte Zirkularität bezüglich Gottscheds Regelbegriff ausmachen, entpuppe sich die Regel doch eben genau dann als vernünftig, wenn sie der von Gott vernünftig geordneten Welt entspricht. Diese gegenseitige Abhängigkeit, gar Ineinssetzung von Norm, Vernunft und Welt birgt ein hohes Irritationspotential, das sich zwischen den exemplarischen, den historischen und den systematischen Anteilen der Dichtkunst beobachten lasse. Am deutlichsten tritt dies wohl im »Spannungsverhältnis zwischen Regeln und Fällen« zutage, mutieren doch die kritischen Ausführungen zu den Exempeln mit zunehmender Detaillierung unter der Hand zu eigentlichen Mängellisten. Gottscheds theoretisches Anliegen, das Wesen der Dichtung und ihrer Gattungen zu bestimmen, geht also eine konfliktreiche Allianz mit der präskriptiven Absicht ein, Ausnahmen zu verwerfen und die Gattungen vor gegenseitiger Durchmischung zu bewahren. Der Druck, der durch die Widerspenstigkeit der Materialien und die Aporien der eigenen Argumentation bewirkt wird, zwinge Gottsched immer wieder zu Konzessionen.

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Da Gottsched als erster ein Werk der ›Progymnasmata‹-Tradition für die deutsche Sprache adaptiert, kann er in einem gewissen Sinne als Vorläufer des heutigen Deutschunterrichts gelten. Wie DIETMAR TILL zeigt, beruhen seine Vorstellungen von Rhetorik und Rhetorikunterricht auf antiken Autoritäten, weil – und insoweit – die Alten die Wissenschaft auf ein philosophisches, das heißt vernünftiges Fundament gestellt haben. Da wo sie der Anforderung aber nicht entsprechen, gilt es sie zu verbessern, ist wahre Erkenntnis doch zeitlos. Im Gegensatz zu einigen seiner Zeitgenossen lehnt Gottsched sowohl die Chrie als auch die loci communes als zentrale Lehrelemente der Rhetorik ab, oder marginalisiert diese zumindest. Da die Rede auf einem ›Hauptsatz‹ basiert, muss dieser auch beweisbar sein – überhaupt ist Demonstration nach dem Satz vom zureichenden Grunde wesentlich für das Gelingen einer Rede. Zentral ist das Verhältnis von Überführen und Überreden, das den Grad an logischer und wissenschaftlicher Durchdringung des Gesagten bestimmt. Dem berühmten Vaugelas durchaus vergleichbar setzt sich Gotsched gegen regionale Besonderheiten für eine Normierung der Hauptsprache ein, indem er den usage zum Kriterium der Sprachrichtigkeit erhebt. Hierbei favorisiert er Obersachsen, da diese Mundart am weitesten verbreitet sei. Als argumentative Mittel zur Begründung der besten sprachlichen Wahl bedient er sich vorzugsweise der Analogie und der Etymologie. Hauptsächlich um die Analogie und deren Gegenbegriff, die Anomalie, ist es GERDA HASSLER zu tun, lässt sich doch an dieser Dichotomie die ganze Problematik aufzeigen, die sprachdirigistischen Projekten eigen ist. Gottsched nämlich ist Anomalist, nicht nur in seiner besonderen Präferenz für die obersächsische Varietät, sondern auch in seiner allgemeinen Sprachauffassung. Er vertritt die Ansicht, dass eine rein analoge Sprache unmöglich wäre. Dies hindert ihn jedoch nicht, in zahlreichen Fällen auf Vereinheitlichung zu pochen und angebliche Barbarismen scharf zu kritisieren. Es gelte die Tugendbegriffe »Reichthum und Überfluß«, »Deutlichkeit«, »Kürze oder Nachdruck« sowie – auf lautlicher Ebene – »Lieblichkeit« und »Anmut«, welche die Vollkommenheit einer Sprache definieren, im Gebrauch der deutschen Muttersprache zu verwirklichen. III. Gottscheds vier Jahrzehnte umspannender Tätigkeit als Hochschullehrer ist HANSPETER MARTIs Beitrag gewidmet. Aus Antrittsreden sowie dem lateinischsprachigen Kleinschrifttum, insbesondere Vorlesungsprogramme und Dissertationen, erfahren wir viel über Gottscheds akademisches Selbstverständnis, über die verfochtene Hierarchie der Fächer, über die Ideale wahrer Gelehrsamkeit und den supponierten Nutzen von Bildung. Um Gottsched umfassender zu verstehen, erscheint nicht nur die Kenntnis seiner akademischen Qualifikationen, seiner Lehrtätigkeit und die mitunter akademische Bestimmung seiner Schriften und Reden unentbehrlich, sondern darüber hinaus auch die Entwicklung eines eigentlich pädagogischen Plans, der Gottscheds gesamtes Wirken prägt. Unbestritten kommt hierbei der Philosophie, allen voran der Metaphysik, die Funktion einer Leitdisziplin zu. Das heißt jedoch nicht, dass die intensive Beschäftigung mit der literarischen Tradition als eine Nebentätigkeit erachtet werden darf, sieht Gottsched doch in der Verbesserung von Sprache und Literatur die unabdingbare Voraussetzung zur Förderung wahrer Erkenntnis. Die bildungspolitische Dimension dieses Aufklärungsbestrebens äußert sich allenthalben, so etwa in Gottscheds reformerischer Haltung gegenüber dem Dissertationswesen als auch in der breiten Rezeption seiner Lehrmittel an anderen Universitätsstandorten.

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1724 erreicht der flüchtige Königsberger Leipzig, wo er alsbald Anstellung als Hauslehrer bei Johannes Burkhard Mencke findet, dem Herausgeber der Acta eruditorum und der Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen. So beginnt die anhaltende und facettenreiche Geschichte des Zeitschriftenverlegers und -verfassers Gottsched. Die einzelnen Etappen bilden Titel, die nicht nur den Zeitgenossen, sondern auch heute noch wohl bekannt sind: Biedermann; Beyträge zur Critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit; Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste; Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit. Das erste Unternehmen, Die vernünftigen Tadlerinnen aus den Jahren 1725 und 1726, zeigt wie innovativ die publizistische Entscheidung war, folgt sie doch unmittelbar auf die ersten deutschsprachigen moralischen Zeitschriften nach englischem Vorbild, Die Discourse der Mahlern aus Zürich und den Hamburger Patriot. RÜDIGER OTTOs Beitrag beschränkt sich nicht auf Gottscheds eigene Produktion. Er wägt ab, welche Zeitschriften Gottsched vermutlich gelesen und gekannt hat und welche Programmatik die einzelnen Zeitschriften verfolgen. Zudem erhalten wir Einblick in das Netz, das Gottsched zu anderen Zeitschriften knüpft. Wiederholt lässt er seinen Einfluss spielen, indem er Position bezieht und beziehen lässt, indem er über literarische und wissenschaftliche Ereignisse informiert und auch Beiträge für diese Zeitschriften verfasst. Besonders stark erscheint Gottscheds Einfluss in Polen und Russland. Trotz des schwierigen Konflikts mit Haller, der die Front zu den Göttingern verhärtet, kann von einem Verblassen von Gottscheds Ruhm in bürgerlichen Kreisen nicht gesprochen werden. Ausgehend von der allgemeinen Vorstellung, die Welt sei wohlgeordnet, propagieren die moralischen Wochenblätter Tugendvorstellungen, die dieser Ordnung entsprechen oder zu entsprechen haben. Am Beispiel der Ehe, genauer an der Wiedergabe von Fischarts Ehzuchtbüchlin in Gottscheds Biedermann, könne man jedoch erkennen, dass die moralische Argumentation sich bisweilen in Widersprüche verwickle, die hauptsächlich aus Konflikten zwischen Einzelfall und allgemeiner Ordnung resultieren. Für CHRISTIAN MEIERHOFER spiegelt die Frage, ob der Ehestand dem ledigen Leben vorzuziehen sei, in nuce die Aporien wider, welche die Debatten der zeitgenössischen Ethik und Naturrechtslehre auszeichnen: die moralische Begründung zwischen Vernunft- und Offenbarungsglauben. Gottsched umschiffe die zahlreichen Klippen, die sich ihm hier in die Route stellen, nicht etwa durch philosophische Reflexion. Vielmehr bediene er sich eines »Normvorrats«, den er – weit über die Grenzen bloßer WolffRezeption hinaus – verschiedenen Quellen entlehne und durch seine eigenen publizistischen Organe weiterverbreite. Bereits durch die Entscheidung für die französische Sprache lässt Jakob Friedrich Bielfeld den Adressatenkreise erkennen, den er für seine Institutions politiques ins Auge fasst. Bei diesem handelt es sich um die gebildete höfische Welt. Unter dem Titel Begriff der Staatskunst führt Gottsched das Werk in deutscher Übersetzung der akademischen Welt zu, wobei seine Vermittlungstätigkeit offensichtlich das Ziel verfolgt, politische Weltgewandtheit im universitären Denken zu verankern. MERIO SCATTOLAs Aufmerksamkeit gilt insbesondere dem Verhältnis Bielfelds zu Wolff, der mit seiner Naturrechtslehre zwar das systematische Fundament für die Institutions, gleichzeitig aber mit seiner Deutschen Politik eine negative Vorlage liefere, die – in einem rein universitären Duktus befangen – ihr eigentliches Ziel verfehle. Nach Ansicht Gottscheds und zahlreicher Zeitgenossen müsse die Staatskunst aber denjenigen Freiraum besetzen, der sich zwischen der allgemeinen Fundierung der Gesellschaft im Natur- und Staatsrecht und der

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besonderen Applikation auf den jeweiligen Umstand und Fall eröffnet. Hierin liege denn auch der Vorzug von Bielfelds Werk. Die detaillierte Betrachtung und Typisierung der Anmerkungen lassen eine fundamentale Übereinstimmung zwischen den politischen Überzeugungen Bielfelds und Gottscheds erkennen, denn eigentlich berichtige der Übersetzer bloß Fehler in der akademischen Begrifflichkeit sowie gewisse Urteile bezüglich dem wahren Verständnis von Reichtum und Handel, der Preußisch und Sächsischen Geschichte u. a. m. HOLGER STEINMANN beschäftigt sich mit Musschenbroeks Elementa physicae, die Gottsched zumindest teilweise übersetzt. Auffällig ist in diesem mechanisch-physikalischen Kompendium das Fehlen sowohl teleologischer als auch pneumatologischer Argumente. Gottsched versäumt es denn auch nicht, die nur ganz marginale Behandlung der natura naturans zu beanstanden und an geeignetem Ort eine diesbezügliche Ergänzung als wünschenswert zu behaupten. Musschenbroek vertritt insofern also eine avancierte Position, als dass er physikotheologische Betrachtungen fast gänzlich ausspart und auf genauer Beobachtung insistiert, die er als Voraussetzung? einer grundlegend mathematischen Demonstration erachtet. Präzision und Fülle des Kompendiums könnten also, so die vorsichtige Hypothese, Anlass für Gottscheds editorische Tätigkeit gewesen sein. Wie bereits erwähnt, geht der vorliegende Sammelband auf eine internationale Tagung zurück, die im Januar 2009 in Münster mit der großzügigen Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster stattgefunden hat. Eine solche Veranstaltung kann ohne Umsicht und Engagement zwar stattfinden, nicht aber glücken. Allen voran sei hier Svenja Kroh gedankt, die alle praktischen und weniger praktischen Belange der Organisation souverän betreut hat. Wertvolle Unterstützung boten zudem Marco Bunge-Wiechers, Christoph Heeke, Nadine Lenuweit und Vincenz Pieper. Die wissenschaftliche Leitung der Tagung wurde gemeinsam von dem Münsteraner Germanisten Detlef Kremer, Friedrich Vollhardt von der Ludwig Maximilian-Universität München und dem Herausgeber dieses Bandes bestritten. Am 3. Juni 2009 ist Detlef Kremer völlig überraschend verschieden. Seinem Andenken ist dieser Band gewidmet. Münster, den 1. Juni 2012

I. PHILOSOPHIE UND WELTANSCHAUUNG

OLIVER SCHOLZ

»Erscheinet doch endlich, ihr güldenen Zeiten! / Da Weisheit und Tugend die Menschen regiert.«1 – Johann Christoph Gottsched als Aufklärer Für Nadja

1. Präludium im philosophischen Hörsaal 1.1. Wie Gottsched einmal beinahe »im Schweiße« zerflossen wäre Am 25. Juni 1740 hielt Johann Christoph Gottsched eine »Lob- und Gedächtnißrede, auf die Erfindung der Buchdruckerkunst«.2 In der Fortgesetzten Nachricht von des Verfassers eignen Schriften, bis zum 1745sten Jahre3 hat er einen lebendigen Bericht von diesem Ereignis gegeben: Im 1740sten Jahre schickten sich alle Kunstverwandte der Buchdruckerkunst in Deutschland an, das dritte Jubelfest der Erfindung dieser so heilsamen Kunst zu feyern. Leipzig heget in seinen Mauren, vor allen Städten unsers Vaterlandes die größte Anzahl von Buchdruckereyen und Kunstverwandten. Es war also kein Wunder, daß diese sich anschicketen, dieses Fest mit besondern Feyerlichkeiten zu begehen. [...] Die Versammlung war in der That so stark, daß nicht die Hälfte der Menge im Hörsaale Platz hatten; daß viele mit Leitern an die Fenster desselben hinauf kletterten; und selbst an dem Fenster hinter der Katheder, im Stadtzwinger, ein Klump Leute stunden, welche der Musik und Rede zuhöreten. Da es um Johannis war, und ein heitrer Tag eingefallen war, so kann man sich leicht die Hitze vorstellen, die, obwohl bey offenen Vorder- und Hinterfenstern, entstanden: wenigstens bin ich in meinem Leben dem Zerfließen im Schweiße so nahe nicht gewesen, als damals. [...]4

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Johann Christoph Gottsched: Auf Sr. Hochgebohrnen Excellenz, des Reichsgrafen und Cabinets-Ministers, Herrn Grafen von Manteufel glückliche Ankunft in Leipzig. In: ders.: Ausgewählte Werke. Bd. I. Gedichte und Gedichtübertragungen. Hg. von Joachim Birke. Berlin 1968, S. 312. Johann Christoph Gottsched: Lob- und Gedächtnißrede, auf die Erfindung der Buchdruckerkunst. In: ders.: Ausgewählte Werke. Bd. IX/1. Gesammelte Reden. Hg. von Phillip M. Mitchell, bearbeitet von Rosemary Scholl. Berlin 1976, S. 115–155. Dieses wichtige Selbstzeugnis hat Gottsched dem zweiten, »Praktischen Theil« der 7. Auflage der Ersten Gründe der gesammten Weltweisheit (1762) vorangestellt. Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Praktischer Theil), Fortgesetzte Nachricht. 7. Auflage, Leipzig 1762. ND in: Christian Wolff: Gesammelte Werke. III. Abteilung, Bd. 20/2. Hildesheim 1983, unpaginiert. – Von diesem Ereignis berichtete Gottsched dem Grafen von Manteuffel in einem Schreiben vom 3. Juli 1740 (auszugsweise zitiert in: Ursula Goldenbaum: Die öffentliche De-

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Wir sehen Gottsched auf der Höhe seines Ruhmes. Leider besitzen wir keine Liste der Gäste und Zaungäste dieses Jubelfestes. Sie läse sich wohl wie ein Who’s Who der Leipziger Aufklärung: Die »Vornehmsten der Stadt«, die bedeutenden Verleger und Buchhändler, die Professoren der Leipziger Universität und nicht zuletzt zahllose Studenten, darunter vermutlich auch einige Radikalaufklärer und Freigeister,5 dürften unter den Zuhörern gewesen sein. Genauso aufschlussreich wie die Begebenheit selbst waren freilich die Streitigkeiten, die ihr vorausgingen: Mit was für einem Zulaufe von Zuhörern, sowohl von den Vornehmsten der Stadt, als von Studierenden, dieselbe [i.e.: die Rede] angehöret werden würde, war leicht vorher zu sehen. Daher gerieth man auf den Vorschlag, von der Universität die Paulinerkirche dazu zu erbitten; darinn sonst auch weltliche Reden gehalten zu werden pflegen. Allein diese fand es, auf Antrieb gewisser Gegner, darunter der oberwähnte D. Rivinus war, nöthig, vom kön. Oberconsistorio die Erlaubniß dazu zu suchen. Hier wirkten nun die heimlichen Briefe der Widersacher, eine abschlägige Antwort; ja auch das in der Ostermesse wiederholte Ansuchen, an des königl. Premierministers Excell. Durch dessen Frau Gemahlin, die eben damals die Breitkopfische Buchdruckerey besuchet hatte, war ganz fruchtlos. Es hieß immer: die Kirche wäre nur für Reden, die dem Hofe zu Ehren gehalten würden; und die Buchdrucker wären von der Wichtigkeit nicht, dass man dieselbige ihrem Feste, einräumen sollte./ Kurz, man ward in den philosophischen Hörsaal verwiesen [...].6

1.2. Gottsched als Philosoph Bevor ich mich im folgenden Gottsched als Aufklärer zuwende, gestatten Sie mir zwei weitere Vorbemerkungen: einen Beitrag zum Streit der Fakultäten (2.) und eine begriffliche Klärung (3.). Es ist seit langer Zeit üblich, Gottsched als Literaturtheoretiker, Kritiker und Dichter oder ganz allgemein als Publizisten7 zu kennzeichnen. Im Blackwell Companion to the Enlightenment begegnet uns unser Held als »German critic and playwright«,8 in der Encyclopedia of the Enlightenment als »German literary critic and theorist of aesthetics«.9 Einer der neueren Veröffentlichungen zufolge gehörte Gottsched »zu den interessantesten und innovativsten Literatur- und Sprachwissenschaftlern«.10 Natürlich haben alle diese Beschreibungen, wenn man von der zum Teil anachronistischen Terminologie absieht, ihre Berechtigung: Gottsched war all dies. Ich vermis-

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batte in der deutschen Aufklärung 1697–1796. In: Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1687–1796. Hg. von ders. Berlin 2004, S. 1–188, hier S. 117, Anm. 276). Zu den radikalaufklärerischen Studenten, die sich um Gottsched sammelten, jetzt Martin Mulsow: Freigeister im Gottsched-Kreis. Wolffianismus, studentische Aktivitäten und Religionskritik in Leipzig 1740–1745. Göttingen 2007. Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Praktischer Theil) (s. Anm. 4), Fortgesetzte Nachricht, unpaginiert. Gabriele Ball: [Art.] Gottsched, Johann Christoph. In: Biographische Enzyklopädie der deutschen Aufklärung. Hg. von Rudolf Vierhaus und Hans Erich Bödeker. München 2002, S. 113–114. John W. Yolton: The Blackwell Companion to the Enlightenment. Oxford 1991, S. 199. Hanns Peter Reill und Ellen Judy Wilson: Encyclopedia of the Enlightenment. New York 1996, S. 179. So Manfred Rudersdorf: Vorwort zu: Johann Christoph Gottsched in seiner Zeit. Neue Beiträge zu Leben, Werk und Wirkung. Hg. von dems. Berlin, New York 2007, hier S. VII–XVII, hier S. VII.

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se in der Liste der Epitheta allerdings die Kennzeichnung ›Philosoph‹. Sie müsste sogar die erste Stelle einnehmen.11 Dafür sprechen eine ganze Reihe von Gründen: Zunächst einmal steht außer Zweifel, dass sich Gottsched seit seinen Jugendjahren als Philosoph verstand. Er hatte in Königsberg Theologie, Philosophie, Mathematik, klassische und morgenländische Sprachen sowie Dicht- und Redekunst studiert.12 Nach einer Zeit der Zweifel und der Orientierungslosigkeit war er nachhaltig durch Gottfried Wilhelm Leibniz’ (1646–1716) Essais de theodicée und Christian Wolffs (1679–1654) Methodenideal geprägt worden. In Leipzig hielt Gottsched seit 1725 philosophische Vorlesungen, zunächst nach dem Kompendium des Wolff-Schülers Ludwig Philipp Thümmig (1697–1728), später nach einem selbst erarbeiteten Lehrbuch. Seine immer wieder aufgelegten und mehrfach übersetzten Ersten Gründe der gesammten Weltweisheit wurden zu einem der erfolgreichsten Lehrbücher der Philosophie überhaupt.13 Über dreißig Jahre lang, von 1734 bis zu seinem Tode im Jahre 1766, hatte Gottsched in Leipzig die Hauptprofessur für Philosophie (Logik und Metaphysik) inne. Seine heute zumeist diskutierten Beiträge zur Poetik und Rhetorik betrachtete Gottsched als Anwendungen der Philosophie. Und schließlich steht für ihn ohnehin fest, dass auch ein Kunstrichter »ein Philosoph seyn« müsse.14

1.3. Aufklärung: Programm, Bewegung, Epoche Nun zu der angekündigten begrifflichen Klärung: Der Terminus ›Aufklärung‹ ist systematisch mehrdeutig. Dies ist kein Mangel;15 man sollte aber in der Aufklärungsforschung sorgfältiger auf die folgenden Unterscheidungen achten. ›Aufklärung‹ bedeutet primär (1.) ein Programm. Ohne die regionalen und nationalen Unterschiede herunterzuspielen, darf man den Kern dieses Programms folgendermaßen fassen: Der Mensch soll sich mittels des richtigen Gebrauchs seiner Seelenvermögen selbst befreien und kognitiv, vor allem aber moralisch vervollkommnen. Als Voraussetzungen für die Verwirklichung dieses Programms werden die allgemeine Menschenvernunft als Naturanlage und die 11

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In den meisten philosophischen Lexika kommt Gottsched erst gar nicht vor. Eine Ausnahme bildet die von Jürgen Mittelstraß herausgegebene Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie (Jürgen Mittelstraß: [Art.] Gottsched, Johann Christoph. In: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. I. Mannheim, Wien 1980, S. 805–807, bzw. ebd., 2. Aufl. Stuttgart, Weimar 2008, S. 190f.), in der Gottsched als »Philosoph, Literaturtheoretiker und Kritiker« gekennzeichnet wird. Eine zweite Ausnahme ist das Große Werklexikon der Philosophie, in dem er als »Philosoph, Literaturreformer und Dichter« vorgestellt wird (siehe Claudio LaRocca: [Art.] Johann Christoph Gottsched. In: Großes Werklexikon der Philosophie. Hg. von Franco Volpi. Bd. I. Stuttgart 1999, S. 585f.). Zu Gottscheds Königsberger Jahren siehe Werner Rieck: Johann Christoph Gottsched. Eine kritische Würdigung seines Werks. Berlin 1972, S. 9–20 und Jürgen Manthey: Königsberg. Geschichte einer Weltbürgerrepublik. München, Wien 2005, S. 95–116. Das schon genannte Große Werklexikon der Philosophie (s. Anm. 11) ehrt Gottscheds Lehrbuch sogar durch einen eigenen Artikel (siehe LaRocca: [Art.] Johann Christoph Gottsched, [s. Anm. 11], S. 585f.). Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. 4. Aufl. Leipzig 1751, S. XXX. Wie wir seit Aristoteles wissen, sind viele Begriffe – nicht zuletzt auch Grundbegriffe der Philosophie – systematisch mehrdeutig.

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Gewährung von Grundfreiheiten (wie Denk-, Rede- und Publikationsfreiheit) als äußere Bedingung betrachtet. Dies ist also der primäre Sinn. Abgeleitet können dann auch (2.) eine Bewegung, die sich bemüht, dieses Programm zu verwirklichen, und (3.) eine Epoche, die dadurch geprägt ist, ›Aufklärung‹ heißen.16 Bezüglich des Programms stellen sich Fragen, die am besten mit philosophischen Methoden zu beantworten sind: Was gehört zu dem Programm der Aufklärung? Was ist für es besonders zentral? Wie lässt sich das Programm rechtfertigen? Lässt es sich überhaupt realisieren? Welche positiven oder negativen Folgen sind von der Realisierung des Programms zu erwarten? Obwohl Programme aller Art in unserem Leben eine eminente Rolle spielen, ist der Begriff des ›Programms‹ noch kaum untersucht worden. Das ist sehr bedauerlich. Ich beschränke mich auf erste Hinweise, die für die folgenden Überlegungen von Belang sind. Programme brauchen nicht explizit formuliert zu werden; die sie konstituierenden Maximen und Regeln können lange Zeit implizit gelten. Typischerweise werden Teile des Programms früher oder später in Manifesten, Programmschriften und Rückblicken explizit gemacht. Programme können mehr oder weniger vollständig und mehr oder weniger perfekt realisiert werden. Typischerweise bleibt die Verwirklichung quantitativ und qualitativ hinter dem Programm zurück. Auch das Programm der Aufklärung ist sicher bei weitem noch nicht in allen Bereichen mit dem höchsten Vollkommenheitsgrad realisiert worden. Bei Programmen ist es oft sinnvoll, zwischen Kern und Beiwerk zu unterscheiden. Zumindest gibt es eine graduelle Abstufung zwischen zentraleren und periphereren Zügen des Programms. Auch bei der Rekonstruktion und Bewertung des Programms der Aufklärung kommt es darauf an, zwischen Kern und Beiwerk zu unterscheiden. Programme verändern sich historisch. Insbesondere können sich die Vorstellungen davon wandeln, wie der Kern eines Programms am besten zu realisieren ist. Auf der einen Seite kann sich beispielsweise zeigen, dass bestimmte Programmpunkte zu ambitioniert waren, so dass man sie vernünftigerweise abschwächen muss. Auf der anderen Seite können Mittel entwickelt oder verbessert werden, um ein Programm überhaupt erst einmal zu realisieren. Unter ›Aufklärung‹ wird auch eine bestimmte Bewegung (bzw. ein Bündel von Bewegungen) verstanden. Damit ist ein hochkomplexes soziokulturelles Phänomen angesprochen, das am besten mit historischen und soziologischen Methoden zu untersuchen ist. Hier stellen sich Fragen wie: Wann ist der Beginn dieser Bewegung anzusetzen? Ist die Bewegung bereits an ihr Ende gelangt oder ist sie noch im Gange? Welche Personen und Institutionen haben die Bewegung fördernd oder hemmend beeinflusst? Der Hinweis auf diese systematische Mehrdeutigkeit und die sachliche Priorität des Programmbegriffs zielt auf Unterschiede von allergrößter Bedeutung – nicht zuletzt, wenn es um die kritische Bewertung der Aufklärung geht. Es macht offenbar einen fundamentalen Unterschied, ob das Programm, die Bewegung oder die Epoche (positiv oder negativ) bewertet werden soll.

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Eine weitere systematische Mehrdeutigkeit ist noch zu erwähnen: Wie andere Ausdrücke, die auf ›-ung‹ enden, dient ›Aufklärung‹ sowohl zur Bezeichnung von Handlungen und Prozessen als auch von deren Resultaten bzw. Produkten.

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2. Gottsched als Aufklärer Vor dem Hintergrund dieser Klärungen kann ich jetzt meine Hauptthesen formulieren: 1. Gottsched hat große Verdienste um die Aufklärungsbewegung. Leipzig war eines der Zentren, wenn nicht das Zentrum der Aufklärung in Deutschland.17 Gottsched verglich Leipzig gerne mit Athen, dem Zentrum der griechischen Aufklärung; liebevoll hieß es denn auch »Pleißathen«.18 Leipzig war das Zentrum der Buchproduktion, des Buchhandels und der wissenschaftlichen Zeitschriften. Die Stadt beheimatete die bedeutendste Buchmesse und eine der besten deutschen Universitäten. Gottsched war Jahrzehnte lang der zentrale Knoten in einem weitläufigen Netzwerk, das von Leipzig aus in viele andere Städte und Länder reichte. Er verstand es, die vielfältigen älteren und neueren Formen der Öffentlichkeit (moralische Wochenschriften; Sozietäten; etc.) für die Bewegung der Aufklärung zu nutzen. 2. In einzelnen Punkten trägt Gottsched auch zur Konturierung und Profilierung des Aufklärungsprogramms bei. Unter den tragenden Ideen der Aufklärung kann man mit Norbert Hinske19 zwischen Basis-, Programm-20 und Kampfideen sowie aus diesen abgeleiteten Ideen unterscheiden. Viele verbinden mit der Aufklärung an erster Stelle das, wogegen sie gekämpft hat: Vorurteile, Aberglauben, Schwärmerei, Fanatismus, Unmündigkeit und ähnliches. Neben diesen Kampfideen sollte man freilich nicht vergessen, wofür sie positiv eintrat: Aufklärung des Verstandes, Eklektik, Selbstdenken, Mündigkeit u. a. Im Hintergrund der Programm- und Kampfideen stehen Basisideen wie insbesondere die Idee der Bestimmung des Menschen und die Idee der allgemeinen Menschenvernunft. Schließlich gibt es eine ganze Reihe wichtiger Ideen, die aus den genannten drei Gruppen abgeleitet werden können: Kritik, Publikationsfreiheit, religiöse Toleranz, Kosmopolitismus etc. Die meisten dieser Ideen finden sich auch in Gottscheds Werk. Ich komme im folgenden u. a. auf die Kritik an Aberglauben und Vorurteilen zurück. Besonders hervorheben möchte ich 17

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Zur Bedeutung von Leipzig als Zentrum der Aufklärung vgl. Günter Mühlpfordt: Gelehrtenrepublik Leipzig. Wegweiser- und Mittlerrolle der Leipziger Aufklärung in der Wissenschaft. In: Zentren der Aufklärung III. Leipzig. Hg. von Wolfgang Martens. Heidelberg 1990, S. 39–101; Detlef Döring: Johann Christoph Gottsched in Leipzig. Ausstellung in der Universitätsbibliothek Leipzig zum 300. Geburtstag von J. Chr. Gottsched. Stuttgart, Leipzig 2000; Mulsow: Freigeister im Gottsched-Kreis, (s. Anm. 5), S. 11–14. Vgl. Johan Christoph Gottsched: Das Andenken des vor 100 Jahren in Leipzig gebohrnen Freyherrn Gottfried Wilhelms von Leibnitz. In: Ausgewählte Werke, Bd. I (s. Anm. 1), S. 188–203, hier S. 202, V. 391f.: »Sey stolz auf deines Bürgers Preis! / Berühmtes Pleißathen, sey stolz auf seine Werke.« Vgl. Norbert Hinske: [Art.] Aufklärung. In: Staatslexikon. Hg. von der Görres-Gesellschaft. Bd. I. 7. Aufl. Freiburg, Basel 1985, S. 390–400; ders.: Die tragenden Grundideen der deutschen Aufklärung. Versuch einer Typologie. In: Die Philosophie der deutschen Aufklärung. Texte und Darstellung. Hg. von Raffaele Ciafardone, dt. Bearbeitung von Rainer Specht und Norbert Hinske. Stuttgart 1990, S. 407–458. Unter ›Programmideen‹ versteht Hinske die Ideen, in denen die »positiven Zielsetzungen« der Aufklärung artikuliert werden (Hinske: Die tragenden Grundideen der deutschen Aufklärung [s. Anm. 19], S. 412). Um Missverständnissen vorzubeugen: Wenn ich von dem ›Programm der Aufklärung‹ spreche, verwende ich ›Programm‹ in einem umfassenderen Sinne, der etwa auch die negativen Zielsetzungen (Bekämpfung von Vorurteilen, Aberglauben, Schwärmerei, Fanatismus etc.) einschließt. Das Kompositum ›Programmidee‹ verwende ich dagegen stets in Hinskes Sinne.

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zwei Ideen, die eng miteinander zusammenhängen: die Idee der Kritik und die Idee der Eklektik. Unter einem »Criticus« im engeren Sinne des Kunstrichters21 versteht Gottsched »einen Gelehrten, der von freyen Künsten philosophiren oder Grund anzeigen kann.«22 Zu den Vorbildern gehört der Graf Shaftesbury (1671–1713). Es ist aber deutlich, dass es Gottsched, wenn er »kritisch« und »Kritik« verwendet, häufig ganz allgemein um den »Geist der Prüfung«23 geht. Diesen weiteren Kritikbegriff konnte er insbesondere bei Pierre Bayle (1647–1706) und Jean LeClerc (1657–1736) kennen lernen. Gottsched hat wesentlich zur Verbreitung dieses umfassenden Kritikbegriffs im deutschsprachigen Raum beigetragen. Auf die Idee der Eklektik, die im Unterschied zu heute mit einem eindeutig positiven Wertakzent versehen war,24 komme ich weiter unten zurück, wenn ich mich den Wahlsprüchen der Aufklärung zuwende.

2.1. Gottscheds Verständnis von Philosophie Gottsched war, wie erwähnt, schon in seinen Königsberger Studienjahren mit den Philosophien von Leibniz und Wolff in Berührung gekommen. Sein Wolffianismus erleichterte ihm in Leipzig eine günstige Aufnahme bei Johann Burkhard Mencke (1674–1732).25 Obwohl Gottsched selbst den seinerzeit bereits geläufigen, in der Sache freilich auch irreführenden Ausdruck »leibnitz-wolfische Philosophie« verwendete, wusste er durchaus zwischen den Lehren beider Denker zu unterscheiden. Dies zeigt sich deutlich in seinem Philosophieverständnis.26 In der Fortgesetzten Nachricht von des Verfassers eignen Schriften, bis zum 1745sten Jahre berichtet Gottsched von seinen Vorlesungen zur Einführung in die Philosophie: Gleich anfangs nahm ich anstatt der wolfischen Definition der Philosophie, die leibnitzische, als einen weit fruchtbarern und praktischern Begriff von der Weltweisheit überhaupt an. Aus diesem führete ich in der Einleitung, alle philosophischen Wissenschaften her; und richtete alle diese auf die Beförderung der menschlichen Glückseligkeit. Dieses war, meines Erachtens den Begriffen der alten griechischen 21 22

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Zur Geschichte dieses Begriffs vgl. Werner Strube: Kurze Geschichte des Begriffs ›Kunstrichter‹. In: Archiv für Begriffsgeschichte 19 (1975), S. 50–82, zu Gottsched S. 50–53. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 14), S. 96; vgl. [Art.] Critici. Kunstrichter. In: Johann Christoph Gottsched: Handlexikon oder Kurzgefaßtes Wörterbuch der schönen Wissenschaften und freyen Künste. Leipzig 1760. ND Hildesheim 1970, Sp. 461–462. Johann Christoph Gottsched: Vorrede zum Discurs über den Geist des Menschen von C. A. Helvetius. In: ders.: Ausgewählte Werke. Bd. X/2. Kleinere Schriften Hg. von Phillip M. Mitchell. Berlin 1980, S. 425-460, hier S. 460. Vgl. dazu Hinske: Die tragenden Grundideen der deutschen Aufklärung (s. Anm. 19), S. 417–419 und besonders die monumentale Studie von Michael Albrecht: Eklektik. Eine Begriffsgeschichte mit Hinweisen auf die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994. Dessen Vater Otto Mencke (1644–1707) hatte 1682 die Acta Eruditorum gegründet. Nach dessen Tod ging die Herausgeberschaft der ersten wissenschaftlichen Zeitschrift in Deutschland auf Johann Burkhard Mencke über. Vgl. auch Johann Christoph Gottsched: Akademische Rede zum Lobe der Weltweisheit, im Jahr 1728 […]. In: ders.: Ausgewählte Werke. Bd. IX/2. Gesammelte Reden. Hg. von Phillip M. Mitchell. Berlin, New York 1976, S. 398–413.

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und römischen Weltweisen viel gemäßer, und der Philosophie selbst viel vorteilhafter; als wenn man sie eine Wissenschaft aller möglichen Dinge, wie, und warum sie möglich sind, nennet. Denn wie wenige Menschen streben wohl nach einer solchen, dem Ansehen nach, ganz speculativischen Disciplin? Da hingegen ein jeder begierig wird, die Weltweisheit zu fassen, wenn er höret: daß dieselbe die Mittel, sich glücklich zu machen, anweist.27

Entsprechend heißt es in der Einleitung zu den Ersten Gründen der gesamten Weltweisheit: »Die Weltweisheit nenne ich eben die Wissenschaft von der Glückseligkeit des Menschen; in so weit wir sie, nach dem Maaße unserer Unvollkommenheit in dieser Welt, erlangen und ausüben können.«28 Wie Gottsched in seiner Praktischen Philosophie ausführt, gehört es zu den Pflichten gegen sich selbst, »die Vollkommenheit seines Verstandes, so viel, als es ihm möglich ist, zu befördern«29 und nicht minder zu den Pflichten gegen andere, deren »Vollkommenheit des Verstandes [...] zu befördern«.30 Jeder Mensch hat – mit anderen Worten – die Pflicht, sich selbst und andere aufzuklären. Dass Gottsched sich in einer Zeit der Aufklärung weiß, zeigen sehr schön zwei Strophen aus einem Gedicht zu Ehren des 65. Geburtstags des Grafen von Manteuffel am 22. Juli 1741: Gesegnet sey die neue Zeit! Da sich die Finsterniß zerstreut, Die den verhüllten Weltkreis deckte; Da Deutschland und der Britten Reich, Der Franz und Wälsche fast zugleich, Den muntern Kopf zur Arbeit streckte. So ward nun, nach verstrichner Nacht, Der Wahrheit Licht hervor gebracht. In Deutschland hub die Klarheit an; Copernik war der große Mann, Dem Keplers Fleiß bald nachgekommen: Bis Gerke, Scheiner, Marius, Und Tschirnhaus, und Hevelius, Thomas’ und Leibnitz Platz genommen: Daraus das heitre Licht entspringt, Das itzt in aller Augen dringt.31

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Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Praktischer Theil) (s. Anm. 4), Fortgesetzte Nachricht, unpaginiert. Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Theoretischer Theil), Einleitung, § 3. 7. Aufl. Leipzig 1762. ND in: Christian Wolff: Gesammelte Werke. III. Abteilung. Bd. 20/1. Hildesheim 1983, S. 101f. Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Praktischer Theil) (s. Anm. 4), § 194, S. 104f. Ebd. § 224, S. 119. Johann Christoph Gottsched: Auf Seiner Hochreichsgräfl. Excell. Herrn Ernst Christophs, des H. R. Reichs Grafen von Manteufel Hohes Geburtsfest. In: ders.: Ausgewählte Werke, Bd. I (s. Anm. 1) S. 180–187, hier S. 183.

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2.2. Der Kampf gegen Vorurteile und Aberglauben Seit Francis Bacons Idolenlehre und René Descartes’ Zweifelsmethode ist Aufklärung Kampf gegen Vorurteile, Vorurteilskritik.32 Der Aberglaube ist ein Vorurteil besonderer Art, »das größte unter allen«, wie Immanuel Kant später einmal anmerken sollte.33 Die Wochenschrift Der Biedermann, die Gottsched von 1727 bis 1729 herausgab, diente ausdrücklich der Bekämpfung des Aberglaubens. Im fünften »moralischen Blatt« des ersten Bandes gibt der Erzähler Beispiele, wie Kinder »von allem Aberglauben und aller unnöthigen Furcht abzuhalten« sind.34 Auch im zweiten Band geht es in vielen Blättern um die Entlarvung von diversen Formen von Aberglauben wie den Glauben an Zauberer, Wahrsager oder Gespenster.35 Gottsched wünscht sich in dieser Zeitschrift, »daß noch zehen Baylen aufstünden, und mit allem ihrem Witze und Verstande sich dem Aberglauben widersetzen möchten.«36 Gottsched importierte als Interpret Gallicus (I.G.) das Arsenal der Vorurteils- und Aberglaubenskritik von Pierre Bayle, Bernard de Fontenelle (1657–1757) und Claude Adrien Helvétius (1715–1771). Eine der lähmendsten Formen von Aberglauben ist nach Fontenelle der blinde Glaube an die Überlegenheit und Vorbildlichkeit der Antike, das »praeiudicium antiquitatis«, wie es in den Vorurteilstheorien der Aufklärung genannt wird. In diesem Punkt nahm Gottsched allerdings eine wichtige Differenzierung vor. Zwar votiert auch er tendenziell für die Modernen und geißelt die »Vorurtheile des Alterthums und menschlichen Ansehens«37, aber er drängt darauf in der Frage des Fortschritts zwischen den Künsten und den Wissenschaften zu unterscheiden: Nur in den Wissenschaften haben die Modernen die Alten übertroffen.38

2.3. Vernunft und Religion Wie weit sich Gottsched von der Orthodoxie und insgesamt vom Offenbarungsglauben entfernt hat, zeigen seine Toleranzrede von 1725 und dann besonders Reden, die Gottsched zuerst 32

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Dazu Werner Schneiders: Aufklärung und Vorurteilskritik. Studien zur Geschichte der Vorurteilstheorie. Stuttgart-Bad Cannstatt 1983; Klaus Reisinger und Oliver R. Scholz: ›Vorurteil I.‹. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter. Bd. 11. Basel 2001, Sp. 1250–1263. Dazu Oliver R. Scholz: Aufklärung. Von der Erkenntnistheorie zur Politik – Das Beispiel Immanuel Kant. In: Logical Analysis and History of Philosophy / Philosophiegeschichte und logische Analyse 9 (2006), S. 156–172, hier S. 163–165. Johann Christoph Gottsched: Der Biedermann. Leipzig 1727–1729. ND hg. von Wolfgang Martens. Bd. I. Stuttgart 1975, S. 19. Ebd., Bd. II, S. 42–44, 63f., 82–84, 105, 167 und 189–192. Ebd., S. 84. Johann Christoph Gottsched: Vorrede zu verschiedene Gedanken bey Gelegenheit des Cometen von Pierre Bayle. In: ders.: Ausgewählte Werke. Bd. X/1. Kleinere Schriften. Hg. von Phillip M. Mitchell. Berlin, New York 1980, S. 73–83, hier S. 81. Günter Gawlick: Johann Christoph Gottsched als Vermittler der französischen Aufklärung. In: Zentren der Aufklärung III. Leipzig. Hg. von Wolfgang Martens. Heidelberg 1990, S. 179–204, hier S. 181f.; vgl. Werner Krauss: Gottsched als Übersetzer französischer Werke. In: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768), ein ›bekannter Unbekannter‹ der Aufklärung. Göttingen 1973, S. 66–74, hier S. 69 und 74.

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in der 1731 gegründeten ›Societas Conferentium‹ gehalten hat. Er hat sie erst sehr spät, nämlich als Anhang zur 7. Auflage der Ersten Gründe der gesamten Weltweisheit (1762), drucken lassen. In seiner durch das Thorner Blutgericht (1724) veranlaßten Rede »Von dem verderblichen Religionseifer, und der heilsamen Duldung aller Religionen« (1725) verurteilt Gottsched aufs schärfste alle aus religiösem Fanatismus hervorgegangenen Greuel. Eine Kostprobe mag hier genügen, um den Ton zu verdeutlichen: Ich sage noch zu wenig. Das meiste Blut, so jemals die Erde in sich getrunken hat, ist durch die Religion vergossen worden. Ich sage noch mehr! Die Religion allein hat mehr Menschen gefressen, als das Schwert jemals ermordet hat, als das Wasser jemals ersäufet, als das Feuer jemals verzehret hat.39

Gottsched plädiert mit unterschiedlichen Argumenten für eine Duldung aller Religionen und »eine allgemeine Religionsfreyheit«:40 Zum einen macht er in einer skeptischen Wendung geltend, dass keine Seite wissen kann, dass sie im Besitz der Wahrheit ist (obwohl jede es für sich beansprucht). Zum anderen betont er, dass, wo es um Lehren und Meinungen geht, kein dauerhaft wirksamer Zwang möglich ist: »Die Seele des Menschen ist ein freyes Wesen, und der Verstand läßt sich nicht zwingen.«41 Wie Gottsched die Aussichten einschätzt, theologische Kontroversen im friedlich geführten Austausch von Begriffserklärungen und Argumenten beizulegen, zeigt seine Rede »Ob man die geoffenbarte Theologie in mathematischer Lehrart abhandeln könne«. Gottsched beantwortet die Titelfrage mit einem klaren »Nein!« Sogenannte Offenbarungswahrheiten sind aus einer ganzen Reihe von Gründen nicht wissenschaftlich beweisbar und erreichen somit auch keine intersubjektive Verbindlichkeit.42 Könnte man die V. Abhandlung noch als primär wissenschaftstheoretische Betrachtung abtun, die sich an dem anspruchsvollen Wissenschaftsideal von Wolff orientiert, werden in der III. Abhandlung »Untersuchung der Frage: Wie sich ein Weltweiser, der von einer göttlichen Offenbarung nichts wüßte, zufrieden stellen könnte« auch inhaltliche Gründe deutlich, der natürlichen Religion den Vorzug vor der Offenbarungsreligion zu geben. Gottsched macht geltend, dass kein redlich gesinnter Mensch, habe er auch keine Kenntnis von der göttlichen Offenbarung (wie beispielsweise Sokrates, Konfuzius, Seneca und Epiktet), um sein Seelenheil zu fürchten braucht. Günter Gawlicks Urteil zufolge handelt es sich bei dieser Rede um »eins der frühesten authentischen Zeugnisse des Deismus in Deutschland«;43 in jedem Fall hat sich Gottsched für seine Zeit44 sehr weitgehend von der christlichen Orthodoxie befreit.

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Johann Christoph Gottsched: Von dem verderblichen Religionseifer, und der heilsamen Duldung aller Religionen. In: ders.: Ausgewählte Werke, Bd. IX/2 (s. Anm. 26) S. 456–464, hier S. 458. Ebd., S. 460. Ebd., S. 462f. Vgl. Gawlick: Johann Christoph Gottsched als Vermittler der französischen Aufklärung (s. Anm. 38), S. 191f. Ebd., S. 192. Dass im späteren Protestantismus sehr viel möglich war, steht auf einem anderen Blatt.

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2.4. Wahlsprüche der Aufklärung Der Wahlspruch von Gottscheds Aufklärung ist das eklektische Motto: »Prüfet alles, und das Gute behaltet.« (1. Thess. 5, 21) Er zitiert es mehrfach, u.a. in der Vorrede zum Discurs über den Geist des Menschen von Helvétius: Ich empfehle ihm [dem verständigen Leser] nur den Geist der Prüfung, der überall, zumal bey diesen Zeiten, so nöthig ist; und rufe ihm zu: Prüfet alles, und das Gute behaltet.45

Wenn man Gottsched als eklektischen Wolffianer46 bezeichnet, mag das paradox klingen – wie kann man zugleich Anhänger einer Schule und Eklektiker sein? – es trifft die Sachlage aber recht gut. (Wie wir bereits sahen, schloss sich Gottsched durchaus nicht allen Auffassungen von Wolff an.) Gottsched hatte seine Hände aber auch bei der Verbreitung einer anderen, nachmals ungleich berühmteren Parole der Aufklärung im Spiel.47 Durch Vermittlung des Ehepaars Gottsched hatte der radikal-aufklärerische Deist und Spinozist Johann Georg Wachter (1673–1757) den Auftrag erhalten, eine Münze zum Ehrengedächtnis der Gründung der ›Societas Alethophilorum‹ (›Gesellschaft der Wahrheitsfreunde‹) zu entwerfen. Die gelehrte Gesellschaft der Alethophilen hatte sich im Jahre 1736 in Berlin um den Grafen Ernst Christoph von Manteuffel (1676–1749) konstituiert, war 1740 jedoch nach Leipzig verlagert worden. Zu ihren Zielen gehörte die Verbreitung der angefeindeten Wolffschen Philosophie und allgemein der Schutz all derer, welche die Wahrheit suchen und verteidigen. Im September 1740 wurde die geprägte Medaille verschickt; zusätzlich findet sie in Form einer Abbildung zusammen mit einer kurzen Geschichte der Gesellschaft und dem Text der Gesetze der Alethophilen Verbreitung. Wachter, der in diesen Jahren die Medaillensammlung der Leipziger Ratsbibliothek betreute, entwarf im Austausch mit dem Grafen und dem Ehepaar Gottsched die Münze.48 Auf der Vorderseite ist das Brustbild der Göttin der Weisheit Minerva mit Helm und Schild zu sehen. Der Helm ist nach dem Wunsch des Grafen mit den Gesichtern von Leibniz und Wolff in der Art eines Janus bifrons geschmückt. (Wachter wollte die Profile von Sokrates und Platon anbringen, konnte sich aber nicht durchsetzen.) Am oberen Rand der Münze ist die Überschrift »Sapere aude« zu lesen, die Wachter als Motto der Alethophilen vorgeschlagen hatte. Gottsched spielte in mehreren seiner Werke auf die »Wahrheitfreunde«, die Medaille und das Motto an. In dem schon erwähnten Gedicht zu Ehren des 65. Geburtstags des Grafen von Manteuffel am 22. Juli 1741 heißt es: 45 46

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Gottsched: Von dem verderblichen Religionseifer, und der heilsamen Duldung aller Religionen (s. Anm. 39), S. 460. Werner Schneiders spricht mit Bezug auf Gottscheds Erste Gründe der Weltweisheit treffend von einer »Popularisierung der Wolffschen Philosophie mit eklektischen Einschlägen« (Werner Schneiders: Philosophie der Aufklärung – Aufklärung der Philosophie. Gesammelte Studien. Zu seinem 70. Geburtstag hg. von Frank Grunert. Berlin 2005, S. 291). Weitere Aufschlüsse sind von der im Gange befindlichen Veröffentlichung des Gottschedschen Briefwechsels zu erwarten. Dazu Detlef Döring: Johann Georg Wachter in Leipzig und die Entstehung seines ›Glossarium etymologicum‹. In: Fata libellorum. Festschrift für Franzjosef Pensel zum 70. Geburtstag. Hg. von Rudolf Bentzinger und Ulrich Dieter. Göppingen 1999, S. 29–63, hier S. 44f.

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Hier kömmst Du, Retter der Vernunft, Und stiftest die belobte Zunft, Der unerschrocknen Wahrheitfreunde. Der Pallas Helm machts offenbar, Was ihres Sohnes Absicht war: Und bald verschwand die Wuth der Feinde! Minerva ruft, wie Flaccus sprach: Man strebe kühn der Wahrheit nach!49

Am Ende seines Gedichts zum Andenken an Leibniz50 kommt Gottsched noch einmal auf die Münze und das »Sapere aude!« zurück: Trägt nicht der Pallas Helm dein Bild, Die unlängst das Panier von dem berühmten Orden, Der Wahrheitliebenden geworden, Und jedes Glied mit Muth erfüllt? Erkühnt euch, ruft sie, klug zu seyn! O mehr als güldnes Wort, das vom Horaz entsprungen, Doch itzt noch tiefer eingedrungen, Seit edle Geister sich der Wahrheitsliebe weihn; Seit uns ein großer Graf will treiben, Mit Eifer nachzusehn, was Wolf und Leibnitz schreiben.51

Nach der Prägung der Medaille fand sich das Motto in Titelblättern aufklärerischer Werke wieder. Und auch für Kant dürfte die Münze eine der Quellen für den von ihm bevorzugten Wahlspruch der Aufklärung gewesen sein: »Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! [...].«52

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Gottsched: Auf Seiner Hochreichsgräfl. Excell. Herrn Ernst Christophs, des H.R. Reichs Grafen von Manteufel Hohes Geburtsfest (s. Anm. 31), S. 186. Vgl. dazu Detlef Döring: Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz’ und die Leipziger Aufklärung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Stuttgart, Leipzig 1999, S. 11–13, 68f. Gottsched: Das Andenken des vor 100 Jahren in Leipzig gebohrnen Freyherrn Gottfried Wilhelms von Leibnitz (s. Anm. 18), S. 201. Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, AA VIII, 35; dazu Oliver R. Scholz: [Art.] Sapere aude. In: Kant-Lexikon. Hg. von Georg Mohr, Jürgen Stolzenberg und Marcus Willaschek. Berlin, New York, im Druck.

GIDEON STIENING

»[D]arinn ich noch nicht völlig seiner Meynung habe beipflichten können.« Gottsched und Wolff

Christian Wolff gehört zu den prägenden Gestalten der europäischen Aufklärung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts.1 Dieses Urteil gilt nicht nur im Sinne einer systematischen Philosophiegeschichte,2 sondern auch im Hinblick auf eine empirische Ideengeschichte.3 Die herausgehobene Stellung der Philosophie Wolffs und des Wolffianismus, die hinsichtlich der unterschiedlichen Teildisziplinen seines Systems unterschiedlich ausgeprägt war, wie die Kontroverse zwischen Notger Hammerstein und Detlef Döring zeigte,4 und doch weit über die Grenzen der Philosophie hinausreichte, ist allerdings hinsichtlich der zweiten methodischen Perspektive noch kaum erschlossen; die verdienstvollen Arbeiten von Cornelia Buschmann, Michael Alb1

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Vgl. hierzu Norbert Hinske: Wolffs Stellung in der deutschen Aufklärung. In: Christian Wolff. 1679-1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung. Hg. von Werner Schneiders. Hamburg 21986, S. 306-319. Vgl. hierzu u. a. Benno Erdmann: Martin Knutzen und seine Zeit. Ein Beitrag zur Geschichte der Wolfischen Schule und insbesondere zur Entwicklungsgeschichte Kants. Leipzig 1876. ND Hildesheim 1973; Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Bd. II. Darmstadt 1991, S. 521–557; Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. München 1981, S. 545–563.; Wolfgang Röd: Die Philosophie der Neuzeit 2. Von Newton bis Rousseau. In: Geschichte der Philosophie. Hg. von dems. Bd. VIII. München 1984, S. 235–296; Hans-Jürgen Engfer: Empirismus versus Rationalismus? Kritik eines philosophischen Schemas. Paderborn 1996, S. 268–283. Vgl. hierzu u. a. Max Wundt: Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung. Tübingen 21945. ND Hildesheim 1992, S. 122–264; Günter Mühlpfordt: Radikaler Wolffianismus. Zur Differenzierung und Wirkung der Wolffschen Schule ab 1735. In: Christian Wolff. 1679-1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung (s. Anm. 1), S. 237–253; Cornelia Buschmann: Wolffianismus in Berlin. In: Aufklärung in Berlin. Hg. von Wolfgang Förster. Berlin 1989, S. 73–101; Stefan Lorenz: De Mundo Optimo. Studien zu Leibniz’ Theodizee und ihrer Rezeption in Deutschland (1710–1791). Stuttgart 1997; Detlef Döring: Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz’ und die Leipziger Aufklärung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Stuttgart, Leipzig 1999, S. 35–82; Christian Wolff – seine Schule und seine Gegner. Hg. von Martin Gerlach. Hamburg 2001; Martin Mulsow: Freigeister im Gottsched–Kreis. Wolffianismus, studentische Aktivitäten und Religionskritik in Leipzig 1740–1745. Göttingen 2007. Vgl. hierzu die sachlich kontroverse Einschätzung der Bedeutung Wolffs für die deutsche Universitätslandschaft durch Notger Hammerstein: Christian Wolff und die Universitäten. Zur Wirkungsgeschichte des Wolffianismus im 18. Jahrhundert. In: Christian Wolff. 1679-1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung (s. Anm. 1), S. 268–277 einerseits und Detlef Döring: Der Wolffianismus in Leipzig. Anhänger und Gegner. In: Christian Wolff – seine Schule und seine Gegner (s. Anm. 3), S. 51–76 andererseits.

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recht, Stefan Lorenz, Detlef Döring, Martin Mulsow oder neuerdings Johannes Bronisch zeigen, dass noch vieles zu leisten ist. Wie weit Wolffs Einfluss auch außerhalb der akademischen Hörsäle und wissenschaftlichen Lesestuben reichte, mögen zwei Beispiele illustrieren: Niemand anderes als Friedrich II., eigentlich Verächter deutscher Sprache und Kultur und später maßgeblich für die Inthronisation des Empirismus und Materialismus an der Berliner Akademie verantwortlich,5 studiert in Rheinsberg im Jahrzehnt vor seiner Thronbesteigung ausgiebig Christian Wolff; und dabei vor allem dessen Deutsche Metaphysik. Im Zusammenhang dieses Studiums schreibt er im Juni 1737 an Ulrich Friedrich von Suhm: Welch köstliche Prinzipien sind doch die Sätze des Widerspruchs und des zureichenden Grundes. Sie verbreiten Licht und Klarheit in unserer Seele, auf sie gründe ich meine Urteile […].6

Selbst Voltaire gegenüber, dem er die Werke Wolffs gar zuschickt, rühmt er dessen deduktive Systematik, »denn seine Sätze folgen mit geometrischer Genauigkeit einer aus dem andern und sind wie die Glieder einer Kette ineinander verschränkt.«7 Für Friedrich bestand in den 1730er Jahren offenbar keine Ungereimtheit darin, sowohl Verehrer Wolffs als auch Anhänger Voltaires zu sein: eine Kombination, die noch von vielen Anthropologen der Spätaufklärung, wie Johann Nicolas Tetens, Georg Forster oder Ernst Platner für überzeugend gehalten wird,8 auch wenn sie sich in ihren Versuchen der Vermittlung von Rationalismus und Empirismus statt auf den geschwätzigen Voltaire seit den 1750er Jahren eher auf den klaren David Hume beziehen.9 Der erste Übersetzer Humes, Johann Georg Sulzer, mag als zweites Beispiel für die enorme, nicht nur innerwissenschaftliche, sondern mentalitätsgeschichtliche Breitenwirkung von Wolffs Deutscher Metaphysik dienen. In seiner Autobiographie aus dem Jahre 1778, also kurz vor seinem Tode verfasst, heißt es über seine erste Schulzeit am akademischen Gymnasium – Sulzer ist zu diesem Zeitpunkt 16 Jahre alt: Ich besuchte zwar die mir angewiesenen Lektionen der Professoren; aber da sie zum Theil schlecht waren, ich auch gar zu wenig literarische Kenntnisse mitgebracht hatte, so ging mir dabey noch kein Licht auf. Zu Hause trieb ich aus Noth meine Sprachen elend grammatisch, wie ich in der Schule gewöhnt worden, und dieses geschah mit Ekel. Doch las ich zu meiner Erholung Wolf’s Metaphysik.10

Weil aber die weite Rezeptionsstreuung und d. h. ein breiter Einfluss auf die intellektuelle Kultur des frühen 18. Jahrhunderts nicht der Hochbegabung einzelner (Friedrichs eben oder Sulzers) überlassen bleiben sollte, entwickelte sich eine umfangreiche Schriftkultur zur popularisie5 6 7 8 9

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Vgl. hierzu u. a. Conrad Grau: Die Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Eine deutsche Gelehrtengesellschaft in drei Jahrhunderten. Heidelberg, Berlin, Oxford 1993, S. 87–102. Zitiert nach: Johannes Kunisch: Friedrich der Große. Der König und seine Zeit. München 2009, S. 92. Ebd. Vgl. hierzu u. a. Gideon Stiening: Platners Aufklärung. Das Theorem der angeborenen Ideen zwischen Anthropologie, Erkenntnistheorie und Metaphysik. In: Aufklärung 19 (2007), S. 105–138. Vgl. hierzu u. a. Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl: Hume in der deutschen Aufklärung. Umrisse einer Rezeptionsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt 1987; Manfred Kuehn: Hume and Tetens. In: HumeStudies XV/2 (1989), S. 365–375 sowie Falk Wunderlich: Ernst Platners Auseinandersetzung mit David Hume. In: Aufklärung 19 (2007), S. 163–180. Johann Georg Sulzer: Lebensbeschreibung, von ihm selbst aufgesetzt. Mit Anmerkungen von Johann Bernard Merian und Friedrich Nicolai. Berlin, Stettin 1809, S. 13, Hvhb. von mir.

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renden Verbreitung des Wolffschen Systems, zumal in der Form von Vorlesungshandbüchern, die den kaum zu bewältigenden Umfang der Wolffschen Publikationen in kompendiale Dimensionen transformierte, welche für den akademischen Unterricht brauchbar wurden.11 Dieser Prozess der Popularisierung, der weit über die Universitäten hinausreichte und sich u. a. in Zeitschriften niederschlug,12 scheint sowohl eine innerwissenschaftlich gegründete als auch eine von weltanschaulichen Interessen an der Durchsetzung der Wolffschen Philosophie unterstützte Entwicklung gewesen zu sein. Eine noch zu schreibende Geschichte des Wolffianismus kann daher nicht nur als eine rein fachinterne, philosophiehistorische Rezeptions- und Fortentwicklungsgeschichte verfasst werden. Andererseits reichten auch Versuche einer ausschließlich wissenssoziologisch fundierten Interessensgeschichte, die die Verbreitung der Wolffschen Systemphilosophie aufgrund stabilitätspolitischer Herrschaftsinteressen zu erklären sucht, ebenfalls nicht weit genug; nicht nur erweist sich die stets prekäre religionspolitische Lage des Wolffianismus als profunder Hinderungsgrund für eine solche ›Ideologie‹-Geschichte,13 auch die Wissenschaftspolitik Friedrichs ab 1740 wies dem Wolffianismus eine andere als staatstragende Rolle zu.14 Die Gründe für den enormen Erfolg des Wolffianismus, der bis in die 1770er Jahre reichte, müssen auf einer anderen, sicher auch vermittelnden Ebene gesucht werden. Das Beispiel Johann Christoph Gottscheds wird zeigen, dass zu den Gründen dieses Erfolgs, zu denen der Leipziger Philosoph und Literaturtheoretiker nicht nur namhaft beitrug, sondern die ihm zugleich zu erheblicher Berühmtheit verhalfen, auch in einer gewissen Flexibilität gegenüber der in sich geschlossenen Systematik des Wolffianischen Rationalismus gehörte. Sein Eklektizismus erlaubte eine Integration von Theorieelementen, die den philosophischen Konzeptionen Leibniz’, Thomasius’ oder älterer Traditionen entstammten.

I. Popularisierte Metaphysik? – Erste Gründe der Gesamten Weltweisheit (1733/34) Scheinbar bruchlos passen sich Johann Christoph Gottscheds Erste Gründe der Gesamten Weltweisheit, auf deren erste Auflage aus dem Jahre 1733 im folgenden Bezug genommen werden soll,15 in die Tradition einer popularisierenden Schulbuchform ein. Nicht nur wurde die Schrift ausdrücklich Zum Gebrauche Academischer Lectionen verfasst,16 Gottsched stellt sich in der Vorrede

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Vgl. hierzu Wundt: Die deutsche Schulphilosophie (s. Anm. 3), S. 199–230, spez. S. 211–230. Vgl. hierzu die instruktive Arbeit von Gabriele Ball: Moralische Küsse. Gottsched als Zeitschriftenherausgeber und literarischer Vermittler. Göttingen 2000, spez. S. 158–170. Döring: Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz’ (s. Anm. 3), S. 44–54. Vgl. hierzu Martin Fontius: Der Ort des ›Roy philosophe‹ in der Aufklärung. In: Friedrich II. und die europäische Aufklärung. Hg. von dems. Berlin 1999, S. 9–27. Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe der Gesamten Weltweisheit. Darinn alle philosophischen Wissenschaften in ihrer natürlichen Verknüpfung abgehandelt werden. Zum Gebrauch Academischer Lectionen. (Theoretischer Theil). Leipzig 1733. Vgl. ebd., Titelblatt.

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zudem explizit in die Tradition der für Schüler und Studenten verfassten Einleitung und Vereinfachung: Ich habe eine Einleitung und Vorbereitung zu des hochberühmten Herrn Wolffs Schriften abfassen u. meinen Zuhörern Lust machen wollen, sich nach diesem geringen Vorgeschmacke, daselbst als an einer vollen Tafel zu sättigen.17

Gottsched verfasste mithin eine Schrift, die wir auch heute noch als Einführungen und Handbuch in Hülle und Fülle in den Buchläden finden, betont allerdings ausdrücklich den Einleitungs- und Vorbereitungscharakter, der die Lektüre der Wolffschen Schriften selber keineswegs ersetzen könne. Darüber hinaus liefert Gottsched eine ausführliche Begründung für die herausgehobene Stellung der Wolffschen Philosophie, und zwar nicht allein innerhalb seines Vorlesungshandbuches, sondern hinsichtlich ihrer Position in der zeitgenössischen Philosophie und ihrer Geschichte überhaupt. Gottsched führt seinem Selbstverständnis nach nicht in irgendeine Theorie ein, sondern in die gründlichste und umfassendste, schlechthin wahre Philosophie. Ausgeführt wird dieser Anspruch an einer kurzen Darstellung der eigenen intellektuellen Biographie, die Gottsched nach der ausführlichen Lektüre der gesamten Philosophiegeschichte, einschließlich Lockes, Thomasius’, Pufendorfs, Grotius’ und natürlich Leibniz’ endlich in die Gefilde der Wahrheit eintauchen ließ: Ich lernte aber zu gleicher Zeit auch Herrn Hofrath Wolfs Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen kennen. Hier gieng mirs nun wie einem, der aus einem wilden Meere wiederwärtiger Meynungen in einen sichern Hafen einläuft und nach vielem Wallen und Schweben, endlich auf ein festes Land zu stehen. Hier fand ich diejenige Gewißheit, so ich vorhin allenthalben vergeblich gesucht hatte. Und ungeachtet ich niemanden hatte, der mir darüber gelesen hätte: so begriff ich doch durch meinen Fleiß und eigenes Nachsinnen sehr wohl, wie grosse Vorzüge diese Art die Weltweisheit abzuhandeln vor allen andern hätte, die mir bis dahin bekannt geworden. Ich habe auch nach der Zeit nicht Ursache gefunden, dieses Urtheil zu wiederruffen, ungeachtet ich nicht nachgelassen, auch die Schriften andrer Philosophen, die sich in der Welt einen Nahmen erworben, nachzulesen. Nirgends habe ich diejenige Ordnung und Gründlichkeit gefunden, und nirgends habe ich mich mehr befriedigen können, als in Herrn Wolffs Schriften.18

Erkennbar ist, dass die namhafte Anzahl älterer und neuerer Philosophen aufgerufen wird, um die unvergleichliche Leistung Wolffs anschaulich herauszuarbeiten; dabei darf vor allem Locke nicht fehlen, dessen Empirismus mit dem eigenen Apriorismus vermittelt zu haben, einer Überzeugung Leibniz’ und Wolffs entsprach. In den Nouveaux Essais nimmt Leibniz für sich in Anspruch, empirisches Wissen – gegen Lockes Wahrheitstheorie – erst angemessen bestimmt zu haben.19 Und auch Wolffs Einleitung in die Deutsche Metaphysik oder seine Lehre von der 17 18 19

Ebd., Vorrede, unpag. [S. 8f.]. Gottsched: Erste Gründe der Gesamten Weltweisheit (Theoretischer Theil) (s. Anm. 15), Vorrede, unpag. [S. 13f.]. Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlung über den menschlichen Verstand. Übersetzt, eingeleitet und erläutert von Ernst Cassirer. Hamburg 31971, S. 413, wo gegen Lockes ausschließlich kohärenztheoretische Wahrheitstheorie festgehalten wird: »Denn wenn wir die Wahrheit nur empirisch wissen, weil wir sie erfahren haben, ohne die Verknüpfung der Dinge und den Grund dessen, was wir erfahren haben, zu kennen, so erfassen wir diese Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung nicht.« Vgl. hierzu auch Engfer: Empirismus versus Rationalismus? (s. Anm. 2), S. 248: »Der vorgebliche Rationa-

Gottsched und Wolff

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Definitionsgewinnung in der Deutschen Logik legt es nahe, »das Bild vom Rationalisten Wolff entschieden zu modifizieren«.20 Das komplexe Verhältnis von empiristischer und rationalistischer Epistemologie und Metaphysik, das die Rationalismen Wolffs und Leibniz’ auszeichnete, wird sich auch für die Gottschedsche Philosophie als prägend erweisen.21 Dennoch weist Gottsched bei aller unvergleichlichen Wertschätzung für die Philosophie Wolffs ausdrücklich auf die Grenzen seiner Übereinstimmung mit dieser hin: Ungeachtet freylich hier und da einige Puncte übrig geblieben, darinn ich noch nicht völlig seiner Meynung habe beypflichten können.22

Es wird sich zeigen, dass die hier nur abstrakt benannten »Puncte« durchaus zentrale Momente der Wolffschen Philosophie betreffen. Gottsched beruft sich im übrigen für die Legitimation dieser inhaltlichen Abweichungen von der Wolffschen Doktrin auf ein formales Argument der philosophischen Methodologie des Lehrers: Ist es nicht rühmlicher den Beyfall derjenigen, in dem Hauptwerke selbst zu haben, die auch in einigen Nebendingen andrer Meynung sind, und also zeigen, daß sie kein Vorurtheil des menschlichen Ansehens blendet? […] Die Freyheit zu philosophiren ist ein so herrliches Vorrecht unsrer Zeiten, daß man sich selbiges auf alle mögliche Weise muß unverletzt zu erhalten suchen.23

Diese uneingeschränkte Freiheit des Denkens hatte Wolff im Discursus praeliminaris als entscheidende Bedingung der Möglichkeit wissenschaftlicher Reflexion bezeichnet: Libertas itaque philosophandi est permissio publice proponendi suam de rebus philosophicis sententiam. […] Servitus contra philosophandi est coactio defendendi aliorum de rebus philosophicis sententiam tanquam veram, utut nobis contrarium videatur.24

Gottscheds Wolff-Kritik, die zu einigen substanziellen Differenzen gegenüber den Gehalten der Wolffschen Philosophie führen wird, versteht sich selbst als Verwirklichung formaler Prinzipien des Wolffschen Wissenschaftsverständnisses.25

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25

list Leibniz versucht, dem angeblichen Empiristen Locke nachzuweisen, daß die von ihm angelegten rationalistischen Kriterien zu eng gefaßt und zu streng sind, um der Wirklichkeit menschlichen Erkennens gerecht zu werden; er verteidigt also – gegen den Empiristen – das Recht der Empirie.« Ebd., S. 274; zu diesem zentralen Problem der Wolffschen Systematik und ihrer Interpretation vgl. auch Hans-Werner Arndt: Rationalismus und Empirismus in der Erkenntnislehre Christian Wolffs. In: Christian Wolff. 1679-1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung (s. Anm. 1), S. 31–47. Vgl. hierzu auch Hans Heinz Holz: Johann Christoph Gottsched. Leibniz’ Integration in die Bildung der bürgerlichen Aufklärung. In: Leibnizbilder im 18. und 19. Jahrhundert. Hg. von Alexandra Lewendoski. Stuttgart 2004, S. 107–119 sowie Annabel Falkenhagen: Philosophischer Eklektizismus. Wolff und die Literaturtheorie der Frühaufklärung. In: Christian Wolff und die europäische Aufklärung. Akten des 1. Internationalen Christian-Wolff-Kongresses. Hg. von Jürgen Stolzenberg und Oliver-Pierre Rudolph. Hildesheim, Zürich, New York 2007, Teil 4, S. 341–359. Gottsched: Erste Gründe der Gesamten Weltweisheit (Theoretischer Theil) (s. Anm. 15), Vorrede unpag. [S. 14]. Ebd., [S. 14f.]. Christian Wolff: Discursus Praeliminaris de Philosophia in genere. Einleitende Abhandlung über Philosophie im Allgemeinen. Übersetzt, eingeleitet und hg. von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl. Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, S. 182–184. Vgl. hierzu schon Erdmann: Martin Knutzen und seine Zeit (s. Anm. 2), S. 18 u. S. 79–83, der von einem sehr selbständigen Umgang Gottscheds mit der Philosophie Wolffs spricht; siehe ebenso Döring: Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz’ (s. Anm. 3), S. 62–67.

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Gideon Stiening

An der oben erwähnten Aufzählung seiner philosophischen Lektüren, die ihn allererst die Wolffschen Leistungen erkennen ließen, ist die marginale Stellung Leibniz’ auffällig, dessen Theodizee zwar erwähnt wird – »Ich las dessen Theodizee mit unbeschreiblichem Vergnügen«26 -, die der Rolle Wolffs bei der Wissensordnung und der Indifferenz gegenüber dem wilden Meer der Meinungen dennoch nicht zu vergleichen sei. Nicht Leibniz’, sondern erst Wolffs Philosophie ermöglicht nach Gottsched das feste Land der Wahrheit zu erreichen. Aber entspricht dieser These des Vorwortes auch das ausgeführte Werk?

II.Philosophie – Anthropologie – Ontologie: Gottscheds Abweichungen von Wolffs Metaphysik Im Hinblick auf die Ordnung und Struktur der »Gesamten Weltweisheit« ist die Behauptung einer strengen Wolff-Anbindung durchaus nicht von der Hand zu weisen. Das Wolffsche System wird vollständig, allgemein (und damit als notwendiges) sowie als in sich differenziert von Gottsched entfaltet: Dazu gehört nach der Logik, die Ontologie, die Kosmologie, die Pneumatologie (oder Psychologie), die rationale Theologie, die Physik und die Mathematik. Gottsched führt die Ordnung des Wissens in jener Vollständigkeit und eben derselben Struktur vor, die ihr Wolff gegeben hatte;27 zu Recht also sieht er sich und sieht ihn die Forschung in dieser strukturellen Hinsicht als Wolffianer.

2.1. Philosophie zwischen Scientia possibilium und Sapientia Schon die allgemeine Definition der Philosophie und die Begründung für diese Bestimmung weist allerdings eine substanzielle Differenz zwischen dem Gottschedschen Verständnis dieser Wissenschaft und der Wolffschen Ableitung auf. Wolff hatte nämlich auf der Grundlage seiner Ontologie festgehalten: Philosophia est scientia possibilium, quatenus esse possunt.28

Die Philosophie ist für Wolff deshalb die Wissenschaft vom Möglichen, weil gemäß der Geltung des Satzes vom Widerspruch, der das oberste Prinzip alles Denkens und Seins darstellt, möglich alles das ist, was keinen Widerspruch in sich schließt: Weil nichts zugleich seyn und nicht seyn kann, so erkennet man, das etwas unmöglich sey, wenn es demjenigen widerspricht, davon wir bereits wissen, daß es ist oder seyn kann. […] Woraus man ferner ersiehet, daß möglich sey, was nichts widersprechendes in sich enthält. […] Daher ist das Wesen eines 26 27 28

Gottsched: Erste Gründe der Gesamten Weltweisheit (Theoretischer Theil) (s. Anm. 15), Vorrede unpag., [S. 13]. Vgl. hierzu ebd., S. 6–10 mit Wolff: Discursus Praeliminaris de Philosophia in genere (s. Anm. 24), S. 2–30. Ebd., S. 32; vgl. hierzu Werner Schneiders: Deus est philosophus absolute summus. Über Christian Wolffs Philosophie und Philosophiebegriff. In: Christian Wolff 1679–1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung. Hg. von dems. Hamburg 1984, S. 9–28.

Gottsched und Wolff

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Dinges seine Möglichkeit und derjenige verstehet das Wesen, welcher weiß, auf was für eine Art und Weise ein Ding möglich ist.29

Möglich ist damit das extensional umfassendste Prädikat, das es gibt, weil alles, was sein kann, einen Widerspruch ausschließt. Die Philosophie als Wissenschaft des Möglichen ist mithin scientia universalis, die Wissenschaft nämlich von allem, was sein kann, was sie nur dann als Wissenschaft sein kann, wenn sie der Aufgabe nachgeht, für jedes Ding, das sein kann, einen Grund zu finden, warum es überhaupt ist. Zu Recht hält Werner Schneiders im Hinblick auf das Wolffsche Philosophieverständnis fest: Letztlich läuft Wolffs Konzeption der Philosophie als Universal- und Fundamentalwissenschaft von allem Möglichen auf eine Gleichsetzung der Philosophie mit dem absoluten Wissen hinaus. Der Philosoph ist nur soweit Philosoph, als er das, was möglich ist, erkennt: daß, wie und warum es möglich ist. Nur soweit der Philosoph weiß und nicht mehr fragt, weil er nicht mehr zu fragen braucht, ist er wirklich Philosoph.30

Die aus seiner Metaphysik konsequent abgeleitete Definition der Philosophie galt den Zeitgenossen allerdings als zu abstrakt; noch Wieland wird in den 1770er Jahren kritisch auf dieses Verständnis von Philosophie referieren.31 Gottsched macht schon 1733 deutlich, dass er ein grundlegend anderes Verständnis von der philosophischen Reflexionsform entwickelt hat, die weder mit der metaphysischen Begründung noch mit der szientifischen Methodologie Wolffs übereinstimmt. Schon in der Vorrede begründet er seine abweichende Definition der Philosophie wie folgt: Ich bin in derselben [d.i. Einleitung zur Weltweisheit], von der Erklärung abgegangen, die Herr Hofrath Wolf von der Philosophie gegeben hat. […] Nun halte ich zwar nicht davor, daß man selbige einer Ungereimtheit überführet, oder sogar wiederleget hätte, daß man sie nicht mehr behaupten können: Dennoch ist mirs vorgekommen, daß die Wissenschaft aller möglichen Dinge, wie und warum sie möglich sind, dem ersten Ansehen nach, einen viel zu speculativen und bloß theoretischen Begriff, von der Weltweisheit gebe.32

Den entscheidenden Mangel, der zu einer bewussten Abweichung von diesem »speculativen« Philosophiebegriff führt, begründet Gottsched mit Bezug auf einen alltagspragmatischen common sense: 29

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Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und auch der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (Deutsche Metaphysik). Mit einer Einleitung und einem kritischen Apparat von Charles A. Corr. ND in ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Jean École, Hans Werner Arndt u. a. Hildesheim 1983, hier Bd. I, § 12, S. 7f. und § 35, S. 29. Werner Schneiders: Der Philosophiebegriff des philosophischen Zeitalters. Wandlungen im Selbstverständnis der Philosophie von Leibniz bis Kant. In: Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung. Hg. von Rudolf Vierhaus. Göttingen 1985, S. 58–92. Vgl. hierzu Christoph Martin Wieland: Was ist Wahrheit? In: ders.: Sämtlich Werke. Bd. 24. Leipzig 1796. ND hg. von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Hamburg 1984, S. 41–54: »Die Übereinstimmung eines Gefühls oder einer Vorstellung mit den allgemein anerkannten Grundwahrheiten der Vernunft ist ebensowenig […] ein sicheres Merkmal der Wahrheit. Jene läßt uns nichts weiter als die Möglichkeit der Sache erkennen.« Vgl. hierzu demnächst Gideon Stiening: Epistemologie und Anthropologie bei Wieland. Anmerkungen zu ›Was ist Wahrheit?‹ und zur ›Geschichte des Agathon‹ (1766/67). In: Wieland-Studien 7 (2011), S. 75–104. Gottsched: Erste Gründe der Gesamten Weltweisheit (Theoretischer Theil) (s. Anm. 15), Vorrede unpag., [S. 16].

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Gideon Stiening Soll ich denn bloß von der Möglichkeit der Dinge (denken die meisten, die denselben hören oder lesen) subtile Vernünfteleyen in der Philosophie antreffen? Soll ich nur Hirngespinste machen, und Luftschlösser bauen lernen? Was wird mir eine solche Philosophie in der Welt, in den Geschäften, im gemeinen Leben nutzen?33

Weil Gottsched die in diesen rhetorischen Fragen transportierten Postulate des common sense an eine Praxisrelevanz der Philosophie, die Forderung nach einer »Philosophie für die Welt« mithin,34 übernimmt, spricht die Forschung zu Recht von den Anfängen der ab den 1750er Jahren aufblühenden Popularphilosophie und deren praktischen Ansprüchen an die philosophische Reflexion.35 Jene prätendierte Praxisrelevanz wird von Gottsched in der Folge mit einer eudämonistischen Definition von Philosophie eingelöst, die mit Bezug auf Leibniz legitimiert wird: Die Begierde glücklich zu werden; ist allen Menschen angebohren. Die Weisheit hat uns Herr von Leibnitz, nach dem Exempel vieler Alten, als eine Wissenschaft der Glückseligkeit beschreiben. Was wir jetzo Philosophie nennen, hieß vor Zeiten schlechtweg die Weisheit.36

Ausdrücklich sei darauf hingewiesen, dass Gottsched an dieser Stelle anthropologisch argumentiert, und zwar in einer praktisch-eudämonistischen Ausrichtung, die noch für Ernst Platner Gültigkeit haben sollte.37 Tatsächlich hatte schon Leibniz nicht nur das Streben nach Glückseligkeit zur anthropologischen Konstante erhoben,38 sondern auch die Wissenschaft von der Glückseligkeit als praktische Anleitung zu ihrer Erreichung als Weisheit definiert: Weisheit ist nichts anders als die Wissenschaft der Glückseligkeit, so uns nemlich zur Glückseligkeit zu gelangen lehret.39

Die nicht nur praktische, sondern ganz pragmatische Ausrichtung des Weisheitsbegriffs als Wissenschaft macht allerdings deutlich, dass für Leibniz diese Lehre keineswegs mit der Philosophie als Wissenschaft identisch ist. Vielmehr tendiert diese ›Wissenschaft‹ zur Glückseligkeit in die Richtung einer Klugheitslehre zur Erlangung des höchsten Gutes, der Verbindung von Glückseligkeit und Tugend. Gottsched abstrahiert in seiner Übernahme der Weisheitslehre Leibnizens von deren sachlicher Differenz zur wissenschaftlichen Philosophie und nähert sich damit einem Philosophieverständnis, das Thomasius kultiviert hatte.40 Damit erhebt er aber die

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Ebd. Vgl. hierzu Christoph Böhr: Philosophie für die Welt. Die Popularphilosophie der deutschen Spätaufklärung im Zeitalter Kants. Stuttgart-Bad Cannstatt 2003, S. 26–36. Vgl. hierzu Lorenz: De Mundo Optimo (s. Anm. 3), S. 156f. sowie Döring: Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz’ (s. Anm. 3), S. 65. Gottsched: Erste Gründe der Gesamten Weltweisheit (Theoretischer Theil) (s. Anm. 15), Vorrede unpag., [S. 17]. Vgl. hierzu Ernst Platner: Anthropologie für Aerzte und Weltweise, §§ 27–44. Leipzig 1772, S. 9–13. Gottfried Wilhelm Leibniz: Über die Glückseligkeit. In: ders.: Kleine Schriften zur Metaphysik. Hg. und übersetzt von Hans-Heinz Holz. Frankfurt a. M. 1965, S. 391–401; zur anthropologischen Argumentation bei Leibniz vgl. auch Kuno Fischer: Geschichte der neueren Philosophie. Bd. 2. Leibniz und seine Schule. Heidelberg 21867, S. 609–617. Gottfried Wilhelm Leibniz: Von der Weisheit. In: ders.: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Hg. von Ernst Cassirer. Bd. II. Hamburg 31966, S. 491–496, hier S. 491. Vgl. hierzu Schneiders: Der Philosophiebegriff des philosophischen Zeitalters, S. 62–68 sowie Döring: Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz’ (s. Anm. 3), S. 65.

Gottsched und Wolff

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Glückseligkeitslehre nicht »zur Sache metaphysischer Distinktionen«,41 sondern – umgekehrt – unterwirft die philosophische Grundlagentheorie einer eudämonistischen Pragmatik. Wolffs Fundamentalphilosophie wird so prudentistisch funktionalisiert; in dieser Systematik weist Gottscheds ›Wolffianismus‹ in die Zukunft der Popularphilosophie.42

2.2. Commercium mentis et corporis zwischen influxus physicus, Okkasionalismus und prästabilierter Harmonie In einem weiteren zentralen Problemfeld, das in der zeitgenössischen Philosophie intensiv debattiert wurde, weicht Gottsched in signifikanter Weise vom Leibniz-Wolffschen Rationalismus ab. Im Zusammenhang der anthropologischen Grundfrage, des Verhältnisses von Leib und Seele, das sich für Gottsched, wie schon für Leibniz und Wolff, als das Problem der »Gemeinschaft der Seele und des Leibes« konkretisiert,43 übernimmt er das von Leibniz entworfene und auch von Wolff deutlich präferierte Modell der prästabilierten Harmonie nicht, sondern verteidigt die Vorstellung eines natürlichen Einflusses, d. h. einer wechselseitig kausalen Relation. Gottsched geht allerdings auch hier zurückhaltend vor, weil er um die grundlegende Differenz seiner Überzeugungen nicht allein zu Wolff, sondern zum gesamten Rationalismus weiß. Denn schon Wolff hatte in seiner Deutschen Metaphysik die für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts maßgeblichen Alternativen der Erklärungen für die Gemeinschaft von Körper und Seele vorgestellt.44 Dabei ging er von der unhintergehbaren Erfahrungstatsache aus, dass sich Körper und Seele in vollständiger Übereinstimmung befänden, ergänzte diese Voraussetzung jedoch um den Hinweis, dass im Rahmen dieses Erfahrungswissens eine Kenntnis von den Gründen dieser Übereinstimmung nicht zu erlangen sei: Wir nehmen weiter nichts wahr, als daß zwey Dinge zugleich sind, nehmlich eine Veränderung, die in den Gliedmassen der Sinnen vorgehet, und einen Gedanken, dadurch sich die Seele der äußeren Dinge bewußt ist, welche die Veränderungen verursachen. Keineswegs aber erfahren wir eine Würckung des Leibes in die Seele. Denn wenn dieses seyn solte, müsten wir von ihr einen, obzwar nicht deutlichen, doch wenigstens klaren Begrif haben. Wer aber auf sich selbst genau acht hat, der wird finden, 41 42

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So aber Raimund Bezold: Baumgartens Tod. In: Prägnanter Moment. Hg. von Peter-André Alt, Alexander Košenina und Hartmut Reinhardt. Würzburg 2002, S. 19–28, hier S. 27. Zum engen Verhältnis zwischen Wolffianismus und Popularphilosophie vgl. schon Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III. In: ders.: Werke in 20 Bänden. Hg. von Karl Markus Michel und Eva Moldenhauer. Bd. 20. Frankfurt a. M. 1986, S. 263f.: »Die Wolffsche Philosophie hat nichts bedurft, als ihre steife Form abzuschütteln, so ist der Inhalt die spätere Populärphilosophie.« Gottsched: Erste Gründe der Gesamten Weltweisheit (Theoretischer Theil) (s. Anm. 15), S. 304–313; Hvhb. von mir. Zu Recht weist Werner Euler darauf hin, dass sich das umfassendere Commercium-Problem von dem von einigen Cartesianern erörterten, auf Thomas von Aquin zurückgehenden communioProblem, einer lokalen Interaktion zwischen Körper und Seele, substanziell unterscheidet. (Werner Euler: Bewußtsein – Seele – Geist. Untersuchungen zur Transformation des Cartesischen ›Cogito‹ in der Psychologie Christian Wolffs. In: Die Psychologie Christian Wolffs. Systematischer Ort, Konstitution und Wirkungsgeschichte. Hg. von Oliver-Pierre Rudolph und Jean-François Goubet. Tübingen 2004, S. 11–50, spez., S. 34). Vgl. zu folgenden auch ebd., S. 33–36.

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Gideon Stiening daß er von dergleichen Würckung nicht den allergeringsten Begrif hat. Und demnach können wir nicht sagen, es sey die Würckung des Leibes in die Seele in der Erfahrung gegründet. Wer genau reden will, kann nicht mehr sagen, als daß zwey Dinge zugleich sind.45

Die sich hier andeutende Zurückhaltung bei der Erklärung der zugleich vorausgesetzten Gemeinschaft von Körper und Seele46 gibt Wolff auch im fünften Kapitel, das seine rationale Psychologie entfaltet, nicht wirklich auf. Vielmehr stellt er das commercium mentis et corporis als ein wissenschaftliches Problem vor, das sich einer Erklärung noch entziehe: Und dieses ist der schwere Knoten, der den Welt=Weisen so viele Mühe gemacht, wie es nämlich möglich ist, daß Seele und Leib eine Gemeinschaft miteinander haben: an dessen Auflösung aber weder in der Theologie, noch der Moral oder Politick, noch in der Medicin etwas gelegen ist, indem man sich daselbst mit dem vergnüget, was die Erfahrung […] lehret.47

Wolff rekonstruiert in der Folge sowohl das seiner Ansicht nach auf Aristoteles zurückgehende Modell des influxus physicus als auch das aus dem Cartesianismus hervorgehende Konzept des Okkasionalismus und verwirft beide. Die Vorstellung eines natürlichen Einflusses wird auf der Grundlage des Leibnizschen Gesetzes der Krafterhaltung zurückgewiesen; Kräfte seien jeweils in der Seele und dem Körper wirksam, müssten jedoch aufgrund der qualitativ-substanziellen Differenz beider Wirkformen ohne jede Interaktion vorgestellt werden. Der auf Descartes’ Substanzendualismus zurückzuführende unmittelbare Vermittlungseinfluss Gottes wird als unwissenschaftliche, weil eine stete Wunderwirkung des Schöpfers voraussetzende Annahme widerlegt. Einzig dem Leibnizschen Modell der vorherbestimmten Harmonie, nach dem Körper und Seele als in sich geschlossene Systeme operieren, deren Parallelität durch ihren ersten Schöpfungsakt garantiert sei, komme einige Wahrscheinlichkeit zu, auch wenn selbst diese Theorie noch nicht vollends – nämlich auch empirisch – bewiesen sei: Und dieses ist der hohe und wichtige Punct, den die meisten für unbegreiflich halten, weil sie ihn zu begreiffen nicht vermögend sind, und deswegen die zwischen dem Leibe und der Seele vorher eingerichtete Harmonie verwerffen: da Sachen gar wohl an sich begreiflich sind, obgleich weder wir sie begreiffen, noch ein Mernsch sie völlig zu begreiffen im Stande ist. Alle Schwierigkeiten, die man darwieder machet, entspringen aus dieser Quelle.48

Dennoch hält Wolff noch in der Deutschen Metaphysik an der wenigstens rational weitgehend bewiesenen Theorie der prästabilierten Harmonie fest, u. a. auch deshalb, weil sie einen indirekten Gottesbeweis ermöglicht. Im Kommentarband zur Metaphysik heißt es daher in veranschaulichender Weise: Wiederum, da ich schon mehr als einmahl erinnert, daß, so ofte wir uns Worte gedencken, auch aus der Bewegung im Gehirne, die mit ihnen zusammenstimmet, die gleichstimmende Bewegung in den Gliedermassen der Sprache, dadurch die Worte gebildet werden, erfolge (§ 836); so siehet man, daß 45 46

47 48

Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und auch der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (Deutsche Metaphysik) (s. Anm. 29), § 529, S. 323f. Dass das commercium mentis et corporis überhaupt als ein philosophisches Problem betrachtet wird, hat – wie Michael Wolff ausführlich nachwies – vor allem damit zu tun, dass jene Gemeinschaft als ein Faktum vorausgesetzt wird. Vgl. hierzu Michael Wolff: Das Körper-Seele-Problem. Kommentar zu Hegel, Enzyklopädie (1830), § 389. Frankfurt a. M. 1992, spez. S. 156–161. Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und auch der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (Deutsche Metaphysik) (s. Anm. 29), § 760, S. 461. Ebd., § 781, S. 486.

Gottsched und Wolff

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auch aus der Kraft des Leibes der Mund alle zu den Vernunft-Schlüssen erforderten Worte vorbringen kann, ohne daß sich die Seele mit darein mischet.49

Doch ist dies nicht Wolffs letztes Wort.50 In der aus dem Jahre 1733 stammenden zweiten Auflage der Ausführlichen Nachricht von seinen eigenen Schriften – und damit gleichzeitig mit der Publikation der Gottschedschen Weltweisheit – stellt sich diese klare Positionsbestimmung Wolffs durchaus anders dar. Weil sein Schüler Ludwig Philipp Thümmig in seinen Institutiones Philosophiae Wolfianae gezeigt habe, dass man alle drei Modelle für die Gemeinschaft der Seele mit dem Körper »jedes mit dem vorherigen vereinbaren« könne51, lasse sich eine deutliche Präferenz nicht mehr hinreichend begründen: Und demnach kann ein Welt=Weiser sich wehlen, was er will, wo man die Freyheit zu philosophiren hat.52

Damit hat Wolff jedoch im Hinblick auf das für die kommenden Generationen bestimmende Commercium-Problem den Standpunkt exakter Wissenschaft verlassen.53 Diese Tendenz zu einer eher unentschiedenen Vorstellung aller drei Modelle mit einer leichten Präferenz für eine der Alternativen lässt Gottsched ebenfalls erkennen.54 Auch der Leipziger Metaphysiker geht – wie Wolff – von der Erfahrungstatsache der Gemeinschaft der Seele mit dem Körper aus (§ 570), schreibt dieser gültigen Erfahrung allerdings ebenfalls keine Erklärungsleitung zu, sondern nur relative Plausibilität. Im V. Hauptstück des ersten Teiles – Von der Vereinigung der Seele und des Leibes55 – stellt er sodann in enger Anlehnung an Wolffs Metaphysik jene drei Modelle der Erklärung der Gemeinschaft vor, die mit dem influxus physicus, dem Okkasionalismus und der prästabilierten Harmonie als gängige Systeme der Zeit gelten. Im Anschluss an diese zugleich systematische und philosophiehistorische Darstellung stellt Gottsched jedoch mit dem Wolff der Ausführlichen Nachricht fest: Dieses sind nun die drey berühmten Meynungen der Weltweisen, davon seit zehen bis zwanzig Jahren soviel Streitens unter den gelehrten gewesen. Keine derselben ist vollkommen erkläret oder demonstriret. Eine jede davon hat ihre Schwierigkeiten: Es kann sich also ein jeder an diejenige halten, die ihm am besten gefällt.56

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Ebd., § 843, S. 521. Darauf macht aufmerksam Röd: Die Philosophie der Neuzeit 2. Von Newton bis Rousseau (s. Anm. 2), S. 248. Christian Wolff: Ausführliche Nachricht von seinen Schriften, die in deutscher Sprache von den verschiedenen Theilen der Welt=Weisheit herausgegeben, § 100. Frankfurt a. M. 1733, S. 281. Ebd., § 100, S. 281f. Zur Bedeutung des commercium mentis et corporis für die Anthropologie der Spätaufklärung vgl. Jutta Heinz: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung. Berlin, New York 1996, S. 50 sowie jetzt umfassend Werner Euler: Commercium mentis et corporis? Ernst Platners medizinische Anthropologie in der Kritik von Marcus Herz und Immanuel Kant. In: Aufklärung 19 (2007), S. 21–68. Zum Folgenden vgl. auch die exzellente Studie von Eric Watkins: The Development of Physical Influx in Early Eighteenth-Century Germany: Gottsched, Knutzen, and Crusius. In: The Review of Metaphysics XLIX.2 (1995), p. 295–339, esp. p. 300–307. Gottsched: Erste Gründe der Gesamten Weltweisheit (Theoretischer Theil) (s. Anm. 15), §§ 628–645, S. 304-312. Ebd., § 640, S. 310.

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Gideon Stiening

Diese Passage entfaltet in nachgerade wörtlicher Übereinstimmung jene Indifferenz gegenüber den drei Modellen, die auch Wolff in der Ausführlichen Nachricht aufgrund der mangelnden Beweislage vertreten hatte. Anders als Wolff aber – und eben an dieser Stelle tritt die grundlegende Differenz zum Lehrer auf – neigt Gottsched nicht der prästablilierten Harmonie als leistungsfähigster Hypothese zu, sondern der Theorie des natürlichen Einflusses: Mir ist es indessen allezeit vorgekommen, daß man nicht eher Ursache habe, die allerälteste und gemeinste Meynung vom natürlichen Einflusse zu verwerfen, bis man sie vollkommen wiederleget, und ihre Unmöglichkeit erwiesen haben wird: Welches aber noch zur Zeit nicht geschehen ist.57

Wie schon im Zusammenhang mit dem Philosophiebegriff befürwortet Gottsched den common sense, die »gemeinste Meynung«. Auch nach Wolff entspricht die Vorstellung von einem natürlichen Einfluss der allgemeinen Meinung, er weist sie jedoch als unwissenschaftlich zurück. Gottscheds Behauptung stimmt daher nicht mehr mit den Argumentationsbewegungen der Deutschen Metaphysik und der Ausführlichen Nachricht überein; dort hatte Wolff nämlich auf der Grundlage des Leibnizschen Gesetzes von der Erhaltung der Kraft unmissverständlich festgehalten: Hieraus ist klar, daß die Regeln der Bewegung, nach welcher die Veränderungen in der Natur geschehen, haben wollen, es solle immer einerley Kraft in der Natur erhalten werden: hingegen die Würckung der Seele in den Leib und des Leibes in die Seele erfordert, daß nicht immer einerley Kraft in der Natur erhalten, sondern sie vielmehr der Seele zu gefallen bald vermehret, bald vermindert wird. Weil demnach die Würckung des Leibes und der Seele in einander der Natur zuwider ist, so hat man genugsamen Grund, sie zu verwerffen: denn es ist nicht glaublich, daß Gott die Natur auf widersprechende Gründe gebauet.58

Anders als Gottsched insinuiert, hatte Wolff also den influxus physicus mit dem schwersten Geschütz seiner Wissenschaftstheorie, dem Satz des Widerspruchs, als unhaltbar widerlegt. Dennoch forciert Gottsched seine These von einem wenigstens nicht unmöglichen natürlichen Einfluss, und zwar bemerkenswerter Weise unter Bezugnahme auf »die Leibnizschen Begriffe von Seele und Leib«, die immerhin einige »Muthmassungen« zur Möglichkeit dieser Konzeption erlaubten: Denn da die einfachen Substanzen, woraus die Materie der Körper besteht, eine bewegende Kraft besitzen, und gleichwohl, nach Leibnizens Meynung, auch eine Kraft haben, sich die Welt vorzustellen: So könnte ja auch eine Seele, als eine weit vollkommenere einfache Substanz, auch eine bewegende Kraft, oder Bemühungen ihren Ort zu ändern haben, die ihrer übrigen vorstellenden Kraft gemäß, das viel stärker wäre, als eines einzelnen Elements des Körpers.59

Nun hatte Leibniz allerdings sehr deutlich darauf hingewiesen, dass er – wie nach ihm Wolff – auf der Grundlage der Krafterhaltungsgesetze alle Theorien vom influxus physicus für unhaltbar erachtet:

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Ebd. Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und auch der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (Deutsche Metaphysik) (s. Anm. 29), § 762, S. 474f.. Gottsched: Erste Gründe der Gesamten Weltweisheit (Theoretischer Theil) (s. Anm. 15), § 642, S. 311.

Gottsched und Wolff

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Abgesehen davon, daß der physische Einfluß dieser beiden Substanzen aufeinander unerklärlich ist, bin ich mir klar geworden, daß ohne eine völlige Aufhebung der Naturgesetze die Seele auf den Körper nicht physisch wirken kann.60

Diesem Befund hatte er sein Modell der prästabilierten Harmonie entgegengesetzt, das er in der Monadologie in präziser Weise auf den Begriff brachte. Diesem System gemäß handeln die Körper, als ob es – vermöge einer unmöglichen Fiktion – keine Seelen gäbe, und die Seelen, als ob es keine Körper gäbe, und alle beide, als ob eines das andere beeinflußte.61

Gottsched dagegen argumentiert – unter eher taktischer Zitation Leibniz’ – weitgehend physiologisch, wenn er die von Descartes behauptete Beeinflussung der Bewegungen von Nervensäften durch die Seele als ebenso unwiderlegt wie unverstanden vorstellt. Das bisherige Unverständnis aber sei keineswegs ein hinreichender Beleg für ihre Unmöglichkeit: Begreift man sie [d.i. die Wirkung des Leibes in die Seele] noch nicht: So ist sie doch noch nicht wiederleget. Der Leib, und zumal das Gehirn, ist nicht umsonst so künstlich gebauet. Könnte aber die Seele alle Empfindungen auch ohne denselben haben: Wozu wäre ihr Leib dann nütze?62

In dieser, neurophysiologische und metaphysische Argumente verbindenden Passage entfernt sich Gottsched deutlich vom Leibniz-Wolffschen Rationalismus. Beide ›Lehrer‹ hatten den influxus physicus als widerlegt vorgestellt, während Gottsched mit Nachdruck an seiner Möglichkeit festhält; dennoch sucht er allfälliger Kritik vorzubauen, indem er seine Überlegungen als Hypothesen ausgibt: Doch gebe ich dieses alles nur vor bloße Muthmassungen aus, und lasse es dahin gestellt seyn, welche Meynung bey einem reifern Erkenntnisse der Seele und des Leibes mit der Zeit die Oberhand behalten wird.63

Die Bedeutung dieser Passagen zum commercium mentis et corporis für eine Theoriegeschichte des Wolffianismus kann nicht hoch genug veranschlagt werden. Mit überzeugenden Gründen bezeichnet sich Gottsched als Wolffianer und entwirft eine Einführung in die Philosophie des Rationalismus, die er in weiten Teilen auch tatsächlich realisiert. Auf wichtigen Problemfeldern einer Philosophie für die Welt jedoch zeigt sich Gottsched in der Lage, auf dem ontologischen und epistemologischen Fundament des Rationalismus Positionen einzunehmen, die den zeitgenössischen Tendenzen weitaus genauer entsprachen als ein strenger Wolffianismus. Es sind die sich im 18. Jahrhundert allmählich verstärkenden Einflüsse des brittischen Empirismus, die Gottsched an dieser Stelle aufzunehmen sucht. Nicht erst die Anthropologen der Spätaufklärung,64 sondern – wie Eric Watkins präzise nachweisen konnte65 – schon die Wolff-Schule setze 60 61 62 63 64

65

Gottfried Wilhelm Leibniz: Die Theodizee. Übersetzt von Artur Buchenau. Einführender Essay von Morris Stockhammer. Hamburg 21968, S. 135. Gottfried Wilhelm Leibniz: Die ›Monadologie‹, § 81. In: ders.: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Hg. von Ernst Cassirer. Bd. II. Hamburg 31966, S. 435–456; hier S. 454. Gottsched: Erste Gründe der Gesamten Weltweisheit (Theoretischer Theil) (s. Anm. 15), § 645, S. 312. Ebd. So aber die These von Wolfgang Riedel: Erster Psychologismus. Umbau des Seelenbegriffs in der deutschen Spätaufklärung. In: Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung: Anthropologie im 18. Jahrhundert. Hg. von Jörn Garber und Heinz Thoma. Tübingen 2004, S. 1–17. Vgl. erneut Watkins: Development of Physical Influx (s. Anm. 54), passim.

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sich intensiv mit den Möglichkeiten des influxus physicus auseinander.66 Die Reflexionsleistungen Gottscheds oder Knutzens legten allererst die Basis67 für jene intensivere Debatte um das commercium mentis et corporis im Rahmen der anthropologischen Fundamentaltheorie ab 1770.68

2.3. Principium rationis sufficientis und das principium contradictionis Auch im Hinblick auf eine der bedeutendsten Prämissenkonstellationen des Rationalismus lässt sich eine Abweichung Gottscheds von Wolff und ein ebenso deutlicher Bezug auf den in diesem Punkte substanziell abweichenden Leibniz nachzeichnen. Theoriegeschichtlich lässt sich somit eine Konstellation dokumentieren, nach der Wolff in systematisch grundlegender Weise Leibniz zu überbieten trachtet, während Gottsched – gegen Wolff – auf Leibniz zurückgreift. Schon oben hörten wir vom lichtvollen Lob des Königs bezüglich der – wie er sagte – Prinzipien des Widerspruchs und des zureichenden Grundes. Nun sind diese Grundsätze aber nicht irgendwelche Prinzipien innerhalb der Wolffschen Philosophie: Der Satz des Widerspruches und das principium rationis sufficientis sind durch die machtvollen Begründungen Leibniz’ – nach einer wechselvollen Geschichte übrigens seit Aristoteles69 – zu den beiden obersten Prinzipien des Denkens und Seins überhaupt erhoben worden; in der Monadologie heißt es: Unsre Vernunfterkenntnisse beruhen auf zwei großen Prinzipien: erstens auf dem des Widerspruches, kraft dessen wir alles als falsch bezeichnen, was einen Widerspruch einschließt, und als wahr alles das, was dem Falschen kontradiktorisch entgegengesetzt ist. Zweitens auf dem des zureichenden Grundes, kraft dessen wir annehmen, daß keine Tatsache wahr und existierend, keine Aussage richtig sein kann, ohne daß ein zureichender Grund vorliegt, weshalb es so und nicht anders ist, wenngleich diese Gründe in den meisten Fällen uns nicht bekannt sein mögen.70

Es ist in aller Klarheit zu erkennen, dass Leibniz – was in der Folge noch wichtig werden wird – keinerlei Ableitungsverhältnis zwischen seinen beiden Prinzipien behauptet, sondern ihnen offenkundig eine Gleichursprünglichkeit hinsichtlich ihrer Geltungsgründe zuschreibt. Erkennbar ist auch, dass die Kategorie des Grundes für Leibniz einen sowohl logischen als auch ontologischen Status innehat.71 Zudem lässt sich ersehen, dass für Leibniz die weitgehend empirisch 66 67

68

69

70 71

Vgl. hierzu auch Erdmann: Martin Knutzen und seine Zeit (s. Anm. 2), S. 79–83. Vgl. hierzu insbesondere Hans Poser: Gottsched und die Philosophie der Aufklärung. In: Gottsched-Tag. Wissenschaftliche Veranstaltung zum 300. Geburtstag von Johann Christoph Gottsched am 17. Februar 2000 in der Alten Handelsbörse in Leipzig. Hg. von Kurt Novak und Ludwig Stockinger. Stuttgart, Leipzig 2002, S. 51-70. Gideon Stiening: Ein ›Sistem‹ für den ›ganzen Menschen‹. Die Suche nach einer ›anthropologischen Wende‹ und das anthropologische Argument bei Johann Karl Wezel. In: Aufklärung durch Kritik. Festschrift für Manfred Baum. Hg. von Dieter Hüning, Karin Michel und Andreas Thomas. Berlin 2004, S. 113–139. Vgl. hierzu Gideon Stiening: ›Ein jedes Ding muß seinen Grund haben‹? Eberhards Version des Satzes vom zureichenden Grunde im Kontext der zeitgenössischen Kontroverse um das ›principium rationis sufficientis‹. In: Johann August Eberhard im Spannungsfeld der Spätaufklärung. Hg. von Hans-Joachim Kertscher und Ernst Stöckmann. Tübingen 2012 [i. D.]. Leibniz: Die ›Monadologie‹ (s. Anm. 61), §§ 32–33, S. 443. Vgl. hierzu auch Michael Wolff: Der Satz vom Grunde oder: Was ist philosophische Argumentation? In: Neue Hefte für Philosophie 26 (1986), S. 89–114.

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zu konstatierende Unkenntnis des Menschen in bezug auf die Gründe der Dinge – in ihrer Essenz und Existenz – kein Anlass ist, deren apriorische Unerforschlichkeit bzw. Unerkennbarkeit festzuschreiben oder zu postulieren. Vielmehr – und das wird erhebliche Auswirkungen auf die Naturforschung des 18. Jahrhunderts erhalten72 – ist eine aktuelle Unkenntnis prospektiv zu überwinden. Es sei nochmals ausdrücklich betont: Der Satz des Widerspruchs und der Satz vom zureichenden Grunde sind nicht irgendwelche Prinzipien, sie bilden das fundamentum inconcussum rationalistischen Philosophierens. Es muss als die besondere Leistung und die besondere Schwierigkeit der Philosophie Leibniz’ bezeichnet werden, diese Stellung beider Sätze erkannt, begründet und immer wieder öffentlich demonstriert zu haben.73 Michael Wolff konnte in seine Studie zum Satz des zureichenden Grundes bei Leibniz, Kant und Hegel zwar zeigen, dass das principium rationis sufficientis – wenn auch nicht abgeleitet oder indirekt bewiesen,74 so doch – in einem engen Begründungzusammenhang mit Leibniz’ analytischer Urteilstheorie steht, deren Grundsatz praedicatum inest subjecto sowohl für die Logik als auch für die Ontologie entscheidende Konsequenzen bereithält.75 Für die philosophischen Zeitgenossen des 18.Jahrhundert galt jedoch als ausgemacht, dass Leibniz für das principium rationis sufficientis keinerlei Beweis geliefert habe, weil er dies für unmöglich und unnötig gehalten habe. So heißt es im Artikel Zureichender Grund des Zedlerschen Universal-Lexikons aus dem Jahre 1750: Leibnitz selbst hat ihn [d.i. den Satz des zureichenden Grundes] nicht zu erweisen gesuchet; er meynte aber, daß die Erfahrung solchen ohne Unterlaß bekräfftige, und noch kein Exempel, alles Nachsuchens ohnerachtet, aufgestoßen wäre, wo es an einem zureichenden Grunde gefehlet hätte.76

Schon Christian Wolff hatte in seiner Ontologie von 1730 (21736) – allerdings kritisch – darauf hingewiesen, dass Leibniz dem »Prinzip des zureichenden Grundes ohne Erweis als Axiom« Geltung zugeschrieben habe, und dies, obwohl Samuel Clarke einen Beweis eingefordert habe: Er [d.i. Leibniz] berief sich nämlich auf eine in jedem Fall naheliegende Erfahrung und verneinte, daß ein Beispiel für das Gegenteil vorgebracht werden könne, wobei er passenderweise daran erinnerte, daß, auch wenn es Beispiele gebe, bei denen der zureichende Grund verborgen sei, es dennoch keines gebe, bei dem es nicht klar sei, daß ein Grund vorhanden sein müsse.77

72 73

74 75 76 77

Vgl. hierzu u. a. Johann Gottlob Krüger: Naturlehre. 3 Bde. Halle 1740–1750. Vgl. u. a. Gertrud Kahl-Furthmann: Der Satz vom zureichenden Grund von Leibniz bis Kant. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 30 (1976), S. 107–122 sowie Jürgen Mittelstraß: Neuzeit und Aufklärung. Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie. Berlin, New York 1970, S. 453–477. Zu einem zu Lebzeiten unpublizierten Deduktionsversuch durch Leibniz vgl. Röd: Die Philosophie der Neuzeit 2. Von Newton bis Rousseau (s. Anm. 2), S. 87f. Michael Wolff: Der Satz vom Grunde (s. Anm. 71), S. 92–97. [Art.] Zureichenden Grundes (Satz des). In: Großes, vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste. Hg. von Johann Heinrich Zedler. Bd. 64. Halle 1750, Sp. 395–430, hier Sp. 397f. Christian Wolff: Erste Philosophie oder Ontologie. Nach der wissenschaftlichen Methode behandelt, in der die Prinzipien der gesamten menschlichen Erkenntnis enthalten sind. §§ 1–78. Übersetzt und hg. von Dirk Effertz. Lateinisch-Deutsch. Hamburg 2005, § 75, S. 175.

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Auch Christian August Crusius betont, »daß er [d.i. Leibniz] sich nicht einmal unterstanden hat, diesen Satz zu erweisen«,78 und noch Johann August Eberhard macht im Jahre 1794 auf eine fehlende Deduktion bei Leibniz aufmerksam: »Leibnitz hat […] nie einen Beweis von dem Satzes des Grundes gegeben.«79 An dieser Frage der Beweisbarkeit bzw. beweisunabhängigen Axiomatik des Satzes vom zureichenden Grunde, die noch im Streit zwischen Kant und Eberhard von tragender Bedeutung sein wird,80 lassen sich einige grundlegende Differenzen zwischen Wolff und seinem ›Lehrer‹ Leibniz feststellen, die auf allgemeine Unterschiede zwischen den Begründungsprogrammen der Aufklärung im Hinblick auf die Rationalisierbarkeit des menschlichen Denkens und Handelns sowie der Welt überhaupt hindeuten. Gottsched wird in dieser philosophischen Problemlage eindeutig Position beziehen. Wolff ist nämlich gegen Leibniz der Ansicht, dass »das Prinzip des zureichenden Grundes […] erwiesen« werden könne. Er führt diese Ansicht in der Ontologie und – leicht abweichend im Beweisgang – in der Deutschen Metaphysik auch durch, und zwar anhand einer Ableitung des Satzes vom zureichenden Grunde aus dem als ursprüngliche Wahrheit gesetzten Satz des Widerspruchs. Diese – mißlingende – Deduktion81 Wolffs ist in der Forschung so häufig und so präzise rekonstruiert worden,82 dass sich eine ausführliche Betrachtung der Argumentation an dieser Stelle erübrigt. Als wichtigste argumentative Momente der Ableitung müssen gelten:

78

79 80 81 82

1.

die vorausgesetzten durch strenge Kontradiktion korrelierten Definitionen von Etwas und Nichts nach dem Satz des Widerspruchs und dem des ausgeschlossenen Dritten;

2.

die – unzulässige – Identifizierung des Nicht-Vorhandenseins eines Grundes für die Existenz eines Dinges bzw. die Wahrheit eines Satzes mit dem Nichts als Grund beider;

3.

die auf der Geltung des Satzes des Widerspruches basierende Anwendung der metaphysischen Maxime, a nihilo nihil fit, auf die These vom Nichts als Grund;

Christan August Crusius: Ausführliche Abhandlung von dem rechten Gebrauche und der Einschränkung des sogenannten Satzes vom zureichenden oder besser determinierenden Grunde. Aus dem Lateinischen des Hrn. M. Christian August Crusii […] Übersetzt und mit Anmerkungen nebst einem Anhange begleitet von Christian Friedrich Krausen. Leipzig 1744, S. 36. Johann August Eberhard: Kurzer Abriß der Metaphysik mit Rücksicht auf den gegenwärtigen Zustand der Philosophie. Halle 1794, S. 12. Vgl. hierzu u. a. Manfred Gawlina: Das Medusenhaupt der Kritik. Die Kontroverse zwischen Immanuel Kant und Johann August Eberhard. Berlin, New York 1996, S. 142–153. Wolff: Erste Philosophie oder Ontologie (s. Anm. 77), § 70, S. 151f. Vgl. hierzu Cassirer: Das Erkenntnisproblem (s. Anm. 2), Bd. II, S. 546f.; Röd: Die Philosophie der Neuzeit 2. Von Newton bis Rousseau (s. Anm. 2), S. 242–245; Hans-Jürgen Engfer: [Art.] Principium rationis sufficientis. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter und Karlfriedrich Gründer. Bd. 7. Basel 1989, Sp. 1325-1336, hier Sp. 1327f. Lothar Kreimendahl: Christian Wolff, Einleitende Abhandlung über Philosophie im allgemeinen (1728). In: ders.: Hauptwerke der Philosophie. Rationalismus und Empirismus. Stuttgart 1994, S. 215–246; Engfer: Empirismus versus Rationalismus? (s. Anm. 2), S. 281f. am präzisesten und vollständigsten Ludger Honnefelder: Scientia transcendens. Die formale Bestimmung der Seiendheit und Realität in der Metaphysik des Mittelalters und der Neuzeit. Hamburg 1990, S. 328–333, dort auch Angaben zur älteren Literatur; sowie letzthin Dirk Effertz: Einleitung. In: Christian Wolff: Erste Philosophie oder Ontologie. Nach der wissenschaftlichen Methode behandelt, in der die Prinzipien der gesamten menschlichen Erkenntnis enthalten sind. §§ 1–78. Übersetzt und hg. von Dirk Effertz. Lateinisch-Deutsch. Hamburg 2005, S. X–XXXI, hier S. XXIVf.

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4.

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die mit dem Nachweis der Unmöglichkeit des Nichts als Grund eines Dinges / einer Wahrheit erbrachte These von der Notwendigkeit eines Grundes in logischer und ontologischer Hinsicht für jedes Etwas.

Zusammenfassend resümiert Wolff das Ergebnis seines Apriorität beanspruchenden Beweises für die Geltung des principium rationis sufficientis mit der folgenden Definition: »Der Satz, daß nichts ohne zureichenden Grund ist, warum es eher ist als nicht, wird Prinzip des zureichenden Grundes genannt.«83 In der Deutschen Metaphysik, die eine neuerliche Ausführung der Prima Philosophia bietet, wird dieser Beweis im § 30 leicht modifiziert geboten. Zu Recht hat Dirk Effertz darauf aufmerksam gemacht, dass die Differenz zwischen beiden Beweisgängen darin besteht, dass »im ersten Fall […] dem Nichts die absurde Funktion einer causa efficiens zu[komme], im anderen Fall gleichsam die Funktion einer causa materialis«,84 wobei es zum Beweisgang gehört, beide Annahmen zurückzuweisen. Aus der These aber, dass das Nichts in keiner Form als Ursache fungieren könne, folgt keineswegs, dass etwas nicht grundlos sein könne. Diese Kritik wird sich Wolff schon früh – u. a. von Crusius – anhören müssen. Dennoch sind Wolff in diesem seinem Ansinnen einer lückenlosen Begründung des eigenen universellen Begründungsprogramms durch die Ableitung des principium rationis aus dem Satz des Widerspruchs eine Reihe von Schülern gefolgt, so Baumgarten, Bülffinger, Darjes, Reimarus, Mendelssohn und noch Platner und Eberhard.85 Selbst Kant, der hierin schon früh Crusius folgend diesem rationalistischen Ansinnen – man könnte auch von Spuk sprechen – ein Ende zu bereiten suchte, hat diese Deduktion in der Kritik der reinen Vernunft systematisch rekonstruiert. Nach ihm kann dem Satz des Grundes, der keineswegs vollständig negiert wird, jedoch jene universelle Stellung nicht zugeschrieben werden, die ihm Leibniz attestierte. Kants kritischer Argumentationsgang – auch gegen Eberhard – richtet sich aber vor allem gegen die Wolffsche Ableitung.86 Wolffs Beweisanstrengungen sind allerdings nicht rationalistischer Hybris geschuldet, sondern der strengen Notwendigkeit und daher dem Anspruch auf Nachweis einer Universalität des Satzes vom zureichenden Grunde. Ernst Cassirer hat diese systematisch erforderliche Intention des Wolffschen Rationalismus präzise herausgearbeitet: Wenn bei Wolff anfangs der Satz des Widerspruchs und der Satz vom Grunde als selbständige Wahrheiten einander gegenüberstehen, so drängt doch die Tendenz seines Systems immer stärker auf eine 83 84 85

86

Wolff: Erste Philosophie oder Ontologie (s. Anm. 77), § 71, S. 159. Effertz: Einleitung. In: Christian Wolff: Erste Philosophie oder Ontologie (s. Anm. 82), S. XXVII. Zu den erstgenannten Autoren vgl. Cassirer: Das Erkenntnisproblem (s. Anm. 2), Bd. II, S. 547 sowie Engfer: [Art.] Principium rationis sufficientis (s. Anm. 82), Sp. 1328; zu Platners Ableitung des principium rationis sufficientis aus dem Satz des Widerspruches vgl. Stiening: Platners Aufklärung (s. Anm. 8), S. 105– 138. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 811f.: »Daher sind auch alle Versuche, den Satz des zureichenden Grundes zu beweisen, nach dem allgemeinen Geständnisse der Kenner, vergeblich gewesen, und ehe die transzendentale Kritik auftrat, hat man lieber, da man diesen Grundsatz doch nicht verlassen konnte, sich trotzig auf den gesunden Menschenverstand berufen, (eine Zuflucht, die jederzeit beweist, daß die Sache der Vernunft verzweifelt ist,) als neue dogmatische Beweise versuchen zu wollen.«

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Gideon Stiening Aufhebung dieser fundamentalen Unterscheidung. Erst wenn es gelungen ist, das Prinzip der Tatsachenwahrheiten aus dem höchsten konstitutiven Grundsatz des Denkens überhaupt abzuleiten, scheint das Ziel des Rationalismus erreicht. Soll der Satz vom Grunde sich als notwendige Vernunftwahrheit behaupten, so muß sich zeigen lassen, daß seine Aufhebung einen Widerspruch einschließen würde.87

Wolffs Ableitung ist letztlich auch der Versuch, die spinozanische Gegenstandskategorie der causa sui wissenschaftsmethodisch einzuholen. Wo nun steht in dieser spätestens seit 1730 kontroversen Gemengelage um die Grundlagen des Rationalismus bzw. des philosophischen Argumentierens Johann Christoph Gottsched? In den §§ 213–218 der ersten Auflage der Gesamten Weltweisheit entwickelt er zunächst den Geltungsstatus jener beiden Sätze: Die menschliche Vernunft hat zwar eine Menge von Grundsätzen, die sie aus den deutlichen Begriffen der Dinge zieht: Allein der Hauptgründe gibt es eigentliche nicht mehr als zweene. Diese nennet man den Satz des Wiederspruches und den Satz des zureichenden Grundes. Jenen hat schon Aristoteles vor die erste Grund-Wahrheit erkannt; diesen letztern aber hat Leibniz zuerst unter die Zahl dieser ersten Gründe gesetzet; ohngeachtet seine Wahrheit so alt als die Vernunft selber ist.88

In der Folge werden dann die Gehalte der beiden Grundtheoreme ausgeführt und ihre unbezweifelbare Geltung postuliert. Von einer Ableitung aber des principium rationis sufficientis aus dem Satz des Widerspruchs ist nirgends die Rede. Vielmehr wird ganz im Sinne Leibniz’ das Gegenteil behauptet: Der Satz des zureichenden Grundes ist dieser: Alles, was ist, hat einen zureichenden Grund, warum es vielmehr ist als nicht ist. Dieser Wahrheit wird ebenfalls von allen Menschen vor bekannt angenommen; […]. Denn glaubte man, daß etwas ohne einen zureichenden Grund seyn könnte, so wäre es ja überflüssig und thöricht nach dem Grunde zu fragen, warum ein Ding so und nicht anders sey? Es bedarf also dieser Satz ebenfalls keines Beweises.89

In forschungspolitischer Hinsicht ist diese scheinbar so beiläufig formulierte These schlicht ein Skandal, konterkariert sie doch die kurz zuvor unternommenen Versuche des gepriesenen Lehrers Wolff, durch die Ableitung des principium rationis sufficientis aus dem Satz des Widerspruchs eine lückenlose Deduktion rationalistischen Argumentierens vorzulegen. Die weitere Geschichte dieser Auseinandersetzung um jene Frage des rationalen Verhältnisses beider Prinzipien kann die eminente Bedeutung jener Passage illustrieren. In diesem wesentlichen Punkte seiner rationalistischen Systematik ist Gottsched mithin ein Leibnizianer und kein Wolffianer; die in der Forschung lange Zeit übliche Formel von einer Leibniz-Wolffschen Schulphilosophie muss gerade im Hinblick auf die Frage des Verhältnisses der beiden Grundprinzipien des Rationalismus deutlich differenziert werden. Aber warum bezieht sich Gottsched auf den anfänglich eher marginalisierten Leibniz und nicht auf den hochgepriesenen Wolff? Offenbar steht Gottsched der Radikalisierung des rationalistischen Deduktivismus durch Wolff skeptischer gegenüber als die Bekundungen seines Anschlusses an den Lehrer erkennen lassen. Möglicherweise aber hatte er auch die petitio principii erkannt, der sich Wolff in seiner

87 88 89

So auch Cassirer: Das Erkenntnisproblem (s. Anm. 2), Bd. II, S. 546f. Gottsched: Erste Gründe der Gesamten Weltweisheit (Theoretischer Theil) (s. Anm. 15), § 213, S. 112. Ebd., § 216, S. 113; Hvhb. von mir.

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Ableitung schuldig machte.90 In jedem Falle fügt sich sein behutsamer Leibnizianismus in Prinzipienfragen zwanglos in seine Grundhaltung gegenüber Wolff ein, die schon Benno Erdmann dazu veranlasst, Gottsched als »selbständigeren Schüler Wolfs« zu bezeichnen.91

3. Gottscheds Dichtungstheorie und die Wolffsche Philosophie Seit der Studie Joachim Birkes aus dem Jahre 1966 gilt ein systematisch nachhaltiger Einfluss der Wolffschen Metaphysik auf die Dichtungstheorie Gottscheds als ausgemacht. Dabei sind es vor allem Grundbegriffe und Kategorien Gottscheds, die nach Birke auf eine Wolffianische Grundlegung der Poetik verwiesen.92 Noch Annabel Falkenhagen und Gunter E. Grimm schließen sich 2007 dieser These an, indem sie die Theorie der poetischen Wahrscheinlichkeit und die Kritik am Wunderbaren auf die uneingeschränkte Geltung und Anwendung der rationalistischen Grundprinzipien des Satzes vom auszuschließenden Widerspruch und des Satzes vom Grunde zurückführen.93 Tatsächlich lässt sich vor allem in wissenschaftsmethodologischer Hinsicht eine deutliche Anleihe Gottscheds bei Wolff feststellen, wenn er im Hinblick auf eine angemessen begründete Wissenschaft der schönen Künste die ausschließliche Zuständigkeit der Philosophie behauptet: Aus dem vorhergehenden aber schließe ich, daß wir die, zu einem wahren Dichter gehörigen Eigenschaften von denjenigen lernen müssen, die das innere Wesen der Poesie eingesehen, die Regeln der Vollkommenheit erforschet, daraus ihre Schönheiten entstehen, und also von allem, was sie an einem Gedichte loben und schelten, den gehörigen Grund anzuzeigen wissen. Wenn man ein gründliches Erkenntniß aller Dinge Philosophie nennet, so sieht ein jeder, daß niemand den rechten Charakter von einem Poeten wird geben können, als ein Philosoph.94

Diese Überlegung setzt eben jenen oben betrachteten Begriff von Philosophie voraus, den Wolff mit Wissenschaft überhaupt identifizierte und der allererst durch die Bestimmung der Gründe eines Dinges zu verwirklichen sei. Dennoch präzisiert Gottsched seine analytische Verbindung der Philosophie und der Wissenschaft der schönen Künste in spezifischer Weise: Nicht jeder Philosoph ist auch notwendig ein Literaturtheoretiker: Aber ein solcher Philosoph, der von der Poesie philosophiren kann; welches sich nicht bey allen findet, die jenen Namen sonst wohl gar verdienen. Nicht ein jeder hat Zeit und Gelegenheit gehabt, sich mit seinen philosophischen Untersuchungen zu den freyen Künsten zu wenden und da lange nachzugrübeln. Woher es komme, daß dieses schön und jenes häßlich sei, dieses wohl und jenes übel gefällt? Wer dieses aber weiß, der bekommt einen besondern Namen und heißt ein Kriticus: Dadurch verstehe ich nämlich nichts anders als einen gelehrten, der von den freyen Künsten philosophiren, 90 91 92 93

94

Vgl. hierzu abermals Cassirer: Das Erkenntnisproblem (s. Anm. 2), Bd. II, S. 547. Erdmann: Martin Knutzen und seine Zeit (s. Anm. 2), S. 79. Joachim Birke: Christian Wolffs Metaphysik und die zeitgenössische Literatur- und Musiktheorie. Gottsched, Scheibe, Mizler. Berlin 1966. Falkenhagen: Philosophischer Eklektizismus (s. Anm. 21), S. 348–353 sowie Gunter E. Grimm: Christian Wolff und die deutsche Literatur der Frühaufklärung. In: Christian Wolff und die europäische Aufklärung (s. Anm. 21), Teil 4, S. 221–245, spez. S. 227–229. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst, durchgehends mit den Exempeln unserer besten Dichter erläutert. Leipzig 41751, S. 95f.

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Gideon Stiening oder Grund anzeigen kann. […] Was uns nun dergleichen Kunstrichter, solche philosophischen Poeten oder poesieverständige Philosophen sagen werden, das wird wohl ohne Zweifel weit gründlicher sein und einen richtigern Begriff von einem wahren Dichter bei uns wecken, als was der große Haufe, nach einer betrüglichen Empfindung seines unbeständigen Geschmackes, zu loben oder zu tadeln pflegt.95

Zwar bezieht sich Gottsched in der hier zitierten vierten Auflage seiner Critischen Dichtkunst im Hinblick auf den Begriff des »Kriticus« explizit auf Shaftesburys Charakteristics of Men, dennoch ist die analytische Verknüpfung des Philosophen mit dem Auffinden des Grundes der Kunst unübersehbar der Wolffschen Schule zu verdanken. Und doch ist mit dieser Wolffianischen Wissenschaftsmethodologie keineswegs eine »Vergötterung der Vernunft« zu verbinden, wie Birke dies für Gottscheds Poetik behauptet.96 Vielmehr entspricht Gottsched schon in der ersten Auflage seiner Dichtkunst einem bis weit ins späte 18. Jahrhundert allgemein akzeptierten Wissenschaftsideal, das die szientifische Erkenntnis einer Sache allererst durch die begründete Auffindung ihrer Ursache realisiert sieht. Diesem schon aristotelischen Wissenschaftsverständnis hatte Wolff zu neuer Aktualität verholfen, ja er hatte es durch die Universalisierung des Grundprinzips radikalisiert.97 In seiner Weltweisheit hatte Gottsched die mehr von Spinoza als von Wolff propagierte Identität von Grund und Ursache vorausgesetzt und in der vom Rationalismus entworfenen Universalität ausgeführt: Einen Grund heißt dasjenige, woraus man begreiffen kann, warum etwas ist. […] Daher pflegt man auch zu sagen: daß alles seine Ursache haben müßte: Und das heißt eben soviel als: Aus nichts wird nichts.98

Damit ist in besonderem Maß der zur Wahrheit verpflichtete Wissenschaftler dazu aufgefordert die Gründe bzw. die Ursachen zu erforschen und damit das Wesen einer Sache zu bestimmen. Nun sieht Gottsched aber bemerkenswerter Weise den Grund von Essenz und Existenz der Dichtung und damit ihr Wesen nicht in den epistemologischen Vermögen der Menschen, wie dies u. a. für den Wolff-Schüler Baumgarten gilt, der auf der Grundlage einer gegenüber Wolff leicht modifizierten Erkenntnistheorie eine Ästhetik und – innerhalb dieser – eine Poetik entwirft.99 Baumgartens Ästhetik ist – entgegen neueren Versuchen der Einschreibung seiner Innovationen in die Geschichte einer materialistischen Anthropologie100 – grundlegend metaphysisch und epistemologisch fundiert und in diesem Sinne eine gültige Fortschreibung der Wolffianischen Philosophie.101 95 96 97

98 99 100 101

Ebd., S. 96. Birke: Christian Wolffs Metaphysik (s. Anm. 91), S. 45. Dass diese Universalisierung des Grundprinzips durchaus unaristotelisch ist, kann man der Metaphysik des Stagiriten entnehmen, wo es heißt: »Einige allerdings verlangen – aufgrund ihrer mangelhaften philosophischen Ausbildung –, auch dies [das Gesetz des ausgeschlossenen Widerspruchs] solle bewiesen werden. Denn es zeigt mangelhafte Ausbildung, wenn man nicht weiß, wofür man einen Beweis zu suchen hat und wofür nicht.« (Aristoteles: Metaphysik IV, 4, 1006a5–12). Gottsched: Erste Gründe der Gesamten Weltweisheit (Theoretischer Theil) (s. Anm. 15), § 217, S. 118f. Vgl. hierzu Gottlieb Alexander Baumgarten: Ästhetik. Übersetzt und hg. von Dagmar Mirbach. Lateinisch-deutsch. Bd. I. Hamburg 2007, S. 403–423 und S. 489–515. So Ernst Stöckmann: Anthropologische Ästhetik. Philosophie, Psychologie und ästhetische Theorie der Emotionen im Diskurs der Aufklärung. Tübingen 2009, S. 91–113. Vgl. hierzu u. a. Klaus Erich Kaehler: Baumgartens Metaphysik der Erkenntnis zwischen Leibniz und Kant. In: Aufklärung 20 (2008), S. 117–135.

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Gottscheds Wesensbestimmung der Dichtung dagegen ist unübersehbar nicht epistemologisch, sondern anthropologisch begründet. Schon im ersten Kapitel der Critischen Dichtkunst heißt es: Die Astronomie hat ihren Ursprung außer dem Menschen, in der sehr weit entlegenen Schönheit des Himmels: die Poesie hergegen hat ihren Grund im Menschen selbst und geht ihn also weit näher an. Sie hat ihre ersten Quelle in den Gemüthsneigungen des Menschen.102

Es sind mithin die Affekte des Menschen, die den genetischen Ursprung und systematischen Grund der Dichtung abgeben – eine zweifache Bestimmung, deren kategoriale Differenz von Gottsched nicht reflektiert wird, so dass er die Frage des Grundes der Dichtung durch genealogische Argumente beantworten kann. Auch in diesem, durchaus auf den Ursprungsbegriff Lockes zurückzuführende, gleichsam empiristische Modell rückt Gottsched von Wolff und Baumgarten ab.103 Diese deutliche Differenz zu einer rationalistischen Ästhetik und poetologischen Grundlegungsfragen hat ihren systematischen Hintergrund in Gottscheds Bemühen um eine Aktualisierung der aristotelischen Poetik. Deren implizite Affektenlehre und allgemeine Anthropologie hatte im Mimesisbegriff das Wesen der Dichtung aus der Natur des Menschen abgeleitet. Gottsched rekonstruiert mit seiner genealogischen Theorie der Dichtung, die sowohl in der affektiven Ausstattung des Menschen als auch in dem Triebe zur Naturnachahmung ihren Grund habe, diesen auf Aristoteles zurückzuführenden Zusammenhang: Bey dem allem ist nicht zu leugnen, daß nicht, nach dem Urtheile des großen Aristotels, das Hauptwerk der Poesie in der geschickten Nachahmung bestehe. Die Fabel selbst, die von andern als die Seele des Gedichts gehalten wird, ist nichts anders als eine Nachahmung der Natur […] Er [d.i. Aristoteles] hat das innere Wesen der Beredsamkeit und der Poeterey aufs gründlichste eingesehen, und alle Regeln, die er vorschreibet, gründen sich auf die unveränderliche Natur des Menschen, und auf die gesunde Vernunft.104

Ist ohne Zweifel die universelle Präsenz der wissenschaftsmethodischen Kategorie des Grundes in Gottscheds Poetik, ist auch die materiale Kategorie der Vollkommenheit und ihre Identifikation mit dem Begriff der Schönheit dem Einfluss Wolffs bzw. Leibnizens geschuldet, so zeigt diese aristotelische Anthropologisierung des Wesens der Dichtung die Grenzen des Gottschedschen Rationalismus mit Nachdruck auf.105 Das Innovationspotential seiner Dichtungstheorie darf und kann durch die Thesen von einem schlichten Wolffianismus106 bzw. einem unsystematischen Eklektizismus nicht übersehen werden; es scheint vielmehr Gottscheds Fähigkeit gewesen zu sein, den Wissenschaftsanspruch des Wolffschen Rationalismus mit den anthropologischen Errungenschaften, die von England aus über den Kontinent verbreitet wurden, für eine zugleich praxisnahe Dichtungstheorie vermittelt zu haben. Aristoteles, den schon Leibniz mit 102 103

104 105

106

Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 94), S. 67. Vgl. hierzu John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. Hg. von Reinhard Brandt. Hamburg 41981, S. 107–126, wo Locke über den empirischen Ursprung der menschlichen Vorstellungen reflektiert, der für ihn – nicht aber für Leibniz – mit der Frage dem logischen Grund identisch ist. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 94), S. 92 und S. 97; Hvhb. von mir. Die These von einer »sklavischen Abhängigkeit von Wolff« (Joachim Birke: Gottscheds Neuorientierung der deutschen Poetik an der Philosophie Wolffs. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 85 (1966), S. 560–575, hier S. 566) ist daher weder für die Metaphysik noch für die Dichtungstheorie zu halten. So aber das Urteil von Friedrich Gaede: Poetik und Logik. Zu den Grundlagen der literaturtheoretischen Entwicklung im 17. und 18. Jahrhundert. Bern, München 1978, S. 78.

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Locke verglich,107 dient hier nur als prominente Autorität. Gottscheds Erfolg bis in die 1750 Jahre dürfte in diesem anthropologisch erweiterten Wolffianismus einen ihrer entscheidenden Gründe gehabt haben.

107

Leibniz: Neue Abhandlung über den menschlichen Verstand (s. Anm. 19), S. 2.

FRANK GRUNERT

Anleitung zur Moral – mit und ohne Wolff Zur praktischen Philosophie von Johann Christoph Gottsched

1. Johann Christoph Gottsched gilt zwar, wie der Philosophiehistoriker Günter Gawlick vor gut zwanzig Jahren feststellte, »allgemein als eine Zentralfigur der deutschen Frühaufklärung«,1 dennoch ist es dem Leipziger Philosophieprofessor bisher nur sehr vereinzelt gelungen, das Interesse der Philosophie bzw. der Philosophiegeschichte auf sich zu ziehen. Vielmehr ist Gottsched – auch das hat Gawlick bei gleicher Gelegenheit konstatiert – »schon seit langem eine Domäne der Literaturwissenschaftler«,2 was zwar durch den literarischen Schwerpunkt von Gottscheds Œuvre gerechtfertigt sein mag, doch stellt dies noch keine zureichende Begründung für das philosophiegeschichtliche Desinteresse an dessen philosophischem Schaffen dar. Gottsched ist noch immer weit davon entfernt, in den Kreis der philosophiegeschichtlich kanonisierten Autoren aufgenommen zu werden – und man darf vermuten, dass dies vorderhand auch so bleiben wird,3 zumal Gottsched es in das unlängst erschienene Philosophenlexikon, das kompakte Informationen zu 276 »bedeutenden Denkern von der Antike bis zur Gegenwart«4 bietet, nicht geschafft hat. Immerhin widmet ihm Wolfgang Röd in Band acht seiner breit angelegten Geschichte der Philosophie etwas mehr als eine halbe, für die philosophische Wahrnehmung von 1

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Günter Gawlick: Johann Christoph Gottsched als Vermittler der französischen Aufklärung. In: Zentren der Aufklärung III. Leipzig. Aufklärung und Bürgerlichkeit. Hg. von Wolfgang Martens. Heidelberg 1990, S. 179-204, hier S. 179. Siehe auch Detlef Döring, der Gottsched als »einflußreichsten Vertreter der deutschen Aufklärungsphilosophie« bezeichnet: Detlef Döring: Johann Christoph Gottsched in Leipzig. Ausstellung in der Universitätsbibliothek Leipzig zum 300. Geburtstag von J. Chr. Gottsched. Stuttgart, Leipzig 2000, S. 57. Gawlick: Johann Christoph Gottsched als Vermittler der französischen Aufklärung (s. Anm. 1), S. 179f. So stellt Döring zu Recht fest, dass Gottscheds System »über den Tag und die Stunde hinaus keine Anziehungskraft auszuüben vermochte«. Döring: Johann Christoph Gottsched in Leipzig (s. Anm. 1), S. 57. Stefan Jordan und Burkhard Mojsisch: Einleitung. In: Philosophenlexikon. Hg. von dens. Stuttgart 2009, S. 5. Siehe dagegen die ausführliche Würdigung von Wolfgang F. Bender: [Art.] Gottsched, Johann Christoph. In: Killy Literatuexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. 2. vollständig überarbeitete Aufl. Hg. von Wilhelm Kühlmann. Bd. 4. Berlin 2009. S. 343–348. Obwohl es die Konzeption des Killy durchaus zugelassen hätte, sucht man an dieser Stelle vergeblich nach Ausführungen zu Gottscheds Philosophie, soweit diese jenseits der Ästhetik angesiedelt ist.

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Gottsched aber bezeichnende Seite. Gottsched wird hier als ein Philosoph vorgestellt, der »entscheidend von Wolff geprägt« sei. Er habe dabei manches »deutlicher hervorgehoben« als Wolff selbst, doch würden demgegenüber »charakteristische Auffassungen« der Wolffschen Philosophie »merkwürdig flüchtig abgehandelt«, was Röd vermutungshalber darauf zurückführt, dass Gottsched sich gescheut habe, Selbstverständlichkeiten mitzuteilen.5 Letzteres aber kann kaum der Fall sein. Wirft man nämlich einen auch nur flüchtigen Blick in Gottscheds philosophisches Hauptwerk, die Ersten Gründe der gesammten Weltweisheit, dann wird allzu rasch deutlich, dass Gottsched sich nicht im mindesten scheut, seine Leser mit Selbstverständlichkeiten und Gemeinplätzen zu bedienen, was sich in der praktischen Philosophie naheliegenderweise ganz besonders zeigt. Es müssen also andere, und das heißt entweder definitiv theoretische oder wenigstens diskursiv erklärbare Gründe dazu geführt haben, dass Gottsched einzelne Einsichten der Wolffschen Theorie anders gewichtet als ihr Urheber. Für Röd stellt sich dieses Problem freilich nicht, zumindest ist es ihm an dieser Stelle keiner weiteren Nachfrage wert. Das mag an den Beschränkungen liegen, die sich eine Philosophiegeschichte notwendigerweise auferlegen muss, kann aber auch mit der tatsächlichen bzw. der unterstellten philosophischen Dürftigkeit des in Rede stehenden Gegenstandes zusammenhängen. Wobei im gegebenen Fall erschwerend hinzu kommt, dass Gottsched den Anspruch philosophischer Originalität mit Nachdruck von sich weist. Gottsched ist Wolffianer und will nach eigener Auskunft in philosophicis auch nichts anderes sein. Und wenn er in der Folge als »Propagandist der Wolffschen Philosophie«6 wahrgenommen wurde, dann nicht zuletzt deswegen, weil er zum einen betont, erst durch die Werke des »Herrn Hofrath Wolf« das »wilde Meer widerwärtiger Meynungen« hinter sich gelassen und »festes Land«7 erreicht zu haben, und zum anderen beteuert, mit seinem philosophischen Hauptwerk kein »neues Gebäude der Weltweisheit aufführen«, sondern sich mit einer »Einleitung und Vorbereitung«8 für die Rezeption des Werkes von Christian Wolff bescheiden zu wollen. Den Rahmen, innerhalb dessen seine theoretischen Bemühungen wahrgenommen werden, hat Gottsched damit selbst hinlänglich definiert. Philosophiegeschichte braucht sich freilich von diesen Bekenntnissen nicht weiter beeindrucken zu lassen. Jenseits einer den historischen Blick verengenden Fixierung auf philosophische Originalität und systematischen Mehrwert wäre zunächst einfach die Tatsache ernst zu nehmen, dass Gottscheds Erste Gründe der gesammten Weltweisheit, sein in philosophischer Hinsicht zentrales Werk, von 1733 bis 1778 mit beachtlicher Regelmäßigkeit nicht weniger als acht Mal aufge5 6

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Wolfgang Röd: Die Philosophie der Neuzeit 2. Von Newton bis Rousseau. In: Geschichte der Philosophie. Hg. von dems. Bd. VIII. München 1984, S. 255. Werner Rieck: Johann Christoph Gottsched. Eine kritische Würdigung seines Werkes. Berlin 1972, S. 71. Siehe dazu auch Detlef Döring, der zusätzlich hervorhebt, dass Gottsched »nicht nur Propagandist der Wolffschen Philosophie« war, sondern auch ihr Verteidiger, und zwar »gegen alle, in der Zahl wahrlich nicht geringen Widersacher«. Detlef Döring: Johann Christoph Gottscheds Bedeutung für die deutsche Aufklärung. In: Lessing, kleine Welt – große Welt. Kamenz 2000, S. 143–164, hier S. 155. An anderer Stelle betont Döring: »Der Vertreter der ›Leibniz-Wolffschen Philosophie‹ schlechthin ist Johann Christoph Gottsched (1700–1766), in Leipzig und weit über die Grenzen dieser Stadt hinaus.« Detlef Döring: Der Wolffianismus in Leipzig. Anhänger und Gegner. In: Christian Wolff – seine Schule und seine Gegner. Hg. von Hans-Martin Gerlach. Hamburg 2001, S. 51–76, hier S. 62. Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit. Zweyte vermehrte und verbesserte Aufl. Leipzig 1736, [S. 12]. Ebd., [S. 8].

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legt wurde. Ein Umstand, der unmissverständlich darauf hindeutet, dass Gottscheds Handbuch – wie schon eine zeitgenössische Anzeige nach Erscheinen der sechsten Auflage bemerkte – auf den deutschen hohen Schulen und Gymnasien »keinen geringen Beyfall«9 gefunden hatte. Auch wenn sich diese Bemerkung in dem von Gottsched selbst herausgegebenen Periodikum Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit findet, also möglicherweise sogar aus Gottscheds eigener Feder stammt, so nimmt dies nichts von dem festgestellten Faktum: Die Ersten Gründe der gesammten Weltweisheit wurden von den Zeitgenossen ganz offenkundig wahrgenommen und zweifellos geschätzt.10 Allerdings markiert die Wortmeldung zugleich, dass der diskursive Ort dieser Wahrnehmung nicht auf den Kammlagen produktiver philosophischer Spekulation liegt, sondern eher in den Niederungen der Gelehrsamkeit, d. h. im Bereich der Propädeutik bzw. der populären Philosophievermittlung. Dies gibt bereits der Titel des Werkes zu erkennen, in dem darauf hingewiesen wird, dass das Handbuch »zum Gebrauche akademischer Lectionen entworfen« sei. Gottsched selbst hat dies auch verschiedentlich mit Nachdruck betont, etwa in der Vorrede zu den Ersten Gründen, oder in einer Replik auf »die Herren Verfasser der freyen Urtheile zu Hamburg«, wo Gottsched sich gegen »Ketzermachereyen« zur Wehr setzt und dabei besonderen Wert auf die Feststellung legt, dass sein Buch »nur für Anfänger geschrieben«11 sei. Eine philosophiegeschichtliche Beschäftigung mit dem philosophischen Werk Johann Christoph Gottscheds ist also allein schon seiner zeitgenössischen Wahrnehmung und Verbreitung wegen gerechtfertigt, freilich wird man deren Eigenart und Funktion nur dann richtig in den Blick bekommen, wenn man den diskursiven Ort berücksichtigt, an dem es eine Rolle spielen will. Das gilt für die praktische Philosophie möglicherweise in besonderem Maße, denn sie ist bei Gottsched – wie bei vielen anderen Autoren seiner Zeit – nicht elaborierte Philosophie über 9 10

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[Anon.:] Rez. Erste Gründe der gesammten Weltweisheit. In: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit (1755), S. 799. Vgl. dazu auch Carl Günther Ludovici, der in seinem Ausführlichen Entwurf einer vollständigen Historie der Wolffischen Philosophie diesen Eindruck bestätigt: »Mit was vor Begierde diese Schrifft sogleich aufgenommen worden sey, lässet sich auch nur bloß daher abnehmen, weil man gleich im darauf folgenden Jahre auf eine neue Auflage hat bedacht seyn müssen.« Carl Günther Ludovici: Ausführlichen Entwurf einer vollständigen Historie der Wolffischen Philosophie. 3. Aufl. Leipzig 1738. ND in: Christian Wolff: Gesammelte Werke. III. Abteilung. Materialien und Dokumente. Bd. 1, 1. Hildesheim, New York 1977, S. 156. Siehe auch im »anderen Theil« des Ausführlichen Entwurf einer vollständigen Historie der Wolffischen Philosophie. Leipzig 1738. ND in: Christian Wolff: Gesammelte Werke. III. Abteilung. Materialien und Dokumente. Bd. 1, 2. Hildesheim, New York 1977. S. 330. Ludovici macht hier darauf aufmerksam, dass Gottscheds Fähigkeit, »die verworrensten Sachen leicht und deutlich vorzutragen«, zur Verbreitung von Gottscheds Lehrbuch – auch außerhalb von Leipzig – beigetragen habe. Siehe außerdem Döring: Johann Christoph Gottscheds Bedeutung für die deutsche Aufklärung (s. Anm. 6), S. 154. Johann Christoph Gottsched: Schreiben an die Herren Verfasser der freyen Urtheile zu Hamburg. In: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit (1756), S. 512. Vgl. dazu die Briefe, die Johann Christian Schindel am 21. April und am 28. Oktober 1732 an Gottsched schrieb. Schindel, Gymnasialprofessor in Brieg, bekundet hier sein lebhaftes Interesse an den Ersten Gründen und kündigt an, sobald wie möglich einen »Versuch zu thun, wie ich damit der hiesigen Jugend möchte nutzbar seÿn können«. In: Johann Christoph Gottsched: Briefwechsel unter Einschluß des Briefwechsels von Luise Adelgunde Victorie Gottsched. Bd. 2. 1731–1733. Hg. und bearbeitet von Detlef Döring, Rüdiger Otto und Michael Schlott unter Mitarbeit von Franziska Menzel. Berlin, New York 2008, S. 203–206 und S. 320–322, hier S. 205. Vgl. dazu auch die Vorrede in: Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit. Zweyte vermehrte und verbesserte Aufl. Leipzig 1736, [S. 7].

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Praxis, sondern im Wesentlichen eine Anleitung zu einer bestimmten, nämlich tugendhaften Praxis.

2. Mit seinen Ersten Gründen der gesammten Weltweisheit wollte Gottsched ein Handbuch für den akademischen Unterricht schaffen, das dem Lehrzweck angemessen war. Es sollte knapper und handhabbarer sein als die Vernünftigen Gedanken von Christian Wolff und deutlicher als die 1726 erschienenen Institutiones Philosophiae Wolfianae des in Tübingen lehrenden Ludwig Philipp Thümmig, die Gottsched ungeachtet ihrer »fürchterlichen Rauhigkeit«12 früher seinen Vorlesungen zugrundegelegt hatte. Inhaltlich sollte sich das Ganze weiterhin an der Wolffschen Philosophie orientieren, die Gottsched als Quelle benennt, aus der er »sehr viel, wo nicht das meiste geschöpfet«13 habe. Wolffs Philosophie war ihm – wie er in der Vorrede zur ersten Auflage beschreibt – Rettung in höchster theoretischer Not. Nachdem er in Königsberg zunächst die aristotelische, dann die cartesische Philosophie studiert hatte, kam er mit Locke in Berührung und setzte in der praktischen Philosophie sein »Vertrauen auf die Thomasischen Schriften«, worüber er auch »gröstentheils ordentliche Collegia« gehört hatte. Er las Pufendorf, Grotius und Geulinx und wusste am Ende bei all »diesen so verschiedenen Ideen und Grundsätzen« nicht mehr, wohin er gehörte und mit wessen Meinungen er es halten sollte.14 Gottsched beschreibt damit im Grunde die perfekte Ausgangssituation für eine ordentliche, d. h. nichtsynkretistisch betriebene Eklektik, doch war diese für ihn offenbar keine Lösung, zumindest vorerst nicht. Im Augenblick freilich wies ihm die Begegnung mit Wolffs Deutscher Metaphysik den »sicheren Hafen«15 und verschaffte ihm genau die Gewissheit, die er zuvor vergeblich gesucht hatte. Gottsched hatte – wie er mitteilt – durch Fleiß und eigenes Nachdenken die großen Vorzüge der Wolffschen Philosophie begriffen und sah auch später – nach der fortgesetzten Lektüre anderer Philosophen – keinerlei Veranlassung, sein positives Urteil zu revidieren. Das Gefühl, mit Hilfe der Wolffschen Philosophie den Kontingenzen eines widersprüchlichen theoretischen Diskurses entronnen zu sein und damit auch für künftige Auseinandersetzungen festen Boden unter den Füssen zu haben, ist geblieben. Und dennoch sind – wie Gottsched bekennt – bei aller Verbundenheit mit der Philosophie Christian Wolffs »hier und da einige Puncte übrig geblieben, darinnen ich noch nicht völlig seiner Meynung habe beypflichten können.«16 Aus der Perspektive der Wolffschen Philosophie ist eine solche Abweichung aller12 13 14 15 16

Ebd., [S. 6]. Ebd., [S. 2]. Vgl. ebd., [S. 11]. Ebd., [S. 12]. Ebd. In der wolffianischen Geschichtsschreibung des Wolffianismus wurden Konsens und Dissens genau registriert. In Ludovicis Ausführlichem Entwurf einer vollständigen Historie der Wolffischen Philosophie (s. Anm. 10) wird Gottsched sowohl unter »fürnehmsten Wolffianer« (S. 343) als auch unter die »Widersacher der Wolffischen Weltweißheit« (S. 323) gerechnet, letzteres freilich mit dem einschränkenden Hinweis, dass Gottsched zu denjenigen »Widersachern« gehöre, die »nur einige Zweifel gegen einen und den andern Lehr-Satz Herrn Wolffens vorgebracht haben, und also nur in wenig Stücken von un-

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dings nicht ganz unproblematisch. Denn der »hochberühmte« »Herr Regierungsrath Wolf« war mit dem Anspruch auf eine formal und material richtige Philosophie angetreten und durchaus davon überzeugt, diesem Anspruch gerecht geworden zu sein. Seine als wahr ausgezeichnete formale Methode führt bei richtiger Anwendung geraden Weges zu wahren Urteilen, die »aus gewissen und unerschütterlichen Grundsätzen durch gültige Schlüsse«17 hergeleitet werden. Als Wahrheiten sind sie notwendigerweise mit allen anderen Wahrheiten verknüpft, so dass sich ein im Prinzip geschlossener Horizont von Wahrheiten bildet. Für Abweichungen, für »einige Puncte«, in denen man anderer Auffassung als Wolff selbst ist, bleibt da strenggenommen kein Raum, zumindest dann nicht, wenn alles methodisch mit rechten Dingen zugegangen ist. Abweichungen von der Auffassung Wolffs können daher genaugenommen, d. h. gemessen an dessen theoretischen Maßstäben, nur als Fehler qualifiziert werden. Gottsched macht sich die Rechtfertigung seiner selbstverschuldeten Mündigkeit denn auch nicht leicht, und zwar nicht nur in den Ersten Gründen, sondern auch noch sehr viel später, etwa in der 1755 erschienenen Historischen Lobschrift des weiland hoch- und wohlgebohrnen Herrn Christians, des H.R.R. Freyherrn von Wolf, wo Gottsched noch einmal mit Nachdruck darauf aufmerksam macht, dass er »in vielen Puncten von des sel. Hrn. Kanzlers [i.e. Christian Wolff, F.G.] abgewichen« sei und daher auch nicht als ein »recht geschworner Wolffianer« angesehen werden dürfe.18 In den Ersten Gründen hatte Gottsched für seine (Selbst-)Apologie als dissentierender Wolffianer bereits beinahe alle Topoi mobilisiert, die für das Selbstverständnis der (Früh-)Aufklärung charakteristisch sind. Er beschwört die Selbstständigkeit im Denken, warnt vor dem Vorurteil der Autorität, vor dem Rückfall in eine »sectirirsche Philosophie« und feiert die schon in Königsberg genossene »Freyheit zu philosophiren« als ein »so herrliches Vorrecht unserer Zeiten, daß man sich selbiges auf alle mögliche Weise muß unverletzt erhalten.«19 Weltweisheit sei an keine »Glaubensformeln« gebunden, vielmehr betreibe man sie nach eigenen Kräften und Einsichten, und die konstatierbaren Unterschiede in Erkenntnissen und Einschätzungen ergäben sich notwendigerweise aus unterschiedlichen Perspektiven: Je nach dem ob, »man eine Sache von dieser oder jener Seite ansieht«, werde man eben »so oder anders« über sie befinden.20 Ob Christian Wolff mit dem von Gottsched hier postulierten eklektischen Perspektivismus einverstanden war, darf wohl mit Fug bezweifelt werden, doch steht demgegenüber sicher außer Frage, dass ihm die Forderung nach Denkfreiheit durchaus nahe lag, hatte er doch der »Libertas philosophandi« in seinem Discursus praeliminaris de philosophia in genere ein ausführliches

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serm Philosophen abgehen, übrigens aber die Wolffischen Lehren sowohl als Lehr-Art annehmen, und sich solcher in ihren Schrifften öffentlich bedienen.« Christian Wolff: Discursus praeliminaris de philosophia in genere. Einleitende Abhandlung über die Philosophie im Allgemeinen. Übersetzt, eingeleitet und hg. von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl. Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, § 30. [Johann Christoph Gottsched:] Historische Lobschrift des weiland hoch- und wohlgebohrnen Herrn Christians, des H.R.R. Freyherrn von Wolf. Halle 1755. ND in: Christian Wolff: Biographie. In: Christian Wolff: Gesammelte Werke. I. Abteilung. Deutsche Schriften, Bd. 10. Hg. von Hans Werner Arndt. Hildesheim, New York 1980. Vorerinnerung, [unpag.]. Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit. Zweyte vermehrte und verbesserte Aufl. Leipzig 1736, [S. 13]. Ebd., [S.10].

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Kapitel gewidmet. Allerdings findet sich hier ein bezeichnender Unterschied, der den Adressat der Forderung betrifft: Wolffs Plädoyer für die »Freiheit des Philosophierens« als »Erlaubnis, seine Meinung über philosophische Gegenstände öffentlich vorzutragen«,21 ist in erster Linie an den Staat gerichtet, dem Denkfreiheit abverlangt wird, und zwar genaugenommen nur für eine Philosophie, die bestimmten Maßstäben genügt, d. h. für eine Philosophie, die nach »philosophischer Methode« betrieben wird. Dass im präzisen Sinne ausschließlich die Wolffsche Philosophie diesen Maßstäben genügt, wird von Wolff zwar nicht direkt behauptet, doch resultiert dies aus den strengen theoretischen Anforderungen, denen die Philosophie per definitionem unterworfen ist. Wolffs Eintreten für die Freiheit des Philosophierens ist damit – vielleicht nicht insgesamt, aber doch nicht zuletzt – ein Plädoyer in eigener Sache, was im Übrigen nach seiner 1723 erfolgten Vertreibung aus Halle auch verständlich sein mag.22 Gottsched greift den von Wolff selbst vertretenen und bereits Jahrzehnte zuvor im deutschen Kontext insbesondere von Christian Thomasius und seiner Schule stark propagierten Gedanken von der Denkfreiheit auf und richtet ihn gegen die Wolffsche Philosophie selbst, nämlich gegen ihre ausgreifenden und zum Dogmatismus neigenden methodischen Ansprüche. D. h. der bekennende Wolffianer Gottsched wendet ein in der frühaufklärerischen Diskussion übliches und auch von Wolff exponiertes Theorieelement auf dessen Philosophie an und arbeitet mit dieser Re-Flexion nicht nur tendenziell, sondern sogar prinzipiell gegen deren drohende oder gar bereits aktuell gewordene dogmatische Erstarrung. Gottsched will auf dem Boden der theoretische Sicherheit gewährenden Wolffschen Philosophie bleiben, doch will er sie gleichzeitig flexibilisieren, und das heißt: Er will sie für (neue) Anforderungen der Praxis einerseits und für eine erfolgreiche Vermittlung andererseits offenhalten. Selbstverständlich will er dies nicht explizit, doch weil es zwischen offen und geschlossen kein vermittelndes Drittes gibt, ist dieser Schritt einigermaßen radikal. Ob er gelingt oder auch nur gelingen kann, steht angesichts der tatsächlichen oder auch nur prätendierten theoretischen Ableitungsdichte der von Wolff gebotenen Einzelurteile freilich auf einem anderen Blatt.

3. Anhand der Vorrede der 1734 erschienenen ersten Auflage des »Practischen Theils« der Ersten Gründe lässt sich zeigen, dass Gottsched mit seinen Flexibilisierungsbemühungen freilich erstaunlich weit geht. Die Vorrede beginnt genaugenommen mit einer philosophischen Dequalifizierung der Wolffschen Ethik im Gewande ihres höchsten Lobes. Mit Blick auf Wolffs Ethik führt Gottsched aus: Man könne sich deswegen »in diesem Stücke« – d. h. auf ethischem Gebiet – »nichts besseres wünschen«, denn Wolff gelänge es, »alles dasjenige, was die Alten von der 21 22

Wolff: Discursus praeliminaris de philosophia in genere (s. Anm. 17), § 166. Siehe dazu zuletzt die einschlägigen Beiträge in: Christian Wolff und die europäische Aufklärung. Akten des 1. Internationalen Christian-Wolff-Kongresses. Hg. von Jürgen Stolzenberg und Oliver-Pierre Rudolph. Teil 5. Hildesheim, Zürich 2010. Insbesondere: John Holloran: Wolff in Halle – Banishment and Return. In: ebd., S. 365–375; Barbara Mahlmann-Bauer: Wolffs Hochschulpolitik. Institutionengeschichtliche Hintergründe von Wolffs Vertreibung aus Halle. In: ebd., S. 319–363 sowie Wilhelm Schmidt-Biggemann: Metaphysik als Provokation. Christian Wolffs Philosophie in der Ideenpolitik der Frühaufklärung. In: ebd., S. 303–317.

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Tugendlehre zerstreut und ohne Ordnung vorgetragen hatten, in ein recht systematisches Werk«23 zusammenzufassen und miteinander zu verknüpfen. Wolffs originäre Leistung besteht hier nicht in der Formulierung und Begründung einer neuen moralischen Regel, sondern eigentlich nur in der Systematisierung von bereits vorgefundenen, seit der Antike tradierten Lehren. Und es hat den Anschein, als könne es dabei auch sein bewenden haben, denn »nichts ist so alt« – und man könnte hinzufügen: Nichts ist so gültig – wie »die Wahrheit, so die Lehren guter Sitten in sich fasset.«24 So kündigt Gottsched an, dass der praktische Teil seiner Weltweisheit einen »Auszug aus den Sittenlehren der Alten, von allerley Secten« bieten wird, und zwar »in so weit sich dieselben in ein ordentlich verknüpftes Lehrbuch haben bringen lassen.«25 Dabei sollen sokratische Lehren mit aristotelischen, stoischen und sogar mit epikuräischen Grundsätzen in eine »gewisse Harmonie gebracht«26 werden. Gottscheds Unternehmen hat seinem Anspruch nach weniger einen durchgeführten philosophischen, als vielmehr einen im weiteren Sinne pädagogischen, d. h. unmittelbar praktisch relevanten aufklärerischen Charakter. In der Sittenlehre geht es eben nicht um eine »lange Speculation«, sondern um eine »lebendige Erkenntniß«,27 die sich unmittelbar auf den Willen des Menschen und seine Handlungen auswirkt. Moralische Bücher, die ihre Leser nur gelehrt, »nicht aber tugendhaft und« – wie Gottsched ausdrücklich hinzufügt – »fromm«28 machen, hält er schlicht für eine Torheit. Um diesem pädagogischen, um nicht zu sagen, erbaulichen Anspruch gerecht zu werden, muss oder will Gottsched gegen die Vorbehalte »scharfer Methodisten«29 seine Lehrart eingängig und angenehm machen. Er will – wie er betont – seine Leser »rühren«.30 Dieses pädagogische Ziel darf dann im Ernstfall sogar auf Kosten der im Prinzip erkannten und gewussten philosophischen Erkenntnisse gehen. Wenn jemand – und das wird explizit als Beispiel für eine kalkulierte philosophische Lässlichkeit angeführt – »unbedingt nach thomasischer Art die Pflichten der Gerechtigkeit, der Ehrbarkeit und des Wohlstandes unterscheiden wollte«, so will ihm Gottsched gerne seinen Willen lassen, und zwar ungeachtet der Tatsache, dass er Thomasius’ Einteilung theoretisch für »ganz unbegründet«31 hält. Aus der Perspektive der Wolffschen Philosophie ist die Rede vom Unbegründeten im gegebenen Kontext theoretisch nicht zu rechtfertigen, in diesseitigen Zusammenhängen ist Unbegründetes allenfalls Gegenstand der Dichtung, nicht aber der Philosophie, so dass – philosophisch gesehen – Unbegründetes eigentlich nicht diskursfähig ist. Nun geht Gottsched natürlich nicht so weit, etwas zu behaupten, was er selbst für unrichtig hält, doch ist er wenigstens im gegebenen Zusammenhang und in gewissen Grenzen bereit, strenggenommen – d. h. wolffianisch genommen – Unrichtiges gelten zu lassen. Denn er will bei auftretenden Differenzen »einem jeden seine Lehrart ungetadelt« lassen,

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Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit. Zweyte vermehrte und verbesserte Aufl. (Practischer Theil). Leipzig 1736, [S. 2]. Ebd. Ebd., [S. 3]. Ebd. Ebd., [S. 6f.]. Ebd., [S. 7]. Ebd., [S. 8]. Ebd. Ebd., [S. 10].

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und zwar deswegen, »weil eine jede in gewissen Absichten ihren Nutzen haben kann.«32 Dass mit »Lehrart« hier kein formales Moment der Vermittlung und der Präsentation von philosophischen Erkenntnissen gemeint ist, zeigt das angeführte Beispiel aus der Naturrechtsdiskussion. Die Textstelle ist deswegen markant, weil hier im Kontext der Erörterung von Vermittlungsfragen der praktischen Philosophie die Inhalte ihrer Vermittlung in einer Weise pragmatisch untergeordnet werden, dass ihr propositionaler Gehalt am Ende nicht unberührt bleibt. Zugunsten von Vermittlungserfolgen hält Gottsched dies im Bereich der praktischen Philosophie offenbar für unproblematisch – als hätte die Auseinandersetzung mit Fragen der Moral schon für sich genommen und unabhängig vom Wahrheitsgehalt der verhandelten Auffassungen einen positiven moralisierenden Effekt. In zugespitzter Formulierung würde das bedeuten, dass es – freilich im Rahmen der abendländischen Tradition – gleichgültig sei, was jemand aufgrund welcher, wie auch immer erworbenen Einsichten für normativ richtig hält, Hauptsache er oder sie ist oder wird tugendhaft, wobei das ehrliche Bemühen um Tugend im Grunde schon genügt. Auch wenn man Gottsched zugute halten muss, dass er letztendlich über die akademische Propädeutik auf eine umfassende Popularisierung der Philosophie zielte, geht er nicht nur an dieser Stelle doch recht weit. Diese Einlassungen in der Vorrede zu den Ersten Gründen der gesammten Weltweisheit und vor allem die daraus gezogenen Folgerungen stehen freilich in Kontrast zu geradezu orthodox wolffianischen Ausführungen im eigentlichen Text. So lässt die Definition von Wissenschaft keinen Zweifel daran, dass ein Weltweiser sich nicht mit bloßen Wahrscheinlichkeiten und erst recht nicht mit theoretischen Fragwürdigkeiten zufrieden gibt. Die »wahre Weltweisheit« – so stellt Gottsched im Einklang mit Wolff fest – gründet nicht auf den »ungewissen Meynungen neuer oder alter Weltweisen; sondern auf die gründlichsten Vernunftschlüsse, und auf ungezweifelte Erfahrungen, daraus man ihre Lehren ganz augenscheinlich erweisen kann.«33 Dieser betonten Nähe zu Wolff steht allerdings entgegen, dass Gottsched in einer 1728 in Leipzig gehaltenen Akademischen Rede zum Lobe der Weltweisheit frühaufklärerische Vorstellungen entwickelt, die man eher mit dem thomasianischen Umfeld assoziiert als mit typisch Wolffschem Gedankengut. Ein explizites Bekenntnis zu Christian Wolff und seiner Methode fehlt hier bezeichnenderweise. Dagegen ist in eklektischem Gestus34 davon die Rede, dass die Wahrheit »vielfältig und unter viele vertheilet« sei: »sie stecket nicht in einem Winkel der Welt verborgen, sondern streuet, wie die Sonne, ihren Glanz über die ganze Fläche des Erdbodens aus.«35 Es sei daher wichtig, dass man viele Schriften lese, viele Weltweise höre, mancherlei Sekten durchforsche und Altes und Neues, Einheimisches und Auswärtiges untersuche. Um den »heitern Tempel der Weltweisheit« zu erreichen, habe man »mehr als einen Anführer nöthig.«36 Die hier dokumentierte Distanz zur 32 33 34

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Ebd. Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit. In: Ders.: Ausgewählte Werke. Hg. von Phillip M. Mitchell. Bd. V/1. Hg. von Phillip M. Mitchell. Berlin, New York 1983, S. 123. Vgl. dazu Werner Schneiders, der Gottsched im Kontext der Eklektik als »Wolffianer unter den Eklektikern« bezeichnet und in seinem Wirken den Anfang einer »neuen, von Wolff beeinflußten Eklektik« sieht. Werner Schneiders: Hoffnung auf Vernunft. Aufklärungsphilosophie in Deutschland. Hamburg 1990, S. 137. Johann Christoph Gottsched: Akademische Rede zum Lobe der Weltweisheit. In: Ders.: Ausgewählte Werke. Hg. von Phillip M. Mitchell. Bd. IX/2. Hg. von Rosemary Scholl. Berlin, New York 1976, S. 408. Ebd., S. 405.

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Wolffschen Philosophie, die als systematische mit der an dieser Stelle propagierten Eklektik nichts zu schaffen hat,37 ist geradezu mit den Händen zu greifen – und dies zwar fünf Jahre vor dem Erscheinen der Ersten Gründe, aber auch drei Jahre nachdem Gottsched zu Ostern 1725 damit begonnenen hatte, »auf den Leipziger Lehrkathedern Leibnizisches und Wolffisches Gedankengut zu vermitteln.«38 Hinzu kommt, dass bei einer Aufzählung von vortrefflichen Gelehrten des eigenen Vaterlandes Sturm, Tschirnhaus, Pufendorf, Thomasius, Leibniz, Museus, Olearius und Gundling genannt werden, doch der Name Christian Wolff geradezu ostentativ fehlt. Der auf den ersten Blick naheliegende Grund, hier würden eben nur Gelehrte aufgezählt, die entweder gebürtige Sachsen waren oder wenigstens lange in Sachsen gewirkt haben, wird von einem zweiten Blick nicht bestätigt. Die Gründe für diese als implizite Distanzierung lesbare Nicht-Erwähnung mögen in den Vorbehalten zu suchen sein, mit denen man in Leipzig der Philosophie Christian Wolffs – vor allem von theologischer Seite her – begegnete.39 Da mochte es wissenschaftspolitisch, d. h. karrieretechnisch günstiger gewesen sein, sich dem philosophisch-methodischen Impetus nach eher in die Nähe des inzwischen unverdächtigen Christian Thomasius bzw. seiner Anhänger zu stellen.40 Andererseits greift die Vermutung einer bloß strategischen Maßnahme sicher zu kurz, dazu sind die durchaus an markanten Stellen vorgenommenen Abweichungen von der Wolffschen Philosophie zu prominent. Insofern dürfte sich der Eindruck bestätigen lassen, dass Gottsched auf der theoretischen Basis, die ihm der Wolffsche Szientismus bot, seine Philosophie zusätzlich an Motiven orientierte, die er – geradezu zeitüblich – aus dem Praktizismus eines Christian Thomasius41 beziehen konnte, nicht umsonst wurde in der Literatur gelegentlich auf diese Verbindung der beiden theoretisch nicht so ohne weiteres vermittelbaren Ansätze hingewiesen.42 Dass sie in der praktischen Philosophie insbesondere zum Tragen kommt, liegt auf der Hand. 37

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Vgl. zum Umgang Wolffs mit der Eklektik das Kapitel »Wolff hat Eklektik nicht nötig« in: Michael Albrecht: Eklektik. Eine Begriffsgeschichte mit Hinweisen auf die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, S. 526–538. Detlef Döring: Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz’ und die Leipziger Aufklärung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Stuttgart, Leipzig 1999, S. 61. Vgl. auch Johann Christoph Gottsched: Fortgesetzte Nachricht von des Verfassers eignen Schriften, bis zum 1745sten Jahre. In: Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Praktischer Theil). In: Ders.: Ausgewählte Werke. Hg. von Phillip M. Mitchell. Bd. V/2. Hg. von Phillip M. Mitchell. Berlin, New York 1983, S. 14. Vgl. dazu ausführlich Döring: Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz’ und die Leipziger Aufklärung (s. Anm. 38), S. 44-54, sowie ders.: Der Wolffianismus in Leipzig. Anhänger und Gegner (s. Anm. 6), S. 51–75, mit Blick auf Gottsched vgl. S. 68f. Für die Zeit zwischen 1740 und 1745 siehe Martin Mulsow: Freigeister im Gottsched-Kreis. Wolffianismus, studentische Aktivitäten und Religionskritik in Leipzig 1740–1745. Göttingen 2007. Vgl. zur Philosophie in Leipzig Detlef Döring: Philosophie. In: Erleuchtung der Welt. Sachsen und der Beginn der modernen Wissenschaften. Hg. von Detlef Döring und Cecilie Hollberg, unter Mitarbeit von Tobias U. Müller. Dresden 2010, S. 210–217. Siehe dazu Frank Grunert: Die Pragmatisierung der Gelehrsamkeit. Zum Gelehrsamkeitskonzept von Christian Thomasius und im Thomasianismus. In: Kultur der Kommunikation. Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter von Leibniz und Lessing. Hg. von Ulrich Johannes Schneider. Wiesbaden 2005, S. 131–153. Vgl. Max Wundt: Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung. Tübingen 21945. ND Hildesheim, Zürich, New York 1992, S. 216. Werner Schneiders: Vernunft im Zeitalter der Vernunft. In: ders.: Philosophie der Aufklärung – Aufklärung der Philosophie. Gesammelte Studien. Zu seinem 70. Geburtstag hg. von Frank Grunert. Berlin 2005, S. 271–295, hier S. 291. Döring: Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leib-

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4. Eine bemerkenswerte Differenz zur Philosophie Christian Wolffs markiert bereits der erste Satz in Gottscheds Ersten Gründen. In der Einleitung zur Weltweisheit überhaupt, die als Präliminarie dem ersten Teil der theoretischen Weltweisheit vorgeschaltet ist, heißt es nämlich: »Weisheit überhaupt ist eine Wissenschaft der Glückseligkeit; wie Leibnitz dieselbe zuerst beschrieben hat.«43 Interessant ist dieser erste Satz deshalb, weil Gottsched hier explizit die Herkunft seines Weisheitsbzw. seines Philosophiebegriffs benennt, und dabei einen sich anbietenden Verweis auf Wolff unterlässt und stattdessen auf Gottfried Wilhelm Leibniz rekurriert. Dies mag auf den ersten Blick und für sich genommen noch einigermaßen undramatisch erscheinen, zumal die Formulierung, Leibniz habe »zuerst« die Weisheit als Wissenschaft der Glückseligkeit beschrieben, Wolff als Nachfolger dieses Gedankens nicht ausschließt. In der Tat hatte Wolff in seiner 1720 erschienenen Deutschen Ethik Weisheit als »Wissenschafft der Glückseligkeit« definiert und dabei zu Recht bemerkt, dass sein eigener Begriff von Weisheit dem von Leibniz exponierten Terminus »nicht zuwieder«44 sei. Gottsched hätte also – zumindest auf den ersten Blick – seine Überlegungen zur Weisheit ebenso gut auf der Grundlage von Wolffs Vorgaben anstellen können.45 Doch genau dies tut er nicht, er übergeht Wolff und setzt, indem er sich auf Leibniz bezieht, ein unübersehbares Signal, das er in der Fortgesetzten Nachricht von des Verfassers eignen Schriften noch einmal bekräftigt: »Gleich anfangs nahm ich anstatt der wolfischen Definition der Philosophie, die leibnitzische, als einen weit fruchtbarern und praktischern Begriff von der Weltweisheit überhaupt, an.«46 Wolff selbst hatte seinerseits – wenngleich eher undeutlich als klar – eine Differenz zwischen dem eigenen Begriff von Weisheit und dem Philosophiebegriff von Leibniz benannt, doch macht sich Gottsched diesen Hinweis nicht zu Nutze.47 Ihm geht es unter der tatsächlichen – oder auch nur vorgeblichen – Anleitung von Leibniz um eine dezidiert praktische Perspektivierung der Philosophie, die, ohne auf die Potenziale von Wolffs Weisheitsbegriff einzugehen, vergleichsweise pointiert von dessen intellektualistisch interpretiertem Philosophiebegriff abgegrenzt wird. Leibniz’ Bestimmung der Weisheit als Wissenschaft der Glückseligkeit kam ihm dabei insofern gelegen, als mit der Glückseligkeit hier – zumindest nach

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niz’ und die Leipziger Aufklärung (s. Anm. 38), S. 65. Mulsow: Freigeister im Gottsched-Kreis (s. Anm. 39), S. 18. Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit, in: Ausgewählte Werke, Bd. V/1 (s. Anm. 33), S. 122. Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit. 4. Aufl. 1733. ND in: Christian Wolff: Gesammelte Werke. I. Abteilung. Deutsche Schriften. Bd. 4. Hildesheim, Zürich, New York 1996, S. 215. Vgl. zu den Weisheitsbegriffen von Leibniz und Wolff: Clemenes Schwaiger: Das Problem des Glücks im Denken Christian Wolffs. Eine quellen-, begriffs- und entwicklungsgeschichtliche Studie zu Schlüsselbegriffen seiner Ethik. Stuttgart-Bad Cannstatt 2005, S. 188–197. Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Praktischer Theil) (s. Anm. 38), Fortgesetzte Nachricht, S. 42. Wolff betont, in der Deutschen Ethik doch »lieber« seinen eigenen Begriff von Weisheit verwenden zu wollen: Trotz der bestehenden und auch eingeräumten semantischen Ähnlichkeiten will er deswegen nicht auf den von Leibniz exponierten Weisheitsbegriff zurückgreifen, weil sein eigener »mehr Deutlichkeit« habe und daher »ein geschickterer Grund« sei, »dasjenige zu erweisen, was wir von der Weißheit lehren«. Siehe Wolff: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen (s. Anm. 44), S. 215.

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der von Gottsched präferierten Lesart – ein praktisches Motiv benannt wird, das zum definiens der als Weltweisheit aufgefassten Philosophie wird, denn »alle philosophischen Wissenschaften« sind nach Gottsched »auf die Beförderung der menschlichen Glückseligkeit«48 gerichtet, was Wolff – ungeachtet seines theoriebetonten Philosophiebegriffs – übrigens gar nicht bestreiten würde.49 Hintergrund dieser Operation ist die vergleichsweise deutliche Kritik an Wolffs Definition der Philosophie als »Wissenschaft aller möglichen Dinge, wie und warum sie möglich sind.«50 Gottsched hatte verschiedentlich den intellektualistischen, spekulativ vereinseitigten Philosophiebegriff von Wolff bemängelt, etwa in der Vorrede zur zweiten, 1736 erschienenen Auflage der Ersten Gründe oder in der bereits angeführten Fortgesetzten Nachricht, die der siebten Auflage von 1762 vorangestellt wurde. Zwar betont Gottsched in der Vorrede, dass er den von Christian Wolff exponierten Philosophiebegriff nicht für falsch hält, doch – so wendet er gegen Wolff ein – sei es ihm »vorgekommen, daß die Wissenschaft aller möglichen Dinge, wie und warum sie möglich sind, dem ersten Ansehen nach, einen viel zu speculativen und bloß theoretischen Begriff von der Weltweisheit gebe«. Aus der fiktiv eingenommenen Perspektive eines möglichen Rezipienten formuliert Gottsched dessen »Ekel vor einer gar zu speculativen Erkenntniß«: »Soll ich denn bloß von der Möglichkeit der Dinge (so denken die meisten, die denselben hören oder lesen) subtile Vernünfteleyen in der Philosophie antreffen? Soll ich nur Hirngespinste machen, und Luftschlösser bauen lernen? Was wird mir eine solche Philosophie in der Welt, in den Geschäften, und im gemeinen Leben nützen? Man braucht seine Zeit nöthiger, und kann sie nützlicher anwenden, wenn man sich mit allen diesen Spitzfindigkeiten zufrieden giebt, und davor was brauchbares lernet.«51 Auch wenn diese Vorbehalte – und davon gibt sich Gottsched überzeugt – in letzter Konsequenz ausgeräumt werden könnten, so hält er es zur Vermeidung unnötiger Mühen doch für besser, »wenn man sich, zumal in einem solchen Handbuche, als dieses ist, nach dem Zustande seiner Zuhörer richtet« und daher – »nach dem Exempel vieler Alten« – die allen Menschen angeborene »Begierde glücklich zu werden« zur Grundlage der eigenen Philosophie macht, was schließlich alle Versuche begünstigt, »etliche zu gewinnen.«52 48 49

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Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Praktischer Theil) (s. Anm. 38), Fortgesetzte Nachricht, S. 42f. Weswegen Clemens Schwaiger, ohne den von Gottsched selbst betriebenen Rechtfertigungsaufwand hinreichend zu würdigen, vor einer Überstrapazierung des bestehenden Unterschieds warnt: Schwaiger: Das Problem des Glücks im Denken Christian Wolffs (s. Anm. 45), S. 196. Siehe dagegen Gawlick: Johann Christoph Gottsched als Vermittler der französischen Aufklärung (s. Anm. 1), S. 193. Christian Wolff: Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauch in Erkäntniss der Wahrheit. In: Ders.: Gesammelte Werke. I. Abteilung. Deutsche Schiften. Hildesheim, New York 1978, S. 115. Sowie ders.: Discursus praeliminaris de philosophia in genere (s. Anm. 17), § 29. Vgl. zu Wolffs Philosophiebegriff ausführlich: Werner Schneiders: Deus est philosophus absolute summus. Über Christian Wolffs Philosophie und Philosophiebegriff. In: Christian Wolff 1679–1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung. Mit einer Bibliographie der Wolff-Literatur. Hg. von W. Schneiders. Hamburg 1983. S. 9–30. Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit. Zweyte vermehrte und verbesserte Aufl. Leipzig 1736. [S.14]. Siehe auch Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Praktischer Theil) (s. Anm. 38), Fortgesetzte Nachricht, S. 42f. Ebd., [S. 15].

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Die Tragweite der von Gottsched vorgenommenen definitorischen Entscheidung gibt sich erst dann richtig zu erkennen, wenn man die weitergehenden Annahmen in den Blick nimmt, die Gottsched anfügt, zumal dann nicht nur eine relative Entfernung von Wolff, sondern zusätzlich eine Distanzierung von Leibniz sichtbar wird. Bereits der zweite Satz in der Einleitung zur Weltweisheit überhaupt macht deutlich, dass Gottsched gewillt ist, andere, wenn auch nicht eigenständige, Akzente zu setzen, es heißt dort: »Wer diese Weisheit unter uns Menschen besitzt, so daß er sich nicht nur glücklich zu machen weis, sondern es auch wirklich thut, der heißt ein Weiser.«53 »Weltweisheit« nun, um deren Darstellung es Gottsched geht, ist Weisheit im verkleinerten Maßstab, d. h. sie ist Weisheit unter den irdischen Bedingungen der Endlichkeit: »Die Weltweisheit« – so definiert Gottsched in § 3 – »nenne ich eben die Wissenschaft von der Glückseligkeit des Menschen; in so weit wir sie nach dem Maaße unserer Vollkommenheit, erlangen und ausüben können. Sie ist also nichts anderes, als eine unvollkommene Weisheit«. Der Begriff ›Weltweisheit‹, und damit der Begriff ›Philosophie‹,54 wird hier tendenziell mit dem Begriff ›Weisheit‹ identifiziert, denn Weltweisheit ist Weisheit soweit sie menschenmöglich ist; insofern gilt für die Weltweisheit definitorisch, was für die Weisheit gegolten hat: Sie ist eine »Wissenschaft der Glückseligkeit«. Als solche – und darauf kommt es an – ist sie nicht nur ein intellektuelles Wissen von den Möglichkeiten die Glückseligkeit zu erlangen, sondern zugleich und nicht zuletzt die praktische Umsetzung dieses Wissens, denn weise ist nur derjenige, der auch tut, was er weiß.55 Insofern ist Weisheit nicht nur Reflexion, sondern wesentlich Praxis. Dieser pointierte Praxisbezug der Weisheit leitet sich vom Begriff der Glückseligkeit als dem definiens der Weisheit her. Denn das »Vergnügen« – so konstatiert Gottsched – entsteht zwar aus dem »Anschauen, oder dem Genusse der Vollkommenheiten«, doch könne »man weder zum Anschauen fremder, noch zum Besitze eigener Vollkommenheiten, ohne alle Bemühung gelangen«. Insofern sei es nicht möglich, die Glückseligkeit »durch ein müßiges Erkenntniß, und durch bloßes Nachgrübeln« zu erlangen. Daher dringe die Weltweisheit »also billig auf die Anwendung der Mittel, wodurch man sich glücklich machen kann; das ist auf gute Handlungen«. Und »deswegen« – so fährt Gottsched schließlich fort – »ist sie denn auch […] eine ganz geschäfftige und thätige Wissenschaft.«56 Dieser von Gottsched so eindeutig prononcierte Praktizismus der Weltweisheit geht nicht nur über Wolffs, sondern auch über die von Leibniz gelieferten Vorgaben hinaus. Nun ist bisher noch nicht geklärt, auf welchen Leibniz-Text sich Gottsched mit seinem Hinweis tatsäch-

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Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit, in: Ausgewählte Werke, Bd. V/1 (s. Anm. 33), S. 122. Vgl. ebd., S. 123. Weil dies in der Welt realisiert wird, liegt es für Gottsched nahe, die von ihm praktisch perspektivierte Philosophie als Weltweisheit zu bezeichnen. Vgl. zum Begriff ›Weltweisheit‹ und dessen vorhandener oder nicht vorhandener semantischen Differenz zum Terminus ›Philosophie‹ im 18. Jahrhundert: Winfried Schröder: ›Weltweisheit‹. Marginalien zum Philosophiebegriff der deutschen Aufklärung. In: ›Wer ist weise? Der gute Lehr von jedem annimmt‹. Festschrift für Michael Albrecht zu seinem 65. Geburtstag. Hg. von Heinrich P. Delfosse und Hamid Reza Yousefi. Nordhausen 2005, S. 17–29. Siehe auch: Werner Schneiders: Zwischen Welt und Weisheit. Zur Verweltlichung der Philosophie in der frühen Moderne. In: Ders.: Philosophie der Aufklärung – Aufklärung der Philosophie (s. Anm. 42), S. 343–364, bes. S. 351–353. Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit, in: Ausgewählte Werke, Bd. V/1 (s. Anm. 33), S. 123.

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lich bezieht57 – Wolff hatte in der Deutschen Ethik auf die Vorrede zum Codex juris gentium diplomaticus verwiesen58 – doch macht, unabhängig von der unmittelbaren Rezeption, eine kleine dem Weisheitsproblem gewidmete Arbeit59 rasch deutlich, dass auch Leibniz wesentlich intellektualistische Akzente setzt. Zwar betont er mit Blick auf die Glückseligkeit neben der »Erleuchtung des Verstandes« auch die »Übung der Tugend«, doch liegt bei ihm der Akzent eindeutig auf einer in der »Erkenntnis derer Dinge« zu suchenden »Erleuchtung« des Verstandes, die diesen »immer weiter zu einem höheren Licht bringen« könne.60 Die geradezu instrumentelle Umsetzung einer dem Glück dienlichen Erkenntnis in einer gelingenden und daher Glückseligkeit vermittelnden Praxis greift mit Blick auf die von Leibniz formulierten ausgreifenden theoretischen Ansprüche und Ziele, die auch noch das ewige Leben der Seele betreffen, wesentlich zu kurz. Fragt man nun vor diesem Hintergrund, worauf es Gottsched mit dem signalhaften Hinweis auf Leibniz denn eigentlich angekommen ist, dann wird man annehmen dürfen, dass es Gottsched vornehmlich darum ging, einen als Weltweisheit verstandenen Philosophiebegriff zu exponieren, der Philosophie spekulativ entlastet und Glückseligkeit als intrinsisches und – vor allem – praktisch einzulösendes Ziel der Philosophie ausweist. Und zwar einerseits im genauen Unterschied zu Wolffs spekulativem Begriff von Philosophie und andererseits mit der Hilfe eines Gewährsmanns, dessen Philosophie mit derjenigen von Christian Wolff in vielerlei Hinsicht kompatibel ist. Damit konnte immerhin markiert werden, dass Gottsched trotz der Bedeutung, die er der Glückseligkeit als Movens und Ziel der Philosophie zumisst, sich doch nicht im theoretischen Fahrwasser des typischerweise praktizistisch argumentierenden Thomasianismus bewegt.

5. Angesichts dieser Befunde stellt sich die Frage, ob und in welchem Maße Gottscheds programmatischer Praktizismus, bzw. sein widersprüchliches, zwischen Nähe und Distanz oszillierendes Verhältnis zu Wolff, einen signifikanten Einfluss auf den Gehalt seiner praktischen Philosophie hat. Hat – so lässt sich diese Frage reformulieren – Gottscheds Bereitschaft, seinem Adressaten mit Blick auf dessen Interessen und Verständnishorizont formal entgegen zu kommen, auch inhaltliche Folgen? Eine wirklich erschöpfende Antwort kann nur auf der Basis eines detailgenauen, möglichst Punkt für Punkt vorgehenden Vergleichs gegeben werden. Dass eine solche vergleichende – ohne Zweifel sinnvolle und durchaus wünschenswerte – Analyse an dieser Stelle nicht möglich ist, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Gleichwohl lassen sich Beo57 58

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Siehe dazu: Stefan Lorenz: De Mundo optimo. Studien zu Leibniz’ Theodizee und ihrer Rezeption in Deutschland (1710–1791). Stuttgart 1997, S. 157. Wolff: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen (s. Anm. 44), S. 215. Siehe dazu die »Praefatio« zum Codex juris gentium diplomaticus in: Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz. Hg. von Carl Immanuel Gerhardt. Bd. 3. Berlin 1887, ND Hildesheim 1960, S. 386–389, hier S. 387. Der Text war im 18. Jahrhundert allerdings noch nicht publiziert worden. Vgl. Lorenz: De Mundo optimo (s. Anm. 57), S. 157. Gottfried Wilhelm Leibniz: Philosophische Werke in vier Bänden. Zusammengestellt von Ernst Cassirer. Bd. 2. Hamburg 1996, S. 652.

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bachtungen namhaft machen, die auch dann ein – zumindest vorläufig – tragfähiges Urteil erlauben, wenn sie sich lediglich auf Gemeinsamkeiten und Differenzen gründen, die ein Vergleich der Ethiken beider Philosophen ergibt. Ohne größeren Aufwand lässt sich nämlich zeigen, dass Gottsched bei seinem Rekurs auf Wolffs theoretische Vorgaben Differenzen einbaut, die zunächst marginal erscheinen, tatsächlich aber weitreichendere theoretische Folgen mit sich bringen. Hier sei auf vier Hauptaspekte mit jeweils weitergehenden Beobachtungen hingewiesen. 1. Übereinstimmung und Differenz lassen sich bereits an denjenigen Textstellen konstatieren, wo es explizit um grundsätzliche Fragen des methodischen Zugriffs geht. Wenn Gottsched schon in seiner Einleitung zur Weltweisheit überhaupt Wissenschaft als ein »gründliches Erkenntniß eines Dinges; oder als Fertigkeit des Verstandes« beschreibt, »alles, was man behauptet unwidersprechlich darzuthun«,61 dann setzt sich dieser Anspruch in der praktischen Philosophie selbstverständlich fort: »Soll also unsere praktische Philosophie eine Wissenschaft werden: so werden wir auch alle ihre Lehren auf unumstößliche Gründe bauen, das ist, aus den unläugbarsten Wahrheiten, durch die deutlichsten Folgerungen herleiten müssen.«62 Damit folgt Gottsched weitgehend den methodischen Vorgaben, die Wolff etwa in den Vorreden zu seiner Deutschen Ethik gemacht hat. Denn hier macht dieser deutlich, dass es ihm »um Wahrheit zu thun«63 sei, d. h. um eine »richtige Erkenntniß«,64 die jenseits von Glauben und Einbildung auf Gewissheit zielt, und diese Gewissheit wird erlangt, indem »man alles deutlich erkläret, gründlich erweiset, und eine Wahrheit mit der anderen beständig verknüpffet.«65 Bezogen auf die Ethik erfordert dies, auf der Basis einer richtigen Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen »von beyden einen richtigen Begriff«66 zu generieren. Die damit gegebene »richtige Erkäntniß des guten und bösen« schafft die begriffliche Voraussetzung für »die Erklärungen der Tugenden und Laster.«67 Das solchermaßen richtige Denken soll über die Lenkung des Willens zu richtigem Handeln führen. Der Vorgang ist durchaus vernunftgesteuert und wird von Wolff wegen der dabei zu vollziehenden förmlichen Schlussfolgerungen mit einer Disputation verglichen, denn hier wie dort habe man »jederzeit auf einen von beyden Fördersätzen eines Schlusses zu antworten.«68 Während sich Wolff dabei ausdrücklich und mehrfach zu einem mathematischen Methodenideal bekennt, scheint Gottsched einen entschiedenen Hinweis auf die Mathematik geradezu vermeiden zu wollen. Schon Wolff hatte eine abschreckende Wirkung vorausgesehen, wollte er seiner »Welt-Weißheit ein mathematisches Kleid anziehen«. Daher hat er es für ratsam gehalten, »die gemeine Art des Vortrags« in einer Weise mit »der mathematischen Verknüpffung der Wahrheit« zu vereinigen, die den sachlichen Anteil der Mathematik bewahrt,

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Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit, in: Ausgewählte Werke, Bd. V/1(s. Anm. 33), S. 123. Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Praktischer Theil). In: Ausgewählte Werke, Bd. V/2 (s. Anm. 38), S. 69. Wolff: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen (s. Anm. 44) Vorrede, [S. 6]. Ebd., Vorrede, [S. 7]. Ebd., Vorrede, [S. 10]. Ebd., Vorrede, [S. 4]. Ebd., Vorrede, [S. 7]. Ebd., Vorrede zu der andern Aufl., [S.21]. Im Vorbericht zur 1728 erschienenen dritten Aufl. der Deutschen Ethik spricht Wolff im selben Zusammenhang von einem »fruchtbahren Vernunfft-Schluß«.

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ihre äußere Form aber möglichst reduziert.69 Indem Gottsched das mathematische Methodenideal gerade nicht propagiert, es hier sogar nicht einmal erwähnt, scheint er einerseits Wolffs eigene Bedenken konsequent umzusetzen, andererseits aber ließe sich vermuten, dass er sich dadurch methodische Optionen offenhält, die mit der Strenge eines mathematischen Erkenntnisideals nicht gut vereinbar sind. Dazu würde passen, dass Gottsched gleich nach seinem Bekenntnis zur praktischen Philosophie als Wissenschaft genau diese in einer sachlich-normativen Hinsicht durch Historisierung relativiert. Denn »diese Art, dieselben vorzutragen, ist« – so bemerkt Gottsched – »ein Vorzug neuerer Zeiten«. Zwar habe Sokrates »die Sittenlehre zuerst in Schwang gebracht« und insbesondere den Stoikern, namentlich Cicero, habe man viel zu verdanken, doch seien ihre Einsichten »mehrentheils nur in Gesprächen, einzelnen Sätzen, klugen Sprüchen, und kurzen Abhandlungen besonderer Materien« vorgetragen worden. Was also bis dato fehlte, war ein dezidiert systematisierender Zugriff, der erst in neuerer Zeit – also genaugenommen erst durch die Philosophie Christian Wolffs – möglich geworden war.70 Damit behauptet Gottsched mindestens implizit, dass der normative Gehalt der älteren Sittenlehren nicht überwunden werden, sondern lediglich systematisch reformuliert werden musste, d. h. es ging nicht um die Begründung und Ausführung einer neuen Moral, sondern um die Ordnung sowie die systematische Ausführung und Präsentation vorhandener bzw. tradierter Normen. Die moralphilosophische Leistung, die sich Wolff verschiedentlich selbst zu gute hält, wird hier noch einmal,71 und zwar an markanter Stelle, gegenüber dem normativen Gewicht der philosophischen, insbesondere der antiken Tradition stark relativiert. Dass diese Einschätzung durchaus nicht folgenlos bleibt, zeigt sich, wenn man das Anliegen und den Zuschnitt von Gottscheds Ethik vor dem Hintergrund seines bereits dargestellten Praktizismus genauer zu konturieren sucht. 2. Ebenso wie Gottsched hat auch Wolff praktische Ziele vor Augen: Ihm geht es in seiner Deutschen Ethik – wie er selbst betont – darum, »die Menschen zur Tugend und Ehrbarkeit«72 anzuführen, und in diesem Sinne spart er auch nicht mit teilweise ausführlichen Anleitungen zu einer gedeihlichen, d. h. den Präzepten des Naturrechts folgenden Praxis. Gleichwohl bleibt sein Zugriff – im Unterschied zu Gottscheds Ansatz – im Wesentlichen intellektualistisch. Denn »wer ordentlich wandelt«, d. h. wer dem »Gesetz der Natur« folgt und daher erfolgreich alle seine Handlungen mit Blick auf »die Vollkommenheit seines innerlichen und äußerlichen Zustandes« koordiniert, muss entsprechend der komplexen Aufgabe – Wolff spricht gelegentlich von »Arbeit« – über eine nicht unbeträchtliche Reihe von intellektuellen Fertigkeiten verfügen: Wolff zählt dazu Scharfsinn, Erfindungskunst, Witz, Verstand, die »Fertigkeit zu schlüssen«, »Erfahrungs-Kunst«, Tiefsinn und Aufmerksamkeit. Obwohl Gottsched bestätigt, dass ein »weiser und ordentlicher Wandel« Scharfsinn und Vernunft erfordert, denn bei jeder vorzunehmenden Handlung sei ihre zielführend-produktive Verbindung mit dem Endzweck zu bedenken, scheint bei ihm ein ähnlich dimensionierter intellektueller Aufwand nicht notwendig zu 69 70 71 72

Ebd., Vorrede, [S. 9]. Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Praktischer Theil). In: Ausgewählte Werke, Bd. V/2 (s. Anm. 38), S. 70. Vgl. die Vorrede in: Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit. Zweyte vermehrte und verbesserte Aufl. (Practischer Theil). Leipzig 1736. [S. 2]. Wolff: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen (s. Anm. 44), Vorrede, [S. 3].

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sein, zumindest ist davon – und das mag eine rhetorische Vorkehrung gegen die abschreckende Wirkung eines pointierten Intellektualismus sein – nicht die Rede. Entsprechend der praktischen Zielsetzung ihrer praktischen Philosophie halten beide Philosophen die bloße Erkenntnis des Guten und des Bösen sowie die Einsicht in die zweckentsprechende Koordination von Handlungen für nicht hinreichend: Wird das »höchste Gut« durch die »Beobachtung des Gesetzes der Natur erhalten«, so kann dies nur realisiert werden, wenn der Mensch eine »hefftige Begierde« hat, »nichts zu thun, als was dem Gesetze der Natur gemäß, und nichts zu unterlassen, als was ihm zu wieder ist.«73 Diese heftige Begierde als fester und unveränderlicher Wille setzt – bei Wolff wie bei Gottsched – einen Bewegungsgrund voraus, wodurch eine Erkenntnis erst zu einer »lebendigen Erkenntnis« wird, d. h. zu einer Erkenntnis, die über die Stimulierung des Willens in Praxis mündet.74 Wenngleich beide Philosophen unisono die Bedeutung der »lebendigen Erkenntnis« hervorheben, beruht der bei beiden dazu erforderliche Bewegungsgrund bei Lichte besehen auf unterschiedlichen theoretischen Voraussetzungen. Wolff qualifiziert die Bewegungsgründe als »Vorstellungen des Guten und Bösen«, die »mit ungezweiffelter Gewißheit« erkannt werden. An dieser in letzter Konsequenz rationalen Erkenntnis als Voraussetzung für den Bewegungsgrund des Willens hält Wolff auch dann noch fest, wenn er einräumt, dass eine über Exempel vermittelte »anschauende Erkäntniß« bei »vielen einen grösseren Eindruck machet, als die Vernunfft«, denn die mit den Exempeln verbundene »Gewißheit« stellt sich erst dann ein, »wann man sie recht erweget«. Diese Erwägung wiederum ist insofern rational, als sie den Erfolg einer im Exempel abgebildeten Handlung beurteilt, und dieses Urteil wird von der Vernunft hergestellt75, so dass Wolff hier die anschauende Erkenntnis wieder rational einholt, da die notwendige Gewissheit letztlich doch nur durch ein Vernunfturteil ermöglicht wird. Demgegenüber setzt Gottsched die durch die Exempel vermittelte anschauende Erkenntnis sehr viel eindeutiger von den Urteilen der Vernunft ab: Die anschauende Erkenntnis macht nämlich auf die »meisten Menschen« deswegen einen tieferen Eindruck, weil sich diese bei der Prüfung des Guten und Bösen »bloß nach dem verkehrten Urtheile der Sinne richten«, so dass die damit verbundenen »lebhaften Eindrückungen« nicht anders »zu vertilgen« sind, »als durch entgegen gesetzte sinnliche Vorstellungen, davon sie eben so lebhaft gerühret werden.«76 Gottsched spricht in diesem Zusammenhang von einer »aus der Erfahrung fließenden Erkenntnis«,77 die sich offenbar ohne Zutun der Vernunft nur einer Mechanik der sinnlichen Vorstellungen verdankt, d. h. der sinnlich vorgestellte Schmerz als vorgestellte Folge eines Scheinguts soll in der Lage sein, die zuvor empfundene sinnliche Vorstellung eines Vergnügens an demselben Scheingut aufzuheben. Die 73

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Ebd., S. 100f., vgl. dazu Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Praktischer Theil). In: Ausgewählte Werke, Bd. V/2 (s. Anm. 38), S. 114. Gottsched unterlässt an dieser Stelle den expliziten Hinweis auf das Gesetz der Natur und spricht vereinfachend von einer »heftigen Begierde«, »nichts zu thun, als was seiner Absicht gemäß ist.« Vgl. Wolff: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen (s. Anm. 44), S. 99, 102, sowie Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Praktischer Theil). In: Ausgewählte Werke, Bd. V/2 (s. Anm. 38), S. 115. Vgl. Wolff: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen (s. Anm. 44), S. 101. Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Praktischer Theil). In: Ausgewählte Werke, Bd. V/2 (s. Anm. 38), S. 115. Ebd.

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explizit rationalen Manöver, die noch für Wolff notwendig waren, um der anschauenden Erkenntnis ihren Erkenntnischarakter zu sichern, sind hier augenscheinlich zum Verschwinden gebracht worden. Lebendige Erkenntnis – und darauf scheint es Gottsched insbesondere anzukommen – stellt sich nicht zuletzt jenseits von Vernunftschlüssen über eine durch Exempel vermittelte sinnliche Erfahrung her – eine Vorstellung übrigens, die unter anderen theoretischen Voraussetzungen und dennoch in vergleichbarer Weise von Christian Thomasius in den Fundamenta iuris naturae et gentium entwickelt wurde. Bei ihm ist sittliches Verhalten nur dann möglich, wenn entweder von außen die widrigen Affekte gebändigt werden, oder die Mischung der drei Hauptaffekte – Wollust, Ehrgeiz und Geldgeiz – selbst intern für einen Ausgleich sorgt, so dass negative Affekte durch gegenläufige und für sich genommen ebenfalls negative Affekte kompensiert werden.78 3. Indem Gottsched im gegebenen Zusammenhang betont, dass diese mit Hilfe von Exempeln vollzogene und jenseits der Vernunft angesiedelte sinnliche Erkenntnis »bey den meisten« der zielführende Modus der Versittlichung ist, macht er zugleich auf die Notwendigkeit einer als moralische Belehrung vorgestellten Moralvermittlung durch Andere aufmerksam, an der ihm – entschiedener noch als Wolff – gelegen zu sein scheint. Deutlich wird dies etwa im VI. Hauptstück des ersten Teils der Ersten Gründe, das »von der Bekehrung eines Lasterhaften oder von der philosophischen Buße« handelt. Auch wenn die Bekehrung eine Selbstbekehrung sein kann, so steht doch außer Frage, dass den Lasterhaften nicht zuletzt – wenn nicht gar in der Regel – von außen, d. h. durch moralische Unterrichtung eine lebendige Erkenntnis des Guten und Bösen vermittelt werden muss, wobei Exempel, und sei es das eigene, keine unwichtige Rolle spielen.79 Die Rede von »Bekehrung« und »Buße« macht dabei deutlich, dass Gottsched – im Unterschied zu Wolff – den Anschluss an eingeübte religiöse Praktiken nicht scheut. Zwar ist die Buße »philosophisch« und damit als Teil einer »philosophischen Sittenlehre«, die durch »den natürlichen Gebrauch der Vernunft« die »vernünftigen Einwohner der Welt zu rechten Menschen machen«80 will, ausdrücklich nicht religiös, dennoch hält es Gottsched – vermutlich mit Blick auf eine höhere Wirksamkeit der beabsichtigten Moralisierung – für angezeigt, die Tradition protestantischer Katechismen und Erbauungsliteratur aufzurufen. Die längst erprobten und hinlänglich erfolgreichen Techniken religiöser Selbst- und Fremdbesserung werden für die anvisierte moralische Besserung beansprucht, so dass sich hier religiöse Form und philosophisch-moralischer Inhalt durchdringen. Dies ist auch anhand der Vielzahl von Regeln ablesbar, die Gottsched – extensiver noch als Wolff – seinen Lesern und Leserinnen zur Verwirklichung eines gesitteten Lebenswandels an die Hand gibt. Denn diese Regeln, sind dem Vorgeben nach rational, realisieren formal aber eine Technik, die dem Leser bzw. der Leserin von Gottscheds Ersten Gründen etwa durch Johann Arndts 1610 zum erstem Mal erschienenen und immer wieder erneut aufgelegten Vier Büchern vom wahren Christentum81 oder ähnlicher Erbauungsliteratur 78

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Vgl. Christian Thomasius: Fundamenta iuris naturae et gentium. Siehe dazu ausführlich: Werner Schneiders: Naturrecht und Liebesethik. Hildesheim 1971, S. 254ff., sowie Frank Grunert: Normbegründung und politische Legitimität. Tübingen 2000, S. 204ff. Vgl. Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Praktischer Theil). In: Ausgewählte Werke, Bd. V/2 (s. Anm. 38), S. 135. Ebd., S. 156. Vgl. z.B. die »etlichen schönen Regeln eines Christlichen Lebens« in: Johann Arndt: Sechs Bücher vom wahren Christentum handelnd von heilsamer Buße, hertzlicher Reu und Leid über die Sünde und wahrem Glauben,

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bereits geläufig waren. Gottscheds Rezipienten wussten also – salopp formuliert – wie es geht, so dass die Effektivität des moralischen Diskurses von einer schon lange geübten und vor allem eingeübten Praxis des bestehenden religiösen Diskurses profitieren konnte. Ob sich angesichts dieser Vermittlungen zwischen religiösem und moralischem Diskurs schließlich auf der semantischen Ebene eine (unbemerkte) Resakralisierung der dem Anspruch nach säkularen Moral ergibt, müsste eine weitergehende Einzelanalyse erst noch ergeben. Gottsched selbst betont freilich die Differenz: Zwar räumt er ausdrücklich ein, dass die von ihm avisierte »philosophische Tugend […] in Ansehung der christlichen, noch allezeit unvollkommen« bleibe und daher ergänzungsbedürftig sei, doch warnt er zugleich vor der »Vermengung zweyer unterschiedener Lichter«,82 nämlich dem Licht der Vernunft und dem Licht der Offenbarung, und besteht damit auf der Selbstständigkeit und dem eigenen Gewicht des philosophisch-moralischen Diskurses. 4. Dieser philosophisch-moralische Diskurs, der als Handlungs- und Reflexionsraum zu denken ist, innerhalb dessen Akteure anhand von Regeln der Moral und Regeln des Diskurses zu moralischen Einsichten und ebensolchen Handlungen gelangen, ist bei Gottsched – im Unterschied zur Konzeption Wolffs – relativ breit angelegt: Gottscheds moralischer Diskurs beschränkt sich nicht auf die zweckrationale Einsicht und Anwendung von Handlungsregeln, die die innerliche und äußerliche Vollkommenheit befördern sollen, sondern bezieht die philosophisch-moralische Tradition produktiv mit ein, und zwar mit durchaus beträchtlichen theoretischen Folgen. Jenseits der von Christian Wolff gemachten Vorgaben empfiehlt Gottsched nämlich durch die Lektüre der »alten und neuen Sittenlehrer« in täglicher Übung »seinen Verstand mehr und mehr aufzuklären«, um sich auf diese Weise in die Lage zu versetzen, alle bisher angeführten »Vorschriften desto besser zu beobachten«. So wird man – nach Gottscheds Auffassung – »viel Vortheil aus demjenigen ziehen können, was Xenophon und Platon von dem Sokrates; was Cicero von den Pflichten eines Menschen, von dem höchsten Gute und höchsten Uebel, (DE FINIBUS) und in seinen tusculanischen Unterredungen, von allerhand Materien geschrieben haben.«83 Gleiches gilt für das Werk von Seneca und Epiktet, für »verschiedenes vom Plutarch, und sonderlich des Kaiser Marcus Aurelius Betrachtungen« sowie für Boëthius’ Trost der Weisheit.84 Lehrreich in diesem Sinne sind aber nicht nur philosophische Werke, sondern auch »die Exempel großer Leute«, wozu selbstverständlich Solon und Lykurg, oder Themistokles und Demosthenes zählen, neben Cato, Scipio, Laelius sowie Atticus und Plinius d. J. werden in diesem Zusammenhang Sokrates, Cicero, Seneca, Marcus Aurelius und abermals Boëthius genannt.85 Schließlich führt Gottsched als dritte Abteilung der »Media ad incrementa virtutis« die Schriften »der besten Poeten« an, wobei es hier neben »Tugendlehren und Sittensprüchen« wiederum um lehrreiche Exempel geht, denn »Heldengedichte und Trauerspiele« sind »diejenigen Stücke der Dichtkunst, darinnen die meisten Bilder großer Männer, mit so lebhaften Far-

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auch heiligem Leben und Wandel der rechten wahren Christen. Hier nach der Ausgabe Erfurt 1735, S. 198–205. Die Vier Bücher vom wahren Christentum sind 1695 mit dem Paradiesgärtlein voller christlicher Tugenden (zuerst 1612) und weiteren Schriften zusammengelegt worden und erschienen bzw. erscheinen seitdem unter dem Titel Sechs Bücher vom wahren Christentum. Vgl. Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit. (Practischer Theil). In: Ausgewählte Werke, Bd. V/2 (s. Anm. 38), S. 135. Ebd., S. 154. Ebd. Ebd., S. 154f.

Zur praktischen Philosophie von Gottsched

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ben abgeschildert werden, als ob man sie vor Augen sähe.«86 Gottscheds Ausführungen sind hier in zweierlei Hinsicht interessant: Zum einen wird hier ein weiteres Mal die Bedeutung der sinnlichen Erkenntnis hervorgehoben, und zum anderen werden an dieser Stelle – ebenfalls zum wiederholten Male – antike, und zwar insbesondere stoische Moralphilosophien aufgeboten, um als Mittel für die Zunahme der Tugend – »Media ad incrementa virtutis« – zu fungieren. Indem Gottsched hier antike – und d. h. jenseits von Wolff – angesiedelte Positionen als wichtige Momente des moralphilosophischen Diskurses einbringt und stark macht, gesteht er faktisch die Möglichkeit ein, im Zweifel auch ohne den sachlichen Rekurs auf die Ethik Christian Wolffs das gesetzte moralphilosophische Ziel zu erreichen, und dies dazu noch mit theoretischen Mitteln, die Wolff selbst nur in begrenztem Maße für tauglich hielt. Am Ende drängt sich gar – wie schon vordem – der Eindruck auf, dass es weniger der pünktliche Nachvollzug einer bestimmten moralphilosophischen Anweisung ist, die zur Tugend führt, als vielmehr die sich in ernsthafter Bemühung um einen tugendhaften Lebenswandel niederschlagende Partizipation am moralischen Diskurs selbst. Und dazu passt auch, dass Gottsched seine Ethik nicht – wie Wolff87 – in erster Linie als Pflichtenlehre, d. h. als einzusehender Gehorsam gegenüber dem imperativischen Anspruch einer Norm, konzipiert, sondern – den antiken Vorbildern entsprechend – als Tugendlehre.88 Ihm geht es vor allem um die Übung einer Tüchtigkeit, die mit der Hilfe von »bequemen« – d. h. angemessenen – »Vorschlägen« erreicht wird. Denn Tugend wird eben nicht durch moralisches Wissen erreicht, sondern nur durch dessen »Ausübung«89. Diese von Gottsched verlangte und gar als »neuer Theil der praktischen Weltweisheit« apostrophierte Tugendlehre ist freilich insofern wieder mit Wolffs Pflichtenlehre verbunden, als Gottsched mit Tugendlehre »eine Wissenschaft von Erlangung der Tugend« meint, die auf die »Ausübung menschlicher und bürgerlicher Pflichten«90 zielt.

6. Blickt man von hier aus abschließend zurück, dann wird man zweifellos feststellen dürfen, dass die grundsätzlichen Übereinstimmungen zwischen den Ethiken von Gottsched und Wolff doch von einer Qualität sind, die es nach wie vor erlauben, Gottsched als Parteigänger Wolffs zu bezeichnen. Dies wird nicht nur auf der Textoberfläche durch die vielen Parallelstellen belegt, sondern zeigt sich in aller Deutlichkeit an der beinahe wortgetreuen Übernahme des von Wolff formulierten obersten Prinzips sittlichen Handelns: »Thue alles das, was die Vollkommenheit bey dir und bey andern befördert; und unterlaß hingegen alles dasjenige, was dir oder andern

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Ebd., S. 155. Vgl. dazu Hans Werner Arndt: Einleitung. In: Wolff: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen (s. Anm. 44), S. Vf. Siehe dazu »Der praktischen Weltweisheit. Dritter Theil. Die Tugendlehre« in: Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Praktischer Theil). In: Ausgewählte Schriften, Bd. V/2 (s. Anm. 38), S. 293–441. Ebd., S. 295. Ebd.

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zur Unvollkommenheit gereichet.«91 Dennoch lässt sich anhand der hier herausgearbeiteten Differenzen auch zeigen, dass Gottsched bereit ist, theoretische Wege einzuschlagen, die über die gemeinsamen Grundlagen nicht nur hinausweisen, sondern diese bisweilen sogar in Frage stellen. Deutlicher dürfte daher immerhin geworden sein, was es tatsächlich heißt, wenn Gottsched sogar noch in seiner Historischen Lobschrift seine »in vielen Puncten« zu konstatierende Abweichungen von »des sel. Hrn Kanzlers Lehren« hervorhebt und so in Abrede stellt, ein »recht geschworner Wolfianer«92 zu sein.

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Ebd., S. 88. Und bei Wolff heißt es sprachlich straffer, semantisch aber identisch: »Thue was deinen oder anderer Zustand vollkommener machet; unterlaß, was ihn unvollkommener macht«. Wolff: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen (s. Anm. 44), S. 12. [Gottsched:] Historische Lobschrift (s. Anm. 18), Vorerinnerung, [unpag.].

ANDRES STRASSBERGER

Gottsched als theologischer Aufklärer Zur Kritik einiger theologie-, philosophie- und literaturgeschichtlicher Gottschedbilder1

In den verschiedenen fachwissenschaftlichen Zugriffen auf Gottsched spielen Fragen nach seinem theologischen und religiösen Denken aufgrund biographischer und werkgeschichtlicher Konstellationen eine wichtige Rolle. Zwar ist es bei entsprechender thematischer Eingrenzung auch ohne weiteres möglich, die theologisch-religiöse Perspektive auszuklammern; sofern aber die zentralen Motive seines Wirkens in den Blick kommen sollen, steht mit dem Aufklärer Gottsched zugleich auch immer sein Verhältnis zur Theologie und Religion zur Diskussion.2 Das ist nicht weiter verwunderlich, bezeichnet doch diese Konstellation nicht nur den Hauptpunkt der deutschen Aufklärungsdebatte,3 sondern Aufklärung war in Deutschland zu weiten Teilen eben auch ein protestantisches Phänomen. Damit ist allerdings weit mehr als eine bloß allgemeine, individuell-zufällige und aus diesem Grund vielleicht unerhebliche konfessionelle Milieuprägung gemeint. Vielmehr erklärt die Tatsache, dass sich Aufklärung in Deutschland (anders als z. B. in Frankreich) vorzugsweise auf dem Boden reformatorisch geprägter Territorien vollzog und deswegen auch hauptsächlich von den religiös-theologischen Erben der Reformation getragen wurde – darunter nicht wenigen Pfarrerssöhnen –, dass sie auf ebenso vielfältige wie essentielle Weise in theologische und religiöse Denk- und Sinnzusammenhänge integriert werden konnte.4 Die Aufklärung leitete auf diesem Wege zwar eine ebenso umfassende 1

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Der vorliegende Beitrag dokumentiert mein Münsteraner Tagungsreferat Gottsched als Theologe: eine Problemanzeige nur noch teilweise. Die kontroverse Diskussion der vorgetragenen Thesen hat mich dazu veranlasst, die Argumentation im Eingangs- und Schlussteil neu aufzustellen; im Mittelteil wurden hingegen kaum Veränderungen vorgenommen. Vgl. beispielhaft Detlef Döring: Johann Christoph Gottscheds Bedeutung für die deutsche Aufklärung. In: Lessing. Kleine Welt – Große Welt. Kamenz 2000, S. 143–164; zum theologischen Aufklärer Gottsched ebd., S. 155–164. Ursula Goldenbaum: Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1697–1796. In: Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1687–1797. Hg. von ders. Berlin 2004, S. 1–188, hier S. 32–79. Bereits Ernst Troeltsch notierte in seinem noch immer lesenswerten Lexikonbeitrag ([Art.] Aufklärung. In: Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche. Hg. von Albert Hauck. Bd. 2. Leipzig ³1897, S. 225–241, hier S. 238f.): »Besonders aber ist die deutsche Entwicklung durch den schon von Leibniz angebahnten Kompromiß von Aufklärung und Theologie ausgezeichnet, der die Aufklärung hier nicht bloß in die Kreise der Bildung, sondern auch in die des Volkes hineindringen ließ […] Von Hofpredigern, Landgeistlichen und theologischen Fakultäten getragen, ist die Aufklärung hier eine wirklich

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wie tiefgreifende, von Theologen und Pfarrern jedoch selbst maßgeblich vorangetriebene Transformationskrise des protestantischen Christentums ein, die in historischer Perspektive zur Ausprägung einer ebenso spezifischen wie vielfältigen Aufklärungstheologie und -frömmigkeit führte.5 Die ›vernünftige Religion‹ des Aufklärungschristentums bildete in Deutschland dabei das hervorragende Medium bürgerlich-kultureller Emanzipation,6 weswegen der durch die Aufklärung ausgelöste Umformungsprozess auch nicht in eine religionslose Bürgergesellschaft, sondern in ein ›neuprotestantisches‹ Christentum einmündete, das ›Aufklärung‹ nicht als Problem, sondern als bleibende Aufgabe der Theologie und des christlichen Glaubens begriff, und zwar über alle Restaurationsbestrebungen des 19. Jahrhunderts hinweg.7

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volkstümliche Macht geworden, zugleich aber besonnen und konservativ geblieben.« Trotz eines mitschwingenden zeittypischen nationalistischen Pathos sowie einer unhistorischen Orthodoxiefeindlichkeit hat Wilhelm Dilthey im Prinzip Recht, wenn er darauf hinweist (Studien zur Geschichte des deutschen Geistes. Bd. 3. Leipzig, Berlin 1927, S. 133): »Doch nirgends war die innere Gemeinschaft aller Stände, wie der Protestantismus sie vermittelte, enger als in der Heimat der Reformation, und so war auch die Wirkung der Aufklärung nirgend gewaltiger. Die deutsche Aufklärung löste die christliche Religion aus den rohen Begriffen der Orthodoxie und stellte sie auf den festen Grund der Freiheit der moralischen Person.« Kirchen- und theologiehistorisch bleibt es daher – trotz fortdauernder Ignoranz gegenüber den nach wie vor zutreffenden Einsichten Troeltschs, Diltheys und anderer – bei der von Klaus Scholder 1966 ausgesprochenen Einschätzung, wonach sich Aufklärung in Deutschland »weithin nicht gegen die Theologie, sondern mit ihr und durch sie vollzogen« hat; zit. nach Kurt Nowak: Vernünftiges Christentum? Über die Erforschung der Aufklärung in der evangelischen Theologie seit 1945. Leipzig 1999, S. 38. Werner Schneiders lokalisiert daher die Entstehung der deutschen Aufklärung mit Recht »im Milieu der protestantischen Universitäten, und dort zunächst in einer lockeren Allianz mit einem als aufgeklärt verstandenen Absolutismus und ohne grundsätzliche Verneinung der Religion bzw. Kirche« (Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa. Hg. von Werner Schneiders. München 1995, S. 16). Ähnlich bilanziert eine bei Jonathan Sheehan: Enlightenment, Religion, and the Enigma of Secularization. A Review Essay. In: The American Historical Review 108 (2003), S. 1066 referierte Auffassung: »In Germany, the ›Aufklärer […] worked within religious and theoretical traditions which they amended but did not reject.‹« Die deutsche Aufklärung war, wie der Titel einer unter Lothar Kreimendahl entstandenen Dissertation deswegen zuletzt ebenso pointiert wie zutreffend – auch im Blick auf das Problem der Religion – formuliert, »[l]imitierte Aufklärung«: Ernst Haberkern: Limitierte Aufklärung. Die protestantische Spätaufklärung in Preußen am Beispiel der Berliner Mittwochsgesellschaft. Marburg 2005. Den aktuellen Stand der theologie- und kirchengeschichtlichen Aufklärungsforschung bietet die vorzügliche Darstellung von Albrecht Beutel: Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung. Ein Kompendium. Göttingen 2009. Friedrich Wilhelm Graf: Protestantische Theologie und die Formierung der bürgerlichen Gesellschaft. In: Profile des neuzeitlichen Protestantismus. Hg. von dems. Bd. 1. Aufklärung – Idealismus – Vormärz. Gütersloh 1990, S. 11–54, bes. S. 15–19. Zur maßgeblich auf Ernst Troeltsch zurückgehenden Konzeption einer durch die Aufklärung initiierten »Theologie des Neuprotestantismus« siehe Volker Drehsen: [Art.] Neuprotestantismus. In: Theologische Realenzyklopädie. Hg. von Gerhard Krause und Gerhard Müller. Bd. 24. Berlin, New York 1994, S. 363–383. – Zur theologiehistoriographischen Umsetzung des Transformationsparadigmas siehe Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens. 5 Bde. Gütersloh 1949–1951, 41968; vgl. dazu Ulrich Köpf: Die Theologiegeschichte in der Sicht Emanuel Hirschs. In: Christentumsgeschichte und Wahrheitsbewußtsein. Hg. von Joachim Ringleben. Berlin 1991, S. 63–97; vgl. in diesem Zusammenhang auch Friederike Nüssel: Die Umformung des Christlichen im Spiegel der Rede vom Wesen des Christentums. In: Religion und Aufklärung. Studien zur neuzeitlichen ›Umformung des Christlichen‹. Hg. von Albrecht Beutel und Volker Leppin. Leipzig 2004, S. 15–32.

Gottsched als theologischer Aufklärer

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Betrachtet man den theologischen Aufklärer Gottsched vor dem Hintergrund und im Zusammenhang dieser hier nur skizzenhaft angedeuteten (theologie-)historischen Rahmenbedingungen und Entwicklungen, erscheinen einige Sichtweisen der gegenwärtigen theologie-, philosophie- und literaturgeschichtlichen Gottschedforschung ebenso defizitär wie problematisch. Zur Entfaltung und Begründung dieser These sollen im Folgenden drei verschiedene fachwissenschaftliche Forschungsperspektiven beispielhaft vorgestellt und daran anschließend einer methodisch-hermeneutischen Kritik unterzogen werden. Das Interesse der Ausführungen zielt dabei primär auf die kritische Befragung des erkenntnisleitenden Vorverständnisses hinsichtlich des Wesens der (theologischen) Aufklärung. Unter diesem Gesichtspunkt bleiben alle übrigen sachlichen Irrtümer und Fehlinterpretationen im Detail, sofern sie die hier verhandelte Hauptfrage nicht unmittelbar berühren, in der Analyse ausgeklammert. Welche alternativen Interpretationen sich aber bei einer gegenüber bisherigen Lesarten veränderten Einstellung des Blickwinkels auf den theologischen Aufklärer Gottsched ergeben, habe ich zuletzt im Rahmen einer monographischen Studie anhand von dessen aufklärungshomiletischen Aktivitäten aufzuzeigen versucht.8 Die gegenwärtigen Darlegungen knüpfen dort an und versuchen bereits in diesem Zusammenhang erörterte Fragen und Probleme weiter auszuführen bzw. zu vertiefen.9

1. Drei Gottschedbilder 1.1. Die theologiegeschichtliche Deutung Karl Aners Im Jahr 1929 veröffentlichte der Hallenser, später Kieler Kirchenhistoriker Karl Aner10 die Summe seiner bis dato zwanzigjährigen Beschäftigung mit der Aufklärungsepoche: seine noch heute gelesene und rezipierte Theologie der Lessingzeit.11 Der theologische Aufklärer Gottsched findet bei Aner eine nicht nur für die Zeit der Veröffentlichung ungewöhnlich starke theologiegeschichtliche Berücksichtigung, was durch die Lehrerrolle begründet ist, die der Leipziger Philosophieprofessor für den bedeutenden Aufklärungstheologen Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709–1789) gespielt hat. Im Rahmen des von Aner vertretenen aufklärungstheologischen Entwicklungsschemas (Wolffianismus – Neologie – Rationalismus) »muß man Jerusalem« wegen dessen »Verkürzung der kirchlichen Erbsündenlehre […] als ersten Neologen anspre8

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Andres Straßberger: Johann Christoph Gottsched und die ›philosophische‹ Predigt. Studien zur aufklärerischen Transformation der protestantischen Homiletik im Spannungsfeld von Theologie, Philosophie, Rhetorik und Politik. Tübingen 2010. Für das von mir präferierte Verständnis der theologischen Aufklärung bzw. für meine Kritik an diversen Gottschedbildern innerhalb der Forschungsliteratur vgl. ebd., S. 3–13 und 94–105. Zur Person siehe Matthias Wolfes: [Art.] Aner, Karl August. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Hg. von Friedrich Wilhelm Bautz. Bd. 18. Herzberg 2001, S. 70–87; Andres Straßberger: [Art.] Aner, Karl. In: Lebenswege in Thüringen. 3. Sammlung. Hg. von Felicitas Marwinski. Weimar 2005, S. 3–6. Karl Aner: Die Theologie der Lessingzeit. Halle/Saale 1929; ND Hildesheim 1964. – Aners Darlegungen zum theologischen Aufklärer Gottsched werden z. B. zustimmend rezipiert bei Thomas P. Saine: Von der Kopernikanischen bis zur Französischen Revolution. Die Auseinandersetzung der deutschen Frühaufklärung mit der neuen Zeit. Berlin 1987, S. 182f.

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chen«, und zwar »unter den Theologen«. Diese letzte Einschränkung ist nach Aner deshalb geboten, weil »ihm außerhalb dieses Standes ein anderer vorangegangen [ist], der zwar auch theologisch vorgebildet war, aber im philosophischen Fach wirkte: sein Leipziger Lehrer Gottsched«.12 Das Bild, das im weiteren von Gottsched als Vorreiter der Neologie auf sechs Großoktavseiten gezeichnet wird,13 lässt sich kurz wie folgt umreißen: Gottsched, »der ein beträchtlicher Angsthase war«, ließ »offiziell von seinen Häresien nichts verlauten«, sondern lehrte vielmehr »den zahmen Wolffianismus«. Dabei hatte er angeblich bereits in seiner Königsberger Dissertation von 1718 »die übernatürlichen Gnadenwirkungen bestritten«,14 weswegen sein Lehrer Quand auch nicht wagte, das Präsidium zu übernehmen. Seine Vernünftigen Tadlerinnen propagierten dann ein Christusbild, das »unmöglich altgläubigen Ansprüchen genügen [konnte]«. Eine noch »[s]chärfere Tonart schlug ›Der Biedermann‹ 1727/28 an: er wandte sich gegen den Aberglauben […] sowie gegen ein späteres Lieblingsstück neologischer Polemik, die Lehre von der Ewigkeit der Höllenstrafen«15. Eine Rede in Gottscheds ›Vertrauter Rednergesellschaft‹, die »von dem verderblichen Religionseifer und der heilsamen Duldung aller christlichen Religionen« handelte, war »unausgesprochen […] an die Adresse der Intoleranz innerhalb der eigenen Kirche gerichtet«. Mit Eugen Reichel – einem problematischen Gewährsmann der Gottschedforschung – wird dem Leipziger Philosophieprofessor »eine im Grund feindselige Stellungnahme zur Offenbarung« attestiert. Als Beleg dient eine Abhandlung über die Frage, »[o]b man die geoffenbarte Theologie in mathematischer Lehrart abhandeln könne«, in welcher die aufgeworfene Frage verneint wird. Damit rückte Gottsched in der Lesart Aners »die Theologie sich selbst überlassend, aber zugleich auch der philosophischen Stütze beraubend, vom wolffischen Konservatismus ab«.16 Überhaupt meinte Aner in den fünf, zwischen 1732 und 1734 in Gottscheds ›Societas conferentium‹ gehaltenen und erst 1756 publizierten Abhandlungen, »die meisten und beträchtlichsten Häresien« zu erkennen, »die ihn als geheimen Vorläufer der Neologie erscheinen lassen«.17 Einer dieser Aufsätze, der »die deutlichste Absage an die orthodoxe Bluttheologie« enthält, »entwertete« demnach »das gesamte Offenbarungssystem«.18 In einem letzten von ihm angeführten Gottsched-Zitat vernahm Aner dann schon »nicht mehr nur Neologensprache«, sondern sah »im völligen Verzicht auf Offenbarung bereits den Weg« vorgezeichnet, »den später Lessing beschritt«.19 – War Gottsched als theologischer Aufklärer also ein zwar ängstlicher, aber radikaler Offenbarungskritiker, Häretiker und geheimer Vorläufer nicht nur der Neologie, sondern auch Lessings?

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Alle Zitate Aner: Die Theologie der Lessingzeit (s. Anm. 11), S. 195. – Kursivsetzungen innerhalb von Zitaten bezeichnen im Folgenden (sofern nicht ausdrücklich anders vermerkt) Hervorhebungen des Originals. Ebd., S. 195–201. Alle Zitate ebd., S. 195. Ebd., S. 196. Alle Zitate ebd., S. 197. Ebd., S. 199. Beide Zitate ebd., S. 200. Alle Zitate ebd., S. 201.

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1.2. Die philosophiegeschichtliche Deutung Günter Gawlicks Im Jahr 1990 publizierte der Bochumer Philosophiehistoriker Günter Gawlick einen vier Jahre zuvor gehaltenen Tagungsbeitrag an wirkungsgeschichtlich exponierter Stelle:20 Im dritten Band der Reihe Zentren der Aufklärung, der Leipzig unter den Stichworten »Aufklärung und Bürgerlichkeit« gewidmet war, profilierte Gawlick (zwar ohne erkennbaren Rekurs auf Aner, aber mit z. T. gleichlautenden Ergebnissen)21 »Gottsched als Vermittler der französischen Aufklärung«.22 Dieser Titel hatte programmatischen Charakter, bezeichnete er doch die Richtung, in der das aufklärerische Profil Gottscheds gesucht werden sollte. Ein Hauptstichwort, mit dem Gawlick den theologischen Aufklärer Gottsched dann vorzugsweise in Verbindung brachte, war ›Religionskritik‹. So machte sich nach Gawlicks Meinung Gottsched die Religionskritik Fontenelles zu eigen bzw. seine Übersetzungen stellten den Franzosen dem deutschen Publikum »als Religionskritiker«23 vor. In gleicher Weise würden die »antiklerikale[n] Bemerkung[en] Bayles« in Gottscheds Übersetzung des Dictionaire Historique et Critique durch die hinzugefügten Anmerkungen gelegentlich so »verallgemeinert«,24 dass sich auch der »religionskritisch eingestellte Leser […] angesprochen fühlen«25 konnte. Gottscheds bereits erwähnte Rede »vom verderblichen Religionseifer« interpretierte Gawlick als Beleg für die These, »daß Gottsched viel skeptischer über die Möglichkeit der Vergewisserung über Religionswahrheiten dachte, als sein Tadel Bayles erwarten läßt«.26 Verschiedene Abhandlungen Gottscheds zeigten ferner deutlich, dass er »formale« und »inhaltliche Gründe hatte, auf Distanz zur Offenbarungsreligion zu gehen«.27 Es war daher auch Gottscheds »deistisch[e] Gesinnung«,28 die ihn 1737 in Konflikt mit dem Dresdner 20

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Abgesehen vom theologie- und kirchenkritischen Gottschedbild des marxistischen Gottschedforschers Werner Rieck, der mit seiner durch kein neueres Werk ersetzten Gottschedbiographie (Johann Christoph Gottsched. Eine kritische Würdigung seines Werkes. Berlin/DDR 1972) breitflächig auf die Gottschedforschung eingewirkt hat, dürfte es sich bei Gawlicks Aufsatz um den wirkungsgeschichtlich weitreichendsten neueren Beitrag zum theologischen Aufklärer Gottsched handeln. Beispielhaft sei hierfür verwiesen auf Detlef Döring, der offen bekundet, in seinen Ausführungen von Gawlick angeregt worden zu sein: Johann Christoph Gottscheds Bedeutung für die deutsche Aufklärung (s. Anm. 2), S. 159 in Anm. 34. Noch jüngst hat Döring unter erneutem Hinweis auf Gawlick betont: »Sehr dezidiert und mit vollem Recht ist vor knapp 20 Jahren von Günter Gawlick darauf hingewiesen worden, daß Gottsched in der Tradition einer stark französisch beeinflußten und daher entschiedenen Religionskritik stand.« Detlef Döring: [Rez.] M. Mulsow, Freigeister im Gottsched-Kreis. In: Arbitrium 26 (2008), S. 198– 201, hier S. 200. Obwohl sich Döring: Johann Christoph Gottscheds Bedeutung für die deutsche Aufklärung (s. Anm. 2) von Gawlick inspiriert sieht, greift er bei seinen Ausführungen stark auf Aners Darstellung, die in den Anmerkungen zitiert wird, zurück. Das illustriert die prinzipielle Anschlussfähigkeit von Aners Gottschedbild an Gawlicks Sicht. Günter Gawlick: Johann Christoph Gottsched als Vermittler der französischen Aufklärung. In: Zentren der Aufklärung III. Leipzig. Aufklärung und Bürgerlichkeit. Hg. von Wolfgang Martens. Heidelberg 1990, S. 179204. Ebd., S. 180. Ebd., S. 187. Ebd., S. 188. Ebd., S. 190. Ebd., S. 192. Ebd., S. 196.

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Oberkonsistorium brachte. Eine Zwischenbilanz Gawlicks lautete in diesem Zusammenhang: »Der wolffianische Hintergrund seines Denkens disponierte ihn zum Deismus und machte ihn empfänglich für die Kritik der Vorurteile, des Aberglaubens, ja der Offenbarungsreligion im ganzen, die in der französischen Aufklärung zu Hause war.«29 Allerdings fügte sich nicht jede Beobachtung in das von Gawlick vorgestellte Schema. Beispielsweise kritisierte er einen physikotheologischen Gottesbeweis des Leipziger Philosophieprofessors im Vergleich zum herausgearbeiteten religionskritischen Niveau der Ausführungen als erkenntnistheoretischen »Rückfall«.30 Und dass Gottsched »von angesehenen Theologen wie Johann Lorenz von Mosheim und Johann Gustav Reinbeck hoch geschätzt« wurde, konnte er auch nur damit erklären, dass dies »vermutlich in Unkenntnis seiner deistischen Gesinnung«31 geschah. Weitere Punkte, die dagegen sprachen, »Gottscheds Opposition zur herrschenden Ideologie zu überschätzen«, trug Gawlick am Ende seiner Untersuchung selbst zusammen. Gleichwohl konnte ihn das nicht vom Schlusssatz seines Beitrages abhalten, wonach es »unter den Neologen meines Wissens niemand [gegeben hat], der sich so auf die französische Aufklärung eingelassen hätte wie Gottsched«.32 – War Gottsched als theologischer Aufklärer also ein verkappter, von französischer Religionskritik beeinflusster Offenbarungsskeptiker, der in Unkenntnis seiner deistischen Gesinnung von verschiedenen lutherischen Theologen – gewissermaßen irrtümlich – hoch geschätzt wurde?

1.3. Die literaturgeschichtliche Deutung Marie-Hélène Quévals Noch über das von Gawlick gezeichnete Bild Gottscheds als eines theologischen Radikalaufklärers hinaus geht die französische Germanistin Marie-Hélène Quéval. In einem 2006 publizierten Aufsatz widerspricht sie dem Bochumer Philosophiehistoriker, erst Reimarus hätte es gewagt, das Christentum offen zu kritisieren.33 Denn auf mindestens der gleichen Stufe mit den Hamburger Deisten sieht sie Gottsched. Mit Hilfe einer vorzugsweise an dessen Bayle-Übersetzung durchgeführten Methode der Textlektüre versucht sie, ihre These zu verifizieren. Ihr methodisches Vorgehen wird dabei wie folgt eingeführt: Dass Gottsched selbst unter der ›Wahrheit des Glaubens‹ die natürliche, nicht die christliche Religion verstand, bleibt verborgen, verteilt auf vier schwere Folianten. […] Als gewandter Rhetoriker nutzt er die bewährten, schon von Bayle und den französischen Freigeistern wie Gassendi, Fontenelle und La Mothe le Vayer geschätzten Finessen der Beredsamkeit, um gewagte Gedankengänge gefahrlos zu

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Ebd. Ebd. S. 182. Ebd., S. 197. Ebd. Marie-Hélène Quéval: Johann Christoph Gottsched und Pierre Bayle – ein philosophischer Dialog. Gottscheds Anmerkungen zu Pierre Bayles Historisch-critischem Wörterbuch. In: Diskurse der Aufklärung. Luise Adelgunde Victorie und Johann Christoph Gottsched. Hg. von Gabriele Ball, Helga Brandes und Katherine R. Goodman. Wiesbaden 2006, S. 145–168, hier S. 166 in Anm. 69.

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veröffentlichen. Wer sich mit dem ›deutschen Bayle‹ intensiver befasst, lernt schnell zwischen den Zeilen zu lesen.34

Im Ergebnis ihrer Lektüre »zwischen den Zeilen« erscheint Gottsched dann radikaler als Bayle und die französischen Freigeister und mutiger als Reimarus, der sich mit seiner Offenbarungskritik zeitlebens nicht an die Öffentlichkeit wagte.35 Daher weist Quéval auch das Urteil des Gottschedforschers István Gombocz zurück, der Leipziger theologische Aufklärer »›hätte als Pastorensohn und geschulte[r] Theologe‹ aus seiner religiösen Position heraus ›die Rettung und Fortführung christlicher Ideale‹ und ›die Traditionen des christlichen abendländischen Glaubens im Auge behalten‹«.36 Ihr scheint vielmehr das Gegenteil der Fall zu sein: »In seiner [Gottscheds; A. S.] Untersuchung, Ob man die geoffenbarte Theologie in mathematischer Lehrart abhandeln könne, macht er die Aposteln [!] zu ›Betrügern‹, im besten Fall zu ›betrogenen Betrügern‹, denen man als Zeugen schwer vertrauen könne, da die meisten von ihnen Jesus nicht gekannt hätten. Wenn Gottsched die Frage nach der Vertrauenswürdigkeit der Zeugen stellt, unterminiert er den christlichen Glauben. Nun gibt es keinen Ausweg mehr: Mit den Zeugen wird die Religion als Ganzes angezweifelt.«37 – War Gottsched also der ›bessere‹ Reimarus, ein radikaler Bibel- und Offenbarungskritiker, der »mit der Reduzierung der Bibel auf ein nicht vertrauenswürdiges historisches Zeugnis […] an den Fundamenten des Christentums gerüttelt«38 und mit seinen Anmerkungen zu Bayle einen deutschen Vorläufer von Diderots Enzyklopädie geliefert hat?39

2. Kritik Der 2001 verstorbene Leipziger Kirchenhistoriker Kurt Nowak hat vor einem reichlichen Jahrzehnt ebenso pointiert wie zutreffend bemerkt, dass das »in der Geschichtsschreibung kanonisierte Bild von der aufgeklärten Auszehrung der Religion dringend der Überprüfung bedarf«. In diesem Zusammenhang hat er mit Blick auf die neuere Aufklärungsforschung weiterhin kritisiert, dass in ihr eine ganze Reihe Fragestellungen unterschwellig mitlaufen, die bei genauerem Hinsehen »eher kulturpolitische als geschichtswissenschaftliche Interessen bedienen«.40 Wenngleich nicht auszuschließen ist, dass ein implizites Gegenwartsinteresse am Aufklärer Gottsched bei dem einen oder anderen Gottschedbild tatsächlich eine Rolle spielt, soll bei den drei vorges34 35

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Ebd., S. 147f. Ebd., S. 167: »In dem Feldzug der Frühaufklärung gegen den Bibel-Götzen für die Rechte der Vernunft spielt Breitkopfs Bayle-Ausgabe eine wesentliche Rolle. Dabei schreckt Gottsched in seinen Anmerkungen vor keiner Konsequenz zurück. Möglicherweise enthält der deutsche Bayle sogar mehr ›Gift‹ als der französische. Während sich der bei dieser Auseinandersetzung immer wieder genannte Reimarus davor hütete, mit seinen Ansichten vor die Öffentlichkeit zu treten, verdeutschte der Leipziger Professor die Werke der berühmtesten und häufig angegriffenen französischen Freigeister, immer unter dem Vorwand, ihre schlimmsten Thesen zu widerlegen.« Ebd., S. 163 in Anm. 62. Ebd., S. 164f. Ebd., S. 168. Vgl. hierfür den letzten Satz im Beitrag von Quéval: ebd., S. 168. Beide Zitate bei Nowak: Vernünftiges Christentum (s. Anm. 4), S. 53.

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tellten Positionen zunächst der erkenntnisleitende Aufklärungsbegriff den Hauptgegenstand der Untersuchung bilden. Dabei wird sich zeigen, dass in allen drei Fällen ein bestimmtes Verständnis von (theologischer) Aufklärung nicht aus dem konkreten historischen Material gewonnen, sondern ein vor der historischen Untersuchung festgesetzter Begriff von Aufklärung an den Quellen nur noch illustriert wird. Gemessen am oben skizzierten Verständnis des (theologischen) Aufklärungsprozesses in Deutschland erscheinen im Ergebnis alle drei Gottschedbilder auf ihre je eigene Weise problematisch und defizitär. Inwiefern damit zuletzt vielleicht eben doch jene unterschwelligen kulturpolitischen Interessen bedient werden, von denen Nowak spricht, mag dann jede Leserin, jeder Leser selbst entscheiden. Bei den Gottschedbildern Gawlicks und Quévals ist jedenfalls ein Aufklärungsbegriff zu konstatieren, der ganz offenkundig der philosophiehistorischen Deismus- bzw. der romanistischen Aufklärungsforschung verpflichtet ist (Überkreuzungen dieser Perspektiven eingeschlossen). Entsprechend dem wissenschaftlichen Hintergrund der Autoren werden religionstheologische Sach- und Aussagezusammenhänge mit religions- und kirchenkritischen Deutungsmustern und Forschungstraditionen verknüpft, die Gottsched in der gezeigten Weise als Religionskritiker, Deisten und/oder Freigeist profilieren. Durchgängig wird das religionsphilosophische und -theologische Wirken des Leipziger Philosophieprofessors an französischen und englischen Aufklärungstraditionen gemessen, die für die Darstellung normative Kraft entfalten: Gottsched entspricht im Urteil der beiden Autoren umso stärker der (unausgesprochen positiv konnotierten) Idealvorstellung eines ›Aufklärers‹, je religionskritischer, offenbarungsskeptischer, antiklerikaler, freigeistiger etc. er ist. Der oben skizzierte Sonderweg der deutschen Aufklärung, der Religion und Aufklärung auf breiter Front zu harmonisieren suchte und wusste, bildet hier allenfalls eine Art negative Hintergrundfolie, von der man Gottsched abzuheben sich bemüht. Obwohl also sowohl Gawlick als auch Quéval in ihrer Darstellung von der hermeneutischen Vorentscheidung abhängen, Gottscheds Profil als (theologischer) Aufklärer im Anschluss an ein Aufklärungsverständnis zu formulieren, das an englisch-französischer Religions- und Kirchenkritik orientiert ist, sucht man Ausführungen zur Begründung dieses Schritts vergebens.41 Selbstevident ist eine solche Entscheidung jedenfalls nicht; dass es andere Makroperspektiven auf die Konstellation ›Aufklärung und Religion‹ gibt, habe ich eingangs skizziert. Quéval schließt mit ihrem Gottschedbild dabei prinzipiell an Gawlicks Sicht an, steigert aber die bei ihm bereits erkennbaren Ansätze der aufklärungstheologischen bzw. philosophischen Radikalisierung in einen historischen Superlativ. Methodisch bedient sie sich dafür einer ›Hermeneutik des Verdachts‹, die (trotz verschiedentlicher Verbreitung in der Aufklärungsforschung)42 geschichtswissenschaftlich als äußerst fragwürdig zu beurteilen ist. Nur auf diese Weise gelingt es ihr jedoch, einem sichtlich (wenngleich auch nicht explizit reflektierten) säkularisationstheoretisch aggregierten Aufklärer Gottsched einen religions-, kirchen- und offenbarungskritischen

41 42

Ob sich Gawlick und Quéval an anderer Stelle programmatisch zu ihrem Aufklärungsverständnis erklärt haben, ist mir nicht bekannt. Eine ganz ähnliche ›Hermeneutik des Verdachts‹ praktiziert beispielsweise auch Frank Grunert: Antiklerikalismus und christlicher Anspruch im Werk von Christian Thomasius. In: Les Lumières et leur combat. La critique de la religion et des Églises à l’époque des Lumières – Der Kampf der Aufklärung. Kirchenkritik und Religionskritik zur Aufklärungszeit. Hg. von Jean Mondot. Berlin 2004, S. 39–56, hier bes. S. 41.

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Hintersinn zu unterstellen, der Bayle und Reimarus an aufklärerischer Qualität und Konsequenz überflügelt. Man mag an diesem Punkt einwenden, dass Quévals Interpretation eine in der Tat kritikwürdige Übertreibung des Aufklärers Gottsched bietet, was auch der Berliner Literaturwissenschaftler Bernd Blaschke gelegentlich einer Rezension bemängelt hat.43 Doch ist damit die Problematik des vorgestellten Aufklärungsverständnisses nicht vom Tisch. Denn Gawlick, der letztlich derselben historiographischen Programmatik wie Quéval verpflichtet ist, operiert kaum minder problematisch. Abgesehen davon, dass es methodisch mehr als fragwürdig erscheint, zur Erklärung nicht ins Bild passender Phänomene zu behaupten, die theologischen Bundesgenossen Gottscheds hätten sich in der Bewertung seiner theologischen Position ›vermutlich‹ geirrt – eine rein spekulative These44 –, verbindet beide Autoren das zwar unausgesprochene, gleichwohl aber ganz offensichtliche historiographische Interesse, die philosophie- bzw. literaturgeschichtliche Bedeutung des Aufklärers Gottscheds auf dem Weg einer aufklärungstheologischen bzw. -philosophischen Radikalisierung zu steigern: Um des historischen Bedeutungsgewinns willen zielen beide Darstellungen darauf ab, Gottsched aus der breiten Masse LeibnizWolffscher ›Durchschnittsaufklärer‹ und damit aus dem Mainstream aufklärungstheologischer bzw. -philosophischer Entwicklungen seiner Zeit herauszuheben.45 Denn als ›Radikalaufklärer‹ eignet ihm eine Qualität, die man auf seinen anderen Tätigkeitsfeldern möglicherweise schmerzlich vermisst.46 Die Bedeutung des Philosophen und Literaturreformers wird damit (bewusst 43

44 45

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Bernd Blaschke: Die Leipziger Doppelspitze der Aufklärung. Ein Tagungsband aus Wolfenbüttel erhellt die Einbettungen der Eheleute Gottsched (in: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=11831): »Die distanzierenden Kommentare der Gottsched’schen Übersetzung angesichts Bayle’scher Dogmen- und Religionskritik deutet der Beitrag sehr weitgehend als bloße publizistische Strategien des Aufklärers: […] Quévals Bild eines noch über Bayles Bibelkritik hinausgehenden religionskritischen Gottsched als radikalem Freigeist, dem es zuallererst um die Publikation und Auslegung gewagter Thesen ging, erscheint freilich selber (auch methodisch) allzu gewagt. Gegen das herkömmliche Bild von Gottsched als Pastorensohn, der christliche Ideale und Glauben zwar vor dem Dogmatismus retten, aber doch bewahren will, entwirft Quéval einen Religionskritiker, dessen Distanzierungen mittels kritischer Kommentare nur taktische Volten (mithin nichts als ›Rhetorik der Dissimulation‹) seien, um Bayle und andere Religionskritiker ausführlich zu Wort kommen zu lassen.« Dieser Einwand schließt eine selektive Rezeption Gottscheds durch ihn befreundete Theologen freilich nicht aus, was (wenn es denn zuträfe) eigens zur Darstellung gebracht werden müsste. In besonderer Weise sei hier nochmals auf das wirkungsgeschichtliche weitreichende Fazit Gawlicks verwiesen, wonach es »unter den Neologen meines Wissens niemand [gegeben hat], der sich so auf die französische Aufklärung eingelassen hätte wie Gottsched«. Das psychologische Moment einer gewissen intellektuellen ›Langeweile‹ bei der Beschäftigung mit dem Philosophen oder Dichtungstheoretiker Gottsched darf in einer ansonsten an Höhenflügen des menschlichen Geistes orientierten Forschung nicht unterschätzt werden. Es sei mir an dieser Stelle die freimütige Auskunft gestattet, dass meine mehrjährige Beschäftigung mit dem homiletischen Aufklärer Gottsched mir selbst gelegentlich ›langweilig‹ erschien, insbesondere dann, wenn es den Predigttheoretiker Gottsched im Zusammenhang der homiletisch-systematischen Entwicklungen zu rekonstruieren galt. Denn natürlich reicht die homiletische Programmatik des Leipziger Aufklärers nicht an die gedankliche Tiefe eines Herder oder Schleiermacher heran. Dieser Mangel an homiletiktheoretischem Potential ändert freilich nichts an der enormen historischen Bedeutung, die von Gottscheds Konzeption der »philosophischen« Predigt auf zumindest eine Generation von Schülern und Anhängern ausging und die unter historischen Gesichtspunkten zu rekonstruieren mehr als spannend und keineswegs ›langweilig‹ ist.

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oder unbewusst) auf Kosten des Theologen gesteigert. Eine solche Argumentationsstrategie versprach lange Zeit nicht zuletzt deshalb Aussicht auf Erfolg, weil angesichts einer notorisch schwach entwickelten theologischen Aufklärungsforschung, die von der philosohie- und literaturhistorischen Aufklärungsforschung teils separiert agierte, teils auch ignoriert wurde, ein stimmgewaltiger Einspruch kaum zu befürchten war. Mit der Gründung des Arbeitskreises ›Religion und Aufklärung‹ im Jahr 2001 ist diesbezüglich allerdings eine forschungsgeschichtliche Zäsur zu notieren, die auch von der Gottschedforschung wahrgenommen werden sollte.47 Karl Aners Gottschedbild, dem durchaus ähnliche Radikalisierungstendenzen unterliegen (Gottsched weist »im völligen Verzicht auf Offenbarung bereits den Weg, den später Lessing beschritt«), zeichnet gleichwohl ein anderer methodischer Ansatz aus. Das hat nicht nur mit dem Alter seiner Darstellung zu tun, sondern auch und vor allem mit ihrer Verankerung im Rahmen einer elaborierten protestantischen Theologie- und Dogmengeschichtsschreibung. Im Gegensatz zu Gawlick und Quéval, die zur Verortung des theologischen Aufklärers Gottscheds auf philosophiehistorische Begrifflichkeiten und Phänomene, wie z. B. Deismus, Skeptizismus, Religionskritik, zugreifen, müht sich Aner als Theologe um eine dezidiert theologiegeschichtliche Einordnung des Aufklärers Gottsched. Für diesen Zweck konstruiert er am Anfang seiner Theologie der Lessingzeit ein Drei-Stufen-Schema, das die deutsche Aufklärungstheologie nach bestimmten Gesichtspunkten systematisch zu gliedern versucht und auf dem die ganze nachfolgende Darstellung aufbaut.48 Innerhalb dieses Schemas, das sich am aufklärungstheologischen (systematisch-dogmatischen) Verhältnis von Vernunft und Offenbarung orientiert, wird Gottsched als geheimer, d. h. nicht-öffentlicher »Vorläufer der Neologie« bzw. als Vorläufer Lessings identifiziert. Gegenüber dieser im Prinzip unverdächtigen Methode theologiehistorischer Arbeit sind dennoch kritische Rückfragen angebracht. Woher stammt dieses Schema ideen- und wissenschaftsgeschichtlich? Auf welcher Quellengrundlage hat es sich entwickelt? Wieso soll gerade dieses Schema geeignet sein, die theologiehistorische Entwicklung im 18. Jahrhundert im Kern zutreffend abzubilden? Was wird durch dieses Schema an theologiegeschichtlichen Tendenzen und Strömungen erfasst und was nicht? Ist der Abstraktionsgrad, mit dem die theologiehistorische Entwicklung dargestellt wird, noch vertretbar oder wird unzulässig entdifferenziert, mithin simplifiziert? Sind die theologiegeschichtlichen Bruchstellen richtig bezeichnet? Wie offen und flexibel zeigt sich das Schema für Modifizierungen oder Weiterentwicklungen seiner selbst bzw. wie anschlussfähig ist es an allgemein-, philosohie- und literaturhistorische Epochengliederungen? Beschreibt die Annahme einer im Laufe des Jahrhunderts sich vollziehenden »Radikalisierung« bzw. »Verschärfung« der Vernunft-Offenbarung-Problematik die aufklärungstheologische Entwicklung an ihrem theologiegeschichtlich zentralen Punkt? etc. etc. Zu allen diesen Fragen äußert sich Aner nur ungenügend oder gar nicht. Erst wenn Aners Drei-Stufen-Schema dem Feuer einer heutigen Ansprüchen genügenden methodischen Kritik ausgesetzt worden ist, wird man die Ergebnisse seiner Darstellung auch bedenkenlos übernehmen können. Das trifft auch 47

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Die Arbeitsergebnisse werden in bislang drei Tagungsbänden dokumentiert: Religion und Aufklärung; Christentum im Übergang. Neue Studien zu Kirche und Religion in der Aufklärungszeit. Hg. von Albrecht Beutel, Volker Leppin und Udo Sträter. Leipzig 2006; Aufgeklärtes Christentum. Beiträge zur Kirchen- und Theologiegeschichte des 18. Jahrhunderts. Hg. von Albrecht Beutel, Volker Leppin u.a. Leipzig 2010. Aner: Die Theologie der Lessingzeit (s. Anm. 11), S. 1–4.

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und gerade für die theologiehistorische Darstellung des Aufklärers Gottsched zu. Die ganz unkritische Fortschreibung des Anerschen Drei-Stufen-Schemas bis in neueste Untersuchungen hinein macht die angedeuteten Einwände also nicht obsolet,49 sondern bezeichnet vielmehr ein Dilemma der gegenwärtigen theologischen Aufklärungsforschung, die auf metahistorische Systematisierungen einerseits zwar nicht verzichten kann, andererseits bislang aber wenig Ambitionen gezeigt hat, über Aners Schema hinauszukommen.50 An Aners Ausführungen, die dem Projekt der theologischen Aufklärung insgesamt positiv gegenüberstehen,51 ist jedoch nicht nur die starre Handhabung des theologiegeschichtlichen Drei-Stufen-Schemas problematisch. Denn in seiner Darstellung im Ganzen wie auch in seinem Gottschedbild im Einzelnen macht sich ein unterschwelliges theologisches Beurteilungsinteresse bemerkbar, das die geäußerten historischen Urteile als Medium gegenwartstheologischer Selbstverortung erweist. Konkret zeigt sich dieses Interesse darin, dass Aner den theologiehistorischen Begriff der ›Neologie‹ mit dem kirchenrechtlichen Begriff der ›Häresie‹ verbindet. Die historiographische Problematik einer solchen Urteilsbildung liegt auf der Hand. Denn entgegen landläufiger Meinung bezeichnet das Urteil ›Häresie‹ kein objektiv-historisches Faktum, sondern einen bestimmten theologischen Beurteilungsstandpunkt, der in einer überzeitlichen, theologisch-normativen Ausrichtung am kirchlichen Dogma wurzelt. Vom Standpunkt ›orthodoxer‹ Lehrnorm erweist sich die Neologie an bestimmten Punkten deshalb als ›häretisch‹, und natürlich treten aus diesem Grund auch ›orthodoxe‹ Theologen als Widersacher Gottscheds in Er49

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Es ist hier nicht der Ort, das Anersche Stufenschema, welches die aufklärungshistorische Konstellation von Vernunft und Offenbarung als mathematische Additions- und Subtraktionsgleichung abbildet, ausführlich zu diskutieren und zu kritisieren. Folgendes sei aber angemerkt: Auch wenn niemand die allgemeine ideengeschichtliche Bedeutung der Vernunft-Offenbarung-Konstellation für den historischen, in verschiedenen nationalen Kontexten sich vollziehenden Aufklärungsprozess bestreiten wird, sind Zweifel an der Entscheidung angebracht, die konkreten theologiegeschichtlichen Entwicklungen daraufhin zu fixieren, d.h. pauschal darunter zu subsumieren. Aufklärungstheologische Bruchstellen der Diskurslagen bzw. thematische Verschiebungen innerhalb bestimmter Diskurslinien (um die Aner im übrigen selbst weiß), beispielsweise das Verhältnis von Vernunft und Gefühl oder das von Offenbarung und Geschichte betreffend, werden von dem Stufenschema nur unzureichend abgebildet. Die theologische Volksaufklärung, die als eigener Strom im Entwicklungsgefüge des Aufklärungsprozesses zu rekonstruieren ist und die in der Vergangenheit theologiehistorisch in Orientierung an Aner mit der letzten Entwicklungsstufe, dem theologischen »Rationalismus« identifiziert wurde, wird damit ganz unzutreffend beschrieben. Insgesamt wird der aufklärungstheologische Entwicklungsprozess ohnehin viel zu sehr von der erweckungstheologischen bzw. neokonfessionalistischen Überwindung der Aufklärung her gedacht, für die theologiehistorisch ein fortschreitender innerer Substanzverlust postuliert wird, der als historisches Argument die diversen theologischen Restaurationsbewegungen des 19. Jahrhunderts plausibel machen soll. Es stimmt in mehrerlei Hinsicht nachdenklich, wenn Aners Darstellung trotz der bereits bei ihrem Erscheinen geäußerten Kritik (vgl. Heinrich Hoffmann: [Rez.] K. Aner, Die Theologie der Lessingzeit. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 49 [1930], S. 125–127) anerkennend als »immer noch unübertroffene[s] Standardwerk« bezeichnet wird; vgl. Andreas Kubik: Spaldings ›Bestimmung des Menschen‹ als Grundtext einer aufgeklärten Frömmigkeit. In: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte 16 (2009), S. 1–20, hier S. 1 in Anm. 2. Aner: Die Theologie der Lessingzeit (s. Anm. 11), S. 3: »Sie [sc. die Neologie als das zweite Stadium der Aufklärung; A. S.] war also ein Abschnitt des großen Befreiungsprozesses, der sich auf westeuropäischem Boden in der zweiten Hälfte des 17. und im 18. Jahrhundert vollzogen hat. Das Joch, das es auf protestantisch-religiösem Gebiet abzuschütteln galt, war das kirchliche Dogma.«

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scheinung. Doch was bedeutet es historiographisch, wenn Aner mit seinem Gottschedbild den Standpunkt des kirchlichen Dogmas bezieht? Ist der (theologische) Geschichtsschreiber notwendig dazu aufgefordert, im Rahmen theologiegeschichtlicher Entwicklungen diesen ›Sehepunkt‹ einzunehmen? Die Neologen selbst verstanden ihre ›Häresien‹ jedenfalls nicht als solche, sondern entwickelten eigene Begründungszusammenhänge, die ihre Reform- und Transformationsanstrengungen theologisch legitimieren sollten. Den Begriff der ›Häresie‹ wiesen sie dabei gegenüber ›orthodoxen‹ Kritikern als unsachgemäß zurück. Denn tatsächlich war es ein von den Aufklärungstheologen erklärtes Ziel, das Dogma in seinem objektiv-theologischem Charakter durch Historisierung zu hinterfragen und auf dem Hintergrund des protestantischen Sola-scripturaPrinzips in seiner theologischen Normativität zu relativieren. Das Dogma erschien aufklärungstheologischer Dogmenkritik als ungeeigneter Maßstab zur Feststellung dessen, was dem Wesen eines ebenso biblisch wie zeitgemäß (d.h. vernunftgemäß) orientierten Christentums entsprechen sollte. Wenn Gottsched von seinen ›orthodoxen‹ Kritikern daher als ›Ketzer‹ oder ›Häretiker‹ denunziert wurde, besagt das nichts über sein christlich-religiöses Selbstverständnis, nur dass es nicht der ›orthodoxen‹ Lehrnorm entsprach, was pauschal gesprochen für die gesamte Aufklärungstheologie der Fall war. Die historiographische Problematik theologischer Positionsbestimmungen, wie sie sich in Aners Theologie der Lessingzeit zeigt, kritisierte deshalb auch ein Rezensent gelegentlich einer anderen, früheren Arbeit des Kirchenhistorikers. Denn in einer kleinen Studie zur Religiosität Goethes52 war Aner schon Jahre zuvor zu dem für kulturprotestantische Ohren ernüchternden Ergebnis gelangt, »daß Goethes Religiosität keinen inneren Konnex mit dem geschichtlichen Christentum zeigt und daher nicht als organische Weiterbildung der christlichen Frömmigkeit erscheint.«53 Der gleich Aner dem liberalen Protestantismus zugehörige Horst Stephan hielt diesem Urteil jedoch entgegen: Natürlich läßt G[oethe] sich nicht als Christ bezeichnen, sofern man diesen Titel von dem Bewußtsein der persönlichen religiösen Gebundenheit an Jesus abhängig macht. Aber müssen wir dann das Urteil Aners nicht fast auf die gesamte Aufklärung, auf den deutschen Idealismus, ja auf die große Mehrheit auch der gut kirchlichen ›Christen‹ ausdehnen?54

Was dem Rezensenten problematisch und kritikwürdig erschien, irritierte Aner nicht im Geringsten; noch reichlich zwanzig Jahre später bekräftigte er seine einst geäußerte Auffassung ohne jeden Abstrich.55 Wer bei der Beschreibung bestimmter aufklärungstheologischer Positionen deshalb – wie Aner – in Orthodoxie-Heterodoxie-Kategorien operiert und meint, mit der Feststellung be52

53 54 55

Vgl. zum Folgenden auch Andres Straßberger: Frömmigkeitsgeschichte und Kulturgeschichtsschreibung. Überlegungen zur Kirchenhistoriographie Karl Aners (1879–1933). In: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte 12 (2005), S. 175–207; zu Aners Goethe-Deutung ebd., S. 190–192. Karl Aner: Goethes Religiosität. Tübingen 1910, S. 32. Horst Stephan: [Rez.] K. Aner, Goethes Religiosität. In: Theologische Literaturzeitung 36 (1911), S. 145–147, hier S. 146. Karl Aner: Goethe-Literatur. In: Christliche Welt 47 (1933), S. 133–135 und 278–282, hier S. 279: »Ich vertrat bereits in einer gewiß unvollkommenen Erstlingsschrift ›Goethes Religiosität‹ (1910) und vertrete noch die Grundthese […], daß zwischen der Religion Goethes und dem neutestamentlichenreformatorischen Christentum ein unverkennbarer Gegensatz klaffe.«

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stimmter aufklärungstheologischer »Häresien« ein negatives Charakteristikum für Gottscheds Verhältnis zu Kirche, Christentum oder Religion ausfindig gemacht zu haben, ignoriert damit den aufklärungstheologischen (neologischen) Selbstanspruch, dem es nicht um Kritik und Abschaffung der Religion ging, sondern um eine zeitgemäße Transformation bzw. Adaption christlicher Inhalte. ›Aufklärung‹ bezeichnet im theologisch-religiösen Kontext eben nicht eine Gegenposition zum protestantischen Christentum, sondern eine dritte Spielart neben ›Orthodoxie‹ und ›Pietismus‹. Diese erkämpfte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts sukzessive ihr theologisches und kirchliches Existenzrecht, und zwar im Zusammenhang kämpferisch-polemischer Abgrenzungsprozesse gegenüber ›pietistischen‹ und ›orthodoxen‹ Gegenpositionen, die an wesentlichen Punkten deshalb auch Gottscheds theologische Stellungnahmen konfigurierten. Eine heutige Option für die theologiegeschichtliche Deutung Aners wird also stets deren immanente theologische Position berücksichtigen und dazu selbst Stellung beziehen müssen. Wer mit Aner den theologischen Aufklärer Gottsched als ›Häretiker‹ oder ›Heterodoxen‹ profiliert, sollte sich deshalb im Klaren sein, dass er sich damit nicht nur auf den Standpunkt der kirchlichen ›Orthodoxie‹ stellt und Gottscheds Wirken daran misst, sondern dass er damit auch eine theologische Position historiographisch protegiert, die den theologischen Anspruch der Aufklärung, wie ihn Gottsched repräsentierte, historisch wie systematisch-theologisch unterläuft. Das ist grundsätzlich zwar ebenso möglich wie zulässig; methodisch und praktisch sollte ein solches Vorgehen aber offengelegt und begründet werden. Weder im Falle Aners selbst, noch dort, wo sein Gottschedbild ganz oder in Teilen rezipiert wurde, ist dies nach meinem Dafürhalten bislang in ausreichendem Maße geschehen.

3. Resümee Gottsched war kein deutscher Bayle, kein zweiter Reimarus, sondern, nach einer durchaus treffenden Bemerkung Hans Heinz Holz’, »ein Mann von brav aufklärerischer Redlichkeit, die viel vom Denkstil eines nüchternen protestantischen Pastors hat«.56 Selbst wenn seine Theologie in der den ausgewiesenen Deismus-Forscher interessierenden religionsphilosophischen Perspektive Momente deistischen Denkens enthalten haben mag (was nicht weiter verwundern kann, da der Deismus die Religionsphilosophie der deutschen Aufklärungstheologie gewesen ist),57 so darf dies doch nicht mit materialer Deismus-Rezeption verwechselt werden, die in der deutschen Aufklärung kaum stattgefunden hat.58 Die deutsche Aufklärungstheologie formulierte ihre Positionen vor dem Hintergrund und im Gegenüber zum englisch-französischen Deismus. 56

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Hans Heinz Holz: Johann Christoph Gottsched. Leibniz’ Integration in die Bildung der bürgerlichen Aufklärung. In: Leibnizbilder im 18. und 19. Jahrhundert. Hg. von Alexandra Lewendoski. Stuttgart 2004, S. 107–119, hier S. 113. Vgl. hierfür insbesondere Ernst Troeltsch: Der Deismus (1898). In: ders.: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie. Hg. von Hans Baron. Tübingen 1925, S. 429–487, hier S. 429 f. Vgl. auch Günter Gawlick: Der Deismus als Grundzug der Religionsphilosophie der Aufklärung. In: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768). Ein ›bekannter Unbekannter‹ der Aufklärung in Deutschland. Göttingen 1973, S. 15–43. Christopher Voigt: Der englische Deismus in Deutschland. Eine Studie zur Rezeption englisch-deistischer Literatur in deutschen Zeitschriften und Kompendien des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2003.

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Das Interesse der Beschäftigung mit deistischen Positionen war dabei ganz überwiegend nicht rezeptiv, sondern apologetisch motiviert.59 Aufklärungstheologisches Denken, das im Falle Gottscheds das Ergebnis einer von ihm selbst als »Bekehrungserlebnis« beschriebenen Zuwendung zur Leibniz-Wolffschen Philosophie war,60 interessierte sich in zeittypisch hervorgehobener Weise für Gott als Schöpfer und Erhalter der Welt, was sich in der Frömmigkeit der Zeit niederschlug. Um begriffliche Unklarheiten zu vermeiden, sollte man diese theologisch und frömmigkeitspraktisch auf breiter Front durchschlagende Konzentration auf die erste Person der Trinität nicht als ›deistisch‹ bezeichnen, allzumal der aufklärerische Gott ein persönlicher Vater-Gott blieb, dem der Gläubige in Gebet und Gottesdienst im Bewusstsein seiner eigenen, von Gott verliehenen Vernunft gegenübertrat. Und selbst wenn bei Gottsched der oberflächliche Eindruck nicht von der Hand zu weisen ist, dass in seinen theologierelevanten Stellungnahmen der Vernunft- den Offenbarungsanspruch überwiegt, ist dafür neben anderem besonders zu bedenken, dass sich Gottsched nicht als ein auf die Bekenntnisschriften verpflichteter Theologe (Theologieprofessor), sondern als ein allein der menschlichen Vernunft verpflichteter Philosoph (Philosophieprofessor) dazu äußert. Diese klare Rollentrennung muss beim Leipziger Professor für Logik und Metaphysik (und nicht nur bei ihm) vorausgesetzt werden, ganz so, wie es eine briefliche Bemerkung Mosheims nahelegt: Diese billigte dem christlichen Philosophen eine größere Freiheit des Denkens zu als dem Theologen, sofern sie nur mit Vernunft und Heiliger Schrift übereinkommt; Abweichungen vom Dogma werden daher nicht nur geduldet, sondern implizit auch als theologisch legitim begründet.61 Dass eine solche Rollentrennung für Gottsched Geltung hatte, lässt sich dem Umstand entnehmen, dass er seine Leipziger Predigttätigkeit kaum zufällig in dem Moment einstellte, als er den Lehrstuhl für Logik und Metaphysik übernahm.62 Wenn man diese methodisch begründete Rollentrennung nicht gebührend berücksichtigt, muss man zwangsläufig zu Überinterpretationen betreffs eines angeblichen Spannungsverhältnisses von Vernunft und Religion kommen. Die berufliche Karriere nicht nur Gottscheds, sondern auch vieler anderer Philosophieprofessoren, führte im 18. Jahrhundert oftmals ebenso selbstverständlich wie 59

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Das grundlegend apologetische Interesse des theologischen Wolffianismus versuche ich auch am Beispiel zweier prominenter theologischer Woffianer plausibel zu machen: Andres Straßberger: Johann Lorenz Schmidt und Johann Gustav Reinbeck. Zum Problem des ›Links-‹ und ›Rechtswolffianismus‹ in der Theologie. Mit einem Brief Reinbecks an Ludwig Johann Cellarius. In: Aufgeklärtes Christentum, S. 23–52. Vgl. hierfür insbesondere Straßberger: J. Ch. Gottsched und die ›philosophische‹ Predigt (s. Anm. 8), S. 5663. Theodor Wilhelm Danzel: Gottsched und seine Zeit. Auszüge aus seinem Briefwechsel. Zusammengestellt und erläutert von Th. W. Danzel. ND der 2. Ausg. Leipzig 1855. Eschborn 1998, S. 25f. in Anm. * (Mosheim an Gottsched, 15. 9. 1734): »Ew. Hochedelgeb. practische Philosophie wird mit mir leicht auskommen, so lange ich billig und vernünftig bleibe. Gegen die christliche Sittenlehre ist nichts von Ihnen geschrieben worden. Ich bin damit einig, daß alles mit Stellen der [Heiligen] Schrift kann bewiesen werden. Ein anderes ist es, ob alles mit der Glaubenslehre übereinkomme, die in unsern Kirchen angenommen und in den sächsischen symbolischen Büchern bestätigt ist […] [A]ber das ist gewiß, daß ein Mann, der das behauptet, was er [sc. ist Melodius, d. i. Adam Bernd; A. S.] setzet, in keiner Evangelischen Kirche, das öffentliche Amt der Lehren führen könne, so lange unsre bisherigen Glaubensbekenntnisse stehen bleiben. Mit E. Hochedelgeb. ist es anders. Ein Weltweiser hat mehr Freiheit und ich will der nicht seyn, der andern das sagt, was ich hie als ein Theologus, der nach einer gewissen Vorschrift von den Lehren anderer Menschen urtheilen muß, geschrieben habe.« Ebd., S. 22 in Anm. *.

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unproblematisch aus einem Pfarrhaus über ein Theologiestudium auf einen philosophischen Lehrstuhl. Wer wie Gawlick oder Quéval unter solchen ›Philosophen mit Pfarrhaushintergrund‹ einen Religions- und Offenbarungskritiker ausmachen will, sollte dafür stichhaltigere Gründe vorweisen können als einen bloß vulgäraufklärerischen Vernunftanspruch. Vor allem aber sollte in der Aufklärungsforschung zukünftig vermieden werden, die christentumsapologetische Tendenz, die Gottscheds theologisch-philosophisches Wirken durchzieht, als Camouflage zu behaupten, eine Annahme, welche der ideologisch nicht unverdächtigen Gottschedbiographie Riecks63 streckenweise ebenso zugrundeliegt, wie sie die Ausführungen Gawlicks, Quévals oder Hans-Georg Kempers64 konfiguriert. Zwar wird niemand leugnen, dass Gottsched v. a. seit seinem 1737 erfolgten Verhör vor dem Dresdner Oberkonsistorium in mancherlei Hinsicht Vorsicht bei der Äußerung von für ›orthodoxe‹ Ohren anstößigen Thesen übte; doch rechtfertigt diese in der Tat strategisch bedingte Rücksichtnahme nicht die Vermutung, sein ganzes Wirken einerseits unter einen hermeneutischen Generalverdacht zu stellen, und andererseits seine aufklärungstheologische Frontstellung zur ›Orthodoxie‹ mit der christlichen Religion überhaupt zu identifizieren. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die historische Bedeutung Gottscheds als theologischer Aufklärer nicht über eine ihm unterstellte aufklärungstheologische Radikalität und damit zugleich behauptete Originalität gewonnen werden kann, sondern im Blick auf die von ihm ebenso breitflächig wie effektiv vermittelte ›Durchschnittsaufklärung‹ Leibniz-Wolffscher Prägung (was im übrigen die Präsenz partieller Eigenheiten und Eigentümlichkeiten im Vergleich mit prinzipiell gleichgelagerten Aufklärern nicht ausschließt). In diesem Zusammenhang ist auch sein mehr als gewichtiger Beitrag bei der Herausbildung und Propagierung bestimmter aufklärungstheologischer Positionen zu rekonstruieren. Bei einer Einstellung des Blicks auf diese Perspektive wird sich zeigen, dass der für die deutsche protestantische Aufklärungsbewegung typische Konnex von Religion und Aufklärung mit entscheidenden Schnittstellen des Lebens und Werks Gottscheds korreliert. In diesem Zusammenhang wird eine qualifizierte theologie- und frömmigkeitsgeschichtliche Aufklärungsforschung aufgefordert sein, der nichttheologischen Gottschedforschung bei der Aufschlüsselung der aufklärungstheologischen Phänomene im Schaffen des Leipziger Philosophieprofessors zuzuarbeiten. Wenn es auf diese Weise gelingt, theologie-, philosophie- und literaturgeschichtliche Kompetenzen im Rahmen einer historisch orientierten Interpretation des Aufklärers Gottsched synergetisch zusammenzuführen, scheint es nicht zu viel erwartet, Gottscheds biographische Synthese von Theologie, Philosophie und Literatur in einen geschichtlichen Darstellungs- und Deutungszusammenhang zu bringen, der seinem Selbstverständnis in wesentlichen Punkten entspricht. Ein unter diesem 63 64

Vgl. hierfür bes. das Kapitel »Bürger und aktiver Zeitgenosse« bei Rieck: Johann Christoph Gottsched (s. Anm. 20), S. 52–69. Beispielsweise interpretiert Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 5/2. Frühaufklärung. Tübingen 1991, S. 64 ein dem Leipziger Theologen Christian Gottlieb Jöcher gewidmetes Lehrgedicht Gottscheds Daß ein heutiger Gottesgelehrter auch in der Vernunft und Weltweisheit stark seyn müsse als Beispiel »[f]ür die durch die starke Stellung der Kirche erzwungene, aber auch herausgeforderte Kunst der Verstellung im Zeichen der Apologie«. Im Falle Gottscheds »verwandelte sich die Apologie des Christentums« nach Kempers Lesart dann aber »unversehens in eine Apotheose der Vernunft« (ebd., S. 65): »Damit aber vertrat der Wolffianer Gottsched […] genau den Standpunkt der Vernunft in Glaubensangelegenheiten, den auch die Deisten für sich reklamierten […].«

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Vorzeichen rekonstruierter Gottsched mag als (theologischer) Aufklärer historisch dann zwar deutlich weniger geheimnisvoll-spektakulär erscheinen, dafür aber um so stärker breitenwirksam.

JAN-HENRIK WITTHAUS

Induktion und Experiment in den Ersten Gründen der gesamten Weltweisheit Johann Christoph Gottscheds

1. ›Philosophie der Aufklärung‹ als Etappe kultureller Identitätsreflexion Aus heutiger Sicht erscheint Ernst Cassirers Philosophie der Aufklärung (1932) wohl in ähnlicher Weise von jenem Desiderat betroffen, das an verschiedene klassische Werke der Aufklärungsforschung herangetragen worden ist, etwa an Kosellecks Kritik und Krise (1959) oder an Jürgen Habermas Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962). Man müsse derlei Theorieentwürfe ihrerseits historisieren,1 nicht zuletzt um zu erkennen, aus welchen geschichtlichen Etappen des 20. Jahrhunderts heraus man es für angemessen hält, sich mit dem Erbe der Aufklärung zu identifizieren. Cassirers Versuch einer mentalen Physiognomie der Aufklärung ist vor allem wieder Aufmerksamkeit zuteil geworden, seitdem in einem tiefenstrukturellen Zugang Foucaultscher Wissensarchäologie das 18. Jahrhundert jegliches Eigenprofil verloren hatte.2 Eine Einebnung der Lumières in ihrer zeichenstrukturellen Tieferlegung der Repräsentation und der Taxonomie mag man im Sinne Cassirers gerade durch ihre charakteristische Akzentuierung der Wissensproduktion ergänzen: durch das analytische Denken, durch den Rekurs auf die Erfahrung und somit durch das szientistische Ethos der Induktion. Vor allem aber lässt Cassirers These – wiedergelesen – erahnen, dass auf der Ebene des bloßen Wissens die Frage nach der Aufklärung nicht zu beantworten ist und daher in der Ordnung der Dinge ganz folgerichtig verschwindet, ja in späteren Werken Foucaults nachgetragen werden muss. Indem das Wissen sich als die ›tätige Vernunft‹ begreift und sich in seinem gesellschaftlichen Sein zu erkennen gibt, wird es zu einem Geflecht von Dispositiven, das heißt es wird nicht nur in einer Struktur erfasst, anhand derer sich Aussagen anordnen (lassen), sondern in ihrer gesellschaftlichen Produktion, die Praktiken, Ordnungen von Sichtbar- bzw. Erfahrbarkeit, Diskurse, Institutionen, Speicher- und Übertragungsme-

1 2

Ute Daniel: How bourgeois was the public sphere of the Eighteenth Century? Or: Why it is important to historicize ›Strukturwandel der Öffentlichkeit‹. In: Das achtzehnte Jahrhundert 26 (2002), S. 9–17. Vgl. Klaus W. Hempfer: Zum Verhältnis von ›Literatur‹ und ›Aufklärung‹. In: Aufklärung. Hg. von Roland Galle und Helmut Pfeiffer. München, Paderborn 2007, S. 15–54.

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dien, Vulgarisierung und nicht zuletzt gesellschaftliche Verwendung im Zeichen der Nützlichkeit impliziert.3 Mit derlei Vorüberlegungen soll sich ein Kontext ergeben, in dem die Frage des Experiments und seines funktionalen Stellenwertes in der Wissenschaftsprosa Johann Christoph Gottscheds womöglich eine neue Perspektivierung erhält, wobei an dieser Stelle die Ersten Gründe der gesamten Weltweisheit im Vordergrund stehen. Dabei ist einleitend auf zweierlei hinzuweisen: erstens auf Cassirers Denkfigur der Aufklärung, welche die eigene Form ihrer Rationalität gegen das Systemdenken des 17. Jahrhunderts profiliert. Es liegt auf der Hand, dass sich dieser Zusammenhang im Zusammenhang der Gesamten Weltweisheit, die sich im Anspruch einer enzyklopädischen Erfassung des Wissens mit der Philosophie Wolffs und Leibniz auseinandersetzt, nachgerade aufdrängt, steht doch die betreffende Schrift Gottscheds mit dieser Textintention historisch am Übergang zwischen dem Systemgeist des Rationalismus einerseits und der Aufklärung anderseits, die sich laut Cassirer programmatisch von diesem abwendet. Zweitens ist auf die kulturelle Technologie des Experiments selbst zurückzukommen,4 insofern diese sich zunehmend als eine genuine Erkenntnisform der Naturphilosophie etabliert, die man in ihrer konkreten Gestalt als Dispositiv bezeichnen kann,5 so in den bereits oben erwähnten Aspekten der Anordnung, des Instrumentariums, der Herstellung von Sichtbarkeit, Protokollierung, Akkreditierung,6 Vulgarisierung, Stiftung von Öffentlichkeit etc. Auch wenn dies hier en detail nicht nachzuverfolgen ist, so bleibt doch zumindest hierbei der in die erwähnten kulturellen Technologien eingebettete Legitimationsdiskurs des wissenschaftlichen Versuchs seit den Anfängen der so genannten Wissenschaftlichen Revolution in Erinnerung zu rufen, weil er für die Identitätsdiskurse jener Epochen von Belang ist. Es wird sich zeigen, dass die Implementierung 3

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In der jüngeren Wissenschaftsgeschichte ist insbesondere das Labor als Dispositiv zur Herstellung von Sichtbarkeiten ins Zentrum des Interesses gerückt – in Umdrehung des Satzes aus Foucaults Überwachen und Strafen (Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt 1994, S. 263), dass das Panopticum von Jeremy Bentham »eine Art Laboratorium der Macht« sei, mithin das Laboratorium ein kleines Panopticum sei. Vgl. hierzu den Forschungsüberblick bei Christine Hanke und Sabine Höhler: Epistemischer Raum. Labor und Wissensgeographie. In: Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hg. von Stephan Günzel. Stuttgart 2010, S. 309–321, insbesondere die Ausführungen zu Bruno Latour, ebd., S. 311f. Vgl. den Überblick bei Klaus Hentschel: Historiographische Anmerkungen zum Verhältnis von Experiment, Instrumentation und Theorie. In: Instrument – Experiment. Historische Studien. Hg. von Christoph Meinel. Berlin 2000, S. 13–51. Die Kulturtechnologie des Experimentes ist vor allem durch Ian Hacking wieder ins Zentrum des wissenschaftshistorischen Interesses gerückt, weil im Begriffsfeld der menschlichen Intervention die Frage nach dem naturwissenschaftlichen Realismus neu zu perspektivieren sei. Vgl. Ian Hacking: Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften [Representing and Intervening, 11983]. Stuttgart 1996, S. 249–277. Latour hat anhand der Auseinandersetzung zwischen Pasteur und Pouchet gezeigt, dass das Experiment nur ein Element im Netzwerk der wissenschaftlichen Auseinandersetzung bzw. im Prozess der Wissensproduktion darstellt. Vgl. Bruno Latour: Pasteur und Pouchet. Die Heterogenese der Wissenschaftsgeschichte. In: Elemente einer Geschichte der Wissenschaften. Hg. von Michel Serres. Frankfurt a. M. 1998, S. 749–789. Vgl. neben dem oben zitierten Artikel von Hanke und Höhler zur Begriffspräzisierung auch Giorgio Agamben: Was ist ein Dispositiv? Zürich, Berlin 2008. Gerade der Punkt der Akkreditierung des Experiments lässt es in die Nähe der Wunder und ihre Berichterstattung rücken. Vgl. hierzu Peter Dear: Miracles, Experiments, and the Ordinary Course of Nature. In: Isis 81 (1990), S. 663–683; Lorraine Daston: Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt a. M. 22003, S. 29–76; dies.: Wunder und Beweis im frühneuzeitlichen Europa. In: Die ungewisse Evidenz. Für eine Kulturgeschichte des Beweises. Hg. von Gary Smith und Matthias Kroß. Berlin 1998, S. 13–68.

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der Experimentalkultur mit der von Cassirer lancierten aufklärerischen Denkfigur kritisch in Beziehung gesetzt zu werden verdient. Denn die Selbstprofilierung spezifisch aufklärerischer Rationalität muss notwendig die eigene Verwurzelung im 17. Jahrhundert abtönen und erkauft demgemäß die Identitätsfindung um den Preis einer zum Teil äußerst selektiven Wahrnehmung des kulturellen Erbes. Ein Blick auf die Entwicklung des wissenschaftlichen Versuchs und seinen Legitimationsdiskurs schon im Rationalismus mag dies verdeutlichen. Gerade letzterer zeigt an: Der naturwissenschaftliche Versuch etabliert sich als Erkenntnismittel schon sehr viel früher, als man das anhand des Stereotypen ›Geist der Systemphilosophie‹, der wie gesagt bereits in der Aufklärung entsteht, vermuten wollte. Schließlich ist auf die rhetorische Einbindung naturphilosophischen Erfahrungswissens in ausgesuchten Textabschnitten der Gesamten Weltweisheit zurückzukommen. Die nachfolgenden Ausführungen lassen sich in ihren leitenden Aspekten wie folgt vorwegnehmen: Wenn der enzyklopädische Anspruch der umfangreichen Schrift durch eine systemische Schließung erzielt wird, stellt sich die Frage, in welcher Form zunächst das Experiment als Exponent eines naturwissenschaftlichen Wissens in die Pragmatik und rhetorische Organisation des Textes integriert wird.7 Es wird zu zeigen sein, dass Altes und Neues – rhetorische Tradition und wissenschaftlicher Legitimierungsdiskurs – sich über die Figur des exemplum/ paradeigma verbinden, die gerade in ihrer aristotelischen Herschreibung an den Begriff der ›Induktion‹ anschlussfähig ist. Die These von einer so gearteten rhetorischen Einbindung‹ des Experiments in das Gesamtkonzept der Weltweisheit lässt damit symptomatisch den wachsenden kulturellen Stellenwert der Naturforschung und ihrer Methoden im Kontext der Aufklärung erkennbar werden: erstens in der damit verbundenen Beobachtung, dass rhetorische Präsentation und Vulgarisierung naturwissenschaftlicher Verfahren fest zur Dispositivstruktur (Foucault) ihrer gesellschaftlichen Implementierung zählen, und zweitens in dem Hinweis, dass das dergestalt textuell eingebundene Experiment punktuell die Wertschätzung der Erfahrung (Cassirer) im Identitätsdiskurs des 18. Jahrhunderts steigert.

2. Zur Legitimation der wissenschaftlichen ›Erfahrung‹ als Versuch Die von Cassirer hervorgehobene Denkfigur, an der ihm zufolge ein historisches Epochenbewusstsein ablesbar werde, besteht in der Wendung des systematischen Geistes gegen den Geist des Systems. »Der Weg führt demgemäß nicht von den Begriffen und Grundsätzen zu den Erscheinungen, sondern er führt von diesen zu jenen.«8 Den Aufklärern dient Isaac Newton als 7

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Rüdiger Campe (Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1990, S. 12–20) hat insbesondere das Genre der Lobrede bei Gottsched untersucht – im Hinblick auf eine implizite Rhetorikkritik, die sich in der Aufklärung oftmals gegen die Affekterregung in der politischen und forensischen Rede zum Ausdruck bringt und in Übereinstimmung hiermit dem genus demonstrativum Vorschub leistet sowie der elocutio ein größeres Gewicht verleiht. Die Verwendung des exemplum/paradeigma zur Präsentation des wisenschaftlichen Experiments ist zur Herstellung von Anschaulichkeit (evidentia) im Rahmen der elocutio einerseits unverdächtig, sie wird andererseits dadurch keineswegs ihrer persuasiven Wirkungen beraubt. Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. Hamburg 1998, S. 8.

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Lichtgestalt, der als Vertreter der empiristischen Wissenschaft stilisiert und gegen die Systemphilosophen Descartes, Leibniz und Malebranche profiliert wird. So scheint zunächst die Denkhaltung der Aufklärung eine methodische, ja erkenntnistheoretische Verschiebung erkennbar werden zu lassen. Eine Durchsicht der Zeugnisse, die man bei d’Alembert, Condillac, Voltaire und anderen findet, bringt es nun jedoch an den Tag, dass die Wende zu Analyse und Erfahrungswissen von einer Programmatik getragen wird, die sowohl dem verklärten Newton als auch etwa dem abgewerteten Leibniz nicht unbedingt gerecht wird. Das analytisch-empiristische Credo spart nicht mit polemischen Spitzen und erzielt eine Verhandlung der eigenen Identität bisweilen um den Preis einer Verzerrung der Sicht auf die Alten, auf deren Schultern man ja wohlgemerkt sitzt. In Voltaires Candide wird der Systemdenker in der Tradition Leibniz’ durch die Figur des Pangloss gar zur Karikatur. Seine Kommentierung der Welt steht in einem grotesken Missverhältnis zu ihren Unbilden und zu den Widerlegungen im Zeichen einer ›lebensweltlichen Erfahrung‹. Cassirer selbst hat angedeutet, dass gerade die Philosophie von Leibniz erst sehr spät in ihrem zukunftsweisenden Potenzial aufgenommen wird und zuvor hart in der Kritik steht. Aber nicht allein Leibniz, vor allem der mit Descartes assoziierte Systemgeist verliert zunehmend an Ansehen. Voltaire verbindet im 14. Brief seiner Lettres philosophiques die notwendig gezollte Bewunderung mit einigen spöttischen Bemerkungen. La Géométrie étoit un guide que lui-même avoit en quelque façon formé, & qui l’auroit conduit sûrement dans sa Phisique; cependant il abandonna à la fin ce guide & se livra à l’esprit de sistême; alors sa Philosophie ne fut plus qu’un roman ingénieux; & tout au plus vrai-semblable pour les ignorans.9

Es ist gerade diese Gegenüberstellung Newtons und Descartes’ aus den Lettres philosophiques, die nicht nur das Prestige des Franzosen nachhaltig beschädigt.10 Voltaire koppelt die Imagination mit dem ›Geist des Systems‹ und beraubt diesen damit letztendlich seiner wissenschaftlichen Seriosität. Zu dieser Einlassung Voltaires passen einige Zeilen Albrecht von Hallers, die dieser 1751 abfasst und die eine ganz ähnliche Distanz zum System erkennen lassen: Nachdem einmal René Des Cartes auf eine mechanische Weise die Bildung und den Bau der Welt erklärt, und sich die Freiheit genommen hatte, solche Figuren den kleinsten Theilen der Materie mitzutheilen, wie er sie zu seinen Erklärungen nöthig hatte, so sah ganz Europa diese schöpferische Gewalt als ein unzertrennliches Vorrecht eines Weltweisen an; man baute Welten, man verfertigte Elementen, Wirbel und Schrauben, und meynte dem gemeinen Besten ausnehmend gedient zu haben, wenn die wirklichen Begebenheiten in der Natur sich nur einigermassen durch den angeblichen Bau erklären liessen, den man für sie ausgesonnen hatte.11

Haller positioniert hier einerseits das eigene szientistische Credo einer feinen, stets aufs Neue wiederholten und sorgfältig protokollierten Beobachtung und wendet es gegen das überkommene mechanistische Weltbild, für welches Descartes und seine Wirbeltheorie in Le monde steht. 9 10 11

Voltaire: Lettres philosophiques. Amsterdam 1734, S. 151. Vgl. Tanja Thern: Descartes im Licht der französischen Aufklärung. Studien zum Descartes-Bild Frankreichs im 18. Jahrhundert. Heidelberg 2003, S. 27–46 und 64–80. Albrecht von Haller: Vom Nutzen der Hypothesen [Vorwort zur deutschen Ausgabe von Buffons Naturgeschichte (1751)]. In: Tagebuch seiner Beobachtungen über Schriftsteller und über sich selbst. Zweyter Theil. Bern 1787, S. 95–118, hier S. 95, zitiert nach: Johannes Bierbrodt: Naturwissenschaft und Ästhetik 1750-1810. Würzburg 2000, S. 53.

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Vor allem jedoch entwirft Haller ein Bild der Systemphilosophen, das andererseits der eigenen Zeit nicht unähnlich ist, nämlich in dem Aspekt der Tätigkeit: »man baute Welten, man verfertigte Elementen«. Hier nämlich handelt es sich genau um jenen Aspekt, den Cassirer als charakteristisch für die aufklärerische Selbstbeschreibung ausgewiesen hatte. Demzufolge fasste das 18. Jahrhundert die Vernunft »nicht sowohl als einen festen Gehalt von Erkenntnissen, von Prinzipien, von Wahrheiten als vielmehr als eine Energie; als eine Kraft, die nur in ihrer Ausübung und Auswirkung völlig begriffen werden kann.«12 Der Bau, die Verfertigung von Welten verweist somit nicht nur auf eine Negativfolie der eigenen Vergangenheit, sondern auch auf den ›konstruktivistischen‹ Aspekt der ›Vernunft‹, der sich eben in Experimentalkulturen konkretisiert und das 17. mit dem 18. Jahrhundert bei allen Unterschieden verbindet. Der analytische Geist, in dem das Selbstverständnis der Aufklärung sich wieder findet, ist – so der Hinweis bei Cassirer – bereits in der so genannten Wissenschaftlichen Revolution vor allem anhand der Generierung wissenschaftlicher Versuche oft genug erprobt worden. Beispielhaft erscheint hier die Naturforschung Galileo Galileis, in dem sich bereits die Forderung eines / nach einem analytisch prozedierenden Geistes erfülle: Dieser Forderung kann nur genügt werden, wenn wir das einheitliche Bild des Vorgangs, wie die Anschauung und die unmittelbare Beobachtung es liefert, zerlegen und es in seine verschiedenen konstitutiven Momente auflösen. Dieser analytische Prozess ist nach Galilei die Voraussetzung für alles strenge Naturerkennen.13

Nun handelt es sich gerade bei Galilei um eine äußerst umstrittene Gestalt der Wissenschaftsgeschichte, die einerseits als rationalistischer, ja mathematischer ›Überformer‹ der experimentellen Erfahrung, andererseits gegenläufig als Pionier des Empirismus eingestuft wird.14 Auch im Hinblick auf Descartes bleibt anzumerken, dass ihm der naturwissenschaftliche Versuch keineswegs unbekannt war.15 Anstatt nun den erkenntnistheoretischen Stellenwert des Experimentes anhand seiner kulturellen Praxis und Implementierung zu erschließen, mag es daher sinnvoll erscheinen, zunächst die besonders exponierten Stellungnahmen zu sichten. Zu einer Kulturgeschichte des Experiments, zur Frage, was man denn vollzog, wer aktiv wurde und wie man es protokollierte, beglaubigte, bekanntgab etc., gesellt sich die Frage nach der legitimierende Rede der szientistischen Erfahrung, die in diese Tätigkeiten eingebettet ist.16 Einige bekannte Wegmarken mögen an dieser Stelle das wachsende Prestige des Experimentes in der Naturphilosophie bezeugen. Wie die Wissenschaftshistoriker Peter Dear und Steven Shapin ausführlich dargelegt haben, steht dem Aufschwung experimentaler Erkenntnis, 12 13

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Cassirer: Philosophie der Aufklärung (s. Anm. 8), S. 16. Ebd., S. 11f. Diese Formulierung Cassirers erscheint allerdings schon allzu sehr im Lichte des 18. Jahrhunderts. Vgl. hierzu: Sylvain Auroux und Barbara Kaltz: Analyse, Expérience. In: Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820. Hg. von Rolf Reichardt und Eberhard Schmitt. Bd. 6. München 1986, S. 7–40. Zur ersten These vgl. Alexandre Koyré: Études galiléennes. Paris 1966, S. 11–79; zur zweiten Stillman Drake: Galileo. Pioneer Scientist. Toronto 1990, S. 4f., S. 221–234. Eine Zusammenfassung der Debatte findet sich bei Isabelle Stengers: Die Galilei-Affären. In: Elemente einer Geschichte der Wissenschaften (s. Anm. 4), S. 395-443. Vgl. Gaston Milhaud: Descartes savant. Paris 1921. Diese Unterscheidung ist allerdings eine methodische, denn im Dispositiv-Begriff treten die genannten Aspekte, die diskursiven, nicht-diskursiven sowie die Ordnungen des Sichtbaren etc. zusammen.

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welche die bloße Anschauung in die jeweiligen konstitutiven Elemente zerlegt und dann ihre Prinzipien induziert, eine ideologische Barriere entgegen.17 Der Scharfsinn, der unter den Geboten der Analyse spezifische Versuchsanordnungen hervorbrachte, hatte mit einem universellen Erfahrungsbegriff zu konkurrieren, der in der scholastischen Naturphilosophie des 17. Jahrhunderts noch überaus einflussreich war. Ein gewöhnlicher Lauf der Welt gab sich in aristotelischer Tradition mit größtmöglicher Evidenz immer schon von selbst preis. Der senkrecht in die Luft geschossene Pfeil, der an der gleichen Stelle einschlägt und den Stilstand der Erde nachweisen soll, mag hier als zentrales Paradigma gelten, ebenso wie die Sonne, die stets im Westen untergeht, ihre kontinuierliche Bewegung verrät. Noch Zedlers Universal-Lexikon überträgt diese Differenz in die Opposition zwischen »Experimentum, Versuch« einerseits und »Observation« andererseits: Der Versuch »heisset die Erfahrung, so man von einer Sache bekommt, indem solche durch unsern Fleiß hervorgebracht wird. Es ist der Observation entgegen gesetzet, die eine Erfahrung ist, welche uns die Natur freywillig an die Hand giebet.«18 Der Versuch stellt damit die gesonderten und unter »Fleiß« zustande gebrachten Bedingungen zur Untersuchung von Gründen spezifischer Wirkungen her: Dergleichen Würckungen sehen wir täglich, und die Natur zeiget uns solche freywillig, nebst verschiedenen Umständen; allein dergleichen Observationes sind nicht allezeit zulänglich, die wahre Beschaffenheit zu entdecken. Es concurriren offt so viel Umstände, von welchen man nicht allzeit versichert ist, ob sie mit dem Effekt wesentlich verbunden sind oder nicht; ja einige Umstände zeigen sich denen Sinnen gar nicht, die doch öffters das meiste bey der Hervorbringung eines Effekts beytragen.19

Zedler verfeinert hier die argumentative Ausgangssituation des Empirismus, die üblicherweise mit Francis Bacon assoziiert wird. Einem aristotelischen Erfahrungsbegriff musste zunächst nachgewiesen werden, dass er trügt, dass also die Natur ihre Geheimnisse nicht von selbst offenbart. Nun gab es für diesen Verdacht vor allem durch die astronomischen Entdeckungen der Frühen Neuzeit eine Reihe von Anhaltspunkten, die Bacon zu folgender Formulierung veranlassten: Etenim experimentorum longe major est subtilitas quam sensus ipsius, licet instrumentis exquisitis adjuti; de iis loquimur experimentis, quae ad intentionem ejus quod quaeritur perite et secundum artem excogitata et apposita sunt.) Itaque perceptioni sensus immediatae ac propriae non multum tribuimus: sed eo rem deducimus, ut sensus tantum de experimento, experimentum de re judicet.20

Dieser Passus aus der Einleitung des Neuen Organon bezeichnet freilich nicht den Status quo, und selbst Bacons Methodik der Interpretation der Natur setzt ja – anders als es hier anklingt – vielmehr auf die Auflistung einzelner Fälle von Naturphänomenen, Versuchen und Beobach17

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Vgl. Peter Dear: Jesuit Mathematical Science and the Reconstitution of Experience in the Early Seventeenth Century. In: Studies in History and Philosophy of Science 18/2 (1987), S. 133–175; Steven Shapin: Die wissenschaftliche Revolution. Frankfurt a. M. 1998, S. 80–138. Großes vollständiges Universal-Lexikon. Hg. von Johann Heinrich Zedler. Bd. 8. Halle, Leipzig 1734, Sp. 2344. Das Lemma Erfahrung (ebd., Sp. 1596) scheint hier eher der Observation zu entsprechen: »[…] was man durch die Sinne unmittelbar erlanget; so sagt man z.E. von einem Medico, daß er gute Erfahrung habe, wenn er den Nutzen und Gebrauch eines Medicaments so inne hat, daß man ganz versichert ist, daß es nicht ein- sondern vielmahl in einigen Kranckheiten grossen Nutzen in einigen Kranckheiten großen Nutzen geschaffet […].« Francis Bacon: Neues Organon. Hg. von Wolfgang Krohn. Hamburg, Darmstadt 1990, S. 46f.

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tungen, die zu systematischen Untersuchungsreihen führen soll. Dennoch findet der Leser einen spezifizierten Erfahrungsbegriff, der in der Formulierung (»quae ad intentionem ejus quod quaeritur perite et secundum artem excogitata et apposita sunt«) und zudem in dem hier gewählten Lexem experimentum späteren Vorstellungen des wissenschaftlichen Versuchs präludiert. Zudem hat man das Neue Organon als einen der programmatischen Prätexte der 1660 gegründeten Royal Society interpretiert, die dann Experiment und Instrumentarium in ihren Forschungsbetrieb systematisch integrieren wird, allerdings auch den Anspruch einer naturphilosophischen Verallgemeinerung der Ergebnisse zurücknehmen wird. Im Zusammenhang der Royal Society hat vor allem Steven Shapin anhand der Luftpumpen-Experimente Robert Boyles aufgezeigt, welche Strategien zur Etablierung der außerordentlich konstituierten Erfahrung entworfen werden können, um eine wissenschaftliche ›Faktizität‹ zu konstituieren.21 Die bei Bacon zitierte Kritik an einer unproblematischen Naturerfahrung adressiert sich mit aller Vehemenz an jene, die gerade dem Einzelfall einer Versuchsanordnung jegliche naturphilosophische Relevanz absprechen, weil eben die Singularität und die Künstlichkeit des Experiments seine universelle Geltung in Zweifel ziehen würden. Nach Peter Dear entwickeln gerade die Jesuiten diskursive Strategien, um zwischen diesen beiden Positionen zu vermitteln und damit die experimentell zustande gebrachte Erfahrung der konservativen Schule näher zu bringen.22 Der wissenschaftliche Versuch wird allmählich in das programmatische Vokabular der naturphilosophischen Reflexion eingelassen, und parallel hierzu entsteht die Vorstellung, dass Entdeckungen und Erfindungen in diesen neu erschlossenen Bereichen des Wissens auch durch Zufall und Kontingenz hervorgebracht werden können. Bei Pascal, in der Préface pour le Traité du vide, scheint die Validität experimenteller Verfahrensweisen vollends konsolidiert, wenn er verkündet, dass in der Naturforschung allein der Vernunftschluss und die ›Erfahrung‹ zählten, dagegen in der Historiographie die Autorität.23 So entwickelt Pascal in einem Erfahrungsbegriff, der auf die Methoden des wissenschaftlichen Versuchs zurückgreift, die zwar heutzutage durch Kuhn und andere revidierte, aber immer noch geläufige Vorstellung einer akkumulierenden Wissenschaft, einer Addition der Erkenntnisse, die den Takt des Fortschrittes markiere: »Les expériences qui nous en donnent l’intelligence multiplient continuellement; et, comme elles sont les seuls principes de la physique, les conséquences multiplient à proportion.«24 ›Erfahrungen‹ (»expériences«) meint vorzugsweise die Erstellung von Versuchsanordnungen, wie sie Bacon favorisierte. Nicht zuletzt

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Vgl. Steven Shapin: Pump and Circumstance. Robert Boyle’s Literary Technology. In: Social Studies of Science 14 (1984), S. 481–520. Vgl. nochmals Dear: Jesuit Mathematical Science (s. Anm. 17). Vgl. Blaise Pascal : Œuvres complètes. Hg. von Jacques Chevalier. Paris 1954, S. 530: »S’il s’agit de savoir qui fut le premier roi des Français ; en quel lieu les géographes placent le premier méridien ; quels mots sont usité dans une langue morte, et toutes les choses de cette nature, quels autres moyens que les livres pourraient nous y conduire? […] C’est l’autorité seule qui nous en peut éclaircir.« Vgl. ebd., S. 531: »C’est ainsi que la géométrie, l’arithmétique, la musique, la physique, la médecine, l’architecture, et toutes les sciences qui sont soumises à l’expérience et au raisonnement, doivent être augmentées pour devenir parfaites.« Ebd., S. 532.

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Pascals Berichte über seine Experimente zur ›Schwere der Luft‹ bezeugen dies.25 Unter dieselbe Kategorie fallen jedoch auch teleskopische Beobachtungen. Anders als es sich im Zedler späterhin ausdifferenziert, bleiben die Begriffe ›expérience‹ und ›observation‹ in weiten Teilen synonym und meinen instrumentelle Anordnungen, unter welche Mikroskopie und Astronomie gleichermaßen fallen.26 Das 18. Jahrhundert wird die spezifische Bedeutung von ›expérience‹ als Versuchsanordnung ausformulieren, die sich neben der Vorstellung ›allgemeiner Erfahrung‹ behaupten wird und welche Zedler – wie wir sahen – in der Tradition Bacons mit dem Begriff des ›experimentum‹ belegt.27 Dabei bleibt daran zu erinnern, dass nicht erst seit Alexandre Koyré eine breite Diskussion darüber besteht,28 welche Versuche tatsächlich durchgeführt wurden, welche manipuliert worden seien, ja welche eher den Charakter bloßer Gedankenexperimente innegehabt hätten.29 Pascal formuliert mit dem Hinweis auf das Anwachsen wissenschaftlicher Erfahrung den Überlegenheitsanspruch der Modernen hinsichtlich der antiken Wissenschaften. Das Experiment gerät also im Kontext der Querelle des anciens et des modernes zum Prestigeobjekt eines kulturellen Selbstverständnisses, das in einem spezifischen Zeit- und Geschichtsbewusstsein verankert wird und sich dann in Schlüsseltexten der Aufklärung wie d’Alemberts Vorrede zur Encyclopédie ganz unverhohlen zum Ausdruck bringt. Ähnlich formuliert nach Pascal sodann Bernard le Bovier de Fontenelle in seinem »Vorwort zum Nutzen der Mathematik und der Naturwissenschaften«, das den Memoiren der Académie Royale des Sciences seit 1699 (publiziert 1702) vorangestellt war:30 Les anciens ont connu l’aimant, mais ils n’en ont connu que la vertu d’attirer le fer. Soit qu’ils n’aient pas fait beaucoup de cas d’une curiosité qui ne les menait à rien, soit qu’ils n’eussent pas assez le génie des expériences, ils n’ont pas examiné cette pierre avec assez de soin.31

Hier verbirgt sich hinter dem Begriff der ›Erfahrungen‹ das Experiment, das der Wissenschaftler mit Scharfsinn anzulegen versteht: »génie des expériences«. Fontenelle, der im Übrigen durch eine vielbeachtete Éloge seinen Beitrag zur französischen Newton-Rezeption leistete,32 erweist hier den aufstrebenden experimentellen Verfahren die Ehre programmatischer als Descartes selbst, der sein philosophisches und wissenschaftliches Selbstbewusstsein womöglich auf andere Weise fundierte. Fontenelle jedoch präsentiert sich in dem zitierten Vorwort nachgerade als Fackelträger des Empirismus: 25 26 27 28 29 30 31 32

Vgl. William Shea: Experimente sprechen mit gespaltener Zunge. Torricelli, Pascal und das schwer faßbare Vakuum. In: Instrument – Experiment. Historische Studien. Hg. von Christoph Meinel. Berlin 2000, S. 82–97. Vgl. Jan-Henrik Witthaus: Fernrohr und Rhetorik. Strategien der Evidenz von Fontenelle bis La Bruyère. Heidelberg 2005, S. 212. Auroux und Kaltz: Analyse/ Expérience (s. Anm. 13), S. 22–39. Vgl. Alexandre Koyré: Leonardo, Galilei, Pascal. Die Anfänge der neuzeitlichen Naturwissenschaft. Frankfurt a. M. 1998, S. 195–227. Vgl. zum Gedankenexperiment der Aufklärung neuerlich Nicolas Pethes: Zöglinge der Natur. Der literarische Menschenversuch des 18. Jahrhunderts. Göttingen 2007. Die vielbeachteten Mémoires de Trévoux 2 (1702), S. 138–144, exzerpieren das Vorwort im gleichen Jahr. Bernard le Bovier de Fontenelle: Œuvres complètes. Hg. von Georges-Bernard Depping. Bd. 1. Paris 1818. ND Genf 1968, S. 33. Voltaire berichtet in seinen Lettres philosophiques (S. 142), wie sehr sich die Engländer darüber ereiferten, dass Fontenelle in seiner Éloge es gewagt habe, Newton mit Descartes zu vergleichen.

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Aussi l’académie n’en est-elle encore qu’à faire une ample provision d’observations et de faits bien avérés, qui pourront être un jour les fondemens d’un système; car il faut que la physique systématique attende à élever des édifices, que la physique expérimentale soit en état de lui fournir les matériaux nécessaires.33

Cassirers Differenz zwischen Systemgeist und systematischem Geist findet sich hier bereits vorformuliert. Fontenelle löst sie auf in der Zeitenfolge, der gemäß das System nicht im Rücken, sondern in der Zukunft liegt.

3. Weltweisheit und Naturlehre Dieser holzschnittartige Rückblick auf die Kanonisierung experimenteller Verfahrensweisen offenbart gleichermaßen, dass das Experiment sich nicht nur als methodische Verfahrensweise des Forschungsbetriebs etabliert, sondern dass es in den verschiedenen Varianten vulgarisierender Wissenschaftsprosa zu einer neuen rhetorischen Beispielverwendung der Wissenschaften beiträgt. Der Kompass, der mit der Druckerpresse und dem Pulver bereits zur topischen Trias zählt, durch welche sich ein neuzeitliches Selbstbewusstsein gegenüber den Alten formuliert,34 kann somit bei Fontenelle zum Paradefall experimenteller Praxis avancieren. Anhand ausgewählter Wissenschaftsprosa lässt sich darüber hinaus aufzeigen, dass Darstellung und Beschreibung des Experimentes bisweilen zur Herstellung rein argumentativer und in diesem Sinne rhetorischer Evidenz gerät.35 Anhand von Voltaires Éléments de la philosophie de Newton (1738) bspw. lässt sich zeigen, in welcher Weise der Leser sehr suggestiv als Augenzeuge den jeweiligen Anordnungen angenähert wird.36 Diese werden allerdings nicht immer hinreichend erklärt, sondern erhalten ihre Geltung nicht zuletzt durch ihre Historizität und die international im Wachstum begriffene Reputation Newtons. Mit anderen Worten: Pascals Dichotomie zwischen Autorität und Erfahrung lässt sich unterlaufen, wenn man zeigt, dass erstens zu den Strategien der experimentellen Protokollierung die Hinzuziehung von glaubwürdigen Zeugen zählte, die eben gesellschaftliche Autorität besaßen; dass zweitens in der entstehenden Wissenschaftsgeschichte selbst die Heroen der Zunft schon ihrerseits als Autoritäten galten. In Voltaires Éléments de la philosophie de Newton dienen die reproduzierten Experimente der Legitimierung der empiristischen Methode selbst, die für die Denkhaltung der Aufklärung Vorbildcharakter erhält. Das Experiment lässt sich jedoch auch als exemplum im Sinne einer rhetorischen Figur für die Konsolidierung eines naturphilosophischen Systems instrumentalisieren. So treten in Fontenelles Entretiens sur la pluralité des mondes die astronomischen Beobachtungen als Strategien in Erscheinung, welche die Glaubwürdigkeit des kopernikanischen Systems bzw. der 33 34

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Fontenelle: Œuvres complètes (s. Anm. 31), Bd. 1, S. 37f. Vgl. Jan-Henrik Witthaus: Kompass, Pulver, Presse. Zur technischen Ausrichtung des europäischen Raums in französischen Zeitschriften des 18. Jahrhunderts. In: Europe en mouvement. Mobilisierungen von Europa-Konzepten im Spiegel der Technik. Hg. von Angela Oster. Münster 2009, S. 60–83. Zur rhetorischen Evidenz vgl. vor allem Ansgar Kemmann: [Art.] Evidentia, Evidenz. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gerd Ueding. Bd. 3. Tübingen 1996, Sp. 33–47. Vgl. Andreas Gipper: Wunderbare Wissenschaft. Literarische Strategien naturwissenschaftlicher Vulgarisierung in Frankreich. München 2002, S. 290–293; vgl. auch Shapin: Pump and Circumstance (s. Anm. 21).

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cartesianischen Wirbeltheorie bezeugen sollen. In Gottscheds Weltweisheit wäre die genaue rhetorische Funktion des Experiments entsprechend zu beleuchten: Handelt es sich hier um Belege der empiristischen Methode und damit um ein frühes Beispiel spezifisch aufgeklärter Identitätsreflexion nach Cassirer, sprechen also die Experimente ›im eigenen Namen‹ oder dienen sie der rhetorischen Konsolidierung eines Systems? Entwurf und Komposition verweisen auf einen systematischen Zusammenhang der Gesamten Weltweisheit, innerhalb derer auch die »Naturlehre« eingelassen ist. Zudem deuten die durchgängigen Vorlagen von Wolff und Leibniz, die István Gombocz in seinem Kommentar aufschlüsselt,37 auf die Bearbeitung wie Popularisierung philosophischer Systeme.38 Wie Cassirer bemerkt, sei jedoch hier bereits zwischen den beiden genannten Philosophen zu unterscheiden: »Wolffs Logik und Methodenlehre aber unterscheidet sich von der Leibnizschen eben dadurch, daß sie die Mannigfaltigkeit ihrer Ansätze wieder auf ein möglichst-einfaches und gleichförmiges Schema zurückzubringen sucht.«39 Auch wenn nun die Weltweisheit auf die genannten Vorläufer zurückzuführen ist, so ist doch unabweislich, dass die Komposition von Gottscheds Schrift den tatsächlichen Ausgangspunkt für weitere Deutungen hinsichtlich des Stellenwertes von Experiment und Erfahrung markiert. Die »Naturlehre« befindet sich im fünften Teil der Theoretischen Weltweisheit.40 Sie steht mithin zwischen der »Vernunftlehre«, der »Metaphysik« der »Geisterlehre« einerseits, der »Gottesgelahrtheit« andererseits. In dieser Rahmung werden die »Naturlehre« und ihre Mittel zunächst als unvollkommen ausgewiesen:41 Da aber die Theile der Welt unsern Sinnen bald zu weit entfernet, bald zu groß und bald zu klein sind: So ist es nicht möglich von ihnen allen ein vollkommenes Erkenntniß zu erlangen, oder ihr Wesen deutlich einzusehen. Ja weil auch die Kräfte derselben aus den Elementen ihren Ursprung haben, diese

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Vgl. István Gombocz: Geleitwort. In: Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. Bd. V/4. Weltweisheit. Kommentar. Hg. von Phillip M. Mitchell. Berlin, New York 1995, S. 1–35, hier: S. 16f. Tatsächlich gehört, wie auch Gombocz sagt, ein genauer Abgleich der Weltweisheit mit Gottsched Quellen weiterhin zu den Desideraten der Forschung. Ein Blick in Wolffs Vernünftige Gedancken von den Würckungen der Natur verrät, dass Wolff bei der Ausformulierung seiner Naturlehre auf eine Vielzahl von Experimenten zurückgreifen konnte, vgl. Christian Wolff: Vernünftige Gedancken von den Würckungen der Natur. Magdeburg 1723. ND in: ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Jean École, Hans Werner Arndt u. a. I. Abteilung. Deutsche Schriften. Bd. 6. Hildesheim, New York 1981, S. 1–149. Vgl. zum naturwissenschaftlichen Umfeld Gottscheds Detlef Döring: Johann Christoph Gottsched in Leipzig. Ausstellung in der Universitätsbibliothek Leipzig zum 300. Geburtstag von J. Chr. Gottsched. Leipzig 2000, S. 99–102. Cassirer: Philosophie der Aufklärung (s. Anm. 8), S. 44. Zitiert wird im Folgenden aus der Erstausgabe: Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe Der Gesamten Weltweisheit. (Theoretischer Theil). Leipzig 1733. ND Frankfurt a. M. 1965. Zurate gezogen wurde darüber hinaus die Ausgabe letzter Hand: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit. (Theoretischer Theil). Leipzig 71762. ND in: Christian Wolff: Gesammelte Werke. III. Abteilung. Materialien und Dokumente. Bd. 20/1. Hildesheim, Zürich, New York 1983. In der siebten Auflage findet sich die »Naturlehre« im dritten Teil der Theoretischen Weltweisheit. Sie wird folglich zwischen der »Vernunftlehre«, der »Metaphysik« einerseits, der »Geisterlehre« andererseits positioniert. Man mag aus dieser Umgruppierung schließen, dass Gottsched der zunehmenden Etablierung der Naturforschung im Zuge der Aufklärung Rechnung trägt.

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aber gar nicht in die Sinne fallen können (§. 398): So können wir auch die Natur aller Körper nicht völlig erklären […].42

Die Kausalzusammenhänge, die ihren Kräften oder Bewegungen zugrunde liegen, seien nach derzeitigem Stand der Sinneskapazitäten nicht einsehbar. Ähnlich wie bei Bacon setzt auch hier die »Naturlehre« mit dem Verweis auf die Minderwertigkeit der menschlichen Sinnesausstattung ein. Obschon in diesem Sinne den »Nachkommen« (ebd.) überlassen sein soll, die Naturlehre zu vervollkommnen, so hält sie schon auf derzeitigem Stand erdenklichen Nutzen bereit: Vors erste lehrt sie uns unsern eignen Körper kennen, und legt dadurch den Grund zur Arzneykunst. Vors andre befreyet sie uns von vieler unnöthigen Furcht, womit sich die Abergläubischen plagen, wenn sie die Ursachen natürlicher Begebenheiten nicht wissen. Endlich lehrt sie uns auch durch die Erklärung der grossen Schönheit und Vollkommenheit aller Theile der Welt, so wohl ins besondere, als im Zusammenhange, wie viel Weisheit und Güte dasjenige Wesen besitzen müsse, von welchem die ganze Natur ihren Ursprung hat.43

Die Einsicht in die mechanischen Zusammenhänge der Natur leistet dem Abbau von Vorurteilen und Aberglauben Vorschub und befördert hierin ein ureigenes Anliegen der Frühaufklärung. Die Fortschritte in der Medizin bilden ein weiteres Argument zugunsten ihres Nutzens. Und die Klimax-Figur des Passus läuft auf das Telos einer Verortung des Menschen in einer vom Schöpfer vollkommen eingerichteten Welt hinaus. Sie befördert ein naturphilosophisches Weltbild, das in seiner systematischen Zugrundelegung und einer physikotheologischen Akzentuierung Vollkommenheit und Schönheit in Aussicht stellt.

4. Erfahrung und Sinnesausstattung Dem Eingang der »Naturlehre« vollkommen entsprechend verhält sich der Umstand, dass in der vorangehenden metaphysischen Kategorienlehre bereits die maßgeblichen Grundfragen abgehandelt werden. Die Frage nach den Elementarkörpern wird im Rückgriff auf die Monadenlehre Leibniz’ und Wolffs dargelegt. Wie auch immer nun sich die Adaption der Monadologie gestaltet, es fällt ins Gewicht, dass den Elementarteilchen durch die Sinne nicht auf die Spur zu kommen ist. Abgeleitet wird dies durch die Erfahrung der Mikroskopie: Nimmt man die Vergrößerungsgläser zuhülfe: So erscheinen auch die fast unsichtbaren Theilchen dem Auge so groß, daß man noch unzählige verschiedene Theile darinn wahrnehmen kan; und also die Elemente selbst zu erblicken, keine Hoffnung mehr übrig sieht.44 42 43

44

Gottsched: Erste Gründe Der Gesamten Weltweisheit (Theoretischer Theil), 1. Auflage (s. Anm. 40), S. 324. Ebd., S. 324f. Die Ausgabe letzter Hand dreht die Reihenfolge der ersten beiden Errungenschaften um, vgl. Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Theoretischer Theil), 7. Auflage (s. Anm. 40), S. 280: »Fürs erste befreyet sie uns von vieler unnöthigen Furcht, womit sich die Abergläubischen plagen; wenn sie die Ursachen natürlicher Begebenheiten nicht wissen. Fürs andere lehret sie uns unsern eigenen Körper kennen, und leget dadurch den Grund zur Arzneykunst. Endlich lehret sie uns auch durch die Erklärung der großen Schönheit und Vollkommenheit aller Theile der Welt, so wohl ins besondere, als im Zusammenhange: wie viel Weisheit, Macht und Güte dasjenige Wesen besitzen müsse, von welchem die ganze Natur ihren Ursprung hat.« Gottsched: Erste Gründe Der Gesamten Weltweisheit (Theoretischer Theil), 1. Auflage (s. Anm. 40), S. 187.

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Die Erfahrung negiert sich selbst. Gründete jedes Teilchen in seinen Elementen, käme die Reihe der Begründungen nicht zum Abschluss, eben weil jede Wahrnehmung eines Elementes im Rund eines Objektivs als Ausdehnung aufgefasst werden müsste, die ihrerseits in Teile zu zerlegen wäre. Ausdehnung kann sich selbst nicht begründen, sie muss ihr Fundament in einem Prinzip finden, das außerhalb ihrer selbst liegt: in der Substanz der Elemente. So kann Gottsched resümieren: »Dergestalt hat uns nun die Vernunft schon weiter geführet, als die Sinne […].«45 Hiermit zeigt sich die Vernunft quasi teleskopisch. Die Monaden müssen also den geometrischen Punkten analog gedacht werden, auch wenn sie selbst keine sind. Ihr Paradox besteht in der doppelten Eigenschaft, keine Ausdehnung zu haben, aber dennoch in ihrer Kraft und ihrem Wirkungspotenzial physikalische Substanz zu sein. Gleichzeitig wird jedoch deutlich, inwiefern der Vernunftschluss dem Erfahrungswissen der Mikroskopie aufruht. Sie bildet in der Suggestion wissenschaftlicher Erfahrung das rhetorische Surplus, anhand dessen sich die Vernunft profiliert, denn sie veranschaulicht das Prinzip elementarer Zusammensetzung der Materie, muss sich dann aber von der Vernunft die gemäß der zugrunde gelegten Prinzipien argumentiert belehren lassen. Unter diesen Bedingungen mag deutlich werden, inwiefern der Erfahrung in der Weltweisheit eine von vornherein beschränkte argumentative Wirkmacht zukommt. Dabei wird ihr schon in der »Vernunftlehre« ein fundamentaler Stellenwert beigemessen: »Die Erfahrung nennet man dasjenige Erkenntnis, was wir durch die Aufmerksamkeit auf unsere Empfindungen erlangen. Durch dieselbe legen wir in unsrer ersten Kindheit den Grund zu allem übrigen Erkenntnisse […].«46 Entsprechend der weiter oben skizzierten historischen Positivierung des Experiments unterscheidet Gottsched jedoch zwischen Sachen, die gemein sind oder aber etwas »seltsames« vorstellen. Z. E. Daß die Sonne warm, und der Regen naß mache; ist eine gemeine Erfahrung, die allen bekannt ist. Daß aber das Scheidewasser zu sieden anfängt, wenn man Feilstaub hinwirft; oder daß aus zweyen klaren Wassern, in deren einem man Vitriol aufgelöset, in dem andern aber zerstossene Galläpfel ausgewässert, durch die Vermischung eine pechschwarze Dinte entstehe: Das hat nicht ein jeder gesehen.47

So zeigt sich in diesem Passus die Unterscheidung zwischen einem aristotelischen Erfahrungskonzeptes und einer experimentell unterstützten Sinneswahrnehmung, die nicht jedem gemein ist, laut Zedler: zwischen »Experimentum« und »Observation« (s.o.). Hier nun sind die Regeln niedergelegt, die der Naturforscher zu beachten habe, um sich auch bei denen »Beyfall« zu erwerben, »die ihre Erfahrungen selbst niemals gehabt haben.«48 Diesen Verfahren genauer Beschreibung ist nun das analytische Moment eingelassen, von dem eingangs die Rede war: Wer sich also aus der Erfahrung deutliche Begriffe zuwege bringen will, der gebe 1.) nicht auf das Ganze, so er empfindet, überhaupt, sondern auf alle Theile desselben, nach und nach genau Achtung. Er halte ferner 2.) alle dieselben sorgfältig gegeneinander, damit er die Ordnung, darinnen sie beyei-

45 46 47 48

Ebd., S. 188. Ebd., S. 66. Ebd., S. 67. Ebd.

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nander sind, oder auf einander folgen, gewahr werde. Endlich beobachte er 3.) auch den Zusammenhang und die Art der Verbindung in allen diesen Theilen aufs genaueste.49

Auch wenn das Paradigma des naturwissenschaftlichen Versuchs in der Folge in den Hintergrund gerät, ist es letztlich doch ihm zu schulden, dass laut Weltweisheit, die Erfahrung »Sätze [zu] erfinden« lehrt. Diese Formulierung zeigt jedoch deutlich, dass die Vernunft die in den Kategorien nachgeordnete Erfahrung ergänzt. »Die allgemeinen Sätze hergegen können niemals aus der Erfahrung allein flüssen« (ebd.), weil die Singularität eines Sinneseindruckes erst durch Reihung und vernunftgeleitete Serie bearbeitet werden muss. Tatsächlich enthält die »Naturlehre« in obigem Sinne eine Reihe von Erfahrungen, die sich teils dem aristotelischen, teils dem experimentellen Begriff verdanken. In den Kapiteln über die Zusammensetzung und Bewegung der Körper, sodann in den Abschnitten über den Weltenbau und die Astronomie werden jene Beobachtungen versammelt, die das präsentierte Wissen belegen sollen. Zur Unterstützung des Vorstellungsvermögens sind den Experimenten und Observationen Abbildungen beigegeben, die auf einschlägige Publikationen der jeweiligen Zunft zurückgeführt werden können. So gehen die Abbildungen der Planeten auf Kupferstiche von Huygens, Hevelius oder der französischen Académie-Memoiren zurück. Entsprechend dem Vorbehalt, der dem Erfahrungswissen in den zitierten Abschnitten der Weltweisheit zukommt, werden die physikalischen Aussagen oftmals durch skeptische Zurückhaltung markiert. So heißt es mit Blick auf die Elemente: Wir werden es also nicht wagen, die Zahl der Elementarischen Materien zu bestimmen. Denn da uns die besten Vergrösserungsgläser die einfachen Materien nicht zeigen können, woraus z. E. die Metalle vermischet sind; andere aber noch viel subtiler sind, als die Materie des Lichtes, der Wärme, des Magnets, u.s.w.: So können wir aus der Erfahrung nichts sicheres sagen. Erdichtungen aber gehören in die Naturwissenschaft nicht.50

Nun fällt an dieser Formulierung auf, dass in der »Naturlehre« die Rede von der »Erdichtung« des Öfteren polemisch gegen Descartes gewandt wird. Gottsched realisiert also einen programmatischen Rekurs auf die Ansammlung von Erfahrungswissen und Experiment, das gleichwohl durch seine Positionierung in der Weltweisheit in der Aussagekraft eingeschränkt wird. Die philosophische Umrahmung bildet den limitierten Entfaltungsraum einer Fortschrittsideologie, wie man sie bei Pascal und Fontenelle findet. Zwischen der naturphilosophischen Rede, der Monadologie etc. einerseits und einem unscharf geführten Erfahrungsbegriff andererseits verbleibt eine regelrechte Pufferzone, die durch die skeptische Rede über die menschliche Sinnesausstattung noch in ihrer instrumentellen Aufrüstung hergestellt wird. Wollte man jedoch eine 49 50

Ebd., S. 67f. Ebd., S. 332. Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Theoretischer Theil), 7. Auflage (s. Anm. 40), S. 286 ergänzt: »Denn da uns die besten Vergrößerungsgläser samt der Chymie die einfachen Materien nicht zeigen können […].« Vgl. darüber hinaus zu diesem Passus, Johann Christoph Gottsched: Vorrede zu Grundlehren der Naturwissenschaft von Peter von Muschenbroek (1747). In: ders.: Ausgewählte Werke. Hg. von Phillip M. Mitchell. Bd. X/1. Berlin, New York 1995, S. 281–291, hier: S. 282: »[Muschenbroek] sah aber auch gar bald ein, daß diese letztere [i.e. die Naturforschung] ohne die Mathematik, sehr seicht und unvollkommen seyn müßte. Beyde führten ihn nunmehr auf die Experimental=Physik, als die rechte Quelle neuer Entdeckungen inder Natur; und ohne welche alle übrige physikalische Lehrgebäude nur grundlose Luftschlösser, und flüchtige Hirngespinste seyn müssen.« Vgl. zu Muschenbroek und Gottsched den Beitrag von Holger Steinmann im vorliegenden Band.

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argumentative Tendenz feststellen, so ließe sich die Vermittlung eines mechanischen Weltbildes verzeichnen, das bei aller Kritik an Descartes doch in seiner Tradition steht und zudem gegen einige zentrale Theoreme Newtons gewendet wird. So liegt die Lehre eines Plenums, das die physikalische Ausdehnung insgesamt charakterisieren soll, ganz auf dieser Linie: »Ob aber diese rückständigen Räumlein in den Körpern ganz leer sind oder nicht? eine schwere Frage.« Die Lehre vom leeren Raum schreibt Gottsched nämlich den Atomisten und auch den Anhängern Newtons zu. Dahingegen sehen wir es in den meisten durchlöcherten Körpern, daß ihre Räumlein theils mit Wasser, theils mit Luft, theils mit dem Lichte, theils mit der Wärme, theils mit der magnetischen Materie angefüllet sind. Und es ist also zu vermuthen, daß vieleicht kein Pünctchen in der Welt ganz und gar leer seyn werde.51

Gerade die Annahme eines Plenums bringt erst den Gang einer mechanischen Bewegungskonzeption auf den Weg. Aber ebenso lassen die verschiedenen Aggregatzustände sich auf die Zusammensetzung von Materien unterschiedlicher Subtilität zurückführen. So werden in den entsprechenden Kapiteln die Erfahrungbeispiele dergestalt aufgelistet, dass sie einem so gearteten Begriff von Ausdehnung entsprechen. Charakteristisch für die Auswahl der Exempel ist hierbei das Alternieren von alltäglicher und experimentell zustande gebrachter Empirie. Der Text verschachtelt die Erfahrung in Beispielen, welche die Behauptungen unterlegen. Der Ton wird von Wasser aufgeweicht, Wachs durch Wärmezufuhr. Der Brotteig wird verdickt, indem man weiteren Teig einrührt. Das Kalkül der Anordnung sieht jedoch die Berücksichtigung gesonderter Versuchsanordnungen vor, die vor der Hand genauso behandelt werden wie die Beispiele alltäglicher Wahrnehmung: Wenn man ein Wetterglas unter die Luftpumpe stellet, und alle Luft rings um dieselbe wegpumpet; aber mit einem Kohlefeuer an die gläserne Glocke kommt: So steiget die eingeschlossene Feuchtigkeit [im Thermometer]. Es giebt also in dem Feuer subtilere Theile als die Luft hat, weil sie durch das Glas dringen, und auch da wirken, wo keine Luft mehr ist. Diese Theilchen nennen wir die Wärme, und sie durchdringet alle unsere Körper.52

Der Hiat der zwischen dem Experiment als singulärem Ereignis – das Einfallstor der aristotelischen Kritik (s.o.) –53 und dessen, was alltäglich vor sich geht, wird schon rein syntaktisch in Konditionalsätzen überbrückt. »Wenn man eingerührten Gyps […].« (ebd.) »Wenn man ein 51 52 53

Gottsched: Erste Gründe Der Gesamten Weltweisheit (Theoretischer Theil), 1. Auflage (s. Anm. 40), S. 328. Ebd., S. 341. Vgl. nochmals Dear: Jesuit Mathematical Science (s. Anm. 17). Es bleibt zu ergänzen, dass das alte aristotelische Argument der Frühen Neuzeit in der konstruktivistisch inspirierten Wissenschaftsgeschichte der Gegenwart, wenn auch unter anderen Voraussetzungen neuen Zulauf findet. Vgl. z.B. Hanke und Höhler: Epistemischer Raum, S. 313: »Die im Labor untersuchte ›Natur‹ unterscheidet sich eklatant von der ›Natur‹ außerhalb des Labors, denn erstere ist für das Labor erst isoliert und präpariert, also transformiert worden.« Vgl. zur Singularität vor allem Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung. München 21992, S. 15: »Die Wiederholung ist nicht die Allgemeinheit.«; und S. 17f.: »Es handelt sich also beim Experiment darum, eine Ordnung von Allgemeinheit durch eine andere zu ersetzen: eine Ordnung von Ähnlichkeit durch eine Ordnung von Gleichheit. Man zerlegt die Ähnlichkeit [der Naturphänomene] durch eine Ordnung von Gleichheit. Man zerlegt die Ähnlichkeiten, um eine Gleichheit zu entdecken, die es erlaubt, ein Phänomen unter den besonderen Bedingungen des Experiments zu identifizieren. Die Wiederholung erscheint hier nur im Übergang von einer allgemeinen Ordnung zur anderen und tritt zugunsten und gelegentlich dieses Übergangs zutage.«

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Wetterglas […].« Hierdurch wird der durch die Rekonstruierbarkeit des Experimentes erst behauptete Anspruch auf Universalität auch noch einmal textuell aufbereitet und untermauert. Der Versuch wird in eine ubiquitäre Kausalität überführt, die syntaktisch dem Modell Bedingung – Folge unterworfen ist. Die Interpretation des Experiments wird zudem direkt mitgegeben: dass sich nämlich die subtile Wärmematerie durch die Glaswände begibt und dort dem Thermometer mitteilt.

5. Schluss: Rhetorische Induktion Die experimentelle Physik findet sich in einen enzyklopädischen Zusammenhang von Weltweisheit integriert, innerhalb dessen ihre Vorläufigkeit gegen den höheren Grad an Gewissheit abgesondert wird, der eben in der »Vernunftlehre« liegt. In diesem Sinne erweist sich der Erfahrungsbereich als Komplex, der dem philosophischen System zuarbeitet, allerdings von diesem auch geschieden ist. Für sich genommen vermittelt sich in den Kapiteln der »Naturlehre« eine mechanische Vorstellung natürlicher Abläufe, deren Berührungspunkte mit einer teleologisch ausgerichteten Naturphilosophie in der ästhetischen Qualität der Welt, ihrer Größe, Subtilität und Harmonie liegen. Man könnte daher abschließend die These formulieren, dass die Kompilation naturkundlicher Erfahrung im systematischen und physikotheologischen Textzusammenhang ihre eigentliche Pragmatik erhält und damit jener Denkhaltung unterzuordnen ist, die Cassirer als genuin aufklärerische charakterisiert hatte und die erst im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts an Bedeutung gewinnt. Im Detail erweist eine Durchsicht der »Naturlehre« darüber hinaus eine allgemeine Tendenz vulgarisierender Wissenschaftsprosa: Die Einlassung von Experimenten folgt nicht nur einer Intention, die naturwissenschaftliche Erfahrung in Aufbau und Anordnung rhetorisch zu vermitteln. Die Erfahrung, deren Begriff sich durch traditionelle und moderne Komponenten herstellt, wird in Beispielketten aufgereiht, die exemplarisch das Syntagma der Gedankenführung stützen, was für eine ›Interpretation der Natur‹ in der Nachfolge Francis Bacons anschlussfähig ist. Im vorliegenden Zusammenhang ist jedoch auf die persuasive Funktion des Beispiels hinzuweisen. Zu schließen ist entsprechend mit einem Abschnitt aus Gottscheds Ausführlicher Redekunst, die jenes Verfahren argumentativer Beispielverwendung ganz traditionell auf einer Linie der aristotelischen Rhetorik als Induktion ausweist: »Die Induction ist eine Rede, darinn man den Zuhörer, durch Vorhaltung einiger ungezweifelten Dinge, welchen er den Beyfall nicht versagen kann, nöthiget, auch dem vorhabenden Satze des Redners beyzupflichten, weil er mit jenen erstern eine Aehnlichkeit hat.«54

54

Johann Christoph Gottsched: Ausführliche Redekunst. In: ders.: Ausgewählte Werke. Bd. VII/1. Hg. von Phillip M. Mitchell. Berlin, New York 1975, S. 180. Vgl. Aristoteles: Rhetorik. Hg. und übers. von Franz G. Sieveke. München 51995, S. 18f. (1357b). Vgl. Manfred Fuhrmann: Das Exempel in der antiken Rhetorik. In: Geschichte – Ereignis und Erzählung. Hg. von Reinhart Koselleck. München 1973, S. 449-452.

DAGMAR MIRBACH

Gottsched und die Entstehung der Ästhetik

Einführung: Gottsched und Baumgarten Johann Christoph Gottsched war bei der ›Entstehung‹ der Ästhetik präsent. Freilich ist damit nicht die Entstehung der ästhetischen Reflexion als solcher gemeint, sondern die Entstehung der Ästhetik im Sinne ihrer epochalen Begründung als eigenständige philosophische Disziplin im Deutschland der Mitte des 18. Jahrhunderts durch Alexander Gottlieb Baumgarten. Dieser veröffentlicht in den Jahren 1750 und 1758 den ersten und zweiten Teil seiner unvollendet gebliebenen Aesthetica, in der er die Ästhetik als »Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis« (scientia cognitionis sensitivae), als »untere Erkenntnislehre« (gnoseologia inferior) und als »Kunst des Analogons der Vernunft« (ars analogi rationis) der Logik als gleichberechtigte Wissenschaft programmatisch an die Seite stellt.1 Konzipiert wird die Ästhetik von Baumgarten als Disziplin, die, gerade indem sie fundamental als Erkenntnislehre verstanden wird, zugleich auch als »Kunst des schönen Denkens« (ars pulcre cogitandi)2 und als grundlegende »Theorie der freien Künste« (theoria artium liberalium)3 der Theorie, Praxis und Kritik der einzelnen Künste ein gemeinsames Fundament und philosophisch begründete, allgemeingültige Kriterien an die Hand geben soll. Als Baumgarten dieses in philosophiegeschichtlicher Hinsicht, aber auch innerhalb der Geschichte der Kunst- und Literaturtheorie(n) bahnbrechende Werk an die Öffentlichkeit bringt, setzt er auch die bis dahin erschienenen Schriften des 14 Jahre älteren ›Kollegen‹, des Philosophieprofessors, Literaturtheoretikers, Kritikers und Publizisten Johann Christoph Gottsched voraus. Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen war in der 1. Auflage mit Jahreszahl 1

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Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhetik. Lateinisch – deutsch. Übersetzt und hg. von Dagmar Mirbach. 2 Bde. Hamburg 2007. Im Folgenden werden Verweise auf die Aesthetica nach dieser Ausgabe mit Paragraphenzählung angegeben, hier § 1. – In seiner Metaphysica (1739) hatte Baumgarten in § 533 die Ästhetik als »Wissenschaft des sinnlichen Erkennens und Darstellens« (scientia sensitive cognoscendi et proponendi) definiert, vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica. Halle 71779. ND Hildesheim, New York 21982, S. 187. Baumgarten: Aesthetica (s. Anm. 1), § 1. In Baumgarten: Metaphysica (s. Anm. 1), § 533 übersetzt Baumgarten aesthetica mit »Wissenschaft des Schönen«. In die 4. Auflage des Werks (1757, gilt auch für alle folgenden Auflagen bis 1779) hatte Baumgarten selbst für zahlreiche lateinische Ausdrücke und Wendungen deutsche Übersetzungen eingefügt. Ebd.

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Dagmar Mirbach

1730 (d. i. 1729) erschienen. Baumgartens erste poetologische Arbeit, seine Dissertation Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus, datiert auf 1735. Sie enthält bereits in nuce grundlegende Überlegungen zu seiner ästhetischen Theorie, die Baumgarten in seiner Aesthetica von 1750/58 ausarbeiten wird. Dass Baumgarten in der Zeit der Konzeption seiner Aesthetica, deren terminus ab quo sich, wenn nicht schon mit 1735, so spätestens mit 1740–42 angeben lässt,4 auf der Höhe der philosophischen und literarischen Diskussion der Zeit auch Gottsched – und nicht nur ihn, sondern neben anderen auch die Schweizer Johann Jacob Breitinger und Johann Jacob Bodmer – wahrgenommen und rezipiert hat sowie über Kenntnis der zeitgenössischen französischen und englischen Literaturdebatten verfügte, lässt sich am Text seiner ästhetischen Hauptschrift sowie an zahlreichen Hinweisen in einer zeitgenössischen Mitschrift einer seiner Ästhetik-Vorlesungen in Frankfurt an der Oder nachweisen.5 Explizite Nennungen von Gottsched finden sich in Baumgartens Schriften selten. In der Aesthetica wird er gar nicht genannt. In den Meditationes von 1735 wird des »hochberühmten Joh. Christ. Gottsched In Arte critica poetica«, der Versuch einer Critischen Dichtkunst, in einem Scholium bei der schulmäßigen Definition des Gedichtes (poema) als »gebundene Rede« und als »Nachahmung von Handlungen oder von Natur« (imitamen actionum vel naturae) im Verbund mit Aristoteles’ Poetik und Johann Gerhard Vossius’ De artis poeticae natura ac constitutione (1647) erwähnt, aber ohne weiterführende Diskussion.6 Weitere Nennungen von Gottsched finden sich in Baumgartens 1741 für ein halbes Jahr veröffentlichter Philosophischer Wochenschrift, den Philosophischen Brieffen von Aletheophilus, von denen sich – dies sei hier nur nebenbei erwähnt – allerdings interessante Verbindungen zu Gottsched ziehen lassen, sowohl was die Vorbildfunktion Gottscheds als Publizist und Herausgeber der Vernünfftigen Tadlerinnen und des Biedermanns anbelangt, als auch in Bezug auf die Frage, in welcher Verbindung Baumgartens Brieffe von Aletheophilus zu der 1736 in Berlin von Graf von Manteuffel gegründeten ›Gesellschaft der Alethophilen‹ gestanden haben könnten, zu deren Mitgliedern ab 1738 auch Gottsched und seine Frau 4

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Das Jahr 1735 bezeichnet das Veröffentlichungsdatum der im folgenden öfter genannten Dissertation Baumgartens, Meditationes de nonnullis ad poema pertinentibus, in Halle. Nach dem (etwas ungenauen) Zeugnis von Georg Friedrich Meier hielt Baumgarten im Jahr 1742 seine erste Ästhetik-Vorlesung an der Viadrina in Frankfurt a. d. Oder; vgl. Georg Friedrich Meier: Alexander Gottlieb Baumgartens Leben (1763). Hg. von Dagmar Mirbach. In: Alexander Gottlieb Baumgarten – Sinnliche Erkenntnis in der Philosophie des Rationalismus. Hg. von Alexander Aichele und Dagmar Mirbach. Hamburg 2008, S. 353–373, dort S. 360. – Aus Baumgartens Antrittsvorlesung an der Viadrina, Gedancken vom vernünfftigen Beyfall auf Academien […] (1740, 2. Aufl. 1741. Hg., eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Alexander Aichele. In: Alexander Gottlieb Baumgarten – Sinnliche Erkenntnis in der Philosophie des Rationalismus, S. 271-304), aus seiner Beschreibung der eigenen Vorlesungen von 1741–43, Scriptis, quae moderator conflictus academici disputavit […] (1743) sowie aus der Vorrede zu seiner Aesthetica (vgl. Baumgarten: Ästhetik (s. Anm. 1), Bd. 1, S. 2–5, dort S. 2f.) geht hervor, dass er spätestens ab dem Wintersemester 1742/43 erstmals über Ästhetik gelehrt hat. Vgl. Bernhard Poppe: Alexander Gottlieb Baumgarten. Seine Bedeutung und Stellung in der Leibniz-Wolffischen Philosophie und seine Beziehungen zu Kant, nebst Veröffentlichung einer bisher unbekannten Handschrift der Ästhetik Baumgartens […]. Borna-Leipzig 1907, S. 59–258. Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus. Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichts. Übers. und hg. von Heinz Paetzold. Hamburg 1983, § CXI, S. 82f.

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gehörten. Eine zwar ganz generelle, doch auch für diesen Kontext nicht ganz irrelevante Verbindung besteht dabei in dem von Gottsched, den Alethophilen und von Baumgarten gleichermaßen explizit erklärten Ziel der Verbreitung der Philosophie von Gottfried Wilhelm Leibniz und Christian Wolff.7 Die engste und maßgeblichste Verbindung zwischen Gottsched und Baumgarten besteht nun gerade in diesem gemeinsamen Rückbezug auf Leibniz und Wolff. Denn Baumgarten hat in Halle, vor seiner Berufung an die Viadrina in Frankfurt an der Oder und vor Veröffentlichung seiner 1739 erstmals erschienenen Metaphysica, im Zeitraum zwischen 1735 und 1740, wie es Georg Friedrich Meier in seinem Nachruf auf Baumgarten bezeugt, einer auserwählten Anzahl von Studenten die Weltweisheit nach »Herr[n] Gottscheds philosophische[m] Handbuch« gelehrt:8 Gemeint sind Gottscheds Erste Gründe der Gesamten Weltweisheit von 1733. Gottsched erklärt in der Vorrede der Erste[n] Gründe offen und ausführlich seine innige Überzeugung von der Richtigkeit, Gründlichkeit und Gewissheit der Philosophie von Leibniz, den er – mit einer Schrift zu einem meteorologischen Phänomen – bereits 1719 zum Gegenstand seiner Dissertation gemacht, dem er 1724 in seiner Habilitation ein Denkmal gesetzt hatte und dessen Theodizee er zweimal in deutscher Übersetzung, 1744 und 1763, herausgeben sollte. Nur in einer Hinsicht möchte Gottsched, wie er sagt, seinen Begriff von Philosophie von demjenigen Leibniz’ unterscheiden: Verstehe sie Leibniz als Wissenschaft der möglichen Dinge (mit dem ontologischen Leitbegriff des possibile), so wolle er, Gottsched, um nicht zu spekulativ und akroamatisch, sondern exoterisch und für seine Zuhörer verständlich zu philosophieren, die Philosophie – wiederum mit Leibniz, nur nicht gemäß dessen Ontologie, sondern gemäß den Vorgaben der Theodizee – als, freilich im griechischen Wortsinn »unvollkommene Wissenschaft der Glückseeligkeit« des Menschen« verstehen.9 Als konkrete Vorlagen seines philosophischen Lehrbuchs nennt Gottsched in der Vorrede dann aber vor allem die Logik und die sogenannte Deutsche Metaphysik Christian Wolffs. Die Motivation für seine Erste[n] Gründe der Gesamten Weltweisheit ist, so Gottsched, eine Einführung und – gegenüber den umfangreichen Kompendien Wolffs selbst und gegenüber den lateinischen Institutiones Philosophiae Wolffianae von Ludwig Philipp Thümmig – eine für den akademischen Lehrbetrieb besser nutzbare, kurze und kompakte Darstellung und Überarbeitung der Wolffschen Philosophie zu bieten. Entsprechend gliedert sich das Werk. Der erste, theoretische Teil, auf den dann noch ein praktischer Teil zur allgemeinen Sittenlehre, zum Naturrecht, zur Tugend und Staatslehre folgt, umfasst zuerst – als Voraussetzung allen Philosophierens – die Vernunftlehre (logica), gefolgt von den mit Wolff und Thümmig kanonisch gewordenen vier, bzw. bei Gottsched in fünf untergegliederte Teilgebiete der Metaphysik: 1) Die Grundlehre (ontologia), 2) die Weltbetrachtung (cosmologia), bei Gottsched von einem eigenen Teil zur Naturlehre (physica) unterschieden, 3) die Geisterlehre (pneumatologia, 7

8 9

[Alexander Gottlieb Baumgarten]: Philosophische Brieffe von Aletheophilus. Frankfurt, Leipzig 1741. Vgl. dort die Erwähnungen Gottscheds: VI. Stück, 9. Schreiben, S. 24; XIV. Stück, 20. Schreiben, S. 55; XV. Stück, 21. Schreiben, S. 60. Georg Friedrich Meier: Alexander Gottlieb Baumgartens Leben (s. Anm. 4), S. 358. Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe der Gesamten Weltweisheit, Darinn alle Philosophische Wissenschaften in ihrer natürlichen Verknüpfung abgehandelt werden, Zum Gebrauch Academischer Lectionen […] (Theoretischer Theil). Leipzig 1733, Vorrede (s. p., vorletzte Seite). – Gottsched bezieht sich mit »unvollkommen« auf den griechischen Begriff der philosophia nicht als der Besitz von, sondern als ›Liebe zur Weisheit‹, der auf Pythagoras von Samos zurückgehen soll.

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entsprechend der psychologia empirica und psychologia rationalis) und 4) die natürliche Gottesgelahrtheit (theologia naturalis). Auch Baumgarten wird sechs Jahre später seine Metaphysica in ebendiese vier Teile gliedern, ontologia, cosmologia, psychologia und theologia naturalis. Baumgarten nennt für sein philosophisches Hauptwerk – das dann zu dem metaphysischen Lehrbuch schlechthin in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts avanciert, bis 1779 insgesamt siebenmal aufgelegt wird und Baumgarten schon zu Lebzeiten über seine Lehrstätte hinaus berühmt macht – als Quellen außer Leibniz und Wolff auch die Wolffianer Georg Bernhard Bilfinger und Johann Peter Reusch.10 Thümmig, den Gottsched anführt, und Friedrich Christian Baumeister, die Baumgarten offenbar ebenfalls herangezogen hat,11 werden von ihm aber nicht explizit erwähnt. Auch Gottsched wird nicht genannt. Dass Baumgarten aber bei der Abfassung seiner Metaphysica auch das von ihm vorher in seinen Vorlesungen verwendete Lehrbuch, Gottscheds Erste Gründe, wenn nicht in manu, so doch zumindest in mente gehabt haben muss, dürfte nicht zu bezweifeln sein. Die Metaphysik, und hierbei insbesondere die Erkenntnislehre, Leibniz’ und Wolffs ist der gemeinsame Nenner von Gottsched und Baumgarten. Doch sie ist auch der entscheidende Punkt ihrer Differenz. Denn diese betrifft ihre je unterschiedliche Übernahme und Ausarbeitung der empirischen Psychologie, in der die unteren und oberen Erkenntniskräfte bzw. Erkenntnisvermögen der menschlichen Seele behandelt werden. Gottsched folgt hierbei Wolff, Baumgarten geht, in stärkerer Anlehnung an Leibniz und dessen Monadenlehre,12 einen neuen, eigenen Weg, der zu seiner Ästhetik als Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis führt. Notwendig führt dies, zumal die Verschiedenheit an dem philosophischen, erkenntnistheoretischen Fundament der Kunsttheorie und Poetik ansetzt, in der Konsequenz bei Baumgarten – bei allen auch festzustellenden Übereinstimmungen in einzelnen Regelanleitungen – zu einer gegenüber Gottsched bezeichnend anderen Auffassung von Wesen und Bedeutung der Dichtung, wenn man auf der einen Seite Gottscheds als poetologisches Lehrbuch verstandenen Versuch einer Critischen Dichtkunst und auf der anderen Seite Baumgartens die aisthesis als Erkenntnisform begründende Aesthetica, deren praktischer Teil fehlt und in deren Fokus weder eine Poetologie noch eine Literaturkritik liegt, gegeneinanderhält. In diesem Beitrag sollen, unter Bezugnahme auf die ihnen gemeinsame philosophische Grundlage, nur einige wesentliche Differenzen zwischen Gottsched und Baumgarten herausgearbeitet werden, insofern diese vor allem durch deren je unterschiedliche Psychologie motiviert sind. Die folgenden Ausführungen gliedern sich in drei Teile: Im ersten Teil wird ausführlicher der Aufbau der empirischen Psychologie in Gottscheds Erste[n] Gründen und in Baumgartens Metaphysica vorgestellt und ihre je unterschiedliche Strukturierung und Behandlung der unteren und oberen menschlichen Erkenntniskräfte dargelegt. Der zweite Teil befasst sich, Gottsched voraussetzend, in restringierter, erläuternder Form mit Baumgartens Begriff der wahren Erdichtung (figmentum verum). Der abschließende dritte Teil des Beitrags besteht in äußerst kurzen Ausführungen zu folgender These: Das Wunderbare kann, nicht als das Wunder10 11 12

Vgl. Baumgarten: Metaphysica (s. Anm. 1), Vorrede (Praefatio) zur 1. Aufl. 1739 (s. p.). Vgl. Mario Casula: La metafisica di A. G. Baumgarten. Mailand 1973, S. 19. Zu Baumgarten und Leibniz’ Monadenlehre vgl. Dagmar Mirbach: Die Rezeption von Leibniz’ Monadenlehre bei Alexander Gottlieb Baumgarten. In: Der Monadenbegriff zwischen Spätrenaissance und Aufklärung. Hg. von Hanns-Peter Neumann. Berlin, New York 2009, S. 271–300.

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bare im Sinne Gottscheds und nicht als dasjenige im Sinne Bodmers und Breitingers, sondern als Wunderbares im Sinne des Übernatürlichen (supernaturale), des über der Verstandeserkenntnis liegenden Göttlichen, auf der Grundlage von Baumgartens Wertung der sinnlichen Erkenntnis einen neu legitimierten Wiedereinzug in die zeitgenössische weltliche Dichtung finden. Weniger als Gegenstand der von Gottsched kritisierten religiösen Epen etwa eines Milton oder Klopstock,13 sondern vielmehr als Horizont, auf den die Dichtung, wenn sie aus der Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis entspringt, auch in der Nachahmung des Natürlichen qua Sinnlichkeit immer schon verweist.

1. Die Struktur der Erkenntniskräfte der Seele Gottsched geht in der Geisterlehre (pneumatologia) seiner Erste[n] Gründe bei der Unterscheidung und Strukturierung des Aufbaus der menschlichen Erkenntniskräfte, wie vor ihm Wolff und später Baumgarten, von Leibniz’ ›Stufenleiter‹ der Erkenntnis aus, wie sie dieser am konzisesten in seinem frühen Aufsatz De cognitione, veritate et ideis von 1684 dargelegt hatte. Mit Leibniz unterscheidet Gottsched dunkle, klare, klar-verworrene und klar-deutliche sowie symbolische und intuitive Empfindungen oder Vorstellungen (lateinisch mit Leibniz: perceptiones, auch cognitiones).14 Dunkel sind – so Gottsched – diejenigen Empfindungen, die nicht genügen, ein Ding wiederzuerkennen, klar hingegen solche Empfindungen, die dazu ausreichend sind und es ermöglichen, ein Ding in einer möglichst großen Merkmalsfülle von anderen Dingen zu unterscheiden.15 Deutlich ist eine klare Empfindung, wenn wir die verschiedenen Einzelmerkmale eines Dinges als solche angeben können oder, so Gottsched, wenn wir »eine Beschreibung davon zu machen vermögend sind«16 – nach Leibniz: wenn genügend notwendige Einzelmerkmale eines Dinges unterschieden werden können, die zu seiner Nominaldefinition hinreichen. »[V]erwirrt oder undeutlich« ist demgegenüber eine klare Empfindung, bei welcher die Einzelmerkmale dunkel bleiben und nicht einzeln unterschieden werden können, wodurch auch die Empfindung des Dinges als Ganzem einer größeren Klarheit entbehrt.17 Verwirrte Empfindungen hervorzubringen, eignet, so Gottsched, dem »untern Grad der erkennenden Kraft« der Seele, deutliche Vorstellungen hingegen dem »obere[n] Grad dieser Kraft«.18 Entsprechend gliedert Gottsched im weiteren, nun orientiert an der Wolffschen Psychologie, die unteren und oberen Erkenntniskräfte: Zu den unteren gehören die sinnlichen Empfin13 14

15 16 17 18

Zu beiden äußert sich Baumgarten im übrigen positiv, vgl. die Vorlesungsnachschrift bei Poppe: Alexander Gottlieb Baumgarten (s. Anm. 5), S. 59–258. Gottsched neigt dazu, die den unteren Erkenntniskräften zugeschriebenen perceptiones mit »Empfindungen« zu übersetzen, die den oberen Erkenntniskräften zugeordneten hingegen mit »Vorstellungen«, er ist allerdings in der Terminologie – vielleicht bewusst, da der Unterschied nur ein gradueller, kein kategorieller ist – nicht ganz konsequent. Gottsched: Erste Gründe der Gesamten Weltweisheit (Theoretischer Theil) (s. Anm. 9), § 441, S. 217. Ebd., § 442, S. 217 Ebd., § 442, vgl. § 443, S. 217f. Ebd., § 444, S. 218.

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dungen (hier bei Gottsched: sensationes19), von denen alle Vorstellungen abhängen, die Einbildungskraft oder Phantasie (imaginatio) und das Gedächtnis (memoria).20 Die Einbildungskraft definiert Gottsched mit Wolff (und Aristoteles) als dasjenige Vermögen, sich einmal empfundene Gegenstände, auch »wenn sie nicht mehr zugegen sind, wieder vorstellen [zu] können.«21 Die »Regel der Einbildungskraft« ist das Assoziationsgesetz: Kraft dieser Regel »muß uns bei einem ähnlichen Dinge das andere, und bei einem Theile einer vormaligen Empfindung die ganze damalige Vorstellung [wieder] einfallen.«22 Außer einmal wahrgenommene Dinge wieder vorzustellen und assoziativ miteinander zu verknüpfen, ist die Einbildungskraft zudem in der Lage, Vorstellungen von Dingen, die niemals als Ganze wahrgenommen wurden, hervorzubringen: »Denn sie setzet zuweilen aus vorhin bekannten Theilen was neues zusammen: Es mag nun diese Verbindung einen zulänglichen Grund haben oder nicht«, z.B. ein Menschen mit »Bocksfüßen« oder »eine Sanduhr mit Flügeln«:23 Die […] Art sich etwas ohne Beobachtung eines zureichenden Grundes einzubilden, heißt eigentlich träumen oder phantasiren: Weil man im Schlafe oder hitzigen Fieber dergleichen Einfälle zu haben pflegt. Gleichwohl bedienen sich ungeschickte Mahler, Poeten und Componisten vielmals dieser Kraft, und bringen dadurch lauter Misgeburten zur Welt, die man Träume der Wachenden nennen könnte. Die Grotesken der ersten, und ungereimten Fabeln der andern können hiervon zu Exempeln dienen.24

Ganz anders verhält es sich, wenn von der Einbildungskraft generierte Vorstellungen dem Satz des zureichenden Grundes gehorchen: »Woraus nemlich« dann, so Gottsched, »eine vernünftige Dicht- und Erfindungskunst entstehet.«25 Die dritte untere Erkenntniskraft, das Gedächtnis, hängt eng mit der Einbildungskraft zusammen: Während diese durch Assoziation einen gegenwärtigen Gegenstand mit einem unter anderen Umständen schon einmal wahrgenommenen Gegenstand verbindet, übernimmt im gegebenen Fall das Gedächtnis die Leistung ihrer Identifikation.26 Ein schwaches Gedächtnis ist auf eine unzureichende Einbildungskraft zurückzuführen, ein starkes Gedächtnis hingegen stets von einer lebhaften Einbildungskraft begleitet.27 Zu den oberen Erkenntniskräften der Seele, die deutliche Vorstellungen hervorbringen, die aber nach dem Kontinuitätsprinzip auf den verwirrten Empfindungen der unteren Erkenntniskräfte basieren, zählen nach Gottsched der Verstand (intellectus), die Beurteilungskraft (iudicium), die Vernunft (ratio) und die Erfindungskraft oder Kunst der Erfindung (ars inveniendi). Zu den Vermögen des Verstandes gehören die Aufmerksamkeit (attentio), die Überlegung (reflexio), die Scharfsinnigkeit (acumen), der Witz (ingenium) als die – besonders Rednern und Poeten nötige – Fähigkeit, die Ähnlichkeiten der Dinge zu entdecken, sowie die Fähigkeit der Absonderung (abstractio).28 Die auf Erfahrung beruhende Beurteilungskraft ermöglicht es, das einer Sache je19 20 21 22 23 24 25 26 27 28

Vgl. ebd., § 445, S. 219. Zu beidem vgl. §§ 451–467, S. 221–228. Ebd., § 451, S. 221. Ebd., § 456, S. 223. Ebd., § 457, S. 224. Ebd., § 458, S. 224. Ebd., § 459, S. 224. Vgl. ebd., § 463, S. 226. Vgl. ebd., §§ 466 und 468, S. 227f. Vgl. zu allen §§ 469–486, S. 229–236.

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weils Zugehörende oder nicht Zugehörende zu unterscheiden,29 während die Kraft der Seele, die Vollkommenheit oder Unvollkommenheit einer Sache nur undeutlich zu erkennen, der Geschmack (gustus) ist, der über die Schönheit oder Häßlichkeit einer Sache urteilt.30 Das Vermögen, aus den Erfahrungsurteilen der Beurteilungskraft und aus der Erwartung (»Vermuthung«) ähnlicher Fälle (exspectatio casuum similium)31 den Zusammenhang allgemeiner Wahrheiten einzusehen, ist schließlich die Vernunft.32 Vernunftschlüsse bereiten der Seele, so Gottsched, mehr Vergnügen als bloße Erfahrungsurteile, da sie auch den Grund eines Sachverhalts angeben können.33 Und, so leitet Gottsched zur letzten der von ihm angeführten der oberen Erkenntniskräfte über, wie »nun die Vernunft zum gründlichen Erkenntnisse der bereits erfundenen Wahrheiten unentbehrlich ist: Also ist sie auch sehr behülflich zu Erfindung neuer Wahrheiten.«34 Wer nun aber die »Fertigkeit besitzt, dergestalt aus bekannten Wahrheiten neue herzuleiten, der besitzt die Erfindungskunst« – die ars inveniendi (ebd.). Zur Erfindungskunst gehören die Fähigkeiten, einen schwereren in einen leichter verständlichen Sachverhalt zu reduzieren (reductio), eine komplexe Frage in ihre Einzelteile zu zergliedern (divisio), und schließlich die Erdichtung (fictio) als Fähigkeit, bei nicht oder noch nicht vorhandenen Bedingungen eines Sachverhalts diesen mit einem hypothetischen ›als ob‹ zu setzen:35 Hieraus erhellet aber, daß hiebey [bei der Erfindungskunst] auch der Witz nöthig sey, damit man die Aehnlichkeiten der Fälle und Fragen einsehen könne. Es müssen also alle Erfinder witzige und folglich auch scharfsinnige Köpfe haben […]: Es wäre denn, daß man nur anderer Leute Kunstgriffe in ähnlichen Fällen nachahmen wollte. Doch gehört auch hierzu Witz, indem man theils die Aehnlichkeit der Fälle; theils auch die Aehnlichkeit des Musters mit unserer Nachahmung einsehen muß: Wie die Exempel der Mahler, Bildhauer, Baumeister, Poeten, Redner und Comödianten solches erweisen.36

Insgesamt ergibt sich bei Gottsched folgende aufsteigende Reihung: Untere Erkenntniskräfte: Sinne, Einbildungskraft und Gedächtnis; obere Erkenntniskräfte: Verstand und Beurteilungskraft, Vernunft und Erfindungskunst. Relevant sind dabei für die künstlerische und dichterische Produktion von den unteren Erkenntniskräften die Einbildungskraft (imaginatio), die, um nicht auszuschweifen, dem durch die Vernunft einsehbaren Prinzip des zureichenden Grundes folgen muss, und von den oberen Erkenntniskräften vor allem der Witz (ingenium) sowie die Erfindungskunst (ars inveniendi). Wie Gottsched folgt auch Baumgarten in seinen Meditationes, in der Metaphysica und in der Aesthetica der Erkenntnislehre Leibniz’, allerdings mit für seine Ästhetik als Erkenntnislehre und Kunsttheorie bedeutenden Modifikationen:

29 30 31

32 33 34 35 36

Vgl. §§ 487–491, S. 236–238. Vgl. § 492, S. 239. Es ist erwähnenswert, dass Gottsched im lateinischen Lemma zu § 495 (ebd. S. 240) die rationale exspectatio casuum silmilium (ebd., § 494, S. 240) als analogon rationis bezeichnet und damit den lateinischen Begriff wählt, der mit Baumgarten, der denselben dann zur Bezeichnung der gesamten unteren Erkenntnisvermögen verwendet, zum terminus technicus in der ästhetischen Diskussion wird. Ebd., § 494, S. 240, vgl. §§ 500 und 505, S. 242f. und 245. Vgl. ebd. § 506, S. 245f. Ebd. § 509, S. 246f. Vgl. ebd. § 512, S. 248. Ebd. § 513, S. 248f.

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1) Die dunklen Vorstellungen (cognitiones obscurae), die bei Leibniz an unterster Stelle der Stufenleiter stehen und die von Gottsched nicht eigens, sondern nur im Verbund mit den klarverworrenen Vorstellungen (Empfindungen) behandelt werden, bilden bei Baumgarten den ›Grund der Seele‹, den fundus animae.37 ›Grund‹ nicht nur, weil die dunklen Vorstellungen an unterster Stufe der Erkenntnisleiter stehen, sondern ›Grund‹ auch deshalb, weil sie die Basis sämtlicher Vorstellungen aller höheren ›Stufen‹, eben den fundus, aus dem diese schöpfen, bilden. Leibniz’ Discours de métaphysique (1686, § 33) folgend sind die dunklen Vorstellungen die petits perceptions, die kleinsten, unbewussten Wahrnehmungen, vergleichbar mit den unendlich vielen Geräuschen der Wellenschläge, die zusammen das Meeresrauschen ausmachen, die aber nicht bewusst wahrgenommen, geschweige denn voneinander unterschieden werden können. In der Metaphorik der Monadologie (1714) sind es die dunklen Vorstellungen, die in ihrem Gesamt in jeder Monade ›das ganze Universum spiegeln‹, d.h. das unendliche Gesamt, in der jede Monade jede andere Monade und deren Perzeptionen perzipiert. Dunkle Vorstellungen beziehen sich als unbewusste Empfindungen auf Wirkliches, aber – da, was wirklich ist, seine Möglichkeit impliziert – auch auf Mögliches, und sie sind, folgt man Baumgarten, als solche die »wahrsten Empfindungen der ganzen Welt« (verissimae totius mundi); Täuschungen entstehen erst in den Schlüssen, die auf den höheren Ebenen der Erkenntnis aus ihnen gezogen werden.38 Und schließlich stehen die dunklen Vorstellungen als ›Spiegel des Universums‹ in Analogie zur göttlichen Erkenntnis, mit dem Unterschied, dass Gott alles nicht nur deutlich, sondern adäquat, d.h. bis ins Einzelne unendlich aufgeschlüsselt, und intuitiv in einem zeitlosen ›Zugleich‹ perzipiert – während die dunklen Vorstellungen in der menschlichen Seele ein in sich ununterscheidbares Gesamt ausmachen. Doch wie Leibniz am Ende seines Aufsatzes De cognitione, veritate et ideis sagt: Die Ideen der Dinge sind, auch wenn wir gerade nicht an sie denken, in uns wie die Gestalt des Herkules im rohen Marmor – im Grund der Seele sind sie, wenn auch noch gestaltlos, immer schon enthalten.39 2) Die Klarheit der klar-verworrenen Vorstellungen (cognitiones confusae) kann nach Baumgarten, der dies bereits in seinen Meditationes von 1735 erarbeitet,40 in zweifacher Weise gesteigert und entweder zu einer claritas intensiva oder zu einer claritas extensiva erhoben werden. Intensivklar werden verworrene Vorstellungen, wenn sie in deutliche Vorstellungen (cognitiones distinctae) 37 38 39

40

Vgl. Baumgarten: Metaphysica (s. Anm. 1), § 511, S. 176. Ebd., § 546, S. 192f. Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Meditationes de cognitione, veritate et ideis [Betrachtungen über die Erkenntnis, die Wahrheit und die Ideen], in: ders.: Die philosophischen Schriften. Hg. von Carl Immanuel Gerhardt. Bd. IV. Berlin 1880. ND Hildesheim, New York 1978, S. 422–426; dt. Übers. in: Gottfried Wilhelm Leibniz: Fünf Schriften zur Logik und Metaphysik. Übers. und hg. von Herbert Herring. Stuttgart 1966, S. 9–17, dort S. 16. – Bei Baumgarten ist der das Gesamt der dunklen Vorstellungen enthaltende, im Sinne Leibniz’ das ›Universum widerspiegelnde‹ fundus animae ein für seine Erkenntnistheorie – und Ästhetik – zentraler Begriff; vgl. hierzu und zu den folgenden Punkten 2)–4) Dagmar Mirbach: Einführung zu: Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhetik (s. Anm. 1), Bd. 1, S. XXXVII–XLIV, XLVIIf. und LXV; zur menschlichen Seele bei Baumgarten als Monade und vorstellende Kraft (vis repraesentativa) vgl. auch Mirbach: Die Rezeption von Leibniz’ Monadenlehre bei Alexander Gottlieb Baumgarten (s. Anm. 12), S. 287–289. Baumgarten: Meditationes de nonnullis ad poema pertinentibus (s. Anm. 4), § XVI, S. 16; vgl. ders.: Metaphysica (s. Anm. 1), § 531, S. 184–186.

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überführt werden können, wenn – mit Leibniz’ Definition, die auch Gottsched aufgreift – die notwendigen Merkmale einer Sache unterschieden und eine Nominaldefinition gebildet werden kann. Extensiv-klar hingegen wird eine verworrene Vorstellung, wenn die Menge der erkannten Merkmale einer Sache erhöht wird, unter Einschluss nicht nur ihrer notwendigen, sondern auch ihrer je kontingenten, und nicht nur ihrer notwendigen, sondern auch ihrer nur möglichen Merkmale, wenn diese insgesamt auch nicht einzeln voneinander unterschieden werden können. Die extensiv-klare Vorstellung bleibt verworren, hat jedoch der deutlichen Vorstellung eine größere Merkmalsfülle voraus. 3) Verworrene Vorstellungen sind sinnlich (cognitiones sensitivae), wie sie Baumgarten explizit bereits in seiner Dissertation nennt.41 Die Fähigkeit, sie hervorzubringen, ist nicht nur eine untere, niedrigere Kraft der menschlichen Seele, sondern bildet ein eigenes, nämlich sinnliches Erkenntnisvermögen, das den oberen Erkenntnisvermögen zum einen genetisch als Basis zugrundegelegt werden muß, zum anderen diesem strukturell als gleichberechtigt, als analogon rationis an die Seite zu stellen ist. 4) Den verworrenen, sinnlichen Vorstellungen und den ihnen anhängenden dunklen Vorstellungen des fundus animae ist nach Baumgarten42 aufgrund ihrer Merkmalsfülle eine spezifische Qualität zu eigen, derer die deutlichen Vorstellungen entbehren: Sinnliche Vorstellungen sind poetisch. In besonderer Weise sind dies sinnliche Vorstellungen von Einzeldingen, von individua ineffabilia, die hier in der größtmöglichen Fülle ihrer notwendigen und kontingenten, wirklichen und möglichen Merkmale erfasst werden.43 Mit der Bestimmung des fundus animae als zwar dunkler, doch gleichwohl umfassender Spiegel des Universums, mit der Feststellung der größeren Merkmalsfülle und der Poetizität der verworrenen Vorstellungen sowie mit der Zuordnung der dunklen und verworrenen Vorstellungen zu einem eigenen Erkenntnisvermögen geht Baumgarten nicht nur über Wolff und Gottsched hinaus, sondern setzt auch einem Erkenntnisideal – nicht demjenigen Gottscheds, sondern dem der in den ›Prolegomena‹44 skizzierten hypothetischen Kritiker und Gegner der Aesthetica –, das sich zu einseitig an den Fähigkeiten des Verstandes zu orientieren droht, die ontologisch verbürgte epistemische Validität der sinnlichen Erkenntnis entgegen. Und das Feld, in der sich die sinnliche Erkenntnis in besonderem Maße zum Ausdruck bringen kann, ist die Kunst – und in besonderem Maße die Poesie.45 In der Bestimmung der einzelnen unteren Erkenntnisvermögen folgt Baumgarten in der psychologia empirica seiner Metaphysica und in der Aesthetica wie Gottsched der empirischen Psycholo41 42 43 44 45

Baumgarten: Meditationes de nonnullis ad poema pertinentibus (s. Anm. 4), § III, S. 8. Vgl. ebd. § XII, S. 12. Vgl. ebd. §§ XVIIIf., S. 16–18. Baumgarten: Aesthetica (s. Anm. 1), §§ 5–12. Vgl. Baumgarten: Aesthetica (s. Anm. 1), §§ 18–20. Baumgarten bestimmt hier die Schönheit der sinnlichen Erscheinung (des phaenomenon) als dreigliedrig: Sie entsteht 1) aus der Schönheit der Sachen (res) und Gedanken (cogitationes), 2) aus der Ordnung (ordo) der Gedanken untereinander und 3) aus der Schönheit der Zeichen (signa), mit der die Gedanken und deren Ordnung zum Ausdruck gebracht werden. – In der Metaphysica (s. Anm. 1), § 533, hatte Baumgarten die Ästhetik unter anderem als scientia sensitive cognoscendi & proponendi definiert; vgl. hierzu Mirbach: Einführung zu: Baumgarten: Ästhetik (s. Anm. 1), Bd. 1, S. LIII–LIX. Erklärungsziel Baumgartens in seinen frühen Meditationes war es gewesen, die Dichtung als das ausgezeichnetste Medium der sinnlichen Darstellung zu erweisen, vgl. u.a. Baumgarten: Meditationes de nonnullis ad poema pertinentibus (s. Anm. 4), § IX, S. 10.

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gie Wolffs, doch werden sie bei ihm gegenüber den Ausführungen in Gottscheds Erste[n] Gründen wesentlich komplexer ausgebaut und systematisch genauer strukturiert. Baumgarten zählt nicht drei, sondern neun untere Erkenntnisvermögen: 1) Äußerer und innerer Sinn (sensus) als Vermögen der Vorstellung eines gegenwärtig empfundenen Zustands, 2) Einbildungskraft (phantasia) als Vermögen der Vorstellung vergangener Zustände, 3) sinnliche durchdringende Einsicht (perspicacia), bestehend aus Witz (ingenium) und Scharfsinn (acumen), 4) Gedächtnis (memoria) als Vermögen der Wiedervergegenwärtigung einer schon einmal gehabten Vorstellung, 5) Dichtungsvermögen (facultas fingendi) als Vermögen, Einbildungen (phantasmata) zu trennen und zu verbinden, 6) Voraussicht (praevisio) als Vermögen der Vorstellung zukünftiger Zustände, 7) sinnliches Urteilsvermögen (iudicium sensitivum) oder Geschmack (gustus), 8) Erwartungsvermögen (praesagitio) als Vermögen der Vergegenwärtigung zukünftiger Vorstellungen und schließlich 9) das Bezeichnungsvermögen (facultas characteristica) als das Vermögen, Zeichen (signa) zusammen mit den bezeichneten Dingen (cum signatis) zu erfassen.46 Interessant ist nun, dass die genannten neun unteren Erkenntnisvermögen sich nach einer nicht unmittelbar sichtbaren architektonischen Struktur gliedern lassen. Grundlegend ist der Sinn als Voraussetzung aller Erkenntnis. Ihm folgen, jeweils in paralleler Zuordnung, Einbildungskraft und Voraussicht als Vermögen, sich vergangener Zustände zu erinnern bzw. sich zukünftige Zustände zu vorzustellen, dann sinnliche durchdringende Einsicht und sinnliches Beurteilungsvermögen, und drittens, auf einer vom Sinn schon entfernteren Ebene, doch an die Einbildungskraft und die Voraussicht zurückgebunden, die Vermögen des Gedächtnisses und der Ahndung, mit denen nicht vergangene oder zukünftige Zustände, sondern vergangene oder zukünftige Vorstellungen vergegenwärtigt werden. Erst auf der Grundlage dieser sieben Vermögen folgt das Dichtungsvermögen (facultas fingendi) und anschließend das Bezeichnungsvermögen, das es ermöglicht, einerseits Zeichen mit den bezeichneten Dingen in der Vorstellung zu verbinden, andererseits das Bezeichnete in entsprechende äußere, darstellende Zeichen umzusetzen.47 Relevant ist auch, dass nur bei sechs der unteren Erkenntnisvermögen eine Entsprechung bei den oberen Erkenntnisvermögen zu finden ist: Es gibt, wie Baumgarten in § 640 der Metaphysica ausführt, auch eine perspicacia, eine memoria, eine praevisio, ein iudicium, eine praesagitio und eine facultas characteristica intellectualis, doch es gibt im Bereich des Verstandes – dem Baumgarten im übrigen ganz vergleichbar mit Gottsched die Fähigkeiten der attentio, abstractio, reflectio und comparatio zuordnet48 – keine Entsprechung zu Sinn, Einbildungskraft und Dichtungsvermögen. Von besonderer Bedeutung erscheint es schließlich, dass Baumgarten zu demjenigen Komplex der unteren Erkenntnisvermögen, den er mit dem Begriff des analogon rationis bezeichnet, nicht den Sinn und die Einbildungskraft, wohl aber die facultas fingendi, die Dichtungskraft, zählt. Die facultas fingendi zeichnet es damit – sieht man von der ihr folgenden facultas cha46 47

48

Vgl. Baumgarten: Metaphysica (s. Anm. 1), §§ 534–623, S. 187–228. Zur ›Architektonik‹ der unteren Erkenntnisvermögen vgl. Dagmar Mirbach: ›Phantasia, facultas fingendi‹ und ›phantasmata/fictiones‹ bei Alexander Gottlieb Baumgarten. Ins Dänische übersetzt von Sune Liisberg unter dem Titel: Alexander Gottlieb Baumgarten – ›Phantasia, facultas fingendi og phantasmata/fictiones‹. In: Slagmark. Tidsskrift for idéhistorie 46. Fantasien i filosofien. Aarhus 2006, S. 33–47. Vgl. Gottsched: Erste Gründe der Gesamten Weltweisheit (Theoretischer Teil) (s. Anm. 9), §§ 469–492, S. 229– 239; vgl. Baumgarten: Metaphysica (s. Anm. 1), §§ 624–639, S. 228–235.

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racteristica einmal ab – als einziges unteres Erkenntnisvermögen aus, zum einen an sensus und phantasia, die nur der sinnlichen Erkenntnissphäre angehören, zurückgebunden zu bleiben, zum anderen aber, gegenüber den übrigen in übergeordneter, exponierter Position ein sinnliches Erkenntnisvermögen zu sein, das in analoger Form die leitende Fähigkeit der Vernunft besitzt, den Zusammenhang der Dinge (nexus rerum) nach dem Prinzip des Grundes und des Gegründeten zu erfassen – im Unterschied zur Vernunft und zugleich analog zu dieser –, aber sinnlich zu erfassen. Es ist offensichtlich, worin der entscheidende Unterschied zwischen den psychologischen Konzeptionen Gottscheds und Baumgartens liegt: Gottsched positioniert das Dichtungsvermögen im oberen Bereich der Erkenntnis, zwar in Rückbindung an die untere Erkenntnisfähigkeit der assoziativen Einbildungskraft (imaginatio), die aber erst durch die Einsicht der Vernunft zu einer Erfindungskunst (ars inveniendi) wird, deren Hervorbringungen dann gegen die ansonsten drohenden ›Ausschweifungen‹ der Phantasie abgesichert sind und in ihrer Unterordnung unter das Prinzip vom Grund 49 den Status der angestrebten ›vernünftigen Dichtung‹ erhalten können.50 Baumgarten verlagert die Position der facultas fingendi dezidiert in den Bereich – und nur dorthin – der unteren Erkenntnisvermögen, als eine Fähigkeit, die, obwohl sie notwendig auf sensus und phantasia basiert und an diese gekoppelt bleibt, als sinnliches Erkenntnisvermögen den Zusammenhang der Dinge (nexus rerum) in einer der Vernunft analogen Weise erfassen kann. Dass hierbei auch innerhalb der sinnlichen Erkenntnis der Satz vom Grund und der des auszuschließenden Widerspruchs Geltung besitzen, ist selbstverständlich und wird durch die Bestimmung und Bezeichnung des sinnlichen Erkenntnisvermögens als eines der Vernunft analogen noch zusätzlich unterstrichen. Gottsched und Baumgarten sind in dieser Hinsicht beide ›Rationalisten‹. Und so sind auch ihre Dichtungstheorien gleichermaßen rationalistisch fundiert, nur in unterschiedlicher Weise: Bei Gottsched ist werthafte Dichtung das Produkt eines Vermögens, das zwar durch die Einbildungskraft gespeist wird, doch grundsätzlich den oberen Erkenntnisvermögen zugeordnet ist. Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit des Erdichteten sind dann gegeben, wenn sie dem, was auch durch die Verstandesarbeit, durch logische Analyse erfasst werden kann, entspricht oder zumindest nicht widerspricht. Bei Baumgarten ist Dichtung das Produkt eines genuin sinnlichen Erkenntnisvermögens, dessen Erkenntnisgehalte durch die Rückbindung an den fundus animae eine eigene Wahrheit und damit Werthaftigkeit besitzen, die sich letztlich bzw. grundsätzlich und an erster Stelle metaphysisch – monadologisch fundiert – legitimieren. Dichtung im Sinne Baumgartens kann und soll durchaus den auch durch den Verstand erschließbaren Dingen entsprechen, doch sie hat zusätzlich noch eine weitere Option: Sie kann, ohne ihren ›vernünftigen‹ und metaphysisch verbürgten Wahrheitsgehalt zu verlieren, sondern vielmehr gerade durch denselben, die Wahrheiten des Verstandes grundsätzlich auch übersteigen. Dies wird an seiner bereits in den Meditationes von 1735 angelegten, in der Aesthetica von 1750/58 dann, wenn auch

49

50

Zumindest in den hier referierten Ausführungen innerhalb seiner pneumatologia scheint Gottsched das Prinzip vom Grund und dasjenige vom ausgeschlossenen Widerspruch nicht zu unterscheiden, sondern beide in eins zu setzen. Vgl. u.a. Gottsched, Erste Gründe der Gesamten Weltweisheit (Theoretischer Theil) (s. Anm. 9), § 459.

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– da der praktische Teil fehlt – nicht explizit so benannten, mit zahlreichen Beispielen ausführlich entfalteten Kunst- und Dichtungstheorie deutlich.51

2. Zur Dichtungstheorie Es nimmt nicht wunder, dass auf der Grundlage der Gemeinsamkeiten ihrer erkenntnistheoretischen Fundierung die Dichtungstheorien Gottscheds und Baumgartens, wo sie normativ im Sinne einer Regelanleitung gefasst sind, sich weitgehend entsprechen und stellenweise aufeinander abbildbar sind. Am augenscheinlichsten ist dies im Vergleich von Gottscheds bekannten Ausführungen »Von den drei Gattungen der poetischen Nachahmung und insonderheit der Fabel«, »Von dem Wunderbaren in der Poesie« und »Von der Wahrscheinlichkeit in der Poesie« im 4.–6. Kapitel des ersten Teils seines Versuch[s] einer Critischen Dichtkunst mit Baumgartens Überlegungen zu wahren und heterokosmischen Erdichtungen (figmenta vera und fictiones heterocosmicae), wie er sie in konziser, vorläufiger Form in §§ LI–LIII seiner Meditationes, ausführlicher und differenzierter im Kapitel zur ästhetischen Wahrscheinlichkeit52 seiner Aesthetica darlegt. Es ist evident, dass Baumgarten hier die poetologischen Vorgaben Gottscheds voraussetzt. Referiert werden soll hier nur in Kürze Baumgartens Untergliederung der verschiedenen Arten von Dichtung, ohne eine genaue Einzelanalyse von deren Übereinstimmungen mit – oder sogar Übernahmen von – Gottscheds Poetologie, was in einer eigenen Studie im Detail nachzuweisen wäre. In seiner Dissertation unterscheidet Baumgarten wahre, heterokosmische und sogenannte utopische Erdichtungen. Fiktionale Gegenstände, die aus der facultas fingendi aus der Trennung und Verbindung von Einbildungen hervorgehen, können in dieser bestehenden Welt (in mundo exsistente) entweder möglich (possibile) oder nicht möglich (impossibile) sein. Erdichtungen über in dieser Welt mögliche Dinge sind wahre Erdichtungen (figmenta vera). Erdichtungen, die Dinge zum Gegenstand haben, die in dieser Welt unmöglich sind, in anderen möglichen Welten (mundis possibilibus) aber möglich wären, sind heterokosmische Erdichtungen (figmenta heterocosmica), Erdichtungen hingegen, deren Gegenstände weder in dieser Welt, noch in anderen möglichen Welten möglich sind – da sie in sich Widersprüchliches, Chimären (cimaerae) oder leere Einbildungen (vana phantasmata) enthalten – utopische Erdichtungen (figmenta utopica).53 Nur wahre und heterokosmische Erdichtungen sind poetisch: »Sola figmenta vera et heterocosmica sunt poetica.«54

51 52 53 54

Vgl. hierzu auch Mirbach: Einführung zu: Baumgarten: Ästhetik (s. Anm. 1), Bd. 1, S. LIX–LXV zu Aesthetica, Sectio XXXIV: »Studium veritatis aestheticum absolutum« (§§ 555–565). Vgl. Baumgarten: Aesthetica (s. Anm. 1), §§ 478–613. vgl. Baumgarten: Metaphysica (s. Anm. 1), §§ 590 – 594, S. 212-214, ders.: Aesthetica, §§ 514, 638 und 674. Baumgarten: Meditationes de nonnullis ad poema pertinentibus (s. Anm. 4), § LIII, S. 42; vgl. insgesamt ebd., §§ L–LVII, S. 40–44.

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In der Aesthetica, in den beiden Abschnitten zu den fictiones,55 wird diese Differenzierung mit leichten Modifikationen dann weiter ausgebaut. Ausgehend von der auch von Gottsched zugrundegelegten Aristotelischen Abgrenzung der Dichtung (poiesis) von der Geschichtsschreibung (historia),56 unterscheidet Baumgarten nun Erdichtungen in weiterem Sinne (fictiones latius dictae),57 die in strengstem Sinne wahr sind (strictissimae verae)58, und poetische Erdichtungen, die, wenn auch nicht in strengstem Sinne, so doch ebenfalls wahr bzw. wahrscheinlich sind, von in sich widersprüchlichen und deshalb der Wahrheit entbehrenden Utopien.59 Im strengsten Sinne wahre, historische Erdichtungen beziehen sich auf Gegenstände, die in dieser Welt (in hoc universo) möglich sind. Sie gliedern sich wiederum in zwei Formen: Historisch in weitem Sinne (late dictae) sind Erdichtungen, deren Gegenstände über die je eigene unmittelbare sinnliche Wahrnehmung hinausgehen, abwesend sind, die man entweder selbst nicht erfahren, gemäß dem historischen Glauben aber annehmen kann oder gemäß eines gewissen Vorverständnisses (praeconceptio) in dieser Welt sicher zustande kommen werden – wie, so Baumgartens Beispiel, die vorgefasste Idee (anticipatio) eines noch zu errichtenden Turmes beim Baumeister. Historisch in strengerem Sinne (strictius dictae) sind Erdichtungen, deren Gegenstände ebenfalls der eigenen Erfahrung entbehren, aber gemäß Wahrscheinlichkeit in dieser Welt möglicherweise entweder in der Vergangenheit hätten geschehen können oder gegenwärtig oder in Zukunft geschehen könnten.60 Poetische Erdichtungen hingegen werden nun mit den heterokosmischen Erdichtungen identifiziert: Sie beziehen sich auf Gegenstände, die nicht in dieser, aber in anderen möglichen, von der Dichtung selbst erschaffenen Welten (im mundus poetarum) möglich sein könnten: entweder als analogische Erdichtungen (figmenta poetica analogica), die sich an eine bereits bestehende dichterische Welt anschließen (z.B. an die der Homerischen Odyssee), ohne dabei regelwidrig (bereits Erdichtetem widersprechend) zu sein, oder als vollkommen neue, bisher unbekannte Erdichtungen, bei denen, da sie beim Publikum keine bestehenden Vorbegriffe, weder aus dieser noch aus der dichterischen Welt voraussetzen können, allerdings mit besonderer Vorsicht vorgegangen werden muss.61 Für Baumgartens Begriff eines wahren Gedichts (figmentum verum) ergibt sich daraus: Wahre Erdichtungen können historisch sein oder poetisch, und letzteres heißt: heterokosmisch sein; im ersten Fall beziehen sie sich auf wirkliche Gegenstände dieser Welt, bei denen aber hinzugedichtet werden kann, was nicht erfahren wird oder wurde, wohl aber möglich ist, möglich sein wird oder gewesen ist; im zweiten Fall beziehen sie sich auf Gegenstände, die zwar nicht in dieser Welt wirklich sind, aber in einer anderen Welt widerspruchsfrei möglich sein könnten. In beiden Fällen erweitern wahre Erdichtungen die Erkenntnis über das faktisch Gegebene hinaus. Auf dem Hintergrund der psychologischen Stellung der facultas fingendi haben Dichtungen bei Baumgarten daher vor allem – und darin letztlich anders als bei Gottsched – vor allem eine bewusstseinserweiternde Funktion: im Hinblick auf das, was zwar nicht wirklich, aber nicht überhaupt nicht, sondern nur möglich ist und vor allem im Hinblick 55 56 57 58 59 60 61

Vgl. Baumgarten: Aesthetica (s. Anm. 1), §§ 505–525; vgl. ebd., Sectio XXX: »Fictiones«, §§ 505–510; Sectio XXXI: »Fictiones poeticae«, §§ 511–525. Vgl. Aristoteles: Poetik 1451a–b. Baumgarten: Aesthetica (s. Anm. 1), § 505. Ebd., § 506. Ebd., §§ 511 und 514. Ebd., §§ 506 und 509f. Vgl. ebd., §§ 511–525, bes. §§ 516 und 518.

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Dagmar Mirbach

auf das, was zwar nicht wirklich ist, aber als Mögliches eine metaphysische Realität besitzt, die der Verstandeserkenntnis grundsätzlich entgehen muss, da sie dieselbe entweder unterschreitet oder übersteigt – die metaphysische Realität dessen, was im göttlichen Geist in eminentem Sinne ist und sich im fundus animae als Grund der Seele und Fundus der facultas fingendi dunkel wiederspiegelt.

3. Das Wunderbare als das Übernatürliche Das Wunderbare (miraculosum) wird als poetologischer Begriff in Baumgartens Aesthetica nicht eigens behandelt. Allerdings aber geht aus seiner Metaphysica, dort aus der cosmologia, hervor, dass er das Wunderbare bzw. Wunder (miracula) – wenn man beides analogisieren darf – als das Übernatürliche (supernaturale) im Sinne des Göttlichen versteht.62 Und dass es gerade die sinnliche Erkenntnis ist, die in spezifischer Weise dieses Übernatürliche im Sinne des Göttlichen zu erfassen und über sensus, phantasia, facultas fingendi und facultas characteristica auch in der und durch Dichtung zu vermitteln vermag, wird von Baumgarten in der Aesthetica zwar kaum explizit formuliert, ergibt sich aber aus dem Argumentationsgang der Schrift und aus einigen offenbar nur mündlich gemachten Ausführungen Baumgartens, wie sie der Vorlesungsnachschrift zu entnehmen sind. Sämtliche Kriterien der Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis und deren Umsetzung im Medium der Kunst verweisen darauf. Der Reichtum der sinnlichen Erkenntnis (ubertas aesthetica)63 verweist auf die unendliche Mannigfaltigkeit des Seienden und seiner wirklichen und möglichen Bestimmungen, die der deutlichen Verstandeserkenntnis entgeht, in Gottes Gedanken aber ist. Bei der sinnlichen Größe (magnitudo aesthetica)64 und dort bei der Bestimmung der höchsten subjektiven Größe, der magnanimitas in aestheticis genere maxima65 erklärt Baumgarten deutlich ihre über alles Weltliche hinausgehende Gemeinschaft mit dem Himmlischen und die in ihr sich zeigende Zugehörigkeit des Menschen nicht nur zu Gottes Reich der Natur, sondern auch zum Reich der Gnade (regnum gratiae).66 Im Kapitel zur Wahrheit ist bei der Bestimmung der veritas aesthetica67 derjenige Begriff der Möglichkeit leitend, mit dem Leibniz in seiner Theodizee den göttlichen Verstand als Reich der Möglichkeiten zu bestimmen vermag. Im Kapitel zum ästhetischen Licht (lux aesthetica)68 wird unter offensichtlichen Anleihen an die platonische und neuplatonische Lichtmetaphysik das Spektrum der Farben als Abglanz des Göttlichen verstanden. Wiederum ganz evident ist 62 63 64 65 66

67 68

Vgl. Baumgarten: Metaphysica (s. Anm. 1), §§ 474–500, S. 162–173. Baumgarten: Aesthetica (s. Anm. 1), §§ 115–176. Ebd., §§ 177–422. Ebd., §§ 394–422. Vgl. hierzu Mirbach: Einführung zu: Baumgarten: Ästhetik (s. Anm. 1), Bd. 1, S. LXV–LXXX; vgl. auch dies.: ›Magnitudo aesthetica‹. Ethical aspects of Alexander Gottlieb Baumgarten’s fragmentary ›Aesthetica‹ (1750/58). In: Nordisk estetik tidskrift 36–37 (2008–2009). Aarhus 2009, S. 102–128; dies.: ›Ingenium venustum und magnitudo pectoris‹. Ethische Aspekte von Alexander Gottlieb Baumgartens ›Aesthetica‹. In: Alexander Gottlieb Baumgarten – Sinnliche Erkenntnis in der Philosophie des Rationalismus (s. Anm. 4), S. 199–218. Ebd., §§ 423–613. Ebd., §§ 614–828.

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die Bezugnahme auf das Göttliche bei der Behandlung der sinnlichen Gewissheit (certitudo/persuasio aesthetica)69, spätestens dort, wo Baumgarten seinen Begriff der Freiheit der menschlichen Seele einführt und als deren unabdingbare Voraussetzung nicht die verstandesmäßige Überzeugung (convictio), sondern die sinnliche Gewissheit (persuasio) von Gottes Einrichtung der besten aller Welten erklärt.70 Letztlich ist Dichtung in ihrer vollkommensten Form immer und an erster Stelle, nicht nur in der Nachahmung von Wirklichem, der Natur und des Menschen, sondern auch und besonders in der Nachahmung von Möglichem – weil sie als Dichtung sinnliche Erkenntnis ist und vermittelt – eine Offenbarung des Übernatürlichen. Dem Übergang zu einem Dichtungsbegriff Johann Gottfried Herders und zur Kunstreligion der Romantik ist damit bei Baumgarten, auf der Grundlage der gleichen philosophischen Voraussetzungen, die auch Gottsched zugrundelegt, und verbunden mit einer differenzierten Aufnahme von Gottscheds Poetologie, ein Anfang gesetzt.

69 70

Ebd., §§ 829–904. Vgl. Dagmar Mirbach: Wolffs ›complementum possibilitatis‹ in der Rezeption durch Alexander Gottlieb Baumgarten. In: Christian Wolff und die Europäische Aufklärung. Akten des Ersten Internationalen Christian-WolffKongresses. Hg. von Jürgen Stolzenberg und Oliver-Pierre Rudolph. Teil 4. In: Christian Wolff: Gesammelte Werke. Hg. von Jean École, Hans Werner Arndt u. a. III. Abt.: Materialien und Dokumente. Bd. 104, Hildesheim, Berlin, New York 2008, S. 257–274.

II. POETIK, RHETORIK, GRAMMATIK

KLAUS WEIMAR

Gottscheds vier Literaturgeschichten

1. Johann Christoph Gottsched hat sich erfolgreich darum bemüht, auch nach seiner Ernennung zum ordentlichen Professor der Logik und Metaphysik (1734) weiterhin als außerordentlicher Professor der Poesie, der er seit 1730 war, arbeiten und amtieren zu können. Das Extraordinariat ohne Gehalt wird in den folgenden gut drei Jahrzehnten wesentlich mehr von seiner enormen Arbeitskraft in Anspruch genommen haben als das Ordinariat; denn es war die institutionelle Basis des universitäts- und bildungspolitischen Projekts größten Ausmaßes, einerseits die Disziplinen des Trivium (Grammatik, Poetik, Rhetorik) in deutscher Version als Lehrfächer an den Universitäten so zu etablieren, wie er es in Leipzig praktiziert hat, mit theoretischen Vorlesungen und praktischen Übungen (außer in der Grammatik), und andererseits auch außeruniversitär zu wirken und z. B. mit der Sprachkunst »auch das junge Frauenzimmer in Betrachtung zu ziehen, welches ja nicht unwürdig ist, seine Muttersprache etwas besser und richtiger schreiben zu lernen, als seine Mägde«.1 Zu diesem Zweck hat er die Trivialdisziplinen Grammatik, Rhetorik und Poetik in drei Reihen von Lehrbüchern behandelt, deren letzte allerdings unvollendet geblieben ist. Mit der ersten Reihe hat er das Trivium wieder in den Raum der zeitgemäßen universitären Wissenschaft geholt und zugleich in den Dienst der (wie man später sagte) Volksaufklärung gestellt, mit der zweiten hat er es als wissenschaftlich bearbeitetes an die Schulen zurückgeschickt, und die dritte war offenbar dazu bestimmt, weiterführend auf der ersten aufzubauen und ein akademisches Publikum zu bedienen. Die erste Reihe setzt, gemessen an der Reihenfolge des Trivium, von oben her an und behandelt nacheinander Poetik (1730), Rhetorik (1736) und Grammatik (1748); die zweite Reihe kehrt das um und bietet also von unten her kurz nacheinander Grammatik (1753), Rhetorik (1754) und Poetik (1756), und die dritte Reihe fängt in der Mitte an und ist bei ihr stehen geblieben, bei der Rhetorik (1759).

1

Johann Christoph Gottsched: Grundlegung einer Deutschen Sprachkunst. Nach den Mustern der besten Schriftsteller des vorigen und jetzigen Jahrhunderts abgefasset. Leipzig 1748, fol. **5 ro.

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Klaus Weimar

Schon als junger professor poeseos hat Gottsched die erste Reihe eröffnet mit dem Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen, erschienen Ende 1729 mit dem Datum 1730.2 Der Titel ist sorgfältig gewählt, damals aufschlussreich und heute vielleicht doch erläuterungsbedürftig. Das Buch annonciert sich auch in seinen späteren Auflagen (21737, 31742, 41751) nur als einen Versuch3, die traditionsreiche ars poetica oder Dichtkunst auf eine neue und anspruchsvolle Weise abzuhandeln, zwar nicht demonstrativisch nämlich, aber doch critisch, also in philosophischer Weise prüfend, unterscheidend und argumentativ begründend; und es adressiert sich nicht nach Lehrbuchart ausschließlich an Angehörige der Universität, sondern schlicht und umfassend an »die Deutschen«. Denselben Gestus haben die beiden anderen Bücher dieser ersten Reihe, die Ausführliche Redekunst von 1736 (21739, 31743, 41750, 51759), vorbereitet durch den wesentlich knapperen und sozusagen privaten oder internen Grundriß Zu einer Vernunfftmäßigen Redekunst […] zum Gebrauch seiner Zuhörer ans Licht gestellet (1729), und die Grundlegung einer Deutschen Sprachkunst von 1748 (21749, 31752, 41757, 51762). Die zweite Reihe besteht aus Kurzfassungen der ersten und greift auf andere Weise über den universitären Wirkungskreis hinaus, indem sie sich eindeutig und offen als eine Reihe von Schulbüchern präsentiert. Zur hinreichenden Erläuterung die Titel: zuerst Kern der Deutschen Sprachkunst, aus der ausführlichen Sprachkunst Herrn Professor Gottscheds, zum Gebrauche der Jugend, von ihm selbst ins Kurze gezogen (1753, 21754, 31759, 41762, 51764, 61766), dann Vorübungen der Beredsamkeit, zum Gebrauche der Gymnasien und größern Schulen (1754, 21756, 31764) und schließlich Vorübungen der deutschen und lateinischen Dichtkunst, zum Gebrauche der Schulen entworfen (1756, 21760). Die dritte Gottschedsche Bücherreihe schließlich besteht aus nur einem Titel: Akademische Redekunst, zum Gebrauch der Vorlesungen auf hohen Schulen (1759). Das Buch soll der akademischen Ausbildung im öffentlichen Reden nach Leipziger Modell dienen, ist aber wohl einfach zu spät gekommen, weil die Zeit der deutschen Rhetorik an deutschen Universitäten schon bei seinem Erscheinen vorbei war; Neuauflagen hat es jedenfalls nicht erlebt. Weitaus am meisten Verbreitung, Anerkennung und Wirkung haben die Lehrbücher zur Grammatik noch über des Verfassers Tod hinaus gefunden; Neuauflagen, Raubdrucke, Bearbeitungen hat es in großer Zahl gegeben, auch Übersetzungen ins Dänische, Englische, Französische, Holländische, Polnische, Tschechische und sogar ins Latein.4 Von Gottscheds Lehrbüchern zur Poetik und Rhetorik dagegen sind nur die Vorübungen zur deutschen und lateinischen Dichtkunst posthum nochmals aufgelegt worden (1775). Immerhin: die zweibändige Ausführliche Rede2

3

4

Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen; darinnen erstlich die allgemeinen Regeln der Poesie, hernach alle besondere Gattungen der Gedichte, abgehandelt und mit Exempeln erläutert werden: Uberall aber gezeiget wird Daß das innere Wesen der Poesie in einer Nachahmung der Natur bestehe. Anstatt einer Einleitung ist Horatii Dichtkunst in deutsche Verße übersetzt, und mit Anmerckungen erläutert. Leipzig 1730. – Zum Nachweis von Zitaten benutze ich in den Anmerkungen für diese Auflage die Titelbezeichnung Versuch einer Critischen Dichtkunst 1730, für die anderen Auflagen Versuch einer Critischen Dichtkunst 1737, Versuch einer Critischen Dichtkunst 1742, Versuch einer Critischen Dichtkunst 1751, jeweils mit Seitenoder Bogenzahlen. Anders als Johann Jacob Breitingers Gegenentwurf, der sich unter wohlberechnetem polemischem Verzicht auf diesen Zusatz einfach nur Critische Dichtkunst nennt und nur eine Auflage erlebt hat (2 Bde. Zürich, Leipzig 1742). Unter anderem dazu Barbara Molinelli-Stein: Zur Dimension des Historischen in Gottscheds nationalem Bildungsprogramm. In: Annali. Sezione Germanica, N.S. 16 (2006), S. 71–121.

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kunst ist bis 1759 auf fünf Auflagen gekommen, die Critische Dichtkunst bis 1751 auf deren vier von offenbar ungewöhnlicher Größe: Gottsched hat 1752 nicht ohne berechtigten Stolz mitgeteilt, es seien von seiner »kritischen Dichtkunst […] seit 22 Jahren, zum wenigsten ein 4000 Stücke in die Hände der Leute gekommen«.5

2. Gottscheds Lehrbücher für alle drei Disziplinen lehren die Regeln, nach denen man Texte überhaupt (Sprachkunst) und insbesondere Reden (Redekunst) und ›Gedichte‹, also literarische Texte (Dichtkunst), sowohl verfassen als auch beurteilen soll, kann und muß. Verbindlichkeit, Geltung und Anspruch der Regeln sind am höchsten gesetzt in der Dichtkunst, weil sie da abgeleitet werden können aus dem Prinzip, daß »das innerne Wesen der Poesie in einer Nachahmung der Natur bestehe« (so zu lesen auf dem Titelblatt ihrer ersten Auflage von 1730), während z. B. die Sprachkunst doch etwas anders vorgehen müßte, wenn sie beispielsweise begründen wollte, warum es allein richtig sei, daß eben diese Dichtkunst nicht »vor die Deutschen« (so auf dem Titelblatt der ersten Auflage), sondern »für die Deutschen« geschrieben ist (gemäß Titelblatt der zweiten bis vierten Auflage). Dichtkunst und Redekunst sind (anders als die Sprachkunst) gegliedert in einen allgemeinen und einen besonderen Teil. Der allgemeine Teil exponiert zunächst die Grundsätze und die Regeln, die für ›Gedichte‹ bzw. Reden überhaupt gelten, der besondere Teil spezifiziert sie kapitelweise für »alle besondere Gattungen der Gedichte« bzw. Reden, wobei sie »mit Exempeln erläutert werden«. Wer aber den Regeln Exempel beigibt (ob nun selbstgemachte oder übernommene, neue oder alte, als Muster oder als Beispiel), der geht vom Allgemeinen über das Besondere zum Einzelnen, und der Raum des Einzelnen (Individuellen, Kontingenten) ist die Geschichte. Dem Bedürfnis nach Veranschaulichung nachgebend und folgend, erzeugt das Regelsystem aus sich den Keim potentieller Historie in Gestalt des Exempels. Die zwölf Kapitel im besonderen Teil sind recht unterschiedlich ausgefallen. Das Titelblatt verspricht zwar, dass in ihnen »alle besondere Gattungen der Gedichte, abgehandelt und erläutert werden«, aber die Exempel fehlen nicht weniger als viermal (in den vier letzten Kapiteln über Heldengedicht, Tragödie, Komödie und Oper), und das aus einsichtigen Gründen.6 Die Exempel müssen also ersetzt werden durch Hinweise auf oder Nennung von Autoren und von Werken, die als vorbildliche oder abschreckende Beispiele dienen könnten. Die Kapitel über Tragödie und Komödie liefern an solchen Hinweisen oder Nennungen nicht mehr als diejenigen Kapitel (z. B. über Oden, Kantaten oder Idyllen), die zusätzlich durch Exempel erläutert sind, aber das Kapitel »Von Opern oder Singspielen« beginnt mit einer gelehrten Abhandlung über die Ursprünge und Anfänge der Gattung und dasjenige »Von der Epopee oder dem Helden-Gedichte« mit einer langen Aufzählung von Poeten, die in allen eu5 6

Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit (1752), S. 210. Dass sie fehlen, wird nicht nur daran liegen, dass Gottsched gerade in diesen vier Fällen keine Exempel aus eigener Produktion hat bieten können, wie sonst in allen anderen, sondern sicher auch daran, dass der Abdruck auch nur eines solchen Großtextes pro Kapitel das Buch gesprengt hätte.

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ropäischen Nationen von der Antike bis zur Gegenwart gewirkt und in ihren Werken Mustergültiges, gründlich Verfehltes oder auch nur zeitweise für wichtig Gehaltenes geliefert haben. Nach etwa zwei (damit gefüllten) Fünfteln des Kapitelumfangs heißt es dann: »Es ist Zeit, von dem historisch-critischen Theile dieses Capitels auf den dogmatischen zu kommen«7, und es folgen die für das Epos spezifischen Regeln, die den dogmatischen Teil des Kapitels ausmachen. In der ersten Auflage ist das Kapitel »Von Satiren oder Strafgedichten« am vollständigsten von allen ausgestattet. Es besteht aus drei Teilen: am Ende drei Exempel von Gottscheds eigener Hand, in der Mitte die Präsentation der gattungsspezifischen Regeln und am Anfang die Aufzählung von Autoren und Werken. Der Übergang vom ersten zum zweiten Teil wird bewerkstelligt und markiert durch diesen Satz: »Nach dieser kurtzen Historie der Satire, wird es leicht seyn, eine Beschreibung derselben zu geben«.8 Die »kurtze Historie« ist dabei das genaue Äquivalent des historisch-kritischen Teils im Kapitel über das Heldengedicht; denn auch sie ist unverkennbar kritisch, das Werk eines Criticus in Gottscheds Sinne: »Ein Criticus ist also dieser Erklärung nach, ein Gelehrter, der die Regeln der freyen Künste philosophisch eingesehen hat, und also im Stande ist, die Schönheiten und Fehler aller vorkommenden Meisterstücke oder Kunstwercke, vernünftig danach zu prüfen und zu beurtheilen«.9 Ein (Gattungs-)Kapitel im besonderen Teil der Dichtkunst hat also von Anfang an grundsätzlich drei Komponenten, eine historisch-kritische nämlich, eine dogmatische und eine exemplarische, wobei die exemplarische (die Darbietung von Exempeln) am ehesten und immer dann entbehrlich ist, wenn die historisch-kritische Komponente durch Nennung und Bewertung ihre Aufgabe und Funktion übernehmen kann oder sogar muss. Daran hat sich in allen weiteren Auflagen nichts geändert. Für die vierte Auflage von 1751 hat Gottsched den besonderen Teil der Dichtkunst gründlich umgearbeitet, die Zahl der Kapitel von zwölf auf 23 erhöht, ihre Reihe auf zwei »Abschnitte« verteilt (»Von den Gedichten, die von den Alten erfunden worden«10 und »Von Gedichten, die in neuern Zeiten erfunden worden«11), »und zwar in eben der Ordnung, darinn sie allem Anschein nach, zuerst erfunden worden«;12 und nicht zuletzt hat er allen neuen Kapiteln ihre historisch-kritische Komponente gegeben und zudem diejenige der alten Kapitel oft namhaft erweitert. Opfer all dessen ist die exemplarische Komponente geworden, die ja aber, wie gesehen, in ihrer Funktion ohnehin durch die historisch-kritische ersetzt werden kann: die vierte Auflage der Dichtkunst verzichtet ganz auf die Beigabe von Exempeln.13 Joachim Birke hat das so gedeutet, dass die Änderungen und Zusätze in der vierten Auflage der Dichtkunst deren »ursprüngliche Konzeption verwässern«; auch seien sowohl die Fast7 8 9 10 11 12 13

Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst 1730 (s. Anm. 2), S. 548; 1737, S. 649; 1742, S. 685; 1751, S. 485. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst 1730 (s. Anm. 2), S. 460. Ebd., fol. *5v0. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst 1751 (s. Anm. 2), S. 419–690 Ebd., S. 691–808 Ebd., fol. a 5vo. Ebd., fol. a 6ro: »Weil nun alle diese ansehnlichen Zusätze sehr vielen Platz brauchten; ich aber mein Buch den Käufern und Liebhabern nicht viel theurer machen wollte: so war kein anderer Rath, als die Exempel unserer Dichter, bey allen den Hauptstücken wegzulassen, wo ich sie hingesetzt hatte«.

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Verdoppelung der Kapitel im besonderen Teil als auch die »Überfremdung durch bibliographische und literaturhistorische Details«14 zu beklagen. Ich meine dagegen gezeigt zu haben, dass Gottsched seiner ›ursprünglichen Konzeption‹ nicht nur treu geblieben ist, sondern sie in der vierten Auflage der Dichtkunst allerererst konsequenter und einheitlicher durchgeführt sowie deutlicher herausgearbeitet hat. In dieser Konzeption ist die historisch-kritische Komponente nichts Fremdes, sondern so zugehörig wie nötig als Komplement und Vorbereitung der dogmatischen Komponente, so etwas wie eine historische Einleitung zu den gattungsspezifischen Regeln. Trotzdem hat sich etwas geändert. Die Dichtkunst ist in allen vier Auflagen eine Anleitung sowohl zum Verfertigen als auch zum Beurteilen von ›Gedichten‹ und adressiert sich an ein Publikum, dem – wie ihrem Verfasser – beides aus eigener Übung und Erfahrung wohlvertraut war, sowohl das Schreiben als auch das Lesen und Kritisieren. Diese anfänglich mit gutem Recht vorausgesetzte Personalunion von Schreiber und Leser oder ›Kunstrichter‹ (wer ›Gedichte‹ liest und beurteilt, schreibt auch selbst welche) hat sich aber schon vor der dritten und vierten Auflage der Gottschedschen Dichtkunst unausdrücklich als aufgelöst erwiesen, in Johann Jacob Breitingers Critischer Dichtkunst (1742) nämlich, die ganz auf Leser ausgerichtet ist.15 Als ebenso unausdrückliche Reaktion Gottscheds auf diesen Vorgang wird es zu verstehen sein, dass er in der Vorrede zur vierten Auflage anders als früher nun das Verfertigen (den Produktionsaspekt) einseitig hervorhebt und das Lesen und Beurteilen (den Rezeptionsaspekt) zurückstellt oder auslässt. Gegen die »zürcher Dichtkunst« Johann Jacob Breitingers wendet er maliziös ein: »Wer also dieselbe in der Absicht kaufen wollte, diese Arten der Gedichte daraus abfassen zu lernen, der würde sich sehr betrügen, und sein Geld hernach zu spät bereuen«.16 Auch vermeldet er, nochmals mit berechtigtem Stolz, den Ausbau der historisch-kritischen Komponente17, rechtfertigt sie aber nur aus der Produktionsperspektive und für sie: »Es ist allemal was schönes und lehrreiches, die Vorgänger in einer freyen Kunst zu kennen, deren Beyspielen man entweder zu folgen, oder deren Spuren man zu fliehen Ursache hat«.18 Gottsched scheint nicht realisiert zu haben (sonst hätte er es zweifellos gebührend herausgestrichen), dass die historisch-kritische Komponente in der vierten Auflage seiner Dichtkunst mehr war als nur die Erweiterung der exemplarischen Komponente und dementsprechend auch eine andere Funktion und einen anderen Adressatenkreis hatte oder hätte haben können als diese. Gerade dank der erweiterten historisch-kritischen Komponente hat sich die Dichtkunst in ihrer vierten Auflage unter der Hand oder hinter dem Rücken ihres Verfassers zu einem Informationshandbuch für Leser entwickelt, dem zu seiner Zeit nichts auch ähnlich Reichhaltiges an die Seite gestellt werden konnte. Die neue, nicht mehr selbst dichterisch tätige Leserschaft scheint 14 15 16 17 18

Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Variantenverzeichnis, In: ders.: Ausgewählte Werke. Bd. VI/3. Hg. von Joachim Birke und Brigitte Birke. Berlin, New York 1973, S. 174 f. Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. 2. Aufl. München 2003, S. 62–66. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst 1751 (s. Anm. 2), fol. b 2vo. Ebd., fol. a 7vo; »Und ich schmäuchele mir, daß noch keine deutsche Dichtkunst, in diesem Stücke so viel Nachrichten gegeben hat, als die meinige«. Ebd., fol. a 7vo.

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das allerdings nicht gewürdigt, genutzt oder auch nur bemerkt zu haben, wohl auch deshalb nicht, weil sie mit der dogmatischen Komponente wenig oder nichts mehr anfangen konnte. Der Typus des auch selbst ›Gedichte‹ schreibenden Gelehrten, zu dem Gottsched selbst gehörte und an dem er sich beharrlich orientiert hat, hätte sich an der dogmatischen Komponente vielleicht nicht gestört und die als exemplarisch gemeinten historisch-kritischen Daten dankbar sowohl aufgenommen als auch in der poetischen Praxis genutzt, aber er war um die Mitte des 18. Jahrhunderts längst im Aussterben begriffen. Die Dichtkunst hat auf diese Weise ihr Publikum verloren, das nur-lesende und das auch-schreibende gleichermaßen, und hat als einziges von Gottscheds Lehrbüchern ihre letzte Auflage schon anderthalb Jahrzehnte vor dem Tod ihres Verfassers erlebt. Die quasi-chronologisch geordnete Reihe von ihrerseits chronologisch angelegten, enumerativen und kritischen Gattungsgeschichten im zweiten und besonderen Teil der Dichtkunst ist – in der Reihenfolge meiner Erwähnung – Gottscheds erste Literaturgeschichte.

3. Die Dichtkunst präsentiert in all ihren Auflagen als erstes Kapitel oder Hauptstück im ersten und allgemeinen Teil (nach Widmung, Vorrede und »Horazens Dichtkunst« als Einleitung) die Abhandlung »Vom Ursprunge und Wachsthume der Poesie überhaupt«19, die als anthropologische Erzählung vom Ursprung der Poesie aus dem Gesang beginnt (»die Poesie […] hat ihren Grund im Menschen selbst«), sich als Erzählung von den Anfängen der Poesie in der mediterranen und nordischen Frühzeit fortsetzt und schließlich von der Ausbreitung von Prosodie (»Sylbenmaß«) und Reim berichtet, unter Nennung von mancherlei historischen Eigennamen. Auch die Redekunst wird in all ihren Auflagen eröffnet durch eine »Historische Einleitung vom Ursprunge und Wachsthume der Beredtsamkeit bei den Alten, ingleichen von ihrem itzigen Zustande in Deutschland«20, die immerhin über anthropologische Ursprungs- und regionale Anfangserzählungen und über halb sagenhafte Frühzeiten hinaus, wenn auch nur recht summarisch, bis in Gottscheds Gegenwart führt. Analoges war ferner vorgesehen für die Sprachkunst. In der Vorrede zu ihrer vierten Auflage (1757) hat Gottsched seine Absicht bekannt gemacht, »eine kurze Historie der deutschen Sprache, als einen Vorbericht zur Sprachkunst abzufassen«. Sein »itziges beschwerliches Rectorat« habe ihn aber an der Ausführung des Plans in der nötigen Schnelle verhindert. Und außerdem: »Es würde auch in der That das Buch dadurch etwas zu stark geworden seyn: und seinen Preis zu erhöhen, hat weder dem Hrn. Verleger, noch mir rathsam geschienen«21, offenbar auch nicht anläßlich der fünften Auflage (1762), der letzten von ihm selbst veranstalteten. 19 20

21

Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst 1730 (s. Anm. 2), S. 1–21 Johann Christoph Gottsched: Ausführliche Redekunst, Nach Anleitung der alten Griechen und Römer, wie auch der neuern Ausländer; Geistlichen und weltlichen Rednern zu gut, in zweenen Theilen verfasset, und mit Exempeln erläutert. Leipzig 1736, S. 3–31 Johann Christoph Gottsched: Vollständigere und Neuerläuterte Sprachkunst. Nach den Mustern der besten Schriftsteller des vorigen und itzigen Jahrhunderts abgefasset, und bey dieser vierten Auflage merklich vermehret. Leipzig 1757, fol. *8 ro.

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Schließlich und endlich hat auch Gottscheds philosophisches Lehrbuch seit seiner vierten Auflage von 1743 eine – sich auf die griechisch-römische Antike beschränkende und nachgestellte – Einleitung unter dem Titel »Kurzer Abriß einer philosophischen Historie, zum besten der Anfänger entworfen«. 22 Eine erste Folgerung aus diesen vier Fällen: Gottscheds Lehrbücher der Trivialdisziplinen und auch der Philosophie sind erst dann vollständig, wenn sie eine »historische Einleitung« haben. Und die zweite und wichtigere Folgerung: das Verhältnis von Historie und Dogmatik ist für Gottsched nicht eine Opposition oder eines des wechselseitigen Ausschlusses, sondern ein Aufeinander-Angewiesensein: die Dogmatik braucht die Historie als Vorbereitung und Einleitung, und die Historie braucht die Dogmatik als Lieferantin der Maßstäbe für die Kritik. Das ist Gottscheds zweite Literaturgeschichte: das erste Kapitel im ersten und allgemeinen Teil der Dichtkunst als anthropologisch-prähistorische und narrativ-spekulative Einleitung zum Regelwerk, das sich sowohl ahistorisch auf die unveränderliche Natur des Menschen beruft als auch sich auf ihr begründet und aus ihr ableitet. Sie steht zur Dichtkunst als ganzer im selben Verhältnis wie in den Kapiteln im zweiten und besonderen Teil der Dichtkunst die historisch-kritische zur dogmatischen Komponente: eben in dem der nötigen oder zumindest hilfreich vorbereitenden Einleitung zur Hauptsache.

4. Gottscheds erste und zweite Literaturgeschichte haben ihren Ort und ihre Funktion innerhalb der Dichtkunst. Seine dritte dagegen ist aus ihr im doppelten Sinne herausgewachsen. Einerseits ist sie konzipiert worden im Zusammenhang mit der Arbeit an der ersten Auflage der Dichtkunst oder nur wenig später, andererseits hat sie diesen Zusammenhang, die Bindung an das normative Regelwerk, von allem Anfang verlassen und sich verselbständigt und emanzipiert. Auf zunächst noch etwas undeutliche Weise ist sie zuerst ans Licht der Öffentlichkeit getreten in Gestalt der Zeitschrift Beyträge Zur Critischen Historie Der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit, von 1732 bis 1744 in acht Bänden zu je vier Stücken (mit einem durchschnittlichen Bandumfang von gegen siebenhundert Seiten) erschienen unter der anonymen Herausgeberschaft zuerst von Gottsched und Johann Georg Lotter (oder umgekehrt) und dann nach Lotters frühem Tod im Jahre 1737 von Gottsched allein, der spätestens von da an ihr wichtigster und fruchtbarster Mitarbeiter war. Aus dem Vorwort zum ersten Heft dieser vorbild- und konkurrenzlosen Zeitschrift geht hervor, dass die Mitarbeiter etwas weiterführen wollten, das »der unsterbliche Opitz« begonnen habe, indem er »einen zu seiner Zeit in Deutschland ganz neuen Weg« gegangen sei, dessen

22

Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit, darinn alle philosophische Wissenschaften in ihrer natürlichen Verknüpfung abgehandelt werden. Praktischer Theil. Zum Gebrauche akademischer Lectionen entworfen und mit einem Register versehen. Vierte Auflage. Mit einem Anhange einer kurzgefaßten philosoph. Historie. Leipzig 1743, S. 571–686.

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Name »die Verbesserung des Geschmackes der Deutschen«23 ist. Die Beyträge als »eine historisch-critische Monatschrift«24 waren dazu gedacht und bestimmt, demselben Zwecke zu dienen wie Gottscheds Lehrbücher der Grammatik, Rhetorik und Poetik, eben: der Verbesserung des Geschmacks, mit stärkerer Gewichtung der historisch-kritischen Komponente zwar, aber immer zur »Beförderung der Deutschen Ehre«.25 Wie das gemeint ist, illustriert gleich der erste Beitrag im ersten Stück, die Abhandlung »Von Deutschen Ubersetzungen der meisten alten Lateinischen Scribenten«26, die – als kritisch annotierte Bibliographie – überzeugend darlegt, dass die Deutschen international in der Aneignung der antiken Literatur gar nicht so schlecht dastehen, wie man gedacht hat. Etliche Jahre später, als die Beyträge schon längst keine »Monatschrift« mehr waren und auch nichts mehr mit der Deutschen Gesellschaft zu tun hatten, ist dieser erste Beitrag als »angefangene critische Historie der deutschen Uebersetzung der alten lateinischen Scribenten«27 nochmals erwähnt worden. Weniges28 deutet zunächst darauf hin, dass die Beyträge mehr und anderes waren als ein zusätzliches publizistisches Organ im Bemühen um »die Verbesserung des Geschmackes der Deutschen« in Sprache, Beredsamkeit und Poesie und um die Erweiterung des dazu dienlichen historischen Wissens. Trotzdem wird Gottscheden Glauben zu schenken sein, wenn er in der neuen autobiographischen Vorrede (datiert vom »1sten des Herbstmon. 1755«) zu einer weiteren Auflage seines philosophischen Lehrbuchs berichtet, er habe schon während der Herausgabe der Beyträge und durch sie »zu einem größern Werke, das ich schon damals im Sinne hatte, den Stoff sammlen« wollen. »Dieß war die noch unter meinen Händen befindliche kritische Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit; dazu ich mich schon seit 25 Jahren [d.h. seit 1730, dem Erscheinungsdatum der Dichtkunst] geschickt zu machen gesuchet; und dazu ich nunmehr einen großen Vorrath beysammen habe«.29 An dieser historisch-kritischen Gesamtdarstellung der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit hat Gottsched dreieinhalb Jahrzehnte lang gearbeitet, und er hat sie nicht lang vor seinem Tode offenbar auch abschließen können.30 Sein Korrespondent Johann Ludewig Anton Rust in Bernburg hat 1767 auf den Vorsatzblättern einer ihm gehörenden neu gebundenen

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Beyträge Zur Critischen Historie Der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit, herausgegeben von Einigen Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. Erstes Stück. Leipzig 1732, fol. ):( 3ro. Ebd. fol. ):( 3 vo. Ebd. fol. ):( 4 ro. Ebd. S. 1–54. Beyträge Zur Critischen Historie Der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit, herausgegeben von einigen Liebhabern der deutschen Litteratur. Fünfundzwanzigstes Stück. Leipzig 1741, S. 492. Dazu gehört die Notiz, die Deutsche Gesellschaft in Leipzig habe sich vorgesetzt, »unter andern [...] eine critische Historie der deutschen Sprache mit der Zeit zu Stande zu bringen«. Beyträge Zur Critischen Historie Der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit, herausgegeben von Einigen Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. Zehntes Stück. Leipzig 1734, S. 246. Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit, Praktischer Theil.[…] Nebst einem Anhange verschiedener philosophischen Schriften, und einer Vorrede von des Verfassers ersten Schriften. Sechste verbesserte Auflage. Leipzig 1756, fol. c1vo. Dies und diesen Absatz schreiben zu können, hat mir Michael Schlott ermöglicht, indem er mir in kollegialer und dankenswerter Weise seine Materialien, aus denen ich zitiere, zur Verfügung gestellt hat.

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Iwein-Handschrift31 notiert, dass er sie seinem »nun verewigten Gönner und Freund« Gottsched zum Vergleich mit anderen Handschriften geschickt (und mit einer Textergänzung auch zurückbekommen) habe; er hoffe, dass man ihre »Beschreibung u. Recension« durch Gottsched bald werde lesen können, »da die Geschichte der deutschen Sprache, Dichtkunst u. Beredsamkeit, wie ich von ihm erfahren habe, noch vor seinem Ende völlig ausgearbeitet worden«.32 Das völlig ausgearbeitete Manuskript der Gesamtdarstellung ist als verloren zu betrachten. Wie Gottscheds gesamter handschriftlicher Nachlass ist es nicht im Auktionskatalog seiner Bibliothek33 verzeichnet. Immerhin gibt es einen zuverlässigen Anhaltspunkt dafür, wie der literaturgeschichtliche Teil der Gesamtdarstellung ausgesehen haben wird. In der Vorrede zur vierten Auflage seiner Dichtkunst hat Gottsched nämlich mitgeteilt, dass er es sich habe »angelegen seyn lassen«, in vielen Kapiteln »die nöthigsten historischen Nachrichten, von denen Dichtern zu geben, die sich darin hervorgethan haben«, und zugleich die Hoffnung geäußert, »daß dieser kleine Vorschmack, von meiner weit größern Geschichte der deutschen Poesie, niemandem misfallen, oder zum Ekel werden wird«.34 Die weit größere »Geschichte der deutschen Poesie«, und das ist Gottscheds dritte Literaturgeschichte, wird demnach eine Amplifikation seiner ersten gewesen sein, also eine Reihung von enumerativen Gattungsgeschichten, entsprechend der historisch-kritischen Komponente der Kapitel im zweiten Teil der vierten Auflage der Dichtkunst. Dafür, daß die »Geschichte der deutschen Poesie« nach Gattungen gegliedert gewesen sein wird, gibt es einen zusätzlichen Beleg. 1746 oder 1747 hat Gottsched seiner Frau Luise Adelgunde Victorie die »Geschichte der lyrischen Dichtkunst von Ottfrieds Zeiten an, bis auf das Ende des vorigen Jahrhunderts« zur Ausarbeitung übergeben, weil sie dazu schon wesentlich mehr Materialien gesammelt hatte als er, »welches Feld ich sodann von meinem größern Werke trennen, und ihr ganz allein überlassen wollte«.35 Dass sie die »Geschichte der lyrischen Poesie« abgeschlossen hat, ist zuverlässig bezeugt. »L. A. V. Gottsched Geschichte der lyrischen Poesie der Deutschen. Ein starkes Manuskript von ihr selbsten geschrieben« steht als Nr. 68 verzeichnet im Auktionskatalog für die Bibliothek der Verfasserin,36 ist 1767 versteigert worden und muss ebenfalls als verloren gelten. 31 32

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Seit dem 19. Jahrhundert geführt als Handschrift a; vgl. Peter Jörg Becker: Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen. […] Wiesbaden 1977, S. 64f. Heinrich Römheld: Über die Nibelungenhandschrift h und die Iweinhandschrift a. Diss. phil. Greifswald 1899, S. 44. – Skeptisch könnte allerdings stimmen, dass Rust sich in seinem Brief vom 30.7.1764 an Gottsched (Transkript von Michael Schlott) bedankt für »die Nachricht […] von Dero bereits vollendeten gründlichen und gelehrten Werken, 1.) der critischen Historie der Deutschen Sprache, Dichtkunst, und Beredsamkeit, und 2.) von dem Thesauro antiquitatum Teutonicarum ineditarum, nach Art des Schilterischen«; denn davon, dass das zweite Werk jemals über den Plan hinausgediehen wäre, weiß man nichts. Entweder also hat Gottsched in beiden Fällen geflunkert, was an sich nicht seine Art war, oder Rust hat etwas missverstanden, und das Missverständnis würde dann sicher das zweite Werk betreffen, vielleicht auch oder auch nicht das erste. Catalogus bibiliothecae, quam Jo. Ch. Gottschedius […] collegit atque reliquit […]. Leipzig 1767. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst 1730 (s. Anm. 2), fol. a 6 ro Der Frau Luise Adelgunde Victoria Gottschedinn, geb. Kulmus, sämmtliche Kleinere Gedichte, nebst dem, von vielen vornehmen Standespersonen, Gönnern und Freunden beyderley Geschlechtes, Ihr gestiftetem Ehrenmaale, und Ihrem Leben, herausgegeben von Ihrem hinterbliebenen Ehemanne. Leipzig 1763, fol. *** 8 vo. Gabriele Ball: Die Büchersammlung der beiden Gottscheds. Annäherungen mit Blick auf die ›livres philosophiques‹ L. A. V. Gottscheds, geb. Kulmus. In: Diskurse der Aufklärung. Luise Adelgunde Victorie und Johann Christoph

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Nur eines lässt sich über die Geschichte der lyrischen Poesie der Deutschen und über die Geschichte der deutschen Sprache, Dichtkunst und Beredsamkeit mit Gewissheit sagen: beide Werke werden unvergleichlich reicher an historischer Detailinformation gewesen sein als ihr allein in Betracht kommender Vorgänger, Daniel Georg Morhofs Unterricht von 168237, weil beide auf extensiver Quellenermittlung und -benutzung beruhen, wie Morhof sie kaum jemals betrieben haben dürfte (nur selten schreibt er über etwas, über das nicht schon andere vor ihm geschrieben haben).

5. Seit seinen Leipziger Anfängen hat Gottsched sich mit der ihm eigenen Energie für eine Reform des deutschen Theaters engagiert. Höhepunkt und Abschluss des Projektes war Die deutsche Schaubühne38, eine sechsbändige Sammlung von deutsch geschriebenen oder ins Deutsche übersetzten Theaterstücken, die den Regeln der Dichtkunst konform waren und sich dann auch im Repertoire des deutschen Theaters in den 1740er Jahren etabliert haben. 1740, mitten in den Vorbereitungen zur Herausgabe des ersten Bandes der Schaubühne, ist er auf das gerade erschienene Buch eines französischen Anonymus aufmerksam geworden, in dem das deutsche Drama höchst abschätzig behandelt und als Ausweis und Beleg für die Dürftigkeit und Rückständigkeit der deutschen Kultur überhaupt in Anspruch genommen wird, weil es nach Quantität, Qualität und Alter weit hinter dem Drama in anderen europäischen Kulturnationen zurückstehe.39 Der Patriot Gottsched war herausgefordert und ist aufgestanden und angetreten, »die Ehre der Deutschen […] gegen solch bittre Angriffe« zu verteidigen40 und also zu erweisen, dass das deutsche Theater mindestens gleichen Alters und damit – nach humanistisch-agonalem Denken – auch von gleicher Würde sei wie dasjenige anderer Nationen. Ein erstes »Verzeichniß aller Theatralischen Gedichte, so in deutscher Sprache herausgekommen«, ist schon 1741 im zuerst erschienen zweiten Band der Schaubühne enthalten41, drei ›Nachlesen‹ folgen in deren drittem42, viertem43 und fünftem Band.44 1746 oder 1747 hat Gottscheds »Freundinn« Luise Adelgunde Victorie sich auf seinen Wunsch hin der Mühe unterzo-

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Gottsched. Hg. von Gabriele Ball, Helga Brandes und Katherine R. Goodman. Wiesbaden 2006, S. 213-260; hier S. 248 Nr. 68. Daniel Georg Morhof: Unterricht von Der Teutschen Sprache und Poesie/ deren Uhrsprung/ Fortgang und Lehrsätzen. Wobey auch von der reimenden Poeterey der Außländer mit mehren gehandelt wird. Kiel 1682. Johann Christoph Gottsched: Die Deutsche Schaubühne nach den Regeln und Exempeln der Alten […]. 6 Bde. Leipzig 1741–1745. [Eléazar de Mauvillon:] Lettres françoises et germaniques: Ou Réflexions militaires, littéraires, et critiques sur les François et les Allemans. Londres 1740. Johann Christoph Gottsched: Nöthiger Vorrath zur Geschichte der deutschen Dramatischen Dichtkunst, oder Verzeichniß aller Deutschen Trauer- Lust- und Sing-Spiele, die im Druck erschienen, von 1450 bis zur Hälfte des jetzigen Jahrhunderts, gesammlet und ans Licht gestellet. Leipzig 1757, fol. b 3 vo. Die Deutsche Schaubühne, Bd. II, S. 43–78. Ebd., Bd. III, S. xvii–xxxii. Ebd., Bd. IV, S. 29–48 (erste Paginierung). Ebd., Bd. V, S. 21–30 (erste Paginierung).

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gen, die bis dahin aufgelaufene Menge der Titel »in ein allgemeines chronologisches Verzeichniß« zu bringen.45 Vorher und nachher hat Gottsched mit gewaltigem Aufwand alles ihm Mögliche getan, um das Verzeichnis zu erweitern und zu vervollständigen: durch öffentliche Aufrufe zur Mitarbeit in der Schaubühne, durch gezielte Bitten und Aufträge an seine Korrespondenten (sein Briefwechsel ist voll davon), durch Besuche auswärtiger Bibliotheken, durch Auswertung der gelehrten Literatur und des einzigen halbwegs vergleichbaren früheren Verzeichnisses,46 durch den kostspieligen Ankauf einer Theatertext-Sammlung sehr ungewöhnlichen, wenn nicht einmaligen Umfangs. 1757 endlich, nach mehr als sechzehn Jahren Arbeit, ist das weiter angewachsene Verzeichnis unter dem Titel Nöthiger Vorrath zur Geschichte der deutschen Dramatischen Dichtkunst mit 336 Seiten Umfang (die drei Register nicht gerechnet) erschienen. Gottsched konnte sich dessen gewiss sein, dass er die selbstgewählte Aufgabe erfüllt und also die Würde des deutschen Theaters erwiesen und die Ehre der deutschen Nation erfolgreich verteidigt hatte. Deshalb konnte er das Werk auf dessen letzter Seite mit der rhetorischen Frage beenden, ob nicht »der deutsche Witz« »sattsam dargethan: daß er sowohl zum Erfinden, als zum geschickten Uebersetzen, munter und fruchtbar genug sey?«, und nach dem Fragezeichen nur noch die so lakonische wie triumphale Notiz »Q. E. D.« folgen lassen.47 Trotzdem ist die Arbeit weitergegangen. Gottlieb Christian Freisleben hat 1760 eine Kleine Nachlese (von immerhin 78 Seiten Umfang) zum Nöthigen Vorrath vorgelegt48, und Gottsched selbst hat 1765 einen wiederum gut dreihundert Seiten starken zweiten Teil des Nöthigen Vorraths zum Druck gegeben, mit Beifügung von Freislebens Nachlese als eines Anhangs. 49 Das Ergebnis ist eine – meist in Autopsie erstellte – chronologisch geordnete Gattungsbibliographie, wie es sie – sieht man von den frühen Übersetzungsbibliographien aus dem Gottschedkreis ab50 - bis dahin für die deutsche Literatur auch nicht einmal in Ansätzen gegeben hatte. Ruhm, Lob und Dank für diese Art literarhistorischer Grundlagenforschung war schon damals kaum zu ernten. Spätere Bibliographen haben Gottscheds Arbeit selbstverständlich benutzt und

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Gottschedinn: Kleinere Gedichte (s. Anm. 35), fol. *** 8 ro. Georgius Draudius: Bibliotheca librorum Germanicorum Classica, Das ist: Verzeichnuß aller vnd jeder Bücher/ so fast bey dencklichen Jaren/ biß auffs Jahr nach Christi Geburt 1625. in Teutscher Spraach von allerhand Materien hin vnd wider in Truck ausgangen/ vnd noch mehrentheil in Buchläden gefunden werden. […] Frankfurt 1625, S. 517-732 [»Historische/ Politische/ Geographische/ sowol auch andere Bücher in allerley Künsten«], S. 733–749 [»Teutsche Musicalische Bücher«]; zusammengestellt aus Frankfurter Meßkatalogen. Gottsched: Nöthiger Vorrath zur Geschichte der deutschen Dramatischen Dichtkunst (s. Anm. 40), Bd. I, S. 336. Gottfried Christian Freiesleben: Kleine Nachlese zu des berühmten Herrn Professor Gottscheds nöthigem Vorrathe zur Geschichte der deutschen dramatischen Dichtkunst. Leipzig 1760. Johann Christoph Gottsched: Des nöthigen Vorraths zur Geschichte der deutschen Dramatischen Dichtkunst, Zweyter Theil, oder Nachlese aller Deutschen Trauer- Lust- und Sing-Spiele, die vom 1450sten bis zum 1760sten Jahre im Drucke erschienen. […]. Als ein Anhang ist Hrn. Rath Freyeslebens Nachlese ebensolcher Stücke beygefüget. Leipzig 1765. Zur ersten Bibliographie der Übersetzungen aus dem Lateinischen vgl. Beyträge Zur Critischen Historie Der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit, herausgegeben von Einigen Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. Erstes Stück, S. 1–54; Fortsetzungen in den Beyträgen 3 (1732), S. 447–496, und 12 (1735), S. 563–603; dazu die Bibliographie der Übersetzungen aus dem Griechischen in den Beyträgen 10 (1734), S. 195–245.

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ausgewertet, und die Bekundung völligen Unverständnisses durch den Gießener Professor Christian Heinrich Schmid dürfte ein Einzelfall geblieben sein.51 Unbeachtet geblieben ist, dass der Nöthige Vorrath nicht nur eine Bibliographie, sondern auch eine Literaturgeschichte von allerdings nicht ganz gewöhnlicher Darstellungsweise ist, Gottscheds vierte Literaturgeschichte also. Sie ist eine reine Ereignisgeschichte. Jeder Eintrag in ihr steht unter einer Jahreszahl für ein Ereignis: für den öffentlichen Auftritt eines Theatertextes. Nicht selten bleibt es bei der kahlen bibliographischen Notiz, oft aber auch erhält sie Zusätze und Ergänzungen derart, dass etwa die Zahl der Akte oder das gewählte Versmaß erwähnt oder Informationen über den Autor gegeben werden oder aus einer Vorrede oder dem Stück selbst zitiert wird. Fünfmal ist Gottsched noch darüber hinaus gegangen, indem er die Ereignisse selbst, die Theatertexte, in vollem Umfang präsentiert und abgedruckt hat52, und zwar nicht als Muster im Sinne der Regeln, sondern als Probe und historisches Dokument, das sowohl durch sich selbst eine Auskunft über den Zustand der deutschen Poesie zu seiner Zeit als auch seines Alters wegen geeignet ist, »die Ehre der Deutschen« zu verteidigen und zu retten. Der Criticus Gottsched meldet sich zwar auch zu Wort und merkt z. B. an, Hrotsvit habe »die Einigkeit der Zeit und des Ortes nicht beobachtet« (und auch die der Handlung nicht), fragt aber doch auch: »Wer kann es aber einer Klosterjungfrau, in einem Jahrhunderte, das so finster war als das Xte, zumuthen, daß sie diese Regel der Schaubühne besser hätte wissen sollen; als damals auch die allergelehrtesten Männer sie wußten?«53 Die kritische Prüfung, ob die allzeit gültigen Regeln eingehalten worden sind, unterbleibt also keineswegs, aber ihr vor- oder gleichgeschaltet ist die andere Frage, ob die Regeln zur jeweiligen Zeit überhaupt schon oder noch bekannt waren, und wenn das nicht der Fall ist, dann ist es ein Gebot der Billigkeit,54 das negative kritische Urteil nicht über das positive historische zu stellen, sondern beide nebeneinander bestehen zu lassen. Dass Gottsched im Falle der alten Dramen dann doch das historische über das kritische Urteil gestellt hat, ist indessen keine Grundsatzentscheidung, sondern nur Folge oder Begleiterscheinung seines apologetischen Eintretens für »die Ehre der Deutschen«.

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Christian Heinrich Schmid: Anweisung der vornehmsten Bücher in allen Theilen der Dichtkunst. Leipzig 1781, S. 488: »Gottsched gab 1757 den ersten, 1765 den zweiten Theil eines nöthigen Vorraths zur Geschichte der teutschen dramatischen Dichtkunst heraus. Ihm, dem unsre Fastnachtsspiele Shakspearische Meisterstücke waren, galt es nur darum, durch viele und alte Stücke den Ausländern Trotz zu bieten. Man findet daher hier die Titelanzeigen von allem unsern alten Wuste.« Gottsched: Nöthiger Vorrath zur Geschichte der deutschen Dramatischen Dichtkunst (s. Anm. 40), Bd. II, S. 20–37 (1. Akt des Gallicanus von Hrotsvit von Gandersheim, in eigener Übersetzung), S. 43–80 (sechs Fastnachtsspiele von Hans Rosenplüt), S. 84–138 (Dietrich Schernberg: Ein schön Spiel von Fraw Jutten), S. 144–165 (Johannes Reuchlin: Scenica progymnasmata), S. 174–190 (Christoph Hegendorff: Comoedia nova). Ebd., S. 38. Ebd., S. 83 zu Ein schön Spiel von Fraw Jutten: »Ist diese Apotheosis aber auch noch so sehr fehlerhaft; wie sie es denn wirklich ist: so darf das keinen billigen Kunstrichter Wunder nehmen. Wer will es doch begehren, daß man um 1480. bey der kaum anbrechenden Morgenröthe der schönen Wissenschaften, schon die theatralischen Regeln gekannt haben solle, die den Wälschen kaum 50 Jahre, den Franzosen aber 150 Jahre hernach, bekannt geworden?«

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Das wird bestätigt durch seine Behandlung der Oper im Nöthigen Vorrath. Von vornherein klar war, dass die deutsche Oper nie und nimmer im internationalen Vergleich Erstlingsschaft und also überlegene Würde des Alters würde beanspruchen und dass sie sich bestenfalls nur als quantitativ gleichwertig würde behaupten können. Seine generelle kritische Einschätzung und Bewertung der Oper hat Gottsched in allen Auflagen der Critischen Dichtkunst dokumentiert und nie auch nur ansatzweise revidiert: »Wenn nicht die Regeln der gantzen Poesie übern Haufen fallen sollen, so muß ich sagen: Die Oper sey das ungereimteste Werck, das der menschliche Verstand jemahls erfunden hat«.55 Und doch hat er sich pioniermäßig und mit großem Aufwand um ihre bibliographische Erfassung und Verzeichnung bemüht. Und das heißt: Das grundsätzlich und andauernde negative kritische Urteil kann nicht verhindern, dass historisch Wichtiges oder auch einfach nur unbestreitbar Vorhandenes aufgenommen und registriert wird.

6. Die frühneuzeitliche deutsche Poetik hat üblicherweise zwei Komponenten: eine dogmatische, die die Regeln der Verfertigung von ›Gedichten‹ lehrt, und eine exemplarische, bestehend aus der Nennung oder auch Präsentation musterhafter Regelerfüllungen. Nicht selten tritt noch eine historisch-kritische Komponente hinzu: sie erweitert die exemplarische Komponente durch Beispiele, die nicht mehr in jedem Falle als Muster oder Vorbild dienen können und sollen; und wie die exemplarische Komponente die Regelanwendung in der Verfertigung von ›Gedichten‹ demonstriert, so die historisch-kritische die Regelanwendung in deren Beurteilung. Keine dieser drei Komponenten hat Gottsched erfunden oder neu eingeführt, aber niemand vor und nach ihm hat alle drei so eng und ohne Prädominanz einer über die anderen zusammengeführt wie er in seiner ersten Literaturgeschichte, dem historisch-kritischen Teil der Gattungskapitel im zweiten Teil seiner Critischen Dichtkunst, besonders konsequent in deren vierter Auflage, auch wenn da aus Platzgründen die Präsentation von Mustern durch deren bloße Nennung ersetzt wird. Gottscheds erste Literaturgeschichte ist wohl das letzte Exemplar der frühneuzeitlichen Literaturgeschichtsschreibung im Rahmen der Poetik und auf jeden Fall deren Höhepunkt und Summe. Auch Gottscheds zweite Literaturgeschichte, die Erzählung »Vom Ursprunge und Wachsthume der Poesie« im Anfangskapitel der Critischen Dichtkunst, ist nicht seine Erfindung. Ihre prähistorisch-anthropologischen Passagen sind als späthumanistisches Auslaufmodell zu bezeichnen, auch wenn solche Ursprungserzählungen immer wieder einmal aufgenommen und fortgesetzt worden sind, von Johann Georg Hamanns vielzitiertem Dictum »Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts« bis hin zu Karl Eibls Publikationsreihe Poetogenesis. In die sich zunehmend professionalisierende neuzeitliche Literaturgeschichtsschreibung seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sind sie aber kaum jemals eingegangen. Die Passagen von Gottscheds zweiter Literaturgeschichte, die von der mediterranen und nordischen Frühzeit der Poesie handeln, zeichnen sich – wie die eben erwähnten anderen – durch zweierlei aus: durch 55

Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst 1730 (s. Anm. 2), S. 604; ebenso, mit orthographischen Varianten, Versuch einer Critischen Dichtkunst 1737 (s. Anm. 2), S. 715; 1742, S. 757; 1751, S. 739.

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Narrativität und durch die Abwesenheit kritischer Beurteilung nach den Regeln der Poetik. An den wenigen erhaltenen Texten aus den Frühzeiten ist ihr Alter und bloßes Vorhandensein offenbar ungleich wichtiger als ihre Qualität oder Regelrichtigkeit. Das Kapitel »Vom Ursprunge und Wachsthume der Poesie« ist innerhalb von Gottscheds Poetik eine Enklave, in der die Regeln eben derselben Poetik nicht gelten oder jedenfalls nicht zu Anwendung kommen. Und insofern ist es zukunftsweisend; denn Texte wie das Hildebrandslied stehen seither und wohl immer noch über oder außerhalb jeder Kritik. Über das Moment ›Narrativität‹ in Kürze mehr. Gottscheds dritte Literaturgeschichte, die verlorene historisch-kritische Gesamtdarstellung der deutschen Sprache, Beredsamkeit und Poesie, wird einen entscheidenden Schritt weitergegangen sein als seine erste und zweite, indem sie sich aus dem sozusagen physischen Verbund mit der Poetik gelöst hat. Das wird – vor, bei und nach Gottsched – als Emanzipation und als Etablierung einer neuen Textsorte (eben der neuzeitlichen Literaturgeschichtsdarstellung) zu werten sein, war aber nur zu haben um den Preis einer Einbuße an Transparenz. Die Regeln der Poetik werden selbstverständlich weiterhin in Gebrauch genommen als Beurteilungs- und Wertungskriterien, aber nicht mehr separat und in unmittelbarer Nachbarschaft vorgestellt, begründet und expliziert. Im Falle Gottsched hätte man immerhin noch seine Dichtkunst beiziehen können, aber die späteren, in dieser Hinsicht grundsätzlich gleich verfahrenden Literarhistoriker haben in aller Regel keine Poetik mehr geschrieben. Die dogmatische Komponente der Poetik ist nicht untergegangen, sondern nur in den Untergrund gegangen, ebenso in der sich zur gleichen Zeit herausbildenden Literaturkritik, die obendrein nur noch kritisch verfährt und nicht historisch-kritisch wie Gottscheds verlorene dritte Literaturgeschichte. Was dieser noch gefehlt haben wird, um zu einem vollgültigen Exemplar neuzeitlicher Literaturgeschichtsschreibung56 zu werden, ist zweierlei: einerseits die Lösung auch vom Gattungsschema der Poetik als eines Einteilungsprinzips und andererseits die Ersetzung der Enumeration durch Narration als Herstellung von Zusammenhängen zwar am Leitfaden der Chronologie, aber nicht nur allein ihm folgend. Beides, allerdings auf Französisch, haben schon zu Gottscheds Lebzeiten Jacob Friedrich von Bielfeld57 und Michael Huber58 gewagt und praktiziert und kurz nach Gottscheds Tod Christoph Daniel Ebeling auf Deutsch.59

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Einschlägig zum Thema Jürgen Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich. Stuttgart 1989. – Glenn Most: What was literary history? In: Texttreue. Komparatistische Studien zu einem masslosen Massstab. Hg. von Jürg Berthold und Boris Previsic. Bern, Berlin 2008, S. 195–208, leitet aus den Literaturgeschichten von Taine, de Sanctis, Brandes und Saintsbury sieben »conceptual operations« ab, die das neuzeitliche Projekt »literary history«charakterisieren und ausmachen; zwei davon, »historicization« und »narrativization«, nehme ich hier auf. [Jacob Friedrich von Bielfeld:] Progrès des allemands dans les sciences, les belles-lettres & les arts, particulièrement dans la poésie & l’éloquence. Amsterdam 1752. Michael Huber: Choix des poésies allemandes. Bd. 1. Paris 1766, S. ix-xliv (»discours préliminaire«). [Christoph Daniel Ebeling:] Kurze [so nur 1767] Geschichte der deutschen Dichtkunst. In: Hannoverisches Magazin 5 (1767), S. 81–127; 6 (1768), S. 81–118, 352–384, 401–458 und 529–552. – Dazu Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, S. 128–130. Nach Friedrich Heinrich von der Hagen und Johann Gustav Büsching: Literarischer Grundriß zur Geschichte der Deutschen Poesie von der ältesten Zeit bis in das sechzehnte Jahrhundert. Berlin 1812, S. 366, hat »Gottsched, in s. Papieren, die Ebeling besitzt«, eine Handschrift mit Rosenplüts Fastnachtsspielen beschrieben. Ebeling war in

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Gottscheds vierte Literaturgeschichte, der Nöthige Vorrath, ist hervorgegangen aus dem frühneuzeitlichen Wettbewerb um die Ehre und Würde der Nationen als ein gelungener Beweis, dass die deutsche Tradition des Dramas mindestens ebenso alt und reich ist wie diejenige anderer europäischer Länder. Das bringt mit sich eine Herauslösung aus dem Verbund mit der Poetik und insbesondere eine Schwächung von deren dogmatischer Komponente. Wo es auch und nicht zuletzt um die Menge der Texte geht, kann deren mögliche oder wirkliche Regelwidrigkeit kein Grund mehr sein, ihnen die Aufnahme in die Literaturgeschichte zu verweigern. Gottsched zerlegt die historisch-kritische Komponente in zwei gleichberechtigte Momente, in ein nach wie vor kritisches und in ein historisches Urteil nämlich, das die Texte – unter Berücksichtigung des zu ihrer Zeit überhaupt Möglichen – in ihrem Eigenwert würdigt. Dergleichen lesend, sind wir dabei, wenn die frühneuzeitliche Literaturgeschichtsschreibung sozusagen aus innerer Notwendigkeit sich selbst zur neuzeitlichen hin übersteigt. Gottscheds vierte Literaturgeschichte ist (sich beschränkend auf eine Gattung) unter deutschen Verhältnissen das Gründungsdokument eines anderen Typs neuzeitlicher Literaturgeschichtsschreibung (anders als der narrative Typ nach Ebeling), der bis heute unter dem architektonischen Namen Grundriß läuft und Gottscheds Ereignisgeschichte auf alle poetische Gattungen ausweitet. Die Fortsetzer in diesem Sinne heißen Erduin Julius Koch60 Friedrich Heinrich von der Hagen und Johann Gustav Büsching61, August Koberstein62 und Karl Goedeke.63 Nicht das Unrühmlichste, am Anfang einer solchen Reihe zu stehen, wenn auch nur mit der Bearbeitung eines Teilgebiets.

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Leipzig als Hofmeister tätig, als Gottscheds Bibliothek versteigert worden ist. In seinem Nachlass in der Staatsbibliothek Hamburg findet sich aber keine Spur mehr von Gottscheds Papieren. Erduin Julius Koch: Grundriß einer Geschichte der Sprache und Literatur der Deutschen von den ältesten Zeiten bis auf Lessings Tod. 2. Bde. Berlin 1795/98. Vgl. Gottsched: Des nöthigen Vorraths zur Geschichte der deutschen Dramatischen Dichtkunst, Zweyter Theil (s. Anm. 49). August Koberstein: Grundriß zur Geschichte der deutschen National-Litteratur. Zum Gebrauch auf gelehrten Schulen entworfen. Leipzig 1827, 21830, 31837, 41847–1866 in 3 Bde.; 51872–1873 in 5 Bde. hg. von Karl Bartsch. Karl Goedeke: Grundrisz zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen. 2 Bde. Hannover 1859. – Der Abschluss der dritten Auflage, die zu einem Jahrhundertunternehmen geworden ist, liegt wenig mehr als zehn Jahre zurück.

ERIC ACHERMANN

Was Wunder? Gottscheds Modaltheorie von Fiktion

Gottscheds Auftritten auf kulturhistorischer Bühne brandet kein warmer Applaus entgegen. Kein Wunder, ist man anzumerken gewillt, ist der Rollentyp doch wenig geeignet, Sympathien zu erwecken: Als Bösewicht, der in seinem maßlosen Machtanspruch die Künste des Intriganten mit den Charakterzügen eines bornierten Philisters, eingebildeten Halbgelehrten sowie heuchlerisch frommen Weltweisen vereinigt, setzt der Leipziger Despot alles daran, die in tiefer Seelenverwandtschaft und keuscher Tugend geplante Verehelichung von Poesie und Phantasie in letzter Minute zu vereiteln. Selbst Freunden werthafter Wissenschaft dürfte die Anlage des Stückes etwas outriert erscheinen. Im Folgenden soll es nicht darum gehen, aus der tristen Posse eine heroische Tragödie oder auch bloß eine verliebte Schäferei zu zimmern. Nichtdestotrotz erfordert die Analyse der dichtungstheoretischen Argumentation der Critischen Dichtkunst aber, Gottsched aus einer Handlung herauszulösen, deren Richtung hin zu Empfindsamkeit sowie Sturm und Drang zu führen hat, um ihre eigentliche Erfüllung in Klassik und Romantik zu finden. An sogenannten Übergangsfiguren mangelt es der Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts wahrlich nicht – Grund genug also, einer der intellektuellen Hauptfiguren der Aufklärungszeit die obligaten ›noch immer‹ und ›noch nicht‹ zu ersparen. Um die groben Konturen des hier zugrundegelegten Gottsched-Bildes nachzuzeichnen, gilt es einigen oft geäußerten Urteilen zu widersprechen: Gleichviel ob wir sein riesiges und so weit gefächertes Werk oder einzig die bekanntesten unter seinen Hauptschriften betrachten, so erscheint Gottsched nicht als der beschränkte und trockene Vernünftler, dessen Verdienste hauptsächlich im Systematisieren liegen, sondern eher als ein nicht übermäßig auf Systematik bedachter Vermittler, dessen elegante und anschauliche Darstellungskunst thematisch und sprachlich schwer zugängliche Stoffe einem breiteren Publikum nahe bringt. Und auch die innovative Behandlung der zahlreichen Wissenschaften wird von Zeitgenossen bewundert und gelobt.1 Der zweite Einspruch betrifft Gottscheds Haltung gegenüber demjenigen, was den

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Vgl. Andres Straßberger: Johann Christoph Gottsched und die ›philosophische Predigt‹. Studien zur aufklärerischen Transformation der protestantischen Homiletik im Spannungsfeld von Theologie, Philosophie, Rhetorik und Politik. Tübingen 2010, S. 109f. Zur philosophischen Selbstständigkeit der Positionen Gottscheds vgl. Hans Poser: Gottsched und die Philosophie der deutschen Aufklärung. In: Gottsched-Tag. Wissenschaftliche Veranstaltung zum 300. Geburtstag von Johann Christoph Gottsched. Stuttgart, Leipzig 2002, S. 51–70; sowie Frank Gru-

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Zeitgenossen als Tradition gilt. Dem Urteil, Gottsched sei ein Ancien und ergo konservativ, gilt es zu widersprechen, und dies in mehrfacher Hinsicht: Nicht bloß, dass Gottsched wiederholt Partei für die Modernes ergreift,2 es ist vor allem die Korrelation von Antikenverehrung und ›konservativ‹, die nicht weniger irreführend und nichtssagend ist, als die Identifikation von Ancien und Klassizist. Wie darüber hinaus ein überzeugter Wolffianer, der auch in Sachen der Dichtung Wolffianer bleibt, in der Querelle d’Homère3 die Argumente der Anciens sich zu eigen machen sollte, bleibt schleierhaft.4 Mag zum dritten Gottsched den Zweck der Dichtung aus naheliegenden Gründen der praktischen Philosophie zuordnen, so bedeutet dies nicht, dass die moralische Absicht ihm als zureichender Grund zur theoretischen Bestimmung von Dichtung, noch als hauptsächliches Kriterium für das Gelingen eines dichterischen Werkes dient.5 Ebenso wenig kann viertens Gottscheds Naturbegriff aus der Lehre des decorum abgeleitet werden, was ab und an in einer etwas fragwürdigen rhetorisch-sittlichen Vereinnahmung von Gottscheds

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nerts (vor allem Kapitel II.) und Gideon Stienings (vor allem Kapitel II, 1–2.3) Beiträge in diesem Band. Vgl. die Materialien bei Peter K. Kapitza: Ein bürgerlicher Krieg in der gelehrten Welt. Zur Geschichte der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland. München 1981, S. 129–200 und 238–246. ›Querelle d’Homère‹ bezeichnet das Wiederaufbranden des Streites zwischen den ›Alten‹ und den ›Neuen‹ zwischen 1713 und 1716. Es ist diese Phase, die in Deutschland eine intensive Rezeption findet und die Debatten des 18. Jahrhunderts weit stärker bestimmt, als die erste Phase des ausgehenden 17. Jahrhunderts; für eine detaillierte Darstellung des Verlaufs und der Positionsbildung in Frankreich vgl. Noémie Hepp: Homère en France au XVIIe siècle. Paris 1968, S. 629–755; Arnaldo Pizzorusso: Antichi e moderni nella polemica di Madame Dacier. In: ders.: Teorie letterarie in Francia. Pisa 1968, S. 245–323; Giovanni Saverio Santangelo: Madame Dacier, una filologa nella ›crisi« (1672–1720). Rom 1984, S. 347-478; Yves Touchefeu: Charles Rollin et l’excellence d’Homère. In: Homère en France après la Querelle (1715–1900). Hg. v. Françoise Létoublon und Catherine Volpihac-Auger. Paris 1999, S. 129–140; Jean Sgard: Les Enjeux de la Querelle d’Homère dans ›Le Pour et le Contre‹. In: ebd., S. 203–212. Es erscheint problematisch, einfach die positiven und negativen Stellungnahmen Gottscheds zur Antike als solcher und zu einzelnen antiken Dichtern zu verbuchen. Die Summen nämlich, die sich daraus ergeben, sind schwer interpretierbar, solange keine Analyse der kunsttheoretischen und geschichtsphilosophischen Prämissen der einzelnen Positionen vorliegt. Und diese sind zwischen 1720 und 1740 nicht mehr dieselben, die sie in den 80er Jahren des 17. Jahrhunderts oder gar zu Zeiten Desmarets de Saint-Sorlin waren. Weniger noch überzeugen Ergebnisse, die bereits voraussetzen, wohin die Reise geht: »Die Frage, welcher Partei Gottsched selbst angehört oder letztlich den Vorzug gegeben habe, erweist sich damit [durch die Verwendung scheinbar widersprüchlicher Argumente, die eigentlich verwandt sind] als wenig sinnvoll; entscheidend für die Kennzeichnung seiner Poetik ist vielmehr die Tatsache, dass sie einen spätestens aus der Perspektive Herders gesehen veralteten Erkenntnisstand repräsentiert, auf dem die Querelle als solche noch einen Sinn besitzt.«; Thomas Pago: Johann Christoph Gottsched und die Rezeption der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland (1989). München 22003, S. 235. Hält man sich die Entwicklung der Frage, wie sie in den ersten Jahrzehnten in Frankreich, England und Italien beobachtet werden kann, vor Augen, so ist die Position Gottscheds mit derjenigen der Modernes, nicht aber derjenigen der Anciens kompatibel; zu dieser Entwicklung vgl. Marc Fumaroli: Les abeilles et les araignées. In: La Querelle des Anciens et des Modernes. Hg. von Marie Lecoq. Paris 2001, S. 7–218, hier S. 196–218. Peter J. Brenner: Neue deutsche Literaturgeschichte. Vom ›Ackermann‹ zu Günter Grass. Tübingen 1996, S. 54: »Das Ziel dieser [i. e. Gottscheds] Nachahmung ist die moralische Besserung des Publikums; diesem Zweck wird die Literatur untergeordnet.« Vgl. auch Andreas Härter: Digressionen. Studien zum Verhältnis von Ordnung und Abweichung in Rhetorik und Poetik. Quintilian – Opitz – Gottsched – Friedrich Schlegel. München 2000, S. 132–141.

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Dichtungstheorie behauptet wird.6 Gänzlich falsch und für jeden Gottsched-Leser befremdlich ist fünftens die Behauptung, Gottsched sei einem überholten Dichtungsideal verhaftet, seine ablehnende Haltung gegenüber seinen deutschen Vorgängern beschränke sich auf Stilfragen, während er sich in thematischer Hinsicht, wenn nicht gar in seiner gesamten Geisteshaltung am ausgehenden Barock orientiere7 – es sei denn der Leser erachte Autoren wie Bayle, Fontenelle, Batteux, Terrasson, Swift, Houdar de la Motte, Pope, Voltaire, Addison, Helvétius u. v. a. m. sowie sämtliche nach Benjamin Neukirch und dem Freiherrn von Canitz schreibenden Dichter, denen Gottsched gewogen ist, als barock, Milton, Haller und den Epiker Bodmer hingegen als Präfigurationen kommender Dichtung.8 Was sechstens und schließlich die viel beachtete Ausei6

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So Hans Peter Herrmann: Naturnachahmung und Einbildungskraft. Zur Entwicklung der deutschen Poetik von 1670 bis 1740. Bad Homburg, Berlin 1970, S. 133: »Es ist ein praktischer Begriff der Poesie, den Gottsched in der ›Critischen Dichtkunst‹ propagiert [sic!], nicht eigentlich ein ästhetischer. Und er ist praktischer Natur, weil er im Kern rhetorisch ist.«; Uwe Möller: Rhetorische Überlieferung und Dichtungstheorie im frühen 18. Jahrhundert. Studien zu Gottsched, Breitinger und G. Fr. Meier. München 1983, S. 17: »In der Tat leistet der metaphysische Naturbegriff, wie er von Gottsched in der Metaphysik und Kosmologie seiner theoretischen Philosophie entwickelt wird, für das Verständnis der poetischen Mimesislehre sehr wenig, da die Poetik, […] dem Bereich der praktischen Philosophie, also der Ethik oder Sittenlehre, zuzuordnen ist.« Für Eusterschulte schließlich, »vermittelt [Gottsched] diese Konzeption einer Entsprechung von Natur- und Vernunftordnung mit dem rhetorischen Prinzip einer (im Sinne des decorum/aptum) ›natürlichen‹ Darstellungsweise.«; Anne Eusterschulte: [Art.] Mimesis. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Bd. 5. Tübingen 2001, Sp. 1232– 1294 hier Sp. 1279. Berechtigte Kritik an der Position Herrmanns übt Horst-Michael Schmidt: Sinnlichkeit und Verstand. Zur philosophischen und poetologischen Begründung von Erfahrung und Urteil in der deutschen Aufklärung. Leibniz, Wolff, Gottsched, Bodmer und Breitinger, Baumgarten. München 1982, S. 83f. Nicht weniger einseitig als Herrmann, jedoch konträr, halten Sinemus und Gabler fest, dass Gottscheds kurzsichtiger Objektivismus die Ansprüche des decorum in der Poetik geradezu leugne; vgl. Volker Sinemus: Poetik und Rhetorik im frühmodernen deutschen Staat. Sozialgeschichtliche Bedingungen des und Normenwandels im 17. Jahrhundert. Göttingen 1978, S. 176f.; Hans Jürgen Gabler: Geschmack und Gesellschaft. Rhetorische und sozialgeschichtliche Aspekte der frühaufklärerischen Geschmackskategorie. Frankfurt a. M. 1982, S. 241–279. – Eine Liste der wichtigsten Publikation pro und contra Herrmann liefert Bernd Bräutigam: Fabelhafte Poesie in optimaler Welt. Gottscheds Literaturbegriff im Spiegel der Theodizee. In: Spiegelungen. Festschrift für Hans Schumacher. Hg. von Reiner Matzker, Petra Küchler-Sakellariou und Marius Babias. Frankfurt a. M. 1991, S. 35–51, hier S. 49. So findet sich etwa bei Alt die These, Gottsched favorisiere das Märtyrerdrama, das aber in säkularisierter Form erscheine, woraus nicht zuletzt die Einschätzung folgt, dass seine Haltung »beständig zwischen barocken Traditionsbewußtsein, Klassizismus-Begeisterung und Rationalismus [schwanke]«; Peter-André Alt: Tragödie der Aufklärung. Eine Einführung. Tübingen 1994, S. 73–75. Merkwürdiger noch erscheint eine offensichtlich Gottsched-spezifische Ambivalenz bei Hiebel, der den Leipziger Professor gleichzeitig »befangen in der normativen Poetik des Barock, das die Gattungen und Formen, deren antike Muster als nachzuahmende Vorbilder aufgefaßt wurden, nicht historisch zu differenzieren vermochte«, gleichzeitig aber in dieser Poetik, den »von den vernünftigen Regeln der oberen Vermögen überwachte[n] ›Geschmack‹, de[n] Imperativ der Moral und die nüchterne, kastrierte Sprache« als den »prosaische[n] Ausdruck einer zur Prosa geordneten Welt, einer durch Geld, Arbeitsteilung, Erziehung und Polizei zunehmend disziplinierten Gesellschaft« erkennt; Hans H. Hiebel: Gottsched (1700–1766). In: Klassiker der Literaturtheorie. Von Boileau bis Barthes. Hg. von Horst Turk. München 1979, S. 23–34, hier S. 24 und 34. Ähnlich bereits Jan Bruck, Eckart Feldmeier, Hans Hiebel und Karl Heinz Stahl: Der Mimesisbegriff Gottscheds und der Schweizer. Kritische Überlegungen zu Hans Peter Herrmann, Naturnachahmung und Einbildungskraft. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 90 (1971), S. 563–587, hier S. 566.

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nandersetzung mit den Zürchern betrifft, so dürfen letztere nicht einfach als Speerspitze einer allgemeinen Emanzipationsbewegung in Richtung Gefühls- und Autonomieästhetik behandelt werden; sie bringen vielmehr Argumente aus der Anti-Wolffschen Kontroversliteratur gezielt gegen Gottsched in Anschlag, um ganz im Sinne eines orthodoxen oder pietistischen Anspruchs den Bereich der Offenbarung dem Zugriff des iudicium und der Kritik zu entziehen. Die folgenden Ausführungen streifen all die genannten Punkte, beschränken sich im Wesentlichen aber auf wenige, jedoch grundlegende Argumente von Gottscheds Versuch einer Critischer Dichtkunst, auf diejenigen nämlich, die wir unter dem Titel ›Gottscheds Modaltheorie von Fiktion‹ subsummieren können. Ja, das Beschränken wird gar so weit getrieben, dass es letztlich auf die Beantwortung einer einzigen Frage hinausläuft: Was versteht Gottsched unter ›unglaublicher Wahrscheinlichkeit‹? Anlass für diese Frage ist die einfache Beobachtung, dass Gottsched in seiner Dichtkunst mit einiger Ausführlichkeit und manchem Exempel die Äsopische Fabel9 als zulässige Gattung der Literatur behandelt, obwohl diese Gottscheds angeblichem poetologischen Credo einer ›vernünftigen Nachahmung‹ diametral entgegenzustehen scheint. Im Zentrum der Gottschedschen Poetik steht der Stoff, das heißt die Fabel oder der Mythos: »[S]onder Zweifel« und »mit Grunde der Wahrheit« könne man sagen, »daß die Fabel das Hauptwerk der ganzen Poesie sey; indem die allerwichtigsten Stücke derselben einzig und allein darauf ankommen.«10 Gottsched greift Aristoteles’ Einsicht auf, dass der Mythos gleichsam » Αρχὴ καὶ ψυχή« (Ursprung und Seele) der Tragödie sei,11 erweitert und präzisiert das Diktum, indem er daraus den ausschließlich fiktionalen Charakter12 der gesamten Dichtung herleitet: Selbst unsere Muttersprache lehret uns dieses; wenn wir die Poesie, die Dichtkunst, und ein poetisches Werk, ein Gedicht nennen. Ich weis wohl, daß von Alters dichten, nur so viel als denken und nachsinnen geheißen […]. Allein in neuern Zeiten heißt es gewiß, etwas ersinnen, oder erfinden, was nicht wirklich geschehen ist. Sachen nämlich, die wirklich geschehen sind, d. i. wahre Begebenheiten, darf man nicht erst dichten: folglich entsteht auch aus der Beschreibung und Erzählung derselben kein Gedicht,

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Zu Gottscheds Fabeleinteilung vgl. Hans Freier: Kritische Poetik. Legitimation und Kritik der Poesie in ›Gottscheds Dichtkunst‹. Stuttgart 1973, S. 44. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst, IV, § 28. Wenn nicht anders bezeichnet, folgen alle Zitate des Versuchs der 4. Aufl.: Leipzig 1751, hier S. 167. Ebd., IV, § 7, S. 148: »Die Fabel ist hauptsächlich dasjenige, was der Ursprung und die Seele der ganzen Dichtkunst ist.« In der Fußote fügt Gottsched an: »Wie Aristoteles im VI. Capitel seiner Poetik schreibt: Αρχὴ καὶ οἷον ψυχὴ μῦθος.« Es handelt sich um Aristoteles: Poetik, 6, 1450a38. – Zur Verbreitung dieser Formulierung in den deutschen Poetiken vor Gottsched vgl. Hermann, Naturnachahmung und Einbildungskraft (s. Anm. 6), S. 125. Dass Aristoteles’ ›mimesis‹ mit ›Fiktion‹ übersetzt werden kann, ist eine Ansicht, die in neuerer Zeit von namhaften Kommentatoren der Poetik geteilt wird; vgl. die hervorragende Einleitung zu Aristoteles: La Poétique. Hg., übersetzt und kommentiert von Roselyne Dupont-Roc und Jean Lallot. Paris 1980, insbesondere S. 20–22; Paul Woodruff: Aristotle on Mimesis. In: Essays on Aristotle’s Poetics. Hg. von Amélie Oksenberg Rorty. Princeton 1992, S. 73–96, hier S. 81. – Zur Bedeutung von ›Erfindung‹ bei Wolff vgl. Stefanie Buchenau: Erfindungskunst und Dichtkunst. Christian Wolffs Beitrag zur Neubegründung der Poetik und Ästhetik. In: Christian Wolff und die europäische Aufklärung. Teil 4. Hg. von Jürgen Stolzenberg und Oliver-Pierre Rudolph. In: Christian Wolff: Gesammelte Werke. Hg. von Jean École, Hans Werner Arndt u. a. III. Abt. Materialien und Dokumente. Bd. 104. Hildesheim, Zürich 2008, S. 313–326.

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sondern eine Historie, oder Geschichte, und ihr Verfasser bekömmt nicht den Namen eines Dichters, sondern eines Geschichtschreibers.13

Wie Gottsched weiter lehrt, ist die Fabel als eine ersonnene Geschichte der eigentliche »Grundriss«, dessen kunstgerechter Entwurf die notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für das Gelingen von Dichtung darstellt.14 Die Kunst aber besteht in einer spezifischen Form der Nachahmung, der Mimesis, die ihrerseits nur dann als gelungen bezeichnet zu werden verdient, wenn sie wahrscheinlich ist: Bey dem allen ist nicht zu leugnen, daß nicht, nach dem Urtheile des großen Aristotels, das Hauptwerk der Poesie in der geschickten Nachahmung bestehe. Die Fabel selbst, die von andern für die Seele eines Gedichtes gehalten wird, ist nichts anders, als eine Nachahmung der Natur. Dieß wird sie nun durch die Aehnlichkeit mit derselben: und wenn sie diese hat, so heißt sie wahrscheinlich. Die Wahrscheinlichkeit ist also die Haupteigenschaft aller Fabeln; und wenn eine Fabel nicht wahrscheinlich ist, so taugt sie nichts. Wie kann sie aber wahrscheinlich seyn, wenn sie nicht die Natur zum Vorbilde nimmt, und ihr Fuß vor Fuß nachgeht? Horaz schreibt: Die Fabel laute so, daß sie der Wahrheit gleicht, Und fodre nicht von uns, daß man ihr alles gläube: Man reiße nicht das Kind den Hexen aus dem Leibe, Wenn sie es schon verzehrt. Dichtk. v. 489.15

Nichts mag bei der Lektüre einer Poetik auf den ersten Blick weniger aufregend erscheinen als die Forderung nach Wahrscheinlichkeit: Was hatte denn schon Aristoteles anderes gelehrt, als dass eine gute Handlung wahrscheinlich sei? Und wenn etwas denn schon mal wahrscheinlich ist, dann hat es wohl auch Ähnlichkeit mit der Natur. Vor lauter erfüllter Erwartung könnte man hierüber vergessen, dass Gottsched die Rückführung der Dichtung auf das Prinzip der Nachahmung als ein Novum behauptet, das er als erster in Deutschland eingeführt habe.16 Und man könnte vergessen, dass der Begriff der 13 14

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Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 10), IV, § 7, S. 148f. Vorlage ist hier Aristoteles: Poetik, 9, 1451a36–b10. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 10), IV, § 28, S. 167: »Wer es in dem Grundrisse zu dieser [der Fabel] versieht, der darf sich nicht schmäucheln, daß es ihm in der Poesie gelingen werde; so viel Witz und Gaben er auch sonst haben möchte.« Den Grundriss versteht Gottsched im Übrigen durchaus im Sinne eines architektonischen Fundaments, wählt Wolff doch die Baukunst, insbesondere die Planung des Architekten, als bevorzugtes Beispiel für die Tätigkeit der Einbildungskraft; Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen (1720), § 246. Frankfurt, Leipzig 1738, S. 136f. Ebd., I, § 33, S. 92. Der Verweis geht auf: Horaz: Epistulae, II, 3 (Epistula ad Pisones / Ars poetica), v. 338–340. Gottsched zitiert hier abweichend (!) aus seiner eigenen Übersetzung, die dem Versuch vorangestellt ist (S. 51), jedoch in der vierten Auflage über keine Zeilennummerierung mehr verfügt. Die bezeichnete Verszahl gibt Rätsel auf; seit der 1. Aufl. von 1730 und bis zur 3. Aufl. von 1737, welche die Zeilen zählen, wäre »478–481« und nicht »489« zutreffend. Es handelt sich offensichtlich um eine Flüchtigkeit, die aber durch alle Ausgaben hindurch beibehalten wird. Johann Christoph Gottsched: Auszug aus des Herrn Batteux Schönen Künsten, aus dem einzigen Grundsatze der Nachahmung hergeleitet. Leipzig 1754, S. 74: »Als ich in meiner Dichtkunst 1730 zuerst den Grundsatz der Alten von der Nachahmung der Natur vortrug, schien er ganz Deutschland neu, und fremde zu sein. Jedermann meynte: die Poesie sey eine Kunst, Verse zu machen, und weiter nichts. Alle unsre vorigen Dichtkünste hatten so gelehret.« Die Folge (S. 47f.) belegt, dass Gottsched im Nachahmungsprinzip nicht nur ein Novum, sondern auch ein Proprium seiner eigenen Position erkennt: »Hernach fanden sich andre Lehrer in der Nachbarschaft, die sich einbildeten: ein ästhetischer, das ist bloß sinn-

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Wahrscheinlichkeit alles andere als unproblematisch ist. Die Horaz-Verse nämlich, die Gottsched ein paar Kapitel weiter von neuem, diesmal lateinisch zitieren wird, verbinden die Forderung »ficta sint proxima veris« (»das Erfundene sei nah dem Wahren«) mit einer zweiten Forderung, die mit der Forderung nach Wahrscheinlichkeit allenfalls eine gewisse Ähnlichkeit hat: »fabula ne quodcumque volet poscat credi« (»die Fabel verlange nicht, dass man ihr nach eigenem Belieben alles glaube«). Die Gutgläubigkeit des Publikums hat mit dem Konzept der Wahrscheinlichkeit als Ähnlichkeitsrelation von Dichtung und Natur vorerst einmal nichts zu tun. Wir stehen hier vor einem Problem, dessen Ausmaß im Folgenden deutlich werden soll, nämlich der Verhältnisbestimmung zwischen einem ontologischen Begriff der Wahrscheinlichkeit, der auf den Begriffen ›Natur‹ und ›Ähnlichkeit‹ aufbaut, und einem psychologischrhetorischen Begriff, der auf das Kriterium des Glaubens zurückgreift, auf das ›πιθανόν‹ (dasjenige, was Glauben verdient).17 Wie schwierig sich das Verhältnis der beiden Begriffe gestaltet und bis zu welchem Grade, dies Gottsched bewusst ist, zeigt der Vergleich der vier autorisierten Auflagen der Critischen Dichtkunst, die zu Lebzeiten Gottscheds erscheinen. Der Paragraph, um den es geht, fehlt in der ersten Ausgabe vollständig; er wird hier nach der zweiten Ausgabe (linke Spalte) sowie der vierten Ausgabe, die im Wesentlichen mit der dritten (1742) identisch ist, wiedergegeben: Dadurch aber, dass wir die erste Art der Fabeln unwahrscheinlich nennen, widersprechen wir der obigen Erklärung noch nicht; darinnen wir behaupteten, die Fabel sey eine mögliche Begebenheit. Es kann ja eine Sache wohl möglich, aber in der That sehr unwahrscheinlich seyn. Denn die Wahrscheinlichkeit kömmt gemeiniglich auf die Umstände der Zeiten, der Oerter, der Hülfsmittel, und auf andere Bedingungen an. Daß man mit Schiffen nach America fahre Gold zu holen, ist heute zu Tage was Gewöhnliches, und also was Mögliches. Aber daß Salomons Schiffe, zu der Zeit, da noch keine Magnetnadel erfunden war, dahin gelaufen sey, das ist wohl sehr unwahrscheinlich; würde auch von einem Poeten nicht einmal gedichtet werden dörfen, wenn er nicht einen Umstand ersin-

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Dadurch aber, dass wir die erste Art der Fabeln unglaublich nennen, widersprechen wir der obigen Erklärung noch nicht; darinnen wir behaupteten, die Fabel sey eine mögliche Begebenheit. Es kann ja eine Sache wohl möglich, aber in der That bey der itzigen Ordnung der Ding sehr unglaublich seyn. Diese Verknüpfung der wirklich vorhandenen Dinge nämlich hält ja nicht alle mögliche Ding in sich, wie die Weltweisen darthun. Es wären andre Verbindungen endlicher Wesen eben sowohl geschickt gewesen, erschaffen zu werden, wenn es Gott gefallen hätte. Dem Dichter nun, stehen alle möglich Welten zu Diensten. Er schränket seinen Witz also nicht in den Lauf der wirklich vorhandenen Natur ein. Seine Einbildungskraft, führet ihn auch in das Reich der übrigen Möglichkeiten, die

licher, schwülstiger und dunkler Ausdruck seiner Gedanken mache das Wesen der Dichtkunst aus. Und dieser Meynung fielen die Zürcher bey; haben auch eine Zeit her viele seichte Köpfe dadurch verführet. Vielleicht weiset sie Herr Batteux zurecht.« Scherpe, einer Anregung von Bruno Markwardt (Geschichte der deutschen Poetik. Bd. 2. Aufklärung, Rokoko, Sturm und Drang. Berlin 21970, S. 54f.) folgend, verweist auf die Breslauer Beiträge von 1725 um anschließend dennoch die zentrale Rolle Gottscheds hervorzuheben: »Doch wird man Gottsched das Verdienst der Neugründung der Poesie nach dem Nachahmungsprinzip nicht streitig machen wollen, denn er allein hat es verstanden, das alte Prinzip mit den Mitteln der herrschenden philosophischen Denkart zu beleben und damit der Dichtkunst einen Platz unter den Disziplinen der Gelehrsamkeit zu sichern.« Klaus R. Scherpe: Gattungspoetik im 18. Jahrhundert. Historische Entwicklung von Gottsched bis Herder. Stuttgart 1968, S. 30. Zur antiken Vorstellung von Glauben und Glaubwürdigkeit vgl. Richard G. A. Buxton: Persuasion in Greek Tragedy. A Study of Peitho. Cambridge 1982, S. 48–66.

Gottscheds Modaltheorie von Fiktion nen könnte, dadurch es wahrscheinlich gemacht würde: Als z. E. daß ein gewisser Phönizier, den Salomon in seinen Diensten gehabt, das Geheimniß der Magnetnadel gehabt, aber weiter niemanden offenbaret hätte; daher es denn auch nachmals unbekannt geblieben wäre. Wie nun ein Poet hier alle Sorgfalt anwenden muß, daß er seinen Fabeln auch einen gewissen Grad der Wahrscheinlichkeit gebe: also fragt sichs, wie das in dem so genannten Unwahrscheinlichen möglich sey. Und hier ist es nicht zu leugnen, daß in der gegenwärtigen Verknüpfung der Dinge nicht leicht was zu ersinnen ist, dadurch die Sprache der Bäume oder der Thiere wahrscheinlich wird. Allein einem Poeten ist es erlaubt, eine Fabel durch die andre wahrscheinlich zu machen; und er darf also nur überhaupt dichten: Es sey einmal eine Zeit gewesen, da alle Pflanzen und Thiere hätten reden können. Setzt man dieses zum voraus; so läßt sich hernach alles übrige hören.

153 der itzigen Einrichtung nach, für unnatürlich gehalten werden. Dahin gehören auch redende Thiere, und mit Vernunft begabte Bäume; die zwar so viel uns bekannt ist, nicht wirklich vorhanden sind, aber doch nichts widersprechendes in sich halten. Man lese hier zur Erläuterung, Hollbergs unterirrdische Reise nach; wo man beydes antreffen wird. Wie nun ein Poet hier alle Sorgfalt anwenden muß, daß er seinen Fabeln auch einen gewissen Grad der Wahrscheinlichkeit gebe: also fragt sichs, wie das in dem so genannten Unglaublichen möglich sey? Und hier ist es nicht zu leugnen, daß in der gegenwärtigen Verknüpfung der Dinge nicht leicht was zu ersinnen ist, dadurch die Sprache der Bäume oder der Thiere wahrscheinlich wird. Allein einem Poeten ist es erlaubt, eine Fabel durch die andre wahrscheinlich zu machen; und er darf also nur überhaupt dichten: Es sey einmal eine Zeit gewesen, da alle Pflanzen und Thiere hätten reden können. Setzt man dieses zum voraus; so läßt sich hernach alles übrige hören.18

Was veranlasst also Gottsched, seine Einteilung der Fabeln in »unwahrscheinliche, wahrscheinliche und vermischte Fabeln« in der zweiten Ausgabe durch einen eigens eingefügten Paragraphen zu ergänzen, und warum ersetzt er die Ausdrücke »wahrscheinlich« und »unwahrscheinlich« der ersten beiden Ausgaben durch »glaublich« und »unglaublich« ab der dritten Ausgabe? Eine erste, naheliegende Antwort lautet: Wer die Fabel über Wahrscheinlichkeit definiert, sollte anschließend nicht einen Fabeltypus einführen, der das Etikett »unwahrscheinlich« trägt19 – wer es aber dennoch tut, sollte sich zumindest rechtfertigen. Dieser Forderung kommt Gottsched in der zweiten Ausgabe nach, indem er den offensichtlichen Widerspruch anführt und zwischen einer eigentlichen Wahrscheinlichkeit, die allen Fabeln zukommen muss, und einer uneigentlichen Wahrscheinlichkeit unterscheidet, die von jeweiligen historischen Umständen abhängt. Der erste Begriff der Wahrscheinlichkeit rekurriert auf die Möglichkeit und steht so unter der Ägide von Leibniz’ und Wolffs Wahrheitsauffassung; der zweite Begriff aber identifiziert Wahrscheinlichkeit mit einer Erfahrung, die Glauben verdient oder zumindest Glauben bewirkt. 18 19

Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst für die Deutschen, IV, § 10. 2. Aufl. Leipzig 1737, S. 145f. bzw. Versuch einer Critischen Dichtkunst (1751) IV, § 11, S. 152f. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen, IV, [keine Paragraphenzählung]. Leipzig 1730 (i. e. 1729), S. 126: »Man kan die Fabeln eintheilen in unwahrscheinliche, wahrscheinliche und vermischte.« Denn bereits in der 1. Aufl. (I, S. 77) heißt es: »Bey dem allen ist es nicht zu leugnen, daß nicht [!] nach dem Urtheile des grossen Aristoteles, das rechte Hauptwerck der Poesie in der geschickten Nachahmung bestehe. Die Fabel selbst, die von andern vor die Seele eines Gedichtes gehalten wird, ist nichts anders als eine Nachahmung der Natur. Denn wenn eine Fabel nicht wahrscheinlich ist, so taugt sie nichts: Wie kan sie aber nicht wahrscheinlich seyn, wenn sie nicht die Natur zum Vorbilde nimmt, und ihr Fuß vor Fuß nachgehet.« Und auch hier folgt die HorazStelle.

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Dass Gottsched in der dritten Auflage von 1742 mit dieser Lösung nicht mehr zufrieden ist, dürfte auf das Erscheinen von Breitingers Critischer Dichtkunst im Jahre 1740 zurückzuführen sein. Bei der Behandlung des Wunderbaren und des Wahrscheinlichen erkennt der Zürcher Chorherr eine enge gegenseitige Abhängigkeit zwischen Glaube und Wahrscheinlichkeit: Das Wahrscheinliche muß demnach von der Einbildung beurtheilt werden, und die Grundsätze, auf welche diese ihr Urtheil gründet, sind folgende: I. Was durch glaubwürdige Zeugen bestetigt wird, das kann man annehmen. II. Den Vorstellungen der Sinnen darf man trauen. III. Was bei einem grossen Haufen der Menschen Glauben gefunden hat, und eine Zeitlang von einem Geschlechte zu dem andern fortgepflanzet worden, das ist nicht zu verwerffen. IV. Was nach gewissen Graden eingeschränket ist, das kann vollkommener oder unvollkommener seyn. V. Was einmahl geschehen, das kann wieder geschehen. Was nun mit diesen und andern dergleichen Grundsätzen des Wahnes übereinstimmet, es mag dem reinen Verstande noch so wunderbar und widersinnig vorkommen, das ist für die Einbildung gläublich und wahrscheinlich. Man muß also das Wahre des Verstandes und das Wahre der Einbildung wohl unterscheiden; es kan dem Verstand etwas falsch zu seyn düncken, das die Einbildung für wahr annimmt: Hingegen kan der Verstand etwas für wahr erkennen, welches der Phantasie als ungläublich vorkömmt; und darum ist gewiß, daß das Falsche bisweilen wahrscheinlicher ist, als das Wahre. Das Wahre des Verstandes gehöret für die Weltweißheit, hingegen eignet der Poet sich das Wahre der Einbildung zu; daher hat Aristoteles im fünf und zwanzigsten Cap. der Poetick gesagt: »Der Poet muß die unmöglichen Dinge, wenn solche nur wahrscheinlich sind, denen möglichen, die bey ihrer Möglichkeit ungläublich sind, vorziehen.« Er hat nicht nöthig seine Vorstellungen vor wahr zu verkauffen; wenn sie nur nicht ungläublich sind, so eröffnen sie ihm schon den Zugang zu dem menschlichen Hertzen, so daß er dadurch die erforderliche Würckung auf dasselbe thun kan.20

Die Grundsätze, die Breitinger formuliert, sind zum einen – namentlich was die erste, mehr noch die dritte Proposition betrifft – waschechter Traditionalismus,21 zum anderen bedeuten sie eine etwas verklausulierte Absage an die klassizistische Darstellungsnorm einer idealischen Vollkommenheit (vierte Proposition) sowie (zweite Proposition) ein Bekenntnis zur Empirie oder besser: eine recht gängige Absage an Spielformen eines idealistischen Skeptizismus.22 Auf 20

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Johann Jacob Breitinger: Critische Dichtkunst Worinnen die Poetische Mahlerey in Absicht auf die Erfindung Im Grund untersuchet [...]. Bd. I. Zürich 1740. ND mit einem Nachwort von Wolfgang Bender. Stuttgart 1966, S. 138f. Zu einer kritischen Einschätzung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs der Schweizer als konservativen Festhaltens am Primat des Offenbarungsglaubens vgl. die hin und wieder allzu pauschalen, nichtsdestotrotz berechtigten Überlegungen von Reinhart Meyer: Restaurative Innovation. Theologische Tradition und poetische Freiheit in der Poetik Bodmers und Breitingers. In: Aufklärung und literarische Öffentlichkeit. Hg. von Christa Bürger, Peter Bürger und Jochen Schulte-Sasse. Frankfurt a. M. 1980, S. 39–82, insbesondere S. 65. – Auffällig ist aber, dass Breitinger in einer Dissertatio mehr oder minder zeitgleich (1748) den »consensus multitudinis« als Wahrheitsargument verwirft; Wahrscheinlichkeit, so dürfen wir vermuten, partizipiert nicht an Wahrheit, findet sie doch im Gegensatz zu dieser in der Zahl derjenigen, die eine Vorstellung als erwiesen erachten, Berechtigung. Zur genannten Dissertatio logica vim argumenti quod a consensu multitudinis duci solet vgl. Hanspeter Marti: Die Schule des richtigen Denkens. Logikunterricht und Disputation an der Zürcher Hohen Schule und der Einfluß Johann Jakob Breitingers. In: Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Hg. von Anett Lütteken und Barbara Mahlmann-Bauer. Göttingen 2009, S. 149–171, hier S. 163f. Vgl. Wolffs Bestimmung von ›Idealismus‹, der »die Welt und die darinnen befindlichen Cörper für blosse Einbildungen der einfachen Dinge« und für »nichts anderes als einen regulirten Traum« ansehe; Adam Heinrich Meißner: Philosophisches Lexicon aus Christian Wolffs sämtlichen deutschen Schriften. Bayreuth 1737. ND hg. von Lutz Geldsetzer. Düsseldorf 1970, S. 312. Es ist darüber hinaus zu bemerken, dass die wiederholt behauptete Opposition zwischen einem Wolffschen Rationalismus, dem Gottsched

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die fünfte These wird gesondert einzugehen sein, beruht das Verhältnis zwischen vormals wirklichen und künftig möglichen Ereignissen wohl kaum auf dem subjektiven Vermögen der Einbildungskraft. In dieser nämlich finden die vier übrigen Thesen sowie überhaupt die gesamte Position der Schweizer ihr Fundament: Das der Dichtung angemessene Beurteilungsvermögen sei nicht der Verstand, sondern die Einbildungskraft.23 Als mentale Repräsentation einer analog erfahrenen Wahrnehmung ist die Einbildung sinnlich, als lebhafte Kraft ist sie skalierbar, als unteres Seelenvermögen gehört sie zur natürlichen anthropologischen Grundausstattung, die nicht im selben Maße wie die Vernunft schulisch und gesellschaftlich geformt oder verformbar ist, kurz: Die Einbildungskraft ist sinnlich, primitiv, lebendig und populär.24 Aus dieser Kraft

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dogmatisch anhänge, und einer an Locke geschulten, durch italienischen Einfluss (hauptsächlich Muratori) sensualistisch informierten sowie die Baumgartensche Ästhetik vorwegnehmenden Anthropologie bei den Zürchern problematisch ist, und zwar deshalb, weil Wolff die darin unterstellten Probleme mit der Empirie nicht hat; vgl. dazu Hans-Jürgen Engfer: Empirismus versus Rationalismus? Kritik eines philosophiegeschichtlichen Schemas. Paderborn, Zürich 1996, S. 256–283; Luigi Cataldi Madonna: Wahrscheinlichkeit und wahrscheinliches Wissen in der Philosophie von Christian Wolff. In: Studia leibnitiana 19 (1987), S. 2–40; Jean École: En quels sens peut-on dire que Wolff est rationaliste? In: Studia leibnitiana 11 (1979), S. 45–61, insbesondere S. 50–52. Diese Position findet sich bereits in Bodmers und Breitingers frühem Traktat Vom Einfluß und Gebrauche der Einbildungs-Krafft aus dem Jahre 1727. Auch hier setzt die Behandlung der Vermögen bei den äußeren Sinnen an, die Gott dem Menschen als »unsere ersten Lehr-Meister« gegeben hat. Ganz im Sinne Wolffs wird die Einbildungskraft als ein Vermögen zur Vorstellung nicht anwesender Dinge (vgl. Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und auch der Seele des Menschen (s. Anm. 14), § 235, S. 111f.) verstanden, wobei jedoch die Intensität dieser Vergegenwärtigung stark hervorgehoben wird: »Darum hat [Gott] die Seele mit einer besondern Krafft begabet/ daß sie die Begrieffe und die Empfindungen/ so sie einmal von den Sinnen empfangen hat/ auch in der Abwesenheit und entferntesten Abgelegenheit der Gegenständen nach eigenem Belieben wieder annehmen/ hervor holen und aufwecken kan: Diese Krafft der Seelen heissen wir die Einbildungs=Krafft/ und es ist derselben Gutthat/ daß die vergangne und aus unseren Sinnen hingerückte Dinge annoch anwesend vor uns stehen/ und uns nicht minder starck rühren/ als sie ehemahls gethan hatten.«; [Johann Jacob Bodmer, Johann Jacob Breitinger:] Von dem Einfluß und Gebrauche Der Einbildungs-Krafft; Zur Ausbesserung des Geschmackes. Leipzig, Frankfurt 1727, S. 2 und 4f. Vgl. hierzu und unter Berücksichtigung Wolffs Helmut Holzhey: Befreiung und Bindung der Einbildungskraft. In: Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung (s. Anm. 21), S. 42–59, insbesondere S. 45f.; zur Verbindung von Einbildungskraft und Wunderbarem bei Bodmer, der Favorisierung christlicher Motive und dem Einfluss Joseph Addisons vgl. Susi Bing: Die Naturnachahmungstheorie bei Gottsched und den Schweizern und ihre Beziehung zu der Dichtungstheorie der Zeit. Diss. Köln 1934, S. 97–104. Breitinger: Critische Dichtkunst (s. Anm. 20), III, Bd. I, S. 59: »Nun ist die Poesie Ars popularis, die das Ergetzen und die Verbesserung des grössern Haufens der Menschen suchet.« Zum Begriff der ›ars popularis‹ bei Breitinger vgl. Carsten Zelle: ›Vernünftige Gedanken von der Beredsamkeit‹ – Bodmers und Breitingers ästhetische Schriften und Literaturkritik. In: Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung (s. Anm. 21), S. 25–41, hier S. 34f.; Simone Zurbuchen: Aufklärung im Dienst der Republik. Bodmers radikal-politischer Patriotismus. In: ebd., S. 386–409, hier S. 387–397; Jesko Reiling: Die Genese der idealen Gesellschaft. Studien zum literarischen Werk von Johann Jakob Bodmer (1698–1783). Berlin 2010, S. 63-80. Die Vorstellung dürfte auf den Grafen Calepio zurückgehen, mit welchem Bodmer von 1728 bis 1761 in Briefkontakt stand. 1736 edierte Bodmer eine viel beachtete Auswahl von zehn Briefen; Johann Jacob Bodmer: Brief=Wechsel von der Natur des Poetischen Geschmacks. Zürich 1736. ND mit einem Nachwort von Wolfgang Bender. Stuttgart 1966, S. 35 (zu den »artes populares«). Zu diesem Briefwechsel vgl. die hervorragende Darstellung von Bender im Nachwort (ebd. S. 3*–30*), sowie ders.: Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger. Stuttgart 1973, S. 79–84.

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schließlich wird die Eigengesetzlichkeit25 des poetisch Wahrscheinlichen behauptet, dessen Bemessung nicht in der diskursiven und extensiven Erkenntnis, sondern in der emotionalen Intensität, dem »Zugang zu dem menschlichen Hertzen«, gründet.26 Im Zentrum von Breitingers Argumentation steht neben der Einbildungskraft das Glaubhafte, das im Bereich der Dichtung den Begriffen des Verstandes und der Vernunft vorgeordnet ist. Debatten um das Primat von Glaube oder Vernunft haben nun eine fatale Ähnlichkeit mit der Kernfrage, welche die gesamte Rezeptionsgeschichte der Wolffschen Philosophie im Deutschland des 18. Jahrhunderts prägt, wie nämlich das Verhältnis zwischen principium rationis und principium revelationis zu denken sei. Bekanntlich sind die Angriffe gegen Wolff durch die Sorge motiviert, dass das philosophische Urteil über theologische, moralische sowie naturwissenschaftliche und metaphysische Thesen, insofern letztere die Offenbarung oder die jeweilige Dogmatik betreffen, aus der »Oberhut«27 der Theologie entlassen, ja, dass es gar diese Oberhut

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Ausdrücke, die den Rechts- und Machtanspruch der Vernunft oder Einbildungskraft betreffen, sind in der Auseinandersetzung auffällig häufig: Die Discourse der Mahlern, Zweyter Theil, VIII. Discours. Zürich 1722, S. 61: »Die Curiositet reisset den Menschen ausser dieselben / sie spinnet ihm die gefährlichen Gedancken ein / er habe das freye Recht über alles ohne Underscheid zu gedencken und zu urtheilen / sie mache ihm weiß / die (blinde und verderbte) Vernunfft sey geschickt / alles ohne Fehl zu entscheiden und loß zu winden / dieser eitele Wahn hebet die Vernunfft auf den Thron / er leihet ihr das Ansehen und den Gewalt eines unfehlbaren Richters / der alles andre / was er nicht vollkommen begreiffen kan / als falsch und ungerecht verwirffet ; grad als wenn ein Blinder / nichts glauben wollte / weil er nichts sehen kan. Sehet die gefährliche Spitze / auf welche die Curiositet einen Menschen führet / an deren Ende die äusserste Unglückseligkeit ist: Wenn ihr nun auf der andern Seiten die Natur der Religion betrachen werdet / so werdet ihr die Grösse der Gefahr / in welche die Curiositet einen Menschen in dem Artickel der Religion stürzet / noch klärer ermessen können / so ihr diese beyde Beschreibungen gegen einander halten und vergleichen werde.« Gottsched hingegen glaubt, die Schweizer wollen die Einbildungskraft auf den Thron setzen, wo doch »nur die Vernunft sitzen kann und darf«; Brief an Abraham Gotthelf Kästner vom 5. Januar 1757; zit. nach Detlef Döring: Der Literaturstreit zwischen Leipzig und Zürich in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Neue Untersuchungen zu einem alten Thema. In: Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung (s. Anm. 21), S. 60-104, hier S. 94. Die Tendenz hin zum Herzen, dem als Sitz des Willens die Vorgängigkeit vor dem Verstand eingeräumt wird, bemisst die Differenz zwischen den Zürchern und den Leipzigern. Sie prägt sowohl die Dichtungstheorie als auch die Anthropologie Bodmers und Breitingers, wie sie sich nicht zuletzt in ihrer Verteidigung der Dichtungen Albrecht von Hallers äußert; vgl. Eric Achermann: Dichtung. In: Albrecht von Haller. Leben – Werk – Epoche. Hg. von Urs Boschung, Wolfgang Proß und Hubert Steinke. Göttingen 2008, S. 121–155, hier S. 128–130. Vgl. Heinrich Wuttke: Ueber Christian Wolff den Philosophen (1841). ND in: Christian Wolff: Biographie. Hg. von Hans Werner Arndt. In: ders.: Gesammelte Werke. Abt. I. Deutsche Schriften. Bd. 10. Hildesheim, New York 1980, S. 1–106 [mehrere Beiträge nicht durchgehend paginiert], hier S. 34: »Damit [mit dem Schiedsspruch der königlichen Kommission 1736] war Wolffs Sieg, war die Freiheit des philosophischen Forschens von der Oberhut der Theologie ausgemacht.« – Für eine hervorragende Darstellung dieses Spannungsverhältnisses vgl. die kurzen, aber prinzipiellen Erörterungen bei Walter Sparn: Vernünftiges Christentum. Über die geschichtliche Aufgabe der theologischen Aufklärung im 18. Jahrhundert in Deutschland. In: Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung. Hg. von Rudolf Vierhaus. Göttingen 1985, S. 18–57; für die prekäre und schwer fassbare Haltung Wolffs gegenüber der Offenbarung vgl. Mario Casula: Die Theologia naturalis von Christian Wolff. Vernunft und Offenbarung. In: Christian Wolff. 1679–1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung. Hg. von Werner Schneiders. Hamburg 1983, S. 129–138.

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bald für sich beanspruchen werde.28 Und diese Sorge ist der lutherischen Orthodoxie ebenso eigen wie dem Halleschen Pietismus.29 Bodmer und Breitinger sind jedoch alles andere als erklärte Gegner Wolffs; ihre Hochachtung gegenüber dem Philosophen scheint sich im Gegenteil durch ihr gesamtes Œuvre zu ziehen: Sie äußert sich explizit nicht nur in den frühen Schriften, wie etwa dem Schreiben an Wolff anlässlich der Discourse der Mahlern30 aus dem Jahre 1723 oder der Dedikationsschrift, die das Traktat Vom Einfluß und Gebrauche der Einbildungs-Krafft aus dem Jahre 1727 eröffnet,31 sondern auch noch bei gelegentlicher Erwähnung in den Schriften der 40er Jahre.32 Aber auch was die Lehrinhalte und Begriffsdefinitionen betrifft, so fällt es leicht, zahlreiche Anleihen aus Wolffs Werken auszumachen, und dies nicht zuletzt bei der Bestimmung der Einbildungskraft.33 Von einer Feindschaft gegenüber der Philosophie Wolffs kann also nicht die Rede sein,34 und den28

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Vgl. hierzu Detlef Döring: Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz’ und die Leipziger Aufklärung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Stuttgart, Leipzig 1999, passim., insbesondere S. 44–60, 76f. (zu Gottscheds Haltung) sowie 100f.; ders.: Der Wolffianismus in Leipzig – Anhänger und Gegner. In: Christian Wolff – seine Schule und seine Gegner. Hg. von Hans-Martin Gerlach. Hamburg 2001, S. 51 – 76, vor allem S. 66–72. Vgl. Martin Brecht: August Hermann Francke und der Hallische Pietismus. In: Geschichte des Pietismus. Bd. I. Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen 18. Jahrhundert. Hg. von dems. Göttingen 1993, S. 440–539, hier S. 504–507. Zur Übereinkunft von Pietismus und Orthodoxie in der Ablehnung der Wolffschen Philosophie vgl. Walter Sparn: Philosophie. In: Geschichte des Pietismus. Bd. IV. Glaubenswelt und Lebenswelten. Hg. von Hartmut Lehmann. Göttingen 2004, S. 227–263, hier S. 245–249. Vgl. [Johannes Meister:] Chronick der Gesellschaft der Mahler. 1721–1722. Nach dem Manuscripte der Zürcher Stadtbibliothek hg. von Theodor Vetter. Frauenfeld 1887, S. 64f. Im Schreiben an Se. Excellentz/ Herrn Christian Wolffen vergleichen die Verfasser die Verfolgung Wolffs durch seine Neider mit derjenigen Miltons: »Milton/ der leiden müssen/ daß sein verlohrnes Paradies eine lange Zeit unerkant und ungelesen bliebe/ biß ein vornehmer Kenner die Engelländer gelehrt hat/ dieses Meister=Stück ihrer Poeten und nunmehr die allgemeine Lust der Nation hochschätzen. Ein gleichmäßiges Geschicke darff ich Euer HochE. weissagen: Ich versetze mich in die könfftigen Zeiten/ und sehe Dero Schrifften schon bey den Deutschen in einer allgemeinen Hochachtung/ und die gantze Nation darvon ausgebessert.« [Johann Jacob Bodmer, Johann Jacob Breitinger:] Von dem Einfluß und Gebrauche Der Einbildungs-Krafft (s. Anm. 23), S. a4r–v. Die Stelle findet sich auch bei Zelle: ›Vernünftige Gedanken von der Beredsamkeit‹ – Bodmers und Breitingers ästhetische Schriften und Literaturkritik (s. Anm. 24), S. 27f. Dieses Frühwerk der Zürcher wirft einige Fragen auf: Wieso erscheint es im Gegensatz zu den späteren Schriften Bodmers und Breitingers einzig mit »I. B. I. B.« gezeichnet? Wieso erscheint es ohne Verlagsangabe? Johann Jacob Bodmer: Critische Betrachtungen über die Poetischen Gemählde Der Dichter. Zürich 1741, S. 390: »Aber ich habe noch kaum etwas gründlichers gelesen, als was der Hr. J. Chr. Wolff, dessen Verdienste um die philosophischen Wissenschaften meines Ruhms nicht bedörffen, und von ihrer Höhe den Neid mit seinem Gebelle sicher verachten, in seinen Gedancken von der Menschen Thun und Lassen [,] abgefasset hat, allwo er die allgemeinen Regeln der Menschen Gemüther zu erkennen aus festen Grundsätzen herleitet. Ich wünschte, ich könnte von irgend einem eben so tieffsinnigen Mann erhalten, daß er diese Grundsätze weiter ausführen, und mit Exempeln erläutern mögte.« Zudem scheint Breitinger dahingehend gewirkt zu haben, dass die Wolffsche Philosophie auch an seiner eigenen Schule, dem Zürcher Carolinum, etabliert werde. Vgl. Marti: Die Schule des richtigen Denkens (s. Anm. 21), S. 159f. Vgl. Zelle: Vernünftige Gedanken von der Beredsamkeit‹ – Bodmers und Breitingers ästhetische Schriften und Literaturkritik (s. Anm. 24), S. 29–32; Holzhey: Befreiung und Bindung der Einbildungskraft (s. Anm. 23), S. 45f. Was aber die Rezeption des Literaturstreites betrifft, so lässt sich hier – wohl entgegen der Absicht der Schweizer – eine wohlgesinnte Aufnahme ihrer Argumente in Wolff-feindlichen Lagern ausmachen. So erkennt Döring eine gewisse Nähe zwischen Halleschem Pietismus und den Zürchern, und dies

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noch lassen sich bei Bodmer und Breitinger, wie auch bei anderen Wolffianern, gewisse Vorbehalte oder gar skeptische Ablehnung bezüglich philosophischer Rechtsansprüche ausmachen.35 Diese Ansprüche nämlich sind beachtlich, wie nicht zuletzt Wolffs Antwortschreiben an die »Mahler« zeigt. Konzediert dieser zwar, dass eine Leseerfahrung – »wann diese mit rechten Farben für die Augen gemahlet« – eine »überführende Erkäntnis« bewirken könne,36 deren Intensität der Entscheidungsfindung und moralischen Besserung zupass komme,37 so kommt er deshalb nicht etwa zu dem Schluss, dass die geschilderten Erfahrungen, wie sie sich in moralischen Wochenschriften nach Vorbild des englischen Spectator finden mögen, den Vernunftgründen widersprechen dürfen: »Im übrigen bin ich nur gewohnet Schrifften anderer zu lesen, daß ich etwas daraus lerne, und gebe daher bloß darauf acht, was ich gutes darinnen finde, damit ich es als ein Glied in meine Kette bringen kann.«38 Für Wolff also gilt: Empfindungen hat man, Erfahrungen macht man, Erkenntnisse gewinnt man, und zwar nicht durch Deduktion, sondern durch Reflexion auf das Erfahrene; Exempel, historische Erkenntnisse, eigene und fremde Erfahrungen sind aber nur dann wahr, wenn sie sich mit anderen Erfahrungen und den daraus gezogenen allgemeinen Schlüssen vertragen. Wolff behauptet also nicht, dass Erfahrungen täuschen – er behauptet das Gegenteil; damit eine Erfahrung aber als Erkenntnis oder als Wissen gelten kann, fordert er, dass sie weder anderen

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trifft zu, obwohl Marti die ›Anrüchigkeit‹ der pietistisch geprägten Universität Halle bei Breitinger und den Zürcher Aufklärern nicht ausschließen möchte; Döring: Der Literaturstreit zwischen Leipzig und Zürich in der Mitte des 18. Jahrhunderts (s. Anm. 25), S. 90–92; Hanspeter Marti: Die Schule des richtigen Denkens (s. Anm. 21), S. 170. Wohingegen die Schweizer, folgen wir Tomas Sommadossi (siehe den Beitrag in diesem Band), die Poetik letztlich an der Theologie ausrichten, ja eine eigentlich ›Poetheologie‹ vertreten. Christian Wolff: Brief an die Maler vom 20. April 1723. Abgedruckt in: Chronick der Gesellschaft der Mahler (s. Anm. 30), S. 112f., hier S. 112. In moralischer Hinsicht stellt das Konzept der überführenden Erkenntnis auch für Gottsched ein gewichtiges Argument dar: »Alle Sittenlehrer sind eins, daß Exempel in moralischen Dingen, eine besondere Kraft haben, die Gemüther der Menschen von gewissen Wahrheiten zu überführen. Die meisten Gemüther sind viel zu sinnlich gewöhnt, als daß sie einen Beweis, der aus bloßen Vernunftschlüssen besteht, sollten etwas gelten lassen; wenn ihre Leidenschaften demselben zuwider sind. Allein Exempel machen einen stärkern Eindruck ins Herz.«; Johann Christoph Gottsched: Die Schauspiele, und besonders die Tragödien sind aus einer wohlbestellten Republik nicht zu verbannen. In: Ausgewählte Werke. Hg. von Phillip M. Mitchell. Bd. IX/2. Gesammelte Reden. Berlin 1976, S. 492–500, hier 495. – Zur Dichtung als Exempel zwecks moralischer Besserung siehe den Beitrag von Peter Heßelmann (insbesondere 2. und 3.), zur Bedeutung lebendiger Erkenntnis für die Moral siehe den Beitrag von Frank Grunert (namentlich III), der auch die diesbezügliche Abweichung zu Wolff (Punkt V, 2) festhält; beide in diesem Band. Wolff: Brief an die Maler vom 20. April 1723 (s. Anm. 36), S. 112: »daß man die Sitten und die Flucht der Laster nicht beßer befördern kan, als durch lebhaffte Vorstellung der Exempel, die in der Welt passiren.« Zu Wolffs allgemeiner Forderung, Moral durch Exempel zu lehren, siehe den Beitrag von Christian Meierhofer (Kap. 3) in diesem Band. Ebd. – Auf die Metapher »Kette der Wahrheiten«, die er durch »Zusammenhang der Wahrheiten« ersetzt sehen möchte, und ihre Herkunft (Leibniz’ Théodicée) kommt Wolff in seinen Anmerkungen zur Deutschen Metaphysik zu sprechen; vgl. Christian Wolff: Der Vernünfftigen Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen […] Anderer Theil/ bestehend aus ausführlichen Anmerckungen, § 115, ad § 368. Frankfurt 1740, S. 189. Es ist hinzuzufügen, dass Leibniz den Ausdruck bereits in Descartes Discours vorgezeichnet findet (»chaînes de raisons«); René Descartes: Discours de la méthode (1637), II (=AT VI, 19). In: ders.: Œuvres philosophiques. Hg. von Ferdinand Alquié. Bd. I. 1618–1637. Paris 1963, S. 549–650, hier S. 587.

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vorausgehenden Erfahrungen noch den Gesetzen der Vernunft widerspreche.39 Die so gebildeten Urteile sind Sätze unterschiedlicher Allgemeinheit, ihre Anordnung nach dem Grad der Allgemeinheit bildet das philosophische System, wobei die allgemeineren Sätze den Grund für minder allgemeine Sätze liefern. Hat nun jemand keine, schwache oder fehlerhafte Gründe, so wird er bloße, unsichere oder falsche Meinungen haben und folglich auch aufs Geratewohl oder im Irrtum handeln. Wolff ist sich aber durchaus der Einwände bewusst, welche die deontischen Implikationen40 seines Wissenschaftsbegriffs provozieren:41 Im richtigen Denken folgt aus der Erkenntnis des Seins zwangsweigerlich der Inhalt des Sollens, allein die Welt besteht nicht aus Philosophen. Und so räumt ein ordnungs- und wahrheitsliebender Mann wie Wolff ein, dass die im Geiste Schwachen mitunter durch äußerlichen Druck angehalten werden müssen, das Rechte zu tun und das Unrecht zu lassen.42 Kann zwar der Mensch zu widerwilligen Handlungen gezwungen werden, so heißt dies aber nicht, dass es der Wille des Menschen sei, der dadurch erkenntnisfeindlich disponiert würde.43 Der Augustinische Gemeinplatz eines »verderbten Willens«44 stellt 39 40

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Zur fundamentalen Bedeutung der Erfahrung, der Gewinnung von Definitionen und allgemeinen Regeln bei Wolff vgl. Engfer: Empirismus versus Rationalismus? (s. Anm. 22), S. 268–283. Vgl. Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen (1729), § 5. Leipzig 1752, S. 6. – Zum Verhältnis von Vernunft und Wille, unter besonderer Berücksichtigung der Funktion der Dichtung, bei Wolff vgl. Hans Poser: Die Bedeutung der Ethik Christian Wolffs für die deutsche Aufklärung. In: Theoria cum praxi. Zum Verhältnis von Theorie und Praxis im 17. und 18. Jahrhundert. Bd. I. Theorie und Praxis, Politik, Rechts- und Staatsphilosophie. Wiesbaden 1980, S. 206–217, insbesondere S. 210–213. Zu Wolffs weitgehender Identifikation von Philosophie und Wissenschaft, vgl. Werner Schneiders: Deus est philosophus absolute summus. Über Christian Wolffs Philosophie und Philosophiebegriff. In: Christian Wolff 1679–1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung (s. Anm. 27), S. 9–30, hier S. 13–15. Wolff: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen (s. Anm. 40), Vorrede zu der anderen Auflage, [Bl. 3v]: »Verständige und vernünftige [sic!] Menschen brauchen keine weitere Verbindlichkeit als die natürliche: aber unverständige und unvernünfftige haben eine andere nöthig und die muß die knechtische Furcht für der Gewalt und macht eines Oberen zurücke halten, daß sie nicht thun, was sie gerne wollen.« Darin erblickt Wolff im übrigen, und durchaus zeittypisch, auch die Funktion der Kirche für das politische Ganze; Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken Von dem Gesllschafftlichen Leben der Menschen (1721), § 366f. Leipzig 1747, S. 322–326. Vgl. Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen (s. Anm. 14), § 522–524, S. 319f. So überrascht es nicht, dass Vertreter der Orthodoxie Wolff und die sich auf Wolff berufende Homiletik Gottscheds explizit für deren Willenskonzeption rügen: »Denn soll der Glaube in aller Prüfung und Anfechtung bestehen, und der im Grund verderbte und mit herrschender Boßheit angefüllte Wille des Menschen gebessert werden, so werden alle aus der Philosophischen Moral und Topica hergenommene Vernunfft=Schlüsse wenig ausrichten. Die Krafft des göttlichen Wortes, und die Gnaden=Würckung des Heil. Geistes mit dem Worte Christi, welches Geist und Leben ist, muß es thun. Das künstliche raisonniren, demonstriren und philosophiren auf der Cantzel wird wenig oder nichts ausrichten.« Die sittliche Verbesserung nämlich könne nur der »wahre, seligmachende Glaube« und die »kräfftige Gnaden=Würckung des H. Geistes« bewirken; Salomon Deyling: Vorrede zu: Carl August Wolff: Erster Zehenden auserlesener Heil. Reden in welchen wichtige Wahrheiten des Glaubens auf eine ordentliche und das Gemüthe überzeugende Art aus dem Lichte der heil. Schrifft zum Theil auch aus dem Lichte der gesunden Vernunfft vorgetragen und abgehandelt werden. Erfurt 1742, S. 6v. und 7r. Zu Deylings Kritik an [Gottscheds] Grund-Riß der Lehr-Arth ordentlich und erbaulich zu predigen (1740) vgl. Straßberger: Johann Christoph Gottsched und die ›philosophische‹ Predigt (s. Anm. 1), S. 401f. Zu Gottscheds (und Johann Daniel Heydes) Dissertation, die der Verteidigung des Primats des Intellekts über den Willen dient, siehe Hanspeter

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für Wolff ein irriges Konzept dar. Der Wille des Menschen bleibt einzig abhängig von den Einsichten des Verstandes und der Vernunft; der Verstand ist auch bei aller Verkehrtheit des Tuns vorgängig und leitet den Willen. Aufgrund mangelnder Urteilskraft und affektiver Verdunkelung durch die Einbildungskraft kann der Verstand den Willen jedoch fehlleiten. Und so sollen die Menschen mittels »Exempeln« angehalten werden, diejenigen Erfahrungen zu machen, die ihnen klare Vorstellungen vermitteln und dadurch befähigen, durch freie Nachahmung richtig zu handeln.45 Die setzt jedoch voraus, dass sie die Ähnlichkeit erkennen, das heißt die Gleichartigkeit der Umstände und Eigenschaften, woraus allgemeine Begriffe gewonnen und Schlüsse gezogen werden können.46 In diesem Verhältnis von Exempel als sinnlich fassbarer Illustration und der allgemeinen moralischen Erkenntnis,47 die in Form eines moralischen Satzes die Absicht des Dichters zu leiten habe, ruht denn auch die oftmals inkriminierte moralische Vereinnahmung der Dichtung bei Gottsched. Wer aber davon ausgeht, dass theoretische Erkenntnis in praktischer Hinsicht immer auch verpflichtend ist, für den kann eine dargestellte Handlung mit ihren jeweiligen richtigen und fehlgeleiteten Entscheidungen, falls diese in ihren Gründen erkannt werden, nicht anders als auch moralisch relevante Erkenntnis sein.48 Eine Äußerung aber wie diejenige Breitingers, die sich auf provokative Ausdrücke wie »Grundsätze des Wahnes« versteigt und diese aufgrund ihrer poetischen Wirkung auch gegen die Grundsätze der Vernunft legitimiert, geht weit über dasjenige hinaus, was Wolff der Einbildungskraft konzediert. Meinungen, die aus einer angeblichen Wahrnehmung und ebenso angeblichen Reflexion hervorgehen, sind für Wolff in keinem Fall wahr und gut, wenn sie gängiger Erfahrung oder gefestigten Grundsätzen widersprechen. Er nennt sie im Gegenteil »leere Einbildungen«49 und setzt diese von der anderen »Manier der Einbildungs-Krafft« ab, die sich »des Satzes des zureichenden Grundes« bedient und »Bilder hervor[bringt] darinnen Wahrheit ist«.50 Das Besondere der Erfahrung kann dem Allgemeinen der Erkenntnis nicht zuwider sein, da damit die Erkenntnis aufhört, Erkenntnis zu sein. So lässt sich auch nirgends erkennen, dass Wolff diese Haltung gegenüber Werken der Beredsamkeit oder Dichtung relativiert sehen

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Martis Beitrag (Kap. 4) in diesem Band. Zu Wolffs und Gottscheds Willenslehre vgl. Katrin Löffler: Anthropologische Konzeptionen in der Literatur der Aufklärung. Autoren in Leipzig 1730–1760. Leipzig 2005, S. 114–116 und 131–133. Dieser exemplarischen Schulung des moralischen Urteilsvermögens durch Nachahmung folgt Gottsched, der seine Anthropologie wesentlich von dem analogen rationis sinnlicher Erfahrung herleitet; vgl. hierzu den Beitrag von Dagmar Mirbach in diesem Band. Wolff: Der Vernünfftigen Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen […] Anderer Theil/ bestehend aus ausführlichen Anmerckungen, (s. Anm. 38) § 118, ad § 375f, S. 192: »daß man zu urtheilen weiß, ob entweder alle, oder doch die meisten Umstände einerley, keine aber anders befunden werden.« Das Verhältnis von Regel und Exempel stellt das Zentrum von Gottscheds sowohl rhetorischer als auch homiletischer Methodik dar; vgl. hierzu Michael Schlott: ›Einer meiner damaligen geschicktesten Zuhörer‹. Einblicke in Leben und Werk des Gottsched-Korrespondenten Abraham Gottlob Rosenberg (1709–1764). In: Johann Christoph Gottsched in seiner Zeit. Neue Beiträge zu Leben, Werk und Wirkung. Hg. von Manfred Rudersorf. Berlin, New York 2007, S. 155–337, hier S. 177–185. Vgl. Friedrich Gaede: Poetik und Logik. Zu den Grundlagen der literarischen Entwicklung im 17. und 18. Jahrhundert. Bern 1978, S. 104. Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, Der Welt und der Seele des Menschen (s. Anm. 14), § 242, S. 134. Ebd. § 245, S. 137f.

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möchte.51 Insbesondere erscheinen der Satz vom Widerspruch und der Satz vom zureichenden Grund, der die Philosophie als eine Wissenschaft des Möglichen konstituiert, nicht verhandelbar.52 Genau dies aber tun die Zürcher, und zwar sowohl, was die Suprarationalität von Glaubensinhalten53 als auch was die Fähigkeit der Dichtung betrifft, kraft der Einbildungskraft jenseits rationaler Erkenntnis Wunder und Mysterien zum Ausdruck zu bringen.54 Doch nicht nur Breitinger, auch Gottsched scheint sich – obgleich zaghafter, dennoch weiter als Wolff – von einem rigoristischen Diktat der Vernunft zu distanzieren, indem er verkürzte oder gar mangelhafte Lehrmethoden und -inhalte gelten lassen will, solange sie von moralischen Nutzen sind.55 Dies bedeutet aber nicht, dass die Differenz, die zu dem so unerbittlichen Kampf zwischen den Parteien führt, bloß eine Nuance ist. Ein erster Unterschied besteht vielmehr in dem durchaus gewichtigen Argument, dass Gottsched die Poetik von der Forderung des aptum weitestgehend befreit. Das sichere Urteil in Sachen Dichtung leite sich aus »Vernunft und Natur« her und nicht aus dem »allgemeinen Beyfall«.56 Der Dichter habe sich nicht an die Gebote der Stunde zu halten; seine Wahrheit ist nicht die Wahrheit seines Publikums, sondern gründet in den »Regeln der Vollkommenheit, daraus ihre [der Dichtung] Schönheiten entstehen«.57 Die hauptsächliche Aufgabe bestehe darin, dieser Schönheit zu dienen. Nichtsdestotrotz ist Gottsched bereit, bei der Vermittlung der Erkenntnis und der Tugend Konzessionen an »Zuhörer von mittelmässigen Verstande« zu machen, die Gottsched dem Redner ebenso be51

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Wolff fordert – mit Verweis auf Thomas Campanella – im Gegenteil eine philosophische Behandlung der freien Künste, i.e. der Grammatik, der Rhetorik und der Poetik; vgl. Christian Wolff: Philosophia rationalis sive logica, Discursus praeliminaris de philosophia in genere, § 72. Frankfurt 1728, S. 33f. Vgl. dazu den Beitrag von Gideon Stiening (II, 2. 3) in diesem Band. Am deutlichsten tritt der apologetische Charakter dieser Argumentation in Bodmers bedeutender Vertheidigung von Miltons Paradise Lost zutage; Johann Jacob Bodmer: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie und dessen Verbindung mit dem Wahrscheinlich In einer Vertheidigung des Gedichtes Joh. Miltons von dem verlohrnen Paradiese, 1. Abschnitt. Zürich 1740. ND mit einem Nachwort von Wolfgang Bender. Stuttgart 1966, S. 5f.: »Die Wesen von einem höhern Stand und einer vornehmern Natur als die menschliche ist, würcken auf eine gantz andere Weise und nach eigenen Gesetzen; was das vor Gesetze seyn, bleibet uns gröstentheils verborgen, ausgenommen in so weit uns die Wercke selbst, die nach solchen Regeln verfertigt worden, einige dunkele Merckmahle und Spuren davon errathen lassen. Von dieser Art sind die Wercke Gottes insgesamt, unsere Kräffte fallen in der Erkänntnis derselben unendlich zu kurtz. Die heilige Schrifft selbst bezeuget von Gott, daß seine Wege nicht seyn, wie unsre Wege, und seine Gedancken nicht wie unsre Gedancken, in so weit, daß ofte vor Gott lauter Thorheit sey, was nach dem Dünckel des menschlichen Sinnes die gröste Weißheit ist. […] Wir müssen deßwegen die göttlichen Wercke der Gerichtbarkeit des menschlichen Urtheiles entziehen, doch nicht so weit, daß wir sie von der ehrerbiethigen Betrachtung der Menschen, welche in gewissem Sinn auch eine Beurtheilung ist, ausschliessen; wann diese nur mit Verstand und reifem Nachsinnen und ohne Tadelsucht geschicht. Die Wercke des Höchsten sind alleine unsrer Betrachtung und Bewunderung, aber nicht unsrem richterlichen Ausspruch unterworffen. Eine solche vernünftige Betrachtung ist alleine beflisssen die Spuhren der Kraft und Weißheit des Unendlichen in dessen Werken einzusehen, und dadurch sich selbst zu seinem Lob, als der Absicht der Erschaffung , aufzumuntern.« Casula: Die Theologia naturalis von Christian Wolff (s. Anm. 27), S. 136f. Siehe hierzu denn Beitrag von Frank Grunert (Punkt III.) in diesem Band. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 10), II, § 2, S. 95. Ebd., S. 96. Zur Differenz hinsichtlich des Publikumsbezugs zwischen den Schweizern und Gottsched vgl. Angelika Wetterer: Publikumsbezug und Wahrheitsanspruch. Der Widerspruch zwischen rhetorischem Ansatz und philosophischem Anspruch bei Gottsched und den Schweizern. Tübingen 1981, insbesondere S. 194–202;

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reitwillig wie dem Dichter einräumt.58 Im Gegensatz zur Rede nämlich wirkt die Dichtung nicht unmittelbar auf ein wie auch immer beschränktes Publikum ein; sie steht vielmehr im Dienste einer Geschmacksbildung,59 der sie durch zeitlose Exempel zu dienen hat. Beförderung und Erhalt des guten Geschmacks sind aber nicht dadurch zu sichern, dass Dichtung aufgrund ihrer historischen Bedingtheit der Kritik enthoben wird. Gottsched will also Poetik und Dichtung philosophisch und wissenschaftlich behandelt sehen,60 was soviel heißt, dass auch literarische Texte dem Satz der Widerspruchsfreiheit und dem 58

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Johann Christoph Gottsched: Ausführliche Redekunst, Nach Anleitung der alten Griechen und Römer, wie auch der neuern Ausländer. Leipzig 1736, I, § Xf., S. 40f. Nichtsdestotrotz bleiben vernünftige Reden nach Maßgabe der Philosophie das ideale Ziel, an welches der Redner sein Publikum schrittweise und durch Übung der Verstandeskräfte heranführen soll. Eine ähnliche Ansicht vertritt Gottsched den auch, was das dogmatische Gedicht – das Lehrgedicht also – betrifft: »Die tiefsinnigsten philosophischen Geister mögen sich also nur an ihre ordentliche prosaische Schreibart halten. Wenn sich die Poeten in ihre Wissenschaften mengen, so thun sie es bloß, den mittelmäßigen Köpfen zu gefallen, die nur einiger maßen etwas davon wissen wollen; und sich um den höchsten Grad der Gründlichkeit nicht bekümmern. Diese machen allezeit den größten Theil des menschlichen Geschlechts aus: und da ist es genug, wenn man ihnen nur nichts Falsches sagt; die Wahrheit in solcher Ordnung vorträgt, daß man sie ziemlich verstehen und ihren Zusammenhang wenigstens klar einsehen könne; dabey aber alles mit Zierrathen einer poetischen Schreibart so lebhaft und sinnreich ausbildet, daß man es mit Lust und Vergnügen lesen könne. Da nun auch die bittersten Wahrheiten, sonderlich in moralischen Sachen, auf solche Art gleichsam verzuckert und übergüldet werden: so sieht man wohl, daß es nicht undienlich sey, dergleichen Schriften zu verfertigen; und also Erkenntniß und Tugend der Welt gleichsam spielend beyzubringen.« Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 10), (Zweyter Besonderer Theil) I, 8, § 11, S. 577. Zur Rolle des Kunstrichters in der Geschmacksbildung bei Gottsched, Bodmer und Breitinger vgl. Wilhelm Amann: ›Die stille Arbeit des Geschmacks‹. Die Kategorie des Geschmacks in der Ästhetik Schillers und in den Debatten der Aufklärung. Würzburg 1999, S. 259–282; Freier: Kritische Poetik (s. Anm. 9), S. 123-130. Und dies mit aller Deutlichkeit: »Wenn man nun ein gründliches Erkenntniß aller Dinge Philosophie nennet: so sieht ein jeder, daß niemand den rechten Character von einem Poeten wird geben können, als ein Philosoph; aber ein solcher Philosoph, der von der Poesie philosophiren kann, welches sich nicht bey allen findet, die jenen Namen sonst gar wohl verdienen. Nicht ein jeder hat Zeit und Gelegenheit gehabt, sich mit seinen philosophischen Untersuchungen zu den freyen Künsten zu wenden, und da nachzugrübeln: Woher es komme, daß dieses schön und jenes häßlich ist; dieses wohl, jenes aber übel gefällt? Wer dieses aber weis, der bekömmt einen besondern Namen, und heißt ein Kriticus. Dadurch verstehe ich nämlich nichts anders, als einen Gelehrten, der von freyen Künsten philosophiren, oder Grund anzeigen kann.«; Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 10), II, § 3, S. 96. In diesem Anliegen sind ihm andere vorausgegangen, so etwa die – allesamt von den Gottscheds in der einen oder anderen Form übersetzten – französischsprachigen Autoren Le Clerc, Dacier, Terrasson, Batteux, die alle das Primat des Philosophen gegenüber dem Dichter bei Aristoteles vorgegeben finden. Am deutlichsten wohl bei Terrasson: La philosophie applicable à tous les objets de l’esprit et de la raison. Ouvrage en refléxions détachées. Paris 1754, S. 156: »Les Philosophes qui on pensé à donner un fond & un but Moral aux grands Ouvrages de Poësie, ont eu une vuë bien supérieure à celle des Poëtes mêmes inventeurs de ces sortes d’Ouvrages. Aristote l’a dit dans sa Poëtique, & M. Dacier l’a confirmé. C’est aux Philosophes à donner la loi aux Poëtes.« In der eleganten Übersetzung von [Luise Adelgunde Victorie Gottsched:] Des Abtes Terrassons Philosophie, nach ihrem allgemeinen Einflusse, auf alle Gegenstände des Geistes und der Sitten. Leipzig 1756, S. 127f.: »Die Weltweisen, welche darauf gesonnen haben, den großen Werken der Dichtkunst einen moralischen Grund und Endzweck beyzulegen, haben eine viel erhabener Absicht gehabt, als die Dichter, und selbst die Erfinder dieser Art von Werken. Aristoteles hat es in seiner Dichtkunst gesaget, und Dacier bestätiget es. Den Weltweisen kömmt es zu, Gesetze

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Satz des zureichenden Grundes verpflichtet sind.61 Uns so zielt die Dichtung auf das Wahrscheinliche, das dem Wahren verpflichtet ist, und nicht auf das Glaubhafte, das sich hinter dem Begriff des ›Beifalls‹ verbirgt.62 Die Behauptung, dass dem Wahn Grundsätze und der Phantasie eine eigene Logik zustehen,63 bedeutet für Gottsched schlicht und ergreifend die Rehabilitation

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vorzuschreiben.« Dass die Gottschedin diese Sammlung von Gedanken des Erzmodernisten Terrasson übersetzt, der in seiner Homer-Kritik geradezu unerbittlich ist, erscheint bezeichnend. Ebenso bezeichnend ist die lange Vorrede aus Gottscheds Feder, der hier ausdrücklich gegen die »übertriebenen Bewunderer der Alten« Stellung bezieht; ebd. [unpag. S. 17]: »Die gar zu abergläubischen Anbether des Alterthums, denen alle seine [Homers] Fehler Schönheiten sind, mögen dabey in sich gehen. Homer war groß, aber doch ein Mensch; und zwar ein Mensch in einem noch sehr rohen und einfältigen Weltalter. Seine Begriffe von der Tugend waren eben so unvollkommen, als die von der Gottheit. Aber zu seiner Zeit konnte man sie nicht besser haben. Das entschuldiget ihn. Zu Virgils Zeiten war es keine große Kunst, ihn zu übertreffen. Des Abt Terrassons Gedanken über den Homer, in zween Bänden, sind vortrefflich; und noch von niemanden beantwortet.« Direkt im Anschluss daran erwähnt Gottsched auch zustimmend Terrassons Verurteilung von Milton. – Zu Gottscheds TerrassonRezeption, auch im Hinblick auf die Querelle und Fontenelle, vgl. Werner Krauss: Gottsched als Übersetzer französischer Werke. In: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) ein ›bekannter Unbekannter‹ der Aufklärung in Hamburg. Vorträge gehalten auf der Tagung der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften. Göttingen 1973, S. 66–74. Vgl. Gunter E. Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses von Humanismus bis zur Frühaufklärung. Tübingen 1983, S. 629–632. Gottsched unterscheidet drei Grade der Gewissheit, nämlich die »Überführung«, die aus wissenschaftlicher Demonstration resultiert, die »Überredung«, die rhetorische Argumentation mittels doxatischer Enthymeme, und schließlich die »Überzeugung«, die Berufung auf Zeugen bezeichnet; vgl. die hervorragende Analyse des Verhältnisses von Philosophie und Rhetorik bei Klaus Petrus: ›Convictio‹ oder ›persuasio‹? Etappen einer Debatte in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Rüdiger – Fabricius – Gottsched). In: Zeitschrift für deutsche Philologie 113 (1994), S. 481–495, hier S. 489–495; für eine gelungene knappe Darstellung vgl. Straßberger: Johann Christoph Gottsched und die ›philosophische‹ Predigt (s. Anm. 1), S. 147; sowie ausführlich den Beitrag von Dietmar Till (insbesondere Punkt 4.) in diesem Band. Johann Jacob Breitinger: Critische Abhandlung Von der Natur, den Absichten und dem Gebrauche der Gleichnisse. Zürich 1740. ND mit einem Nachwort von Manfred Windfuhr. Stuttgart 1967, S. 6f.: »Es ist mir manchmahl in den Sinn gekommen, daß die Einbildungs=Kraft eben so wohl als der Verstand einer gewissen Logik vonnöthen habe. Wer eine Erkänntniß des Wahrscheinlichen, mit welchem die Phantasie umgeht, erlangen will, muß eben also, wie in der Vernunft=Lehre geschicht, vom Einfachen zum Vielfachen fortgehen. Er muß für das erste die Einbildungs=Kraft mit einem reichen Vorrath von sinnlichen Bildern versehen; was für Urbilder die erste Künstlerin die Natur, und ihre Nachahmerin die Kunst den Sinnen darstellen, dadurch das Gemüthe auf unendlich verschiedene Weise gerühret wird, muß die Phantasie beflissen seyn, von einem jeden ein Bildniß abzunehmen. Von diesen Bildnissen ist hier wahrzunehmen, daß sie von denjenigen, die der Verstand einnimmt, gantz verschieden sind, ob sie gleich von einerley Gegenstand genommen werden. Die Phantasie bekümmert sich um den innerlichen Grund und das wahre Wesen der Dinge gar nicht; sie überläßt dem Verstand die Möglichkeit der Dinge durch seine Bilder vorzustellen; sie selbst steht bey der äusserlichen Fläche stille, und sieht die Sachen nicht tiefer ein, als die cörperlichen Sinne gehen.« Zur Bedeutung von Breitingers »Logik der Phantasie« für die Entwicklung der Ästhetik vgl. Wolfgang Bender: Rhetorische Tradition und Ästhetik im 18. Jahrhundert. Baumgarten, Meier und Breitinger. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 99 (1980), S.481–506. Es ist im Übrigen bemerkenswert, dass wider die Wolffsche Sprachlogik von pietistischer Seite eine »Logik des Geistes« gestellt wird; vgl. Straßberger: Johann Christoph Gottsched und die ›philosophische‹ Predigt (s. Anm. 1), S. 443.

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des Wunderglaubens als eines Wissens sui iuris.64 Denn ungeachtet, ob wir dem Ausdruck »Grundsätze des Wahns« dadurch die Härte zu nehmen bereit sind, indem wir ›Wahn‹ nicht als trügerische Illusion, sondern wertneutral als Phantasma verstehen, so übersteigt Breitingers Analogie – »das Wahre des Verstandes« verhält sich zur »Weltweißheit« wie »das Wahre der Einbildung« zur Poesie – für einen Wolffianer die Grenze, die Vorstellungen von Täuschung trennt: Wahr ist eine begründete Meinung, Wahn hingegen die Verkennung der Unbegründetheit.65 Für Wolff und mit ihm für Gottsched ist ein solcher Fideismus, der den bloßen Glauben und die bloße Meinung durch Gründe adelt, die der Vernunft widersprechende Schlüsse zulassen – und sei es einzig im Bereich der Dichtung –, inakzeptabel; und er erscheint gar inakzeptabler in Anbetracht des Umstandes, dass der Vorwurf des Atheismus gegen Wolff und des anhaltenden Verdachtes der Heterodoxie gegen Gottsched und seinen Kreis66 hauptsächlich auf deren Kritik an Aber- und Wunderglauben zielt.67 Die in jeder einigermaßen ausführlichen Literaturgeschichte erwähnte Auseinandersetzung der Schweizer mit den Leipzigern ist also, insbesondere in der heiklen Phase der WolffRezeption zwischen 1720 und 1740, auf dem Hintergrund der Debatte zu sehen, ob der Philosophie verstanden als Metaphysik, Logik und Erkenntnistheorie das Primat unter allen Wissenschaften – die Theologie mit eingeschlossen – und Künsten einzuräumen sei,68 oder zumindest, ob die Wahrheiten des Glaubens mit denjenigen der Vernunft im Sinne einer Leibnizschen 64 65

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Vgl. Marianne Wehr: Johann Christoph Gottscheds Briefwechsel. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Frühaufklärung. Diss. Leipzig 1965, S. 199–243. Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, Der Welt und der Seele des Menschen (s. Anm. 14), § 394, S. 240: »Ich weiß wohl, daß einige Wahn und Meinung für einerley halten: allein wer genau darauf acht hat, wird den Unterscheid gar wohl bemercken. Nehmlich wer eine Meinung hat, der erkennet es, daß ihm noch zu völliger Gewißheit etwas fehlet; wer aber ein Wahn hat, erkennet es nicht.« Welch schädlichen Einfluss Wolff dem Wahn zuspricht, wird aus der Annotation zur diesbezüglichen Paragraphen-Folge (Der Vernünfftigen Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen […] Anderer Theil/ bestehend aus ausführlichen Anmerckungen (s. Anm. 38), § 125, ad § 393, S. 199f.) deutlich. Wie zentral die Kritik am Wunderglauben im Gottsched-Kreis ist, belegt Martin Mulsow: Freigeister im Gottsched-Kreis. Wolffianismus, studentische Aktivitäten und Religionskritik in Leipzig 1740–1745. Göttingen 2007, S. 28f. Zu Gottscheds Vorurteilskritik vgl. den Beitrag von Oliver Scholz in diesem Band. Vgl. Wolffs eigene Darstellung der Angriffe bezüglich seiner Rechtgläubigkeit: »Ich öffnete dem Atheismo und allen Sünden und Lastern Thür und Thor, ich gäbe den Atheisten die Waffen in die Hände, ich bewegte sie mit den Wunder=Wercken ein Gespötte zu treiben, […].«; Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, Der Welt und der Seele des Menschen (s. Anm. 14), Erinnerung wegen der dritten Auflage, [Bl.1v]. Zur Frage, wie Wolff und die Wolffianer zu Offenbarung und Kirche stehen, vgl. die treffenden Bemerkungen bei Detlef Döring: ›Sapere aude‹ oder die Notwendigkeit der autonomen Vernunft. Erwiderung auf den Beitrag von Johannes Bronisch. In: Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften 7 (2011), S. 257–263. Vgl. Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Theoretischer Theil) (1733). I. Theil. Der Vernunftlehre erster Teil, VI. Hauptstück, Von den Beweisen und ihren mancherley Arten, § 121. 7. Aufl. Leipzig 1762. ND in: Christian Wolff: Gesammelte Werke, Materialien und Dokumente. Hg. von Jean École, Hans Werner Arndt u. a. Abt. III. Materialien und Dokumente. Bd. 20/1. Hildesheim, Zürich 1983, S. 152: »Eine solche Demonstration [Wolffs mathematische Methode] giebt nun allererst dem Verstande eine völlige Ueberführung, die allen Zweifel ausschließt: und es wäre zu wünschen, daß man in freyen Künsten und Wissenschaften, alle Lehrsätze durch solche scharfe Beweise darthun könnte.« In früheren Ausgaben stand »allen Künsten« anstelle von »freyen Künsten«. Zu Gottscheds Ausweitung des Zuständigkeitsbereichs der Philosophie auch auf die Gotteslehre vgl. den Beitrag (Kap. 2. 2) von Hanspeter Marti in diesem Band.

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Harmonie von Vernunft und Offenbarung69 koexistieren können.70 Eine Entscheidung für den Wolffianismus bedeutet also nicht eine Entscheidung gegen die Religion,71 sondern vorerst einmal eine Entscheidung gegen einen anti-rationalistischen Skeptizismus, der in letzter Konsequenz die Grenze zwischen Wissen und Glauben aufzuheben droht, sowie gegen einen dogmatischen Rigorismus, der sich das Recht herausnimmt, in entscheidenden Punkten die vernunftmäßige Wissenschaft in ihre Schranken zu weisen. Und so beharrt Gottsched gegen den fideistischen Wahrscheinlichkeitsbegriff der Zürcher auf eben demjenigen Unterschied, den Breitinger einebnet. Seines Erachtens geht es nicht an, Wahrscheinlichkeit von Glaubwürdigkeit abhängig zu machen.72 Wahrscheinlichkeit ist ihm eine fundamentale ontologische Kategorie, zu der sich der subjektorientierte Begriff der Glaubwürdigkeit bloß modifizierend verhält: Wahrscheinlichkeit ist konstitutiv für Dichtung, Glaubwürdigkeit aber bloß binnendifferenzierend. Letztere unterteilt – und zwar noch vor jeder gattungsmäßigen Einrichtung – das Feld der Dichtung, nämlich in glaubliche, unglaubliche und vermischt glaublich-unglaubliche Fabeln. Die eigentlichen Gattungen werden anschließend diesen drei Fabelarten zugeschrieben, wobei sich die mimetischen Darstellungsformen der Bühne etwa strikter an die Glaubhaftigkeit zu halten haben, während es für die diegetischen Darstellungsformen zulässig ist, entweder historisch-allegorisch wie das Epos Glaubliches und Unglaubliches zu vermischen oder aber rein allegorisch wie die Äsopische Fabel unglaublich zu sein.73 Glaubwürdigkeit bemisst für Gottsched also lediglich die Distanz der möglichen fiktio-

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Gottfried Wilhelm Leibniz: Essais de théodicée (1710), Discours preliminaire de la conformité de la Foy avec la Raison. In: ders.: Die philosophischen Schriften. Hg. von Carl Immanuel Gerhardt. Bd. VI. Berlin 1885, S. 49–101. – Hierzu, namentlich im Verhältnis zu Bayles Fideismus vgl. Stefan Lorenz: De mundo optimo. Studien zu Leibniz’ Theodizee und ihrer Rezeption in Deutschland (1710–1791). Stuttgart 1997, S. 74-82. Ob das Primat der Vernunft behauptet oder ob Widersprüche zwischen Glauben und Vernunft als bloß vermeintliche aufgehoben werden, dient der Aufklärungs- und Kirchengeschichtsforschung als Kriterium für die Radikalität der jeweiligen Wolff-Rezeption; Wolfgang Gericke: Theologie und Kirche im Zeitalter der Aufklärung. Berlin [-Ost] 1989, S. 83. Der Unterschied von Link- und RechtsWolffianismus geht zurück auf Günter Mühlpfordt: Radikaler Wolffianismus. Zur Differenzierung und Wirkung der Wolffschen Schule ab 1735. In: Christian Wolff. 1679–1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung (s. Anm. 27), S. 237–253, hier S. 251. Dass eine solche Parteienbildung die Gemeinsamkeiten der Wolff-Rezeption in theologischer Hinsicht verkenne, betont Andres Straßberger: Johann Lorenz Schmidt und Johann Gustav Reinbeck. Zum Problem des ›Links-‹ und ›Rechtswolffianismus«‹ in der Theologie. Mit einem Brief Reinbecks an Ludwig Johann Cellarius. In: Aufgeklärtes Christentum. Beiträge zur Kirchen- und Theologiegeschichte des 18. Jahrhunderts. Hg. von Albrecht Beutel, Volker Leppin, Udo Sträter und Markus Wriedt. Leipzig 2010, S. 23–52, insbesondere S. 48–51. Der verbreitete Vorwurf der Häresie gegen die Leibniz-Wolffsche Schule bringt nicht das Selbstverständnis ihrer führenden Köpfe zum Ausdruck; er ist vielmehr ein probates Mittel theologischer Polemik. Hierzu und zur Religion Gottscheds siehe den Beitrag von Andres Straßberger in diesem Band. Vgl. auch Hans Heinz Holz: Johann Christoph Gottsched. Leibniz’ Integration in die Bildung der bürgerlichen Aufklärung. In: Leibnizbilder im 18. und 19. Jahrhundert. Hg. von Alexandra Lewendoski. Stuttgart 2004, S. 107–119, hier S. 112f. Auch hierin dürfte er Wolff folgen, der – im Gegensatz zu seinen Konkurrenten Christian Thomasius und Andreas Rüdiger – eine mathematisch behandelbare und vernünftige Wahrscheinlichkeit von der Billigung einer Meinung getrennt sehen möchte; vgl. Cataldi Madonna: Wahrscheinlichkeit und wahrscheinliches Wissen in der Philosophie von Christian Wolff (s. Anm. 22), S. 12f. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 10), VI, § 3, S. 199f.

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nalen zu der unsrigen, tatsächlichen Welt oder die Nähe zwischen den Produkten der Erfindung und den Inhalten der Erfahrung, nicht aber dasjenige, was literarisch zulässig ist. Worin bestehen aber die Zulässigkeitskriterien, die Gottsched in Anschlag bringt, wenn er kritisch zwischen dem Fabelhaften – genauer: dem ›Fingierbaren‹ – und Wahn zu unterscheiden sucht? Welche Freiheiten räumt er tatsächlich ein, wenn es um die Distanz zwischen dem Wahren und dem Wahrscheinlichen geht? Die Antwort liegt im Verhältnis des Möglichen zum Wirklichen: Ueberhaupt ist von der Wahrscheinlichkeit dieses anzumerken: daß oft eine Sache, die an sich unglaublich und unmöglich aussieht, durch den Zusammenhang mit andern Begebenheiten, und unter gewissen Umständen, nicht nur möglich, sondern auch wahrscheinlich und glaublich werden könne. Dahin gehören, zum Exempel, viele Fabeln, wo die Götter oder andre Geister darzwischen kommen. Diesen trauet man ja größere Kräfte zu, als bloßen Menschen. Wenn nun dieselben einem Helden, oder sonst einem von ihren Lieblingen zu gefallen, etwas außerordentliches unternehmen, das man sonst nicht glauben würde; so wird dieses eben dadurch wahrscheinlich, wenn es nur nicht an und für sich selbst unmöglich ist. Hierwider hat nun Homer gewiß verstoßen, wenn er den Vulcan solche künstliche Werke verfertigen läßt, die ganz unbegreiflich sind. Er macht Dreyfüsse oder Stühle, die von sich selbst in die Versammlung der Götter spazieren. Er schmiedet goldene Bildseulen, die nicht nur reden, sondern NB. auch denken können. Er macht endlich dem Achilles einen Schild, der eine besondere Beschreibung verdient. Erstlich ist er mit einer so großen Menge von Bildern und Historien gezieret, daß er zum wenigsten so groß müßte gewesen seyn, als des Tasso diamantner Schild, aus der himmlischen Rüstkammer, dessen oben gedacht worden. Fürs andre sind seine Figuren auf dem Schilde lebendig, denn sie rühren und bewegen sich, so, daß man sich selbige wie die Mücken vorstellen muß, die rund um den Schild schweben. Fürs dritte, sind zwo verschiedene Städte darauf zu sehen, die zwo verschiedene Sprachen reden, und wo zween Redner sehr nachdrückliche und bewegliche Vorstellungen an das Volk thun. Wie ist es möglich, das alles auf einem Schilde auch durch eine göttliche Macht zuwege zu bringen? Kurz, Homerus hat sich versehen, und die Wahrscheinlichkeit nicht recht beobachtet.74

Bei dem Schild des Achilles handelt es sich um eines der am heftigsten umkämpften Objekte der Literaturgeschichte, dessen Möglichkeit Mme Dacier ihres Erachtens unzweifelhaft erwiesen hatte, und dies auf kleinstem Raum.75 Und auch die anderen Vorlagen sind nicht eben schwer zu finden, haben Dreifüße, Stühle, Schilder und Säulen ihren fest Platz im polemischen Arsenal der Querelle, in dem sich Gottsched ebenso wie die Schweizer nicht ungern bedienen.76 74 75

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Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 10), VI, § 5, S. 201f. In seinem viel beachteten Traktat Apologie d’Homere hatte Boivin den Maler Nicolas Vleughels angehalten, nach seinen Überlegungen den Schild des Achills gleichsam en miniature zu zeichnen, um den seit Scaliger bekannten Vorwurf, Homers Beschreibung des Schildes stelle eine Absurdität dar, zu begegnen. Den von Nicolas Cochin angefertigten Stich gab er als Faltblatt seinem Traktat bei; Jean Boivin de Villeneuve: Apologie d’Homere et Bouclier d’Achille. Paris 1715, S. 236. Das Faltblatt findet seit 1720 Eingang in Popes Illias-Übersetzung; spätestens seit der Ausgabe von 1731 gibt es Mme Dacier in einem Stich von Morellon ihrer siebenbändigen Homer-Übersetzung und -Kommentierung bei; Anne Lefèvre Dacier: Les Oeuvres d’Homère, avec un supplément et Remarques. Bd. III. Amsterdam 1731. Reproduktionen sowie Angaben zur Rezeption finden sich bei Robin Middleton: Introduction. In: David Le Roy: The ruins of the most beautiful monument of Greece. Übers. von David Britt. Los Angeles 2004, S. 1-199, hier S. 50, 66f.; sowie ausführlicher bei Anne-Marie Lecoq: Poésie et peinture. Le bouclier d’Achille. In: Comptes rendus des séances de l’Académie des Inscriptions et Belles-Lettres 148/1 (2004), S. 11–42, vor allem S. 29–36; dies.: Le Bouclier d’Achille. Un tableau qui bouge. Paris 2010, S. 119–237. Vgl. dazu die gesammelten Texte der Kontrahenten bei Kapitza: Ein bürgerlicher Krieg in der gelehrten Welt (s. Anm. 2).

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Wie bereits erwähnt, ist Gottscheds Haltung gegenüber den Anciens eine im engeren Sinne kritische, die ihn den Zürchern zum eigentlichen Homeromastix (Zoilos)77 machen und ihm den oftmals wiederholten Vergleich mit dem Spötter Voltaire eintragen.78 Um das pro und contra abzuwägen, ist es nötig, sich von einer allzu einfachen Vorstellung bezüglich der Querelle zu verabschieden. Es ist nicht einfach eine Parteinahme für oder gegen die Antike, welche das ausgehende 17. sowie das gesamte 18. Jahrhundert umtreibt, sondern hauptsächlich ein Kampf um adäquate Kriterien zur Beurteilung künstlerischer Leistung. Die Modernes sind in ihren Prinzipien alles andere als anti-klassizistisch, sie sind jedoch mitunter anti-klassisch, konkret: Nicht Horaz oder gar Aristoteles sind das Problem, sondern Homer und Pindar,79 und hier insbesondere die zahlreichen Verstöße gegen Vernunft, Sitte und regelhafte Vollkommenheit, die seit dem legendären Zoilus oder zumindest seit dem berühmten Julius Caesar Scaliger80 mehr oder 77

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[Johann Christoph Gottsched.] Der Biedermann. 34. Blatt (22. December 1727). Leipzig 1728. ND hg. von Wolfgang Martens. Stuttgart 1975, S. 133f. [erste Paginierung]: »Seit dem die Gelehrten unter uns Christen den Heydnischen Aberglauben fahren lassen, und also den Homerus mit unpartheyischen Augen angesehen, haben sie befunden: daß Zoilus vollkommen Recht gehabt, wenn er diesen großen Poeten vieler Fehler beschuldiget. Wer unter den neuern nur des Herrn [Houdar] de la Motte Discurs über Homerum gelesen hat, der vor seiner übersetzten Ilias steht; wird mir vollkommen Recht geben. Zoilus ist als kein unverständiger Splitterrichter, er ist ein gründlichgelehrter Criticus gewesen. Er hat nicht nur soviel Verstand besessen, sich dem gemeinen Vorurtheilen seiner Zeiten zu entreißen, sondern auch soviel Hertzhafftigkeit gehabt, seine Meynung frey heraus zu sagen.« Breitinger, der in Zoilus ganz und gar nicht den »Großvater aller Criticken« (ebd., S. 134) würdigt, verurteilt Zoilos hingegen scharf: »Diese berühmten Männer [Homer und Vergil] geben das Gleichniß niemahls auf, biß es zu einem wichtigen Gedancken fortgestiegen, welcher oft die Sache, so dazu Anlaß gab, nichts angehet. Die Aehnlichkeit währet etwan nicht über eine oder zwo Zeilen; aber der Poet treibet den Einfall weiter, biß er daraus einen herrlichen Gedancken hervor leitet, der bequem ist, das Gemüthe des Lesers zu entzünden, und das erhabene Ergetzen darinne zu erzielen, welches der Natur eines heroischen Gedichtes gemäß ist. Perraut, der Zoilus unter den Neuern, fand an diesen Gleichnissen keinen Geschmack, und nennte sie zum Spott comparaisons à longue queue, lang=geschwäntzte Vergleichungen, alleine Boileau hat den Unfug seines Gespöttes sattsam dargethan; Er hat ihm gewiesen, wie unzeitig und eitel sein Gelächter wäre, indem er sich über Sachen lustig machete, welche billig vor die grösten Schönheiten gerühmt würden.«; Johann Jacob Breitinger: Critische Abhandlung Von der Natur, den Absichten und dem Gebrauche der Gleichnisse (s. Anm. 63), 5. Abschnitt, S. 142. Bodmer: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie (s. Anm. 53), 7. Abschnitt, S. 206f. Vgl. Kurt Sier: Gottsched und die Antike. In: Gottsched-Tag (s. Anm. 1), S. 89–110, hier S. 102: »Gottsched akzeptiert zwar Standardklassiker wie Sophokles oder Cicero, aber er mißbilligt z. B. Seneca und Lucan und äußert auch über Homer und Pindar Geschmacksurteile, wie sie weder einem Boileau noch der Goethe-Zeit eingefallen wären.« Zu keiner Zeit erscheint Brandes’ Charakterisierung »der die Alten verehrende Gottsched« angemessen, weniger noch die Verwunderung über die löbliche »Aufgeschlossenheit«, die dieser Gottsched einem Fontenelle erweise; Helga Brandes: Im Westen viel Neues. Die französische Kultur im Blickpunkt der beiden Gottscheds. In: Diskurse der Aufklärung. Luise Adelgunde Victorie und Johann Christoph Gottsched. Hg. von Gabriele Ball, Helga Brandes und Katherine Goodman. Wiesbaden 2006, S. 191–211, hier S. 198. Zu Scaligers Homer-Kritik im fünften Buch seiner Poetik vgl. Julius Caesar Scaliger: Über Homer und Vergil. Hg. und eingeleitet von Gregor Vogt-Spira. In: Modern Language Notes 105/3, S. 409–431; Gregor Vogt-Spira: Warum Vergil statt Homer? Der frühneuzeitliche Vorzugsstreit zwischen Homer und Vergil im Spannungsfeld von Autorität und Historisierung. In: Poetica 34 (2002), S. 323–344; Barbara Mahlmann-Bauer: Das ›Wagnerbuch‹ – ›aemulatio‹ in der ›Historia von D. Johann Fausten‹. In: Aemulatio. Kulturen des Wettstreits in Text und Bild (1450–1620). Hg. von Jan-Dirk Müller, Ulrich Pfisterer u. a. Berlin 2011, S. 487–536, hier S. 502f.; dies. und Theodor Mahlmann: ›Iliada post Homerum scribere‹ – Prüfstein frühneuzeitlicher Autor-

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weniger genüsslich herausgestrichen werden. Und diese Argumentation ist denn auch der Grund, dass sich die Sprachrohre der Anciens unter dem Druck dieser Argumente von universalistischen Argumenten des Klassizismus entfernen und relativistische, affektive und genietheoretische Argumente zu befürworten beginnen.81 Wieso aber darf Homers Schild nicht sein, wieso kein sprechender Dreifuss? Und was meint Gottsched mit »gewisse Umstände«? Nur eines nämlich steht fest, dass etwas nur dann wahrscheinlich aber auch glaubwürdig sein kann, wenn es nicht an und für sich unmöglich ist. In Anlehnung an das neunte Kapitel der Aristotelischen Poetik82 bestimmt Gottsched Nachahmung als einen Akt der Natur-Nachfolge, unter der Bedingung jedoch, dass die erzählten und geschilderten »Handlungen und Leidenschaften des Menschen«, die das »Hauptwerk der Dichtkunst«83 bilden, weder gerade so sein, noch überhaupt sein oder gewesen sein müssen. Um die kniffligen Probleme zu lösen, die einer jeden Nachahmungstheorie in der Nachfolge Aristoteles’ eignen, rekurriert Gottsched auf Wolffs Philosophem von der möglichen Welt: Ich glaube derowegen, eine Fabel am besten zu beschreiben, wenn ich sage: sie sey die Erzählung einer unter gewissen Umständen möglichen, aber nicht wirklich vorgefallenen Begebenheit, darunter eine nützliche moralische Wahrheit verborgen liegt. Philosophisch könnte man sagen, sie sey eine Geschichte aus einer andern Welt. Denn da man sich in der Metaphysik die Welt als Reihe mögliche Dinge vorstellen muß; außer derjenigen aber, die wir wirklich vor Augen sehen, noch viel andre dergleichen Reihen gedacht werden können: so sieht man, daß eigentlich alle Begebenheit, die in unserm Zusammenhange wirklich vorhandener Dinge nicht geschehen, an sich selbst aber nichts Widersprechendes in sich haben, und also unter gewissen Bedingungen möglich sind, in einer andern Welt zu Hause gehören, und Theile davon ausmachen. Herr von Wolf hat selbst, wo mir recht ist, an einem gewissen Orte seiner philosophischen Schriften gesagt: dass ein wohlgeschriebener Roman, das ist solcher, der nichts widersprechendes enthält, für eine Historie aus einer andern Welt anzusehen sey. Was er nun von Romanen sagt, das kann mit gleichem Recht von allen Fabeln gesagt werden.84

Gottsched verweist hier in seiner wertenden Wortwahl (»wohlgeschriebener Roman«) zwar recht frei, der Sache nach aber durchaus adäquat auf einen der zahlreichen Paragraphen von Wolffs Deutscher Metaphysik, der sich der Theorie möglicher Welten widmet: Man kan solches [eine mögliche Welt, »die viel mit der gegenwärtigen übereinkommet«] auch mit den erdichteten Geschichten, die man Romainen zu nennen pfleget, erläutern. Wenn dergleichen Erzehlung mit solchem Verstande eingerichtet ist, daß nichts widersprechendes darinnen anzutreffen; so kan ich nicht anders sagen, als, es sey möglich, daß dergleichen geschiehet […]. Fraget man aber, ob es würcklich geschehen sey oder nicht; so wird man freylich finden, daß es der gegenwärtigen Verknüp-

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schaft. In: Realität als Herausforderung. FS für Wilhelm Kühlmann. Hg. von Ralf Bogner, Ralf Georg Czapla u. a. Berlin 2011, S. 47–91, hier S. 51f.; vgl. auch Vernon Hall Jr.: The Life of Julius Caesar Scaliger (1484–1558). In: Transactions of the American Philosophical Society NF 40 (1950), S. 85–170, hier S. 153. – Zur zeittypischen Haltung der emendatio siehe den Beitrag von Dietmar Till (Kap. 3) in diesem Band. Der Kürze halber sei hier auf Zelles gute Darstellung der Position Boileaus verwiesen; Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revision des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart 1995, S. 43–74. Aristoteles: Poetik, 9, 1451a36f.: »Φανερόν δέ ἐκ τῶν εἰρημένων καὶ ὃτι οὐ τὸ τὰ γενόμενα λέγειν, τοῦτο ποιητοῦ ἒργον ἐστίν, αλλ’ οἷα ἂν γένοιτο, καὶ τὰ δυνατὰ κατὰ τὸ εἰκός ἢ τὸ ἀναγκαῖον.« [Aus dem vorausgehenden ergibt sich, dass die Aufgabe des Dichters nicht darin besteht zu sagen, was tatsächlich vorgefallen ist, sondern was geschehen könnte, das heißt das nach Maßgabe des Wahrscheinlichen oder Notwendigen Mögliche.] Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 10), I, § 34, S. 93. Ebd., IV, § 9, S. 150f.

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fung der Dinge wiederspricht, und dannenhero in dieser Welt nicht möglich gewesen. Unterdessen bleibet es wahr, daß dasjenige, was noch fehlet, ehe es würcklich werden kan, ausser dieser Welt zu suchen […], nehmlich in einem anderen Zusammenhange der Dinge, das ist, in einer anderen Welt […]. Und solchergestalt habe ich eine jede dergleichen Geschichte nicht anders anzusehen als eine Erzehlung von etwas, so in einer andern Welt sich zutragen kan.85

Nun gilt Gottsched bekanntlich als ›Rationalist‹, ein Titel, den er unter anderem seiner klaren Parteinahme für Wolff verdankt. Der Forschung haben Titel und Gefolgschaft nicht selten dazu gedient, Gottscheds Haltung und diejenige seiner Gegner in ein bequemes Polaritätsverhältnis zu setzen: Hier der Rationalist Gottsched, da die Zürcher, die einen bornierten Rationalismus überwinden oder gar einem der Dichtung adäquaten Irrationalismus frönen.86 Einer solchen Erklärung kommt es gelegen, dass die Vorstellungen bezüglich Gottscheds und Wolffs Rationalismus sowie des nicht minder unglücklichen Irrationalismus seiner Gegner notorisch unscharf sind. Zu groß jedoch sind mittlerweilen die Bedenken, welche die Philosophiegeschichtsschreibung mit guten Gründen an das Etikett ›Rationalismus‹ heranträgt, als dass der per se unerläuterte Ausdruck ›rationalistische Poetik‹ vermöchte, andere zu erläutern.87 Sicher, man braucht in der Critischen Dichtkunst nicht lange zu blättern, um den Ausdrücken ›Vernunft‹ und ›vernünftig‹ zu begegnen. Was aber bedeuten sie für Gottsched und um welche Form des Rationalismus geht es hier? Ganz im Sinne Wolffs88 definiert Gottsched in seinen Ersten Gründen der gesammten Weltweisheit »Vernunft (ratio)« als Teilkraft von »Verstand (intellectus)«, genauer als »ein Vermögen, den Zusammenhang allgemeiner Wahrheiten einzusehen«.89 Die Vernunft im Wolffschen und Gottschedschen Sinne ermöglicht das Denken von Zusammenhängen kraft der Erkenntnis des Allgemeinem und entspricht der »connaissance de causes«, die Leibniz der »memoire des faits«, einer bloßen Kenntnis des angeblich Kontingenten, entge85

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Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen (s. Anm. 14), § 571, S. 349f. Zum Begriff der ›möglichen Welt‹ bei Leibniz sei verwiesen auf Nicholas Rescher: Leibniz On Possible Worlds. In: Studia leibnitiana 31 (1999), S. 129–162. Hier (S. 151–154) findet sich mit mustergültiger Klarheit Leibniz’ Bestimmung der Vollkommenheit einer solchen Welt als Proportion zwischen Einfachheit der Naturgesetze und Reichtum an Phänomenen dargestellt. In der solcherart gefassten Einheit des Mannigfaltigen finden wir die modal-ontologische Bedingung der ästhetischen Vollkommenheitsvorstellungen vorgezeichnet, die für die Kunstauffassung des Leibnizianismus des 18. Jahrhundert bezeichnend ist. An einer Beurteilung der Parteien nach dem Schema rational-irrational hat schon Schmidt (Sinnlichkeit und Verstand (s. Anm. 6), S. 125f.) Kritik geübt. Vgl. Dominik Perler: Was ist ein frühneuzeitlicher philosophischer Text? Kritische Überlegungen zum Rationalismus/Empirismus-Schema. In: Zwischen den Disziplinen? Perspektiven der Frühneuzeitforschung. Hg. von Helmut Puff und Christopher J. Wild. Göttingen 2003, S. 55–80; Jürg Freudiger und Klaus Petrus: Empirisches bei Descartes. In: Studia philosophica 55 (1996), S. 31–53; Engfer: Empirismus versus Rationalismus? (s. Anm. 22), passim. Vgl. Meißner: Philosophisches Lexicon aus Christian Wolffs sämtlichen Deutschen Schriften (s. Anm. 22), S. 644: »Vernunft, ratio, ist die Einsicht, die wir in den Zusammenhang der Wahrheit haben.« Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Theoretischer Theil) (s. Anm. 68), I. Theil, Einleitung zur Vernunftlehre, § 17, S. 109: »Nun ist aber der Verstand das Vermögen unserer Seele, sich ein Ding deutlich vorzustellen. Derselbe hat wiederum drey besondere Kräfte; denn er kann sich entweder einzelne Begriffe, oder Sätze, oder Schlüsse deutlich vorstellen. Diese letztere Kraft wird insbesondere die Vernunft genennet: vermöge welcher wir den Zusammenhang der Wahrheiten einsehen. Weil nun dieses die recht Hauptkraft unsers Verstandes ist, dadurch wir von allen übrigen Thieren unterschieden werden: so hat man dieser Wissenschaft von ihr allein, den Namen der Vernunftlehre gegeben.«

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gensetzt.90 Im Gegensatz zu Leibniz dient diese Unterscheidung jedoch bei Wolff und Gottsched nicht dazu, die Frontlinie zu einer dem metaphysischen Fundament enthobenen Erfahrungswissenschaft zu ziehen, wie sie die Royal Society in London vertrete;91 vielmehr ist die Kenntnis der Tatsachen durch Beobachtung und Experiment für Wolff und Gottsched unbestrittener Anfang aller Gewissheit.92 ›Ratio‹ bezeichnet aber darüber hinaus auch den Grund, »woraus man erkennen kann, warum etwas ist, oder geschieht.« An diese »Erklärung« schließt sich unmittelbar der »Grundsatz« an, d. h. der Satz vom zureichenden Grunde: »Nichts ist, oder geschieht ohne einen genugsamen Grund, warum es ist, oder geschieht.«93 ›Ratio‹ bezeichnet also sowohl die Vernunft als Vermögen als auch den Grund des Seins bzw. So-Seins einer Sache, womit denn ein Übergang von der angeborenen Vernunft über die vernünftige Erkenntnis einer Sache zur ontologischen Bestimmung der Sache selbst nicht nur eingeräumt wird, sondern die Bedeutung des Leibnizschen, Wolffschen und Gottschedschen Begriffs der ›ratio‹ geradezu ausmacht.94 Die Verbindung eines Vernunftinhalts, des Erkenntnisgrundes, mit einem tatsächlich existierenden Ding, der Ursache, wird aufgrund der Vorstellung ermöglicht, dass der Grund in der Ursache enthalten sei:

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Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Principes de la Nature et de la Grace, fondés en raison (1714), § 5. In: ders.: Die philosophischen Schriften. Hg. von Carl Immanuel Gerhardt. Bd. VI. Berlin 1885, S. 598–606, hier S. 600; deutlicher noch ders.: La félicité (1694–98?). In: ders.: Textes inédits d’après les manuscrits de la Bibliothèque provinciale de Hannovre. Hg. von Gaston Grua. Bd. II. Paris 1948, S. 579–584, hier S. 580: »La connoissance des raisons nous perfectionne parce qu’elle nous apprend des verités universelles et eternelles, qui expriment l’Estre parfait. Mais la connoissance des faits est comme celle des rues d’une ville, qui nous sert pendant qu’on y demeure, après quoy on ne veut plus s’en charger la memoire.« [Die Erkenntnis der Gründe vervollkommnet uns, weil sie uns universelle und ewige Wahrheiten lehrt, welche das vollkommene Wesen ausdrücken. Die Kenntnis der Tatsachen hingegen ist wie jene der Straßen einer Stadt; sie dient uns, solange wir uns darin aufhalten, danach aber wollen wir unser Gedächtnis nicht mehr damit belasten.] Vgl. – wiederum unter Verweis auf die Kenntnis der Straßen einer Stadt – Gottfried Wilhelm Leibniz: Brief an Thomas Burnett vom 27. Juli 1696. In: ders.: Die philosophischen Schriften. Hg. von Carl Immanuel Gerhardt. Bd. III. Berlin 1887, S. 179–185, hier S. 182. Zwar wird auch bei Wolff die bloße Erfahrung der Vernunft entgegengesetzt und von der eigentlichen Demonstration ausgeschlossen; vgl. Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen (s. Anm. 14), § 371, S. 227f.: »Weil man nun von demjenigen, was man durch blosse Erfahrung erkennet, daß es ist, nicht einsieht, wie es mit anderen Wahrheiten zusammen hanget […]; so ist bey dieser Erkäntniß gar keine Vernunfft […], und wird dannenhero die Erfahrung der Vernunfft entgegen gesetzet; Wissenschafft aber kommet aus der Vernunfft: […].« Wolff schließt damit aber ganz und gar nicht die Bedeutung der Erfahrung für die Erkenntnis aus (ebd. § 372, S. 228): »Wir haben demnach zweyerlei Wege, dadurch wir zur Erkäntniß der Wahrheit gelangen, die Erfahrung und die Vernunfft.« – Zur fundamentalen Bedeutung der Erfahrung vgl. Engfer: Empirismus versus Rationalismus? (s. Anm. 22), S. 274–283. Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Theoretischer Theil) (s. Anm. 68), II. Theil, Von dem Nutzen der Vernunft, II. Hauptstück, Von dem Nutzen der Vernunftlehre in dem guten Vortrage der erfundenen Wahrheiten, § 7f., Bd. I, S. 170. Für Leibniz sind die Prädikate im Subjekt enthalten und damit ließe sich (rein theoretisch bzw. für Gott tatsächlich) aus dem Begriff (»notio«) eines existierenden Dinges ein jedes (Erkenntnis-)Urteil ableiten. In diesem Punkt erweisen sich im übrigen Wolff und Gottsched als gemäßigter, behaupten sie doch nirgends, dass auch die zufälligen Modi oder Akzidenzien notwendig in dem Subjekt enthalten seien, auch wenn die Gegner Wolffs einen solchen Determinismus geradezu herbeireden.

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[Marginalie: Ratio quid sit?] Ein Grund heißt dasjenige, woraus man begreifen kann, warum etwas ist: und er wird zureichend genannt, wenn man es aus ihm allein, völlig begreifen kann. Wenn das Wachs schmilzt, so ist der Grund davon die Wärme, darinn es liegt. Dasjenige aber, so den Grund in sich hält, heißt die Ursache. Z. E. das Feuer, die Sonnenstralen, die Luft, können die Ursachen des Schmelzens seyn: weil sie die Wärme, als den Grund des Schmelzens, in sich halten. Im gemeinen Leben pfleget Grund und Ursache oft vermischet zu werden; woran auch nicht allemal viel gelegen ist.95

Inhärieren Gründe gewissen Ursachen, so heißt dies, dass Erkenntnis zwar durch Reflexion und Abstraktion an Deutlichkeit gewinnt, letztlich aber auf die sinnliche Erfahrung der gegenständlichen Welt zurückgeht. Und genau dies behauptet Wolff und mit ihm auch Gottsched, dass durch Reflexion und Abstraktion Erfahrungen in den Bereich der auf allgemeine Erkenntnis zielenden Wissenschaft überführt werden und somit das Prädikat ›vernünftig‹ verdienen.96 Nicht anders als bei Leibniz beruht die Klarheit und Deutlichkeit einer Vorstellung auf der Lebhaftigkeit oder Stärke, mit welcher sie erscheint, sowie der Vollständigkeit der Zusammenhänge, in welcher sie gedacht wird.97 Unschwer lässt sich erkennen, dass die »möglichen Welten«, wenn sie denn »wohlgeschrieben« sein wollen, von eben dieser Art sein müssen, Dinge und Begebenheiten also, die »denkbar« oder eben: »vernünftig« genannt werden können. Und es ist eben diese Denkbarkeit, die als der eigentliche Probierstein der Fiktionstheorie Gottsched dazu dient, Dinge von Undingen98 zu trennen und letztere aus dem Zulässigkeitsbereich des Fingierbaren oder Fabelhaften auszuschließen. Sie ruht auf den beiden unumstößlichen Grundsätzen, der Widerspruchsfreiheit, die besagt, dass eine Sache nicht gleichzeitig sein und nicht sein bzw. so und nicht so sein könne, und dem Satz vom zureichenden Grund, »daraus man verstehen kan, warum [ein Ding] würklich werden kan«.99 Die Widerspruchsfreiheit und der zureichende Grund konstituieren so ganz allgemein die Möglichkeit (»possibilitas«) oder Essenz eines Dinges, die der Wirklichkeit (»existentia«) des Dinges vorgängig ist.100 Das mögliche Ding bildet die ideelle Voraussetzung für das wirkliche Ding (das »ens reale«). Wir erachten ein Ding dann als wirklich, wenn wir uns einen zureichenden Grund für seine 95

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Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Theoretischer Theil) (s. Anm. 68), Die Grundlehre, I. Abschnitt, Die Ontologie, I. Hauptstück, Von den beyden Hauptgründen der Vernunft, § 222, Bd. I, S. 209. Vgl. hierzu auch Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, Der Welt und der Seele des Menschen (s. Anm. 14), § 29, S. 15f. Bereits die ambivalente Verwendung von ›ratio‹ zeigt an, dass Erfahrung und Vernunft bei Wolff und Gottsched in engster Verbindung miteinander stehen und nicht etwa, wie auch heute noch so häufig in philosophiegeschichtlichen Darstellungen zu lesen ist, die Erfahrung zugunsten der Vernunft eine radikale Abwertung erfahre. Vielmehr kann hier tatsächlich von einem ›Empiriorationalismus‹ gesprochen werden; vgl. Günter Mühlpfordt: Die organischen Naturwissenschaften in Wolffs empiriorationalistischer Enzyklopädistik. In: Nuovi studi sul pensiero di Christian Wolff. Hg. von Sonia Carboncini und Luigi Cataldi Madonna. Il cannocchiale 2/3 (1989), S. 77–106. Zu den Leibnizschen Begriffen der Deutlichkeit und Klarheit und ihrer Rezeption bei Gottsched vgl. den Beitrag von Dagmar Mirbach (Kapitel 1) in diesem Band. Wolff nennt dieses Unding »Non ens«; Christian Wolff: Philosophia prima, sive Ontologia, § 137, S. 116. Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen (s. Anm. 14), § 30, S. 17. Vgl. hierzu ders.: Philosophia prima, sive Ontologia (s. Anm. 98), § 27–55, S. 15–39. Vgl. hierzu und zum folgenden Jean École: La notion d’être ou la ›désexistentialisation de l’essence‹. In: Nuovi studi sul pensiero di Christian Wolff (s. Anm. 96), S. 157–173. Zu Gottscheds Umgang mit diesen Wolffschen Prinzipien in seiner Nachahmungstheorie vgl. vor allem Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland (s. Anm. 61), S. 643–651.

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Existenz bzw. sein individuelles So-Sein denken können. Gottsched kann Existenz so als ein Geschenk bezeichnen, das dem möglichen Ding von Gott verliehen wird.101 Was einen faktischen Grund hat, ist faktisch. Der Übergang von der wesentlichen Möglichkeit einer Vorstellung102 zu der individuellen Vorstellung eines wirklichen Dinges impliziert notwendig ein Hinzutreten zufälliger »Determinationen«, die ein Ding einerseits raum-zeitlich in Erscheinung treten lassen, andererseits eine Reihe von anderen möglichen zufälligen Modifikation faktisch ausschließen.103 So ist es möglich, dass eine Uhr sowohl zehn nach vier als auch viertel nach vier anzeigt, tut sie jedoch das eine, so kann sie nicht gleichzeitig das andere tun und täte sie das andere, dann aus einem anderem oder veränderten Grund als sie das eine tut.104 Die Existenz eines Dinges ist also nur dann gegeben, wenn das Ding sowohl für sich betrachtet bzw. von innen heraus (als ein »possibile internum sive intrinsecum«) aus seinem Wesen als auch (als ein »possibile externum sive extrinsecum«) in einem gegründeten Zusammenhang mit dem großen Ganzen und seinen Ursachen gedacht werden kann.105 Wolffs modale Ontologie106 ist also doppelt bestimmt: Die widerspruchsfreie Denkbarkeit des Wesens konstituiert das notwendig Mögliche, während die Erkenntnis des zureichenden Grundes eines zufällig Seienden dieses in einen Zusammenhang mit der faktischen Welt bringt und damit das So-Sein eines Dinges zu erklären vermag. Das Gegenteil eines möglichen Dinges ist »schlechterdings unmöglich«107, das heißt Nichts (»nihilum«).108 Das Gegenteil eines realen 101

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Johann Christoph Gottsched: Beweis, daß diese Welt unter allen die beste sey, § 9. In: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Praktischer Theil) (1734), Anhang einiger philosophischer Abhandlungen, II. Leipzig 71762. ND in: Christian Wolff: Gesammelte Werke. Abt. III. Materialien und Dokumente. Hg. von Jean École, Hans Werner Arndt u. a. Bd. 20/2. Hildesheim, Zürich 1983, S. 460–484, hier S. 469: »Da fand nun sein [Gottes] durchdringender Verstand eine große Ungleichheit in den möglichen Welten. Die eine war immer geschickter, zur Beförderung seines Zweckes; und es konnte ihm nicht gleich viel gelten, welche von allen er erschaffen wollte. Er hätte keine Weisheit besitzen müssen, wenn er so blindlings hätte zugreifen, und die erste, die beste, mit der Wirklichkeit hätte beschenken wollen.« Zum »complementum possibilitatis« als hinzutretenden, zureichenden Grund vgl. Wolff: Philosophia prima, sive Ontologia (s. Anm. 98), § 174f., S. 143. In den Vernünftigen Gedancken (§ 14, S. 9) spricht Wolff von der »Erfüllung des Möglichen« und identifiziert das »mehrere«, das diese Erfüllung bewirkt, mit dem zureichenden Grund, den die tatsächliche Existenz eines Dinges in dieser Welt findet (ebd. § 565, S. 341f.). Zur Kritik Kants an Wolffs complementum, zu den Schwierigkeiten, apriorisch Gründe zur Unterscheidung zwischen Möglichen und Wirklichen zu benennen, vgl. Dagmar Mirbach: Wolffs ›complementum possibilitatis‹ in der Rezeption durch Alexander Gottlieb Baumgarten. In: Christian Wolff und die europäische Aufklärung (s. Anm. 12), Teil 4, S. 249-265, hier S. 251f. Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen (s. Anm. 14), § 32–34, S. 18f. Das Wesen eines Dinges bestimmt den Grund für dasjenige, was ihm »zukommt« (ebd. § 33, S. 18f.), während die reale Existenz eines Dinges den Grund enthält für dasjenige, was es zufällig erfährt. Das Wesen (essentia) ist also ein spezifisch durch notwendige Eigenschaften (attributa) determiniertes Ding, während die real existierende Substanz durch Zufälligkeiten (accidentia) individuell determiniert wird, die ihren Grund in der inneren Kraft und den äußeren Zusammenhängen haben. Wolff: Philosophia prima, sive Ontologia (s. Anm. 98), § 238, S. 194. Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen (s. Anm. 14), § 568, S. 345f. Vgl. hierzu Anneliese Michaelis: Der ontologische Sinn des Complementum Possibilitatis bei Christian Wolff. Berlin 1937, S. 27. Vgl. Joachim Birke: Gottscheds Neuorientierung der deutschen Poetik an der Philosophie Wolffs. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 85 (1966), S. 560–575. Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen (s. Anm. 14), § 574, S. 351. Wolff: Philosophia prima, sive Ontologia (s. Anm. 98), § 57, S. 40.

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Dinges in dieser Welt aber ist nicht Nichts, sondern ein Ding, das – falls es in seinem Wesen keinen Widerspruch hat – in einer anderen möglichen Welt als existent vorgestellt werden kann, falls ihm etwas in dieser möglichen Welt als zureichender Grund dient.109 Gegen die Vernunft verstößt also, wer Dinge behauptet, die a priori aus ihrem Wesen heraus oder aber a posteriori aufgrund ihrer Determination einen Widerspruch zu ihrem Wesen oder einem anderen als faktisch vorgestellten Ding implizieren.110 Fassen wir zusammen: Dasjenige, was in seinem Wesen notwendig, in seinem Zusammenhang motiviert erscheint, ist möglich und darf somit Gegenstand von Dichtung sein. Undinge bzw. Ungereimtheiten soll der Dichter vermeiden. Dies dürfte der Kern einer rationalistischen Poetik sein, denn eine solche Grundentscheidung vermöchte tatsächlich den Anspruch zu begründen, infolge dessen Dichtung zum Gegenstand philosophischer, das heißt wissenschaftlicher Untersuchung avancieren kann.111 Dies alles scheint einigermaßen klar und die feste Überzeugung Gottscheds zu sein – ›scheint‹, denn die Motiviertheit der Ereignisse und die Widerspruchsfreiheit der Dinge mögen zwar genügen, eine mögliche von einer unmöglichen Welt zu unterscheiden, doch wie steht es mit folgenden Behauptungen? Ein Oelbaum redet, wie ein Oelbaum, und ein Feigenbaum, wie ein Feigenbaum reden würde, wenn beyde den Gebrauch der Sprache hätten. Hier ist also nichts Widersprechendes in der Begebenheit, folglich auch nichts Unwahrscheinliches.112

Feigenbäume dürfen reden, solange sie so reden, wie Feigenbäume reden würden, falls Feigenbäume reden könnten, was nicht als unmöglich erscheint. Andererseits aber ist Gottsched im Falle von Miltons Paradise Lost nicht gewillt, Zwerge und Riesen bunt durcheinander zu mischen: noch schöner kömmt es heraus, wenn sich alle seine [Miltons] Teufel in Zwerge verwandeln müssen, damit sie nur, in dem gar zu engen Gebäude, Platz finden mögen. Lucifer indessen, mit seinen vornehmsten Bedienten, behalten ihre natürliche ungeheure Größe; indem der gemeine Pöbel böser Geister nur in Gestalt kleiner Pygmäen erscheinen muß. Wenn das nicht das Lächerliche aufs höchste ge109

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Wir können, wie es scheint, drei Klassen von Dingen unterscheiden, die den tatsächlich in unserer Welt existierenden Dingen nicht entsprechen: Ein singulares, als individuell vorgestelltes Ding (»ens potentiale«), das zu seinem aktualen Sein der Erfüllung bedarf; ein singulares, als existent vorgestelltes Ding, das in Wahrheit aber in der gegenwärtigen Welt nicht möglich ist (»ens fictum«) – Wolff: Philosophia prima, sive Ontologia (s. Anm. 98), § 140, S. 118: »Id, cui existentiam non repugnare sumimus, utut revera eidem repugnet, Ens fictum appellatur:« [Dasjenige, von dem wir annehmen, dass die Existenz ihm nicht widerspricht, selbst wenn sie in Tat und Wahrheit demselben widerspricht, nennen wir ein eingebildetes Ding.] – und schließlich (ebd. § 140f., S. 118f.) ein als willkürlich erfunden vorgestelltes Ding, das aber als Stellvertreter eines Dinges in einer dieser Welten angesehen wird (»ens imaginarium«). Zur Unterscheidung von »ens potentiale« und »ens fictum« bei Wolff vgl. Hans Werner Arndt: Zu Christian Wolffs Theorie möglicher Welten. In: Nuovi studi sul pensiero di Christian Wolff (s. Anm. 96), S. 175–191, hier S. 185. Vgl. hierzu Arndt: Zu Christian Wolffs Theorie möglicher Welten (s. Anm. 109), S. 190. An der zentralen Abhängigkeit des Wahrscheinlichen vom Begriff des Möglichen besteht für alle Wolffianer kein Zweifel; Wilkes Bestimmung des Befreiungsschlags, den Bodmer und Breitinger gegen Gottsched führen, ist daher die denkbar ungünstigste: »Nicht nur das Wahrscheinliche, sondern auch das Mögliche soll Gegenstand der Nachahmung sein.«; Jürgen Wilke: Der deutsch-schweizerische Literaturstreit. In: Formen und Formgeschichte des Streitens. Der Literaturstreit. Hg. von Franz Josef Worstbrock und Helmut Koopmann. Tübingen 1986, S. 140–151, hier S. 143. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 10), VI, § 3, S. 200.

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Eric Achermann trieben heißt: so weis ich nicht mehr, was wahrscheinliche oder unwahrscheinliche Erdichtung seyn sollen.113

Was nun bewegt Gottsched, wenn nicht Willkür, hier Unterscheidungen zu treffen, die artgerecht sprechende Bäume wahrscheinlich, Teufel aber, die sich in Zwerge verwandeln, als lächerlich unwahrscheinlich erscheinen lassen? Ein erstes Kriterium, dem wir in der Critischen Dichtkunst begegnen, geht direkt auf Wolffs Bestimmung des Unmöglichen zurück, das aus der geforderten Widerspruchsfreiheit des Wesens eines Dinges resultiert. So unterscheidet Gottsched an einer Stelle zwischen einer unbedingten und einer bedingten Wahrscheinlichkeit: Jene [das heißt die unbedingte Wahrscheinlichkeit] findet sich freylich in den äsopischen Fabeln nicht: wenn Bäume und Thiere als vernünftige Menschen handelnd eingeführet werden. Nach dem gemeinen Laufe der Natur pflegt solches nicht zu geschehen; [...]. Deswegen aber kann man doch diesen Fabeln die bedingte Wahrscheinlichkeit nicht absprechen, die unter gewissen Umständen dennoch statt hat, wenn gleich so schlechterdings keine vorhanden wäre. [...] Denn man darf nur die einzige Bedingung zum voraus setzen, dass die Bäume etwa in einer andern Welt Verstand und eine Sprache haben: so geht alles übrige sehr wohl an.114

Fabeln also mit tierischen und pflanzlichen Akteuren sind nach Gottsched bedingt wahrscheinlich, da sie schlechterdings nicht unmöglich – »nicht an und für sich selbst unmöglich«115 – sind, sondern in einer bestimmten möglichen Welt unter gewissen Umständen in sich selbst und mit dieser Welt anderer Umstände konsistent sein können. Dies entspricht durchaus der bereits zitierten Definition von Fabel: »Erzählung einer unter gewissen Umständen möglichen, aber nicht wirklich vorgefallenen Begebenheit, darunter eine nützliche moralische Wahrheit verborgen liegt.«116 Dieses erste Kriterium vermag zwar das berühmte hölzerne Eisen und das immer wiederkehrende Beispiel eines Dreiecks mit zwei rechten Winkeln aus dem Kreis des Fingierbaren auszuschließen, nicht aber Miltons Teufel. Denn wieso sollten wir nicht eine Welt annehmen, deren Umstände eine Verwandlung von Teufeln in Zwerge erlaubte? Viel weiter also sind wir nicht: Wir können einzig auf dasjenige schließen, was wir schon wussten, dass nämlich Möglichkeit für Gottsched eine notwendige Voraussetzung für Wahrscheinlichkeit ist, ohne dass wir dadurch genau erfahren oder erkennen, wann eine Welt aufhört, möglich zu sein. Etwas weiter könnte uns eine kommentierte Übersetzung aus dem Französischen in Gottscheds Beyträgen117 führen. Es handelt sich um den dichtungstheoretischen Teil

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Ebd., § 22, S. 214. Ebd., § 2f., S. 199f. Wolff nennt die bedingte Wahrscheinlichkeit auch ›hypothetisch‹. Ebd., § 5, S. 201. Vgl. auch ebd., V, § 14, S. 181: »Die göttliche Macht erstreckt sich auf alles Mögliche; aber auf nichts Unmögliches [...].« Ebd., IV, § 9, S. 150. Des berühmten Johann le Clerk Gedanken über die Poeten und Poesie an sich selbst. Mit Anmerkungen erläutert. In: Beyträge Zur Critischen Historie Der Deutschen Sprache, Poesie und Berdsamkeit, herausgegeben von einigen Liebhabern der deutschen Literatur. 24. Stück. Leipzig 1740, S. 531–600 (Gottscheds Anmerkungen: S. 588–600). Nach »an sich selbst« setzt Gottsched die Fußnote: »Diese Abhandlung hat zwar sonst vor des sel. Hofrath Pietsch Gedichten gestanden, ist aber bey der neueren Auflage derselben ausgelassen worden, weswegen man sie ihrer Vortrefflichkeit halber, hier hat einrücken wollen.« Gemeint ist: Johann Valentin Pietsch: Gesamlete Poetische Schrifften Bestehend aus Staats=Trauer- und Hochzeit=Gedichten, Mit einer Vorrede, Herrn le Clerc übersetzten Gedancken von der Poesie und Zugabe einiger Gedichte von Johann Christoph Gottsched. Leipzig 1725, [S. b5r–d8v]. Anmerkungen finden sich hier keine.

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der heute weitestgehend vergessenen Parrhasiana, einer Sammlung von Pensées des damals weitherum bekannten Theologen und Publizisten Jean Le Clerc:118 Das [dass das Wunderbaren aufgrund seiner Neuigkeit gefällt] geht noch hin, wenn man die Sachen nur ein wenig vergrößert; aber, wenn man sie gar unvernünftig vorstellet, macht man sich allen denen zum Gelächter, die gern ihre Vernunft allenthalben brauchen wollen, das ist den klügsten Leuten. Ein wenig hernach sagt er [Aristoteles im 25. Kap. der Poetik]: Der Poet muß lieber unmögliche Dinge aussuchen, wenn sie nur wahrscheinlich sind; als die möglichen, welche bey aller ihrer Möglichkeit unglaublich sind. Ich gestehe, daß nicht alles, was möglich ist, glaublich sey: Aber das, was unmöglich ist, wird es meinem Bedünken nach noch viel weniger seyn. (h) Man mag immer sagen, daß dasjenige, was einem Menschen unmöglich ist, doch bey den Göttern möglich sey; und daß also Dinge, die uns unmöglich sind, wahrscheinlich werden können, sobald die Götter dazwischen kommen. Diejenigen, die sich den guten Geschmack durch die blinde Bewunderung des Alterthums nicht verdorben haben, werden diese Verschwendung der Wunderwerke bey allen Kleinigkeiten nicht verdauen können, die man doch im Homer so häufig antrifft.119

Die Vorstellung eines Unmöglichen, das glaubhaft ist, stellt für Le Clerc einen Nonsens dar. Wer nämlich die Unmöglichkeit einer Sache einsieht, der kann diese nicht glauben. Und so sind die wunderbaren Begebenheiten für die Alten nur dann glaubhaft, wenn sie ihnen aufgrund der Fähigkeiten, die sie ihren Göttern einräumen, möglich erscheinen; für uns aber, die wir nicht an die Götter glauben, erscheinen sie nicht glaubhaft.120 Dem fügt Gottsched eine bemerkenswerte Anmerkung bei, die verglichen mit dem Rigorismus Le Clercs geradezu lax erscheint: (h) Dieses leidet seine großen Ausnahmen. Was einem Menschen unmöglich ist, das kann einer höheren Kraft noch wohl möglich seyn. Wir wissen ja, daß es einem Menschen unmöglich ist, auf einem Besenstiele durch die Luft zu reiten: gleichwol ist dieses von den Hexen, durch Hülfe des Teufels, eine lange Zeit glaublich gewesen. Vieles, was ein Poet dichtet, soll auch nicht einmal schlechterdings glaublich werden. Wer wollte behaupten, dass Fenelon alles, was er in seinem Telemach geschrieben, von seinen Lesern geglaubet haben wolle? Ja wir wissen es gewiß, daß Venus und Minerva, Cupido und das Reich der Todten, so wie er sie beschreibet, unmögliche Dinge sind. Gleichwohl haben sie unter gewissen Bedingung, ihre Wahrscheinlichkeit. Selbst in der Schrift ist die Fabel von den Bäu-

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Zu Le Clerc, insbesondere auch den Parrhasiana vgl. Jacques Le Brun: [Art.] Jean Le Clerc. In: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. II/2. Frankreich und Niederlande. Hg. von Jean-Pierre Schobinger. Basel 1993, S. 1018–1024. Ebd. S. 552. – Es handelt sich um eine ziemlich genaue Übersetzung von Theodore Parrhase [i. e. Jean Le Clerc]: Parrhasiana, Ou Penseés Diverses sur des Matières de Critique, d’histoire, de Morale et de Politique. Avec la Défense de Divers Ouvrages de Mr. L. C. Amsterdam 1699, S. 26f.: »Cela est bon, lors qu’on ne fait un peu outrer les choses; mais quand on va jusqu’au déraisonnable, on se rend ridicule à ceux qui aiment à faire en toutes choses usage de leur Raison, c’est dire, aux gens sages. Le Poëte, dit-il un peu plus bas, doit plutôt choisir les choses impossibles, pourvu qu’elles soient vrai-semblables, que les possibles qui sont incroiables, avec toute leur possibilité. J’avouë que tout ce qui est possible n’est pas croiable; mais ce qui impossible l’est, ce me semble, encore moins. On a beau dire que ce qui est impossible aux hommes ne l’est pas aux Dieux; & qu’ainsi lors que les Dieux interviennent, il y a des choses impossibles aux hommes, qui deviennent vrai-semblables; ceux qui n’ont pas le goût gâté, par l’admiration aveugle de l’Antiquité, ne sauroient digerer cette prodigalité de miracles, pour des bagatelles, dont Homere est tout plein.« Anders sieht dies hingegen bei den Wundern der eigenen Religion aus, deren Wahrheit Le Clerc gegen Spinoza vehement verteidigt. Für ihn sind Wunder eigentliche Prophezeiungen und Offenbarungen Gottes; vgl. Le Brun: Jean Le Clerc (s. Anm. 118), S. 1023f.

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Eric Achermann men, die sich einen König wählten, an sich unmöglich; und dennoch hat sie unter der Bedingung, dass die Bäume denken, reden und gehen können, ihre Wahrscheinlichkeit.121

Die konkreten Entscheidungen, die Gottsched hinsichtlich des zulässig Wahrscheinlichen bzw. unzulässig Unwahrscheinlichen trifft, können also weder mit Rekurs auf den Glauben noch auf die Erkenntnis einer widerspruchsfreien Wesenheit erklärt werden, ja sogar unmögliche Dinge scheint er der Dichtung zu konzedieren. Wer einen Besenstiel fliegen lässt, der könnte doch ebenso gut einem Milton seine Engel und Teufel lassen. Wie das Beispiel zeigt, kann der Besenstiel nämlich auch unter Berufung auf den zureichenden Grund nicht genügsam erklärt werden, da der zureichende Grund in eben den Umständen liegt, die etwas zu einem bedingt wahrscheinlichen machen, wobei wir jedoch nicht einsehen, welche unter den Umständen modifizierbar sind, und bis zu welchem Grade sie es sind. Auch scheint die Vermutung,122 Gottsched verlange von den Gegenständen der Dichtung, ein »possibile internum sive intrinsecum« und »possibile absolute tale« zu sein, während er das »possibilie externum sive extrinsecum« als ein »possibile respective tale«123 zur freien Disposition des Dichters stelle, wenig überzeugend, sind fliegende Besen doch schlichtweg unmöglich und nur durch die irrig unterstellte Ursache eines Teufels zu erklären, die wiederum im Glauben und nicht in den Sachen gründet. Wenn dasjenige, was einmal aufgrund des Glaubens wahrscheinlich war, in einem absoluten Sinne möglich wäre, so wäre es auch heute und künftig möglich, was Breitingers Auffassung von Wahrscheinlichkeit in allen erwähnten Punkten entspräche. Es braucht ein zusätzliches Kriterium, um die möglichen Welten gleichsam dem Chaos zu entreißen. Betrachten wir also nochmals, die bereits zitierte Definition von Fabel und Wahrscheinlichkeit: 121

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Des berühmten Johann le Clerk Gedanken über die Poeten und Poesie an sich selbst (s. Anm. 117), S. 592. – Diese Haltung nimmt Gottsched auch noch 1751 in der letzten Überarbeitung seines Versuches ein: »Will man hiervon in Aristotels Poetik das IXte und XXVste Capitel nachschlagen, so wird man finden, daß seine Gedanken eben dahinaus laufen; ungeachtet er sich zuweilen harter Ausdrückungen bedienet. Le Clerc, in seinen Parrhasianen hat sich sonderlich darüber aufgehalten, daß dieser Philosoph gesagt: Die poetische Wahrscheinlichkeit gehe zuweilen bis aufs Unvernünftige. Allein, wer das Exempel ansieht, welches Aristoteles davon gegeben, nämlich da Achilles den Hektor dreymal rund um die Stadt Troja getrieben, die Heere aber indessen stockstille gestanden, wie Homer in der Ilias erzählt: so wird man wohl sehen, daß dieses so ungereimt nicht ist, als es wohl scheint. Freylich ließe sich solches auf der Schaubühne nicht wahrscheinlich vorstellen, wie Aristoteles selbst gesteht. Allein in einem Heldengedichte, wo man nur die Erzählung liest, da kann es wohl wahrscheinlich klingen; sonderlich, wenn der Poet das Unglaubliche dabey künstlich zu verstecken weis.«; Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 10), VI, § 4, S. 200. Bräutigam (Fabelhafte Poesie in optimaler Welt [s. Anm. 6], S. 43) irrt doppelt, wenn er zum einen behauptet, der »Satz vom Widerspruch triumphiert hier [in der Gottschedschen Vorstellung von Nachahmung] über den Satz vom zureichenden Grund«. Ohne einen (hypothetisch) zureichenden Grund in einer anderen Welt kann weder ein Besenstiel fliegen, noch ein Baum denken oder reden, da fliegende Besenstiele und denkende Bäume einen Widerspruch in sich bergen, der sich aus der Definition der Ausdrücke ergibt. Zudem präsentiert eine Fabel die möglichen Dinge im Zusammenhang einer Welt, das heißt so, als ob sie existierten. Zum anderen verkennt die Behauptung, »[o]ffenbar hat der Professor der Logik den der Metaphysik verdrängt«, die Unabtrennbarkeit der beiden Grundsätze zur Bestimmung des Denkbaren, die eine Zuordnung der Widerspruchsfreiheit zur Logik bzw. des zureichenden Grundes zur Metaphysik nicht zulassen. Zu den Begriffen vgl. Wolff: Der Vernünfftigen Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen […] Anderer Theil/ bestehend aus ausführlichen Anmerckungen (s. Anm. 38), § 6, ad § 12, S. 12f.

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Die Fabel selbst, die von andern für die Seele eines Gedichtes gehalten wird, ist nichts anders, als eine Nachahmung der Natur. Dieß wird sie nun durch die Aehnlichkeit mit derselben: und wenn sie diese hat, so heißt sie wahrscheinlich.

Und an anderer Stelle heißt es: Ich verstehe nämlich durch die poetische Wahrscheinlichkeit nichts anders, als die Aehnlichkeit des Erdichteten, mit dem, was wirklich zu geschehen pflegt; oder die Uebereinstimmung der Fabel mit der Natur.124

Die Kategorie der Wahrscheinlichkeit ist also mit derjenigen der Ähnlichkeit aufs engste korreliert125 und so ist zu vermuten, dass letztere das Kriterium zu bestimmen hilft, das Gottsched zur Scheidung literarisch tauglicher und literarisch untauglicher Möglichkeiten vorschwebt. Darüber hinaus gilt es, Gottscheds Begriff der Natur und deren Verhältnis zu einer Welt bzw. der tatsächlichen Welt ins Auge zu fassen. Wie immer, wenn sich Dichtung auf die Nachahmung der Natur verpflichtet, kommt es darauf an, den jeweiligen Naturbegriff genauer zu fassen. Sowohl Wolff als auch Gottsched definieren Ähnlichkeit als Übereinstimmung distinktiver Merkmale von mindestens zwei Dingen: »die Aehnlichkeit [ist] ein Uebereinkommen desjenigen, daraus man Dinge erkennen und von einander unterscheiden soll; und die Dinge sind einander ähnlich, die auf einerley Art determiniert worden.«126 Wie die an die Definition anschließenden Überlegungen unterstreichen, ist es der Begriff der Art, auf den es hier ankommt. Da zwei vollständig determinierte, individuelle Dinge, das heißt zwei Gegenstände in der realen Welt, gemäß dem »principium identitatis indiscernibilium«127 nicht identisch sein können, konstituiert die Übereinstimmung wiedererkennbarer, differenzierbarer und konstanter Merkmale von Dingen eine Art.128 Der Art-Begriff basiert so auf dem Konzept der Ähnlichkeit und setzt die Fähigkeit des Beobachters voraus, Übereinstimmungen festzustellen und diese qualitativ zu unterscheiden

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Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 10), VI, § 1, S. 198. Wolfgang Preisendanz: Die Auseinandersetzung mit dem Nachahmungsprinzip in Deutschland und die besondere Rolle der Romane Wielands (Don Sylvio, Agathon). In: Nachahmung und Illusion. (=Poetik und Hermeneutik I). Hg. von Hans Robert Jauß. München 1964, S. 72–93, hier S. 74. Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen (s. Anm. 14), § 18, S. 11. – Für eine ausführliche Behandlung vgl. Hans Poser: Die Bedeutung des Begriffs ›Ähnlichkeit‹ in der Metaphysik Christian Wolffs. In: Studia leibnitiana 11 (1979), S. 62–81. Vgl. hierzu Herbert Herring: Leibniz’ ›principium identitatis indiscernibilium und die Leibniz-Kritik Kants. In: Kant-Studien 49 (1958), S. 389–400; Raili Kauppi: Einige Bemerkungen zum principium identitatis indiscernibilium bei Leibniz. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 20 (1966), S. 497–506. Am deutlichsten bei Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Theoretischer Theil) (s. Anm. 68), Die Vernunftlehre, I. Theil, Von den dreyen Kräften des menschlichen Verstandes, I. Hauptstück, Von der Empfindungskraft, § 35, S. 117: »Wenn man viele einzelne Dinge gegen einander hält, so nimmt man wahr, daß etliches an ihnen auf einerley Art, etliches aber auf verschiedene Art bestimmt ist. Z. E. Zwey Häuser können an Größe, an Schönheit, an Kostbarkeit, u. s. f. übereinkommen; ob sie gleich an Alter, an Lage, an inwendiger Eintheilung der Zimmer, und an äußerlicher Verzierung sehr unterscheiden sind. In so weit sie nun mit einander übereinkommen, oder in gewissen Stücken auf einerley Art bestimmet sind; in so weit sind sie einander ähnlich. Diese Aehnlichkeit einzelner Dinge nun ist dasjenige, was man die Art nennet. Z. E. Bürgerhäuser, Bauerhäuser, Rathhäuser überhaupt, sind Arten von Häusern.«

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in artkonstitutive und singuläre zufällige Merkmale.129 Das dauerhafte Vorhandensein – »constanter inesse«, wie es bei Wolff heißt – der Eigenschaften gewisser Dinge macht diese zu wesentlichen bzw. zu aus dem Wesen resultierenden Eigenschaften und führt auf dieser Grundlage zur Herausbildung von Arten. Einem Gegenstand der Art »Feigenbaum« kommen also notwendig die Prädikate »bäumig« und »feigentragend« zu. Dabei ist zu beachten, dass die Ähnlichkeitsrelation, welche die Art konstituiert, hierarchisch geordnet ist: Ein Feigenbaum bildet mit einem Feigenhändler, der ebenfalls Feigen trägt, keine Art, jedoch mit Ölbäumen, Kirschbäumen, Apfelbäumen etc. zusammen eine übergeordnete Art oder Gattung. Dies setzt voraus, das zum einen zwischen Wesen und Eigenschaft unterschieden werden kann, wobei der Artbegriff das jeweils wesentliche als notwendig setzt, während die Eigenschaft als zufällig erscheint, die jedoch in einen untergeordneten Artbegriff als wesentlich erachtet werden kann. Für einen Baum etwa ist es zufällig, ob er Feigen trägt, für einen Feigenbaum aber notwendig. Die Artenhierarchie impliziert eine transitive, nicht aber umkehrbare Beziehung, das heißt die untergeordneten Arten erben die wesentlichen Merkmale der oberen Art, nicht aber umgekehrt: Feigenbäume und Ölbäume sind Bäume, nicht aber umgekehrt sind Bäume Feigenbäume. Wie wir leicht erkennen können, hängt die Modaltheorie und die Artentheorie bei Wolff und Gottsched aufs engste zusammen: Das notwendig mögliche Wesen konstituiert die Art. Artbegriffe sind also nicht bloße Ordnungsbegriffe, die uns helfen, die Welt taxonomisch zu erfassen, sondern tragen wesentlich zur Erkenntnis des Zusammenhangs der Welt und des Wirkens der Natur bei. Wie wir gesehen haben, wird das Wesen bestimmt als dasjenige, was seinen Grund in sich trägt. Dieses Wesen determiniert sowohl bei Wolff als auch bei Gottsched eine ihm eigene Kraft; oder genauer: Das Wesen determiniert die Art der Kraft seines Körpers.130 Die Natur nun ist nichts anderes als die wesentliche Determination der Kraft eines Körpers durch das Wesen des Dinges: durch die Natur [wird] nichts anders verstanden [...] als die würckende Kraft, in so weit sie durch das Wesen eines Dinges in ihrer Art determiniret wird. [...] Was demnach in dem Wesen und der Kraft der Cörper, das ist, in ihrer Natur gegründet ist, oder auch seinen Grund in dem Wesen und der Kraft der Welt, das ist, in der gantzen Natur hat, das heisset natürlich.131

Arten determinieren die Kräfte, die den Dingen als »Quelle der Veränderungen« innewohnen.132 Aus den Kräften resultiert so die Zusammensetzung der Dinge sowie ihre Stellung in Raum

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Genauer sieht Wolff drei Klassen von Prädikaten vor: die »essentialia«, das heißt Eigenschaften, die einem Ding wesentlich und aus sich selbst heraus determiniert zukommen, die »attributa«, die durch ›essentialia‹ determiniert werden, und die »modi«, die zufällig und ohne innere Determination einem Ding zukommen. Vgl. Philosophia prima, sive Ontologia (s. Anm. 98), § 143–149, S. 120–123; vgl. hierzu École: La notion d’être ou la ›désexistentialisation de l’essence‹ (s. Anm. 100), S. 163. Zum Kraftbegriff in der Leibniz-Wolffschen Philosophie und seiner Bedeutung für die Ästhetik vgl. Eric Achermann: Im Spiel der Kräfte. Bewegung, Trägheit und Ästhetik im Zeitalter der Aufklärung. In: Natur, Naturrecht und Geschichte. Aspekte eines fundamentalen Begründungsdiskurses der Frühen Neuzeit. FS für Wolfgang Proß. Hg. von Simone de Angelis, Florian Gelzer und Lucas Marco Gisi. Heidelberg 2010, S. 287–320. Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen (s. Anm. 14), § 628f., S. 384f. Ebd., § 127, S. 66, mit Verweis auf § 115, S. 60.

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und Zeit. Diese raum-zeitlichen Verbindungen oder Verhältnisse der Dinge untereinander weisen Ähnlichkeiten auf, die aus der Art der Dinge folgen und bilden so Ordnung: Wenn vielerley zusammen als eines betrachtet wird, und findet sich darinnen, wie es neben und aufeinander erfolget, etwas ähnliches; so entstehet daraus eine Ordnung, dass demnach die Ordnung nichts anders ist, als die Aehnlichkeit des mannigfaltigen in dessen Folgen auf und nach einander.133

Aus der Erfahrung der Ähnlichkeit der raum-zeitlichen Verhältnisse bilden sich Beziehungen aus, die regelmäßig sind und deshalb eben das Prädikat ›natürlich‹ verdienen. Da nun alles Seiende und alles als Seiendes Vorgestellte einen zureichenden Grund hat oder von einem zureichenden Grunde bewirkt angenommen wird, so stehen alle Dinge miteinander in Beziehung. Die Totalität dieser Beziehungen nennen sowohl Wolff als auch Gottsched »Welt«. Eine jede mögliche Welt unterscheidet sich von einer anderen durch die »Art ihrer Zusammensetzung«.134 Was solchermaßen in dem großen Einen und Ganzen der wirklichen Welt seinen raumzeitlichen Ort durch Verknüpfung findet, das »hat [...] seine bestimmte Wahrheit«.135 Was hingegen einen solchen Zusammenhang bloß erscheinen lässt, das hat eine unbestimmte Wahrheit oder eben: Wahrscheinlichkeit. Damit sind alle Elemente gegeben, die erforderlich sind, um Gottscheds Theorie sowohl der Fabel oder Fiktion als auch seiner Geschmackslehre zu verstehen. Die Betrachtung der Welt führt uns zur Erkenntnis der wesentlichen Merkmale und daraus notwendig resultierender Eigenschaften der Dinge. Über eine eigene Kunst, die »ars inveniendi«,136 erscheint der Mensch befähigt, mögliche, da widerspruchsfreie Dinge zu imaginieren und diese analog zu unserer Erfahrung vom Zusammenhang der Dinge in widerspruchsfreie begründete Beziehungen zueinander zu setzen. Mit Wolff können wir so zwischen Erfindungen unterscheiden, die »leere Einbildung« und schlichtweg »so nicht möglich« sind – Wolff spricht in diesem Zusammenhang von »Erdichtungen« – und Erfindungen gemäß des Satzes vom zureichenden Grund. So scheint Gottsched mit Wolff darin vollkommen übereinzustimmen, dass unsere Erfindungen – wie Gottsched sich ausdrückt – weder »unmöglich« noch »widersinnisch« sein,137 weder der Vernunft noch der Erfahrung widersprechen dürfen. Nichtsdestotrotz räumt die Forderung nach Wahrscheinlichkeit, verstanden als eine mögliche und also vernünftige, eine Freiheit zum Erfinden ein, die den Zusammenhang der Dinge nicht nur über deren Wirklichkeit, sondern auch deren innere Möglichkeit erhebt. Die Nachahmung der Natur besteht darin, die Ähnlichkeit der Verbindung der Dinge in einer fiktionalen Welt gemäß dem »Reglement« der Dinge in der uns bekannten Welt zu erkennen.138 Diese Verbindung nun muss eine gesetz133 134 135

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Ebd., § 132, S. 68. Ebd., § 552, S. 334. Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Theoretischer Theil) (s. Anm. 68), II. Theil, Die Grundlehre oder Metaphysik, II. Abschnitt, Die Weltbetrachtung, I. Hauptstück, Von dem Wesen einer Welt und von ihren vornehmsten Eigenschaften, § 333, S. 246. Vgl. die sehr gute Darstellung bei Cornelis-Anthonie van Peursen: Ars inveniendi im Rahmen der Metaphysik Christian Wolffs. Die Rolle der ars inveniendi. In: Christian Wolff. 1679–1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung (s. Anm. 27), S. 66–88. Zur Bedeutung von Wolffs ars inveniendi als Vorlage für Gottscheds facultas fingendi vgl. Schmidt: Sinnlichkeit und Verstand (s. Anm. 6), S. 101–113. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 10), VI, § 1, S. 198. Jürgen H. Petersen: Mimesis – Imitatio – Nachahmung. Eine Geschichte der europäischen Poetik. München 2000, S. 171.

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hafte sein: Die erfundenen Wesen dürfen zwar unseren Vorstellungen von Wesen und Art der jeweiligen Dinge widersprechen, nicht aber der inneren Gesetzmäßigkeit, die den Begriff des Wesens, sowie der Konstanz, die den Begriff der Art konstituiert. Die Modifikationen der Wesen und Arten, worin die Lizenz der dichterischen Erfindung besteht, müssen dabei als modifizierte Bedingungen gesetzhafter und konstanter Geltung in einer möglichen Welt einsichtig sein. Sie dürfen nicht ohne einsichtige Ursache139 im Rahmen einer solchen fiktionalen Welt wieder aufgehoben oder beliebig dem einen Ding zu, dem andern abgesprochen werden. Erfindungen, die diese Bedingungen nicht erfüllen, sind ungereimt, das heißt ihre Konstruktion ist schief, ihr Material heterogen. Mehr noch: Eine Modifikation der Vermögen einzelner Dinge, der körperlichen Größenverhältnisse, der Existenz übernatürlicher Wesen etc., die für die Elemente einer Fabel in einer bestimmten möglichen Welt keine Konstanz und Konsistenz aufweist, führt die Begriffe von Welt und Natur ad absurdum. Indem Gottsched den Wesensbegriff zugunsten eines starken Natur- und Weltbegriffs schwächt, versucht er zumindest einen Teil desjenigen, was einem kritischen Leser des Schlags eines Wolff als leere und damit sinn- und wertlose Einbildung erscheinen mag, für die Dichtung zurückzugewinnen. Kehren wir zu dem Beispiel des Feigenbaums zurück, so gilt es wohl einzugestehen, dass ein Baum von seinem Wesen her weder über Verstand, noch Sprachfähigkeit, noch Stimmbänder verfügt, da Pflanzen gemäß unserer Erfahrung, unseren Begriffen und besseren Einsichten ebenso wenig oder gar im minderen Maße mit Vernunft begabt als Engel mit Flügeln versehen sind.140 Nach Gottsched können wir uns aber eine Welt vorstellen, in dem der Baum über die erwähnten Eigenschaften verfügt. Der Begriff des Baumes darf in seiner spezifischen und generischen Determinationen verändert werden, hierzu bedarf es jedoch eines Grundes. Diesen Grund erkennt Gottsched in dem veränderten Weltzusammenhang, der Bäume als redende und denkende Wesen zulässt. Nachahmung der Natur bezeichnet in erster Linie also Nachahmung natürlicher Zusammenhänge, wobei der Dichter die Freiheit hat, im erwähnten Falle der unglaublichen Wahrscheinlichkeit das Wesen eines Dinges den Umständen anzupassen, das heißt Gottsched erachtet es für den Dichter als legitim, die relationale Determination eines Dinges nicht nur über die individuelle, sonder auch über die essentielle zu stellen, solange diese Relationen regelmäßig sind. Zu glauben aber haben wir diese Erfindungen nicht, und auch ein Dichter wie der von Gottsched geschätzte Fénelon141 tut das nicht. Von dieser Warte aus, das heißt von derjenigen der Unterordnung der Dichtkunst unter die als allgemeiner erachtete Philosophie, erscheint Gottsched also nicht als der diktatorischer Beschneider des 139

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Auch bei Gottsched lässt sich – wie bei Wolff – von einem »Primat der kausalen Verknüpfung« sprechen, das sich von der Aufwertung finalursächlicher Argumente bei Leibniz distanziert; vgl. hierzu Hans-Jürgen Engfer: Teleologie und Kausalität bei Leibniz und Wolff. In: Beiträge zur Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte von Gottfried Wilhelm Leibniz. Hg. von Albert Heinkamp. Stuttgart 1986, S. 97–109, hier S. 108. Wolffs Beispiele sind bezeichnend: Erdichtungen sind Melusinen und geflügelte Engel, während der Bildhauer und der Baumeister Schönes und Vollkommenes hervorbringen, wenn sie sich an natürliche Proportionen halten. Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen (s. Anm. 14), § 242 und 245, S. 134f. und 136; vgl. hierzu Joachim Birke: Christian Wolffs Metaphysik und die zeitgenössische Literatur- und Musiktheorie. Gottsched, Scheibe, Mizler. Berlin 1966, S. 11f. Vgl. die leider stark wertende Darstellung bei Wolfgang Bensiek: Die ästhetisch-literarischen Schriften Fénelons und ihr Einfluß in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland. Diss. Tübingen 1972, S. 158-171.

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literarischen Feldes, sondern als jemand der bereit ist, der Dichtung sowohl Freiheit als auch philosophische Dignität zu verleihen. Er tut dies in einem sehr modernen Sinn, indem er den Fiktionsbegriff an die Vorstellung möglicher Welten knüpft, die ihrerseits den unsrigen nur insoweit ähneln, als deren Dinge nicht explizit modifiziert erscheinen.

TOMAS SOMMADOSSI

Natur- und Gottesbezug in der Poetik Gottscheds und der Schweizer

1. Vorwort Die Vorrede zur dritten Ausgabe (1742) des Versuchs einer Critischen Dichtkunst lässt keine Zweifel übrig, dass die umfangreiche Critische Dichtkunst (1740) des Schweizers Breitinger Gottsched ziemlich empört haben muss. Trotz der Ähnlichkeit der Titeleien musste Gottsched bei Breitinger eine völlig unterschiedliche Herangehensweise an die Dichtungstheorie feststellen. Was Gottsched darin vermisst, sind all die normativen Vorschriften, die den Kern seiner Regelpoetik bilden: Da ich in meiner Dichtkunst, nach der allgemeinen Abhandlung des Zubehörs zur Poesie, von allen üblichen Arten der Gedichte gehandelt, und einer jeden ihre eignen Regeln vorgeschrieben habe; dadurch Anfänger in den Stand gesetzt werden, sie auf untadeliche Art zu verfertigen; Liebhaber hingegen, dieselben richtig zu beurtheilen: so hält die zürcherische Dichtkunst nichts von dem allen in sich. […] Wer also dieselbe in der Absicht kaufen wollte, […] Gedichte daraus abfassen zu lernen, der würde sich sehr betrügen, und sein Geld hernach zu spät bereuen.1

Über die Polemik hinaus ist gerade die »allgemeine Abhandlung des Zubehörs zur Poesie« der Bereich, in dem es zum Auseinandertreten des in Leipzig tätigen Johann Christoph Gottsched (1700–1766) und der Zürcher Johann Jacob Bodmer (1698–1783) und Johann Jacob Breitinger (1701–1776) kommt. Im Gegensatz zu den meisten bisherigen Beiträgen, die das Thema aus ästhetischer (erkenntnispsychologischer) oder rhetorischer Perspektive behandeln,2 nimmt sich die vorliegende Studie vor, dem Spannungsverhältnis zwischen rational-philosophischem und theologisierendem Naturverständnis nachzugehen, das Anfang der 1740er Jahre zum Ausbruch der Feindseligkeiten geführt hat. Wie bekannt, geht die Literaturfehde von unterschiedlichen Interpretationen 1 2

Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (1730, d. h. 1729). Leipzig 41751. ND Darmstadt 1962, S. XX. Eine große Anzahl von zumeist älteren Beiträgen beschäftigt sich (nicht zu Unrecht, da es sich um überaus aufschlussreiche Konzepte handelt) mit den jeweiligen Auffassungen zur Rolle der Einbildungskraft und des poetischen Wunderbaren im Rahmen der Mimesistheorie. Dazu vgl. die zahlreichen bibliographischen Angaben in Hans Otto Horch und Georg-Michael Schulz: Das Wunderbare und die Poetik der Frühaufklärung. Gottsched und die Schweizer. Darmstadt 1988.

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derselben philosophischen und literaturtheoretischen Vorlagen (u. a. Aristoteles, Horaz, Leibniz, Wolff) aus. Auf diese wird im Folgenden wiederholt hingewiesen, jedoch nicht detailliert eingegangen werden, damit der Fokus auf die abweichende Rezeption der Praetexte und (insbesondere) auf die Art und Weise der (Um)Funktionalisierung von grundlegenden philosophischästhetischen Begriffen wie dem Naturbegriff, dem Möglichkeitsaxiom und dem Wahrscheinlichkeitssatz gerichtet bleibt. Zur Einführung werden in zwei kurzen Exkursen – einmal zum soziokulturellen Phänomen der Säkularisierung, einmal zum philosophischen Substrat der Debatte – die Hintergründe der literaturtheoretischen Konfrontation skizziert.

2. Die Literaturfehde vor dem Hintergrund der Säkularisierung Obwohl sich die Forschung bisher eher sporadisch und wenig intensiv damit auseinander gesetzt hat, ist der religiöse und theologische Hintergrund m. E. ein Element, das zur Entwicklung des Literaturstreits entschieden beigetragen hat. Die Frühaufklärung, für die – was den deutschsprachigen Kulturraum betrifft – die Philosophie Christian Wolffs (1679–1754) sinnbildlich gewesen ist, koinzidiert bekanntlich mit dem Einsetzen eines ideengeschichtlichen und, allgemeiner, kulturellen Umorientierungsprozesses. Änderungen der gesellschaftlichen Machtverhältnisse, die treibende Kraft des sich durchsetzenden Bildungsbürgertums, die Selbstbehauptung der Wissenschaften sind Voraussetzungen für die Entwicklung einer neuen Sensibilität im Umgang mit der Religion. Durch die graduelle Befreiung von düsteren Eschatologien und Apokalypsegedanken vollzieht sich der Übergang von der autoritären Auferlegung zu einer Diskursivierung des Religiösen in dem Sinne, dass sich zwischen konfessionellen Traditionen und säkularen Vorstellungen wechselseitige »Phänomene der Übertragung«3 ergeben. Wie Kaiser diesbezüglich erläutert, ist »das 18. Jahrhundert als Epoche der Aufklärung […] der Zeitraum, in dem und seit dem sich eine […] autonome Weltlichkeit in ununterbrochener kontinuierlicher Entfaltung befindet. In dieser Zeit setzt auch ein breiter Einstrom christlichen Gedanken-, Gefühls- und Bildgutes in die säkulare Literatur ein, nicht mehr mit der Tendenz, diese an das Christentum rückzubinden, sondern in Hingabe an das Säkulum«.4 Säkularisierung versteht sich also nicht als bedingungsloser Verzicht auf die Religion, im Gegenteil: Sie setzt Religion dialektisch voraus und speist sich daraus. Der Prozess der Säkularisierung im Zeitalter der Aufklärung ist alles andere als ein homogenes Phänomen. In Anbetracht der politischen, konfessionellen und kulturellen Diskontinuitäten, die den damaligen deutschsprachigen Raum kennzeichnen, lässt er sich nur auf regionaler Ebene darstellen.5 In dieser Hinsicht kontrastieren Leipzig und Zürich scharf miteinander. Während nämlich in der Stadt Leipzig, wo sich Gottsched 1724 etabliert und sich seitdem nicht 3 4

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Ulrich Ruh und Friedrich Vollhardt: [Art.] Säkularisierung. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Jan-Dirk Müller. Bd. 3. Berlin, New York 2003, S. 342. Gerhard Kaiser: Erscheinungsformen der Säkularisierung in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. In: Säkularisierung und Säkularisation vor 1800. Hg. von Anton Rauscher. Paderborn 1976, S. 91–120, hier S. 92. Einen besonders fruchtbaren Boden fand die Säkularisierung im ganzen deutschprotestantischen Raum. Vgl. ebd., S. 94–97.

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ohne Stolz zu deren intellektueller Elite zählt, »sich der Entwurf einer grundsätzlich säkularisierten bürgerlichen Gesellschaft deutlich ab[zeichnet]«,6 ist das Gesellschaftsbild in der Schweizer Provinz von einer »kulturasketischen, von einer Handels- und Geldaristokratie und Theologen bestimmten, darüber hinaus quasi absolutistisch orientierten Atmosphäre«7 geprägt. Dies bedeutet reformatorische Impulse und eine Lockerung der Orthodoxie auf der einen Seite und eine stärkere Widerstandsfähigkeit gegen die diesseitige Wiederverwertung der Offenbarungsmaterie auf der anderen. Gerade von diesen zwei entgegengesetzten Entwicklungsmodellen zeugen die PoetikSchriften der sächsischen bzw. schweizerischen Partei. Als begeisterter Anhänger säkularisierten aufklärerischen Denkens legt Gottsched seiner Poetik ein »rationalistisch-mechanistische[s] und anthropologisch orientierte[s] Naturverständnis«8 zugrunde. Im Rahmen der Definition des auf die klassische Poetik zurückgehenden Naturnachahmungspostulats findet sich von religiöser Dogmatik keine Spur. In Gottscheds Auffassung hat sich alles dichterische Handeln nach der naturwissenschaftlichen Logik der Demonstration zu richten. Unter der Ägide der ›Weltweisheit‹ entwirft der Leipziger ein Ideal von Literatur, in dessen Zentrum der Mensch steht, dessen Gültigkeitsraum der irdische und dessen Ziel die moralische Bildung der lesenden Öffentlichkeit ist. In puncto kultureller Verweltlichung weisen hingegen die Schriften von Bodmer und Breitinger von Anfang bis Mitte der 1740er Jahre, der Jahre der Gottsched-Fehde, eher Misstrauen als Interesse auf. Damit ist nicht gesagt, dass der praktisch-philosophische Fokus und das Erziehungsideal bei den Zürchern unwesentlich sei. Moral als Ziel der literarischen Kommunikation hat aber für Bodmer und Breitinger keinen absoluten Wert, denn sie wird von der dogmatischen Ontologie des Sakralen abhängig gemacht und folglich davon abgeleitet. Wenn wir neben der kirchlich dominierten Stadtkultur Zürichs auch die Biographien der Schweizer bedenken (Bodmer war Pfarrerssohn und Breitinger studierter Theologe), sollte nicht weiter verwundern, dass ihre Poetik an dogmatische Schemata gebunden bleibt. Ihr Ziel ist es nicht bloß, Literatur in sozialethische Kategorien einzuordnen, sondern vielmehr den Naturbezug mit dem in Gottscheds Versuch nahezu außer Acht gelassenen Gottesbezug zu harmonisieren und somit der transzendenten Wahrheit nicht als einem Grenzparameter für das Fällen von moralischen Werturteilen, sondern als poetischem Objekt denjenigen Raum zu verschaffen, den sie sonst aufgrund einer an der naturwissenschaftlichen Logik hängenden Deutung des Mimesisgebots zu verlieren verurteilt wäre. In Abhängigkeit davon, wie viel Bedeutung jeweils dem empirischen Naturbezug bzw. dem transzendenten Gottesbezug beigemessen wird, kommt es in der Leipziger und Zürcher Poetik zu unterschiedlichen Deutungen des Wahrscheinlichkeitsbegriffes, auf die es im Folgenden einzugehen gilt. Am Beispiel der naturlogischen und theologischen Inkongruenzen zwischen 6 7

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Michael Metzger: [Rez.] Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. Bd. V. Hg. von Phillip M. Mitchell. Berlin, New York 1983–1989. In: Lessing Yearbook 24 (1992), S. 178. Reinhart Meyer: Restaurative Innovation. Theologische Tradition und poetische Freiheit in der Poetik Bodmers und Breitingers. In: Aufklärung und literarische Öffentlichkeit. Hg. von Christa Bürger, Peter Bürger und Jochen Schulte-Sasse. Frankfurt am Main 1980, S. 39–82, hier S. 55. Hans-Georg Kemper: Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung im Säkularisierungsprozeß. Problemgeschichtliche Studien zur deutschen Lyrik in Barock und Aufklärung. Bd. 1. Tübingen 1981, S. 271.

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den poetologischen Schriften Gottscheds und denjenigen der Schweizer9 soll dargelegt werden, inwiefern Gottsched der eigentlich ›kritische‹ (auch religionskritische) Aufklärer war, während bei den Schweizern eine auf die Autorität der religiösen Tradition bedachte und entsprechend konservativ eingestellte ›Poetheologie‹ als Resultat zurückbleibt.

3. Die Wirklichkeit-Möglichkeit-Alternative und das Wahrscheinlichkeitspostulat Die Vollkommenheit der Natur, die sprachlich nachzuahmen die Aufgabe des Dichters ist, verstehen die Literaturtheoretiker der Frühaufklärung in Anlehnung an ihre philosophischen Vorlagen nicht als Zustand, sondern als Progression. Ausgangspunkt des Fortschrittsgedankens ist das Möglichkeitspostulat von Leibniz und Wolff, dem zufolge die natürliche Dynamik sich aus der dem Kosmos innewohnenden Spannung zwischen Möglich-Sein und Wirklich-Werden ergibt. Es besteht bei den beiden Philosophen sowie bei Gottsched und den Schweizern Einigkeit darüber, dass »physische und metaphysische Welt monistisch zusammenzudenken«10 sind: Die frühaufklärerischen ›Weltweisen‹ halten das Reale für die Konkretisierung einer, und zwar der ›besten‹ der unzähligen, in Gottes Wahrheit ruhenden Möglichkeiten, was wiederum heißt, dass die Gesamtheit des Tatsächlichen, des durch Sinne und Verstand Wahrnehm- und Begreifbaren, kurz: die Natur im Übernatürlichen ihren ontologischen Ursprung hat. Die Naturwerdung des Metaphysischen erfolgt unter der Regie Gottes, der den möglichen Welten je nach ihrer qualitativen Evolutionsstufe zur Existenz zu gelangen verhilft. Mit Leibniz: »Chaque possible aïant droit de pretendre à l’Existence à mesure de la perfection qu’il enveloppe«.11 Mit dieser apriorischen Bestimmung des Gegenstandsbegriffs, bei der eine Instanz im Jenseits zur »cause de l’Existence du Meilleur«12 gemacht wird, geht die Frage nach der Selbständigkeit des Natürlichen als Objekt der wissenschaftlich und künstlerisch zu vermittelnden Erkenntnis einher. Dem Modus der Kompossibilität von Möglichem und Wirklichem kommt im Dichtungsstreit zwischen Gottsched und den Schweizern erhebliche Bedeutung zu. Auf beiden Seiten besitzt der Gedanke, dass der Poet die Grenze der faktischen Beschreibung (im Sinne »der natürlichen, politischen, und moralischen Historie«13) zu überschreiten aufgerufen sei, eine unbestrittene Geltung. Es lautet in der Tat bei Gottsched: Die Fabel, die »für die Seele eines Gedichtes gehalten wird«,14 sei »die Erzählung einer unter gewissen Umständen möglichen, aber nicht wirklich vorgefallenen Begebenheit, darunter eine nützliche moralische Wahrheit verbor-

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Obwohl die literaturtheoretische Leistung der Schweizer zahlreiche Bände umfasst, wird im Folgenden ihrer Relevanz halber insbesondere auf Breitingers Critische Dichtkunst (1740) Bezug genommen werden. Peter-André Alt: Aufklärung. Stuttgart 1996, S. 72. Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie und andere metaphysische Schriften. Hg. von Ulrich Johannes Schneider. Hamburg 2002, S. 132. Ebd. Johann Jacob Breitinger: Critische Dichtkunst. Bd. 1. Zürich 1740. ND Stuttgart 1966, S. 57. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 1), S. 92.

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gen liegt«15 – für die Fabel eignen sich also all jene »Begebenheiten, die in unserm Zusammenhange wirklich vorhandener Dinge nicht geschehen, an sich selbst aber nichts Widersprechendes in sich haben, und also unter gewissen Bedingungen möglich sind, in einer andern Welt zu Hause gehören, und Theile davon ausmachen.«16 In Entsprechung dazu behauptet Breitinger, »daß die Dicht-Kunst, insoferne sie von der Historie unterschieden ist, ihre Originale und die Materie ihrer Nachahmung nicht so fast aus der gegenwärtigen, als vielmehr aus der Welt der möglichen Dinge entlehnen müsse.«17 Davon findet sich ferner ein Echo auch bei Bodmer: Poesie wird als eine »Art der Schöpfung« definiert, »die sich eben dadurch von den Geschichtschreibern und Naturkündigern unterscheidet, daß sie die Materie ihrer Nachahmung allezeit lieber aus der möglichen als aus der gegenwärtigen Welt nimmt«.18 Wesentliche Meinungsunterschiede bestehen zwischen Leipzig und Zürich bei der Festlegung von Inhalt bzw. Umfang der möglichen Welten, von deren Relevanz für das Naturverständnis und ferner, daran anschließend, vom Verhältnis zwischen immanenten Vorstellungen und transzendenten Projektionen in Bezug auf den Ideengehalt der Kunst. Kurz, man streitet um die Akzeptabilität von allen nicht sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen und die Konfrontation verläuft im Bereich der Wahrscheinlichkeitsprüfung, hinterfragend, inwieweit poetische Aussagen ohne empirische Begründung plausibel seien. Die These vom bipolaren Natursystem ermöglicht in dieser Hinsicht zwei Gesichtspunkte auf die Wahrscheinlichkeit, je nachdem wie man die Relation zwischen Wirklichem und Möglichem zum Zweck der literarischen Naturabbildung einschätzt. Wenn man einerseits in Leibniz’ berühmtem Motto, nach dem die reale die beste aller möglichen Welten sei, den Superlativ hervorhebt, kommt man – wie Wolff und folglich Gottsched – zu einer Satzsemantik, die eine hierarchische Einstufung der Teilbereiche des Faktischen und des Jenseitigen (zugunsten des ersteren) mit einbezieht. Demnach ist Wahrscheinlichkeit Empirie gleichzusetzen. Behandelt man andererseits, wie im Folgenden bei Bodmer und Breitinger erläutert werden soll, beide Dimensionen als paritätisch, da beide gleichermaßen in Gott ihren Ursprung haben, relativiert man die Dominanz des Tatsächlichen und erzeugt auf einmal einen alles andere als geringen Spekulationsraum, der sich für die Darstellung der Dogmen der Religion als besonders geeignet erweist. Aus solcher Perspektive schließen sich Wahrscheinlichkeit und empiriefremder Glaube nicht gegenseitig aus. Auf die zwei Auffassungen von Wahrscheinlichkeit im Spannungsverhältnis zwischen empirischem Rationalismus (Gottsched) und Glauben (Bodmer und Breitinger) wird nun einzeln eingegangen.

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Ebd., S. 150. Ebd., S. 151. Breitinger: Critische Dichtkunst (s. Anm. 13), Bd. I, S. 57. Johann Jacob Bodmer: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie. Zürich 1740. ND Stuttgart 1966, S. 32.

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4. Gottscheds empirisch-anthropologisch orientierte Auffassung von der Wahrscheinlichkeit des Natürlichen Gottscheds Critische Dichtkunst stellt einen poetologischen Versuch dar, ästhetische Kategorien rational zu fundieren und ein wohlgeordnetes, enzyklopädisches, didaktisch angelegtes Kompendium zu Formen und Funktionen der Poesie anzubieten. Nach einem »Jahrhundert wortkunsttheoretischen Bemühens«19 auf deutschem Boden, und zwar ungefähr hundert Jahre nach der Veröffentlichung von Martin Opitz’ Buch von der deutschen Poeterey (1624), nimmt sich Gottsched vor, im heterogenen Bereich dichterischer Modelle und Vorschriften Ordnung zu schaffen. Ausgangspunkt des anspruchsvollen, die Erziehung der deutschen ›Muse‹anstrebenden Projektes20 ist eine strikte Selektion von zumeist klassischen und französischen literarischen Vorbildern, an denen sich einheimische Dichter für ihr Schaffen imitativ orientieren sollten. Getroffen wird die Auswahl auf der Basis eines Prinzips weder inhaltlicher noch stilistischer, sondern logischer Natur, wodurch zunächst die zu empfehlenden Musterwerke und dann selbst die sich danach richtenden poetischen Hervorbringungen der Deutschen auf ihre Konsistenz geprüft werden sollten. Aus Mangel an einem literaturspezifischen methodischen Instrumentarium, anhand dessen man die Parameter der Stringenz definieren konnte, greift der Leipziger Gelehrte – durch die Vermittlung der Philosophie Christian Wolffs – auf den mathematischen, sich auf Demonstration und Widerspruchsfreiheit stützenden Ansatz der entstehenden Naturwissenschaften zurück, dessen Verdienst es ist, die Naturwelt ihres theistischen Sinnes entleert und sie als komplexes System mechanischer Prozesse und kausaler Verhältnisse beschrieben zu haben. Physikalische und poetische Gesetze sind für Gottsched kaum voneinander zu unterscheiden, da Naturbezogenheit beide ›Wissenschaften‹ kennzeichnet. Es ist eben die Regelmäßigkeit des die Vollkommenheit Gottes widerspiegelnden Kosmos, die dafür bürgt, dass alle Erkenntnis, die der Mensch der Natur zu entnehmen im Stande ist, Ansprüche auf universelle Gültigkeit erhebt. In Gottscheds Worten: Die Regeln nämlich, die auch in freyen Künsten eingeführet worden, kommen nicht auf den bloßen Eigensinn der Menschen an; sondern sie haben ihren Grund in der unveränderlichen Natur der Dinge selbst; in der Uebereinstimmung des Mannigfaltigen, in der Ordnung und Harmonie. Diese Gesetze nun, die durch langwierige Erfahrung und vieles Nachsinnen untersuchet, entdecket und bestätiget worden, bleiben unverbrüchlich und feste stehen.21

Die maßgebliche Regel, die einerseits die Kohärenz der Poesie mit der Natur sichert und andererseits, aus kritischer Perspektive, eine methodisch adäquate Beurteilung der poetischen Nach-

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Bruno Markwardt: Geschichte der deutschen Poetik. Bd. 1. Barock und Frühaufklärung. Berlin 1956, S. 351. Im Titel der ersten und zweiten Ausgabe der Leipziger Dichtkunst wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich um eine Poetik »vor [für] die Deutschen« handelt. Diese Angabe entfällt in der dritten und vierten Auflage. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 1), S. 123.

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ahmung ermöglicht, ist für Gottsched die ›Ähnlichkeit‹.22 Dem Ähnlichkeitsgebot kommt, wie Preisendanz festgestellt hat, »ein fundamentaler ästhetischer Wert« zu bei der »Forderung der zwischen Fiktion und Wahrheit vermittelnden Wahrscheinlichkeit«.23 Gottsched versteht nämlich unter dem Begriff der poetischen Wahrscheinlichkeit »nichts anders, als die Aehnlichkeit des Erdichteten, mit dem, was wirklich zu geschehen pflegt; oder die Uebereinstimmung der Fabel mit der Natur.«24 Naturbezug fungiert also als Garantie für die logisch-inhaltliche Struktur der Fabel und ferner für die Wirksamkeit der moralisch eingestellten Entwürfe des Dichters im Rezeptionszusammenhang. Von hier aus lässt sich bei Gottsched auf eine empirisch angelegte Grundkonzeption der Poetik schließen. Wo es dem Leipziger um die Umgrenzung des dichterischen Handlungsbereiches geht, steht das Ideal der ›Naturebenbildlichkeit‹ Modell. Die daraus resultierende Verankerung des Literaturwerkes in der weltimmanenten Logik impliziert eine restriktive Interpretation des Nachahmungssatzes, bei der Geordnetheit, Endlichkeit und Widerspruchsfreiheit zu Maßstäben für die Einschränkung des kreativen Potentials des Dichters auf die Ebene der rational(istisch)en Sinnkonstitution werden. Die Beziehung zwischen dem Wahrscheinlichen der Poesie und dem natürlichen Wahren findet im Rahmen eines aposteriorischen, mimetischen Empirismus ihre Rechtfertigung. Als Schüler Wolffs entwickelt Gottsched einen sachbezogenen Kunstbegriff, mit dem eine Aufwertung des induktiven Verfahrens der Begriffsgewinnung unmittelbar zusammenhängt. In diesem Rahmen gilt das Natursystem als universelle regulative und normative Autorität; es bildet den zureichenden Horizont aller menschlichen Erkenntnis, sodass jegliche Erdichtung demzufolge einer intellektuellen Derivation aus Naturvorbildern gleicht. Dem poetischen Darstellungspotential werden dadurch enge Grenzen gesetzt, was die Erforschung möglicher Welten angeht. Unmittelbare Folge von »Gottscheds Orientierung an der ›Logik der Sachen‹«,25 die vom Leipziger auf die Dimension des Geistes übertragen wird, ist die Eindämmung aller am ästhetischen Urteil beteiligten vermögenspsychologischen Funktionen.26 Entsprechend kommt es bei Gottsched zu einer Herabsetzung der Einbildungskraft, des eigentlichen organon aestheticum des Dichters auf die Ebene der erkenntnisgesteuerten Herleitung. Der Poet kann »nur soviel über seine Einbildungskraft beschreiben […], als er über ein Wissen von dem Sachverhalt verfügt. […] Die erkenntnisstiftende Leistung der Einbildungskraft bleibt also an die Instanz des Wissens, genauer: an die normativ-deduktiven Bestimmungen der Gegenstände, auf die sie sich erkennend, erinnernd und assoziierend bezieht, gebunden«.27 Selbst die Zulässigkeit des Wun22

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Das psychologische Vermögen, durch das man »die Aehnlichkeiten der Dinge leicht wahrnehmen, und also eine Vergleichung zwischen ihnen anstellen kann« (ebd., S. 102), ist der Witz. Dazu vgl. Horst-Michael Schmidt: Sinnlichkeit und Verstand. Zur philosophischen und poetologischen Begründung von Erfahrung und Urteil in der deutschen Aufklärung (Leibniz, Wolff, Gottsched, Bodmer und Breitinger, Baumgarten). München 1982, S. 106–113. Wolfgang Preisendanz: Die Auseinandersetzung mit dem Nachahmungsprinzip in Deutschland und die besondere Rolle der Romane Wielands (Don Sylvio, Agathon). In: Nachahmung und Illusion. Hg. von Hans Robert Jauß. München 1964, S. 72–93, hier S. 74. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 1), S. 198. Schmidt: Sinnlichkeit und Verstand (s. Anm. 22), S. 103. Für eine detailliertere Darstellung der erkenntnispsychologischen Aspekte der Ästhetik Gottscheds siehe den Beitrag von Dagmar Mirbach in diesem Band. Schmidt: Sinnlichkeit und Verstand (s. Anm. 22), S. 100f.

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derbaren,28 d. h. der rhetorischen Einkleidung poetischer Gegenstände in Form des »Ungemeinen«,29 um das Publikum durch das Ergötzen zu belehren,30 unterliegt für Gottsched dem Gebot der ›Sparsamkeit‹. Die Tatsache, dass viele Werke der schöngeistigen Literatur Zusammensetzungen von Figuren und Bildern enthalten, die über die Grenze des Wahrscheinlichen hinausgehen, begründet Gottsched, dies jedoch nicht billigend, durch den Verweis auf die Unaufgeklärtheit älterer Zeiten, als man keine genaue Vorstellung von der Naturlogik hatte. Da aber, stellt Gottsched fest, »[d]ie Welt […] nunmehr viel aufgeklärter [ist], als vor etlichen Jahrhunderten«, hat »[e]in heutiger Poet […] also große Ursache in dergleichen Wunderdingen sparsam zu seyn.«31 Die dem Naturbezug und der Naturlogik zuerkannte Priorität ist in der Dichtkunst kein philosophischer Selbstzweck; sie erfüllt vielmehr zweierlei Aufgaben: Durch die Engführung von Fiktion und deren methodischer Unterfütterung beabsichtigt Gottsched, ganz im Sinne des aufgeklärten Zeitgeistes, einerseits vor dem Entarten der Dichtung in den rhetorischen Schwulst des Marinismus zu warnen und andererseits irrational-dogmatische Spekulationen zu delegitimieren. Sowohl der »stilgeschichtlich charakteristische[r] Versuch der Abgrenzung vom Geschmack des Barockzeitalters«32 als auch die Präskription gegen alle mit dem mos mathematicus unvereinbaren Gedankenführungen ergeben sich unmittelbar aus der Wahrscheinlichkeitsklausel. In beiden Fällen geht es Gottsched nicht um die bloßen, abstrakten Prinzipien an sich – er hat im Gegenteil ganz konkrete ›Gegner‹ vor Augen. Einerseits opponiert er gegen die hyperbolische Überschwänglichkeit »des hofmannswaldauischen und lohensteinischen Geschmackes« des »verwöhnte[n] Schlesien[s]«;33 auf der anderen Seite argumentiert Gottsched auf die Diskreditierung von John Miltons Paradise Lost34 (1667) hin, dem zwischen Leipzig und Zürich poetologisch äußerst umstrittenen christlichen Epos, das in der Literaturfehde eine absolut zentrale Stelle einnimmt. Gottscheds Vorwurf gegen Milton betrifft die übertriebene Verwendung von Wunderbarem bei der Darstellung von Engeln und Teufeln, denn, fragt sich Gottsched, »wie kann eine Ab-

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Aspekte der Rhetorik in den Literaturtheorien von Gottsched und den Schweizern können hier nicht ausgeführt werden. Dazu vgl. Preisendanz: Die Auseinandersetzung mit dem Nachahmungsprinzip in Deutschland (s. Anm. 23), S. 75–80; Uwe Möller: Rhetorische Überlieferung und Dichtungstheorie im frühen 18. Jahrhundert. Studien zu Gottsched, Breitinger und G. Fr. Meier. München 1983, S. 39–43 und 66–70; Dietmar Till: Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2004, S. 394–432. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 1), S. 170. Die Maxime des »aut prodesse volunt aut delectare poetae« übernimmt Gottsched von Horaz (Ars poetica, V. 333). Erinnert sei nebenbei daran, dass Gottsched zur Eröffnung aller Ausgaben seiner Dichtkunst die Ars poetica abdrucken lässt. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 1), S. 183. Alt: Aufklärung (s. Anm. 10), S. 75. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 1), S. 138. Die erste deutschsprachige Übersetzung des Verlohrnen Paradieses (1732) ist Bodmer zu verdanken. Gottsched würdigt die Leistung des Zürchers herab, indem er in der Dichtkunst behauptet, dass Milton nicht nur »den englischen, ja durch seine Uebersetzungen auch den deutschen Geschmack zum Theile verderbet habe« (ebd., S. 141). Zu Bodmers Milton-Übersetzungen vgl. die umfangreiche Studie von Wolfgang Bender: Johann Jacob Bodmer und Johann Miltons ›Verlorenes Paradies‹. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 11 (1967), S. 225–267.

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schilderung gelingen, deren Originale man wenig, oder gar nicht kennet?«35 Diese in der Dichtkunst mehrmals wiederaufgenommene Kritik ist auf abstrakterer Ebene auf die Frage nach der poetischen Darstellbarkeit des Sakralen bzw. nach der Einsetzbarkeit von Bildern, Symbolen und Erzählstrukturen des Religiösen im Rahmen literarischer Kommunikation zurückzuführen, woran sich der Streit mit Zürich entzündet. Indem Gottsched die mathematisch-philosophische Methode auf das ästhetische Urteil überträgt und das Ähnlichkeitsparadigma zum Maßstab für die konsequente Reglementierung des poetischen Darstellungsvermögens macht, verliert die Offenbarung als poetischer Gegenstand unmittelbar ihren Sonderstatus der dogmatischen Unantastbarkeit. Wie Alt anmerkt, bildet »die Phantasiewelt Gottscheds […] einen übersichtlich strukturierten Kosmos aus, in dem die Dominanz der Vernunftordnung für klare Verhältnisse sorgt«:36 Stützt sich die erdichtete ›Falschheit‹ nicht auf einen empirischen Nachweis, so fällt sie in den Bereich des Möglichen und ist demnach aus logischer Sicht begründungsbedürftig. Alles über die Erfahrung Hinausgehende, seien es Motive profaner Mythologie oder »Geheimnisse der Religion«,37 sind für Gottsched in poetischen Texten aus dem Grund kaum zulässig, weil derartige Erdichtungen »über alle Vernunft, und folglich über alle Wahrscheinlichkeit sind.«38 Dass diesem Satz ein besonderer Wert zukommen sollte, lässt sich durch seine Placierung an einer Spitzenposition in der Critischen Dichtkunst, und zwar im allerletzten Abschnitt des VI. ›Hauptstücks‹ (Von der Wahrscheinlichkeit in der Poesie) des ersten Teiles, ablesen, da also, wo die einführende literaturontologische ›Abhandlung des Zubehörs zur Poesie‹ endet.39 Es ist, als handele es sich um eine Art pointierende Schlussbemerkung, wodurch ein für allemal der diesseitige, szientifische Charakter der Literatur bestätigt wird. Ganz im Geiste des Aufklärungszeitalters begrüßt Gottsched die Wolff zu verdankende »Scheidung der Bereiche von Philosophie und Theologie bei gleichzeitiger Begründung einer Vorrangstellung philosophischer Erkenntnis und Festschreibung einer philosophischen Theorie der Einordnung des gesellschaftlichen Bereichs in den naturgesetzlichen Weltzusammenhang«.40 Aufgeklärte Welt bzw. Zeit und Vernunft, auf die im Versuch einer Critischen Dichtkunst mehrfach Bezug genommen wird,41 bedeuten kulturelle Voraussetzungen für das neue Poesieverständnis im Rahmen der »mathematisch thematisierten Ontotheologie«.42 Indem »mit philosophischen Augen«43 an natürliche und menschliche Phänomene herangegangen wird, tritt der Gott, der »alles nach Zahl, Maaß und Gewicht geschaffen« hat,44 zurück; so35 36 37 38 39 40

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Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 1), S. 107. Alt: Aufklärung (s. Anm. 10), S. 75. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 1), S. 37. Ebd., S. 224. Die ›Hauptstücken‹ VII bis XII behandeln Aspekte der poetischen Rhetorik. Im zweiten Teil geht es um die Eigenschaften von Einzelgattungen. Cornelia Buschmann: Gesellschaft und Geschichte als philosophisches Problem bei Christian Wolff. In: Nuovi studi sul pensiero di Christian Wolff. Hg. von Sonia Carboncini und Luigi Cataldi Madonna. Hildesheim, Zürich 1992, S. 263–284, hier S. 272. Vgl. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 1), S. 170; 183 und 215. Dieter Kimpel: Christian Wolff und das aufklärerische Programm der literarischen Bildung. In: Christian Wolff. 1679–1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung. Hg. von Werner Schneiders. Hamburg 21986, S. 203–236, hier S. 212. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 1), S. 104. Ebd., S. 132.

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mit verabsolutiert sich die sich selbst, ohne transzendente Eingriffe zureichende Ordnung der »natürlichen Dinge«, die »an sich selber schön«45 sind. Die Literatur, die im Nachahmen dieser Ordnung ihre Vollendung erreicht, verwendet »Wahrheit, Tugend und Natur«46 als ihre Schlagworte und gewinnt im Zeichen der aufgeklärten Vernunft an Selbständigkeit – konkretes Wahrzeichen der »ideologische[n] Tendenz eines sich zum Religionsersatz aufwertenden aufklärerischen Selbstbewusstseins, dem der Erkenntnisstolz allemal besser zu Gesicht stand als die fromme Demut«.47 Die aus der methodischen Systematik hervorgehende Immanentisierung des poetischen Horizonts bewirkt eine Verschiebung des literaturtheoretischen Interesses zugunsten eines anthropologisierten Dichtungsbegriffes. Dadurch dass die Dogmen und Figuren des Überirdischen mit dem analytischen Verfahren inkompatibel sind und deshalb unvermeidlich dem Unwahrscheinlichkeitsverdikt anheimfallen, gelangt der Mensch ins Zentrum von Gottscheds Reflexion. Die Empfehlung des Leipziger Kunstrichters an die aufklärerisch und kritisch auszubildende Dichtergeneration ist in dieser Hinsicht unmissverständlich: Im Gegensatz zu denjenigen, die »ihre Träume und Hirngeburten in die Religion mengen«, bleiben »kluge Dichter […] bey wahrscheinlichen, das ist, bey menschlichen und solchen Dingen, deren Wahrscheinlichkeit zu beurtheilen, nicht über die Gränzen unsrer Einsicht geht.«48 Zum Programm poetischer Erziehung gehört demnach eine umfangreiche Menschenkenntnis, da sich infolge des Übergangs vom Offenbarungs- zum Erfahrungshorizont alles Humane zum privilegierten Nachahmungsgegenstand eignet: Vor allen Dingen aber ist einem wahren Dichter eine gründliche Erkenntniß des Menschen nöthig, ja ganz unentbehrlich. Ein Poet ahmet hauptsächlich die Handlungen der Menschen nach […]. Daher muß derselbe ja die Natur und Beschaffenheit des Willens, der sinnlichen Begierde, und des sinnlichen Abscheues in allen ihren mannigfaltigen Gestalten gründlich einsehen lernen.49

Es ist wichtig zuletzt hervorzuheben, dass Gottsched »gegen jeden Individualismus und Perspektivismus«50 dem Menschenbegriff, auf den er sich in der Critischen Dichtkunst kontinuierlich beruft, unter keinen Umständen subjektive Eigenschaften zubilligt. Der Grund hierfür ist offensichtlich: »So wenig wie der Weltbegriff der Metaphysik über das erkennende Subjekt bestimmt wird, so wenig thematisiert auch die poetische Fiktion die möglichen Welten als Erfahrungen des Subjektes in und von dieser Welt«.51 Durch Rückgriff auf den Gedanken, dass Schönheit (und demnach der Geschmack) »ihren festen und nothwendigen Grund in der Natur der Dinge« hat,52 meint Gottsched der bürgerlichen ›Vermehrung der Geschmacksträger‹ trotzen zu können, womit er sich in Anbetracht der von den Transformationen der Neuzeitgesellschaft ausgehenden Strukturveränderungen des Publikums konfrontieren musste.53 Wider einen 45 46 47 48 49 50 51 52 53

Ebd. Meine Hervorhebung. Ebd., S. 109, Anm. Kimpel: Christian Wolff und das aufklärerische Programm der literarischen Bildung (s. Anm. 42), S. 212. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 1), S. 224. Ebd., S. 107. Michael Hofmann: Aufklärung. Tendenzen – Autoren – Texte. Stuttgart 1999, S. 71. Schmidt: Sinnlichkeit und Verstand (s. Anm. 22), S. 116. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 1), S. 132. Literatursoziologische Aspekte der Poetik Gottscheds erörtert Hans Freier: Kritische Poetik. Legitimation und Kritik der Poesie in Gottscheds Dichtkunst. Stuttgart 1973, S. 86–92.

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unkontrollierten »ästhetischen Meinungspluralismus«54 bemüht er sich um eine Literatur, die von ständischen Verhältnissen, von individuellen bzw. Gruppeninteressen unabhängig ist; sie spricht eine ideale Leser- bzw. Kritikergemeinde an, welche nicht ideologische (politische oder religiöse) bzw. genealogische Zugehörigkeit, sondern »eine gesunde Vernunft«55 und die Fähigkeit zum kritischen Denken und Beurteilen kennzeichnet.

5. Religionsapologetische Wahrscheinlichkeit bei Bodmer und Breitinger Bereits anfangs wurde darauf hingewiesen, dass der Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung in Zürich durch fest etablierte reaktionäre Machtverhältnisse erheblich verlangsamt wurde. In sozialpolitischer Hinsicht war die Stadt »weiterhin unter der oligarchischen Herrschaft der Bürgerfamilien. Die Zensur lähmte die Spontaneität des Geistes, Rousseau war mit seinen Gedanken über Natur und Natürlichkeit gefürchtet, die Landbevölkerung ohne jegliche Rechte und der Geist in der Schule größtenteils repetierend verstaubt«.56 Dabei hatte die Kirche nicht nur wesentlichen Anteil an der weltlichen Macht; das gesamte kulturelle und schulische Leben trug ein religiöses Gepräge – es war in der Tat unumgänglich, dass in einer Stadt, in der »jeder fünfte Bürger ein Geistlicher« war, die »Bildung […] sich nur innerhalb der theologisch orientierten Gelehrsamkeit entwickeln konnte«.57 Selbst Bodmer und Breitinger waren der theologischen Elite der Stadt zugehörig und auf diese Weise ist ein gewisser Einfluss des Dogmatismus und des kirchlichen Konservativismus auf ihr theoretisches Werk nicht zu übersehen. So lassen sich m. E. die beiden schon genannten antigottschedianischen Schriften von 1740 (Bodmers Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie und Breitingers Critische Dichtkunst) als eine Art Apologie der traditionellen religiösen Metaphysik durch Mittel der Literaturkritik deuten. Um dies nachzuvollziehen, müssen wir nun einen Schritt zurück treten und die Wirklichkeit-Möglichkeit-Alternative aus Schweizer Sicht bedenken. Anstatt eine Hierarchisierung vorzunehmen, reagieren Bodmer und Breitinger auf die logisch-theologische Dichotomie durch die scharfe Absonderung der jeweiligen Geltungsbereiche von Seiendem und Seinkönnendem, um auf diese Weise eine Relativierung des Wahrheitsanspruchs der Naturordnung zugunsten der »möglichen Welt-Gebäuden«58 zu vollziehen. Es lautet nämlich bei Breitinger: »Was ins besondere die unsichtbare Welt der Geister ansiehet, so hat dieselbe zwar eben so viel Wahrheit und Würcklichkeit als die sichtbare, zumahl da sie den Grund und die Quelle aller Würcklichkeit in sich hat.«59 Hiervon ausgehend wird in der Zürcher Dichtkunst zwischen zwei Dimensionen der 54 55 56

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Ebd., S. 86. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 1), S. 108. Ursula Caflisch-Schnetzler: ›Fortgerissen durch sich…‹. Johann Caspar Lavater und Johann Heinrich Füssli im Exil. In: Schweizer im Berlin des 18. Jahrhunderts. Hg. von Martin Fontius und Helmut Holzhey. Berlin 1996, S. 82. Meyer: Restaurative Innovation (s. Anm. 7), S. 55. Breitinger: Critische Dichtkunst (s. Anm. 13), Bd. 1, S. 54. Ebd., S. 55f.

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Wahrheit unterschieden: historischem und poetischem Wahren,60 wobei deren Verhältnis im Vergleich zu Gottscheds Weltauffassung völlig umgekehrt wird. Die historische Wahrheit, zu der auch die philosophische Naturerkenntnis gehört, kann für die Schweizer aus dem einfachen Grund nicht zum Maßstab für die Darstellung des Möglichen erhoben werden, dass sie eine unwesentliche, nicht notwendige Naturerscheinung unter den unzähligen Weltstrukturen vertritt, welche »in der allesvermögenden Kraft des Schöpfers der Natur gegründet« sind.61 Wie Ernst Cassierer dargelegt hat, lässt die theoretische Begründung des Nachahmungsgebots bei den Schweizern einen wesentlichen Einfluss vonseiten der Metaphysik Leibniz’ erkennen, was ein gewisses ideologisches Misstrauen Wolffs Theologieskepsis gegenüber impliziert.62 Wider den eine begriffliche Aporie signalisierenden Gedanken, dass »an dentur veritates, quae sunt supra rationem, philosophia in dubio relinquit«,63 gewinnen die Schweizer »durch [die Leibnizsche Philosophie] die Möglichkeit, mitten in dem überlieferten Schema der Nachahmungstheorie, den Unterschied zwischen ›Natur‹ und empirisch-wirklichem Dasein, zwischen der poetischen ›Wahrheit‹ und der konkreten ›Wirklichkeit‹ der Dinge aufzurichten und festzuhalten«.64 Cassirer hebt in diesem Zusammenhang zu Recht den Naturbegriff hervor, kommt diesem doch vor dem Hintergrund des zwar harmonischen, jedoch innerlich heterogenen ontologischen Systems eine Sonderstellung zu: Natur, die die Schweizer im Vergleich zur norddeutschen Metaphysik in einem erweiterten Sinne fassen, und Wirklichkeit trennt eine konstitutive Differenz inhaltlicher und, was für die imitatio-Theorie wichtiger ist, methodischer Art. Natur (im weitesten Sinne) gilt hier als ein auf die Überwindung des Realen angelegter, alles Spirituelle bzw. Metaphysische umfassender Möglichkeitsraum, der »in [seinem] Inbegriffe Gott, die Engel, die Seelen der Menschen; ihre Gedancken, Meinungen, Zuneigungen, Handlungen, Tugenden, Kräfte«65 einschließt. Gott, den Breitinger nicht zufällig an die erste Stelle dieser längeren Auflistung setzt, stellt hier keine selbstverständliche Hintergrunderscheinung dar, sondern er wird zum allerersten Gegenstand dichterischen Handelns, »da […] die Nachahmung der Natur in dem Möglichen […] das eigene und Haupt-Werck der Poesie ist«.66 Dichten mündet also unmittelbar in die Erforschung eines im Theologischen verankerten Möglichen, in dessen spekulative Aktualisierung, Versprachlichung und Verständlichmachung. Die Frage ist nun, wie sich die ›Welt der Geister‹, deren »eigentliche und festgesetzte Wahrheit« in »der göttlichen Offenbarung gegründet ist«,67 unter Beachtung des Wahrscheinlichkeitsprinzips und also »von allem Widerspruch frey«68 literarisch repräsentieren lässt. Obwohl Bodmer und Breitinger den Vorrang der Verstandeskategorien nicht negieren, bewirkt die Lo60 61 62

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Ebd., S. 61. Ebd., S. 56f. Aus diesem Grund halte ich eine pauschale philosophische Zuordnung der Schweizer zu Wolff, wie Herrmann sie z. B. vornimmt, für unberechtigt und irreführend. Vgl. Hans Peter Herrmann: Naturnachahmung und Einbildungskraft. Zur Entwicklung der deutschen Poetik von 1670 bis 1740. Bad Homburg 1970, S. 254–264. Christian Wolff: Theologia naturalis methodo scientifico pretractata. Pars prior integrum systema complectens, qua exsistentia et attributa Dei a posteriori demonstrantur. Verona 1738, § 456. Ernst Cassirer: Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte. Berlin 21918, S. 109. Breitinger: Critische Dichtkunst (s. Anm. 13), Bd. 1, S. 55. Ebd., S. 57. Ebd., S. 55. Ebd., S. 56.

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ckerung des Naturbezugs die Loslösung der Nachahmungsvorschrift vom Joch des von Gottsched in zu engen Grenzen gezogenen Empirismus. Gerade weil im Gegensatz zum physikalischen Wissen die Erkenntnis der Substanz des Möglichen nicht im Akt sinnlicher Wahrnehmung stattfindet, ist die Wahrscheinlichkeit eines Textgebildes für die Schweizer nicht durch Rückgriff auf ein Ähnlichkeitskriterium zu beurteilen. Mathematisch-philosophische und theologische Wahrheit unterscheiden sich voneinander auch in der Methodik, denn Erstere basiert auf der Unmittelbarkeit des Beweises, Letztere hingegen auf der glaubenden Annahme eines geoffenbarten Wortes. In einer bisher völlig außer Acht gelassenen theologischen Abhandlung hat Breitinger diese für die helvetische Poetik fruchtbare erkenntnistheoretische Differenz zwischen Glauben und Wissenschaft weiterentwickelt und kam zum Schluss, Logik sei für das Begreifen der transzendenten Wahrheit unzureichend: [La science] a pour objet tout ce dont la connoissance dépend de preuves & de démonstrations: Elle conclut de principes certains; elle compare en suite, & juge du rapport qu’il y a entre les vérites qui en découlent. [La foi], au contraire a pour objet des Proportions, qui ne paroissent point liées immédiatement avec des verites, que la lumière naturelle nous dicte, par ce qu’on n’en sauroit démontrer l’indispensable vérité a priori, & à l’aide de principes de seule raison. Ainsi donc, la fermeté ou la certitude de la Foi n’a nullement pour baze l’évidence des Propositions mêmes qu’elle embrasse, puisque elle ne sauroit la decouvrir d’une façon immédiate.69

Da, wie gerade erläutert, aus Schweizer Perspektive behauptet wird, ›irdische‹ und poetische Wahrheit stünden zueinander in einem Diskontinuitätsverhältnis, werden beide zu unterschiedlichen Kategorien der Erkenntnis zugeordnet: dem Verstand einerseits und der Einbildungskraft andererseits. Durch die Einordnung des Poetischen in den Bereich der unteren Erkenntnisvermögen vollzieht sich eine Verschiebung des Akzentes auf eine prärationale Evaluation der künstlerisch zu vermittelnden Inhalte, mit konsequenter Relativierung der für Gottsched unerlässlichen, stringent vernunftbezogenen Ähnlichkeitsnorm. Ebenda, wo Breitinger unter solchen Voraussetzungen feststellt: »das Wahre des Verstandes gehöret für die Weltweißheit, hingegen eignet der Poet sich das Wahre der Einbildung zu«,70 oder da, wo Bodmer hinzufügt, dass poetische Bilder »nur den Sinnen und der Einbildung wahr scheinen [müssen], ob sie es gleich nach dem Urtheil des reinen Verstandes nicht sind«,71 wird der Grund offensichtlich, aus dem Gottsched mit einer literaturtheoretischen Position wie der der Schweizer nicht klarkommen konnte: Gottscheds Werk ist eben die Frucht der hier von Breitinger für poetische Zwecke für untauglich gehaltenen Weltweisheit. Wie Schneiders am Rande einer Einführung zu Christian Wolff anmerkt, setzt sich »die Weltweisheit der Aufklärer […] erst einmal von der Gottesgelehrtheit ab und nimmt damit das Odium an sich, nur eine Weisheit von dieser Welt zu sein. Sie handelt zwar nicht nur von dieser Welt, sondern auch von Gott, immer aber auf weltliche Weise, d. h. der betonten Absicht nach ohne Rekurs auf die Heilige Schrift«.72 Eine solche Vergegenständlichung Gottes können sich Bodmer und Breitinger im Rahmen von »kleinstädtischen 69 70 71 72

Johann Jacob Breitinger: Examen des lettres sur la religion essentielle &c. Dans lequel on discute les principes, qu’il faut employer pour déterminer l’essence de la religion. Zürich 1741, S. 62f. Breitinger: Critische Dichtkunst (s. Anm. 13), Bd. 1, S. 139. Bodmer: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie (s. Anm. 18), S. 151. Werner Schneiders: Deus est philosophus absolute summus. Über Christian Wolffs Philosophie und Philosophiebegriff. In: Christian Wolff. 1679–1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung (s. Anm. 42), S. 9–30, hier S. 10.

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Verhältnissen mit ungebrochener Kirchenherrschaft«73 aus ideologischen Gründen nicht leisten. Daraus entspringt ihre Absicht, durch poetische Mittel die Weltweisheit, deren Prinzipien und Methoden in ihrer Relevanz einzuschränken, aber ohne sowohl eine unkontrollierte Wucherung der poetischen Spekulation zulassen zu wollen, als auch auf eine mit der Gotteslehre kohärente Disziplinierung der Normen zu verzichten. In anderen Worten heißt dies, der Dichter ist berechtigt, den Blick in die metaphysische Dimension zu richten und Konstruktionen des Phantastischen zu entwerfen, welche jedoch gewisse (orthodoxe) Prinzipien zu erfüllen haben – Prinzipien, die offensichtlich die Schweizer nicht mit Gottsched gemeinsam haben. Auf welcher Basis sind nun die Leitsätze der Kunst aufgebaut? Die Erwählung des die Schranken des Tatsächlichen transzendierenden Wahren der Phantasie zum Gegenstand der nachahmenden Leistung der Dichters hat direkte Auswirkungen auf die Neubestimmung des Wahrscheinlichkeitskriteriums. Als Ersatz des empirischen Beweises rücken auf Affekt eingestellte poetologische Prinzipien in den Vordergrund. Das Innovative am literaturtheoretischen Unternehmen der Schweizer besteht hauptsächlich in dem Bemühen darum, die Wahrscheinlichkeit des literarisch Dargestellten weder an die Natur selbst im Sinne vom Objekt der Darstellung noch an die Vernunftprinzipien zu binden, unter Beachtung derer der Dichter handelt, sondern an die ›Logik der Phantasie‹,74 d. h. an die Erkenntnispsychologie des lesenden Publikums. Die Einbildungskraft wird demnach nicht auf die Ebene der bloßen Kombinatorik reduziert, wie es beim Leipziger der Fall war. Ihr kommen vielmehr zweierlei Funktionen zu: »Sie ist nicht nur von maßgeblicher Bedeutung als Vermögen des Poeten zu erdichten, neue idealische Welten zu entwerfen, sondern sie fungiert in gleicher Weise als das zentrale Erkenntnisvermögen, das als Adressat des Rezipienten angesprochen wird«.75 Da die Phantasie-Logik den Kontakt zwischen Kunstproduzenten und -rezipienten ermöglicht und demzufolge als grundsätzliches Instrument für die Realisierung poetischer Kommunikation gilt, wird die Prüfung der Angemessenheit der poetischen ›Schildereyen‹ von ihr abhängig gemacht. Der methodische Hinweis darauf, dass »das Wahrscheinliche […] demnach von der Einbildung beurtheilet werden [muß]«,76 bedeutet einen »Einspruch gegen das Exklusivrecht rationalistischer Evaluationsmuster« und einen Appell »an die Urteilskraft des Publikums als Mittel zur Einschätzung der Glaubwürdigkeit und der Annehmbarkeit der Produkte poetischen Einbildungsvermögens«.77 Da die Qualität des Kunstwerkes nicht mehr an einer naturbezogenen Werteskala, sondern am Grad der seelischen Betroffenheit des Rezipienten gemessen wird, ist der Dichter dazu veranlasst, sich in die Einbildungskraft des Publikums hineinzuversetzen und von da heraus die Natur des Möglichen zu erdichten.78 73 74 75 76 77 78

Gisbert Lepper, Jörg Steitz und Wolfgang Brenn: Einführung in die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts. Bd. 1. Unter dem Absolutismus. Opladen 1983, S. 101. Johann Jacob Breitinger: Critische Abhandlung von der Natur, den Absichten und dem Gebrauche der Gleichnisse. Zürich 1740, S. 9. Schmidt: Sinnlichkeit und Verstand (s. Anm. 22), S. 140 Breitinger: Critische Dichtkunst (s. Anm. 13), Bd. 1, S. 138. Tomas Sommadossi: ›Mögliches‹, ›Neues‹ und ›Wunderbares‹ in Johann Jakob Breitingers ›Critischer Dichtkunst‹ (1740). In: Scientia poetica 12 (2008), S. 44–68, hier S. 62. Dies steht in radikalem Gegensatz zu Gottscheds Behauptung: »So müssen sich denn die Poeten niemals nach dem Geschmacke der Welt, das ist, des großen Haufens, oder des unverständigen Pöbels richten« (Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst [s. Anm. 1], S. 135).

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Der Miteinbezug des Lesers, den Gottsched für eine passive, keinerlei Einfluss ausübende Instanz hält,79 in die literarische Reflexion, bildet den ersten Schritt für die Rechtfertigung der literarischen Inszenierung von religiösen Motiven. In diesem Bezug entwickelt Breitinger eine Argumentation in zwei Zügen: Zunächst wird, wie oben erläutert, die Wahrscheinlichkeit im Sinne einer Übereinstimmung der poetischen Fabel mit der Natur bestimmt, aber nicht wie diese ist, sondern wie sie vom urteilenden Subjekt wahrgenommen wird. Darauf aufbauend – zweiter Zug – werden fünf Grundsätze der Wahrscheinlichkeit angeführt, »auf welche [die Einbildung] ihr Urteil gründet«;80 dass der Glaube zu diesem Kriterienkatalog gehört, sollte keine Überraschung sein, versteht sich dieser doch – wie wir gleich sehen werden – als zweckmäßiges Argument, um jenseits jeglicher logischer Begründung das ›Wahr-Scheinen‹ von christlichen Fiktionen zu sichern. Im Zusammenhang mit diesen zwei nun zu erörternden Aspekten wird sich zeigen, inwiefern die affektive Umfunktionalisierung der Naturnachahmung zur Legitimierung einer konfessionellen Identität beiträgt. Wahrscheinlich und demnach literarisch zulässig ist nach Breitingers Ausführungen alles, was nicht von einem andern widerwärtigen Begriff, oder für wahr angenommenen Satze ausgeschlossen wird, was nach unsren Begriffen eingerichtet zu seyn, mit unsrer Erkenntniß und dem Wesen der Dinge und dem Laufe der Natur übereinzukommen, scheinet; hiemit alles, was in gewissen Umständen und unter gewissen Bedingungen nach dem Urtheil der Verständigen möglich ist, und keinen Widerspruch in sich hat.81

Entsprechend dieser Definition sind die künstlerischen Abbildungen nicht nach einem empirischen Modell zu bewerten, sondern nach den Eindrücken, die »die Sachen […] auf die Phantasie und das menschliche Gemüthe machen.«82 Auf diese Weise laufen auch poetische Bilder aus der »unsichtbaren Welt der Götter und Geister«,83 deren konkrete Urbilder dem Menschen verschlossen bleiben, keine Unwahrscheinlichkeitsgefahr – Gottsched zum Trotz. Offensichtlich ist der Zürcher Poesiebegriff, der sich aus dem »Spannungsverhältnis zwischen Bild und Wahrheit«84 speist, im Vergleich zum Gottschedschen »mehr psychologisch als ontologisch«85 eingestellt, denn da wird erkenntnispsychologische Kompetenz zur conditio sine qua non des Dichtens. Das zweidimensionale Bezugssystem Gottscheds, bei dem der Poet auf die zweipolige Maxime des prodesse und delectare hingewiesen wird, wird nun um das officium des movere, des Rührens ergänzt. Davon ist selbst das Schönheitskonzept betroffen: Während Gottsched »die Schönheit eines künstlichen Werckes« an »der Natur der Dinge« festmachen möchte,86 begrei79

80 81 82 83 84 85 86

Da die Leipziger Regelpoetik es sich zum Ziel setzt, die ganze Abwicklung der poetischen Kommunikation von Anfang bis Ende, also von der auktorialen Aussage bis hin zur Reaktion des Lesers, systematisch vorzubestimmen, kann es auch »keine Zugeständnisse an einen wie auch immer gearteten Publikumsgeschmack und keine publikumsspezifischen Differenzierungen in der Bestimmung dessen geben, was als schön zu gelten hat«. Angelika Wetterer: Publikumsbezug und Wahrheitsanspruch. Der Widerspruch zwischen rhetorischem Ansatz und philosophischem Anspruch bei Gottsched und den Schweizern. Tübingen 1981, S. 147. Breitinger: Critische Dichtkunst (s. Anm. 13), Bd. 1, S. 138. Ebd., S. 134. Meine Hervorhebungen. Ebd., S. 80. Ebd., S. 128. Preisendanz: Die Auseinandersetzung mit dem Nachahmungsprinzip in Deutschland (s. Anm. 23), S. 79. Ferdinand Josef Schneider: Die deutsche Dichtung der Aufklärungszeit. Stuttgart 1948, S. 111. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 1), S. 132.

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fen die Schweizer »unter dem Nahmen des poetischen Schönen alles […], was das Gemüthe des Lesers durch die poetische Vorstellung entzüket, und mit einem süssen Ergetzen erfüllet.«87 Die Tatsache, dass »die zentrale Kategorie des poetisch Schönen von Breitinger im Sinne einer spezifischen Erscheinungsform der Wahrheit erklärt [wird], die […] sich insbesondere an das sinnliche Vorstellungsvermögen des Kunstbetrachters richtet«,88 belegt die Deklassierung des Naturbezugs als Indikators der Vollkommenheit der Dichtung. Trotz des Perspektivenwechsels lässt sich jedoch bei den Schweizern genauso wenig wie bei Gottsched auf eine Aufwertung individualistischer Faktoren schließen. Aus dem Bewusstsein, dass »die Urtheile der Menschen von dem […] Wahrscheinlichen sehr ungleich und unterschiedlich« sind,89 sehen sich die Schweizer vor die Notwendigkeit gestellt, ein ›pluralisches‹ Korrektiv gegen den subjektivischen Wildwuchs der Bilder der Einbildungskraft einzuführen. Die entsprechende Richtlinie lautet wie folgt: Der Poet »muß darum, seine Freyheit zu erdichten, wenigst nach dem Wahne des grösten Haufens der Menschen einschräncken, und nichts vorbringen, als was er weiß, daß es schon einigermaassen in demselben gegründet ist.«90 Literatur wird demnach nicht als private Angelegenheit angesehen, sondern sie kann nur innerhalb eines sozialen Kontextes funktionieren; der Rezipientenkreis als Gruppe mit einem ›homogenen‹ Erwartungshorizont (deshalb ist von einem »allgemein angenommenen Wahn« die Rede)91 steigt zum maßgeblichen Urteilsträger auf, welch mehr oder weniger aufgeklärte ästhetische Modelle dieser auch immer haben möge.92 Was die Wahrscheinlichkeit betrifft, spricht insofern nichts gegen die Literarisierung von all dem, »was bey einem grossen Haufen der Menschen Glauben gefunden hat, und eine Zeitlang von einem Geschlechte zu dem andern fortgepflanzet worden.«93 So ist der Schluss auf religiöses Bild- und Gedankengut immediat: Es ist genug, daß eine Erdichtung auf ein angenommenes Systema einer Religion, […] [eines] Wahnes, Betruges der Sinnen, oder der Phantasie gebauet werde. Wenn hernach nur alle Umstände in derselben unter sich zusammenhangen, so bekömmt sie eben so viel Wahrscheinlichkeit, als das Systema, worauf sie sich bezieht, selber in sich hat, oder ein Leser selbigem in seinen Gedancken einräumt.94

Somit ist die Dignität des Theologischen im literarischen Diskurs gesichert und Milton verdient bei Bodmer die Erhebung »in den Rang dieser sonderbaren Menschen […], welche auf der Leiter der Wesen zu oberst unter den Menschen stehen, und gleich über sich diejenigen Geister

87 88 89 90 91 92

93 94

Breitinger: Critische Dichtkunst (s. Anm. 13), Bd. 1, S. 123. Möller: Rhetorische Überlieferung und Dichtungstheorie im frühen 18. Jahrhundert (s. Anm. 28), S. 67. Breitinger: Critische Dichtkunst (s. Anm. 13), Bd. 1, S. 140. Ebd., S. 137. Ebd., S. 338. Mit dem Publikumsbezug hängt die Relativierung und Historisierung der ästhetischen Kategorie des Geschmacks zusammen. Darauf machen Kowalik und Gisi aufmerksam, bei denen von ›historical perspectivism‹ bzw. ›historischem Relativismus‹ die Rede ist. Vgl. Jill Anne Kowalik: The Poetics of Historical Perspectivism. Breitinger’s ›Critische Dichtkunst‹ and the Neoclassic Tradition. Chapel Hill (NC) 1992, S. 84–86; Lucas Marco Gisi: Einbildungskraft und Mythologie. Die Verschränkung von Anthropologie und Geschichte im 18. Jahrhundert. Berlin, New York 2007, S. 67–79. Breitinger: Critische Dichtkunst (s. Anm. 13), Bd. 1, S. 138. Sammlung critischer, poetischer und andrer geistvollen Schriften. Hg. von Johann Jacob Bodmer und Johann Jacob Breitinger. 6. Stück. 1742, S. 69, zitiert nach: Gisi: Einbildungskraft und Mythologie (s. Anm. 92), S. 70.

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haben, die zuerst vom Cörper frey sind.«95 Die Glaubensklausel liefert die vollendete Bestätigung jenes christlichen Wunderbaren, das Gottsched seinerseits wiederholt anprangert und herabsetzt als einen groben Verstoß wider das Ähnlichkeitsgesetz. Religiösem Stoff kommt ein Recht auf Ästhetisierung zu, indem er jenseits allen Begründungszwangs von einer Menschengemeinschaft für inhaltlich wahrhaftig, strukturell widerspruchslos und moralisch vorbildlich gehalten wird. Es liegt auf der Hand, dass die Zürcher die idealisierte Publikumsauffassung Gottscheds zurückweisen, der die Verfügbarkeit einer kritischen, aufgeklärten und der Naturlogik kundigen Öffentlichkeit als Prinzip voraussetzte.96 Aus konfessionellen Gründen reagieren Bodmer und Breitinger auf eine universalistische Auffassung von Literatur: Indem die Glaublichkeitsnorm auf die Rezipienten projiziert wird, differenzieren die Schweizer den Publikumsbezug aus und kommen somit zu einer »inspirierten Dichtungslehre […], die auf ein christliches Publikum angewiesen ist«.97 Dies erklärt, warum Bodmer seine Abhandlung von dem Wunderbaren, jenes umfangreiche Plädoyer für die Verteidigung von Miltons religiösem Epos, nicht an eine unspezifische Allgemeinheit aufgeklärter Kritiker, sondern an ihm gleichgesinnte »christliche[n] Leser«98 richtet: Nur unter gewissen konfessionellen Voraussetzungen, wo eine Empathie zwischen Autor und Adressatenkreis unter der Ägide der demütigen Ergebenheit im Glauben gegeben ist, können »die Handlungen und Personen Miltons aus der unsichtbaren Welt« als »nicht nur möglich und wahrscheinlich«, sondern als »in ihrem Grund würcklich« gelten.99 Die Dissoziation des Wahrscheinlichkeitssatzes vom vernünftigen Naturbezug und die Liberalisierung der Einbildungskraft in Hinblick auf die Konstruktion dichterischer Welten dient den Schweizern also als Mittel zum Zweck zur Sicherung der Autorität der Offenbarung im Zusammenhang eines auf »kirchlicher Tradition und theologischer Zensur«100 beruhenden Gesellschaftssystems. Die Kreativität des Dichters ist im Umgang mit der Wahrheit der Phantasie, die im Zentrum der Zürcher Poetik steht, unter keinen Umständen die theologische Grenze zu überschreiten berechtigt. Während einerseits die Relativierung des naturwissenschaftlichen Weltbezugs zugunsten der möglichen Welten einen dynamischeren Erfindungsraum hervorbringt, bleibt der Gottesbezug andererseits als Vorschrift für die Selbstzensur des Dichters und die konservative Anpassung des Literaturwerkes an die bestehende Ordnung weiterhin bestehen, sodass »nur innerhalb eines in Zürich nach wie vor für gesichert gehaltenen Rahmens konfessioneller Tradition und sozialer Stabilität die Phantasie […] ›frei‹ [ist]«.101

95 96 97 98 99 100 101

Bodmer: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie (s. Anm. 18), S. 10f.. Vgl. Freier: Kritische Poetik (s. Anm. 53), S. 92–105; Wetterer: Publikumsbezug und Wahrheitsanspruch (s. Anm. 79), S. 100f. Meyer: Restaurative Innovation (s. Anm. 7), S. 64. Bodmer: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie (s. Anm. 18), S. 63. Ebd., S. 41. Meyer: Restaurative Innovation (s. Anm. 7), S. 65. Ebd., S. 76.

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6. Fazit Darauf, dass im Kampf zwischen Schweizern und Sachsen Erstere die Oberhand haben, wird in der Literatur quasi selbstverständlich hingewiesen. Diese Beurteilung der Fehde ist m. E. dann zu bejahen, wenn man aus literaturhistorischer Perspektive an den Streit herangeht: Die Intuitionen der Schweizer haben die Empfindsamkeit vorweggenommen und mehr oder weniger direkt bis in die Frühromantik hinein weitergewirkt. Möchte man aber das eigentliche Innovationspotential der zwei Theorien nicht diachronisch, sondern synchronisch evaluieren, dann sollte man, scheint mir, den Vorsprung der Zürcher nicht pauschalisieren. Trotz der etwas pedantischen normativen Einstellung der Leipziger Dichtkunst besteht die Leistung Gottscheds im Zeichen aufklärerischen Denkens in einer Art poetischer ›kopernikanischer Wende‹. In Anlehnung an eine Metaphysik, die »der Offenbarung eine säkularisierte Vernunft an die Seite stellt und den Naturbegriff als Projektionsfeld irdischer, gesellschaftlicher Vorstellungen benutzt«,102 gerät der Mensch ins Zentrum der ästhetischen Reflexion. Ihm, seinem Verstandesvermögen, seiner – mit einem Schlagwort der deutschen Aufklärung – ›Mündigkeit‹ ist die kritische Beurteilung des Literaturwerkes anvertraut, denn dieses wirkt wiederum im Dienste des Sozialethos und des allgemeinen Interesses. Die Subsumierung von Ästhetik, Moral und Wahrheit unter die das Natursystem widerspiegelnden Vernunftprinzipien mündet unmittelbar in die Infragestellung des Erkenntniswertes des Glaubens. Zwischen Natur und Gott wird eine scharfe Demarkationslinie gezogen und der Literatur Erstere als ausschließlicher Handlungsbereich vorgeschrieben. Die Poetik der Schweizer erweist sich hingegen als ein Versuch, ästhetisches Urteil und religiösen Glauben im Zeichen der christlichen Orthodoxie zu harmonisieren. Trotz der theologischen Grenze, die zu überschreiten Poeten keinerlei Anspruch erheben dürfen, geraten die zwei Gelehrten »recht nahe an den Punkt, wo nicht mehr primär die beim inneren Konfrontieren von dichterischer Vorstellung und Natur der Dinge wahrgenommene Ähnlichkeit, sondern schon fast die vollendete Illusion zum Delektierenden der Nachahmung wird«.103 In diesem Sinne nimmt die Ästhetik von Bodmer und Breitinger, mit Tisch, eine Zwischenstellung ein »between a progressive impetus, the enunciation of vitalizing aesthetic ideas whose stimulus inaugurated a new era, and the relative inertia of theological and devotional traditions«.104 Einschlägige Studien, die bei paralleler Berücksichtigung von Säkularisierungsprozess und Dichtungsgeschichte des 18. Jahrhunderts systematisch darauf eingehen, ob sich die Poetik der Schweizer eher aus der Perspektive der Restauration oder der Innovation erfassen lässt, bleiben nach wie vor ein Desiderat. Resümierend kann man wohl sagen, dass Gottscheds Bemühen um eine rationale Fundierung der Ästhetik u. a. darauf abzielte, mittels der argumentativen Kritik die Kontinuität eines poetische Erzählstrukturen und Darstellungsformen prägenden religiösen Gefühls aufzubrechen, dem ihrerseits Bodmer und Breitinger im Zeichen der Tradition eine Stimme verliehen. 102 103 104

Ebd., S. 61. Preisendanz: Die Auseinandersetzung mit dem Nachahmungsprinzip in Deutschland (s. Anm. 23), S. 75. John Hermann Tisch: ›Poetic Theology‹. ›Paradise Lost‹ between Aesthetics and Religion in 18th Century Switzerland. In: Revue de littérature comparée 49 (1975), S. 270–283, hier S. 283.

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Nach der Mitte des 18. Jahrhunderts, als »die Philosophie selbst wesentlich spekulative Theologie wurde«105 und die Literatur sich zunehmend prophetische Eigenschaften aneignete (siehe das Beispiel Wieland), war Gottscheds Aufruf zum kritischen Dichten zur Vergessenheit verurteilt. Ein kleiner Trost ist aber, dass die Abneigung der Poeten-Propheten gegen Gottsched genauso radikal war wie die Gottscheds gegen die Propheten, welche, soweit nachgewiesen, »auch treffliche Dinge sagten, aber selbst dasjenige nicht verstünden, was sie redeten.«106

105 106

Schneiders: Deus est philosophus absolute summus (s. Anm. 72), S. 10. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 1), S. 172.

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Die Geburt der gereinigten Schaubühne aus dem Geist des Aischylos Gottscheds Theaterpoetik

1. Thomas Mann schrieb 1908 in seinem Versuch über das Theater: Uns Deutschen ist eine Ehrfurcht vor dem Theater eingeboren, wie keine andere Nation sie kennt. Was dem übrigen Europa eine gesellige Zerstreuung ist, ist uns zum mindesten ein Bildungsfaktor. Noch neulich hat der deutsche Kaiser gegen eine französische Schauspielerin geäußert: Wie die Universität die Fortsetzung des Gymnasiums sei, so sei uns die Fortsetzung der Universität das Theater.1

Es soll im Folgenden darum gehen, einen Blick auf die historischen Wurzeln dieser »Ehrfurcht« zu werfen, die dazu führte, im Theater einen »Bildungsfaktor« zu sehen und womöglich sogar die Vorstellung vom – so Thomas Manns Bezeichnung – »Theater als Tempel« in Deutschland evozierte.2 Befragt man die nationale Theatergeschichte nach den Gründen für diese seltsame Reputation einer mystifizierten, von einer sakralen Aura umgebenen öffentlichen Bildungsinstitution, so gewinnen die Bühnenverhältnisse des 18. Jahrhunderts und insbesondere der Gottsched-Ära an Kontur. Auf der Leipziger Herbstmesse 1724 hatte der vierundzwanzigjährige Gottsched ein Initialerlebnis im Hinblick auf sein breit angelegtes Theaterreformprojekt, das Dramentheorie und -praxis ebenso umfasste wie Theatertheorie und -praxis samt Schauspielkunst, Kostümkunde, Dekorationen, Requisiten, Bühnenbild, Vorhang, Bühnenform, Zuschauerraum, Maschinerie, Beleuchtung, Musik, die Verbesserung des sozialen Status’, der Bildung und materiellen Situation der Komödianten etc.3 In seinem ersten Jahr in Leipzig besuchte Gottsched die Aufführungen der dort gastierenden renommierten »Sächsischen Teutschen 1 2 3

Thomas Mann: Versuch über das Theater (1908). In: ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Bd. 10. Reden und Aufsätze 2. Frankfurt a. M. 1990, S. 23–62, hier S. 49. Ebd., S. 50. Zu Gottscheds Theaterreform liegen zahlreiche Studien vor. Hingewiesen sei hier nur auf Werner Rieck: Johann Christoph Gottsched. Eine kritische Würdigung seines Werkes. Berlin 1972, S. 131–142; Roland Krebs: L’Idée de ›Théâtre National‹ dans L’Allemagne des Lumières. Théorie et réalisations. Wiesbaden 1985, S. 1–118; Rudolf Münz: Theater im Leipzig der Aufklärung. In: Zentren der Aufklärung III. Leipzig. Aufklärung und Bürgerlichkeit. Hg. von Wolfgang Martens. Heidelberg 1990, S. 169–178; Detlef Döring: Johann Christoph Gottsched in Leipzig. Ausstellung in der Universitätsbibliothek Leipzig zum 300. Todestag von J. Chr. Gottsched. Stuttgart, Leipzig 2000, S. 89–98.

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Hof-Comödianten«. Wie er sich in der »Vorrede« seines 1730 geschriebenen Trauerspiels Cato rückblickend erinnert, glich das Spiel der von Karl Ludwig Hofmann geleiteten Schauspielergesellschaft »einer regellosen Vorstellung der seltsamsten Verwirrungen«.4 Gottscheds Verdikt gipfelt in seiner Beschreibung des Repertoires, das durchaus als repräsentativ für das deutschsprachige Wandertheater der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gelten darf: Lauter schwülstige und mit Harlekins Lustbarkeiten untermengte Haupt- und Staatsaktionen, lauter unnatürliche Romanstreiche und Liebeswirrungen, lauter pöbelhafte Fratzen und Zoten waren dasjenige, so man daselbst zu sehen bekam.5

Vor dem Hintergrund dieser düsteren Einschätzung mutet es geradezu abenteuerlich an, daß der damalige Privatlehrer, Bibliothekar und Habilitand Gottsched sich der gewaltigen Aufgabe zuwandte, die übel diskreditierte Schaubühne, die ein Odium des Unmoralischen umgab, offenbar Sinnenlust aktivierte und auf moralische Belehrung verzichtete, zu reformieren. Es ist also insbesondere danach zu fragen, was die Attraktivität des Theaters für ihn ausmachte. Überblickt man alle Publikationen, in denen Gottsched seine Theaterpoetik oder – wie er sie nannte – »theatralische Poesie«6, verstanden als Synthese von Dramen- und Theatertheorie, darlegte, dann fällt auf, dass die ästhetischen Leitlinien für das Drama und die Schaubühne bereits in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre des 18. Jahrhunderts fixiert waren. In zwischen 1725 und 1729 verfassten Texten breitete Gottsched seine theaterpoetischen Anschauungen aus, die bis zu seinem Tod 1766 bemerkenswert konstant blieben und sich nicht mehr innovativ weiterentwickelten und differenzierten, sondern allenfalls hier und da marginale Abrundungen erfuhren. Seine Theaterpoetik führte er erstmals in seinen frühen Moralischen Wochenschriften aus, in Die Vernünftigen Tadlerinnen (1725–1726) und Der Biedermann (1727–1729).7 1729 hielt Gottsched vor der ›Deutschen Gesellschaft‹ in Leipzig seine programmatische Rede Die Schauspiele, und besonders die Tragödien sind aus einer wohlbestellten Republik nicht zu verbannen. Vordatiert auf 1730 erschien 1729 die Erstausgabe des Versuchs einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. In dieser Zeit ist auch die Mustertragödie Cato entstanden, die zuerst 1731 aufgeführt wurde und 1732 im Druck erschien. Im Hinblick auf theaterpoetische Fragestellungen ist es völlig ausreichend, auf die genannten Texte zu rekurrieren.

2. In der »Vorrede« zu Cato erinnert sich Gottsched daran, um 1715 zwar Trauerspiele Daniel Casper von Lohensteins und die Antigone von Sophokles in der Übersetzung von Martin Opitz gelesen zu haben, doch habe er keinen Gefallen an den Tragödien finden können. Er sei damals »im Absehen auf die theatralische Poesie in vollkommener Gleichgültigkeit oder Unwissenheit« 4 5 6 7

Johann Christoph Gottsched: Cato. In: Ausgewählte Werke. Hg. von Joachim Birke. Bd. II. Sämtliche Dramen. Berlin 1970, Vorrede, S. 7. Ebd., S. 7. Ebd., S. 5. Zu Gottscheds beiden Moralischen Wochenschriften vgl. Gabriele Ball: Moralische Küsse. Gottsched als Zeitschriftenherausgeber und literarischer Vermittler. Göttingen 1999, S. 49–75 und 75–99.

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verblieben, bis er einige Jahre später »den Boileau kennen lernte«.8 Entscheidend für die Entwicklung seiner Theorie zum Trauerspiel und zum Lustspiel war für Gottsched demnach die Lektüre der Werke von Nicolas Boileau-Despréaux, der in L’Art Poétique einen Text vorgelegt hatte, die dem Leipziger Literatur- und Theaterkritiker in mancherlei Hinsicht zeitlebens als Vorbild für seinen Regelkanon diente.9 Gottscheds erste Erfahrungen mit der Schaubühne gehen auf die Aufführungen der Theatergesellschaft Hofmanns in Leipzig 1724 zurück. Im Repertoire fand er laut »Vorrede« zum Cato als einziges akzeptables Schauspiel Pierre Corneilles Streit zwischen Ehre und Liebe, oder Roderich und Chimene (Le Cid).10 Zu diesem Zeitpunkt hatte Gottsched, wie er beteuert, noch keinerlei Kenntnis von den »Regeln der Schaubühne«,11 also der Dramen- und Theatertheorie. Die Unvertrautheit mit den »theatralischen Regeln« wurde von ihm generell als mitverantwortlich für die inhaltlichen und strukturellen Schwächen der deutschen Dramen erachtet.12 Auf der Suche nach dramenästhetischen Anleitungen fand er außer in Albert Christian Rotths Vollständige Deutsche Poesie (Leipzig 1688) keine Hilfe in deutschsprachigen Poetiken. Bei seiner Recherche, mit dem Ziel, ein Regelwerk für Schauspiele zu erstellen, stieß er bald auf Aristoteles, der ihm durch die französische Übersetzung André Daciers (La Poëtique d’Aristote. Paris 1692) bekannt wurde, und auf weitere, vornehmlich französische Dramen- und Theatertheoretiker. Die ersten Leipziger Theaterbesuche Gottscheds werden bereits 1725 in den Vernünftigen Tadlerinnen geschildert.13 Hier erwähnt er immerhin mehrere passable Trauer- und Lustspiele, die die »Hofmannische Bande« auf die Bühne brachte und die nicht nur die »Belustigung« der Zuschauer, sondern auch den moraldidaktischen »Nutzen« zum Ziel hatten, »denn sie stellen die gemeinen Fehler der Menschen auf eine so lebhafte Art vor, daß selbst diejenigen, so damit behaftet sind, ihren Ubelstand erkennen müssen.«14 Das Gros der Stücke stand freilich in der Tradition der Commedia dell’Arte, in der Harlekin und Scaramutz als Hauptfiguren mit ihren phantastischen Possen und Zoten alle »Regeln der Sittsamkeit« verletzten.15 In Anbetracht dieser unhaltbaren Zustände wünschten angeblich »Kenner« unter den Zuschauern, dass die Komödianten »sich durch einen geschickten Mann, diese ungereimte Dinge durchsehen und was vernünftigers an die Stelle setzen lassen möchten.«16 Bei diesem »geschickten Mann« dürfte 8 9

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Gottsched: Cato (s. Anm. 4), Vorrede, S. 5. Vgl. Nicolas Boileau-Despréaux: L’Art Poétique. Paris 1674. Hg., eingeleitet und kommentiert von August Buck. München 1970. Zu Gottscheds Boileau-Rezeption Catherine Julliard: Gottsched et Boileau. La convergence des esthétiques? In: Recherches sur le monde germanique. Regards, approches, objets. Festschrift für JeanMarie Valentin. Hg. von Michel Grimberg, Marie-Thérèse Mourey, Elisabeth Rothmund, Wolfgang Sabler, Anne-Marie Saint-Gille und Marielle Silhouette. Paris 2003, S. 55–65. Gottsched: Cato (s. Anm. 4), Vorrede, S. 5. Ebd., S. 6. Ebd., S. 13. Vgl. Die Vernünftigen Tadlerinnen, XVII. Stück (25. April 1725), S. 129–136, XLIV. Stück (31. Oktober 1725), S. 347–354. – Die Vernünftigen Tadlerinnen. 1725–1726. Hg. von Johann Christoph Gottsched. Tl. 1. Halle 1725. Im Anhang einige Stücke aus der 2. und 3. Auflage 1738 und 1748. Neu hg. und mit einem Nachwort, einer Themenübersicht und einem Inhaltsverzeichnis versehen von Helga Brandes. Tl. 1. Hildesheim, Zürich, New York 1993. Die Vernünftigen Tadlerinnen, XLIV. Stück (31. Oktober 1725) (s. Anm. 13), S. 348. Ebd. Ebd.

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Gottsched nicht zuletzt an sich selbst gedacht haben. Denn er wollte mit seinem Reformvorhaben 1724 die »Ausrottung der ungeschickten Sitten, thörichten Gewohnheiten, und des übeln Geschmackes in der Poesie« in Angriff nehmen.17 Diese durchgreifende »Reinigung« des Theaters und damit die Exilierung der als chaotisch empfundenen Haupt- und Staatsaktionen, der lustigen Figur, der extemporierten Burlesken, aller »niederen« theatralen Praxen und der volkstümlichen Lachkultur könne nur gelingen, so war es Gottscheds feste Überzeugung, wenn alle Aufführungen des reformierten Theaters »unter der Aufsicht verständiger Leute gespielet werden.«18 Dieser Reinigungsprozess sollte auch die Dramenästhetik einschließen, die für Gottsched mit der Ethik untrennbar verknüpft ist. Für die Umsetzung seines dramentheoretischen Systems und für die geplante Bühnenreform war Gottsched auf die Zusammenarbeit mit erfahrenen Prinzipalen und Schauspielern angewiesen. Nachdem die von ihm gewünschte Kooperation mit Hofmann 1724 nicht zustande kam,19 musste es Gottsched sehr gelegen sein, dass die Schauspielergesellschaft von Johann und Friederike Neuber 1727 das begehrte königlich polnische und kurfürstlich-sächsische Privileg erhielt und er sie noch in diesem Jahr für sein Theaterprojekt gewinnen konnte.20 Mit ihnen fasste er den Vorsatz, »das bisherige Chaos abzuschaffen, und die deutsche Komödie auf den Fuß der französischen zu setzen.«21 Das Ehepaar Neuber erhoffte sich während der Kooperation eine ebenso einflussreiche wie dauerhafte Unterstützung ihres Theaterunternehmens durch 17 18

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Ebd., S. 350. Der Biedermann, 95. Blatt (28. Februar 1729), S. 179. – Johann Christoph Gottsched: Der Biedermann. Leipzig 1727–1729. ND mit einem Nachwort und Erläuterungen hg. von Wolfgang Martens. Stuttgart 1975. Zu den Versuchen, das deutschsprachige Theater im 18. Jahrhundert zu reformieren, vgl. Peter Heßelmann: Gereinigtes Theater? Dramaturgie und Schaubühne im Spiegel deutschsprachiger Theaterperiodika des 18. Jahrhunderts (1750–1800). Frankfurt a. M. 2002. Der »Vorrede« zum Cato zufolge schlug Gottsched dem Prinzipal vor, Trauerspiele von Andreas Gryphius auf die Bühne zu bringen. Der auf seine Einnahmen bedachte Hofmann war jedoch der Überzeugung, dass das Publikum solche Stücke in Versen nicht mehr sehen wolle, zumal sie zu ernsthaft seien und nicht über eine lustige Person verfügten. – Gottsched: Cato (s. Anm. 4), Vorrede, S. 6. Zur Kooperation Gottscheds mit der Neuberschen Schauspielergesellschaft sei nur auf einige neuere Studien hingewiesen. Vgl. Renate Möhrmann: Von der Schandbühne zur Schaubühne. Friedericke Caroline Neuber als Wegbereiterin des deutschen Theaters. In: The Enlightenment and its Legacy. Studies in German Literature in Honor of Helga Slessarev. Hg. von Sara Friedrichsmeyer und Barbara Becker-Cantarino. Bonn 1991, S. 61–71; Ramona Braeuer: Gottsched und die Neuberin – Theater zwischen Barock und Aufklärung. In: Weißenfels als Ort literarischer und künstlerischer Kultur im Barockzeitalter. Hg. von Roswitha Jacobsen. Amsterdam, Atlanta 1994, S. 305–316; Ruedi Graf: Der Professor und die Komödiantin. Zum Spannungsverhältnis von Gottscheds Theaterreform und Schaubühne. In: Vernunft und Sinnlichkeit. Beiträge zur Theaterepoche der Neuberin. Hg. von Bärbel Rudin und Marion Schulz. Reichenbach 1999, S. 125–144; Karin Haber: Die im Dienste der Gelehrsamkeit agierende Schauspielkunst. Friederike K. Neuber und Johann Chr. Gottsched, Leipziger Ostermesse 1727. In: Bespiegelungskunst. Zwanzig Begegnungen auf den Seitenwegen der Literaturgeschichte. Hg. von Georg Braungart. Tübingen 2004, S. 15–28. Gottsched: Cato (s. Anm. 4), Vorrede, S. 8. Zur Beziehung Gottscheds zur französischen Dramenund Theatertheorie vgl. Jacques Lacant: Gottsched ›législateur‹ du théâtre allemand. La nécessité et les bornes de l’imitation du théâtre français. In: Revue de littérature comparée 44 (1970), S. 5–29; Roland Krebs: La France jugée par Gottsched. Ennemie héréditaire ou modèle culturel? In: Cosmopolitisme, patriotisme et xénophobie en Allemagne au XVIIIe siècle. Revue d’Allemagne et des pays de langue allemande 18 (1986), S. 585–599. Hervorzuheben zu diesem Themenkomplex ist die gründliche Studie von Catherine Julliard: Gottsched et l’esthétique théâtrale française. La réception allemande des théories françaises. Bern, Berlin 1998.

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den angesehenen Gelehrten in Leipzig und für die vorgesehene Reform ihres Repertoires neue Übersetzungen und Originalstücke mit exklusiven Zusagen für lukrative Erstaufführungen. Die projektierte »Literarisierung« des Theaters auf der Basis einer strengen Konzentration auf die schriftlich fixierten, regelgerechten Dramentexte sollte das Ende des alten Improvisationstheaters herbeiführen. Mit der Subordination des theatralen Spiels der Komödianten unter die Restriktionen der Textvorlagen ging eine umfassende Disziplinierung der Bühnenpraxis einher. Berücksichtigt man die traditionellen Vorbehalte, die der weitaus größte Teil der Geistlichkeit gegenüber dem Theater im 18. Jahrhundert hegte,22 dann wundert es nicht, dass sich Gottsched in seinen Überlegungen zur Theaterpoetik von Anfang an mit den religiös begründeten Bedenken und Invektiven auseinanderzusetzen hatte. Gleichzeitig musste er versuchen, das Theater gegenüber der geistlichen und weltlichen Obrigkeit zu legitimieren und als öffentliche Bildungsinstitution gewissermaßen neben der Kanzel zu etablieren, was den Argwohn der Geistlichkeit heraufbeschwor, sah sie doch unter anderem ihr Offenbarungsmonopol durch die potentielle Konkurrenz gefährdet. Schon in seinen frühen Veröffentlichungen entfaltete Gottsched seine Poetik im Bezugsfeld von Religion und Theater. Auf den zeitgenössischen Bühnen gebe es, so Gottsched, zumeist Schauspiele, die »den guten Sitten schädlich« seien. »Unartige Poeten« füllten ihre Dramen mit »Unflätereyen« an, führten die »ärgerlichsten Laster unter so reitzenden Gestalten auf, daß die Unschuld dadurch entweder verführet, oder doch sehr hart bestürmet werden muß.«23 Daher gelte es, aus dem öffentlichen »Tempel der Laster« einen »Tempel der Tugend« 24 zu machen. Denn »alles so dem Christenthume, das ist den Begriffen so wir von GOtt und göttlichen Dingen haben, und den guten Sitten dazu uns die Moral des N. T. Anleitung giebt, zuwiederläuft«, sei »in dem gemeinen Wesen nicht zu dulden«.25 Für die Bühnenautoren bedeutete das, Dramen zu schreiben und zu übersetzen, die einer »Christlichen 22

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Zum Spannungsfeld Theater und Kirche und zu den Vorbehalten der Geistlichkeit gegenüber dem Theater, die ihre historischen Wurzeln in der Kritik der Patristiker an den antiken Schauspielen heidnischer Kulturen haben, vgl. Monika Diebel: Grundlagen und Erscheinungsformen der Theaterfeindlichkeit deutscher protestantischer Geistlicher im 17. und 18. Jahrhundert. Diss. Wien 1968. [Masch.]; Thomas Koebner: Zum Streit für und wider die Schaubühne im 18. Jahrhundert. In: Festschrift für Rainer Gruenter. Hg. von Bernhard Fabian. Heidelberg 1978, S. 26–57; Hilde Haider-Pregler: Des sittlichen Bürgers Abendschule. Bildungsanspruch und Bildungsauftrag des Berufstheaters im 18. Jahrhundert. Wien, München 1980, S. 69–134; Christopher Wild: Theater der Keuschheit – Keuschheit des Theaters. Zu einer Geschichte der (Anti-)Theatralität von Gryphius bis Kleist. Freiburg i. Br. 2003, S. 167–262. Ein Kapitel aus dieser Studie wurde bereits vorab veröffentlicht. Vgl. Christopher Wild: Geburt der Theaterreform aus dem Geist der Theaterfeindlichkeit. Der Fall Gottsched. In: Lessing Yearbook 34 (2002), S. 57–77. Nach Wild entspringt die angebliche »Antitheatralität« der Schauspiele Gottscheds und seiner Apologeten aus der Orientierung an der traditionellen geistlichen Theaterkritik und ihres moraltheologischen Bezugsrahmens. Zur geistlichen Theatergegnerschaft im 18. Jahrhundert vgl. ferner Roland Krebs: Der Theologe vor der Bühne. Pastor Goezes ›Theologische Untersuchung der heutigen deutschen Schaubühne‹ als Streitschrift gegen das Theater und Projekt einer Idealbühne. In: Begegnungen. Bühne und Berufe in der Kulturgeschichte des Theaters. Hg. von Ariane Martin und Nikola Rossbach. Tübingen 2005, S. 43–52. Mit dem Streit um die Schaubühne im 18. Jahrhundert befaßt sich auch Zelle, der unter anderem darstellt, dass Gottsched das Schauspiel im Kontext jansenistischer, reformierter und pietistischer Theaterfeindlichkeit zu legitimieren versucht. Vgl. Carsten Zelle: ›Querelle du théâtre‹. Literarische Legitimationsdiskurse (Gottsched – Schiller – Sulzer). In: German Life and Letters 62 (2009), S. 21–38. Der Biedermann, 85. Blatt (20. Dezember 1728) (s. Anm. 18), S. 138. Ebd. Ebd.

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Republick« nutzen und in ihr bedenkenlos aufgeführt werden konnten.26 Auch in seiner Rede zur Verteidigung öffentlicher Schauspiele in einer »wohlbestellten Republik« lenkte Gottsched den Blick auf religiös motivierte Ressentiments gegenüber der »theatralischen Poesie« und auf deren Missbrauch. Hier allerdings berührte er mit dem Vergnügen, das man als Zuschauer empfinden kann, einen weiteren Aspekt geistlicher Theaterkritik. Dramatiker wie Schauspieler hätten dafür Sorge zu tragen, »daß die Lust, die man in Schauspielen genießt, nicht sündlich sey, und also mit dem Christenthume gar wohl bestehen könne.«27 Das neue Theater sollte nach den Vorstellungen Gottscheds nicht nur eine sozialethische und politische, sondern darüber hinaus eine sakrale Dimension haben und dementsprechende Funktionen im Gemeinwesen erfüllen. Wenn von der moralischen Belehrungsaufgabe, die dem neuen Theater zugewiesen wird, die Rede ist, dann überrascht es nicht, dass Begriffe der religiösen Verkündigung Verwendung finden, etwa wenn die Schaubühne von der Nichtigkeit aller weltlichen Hoheit »prediget«.28 In seiner Theaterpoetik wies Gottsched der Schaubühne die Funktion zu, nützliche Wahrheiten des Glaubens und der Philosophie sowie der daraus abgeleiteten Moral, insbesondere durch Sentenzen und durch anschauliche, also wirklich vorgestellte Exempel von guten und bösen Taten in überzeugender Weise zu vermitteln mit dem Ziel, die Rezipienten zu veranlassen, allezeit die Tugend zu lieben und die Laster zu meiden.29 Auch diesem moralischen Rigorismus, der traditionellen geistlichen Auffassungen folgt, blieb Gottsched Zeit seines Lebens treu. Ziel blieb eine Symbiose von Kirche und Theater als sich ergänzende, durch und durch »moralische Anstalten« mit pädagogischen Aufgaben. Um das neue Theater in der Öffentlichkeit zu legitimieren, scheute sich der Protestant Gottsched keineswegs, zur Flankierung seines Theaterreformprojekts Schriften von theaterfreundlich gesonnenen katholischen französischen Geistlichen übersetzen und veröffentlichen zu lassen. In diesen Abhandlungen wurden in der Regel die sozialethischen und politischen Funktionen der Schauspiele hervorgehoben und infolgedessen die Unterstützung der Schaubühnen als Sittenschulen durch den Staat gefordert. So gab Johann Friedrich May, ein enger Mitarbeiter Gottscheds, 1734 eine Apologie der Schaubühne vom Jesuitenpater Charles Porée unter dem Titel Des berühmten Französischen Paters Poree Rede von den Schauspielen. Ob sie eine Schule

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Ebd., S. 137. Johann Christoph Gottsched: Die Schauspiele, und besonders die Tragödien sind aus einer wohlbestellten Republik nicht zu verbannen. In: Ausgewählte Werke. Hg. von Phillip M. Mitchell. Bd. IX/2. Gesammelte Reden. Bearbeitet von Rosemary Scholl. Berlin, New York 1976, S. 493. Ebd., S. 497. Über die Wirksamkeit der Exempel schreibt Gottsched (ebd., S. 495): »Alle Sittenlehrer sind eins, daß Exempel in moralischen Dingen, eine besondere Kraft haben, die Gemüther der Menschen von gewissen Wahrheiten zu überführen. Die meisten Gemüther sind viel zu sinnlich gewöhnt, als daß sie einen Beweis, der aus bloßen Vernunftschlüssen besteht, sollten etwas gelten lassen; wenn ihre Leidenschaften demselben zuwider sind. Allein Exempel machen einen stärkern Eindruck ins Herz.« In Kenntnis dieser Qualität der Exempel diene ihre poetische Ausschmückung ganz im Sinne des Horazischen Belehrungs- und Vergnügungsgebots (»aut prodesse volunt aut delectare poetae«) dazu, »die bittern Wahrheiten zu versüßen«. Horaz: Ars Poetica, V. 333. Zitiert nach Quintus Horatius Flaccus: Ars Poetica. Die Dichtkunst. Lateinisch und deutsch. Übersetzt und mit einem Nachwort hg. von Eckart Schäfer. Stuttgart 1980, S. 24.

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guter Sitten sind, oder seyn können? (Discours sur les spectacles, Paris 1733) heraus.30 Dass die Schaubühne durchaus mit dem Christentum vereinbar war und der Verbreitung christlicher Lehre und Moral dienen könne, zeigte auch die 1737 erschienene deutsche Übersetzung von La pratique du théâtre (Paris 1657) von François Hédelin, Abbé d’Aubignac: Gründlicher Unterricht von Ausübung der Theatralischen Dichtkunst.31 Die dritte Auflage des Cato (1741) enthielt Gottscheds Übersetzung der Pensées sur la tragédie des Erzbischofs von Cambrai François de Salignac de La Mothe-Fénelon (Lettre à l’academie, Paris 1716).32 1744 erschien schließlich auf Initiative Gottscheds in seinen Beyträgen zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit die deutsche Übersetzung einer in Latein geschriebenen Rede zum Lob des Schultheaters aus der Feder des Basler Theologen Samuel Werenfels: Eine Rede von den Schauspielen.33 Etwa dreißig Jahre nach dem Beginn seiner Theaterreform würdigte Gottsched 1757 in der »Vorrede« seines Nöthigen Vorraths zur Geschichte der Deutschen Dramatischen Dichtkunst oder Verzeichniß aller Deutschen Trauer- Lust- und Singspiele, die im Druck erschienen, von 1450 bis zur Hälfte des jetzigen Jahrhunderts die Verdienste der deutschen Schaubühne im Hinblick auf die Kirche, vor allem der reformierten Kirche. Wieder suchte er demonstrativ den Schulterschluss mit der Geistlichkeit. Die im Zeitalter der Reformation einsetzende »Glaubensreinigung« wird dabei mit der von Gottsched und seinen Anhängern initiierten »Reinigung« des Theaters parallelisiert.34 30

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Charles Porée: Des berühmten Französischen Paters Poree Rede von den Schauspielen. Ob sie eine Schule guter Sitten sind, oder seyn können? Nebst einer Abhandlung von der Schaubühne. Hg. von Johann Friedrich May. Leipzig 1734. François Hédelin, Abbé d’Aubignac: Gründlicher Unterricht von Ausübung der Theatralischen Dichtkunst, aus dem Französischen übersetzet durch Wolf Balthasar Adolph von Steinwehr. Hamburg 1737. Von Steinwehr war Mitglied der ›Deutschen Gesellschaft‹ zu Leipzig. Gottsched: Cato (s. Anm. 4), S. 115–126. Fénelons Gedanken von der Tragödie erschienen erneut 1742 nach der Vorrede zum ersten Band der Deutschen Schaubühne. Sie wurden ergänzt durch Fénelons Gedanken von den Lustspielen, übersetzt von Luise Adelgunde Victorie Gottsched. Vgl. Die Deutsche Schaubühne nach den Regeln und Exempeln der Alten, Tl. 1, Leipzig 1742, S. 22–33, 34–38. – Johann Christoph Gottsched: Die Deutsche Schaubühne nach den Regeln und Exempeln der Alten. 6 Tle. Leipzig 1741–1745. ND nach der Ausgabe von 1741–1745. Mit einem Nachwort von Horst Steinmetz. Stuttgart 1972. Beyträge zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit, Bd. 8, 32. Stück, Leipzig 1744, S. 598–623. – Johann Christoph Gottsched: Beyträge zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Leipzig 1732–1744. ND Hildesheim, New York 1970. Zu Werenfels’ Rede vgl. Martin Stern: Über die Schauspiele. Eine vergessene Abhandlung zum Schultheater des Basler Theologen Samuel Werenfels (1657–1740) und ihre Spuren bei Gottsched, Lessing, Gellert, Hamann und Nicolai. In: Théâtre, nation & société en Allemagne au XVIIIe siècle. Hg. von Roland Krebs und Jean-Marie Valentin. Nancy 1990, S. 41–57; Martin Stern und Thomas Wilhelmi: Samuel Werenfels (1657–1740). Rede von den Schauspielen. Der lateinische Urtext (1687/1716), die Übersetzungen von Mylius (1742) und Gregorius (1750) sowie deren Rezeption durch Gottsched, Lessing und Gellert. Ein Beitrag zur Theaterfrage in der Frühaufklärung. In: Daphnis 22 (1993), S. 73-171. In der »Vorrede« seiner Bibliographie führt er aus, daß sich zahlreiche Dramatiker in den Dienst der Religion gestellt hätten: »Die deutsche Schaubühne hat ein Verdienst, dessen sich schwerlich eine andere bey unsern Nachbarn wird rühmen können. Sie hat der Religion ungemeine Dienste geleistet; und sonderlich der im XVI. Jahrh. geschehenen Glaubensreinigung, einen unaussprechlichen Vorschub gethan. Ich überlasse es der Beurtheilung unsrer Theologen, und aller derer, die es mit der evangelischen Wahrheit gut meynen; ob nicht eine Menge solcher Schauspiele hier vorkömmt, welche der geläuterten Glaubens-Lehre, durch sichtbare Vorstellung des alten Aberglaubens, den stärksten Eingang in die Herzen unzählicher Zuschauer verschaffet haben müssen?/ Eben daher wird man schwerlich bey einem andern Volke soviel geistliche Lehrer unter den dramatischen Dichtern antref-

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3. Zum besonderen Vorzug des Mediums Theater gehört nach Gottsched die Anschaulichkeit der lebendigen Vorstellung von menschlichen Handlungen, die eine hohe Wirksamkeit auf die Rezipienten verspricht. Demzufolge ist Gottscheds Theaterpoetik in allen ihren Komponenten darauf ausgerichtet, eine möglichst große Wirkung mit den Mitteln der Visualisierung auf der Bühne zu erzielen. Seine auf die Erzeugung von Evidenz ausgerichtete Wirkungsästhetik kommt bereits in den Vernünftigen Tadlerinnen zum Ausdruck. Vorstellungen durch lebendige Personen hinterlassen tiefere Eindrücke in den Gemütern der Zuschauer als Lektüre, Predigten und philosophische Vorträge. Die auf der Schaubühne generierten Bilder sind, so Gottsched, kräfftigere Bewegungs-Gründe vom Bösen abzustehen, als die besten Vernunfft-Schlüsse eines SittenLehrers. Das blosse Durchlesen einiger Schauspiele hat uns hievon schon überführet: und was wird nicht die sichtbare Vorstellung durch lebendige Personen vor Krafft haben, wenn sie der Natur gemäß, das ist, ungezwungen, munter und nach Beschaffenheit desjenigen Characters, den sie ausdrucken sollen, von denen spielenden Personen geschiehet.35

Es ist die emotionale Suggestivkraft der Bilder auf der Schaubühne, ihre unmittelbare visuelle Präsenz und ihr Potential, Gemüter mittels des Augensinns und der Augenlust zu erregen, die im Zentrum von Gottscheds Interesse steht. Unter den Künsten gilt ihm das Theater wegen seiner Bildkraft und Sinnlichkeit als wirkungsmächtigstes Medium. Gottsched hat früh die Effizienz des sprechenden Bildmediums erkannt und für sein moralpädagogisches Programm genutzt. Als besonders wirkungsvoll erweist sich dabei die in der Gattungshierarchie oben angesiedelte Tragödie, die er bezeichnenderweise auch als »Bild« charakterisiert.36 Man liest und man hört die der Tragödie zugrunde liegende poetische Fabel nicht nur in der »matten Erzählung« eines Dichters, sondern man sieht sie gleichsam mit lebendigen Farben vor Augen. Man sieht sie aber auch, nicht in todten Bildern auf dem Papiere; sondern in lebendigen Vorstellungen auf der Schaubühne. Alle ihre Helden leben. Ihre Personen denken, reden und handeln wahrhaftig. Es ist, so zu reden, kein Bild, keine Abschilderung, keine Nachahmung mehr: es ist die Wahrheit, es ist die Natur selbst, was man sieht und höret.37

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fen, als bey uns. Diesen gottseligen Männern war es gewiß ein Ernst, ihre Zuhörer im Glauben und Leben zu erbauen: und hier kann man mit Rechte sagen, daß die Schauspiele zu ihrer alten Absicht gebrauchet worden, wozu sie bey den Griechen erfunden worden; nämlich das Volk zu lehren. […] Und ob sie gleich bey solchem heilsamen Zwecke nicht allemal die dramatischen Regeln beobachtet haben: so sind doch auch ihre hierwider begangenen Fehler, bey den beobachteten guten, obwohl einfältig vorgetragenen Sittenlehren, viel ehrwürdiger; als die ausschweifendsten Spitzfindigkeiten des italienischen Witzes, die größte Richtigkeit der gallischen Bühne, und die rasende Wildigkeit der brittischen Lustspiele, bey dem Mangel sittlicher Unsträflichkeit nimmermehr seyn können.« – Johann Christoph Gottsched: Nöthiger Vorrath zur Geschichte der Deutschen Dramatischen Dichtkunst oder Verzeichniß aller Deutschen Trauer- Lust- und Singspiele, die im Druck erschienen, von 1450 bis zur Hälfte des jetzigen Jahrhunderts. Tl. 1. Leipzig 1757. ND Hildesheim, New York 1970, Vorrede, c2rf. Die Vernünftigen Tadlerinnen, XVII. Stück (25. April 1725) (s. Anm. 13), S. 132–133. Gottsched: Die Schauspiele, und besonders die Tragödien sind aus einer wohlbestellten Republik nicht zu verbannen (s. Anm. 27), S. 494. Ebd., S. 496.

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In der Hochschätzung der Wirksamkeit dramatischer Bilder und ihrer evidentia folgte Gottsched Horaz, dessen Ars Poetica er in seiner Übersetzung und mit Erläuterungen versehen bekanntlich dem Versuch einer Critischen Dichtkunst voranstellte.38 Möglicherweise spielte auch das Horazische ›ut-pictura-poesis‹-Theorem bei einer Übertragung auf die Bilder der Schaubühne in diesem Zusammenhang eine Rolle.39 In Gottscheds Theaterpoetik ist die vollkommene Täuschung des Zuschauers Garant für die intendierte Wirkung der Schauspiele. Die Emotionalisierung des Rezipienten und die Akzeptanz der Lehrhaftigkeit des Bühnengeschehens können nur infolge der Produktion von theatraler Illusion geschehen. Gefühle wie Empathie, Bewunderung, Rührung, Mitleid und moralische Effekte haben im sogenannten bürgerlichen Illusionstheater nach Auffassung Gottscheds die Einhaltung bestimmter ästhetischer Grundsätze wie möglichst wirklichkeitsgetreue Nachahmung der Natur, Natürlichkeit, Wahrscheinlichkeit, Kausalität, Kohärenz und Vernünftigkeit zur Voraussetzung. Alles Phantastische, Unwahrscheinliche, Unnatürliche – wie es etwa in Haupt- und Staatsaktionen, in Auftritten des Hanswurst, in Oper und Singspielen vorkommt – verhindere jeglichen Nutzen der Schaubühne.40 Derartige widernatürliche wie unordentliche »Misgeburten«, die Horaz zu Beginn der Ars Poetica als monströse Mischwesen beschreibt, seien von der Bühne zu verbannen.41 Die perfekte Guckkastenbühne und der Zuschauerraum müssen derart eingerichtet sein, dass der in der Präsentation der lebenden Bilder versunkene Zuschauer gewissermaßen »vergisst«, im Theater zu sein. Darüber hinaus haben die aufgeführten Dramentexte und das Spiel sowie die Sprache der Komödianten für die Illusionsbildung zu sorgen. Fasziniert war Gottsched von den Möglichkeiten des Wandertheaters als breitenwirksames, überregional agierendes Medium zur Transmission moralphilosophischer Vorstellungen. Er entdeckte in ihm nicht nur ein geeignetes mobiles Medium zur Propagierung und Popularisierung seiner Theaterpoetik, sondern darüber hinaus der von ihm geschätzten Philosophie von Christian Wolff. Wie tief Gottscheds Literatur- und Theatertheorie im System Wolffs verwurzelt ist, wurde in der Forschung mehrfach herausgearbeitet.42 Wolff hat dem Theater vor allem 38

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Vgl. Horaz: Ars Poetica (s. Anm. 29), V. 180–182: »segnius inritant animos demissa per aurem / quam quae sunt oculis subiecta fidelibus et quae / ipse sibi tradit spectator« (schwächer erregt die Aufmerksamkeit, was seinen Weg durch das Ohr nimmt, als was vor die verlässlichen Augen gebracht wird und der Zuschauer selbst sich vermittelt). Horaz: Ars Poetica (s. Anm. 29), V. 361. Zu Gottscheds Opernkritik vgl. Alfred R. Neumann: Gottsched versus the opera. In: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 45 (1953), S. 297–307; John D. Lindberg: Gottsched gegen die Oper. In: The German Quarterly 40 (1967), S. 673–683; Joachim Birke: Gottsched’s Opera Criticism and Its Literary Sources. In: Acta Musicologica 32 (1969), S. 194–200; Bodo Plachta: Die Barockoper und ihre Libretti vor dem ›Kunstrichter‹. In: Das Berliner Modell der Mittleren Deutschen Literatur. Hg. von Christiane Caemmerer. Amsterdam, Atlanta 2000, S. 325–348; Catherine Julliard: La condamnation de l’opéra dans les ›Critische Beyträge‹ (1732–1744). Gottsched et ses sources françaises. In: Théâtre et ›Publizistik‹ dans l’espace germanophone au XVIIIe siècle. Theater und Publizistik im deutschen Sprachraum im 18. Jahrhundert. Hg. von Raymond Heitz und Roland Krebs. Bern, Berlin 2001, S. 19–38. Gottsched: Die Schauspiele, und besonders die Tragödien sind aus einer wohlbestellten Republik nicht zu verbannen (s. Anm. 27), S. 494. Vgl. Horaz: Ars Poetica (s. Anm. 29), V. 1–10. Verwiesen sei hier nur auf die Darstellungen von Joachim Birke: Gottscheds Neuorientierung der deutschen Poetik an der Philosophie Wolffs. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 85 (1966), S. 560–575; ders.: Christian Wolffs Metaphysik und die zeitgenössische Literatur- und Musiktheorie. Gottsched, Scheibe, Mizler. Berlin 1966,

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eine Berechtigung neben den Institutionen der Kirche und der Schule zuerkannt, da in ihm für den Einzelnen und das Gemeinwesen nützliche moralische Lehren präsentiert werden können, die der Predigt und dem Unterricht durchaus gleichzustellen seien. Zwar war die Philosophie für Gottsched die Königsdisziplin, doch blieb sie in ihrer diskursiven Abstraktheit und Komplexität nur für wenige verständlich.43 Dichtkunst, mit Gottsched verstanden als »Philosophie der Einfältigen«,44 hatte andere Möglichkeiten, die Öffentlichkeit zu erreichen. Vor allem die Schaubühne versprach aufgrund ihrer spezifischen Medialität bessere Aussichten, um Vernunftwahrheiten und Sittenlehren in die Köpfe und Herzen des Publikums zu vermitteln. So muss Gottscheds Theaterreform auch als Versuch begriffen werden, die Wolffsche Philosophie als maßgeblichen aufklärerischen Bildungsfaktor über die Schaubühnen zu verbreiten.

4. Gottsched orientierte sich in seiner Theaterpoetik vornehmlich an Aristoteles und Horaz und deren Rezipienten in der Epoche des französischen Klassizismus. Was die Dramenpraxis anbelangt, rekurrierte er auf die mustergültigen Dramen der Antike, die nach seiner Auffassung in den Trauer- und Lustspielen der Dramatiker des grand siècle fortlebten. Im Grunde ging es ihm um die Revitalisierung antiker Präzepte, die aus pragmatischen Gründen am besten zu erreichen sei über Adaptationen der Autoren der doctrine classique, weil sie in ihren Werken die größte Vollkommenheit in der Neuzeit für sich in Anspruch nehmen konnten. Denn sie hätten sich, vorbereitet in der Renaissance, »viel genauer nach den Regeln und Mustern der Alten« gerichtet als alle anderen europäischen Dramatiker.45

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S. 21–48. Ruedi Graf hat wiederholt nachdrücklich auf die Relevanz der Philosophie Wolffs für Gottscheds Theatertheorie aufmerksam gemacht. Vgl. Ruedi Graf: Das Theater in der wohlbestellten Republik. Zur Herausbildung eines literarischen Theaters in Deutschland. In: Der innere Staat des Bürgertums. Studien zur Entstehung bürgerlicher Hegemonie-Apparate im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin 1987, S. 41–61, hier S. 47–49; ders.: Das Theater im Literaturstaat. Literarisches Theater auf dem Weg zur Bildungsmacht. Tübingen 1992, S. 45–108. Vgl. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Leipzig 41751. ND Darmstadt 1962, S. 167. Johann Christoph Gottsched: Vorübungen der lateinischen und deutschen Dichtkunst. Leipzig 21760, S. 55. Die Deutsche Schaubühne nach den Regeln und Exempeln der Alten. Tl. 2, Leipzig 1741, S. 8. Die Favorisierung französischer Dramatiker durch Gottsched bedeutet keineswegs deren Idealisierung. Er hat in seinen Texten zur Theaterpoetik mehrfach auch Kritik an den französischen klassizistischen Tragödien und Komödien geäußert. Denn nicht immer seien die französischen Autoren konsequent den antiken Regeln gefolgt. Schwerwiegender waren Gottscheds Ressentiments, was den Inhalt der nicht selten frivol-erotischen französischen Dramen betrifft. Vor allem das galante Liebesmotiv und dessen Darstellung stießen auf Widerstand. Auf Gottscheds Kritik hat Krebs wiederholt aufmerksam gemacht. Vgl. Roland Krebs: La critique de la tragédie amoureuse française par l’Aufklärung. In: De Lessing à Heine. Un siècle de relations littéraires et intellectuelles entre la France et l’Allemagne. Festschrift für Pierre Grappin. Hg. Von Jean Moes und Jean-Marie Valentin. Paris 1985, S. 17–30; ders.: La France jugée par Gottsched, S. 585–599; ders.: Modernität und Traditionalität in Gottscheds Theaterreform. In: Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen Aufklärung. Hg. von Wilfried Barner. München 1989, S. 125–145. Die Problematik des Themas Liebe wird ausgiebig erörtert von Julliard: Gottsched et l’esthétique théâtrale française (s. Anm. 21), S. 243–264. Zur ambivalenten Haltung, die

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Oberster Grundsatz war auch in der Theaterpoetik Gottscheds die Forderung der imitatio naturae: Kunst habe die Natur nachzuahmen, d. h., das Kunstprodukt solle die Abbildung der apriorischen Ordnung der Natur sein. Diese Auffassung von Natur basierte noch auf der Annahme einer Ordnung als geregeltes System allgemeiner Wahrheiten. Wenn etwa beurteilt werden sollte, ob ein Künstler sein Werk nach den Prinzipien des guten Geschmacks strukturiert habe, dann sei – wie Gottsched meinte – aufzudecken, daß es »mit den Regeln der Kunst übereinstimmet, die aus der Vernunft und Natur hergeleitet worden.«46 Die Beachtung der vernünftigen, unveränderlichen Regeln, die »ihren Grund in der unveränderten Natur der Dinge selbst« hätten und keinesfalls willkürlich seien,47 müsse zur Eliminierung alles Unvernünftigen, Unordentlichen, Unwahrscheinlichen, Unnatürlichen, Widersprüchlichen und Regelwidrigen aus einem vollkommenen Kunstwerk führen. Die poetische Fabel, die Gottsched in Anlehnung an Aristoteles und an Renatus Pierre Le Bossu (Traité du poème épique, Paris 1675) den »Ursprung und die Seele der ganzen Dichtkunst« nennt, sei »die Erzählung einer unter gewissen Umständen möglichen, aber nicht wirklich vorgefallenen Begebenheit, darunter eine nützliche moralische Wahrheit verborgen liegt.«48 Es ist die fiktive, dabei jedoch den Kausalitätsprinzipien verpflichtete Handlung, die den der allgemeinen Sitten- und Pflichtenlehre entnommenen, keinem historischen Wandel unterworfenen ethisch-moralischen Satz zur Anschauung bringt. Die poetische Fabel kann – je nach Gattung – als epische und »theatralische« bzw. dramatische Fabel, die sich in die tragische und komische Fabel differenziert, realisiert werden. Innerhalb der Theaterpoetik nimmt bei Gottsched die Tragödie den höchsten Rang ein. So steht das Trauerspiel signifikanterweise allein im Zentrum seiner Rede vor der ›Deutschen Gesellschaft‹ in Leipzig über die Schauspiele. Das »regelmäßige« und »wohleingerichtete« Trauerspiel wird dort definiert als ein lehrreiches moralisches Gedicht, darinn eine wichtige Handlung vornehmer Personen, auf der Schaubühne nachgeahmet und vorgestellet wird. Es ist eine allegorische Fabel, die eine Hauptlehre zur Absicht hat, und die stärksten Leidenschaft ihrer Zuhörer, als Verwunderung, Mitleiden und Schrecken, zu dem Ende erreget, damit sie dieselben in ihre gehörige Schranken bringen möge. Die Tragödie ist ein also Bild der Unglücksfälle, die den Großen dieser Welt begegnen, und von ihnen entweder heldenmüthig und standhaft ertragen, oder großmüthig überwunden werden. Sie ist eine Schule der Geduld und Weisheit, eine Vorbereitung zu Trübsalen, eine Aufmunterung zur Tugend, eine Züchti-

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Gottsched gegenüber der französischen Leitkultur nicht nur im Hinblick auf seine Theaterpoetik einnahm, vgl. Bernd Blaschke: Anleihen und Verachtung. Luise Gottscheds französischer Komödienimport als Arbeit an einem deutschen Theater. In: Deutsch-französische Literaturbeziehungen. Stationen und Aspekte dichterischer Nachbarschaft vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. von Marcel Krings und Roman Luckscheiter. Würzburg 2007, S. 71–85. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 43), S. 95. Zum Komplex von imitatio naturae und mimesis in der Epoche der Aufklärung und zu Gottsched vgl. Hans Peter Herrmann: Naturnachahmung und Einbildungskraft. Zur Entwicklung der deutschen Poetik von 1760 bis 1740. Bad Homburg v. d. H. 1970, S. 92–161; Wolfgang Preisendanz: Mimesis und Poiesis in der deutschen Dichtungstheorie des 18. Jahrhunderts. In: Rezeption und Produktion zwischen 1570 und 1730. Festschrift für Günther Weydt zum 65. Geburtstag. Hg. von Wolfdietrich Rasch, Hans Geulen und Klaus Haberkamm. Bern, München 1972, S. 537–552; Ulrich Hohner: Zur Problematik der Naturnachahmung in der Ästhetik des XVIII. Jahrhunderts. Erlangen 1976. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 43), S. 123. Ebd., S. 148 und 150.

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Peter Heßelmann gung der Laster. Die Tragödie belustiget, indem sie erschrecket und betrübet. Sie lehret und warnet in fremden Exempeln; sie erbauet, indem sie vergnüget, und schicket ihre Zuschauer allezeit klüger, vorsichtiger und standhafter nach Hause.49

Um die allegorisch verborgenen moralischen Lehrsätze den Zuschauern nahezubringen, bedient sich die Verstragödie der heftigsten Affekte, also des Schreckens, der Verwunderung und des Mitleidens. Durch die Darstellung »hoher Unglücks-Fälle« werden die Zuschauer auf eigene Schicksalsschläge vorbereitet. Der Tragödiendichter soll sie lehren, »kleine« Trübsale geduldig zu ertragen, »indem er ihnen die Standhafftigkeit der Grossen dieser Welt, in weit entsetzlichern Zufällen vor Augen stellet.«50 Zum Funktionskonzept der Tragödie gehören als Voraussetzung für ihre Wirkmächtigkeit die Berücksichtigung des Wahrscheinlichkeitsgebots jeglicher Darstellung ebenso wie die strikte Einhaltung der drei Einheiten von Handlung, Zeit und Ort. Gottsched entwickelt seine insbesondere von Aristoteles ausgehende Tragödientheorie im Kontext von Antikenrezeption und Religion.51 Da sich die Poeten, so Gottsched, »in allen Stücken der Religion bequemeten«, seien die Schauspiele im Altertum mit ihren Sittenlehren und Tugendsprüchen eine überaus lehrreiche und erbauliche »Art des Gottesdienstes« gewesen.52 In seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst wird breit die Genealogie der griechischen Tragödie dargelegt, als deren wichtigster Reformator ihm Aischylos gilt, der – neben anderen Innovationen wie Ordnung und Kausalität – abwechslungsreiche Dialoge anstelle von Monologen in die ursprünglich aus »Bockliedern« bestehenden Tragödien eingeführt habe. Gottsched parallelisiert den antiken Entstehungsmythos der Tragödie mit den deutschen Theaterverhältnissen seiner Gegenwart. Zur Zeit des Aischylos wurde auch die »erhabene Schreibart« in die Tragödie eingeführt, denn vorher war ihr Vortrag voller Zoten und gemeinen Possen gewesen; so, wie auch ihr Inhalt ganz satirisch war. Die Poeten hatten sich hierinn nach den Zuschauern gerichtet, die in ihrer ersten Grobheit an etwas ernsthaftem noch keinen Geschmack finden konnten; sondern nur allezeit lachen wollten. Allmählich aber fanden sich auch verständigere Zuschauer, die an den gewöhnlichen Fratzen ein Misfallen hatten, und lieber etwas kluges sehen wollten.53

So wie das neue deutsche Theater einen Reinigungsprozess durchlaufen muss, hatte bereits die griechische Tragödie in Theorie und Praxis eine Läuterung erlebt. Aus den im Rahmen des Dionysos-Kultes gesungenen »abgeschmacktesten Liedern besoffener Bauern« sei im Zuge der Reformierung ein seriöses erbauliches Schauspiel von vollkommener ästhetischer Qualität geworden.54 Ihres ursprünglichen volkstümlichen Charakters und aller Komik entledigt, avancierte die Tragödie zum seitens der Obrigkeit legitimierten Erziehungsinstrument. Die durch Sophok49 50 51

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Gottsched: Die Schauspiele, und besonders die Tragödien sind aus einer wohlbestellten Republik nicht zu verbannen (s. Anm. 27), S. 494. Der Biedermann, 95. Blatt (28. Februar 1729) (s. Anm. 18), S. 178. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 43), S. 603–630 (»Von Tragödien, oder Trauerspielen«). Zu Gottscheds Theorie des Trauerspiels sei hier lediglich hingewiesen auf neuere Überblicksdarstellungen von Peter-André Alt: Tragödie der Aufklärung. Eine Einführung. Tübingen, Basel 1994, S. 66–84, und Heide Hollmer: Anmut und Nutzen. Die Originaltrauerspiele in Gottscheds ›Deutscher Schaubühne‹. Tübingen 1994, S. 66–106. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 43), S. 606. Ebd., S. 604–605. Ebd., S. 605.

Gottscheds Theaterpoetik

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les und Euripides perfektionierte Tragödie wird in ihrer »gereinigten« Gestalt zur Belehrung des Volkes moralpädagogisch funktionalisiert. Schließlich habe die städtische Obrigkeit die Nützlichkeit der Schaubühnen erkannt, auf öffentliche Kosten Theater errichtet, deren Betrieb unterhalten und die Komödianten fest engagiert.55 Hier war also der Weg in nachahmenswerter Weise vorgezeichnet, der von Gottsched und anderen Theaterreformern im 18. Jahrhundert eingeschlagen wurde, um zur Etablierung stehender Bühnen als Tugendschulen, die durch das Gemeinwesen unterstützt und finanziert werden sollten, zu gelangen. Die Dramatiker seiner Epoche haben sich, so Gottsched, ebenso wie ihre Vorbilder aus der Antike der Religion zu »bequemen«. Im 18. Jahrhundert soll die christliche Religion das weltanschauliche und ethische Fundament der Tragödien sein: Die Vorsehung, die Gerechtigkeit und Güte Gottes; die Unsterblichkeit der Seelen, das Lob der Tugend, und die Schande der Laster herrschen allezeit in den Trauerspielen. Die Unschuld wird allezeit als triumphirend, die Bosheit aber als verdammlich vorgestellet.56

Durch den Anspruch, christliche Normen effizient zu vermitteln, wird versucht, die Schaubühne zu legitimieren und die kirchliche und staatliche Obrigkeit von ihrer Nützlichkeit für das Gemeinwesen zu überzeugen. In dieser Vorstellung zeichnet sich der Wunsch nach einem zu institutionalisierenden, aus öffentlicher Hand finanzierten Staats- bzw. Nationaltheater für die Untertanen ab.57 Neben Familie, Kirche und Schule soll das Theater in der aufgeklärten Gesellschaft als Sozialisationsinstanz für die Staatsbürger dienen. Ziel muss es für den Theaterreformer sein, dass die Schauspiele am Ende des Reinigungsprozesses wieder eine »Art des Gottesdienstes« seien. Die Geburt der gereinigten deutschen Schaubühne sollte gewissermaßen aus dem Geist des Aischylos erfolgen. Auch mit den nach den »theatralischen« Regeln der alten und neuen »Meister« einzurichtenden Komödien werden moralische Intentionen verfolgt. Im Lustspiel geht es aber nicht um die Schicksalsschläge, die die »Großen« der Welt treffen, sondern um die Darstellung lasterhafter Handlungen, übler Gewohnheiten und Verfehlungen hauptsächlich des Bürgerstandes, die lächerlich gemacht werden, »damit die Thoren sich ihrer Narrheit schämen, u. sich künftig davor

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Ebd., S. 631. Gottsched: Die Schauspiele, und besonders die Tragödien sind aus einer wohlbestellten Republik nicht zu verbannen (s. Anm. 27), S. 499. Es wirft ein erhellendes Licht auf Gottscheds Anbindung der neuen Tragödie an die christliche Religion, wenn er die alten Oden des Chores durch eine neue Liedgattung, die Tragödienkantate, ersetzen möchte. Mit der Propagierung der Kantate, die »moralische Betrachtungen« über das auf der Bühne Dargestellte zum Thema hat, bezieht er sich bezeichnenderweise auf das traditionelle Muster der evangelischen Predigtmusik. – Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 43), S. 624. Dazu Hedwig Meier: Ein Intermezzo für die reformierte Schaubühne. Die Predigtmusik. In: Theatergeschichte. Kleine Schriften der Gesellschaft für Theatergeschichte 40/41 (1999), S. 23–30. Zum Verhältnis von Staat und Theater im 18. Jahrhundert vgl. Wolfgang Martens: Obrigkeitliche Sicht. Das Bühnenwesen in den Lehrbüchern der Policey und Cameralistik des 18. Jahrhunderts. In: Internationales Archiv zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur 6 (1981), S. 19–51; ders.: Die deutsche Schaubühne im 18. Jahrhundert – moralische Anstalt mit politischer Relevanz? In: Aufklärung als Politisierung – Politisierung der Aufklärung. Hg. von Hans Erich Bödeker und Ulrich Herrmann. Hamburg 1987, S. 90–107. Zur Diskussion um das Nationaltheater und um die Propagierung stehender Bühnen sowie zum Theater als Komponente staatlicher Kultur- und Wirtschaftspolitik vgl. darüber hinaus Heßelmann: Gereinigtes Theater? (s. Anm. 18), S. 171-197 und 229–237.

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mögen hüten lernen.«58 Die Komödie versucht zwar, durch die präsentierten Torheiten ein Gelächter hervorzurufen, doch ist es eher ein durch die Vernunft domestiziertes Lächeln, ein »vernünftiges Gelächter« über »ungereimte« und lasterhafte Dinge.59 Ein »gesitteter« Harlekin durfte unter Disziplinierung seiner Affekte etwa in der Rolle des komischen Dieners weiterleben und seine harmlosen Späße vor zivilisierten Zuschauern treiben. Im Versuch einer Critischen Dichtkunst skizziert Gottsched auch die Genealogie der griechischen Komödie, die einen weiteren Aufschwung in römischer Zeit durch Plautus und Terenz genommen habe.60 Die Lustspiele unterlagen inhaltlich und formal einem ähnlichen Reinigungsprozess wie die Trauerspiele. Die Komödien entwickelten sich aus der Barbarei der bäuerlichen »Narrenpossen« und »garstigen Schimpfreden« zu einem erbaulichen und regelgerechten dramatischen Genre, das ebenfalls dem Prinzip der Wahrscheinlichkeit und der Einhaltung der Einheiten von Handlung, Zeit und Ort zu gehorchen hat.61

5. Gottsched, der sich selbst in seiner Theaterpoetik als »zweiter Aischylos« stilisierte und von vornherein auch literaturpatriotische Ziele verfolgte, hat früh die Attraktivität des Mediums Theater zur Verbreitung moralphilosophischer Vorstellungen Wolffs erkannt und daraufhin sein umfangreiches Dramen- und Theaterreformprogramm begonnen. Die projektierte »Reinigung« der Schaubühne konnte in Anbetracht der Ausgangsposition wohl nur gelingen, wenn die traditionellen Bedenken aus Kreisen der geistlichen und weltlichen Obrigkeit ausgeräumt werden konnten. Die starke Akzentuierung moralischer Gesichtspunkte im Diskurs der deutschen Theaterreformer des 18. Jahrhunderts hat historische Gründe. Da die Reformer die Schaubühne aus einer defensiven Position heraus gegen die Angriffe der religiösen Eiferer verteidigen mussten, ist es zu einer Überbetonung der moralischen Bildung gekommen. Denn mit dem Hinweis auf die sittliche Funktion der Bühne war man in der Lage, das Theater und den Theaterbesuch zu legitimieren. Goethe hat diesen Sachverhalt durchschaut. Er machte 1813 die kirchlichen Exsekrationen für die Überbewertung des Theaters als moraldidaktische Anstalt im Zeitalter der Aufklärung verantwortlich. Die Deutschen hätten, »ohne es zu wollen, nach den Anforderungen der Geistlichkeit ihre Bühne gebildet.«62 Goethe wandte sich bekanntlich gegen

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Der Biedermann, 95. Blatt (28. Februar 1729) (s. Anm. 18), S. 178. Die erhoffte moralische Wirkung appelliert an die Ehre der Rezipienten, die sich ihrer Laster entledigen werden, weil sie sonst fürchten müssen, ebenso zum Gespött zu werden wie die lasterhaften Komödienprotagonisten. Vgl. Die Vernünftigen Tadlerinnen, XVII. Stück (25. April 1725) (s. Anm. 13), S. 132. Der Biedermann, 95. Blatt (28. Februar 1729) (s. Anm. 18), S. 178. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 43), S. 631–656 (»Von Komödien oder Lustspielen«). Ebd., S. 631. Johann Wolfgang Goethe: Deutsches Theater. In: Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. I. Abt. Bd. 40. Weimar 1901, S. 174.

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die lebenspraktische Funktionalisierung des Theaters und die von den Aufklärern vertretene Auffassung, die Bühne könne »dem Staat und der Gesellschaft unmittelbar nutzen.«63 Die durch einen bemerkenswerten Rigorismus, Dogmatismus und Moralismus gekennzeichnete Theaterpoetik Gottscheds spiegelt sich noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in der Dramen- und Bühnenkritik der deutschsprachigen Theaterjournale wider. Seine Dramenund Theatertheorie waren keineswegs obsolet und wurden in nicht wenigen Theaterperiodika in den neunziger Jahren ungebrochen verbreitet. Zahlreiche Theaterkritiker orientierten sich bei der Beurteilung erschienener Dramen und aufgeführter Stücke an der Regelpoetik Gottschedscher Prägung.64 Ein Blick in die Spielpläne der Theater in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts belegt darüber hinaus die Präsenz der Dramen Gottscheds auf den Bühnen.65 Für die Langlebigkeit der theaterpoetischen Leitlinien spricht ebenfalls, daß Franz Karl Hägelin, als Theaterzensor von 1770 bis 1805 zuständig für die Wiener Theater, ab 1782 auch für alle Aufführungen in den deutschen Erbländern, noch 1795 die von Gottsched in Anlehnung an das französische klassizistische Modell seit den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts entwickelten Normen des »regelmäßigen« Dramas und des »gereinigten« Theaters zur Begutachtung von Schauspielen als verbindlich zugrundelegte.66 Gottscheds Theaterpoetik mit der ihr inhärenten vernunftgesteuerten Regeldramatik, der Disziplinierung, Ausgrenzung und Bekämpfung »niederer« Theaterpraxen, in denen nicht selten Sexual- und Fäkalkomik eine Rolle spielten, sowie der volkstümlichen kompensatorischen »Lachkultur« kann als Komponente des von Norbert Elias beschriebenen allgemeinen Zivilisationsprozesses betrachtet werden.67 Bei der Umsetzung der Theaterreformen haben Gottsched und seine Anhänger aus ihrer Perspektive einige Erfolge zu verzeichnen, kam es doch à la longue zu einer allmählichen Verbesserung der Bühnenverhältnisse in mancherlei Hinsicht, etwa durch die Einrichtung stehen63

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Die Auseinandersetzung mit der Geistlichkeit habe die Freunde des Theaters leider genötigt, »diese der höhern Sinnlichkeit eigentlich nur gewidmete Anstalt für eine sittliche auszugeben. Sie behaupteten, das Theater könne lehren und bessern und also dem Staat und der Gesellschaft unmittelbar nutzen. Die Schriftsteller selbst, gute wackere Männer aus dem bürgerlichen Stande, ließen sich’s gefallen und arbeiteten mit deutscher Biederkeit und gradem Verstande auf diesen Zweck los, ohne zu bemerken, daß sie die Gottschedische Mittelmäßigkeit durchaus fortsetzten und sie, ohne es selbst zu wollen und zu wissen, perpetuirten.« – Ebd., S. 176. Beispiele für die Konstanz in der Rezeption der Theaterpoetik Gottscheds in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bei Heßelmann: Gereinigtes Theater? (s. Anm. 18). Vgl. die entsprechenden Verzeichnisse in: Wolfgang F. Bender, Siegfried Bushuven, Michael Huesmann: Theaterperiodika des 18. Jahrhunderts. Bibliographie und inhaltliche Erschließung deutschsprachiger Theaterzeitschriften, Theaterkalender und Theatertaschenbücher. Unter Mitarbeit von Anke Biendarra, Christoph Bruckmann, Volker Corsten, Hans-Joachim Jakob und Christiane Sasse. München 1994–2005. Ein Abdruck der Denkschrift, die Hägelin 1795 als Leitfaden für die Theaterzensur in Ungarn verfaßte, bei Carl Glossy: Zur Geschichte der Wiener Theatercensur. In: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 7 (1897), S. 298–340. Selbstverständlich waren die dort ausgebreiteten Kriterien Hägelins mit dem strikten Tugend-Laster-Schema seit seinem Amtsantritt auch maßgebend für die Theater Wiens. Dazu Bodo Plachta: Damnatur – Toleratur – Admittitur. Studien und Dokumente zur literarischen Zensur im 18. Jahrhundert. Tübingen 1994, S. 173–174. Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen (1939). Frankfurt a. M. 181993–1994. Zur Funktion des Theaters im Rahmen der von Elias entwickelten Zivilisationstheorie vgl. Heßelmann: Gereinigtes Theater? (s. Anm. 18), S. 21–30. Zur »Lachkultur« und zur karnevalesken Mentalität vgl. Michail Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Aus dem Russischen übersetzt und mit einem Nachwort von Alexander Kaempfe. München 1969.

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der Theater, durch die Professionalisierung des Bühnenbetriebs und der Ausbildung der Schauspieler, durch Änderungen der Bühnenausstattung, der Dekorationen, Requisiten und Kostüme, durch die soziale Sicherung und Anerkennung der Komödianten etc.68 Die oft beklagte Rückständigkeit der deutschen Theaterkultur konnte in diesen Bereichen gemindert werden. Langfristig betrachtet, griffen die Reformen in weiten Teilen des anvisierten neuen Publikums, nämlich des gesellschaftlich aufsteigenden Bildungsbürgertums: Die einst anrüchige Schaubühne entwickelte sich aus der Subkultur zum bürgerlichen Bildungstheater. Es war Gottsched, der die unter anderem von Schiller aufgegriffene und lange nachwirkende Vorstellung von der Schaubühne als »moralische[r] Anstalt« im deutschen Theaterdiskurs etablierte. Er verstand es, die besondere Medialität des Theaters zu nutzen und sie für sein moralphilosophisch ausgerichtetes Funktionskonzept fruchtbar zu machen. Kurzfristig gesehen mutet der Erfolg des Theaterprojektes allerdings eher bescheiden an. Gottscheds Theaterpoetik stieß bekanntlich bereits zu seinen Lebzeiten auf den erbitterten Widerstand einer jüngeren Generation, die sich an anderen Vorbildern orientierte und deren namhafteste Vertreter zunächst Bodmer, Breitinger und Lessing hießen. Die Kritik ist bekannt. Sie betraf unter anderem die einseitige Bindung an die Autoren des französischen Klassizismus, die starre Regeldramatik, das rigorose Festhalten an der Ständeklausel und an den drei Einheiten von Handlung, Zeit und Ort, die Unwahrscheinlichkeiten mit sich brachte, die Handlungsarmut, den häufigen Einsatz der Teichoskopie, das Verfassen von Thesendramen mit moralischen Lehrsätzen, Unklarheiten bei der zu erzielenden Katharsis, die Frage nach der Identifikation mit tragischen Helden durch bürgerliche Zuschauer etc. Nach Auffassung der Kontrahenten Gottscheds waren auf der Basis seiner theaterpoetischen Maximen keine wirkungsvollen Schauspiele auf die Bühne zu bringen. Gottscheds Scheitern betrifft auch sein engeres Umfeld in Leipzig und seine ehemaligen Partner im Bereich der Schaubühne, denn 1741 kam es nach jahrelang währenden Spannungen zum Bruch mit der Neuberschen Theatergesellschaft, die ihn massiv von der Bühne herab öffentlich verspottete und so sein Reformprojekt ad absurdum führte.69 Der Reinigungsprozess hatte auch keineswegs dazu geführt, in Leipzig und darüber hinaus gar flächendeckend die nach wie vor bei einem Großteil des Publikums beliebten Haupt- und Staatsaktionen, die Oper und das Singspiel sowie die Burlesken samt Hanswurst aus den Theatern zu entfernen. Gottsched scheint die Realität des Theateralltags verkannt zu haben, wenn er im Januar 1753 dem Reichsgrafen, kaiserlichen Feldmarschall und Diplomaten Friedrich Heinrich von Seckendorff auf dessen besorgte Anfrage hin, ob sein junger Neffe die Schaubühne in Leipzig besuchen dürfe, brieflich antwortet und dabei en passant selbstgerecht die Bilanz seiner Reform des Theaters zieht: Da wir es ganz auf französischen Fuß gesetzet, von Zoten und anderen niederträchtigen Dingen gereinigt, und mit guten moralischen und ernsthaften Trauerspielen bereichert haben: so kann es jungen Leuten den Schaden nicht mehr thun, als vormals.70 68 69 70

Eine ausgewogene Würdigung Gottscheds, die seine Erfolge und Misserfolge berücksichtigt, bei Krebs: Modernität und Traditionalität in Gottscheds Theaterreform (s. Anm. 45). Dazu ausführlich Haber: Die im Dienste der Gelehrsamkeit agierende Schauspielkunst (s. Anm. 20). Johann Christoph Gottsched an Friedrich Heinrich von Seckendorff (Leipzig, 19. Januar 1753). Zitiert nach Döring: Johann Christoph Gottsched in Leipzig (s. Anm. 3), S. 91.

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Sieht man einmal von der alten Frage ab, ob Schauspiele Zuschauern Schaden zufügen können, so bleibt festzuhalten, daß die von Gottsched verklärend skizzierte Theaterrealität in Leipzig und im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation 1753 anders aussah.

THOMAS ALTHAUS

Kritische Dichtkunst – Optionen der Gottschedischen Dramentheorie

Die Auseinandersetzung mit dem Literatursystem Gottscheds endet heute nicht mehr in der Kennzeichnung als starres Regelwerk. Diese Kennzeichnung diente der epochengeschichtlichen Annahme eines Aufklärungsprozesses, der sich von seiner Frühzeit durch Komplexion trennend abhebt. Das Einteilungsschema von restriktiver Bestimmung des Literarischen durch Gottsched und produktiver Entwicklung – seit etwa 1750 – im Bruch mit seinen Normen hat viel an ordnender Kraft eingebüßt. Heute scheint die literarhistorische Situation durch Wirkungszusammenhänge, die die Grenzscheide überlagern, genauer bezeichnet zu sein,1 obwohl sich, Gottsched betreffend, der kritische Befund kaum anders darstellt.2 Aber mit wachsender historischer Distanz wird der enge, wenn nicht gar ursächliche Zusammenhang zwischen seinem Lehrgebäude und der literaturgeschichtlichen Dynamik zur Mitte des 18. Jahrhunderts immer deutlicher. Bei der vermeintlichen Umkehrung von Normpoetik in regelfreie literarische Produktion handelt es sich um ein Begründungsverhältnis. Gottscheds Bestimmungen ergeben überhaupt erst das Voraussetzungsgefüge für vorwärts treibende Änderungen. Sie zu hemmen 1

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Das hat seit den späten 1980er Jahren insbesondere für die Tragödie der Aufklärung eine Forschung ausgelöst, die sich in Gottscheds theoretischer und konzeptueller Anstrengung neu fundiert. Vgl. u. a. Georg Michael Schulz: Tugend, Gewalt und Tod. Das Trauerspiel der Aufklärung und die Dramaturgie des Pathetischen und des Erhabenen. Tübingen 1988; Heike Hollmer: Anmut und Nutzen. Die Originaltrauerspiele in Gottscheds ›Deutscher Schaubühne‹. Tübingen 1994; Albert Meier: Dramaturgie der Bewunderung. Untersuchungen zur politisch-klassizistischen Tragödie des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 1993. Ausnahmen, deren Forcierungen aber noch zu diskutieren wären, bilden Arbeiten, die Gottscheds Ordnungsbestreben in dem seit Beginn der Neuzeit virulenten »Problem der Relativität und Perspektivität menschlicher Erkenntnis« fundiert sehen (Peter Borjans-Heuser: Bürgerliche Produktivität und Dichtungstheorie. Strukturmerkmale der poietischen Rationalität im Werk von Johann Christoph Gottsched. Frankfurt a. M., Bern 1981, S. 79) und die Unruhe des Systems bemerkbar machen: »Das System ruht nicht auf einem festen begrifflichen Fundament, es ruht überhaupt nicht, sondern verharrt in der Spannung der Begriffsfluktuationen, die es hervortreiben.« (Andreas Härter: Digressionen. Studien zum Verhältnis von Ordnung und Abweichung in Rhetorik und Poetik. Quintilian – Opitz – Gottsched – Friedrich Schlegel. München 2000, S. 164). Besonders die literarische Rhetorik hat Gottsched neu für sich entdeckt, dies unter Voraussetzung rhetorischer Modelle und Regelwerke, die bei ihrer Einziehung in Gottscheds Literatursystem miteinander konfligieren können. Vgl. z. B. Hermann Stauffer: Erfindung und Kritik. Rhetorik im Zeichen der Frühaufklärung bei Gottsched und seinen Zeitgenossen. Frankfurt a. M., Berlin, New York 1997, und Kersten Sven Roth: Wissenschaftsrhetorik. Johann Christoph Gottscheds ›Ausführliche Redekunst‹ (1759) als Lehre vom Wissenstransfer. In: Historiographia linguistica 31 (2004), S. 330–344.

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ist ihm seit der Kontroverse mit den Schweizern um die Einbildungskraft und das Wunderbare in der Poesie vorgehalten worden. Doch wesentlich erst durch Gottscheds definitorische Arbeit wird selbst auch Unbegrifflichkeit in der neu entstehenden Ästhetik prüf- und bezugsfähig positioniert. In sein Normgerüst als Strukturvorgabe lassen Folgetheoretiker Fall- und Detailstudien ein, die zu den Regeln, im Prozess ihrer weiteren Beachtung (!), Antithesen bilden, z. B. so, »daß man zuweilen die Nachahmung der Sache, der man nachahmet, unähnlich machen soll.«3 Das geschieht innerhalb des Modells oder folgt jedenfalls mit abweichender Konsequenz aus modellgerechter Argumentation. Da ist in Gottscheds Systematik offenbar bereits diejenige Asystematik angelegt, mit der sich dann vor allem Lessings Hamburgische Dramaturgie methodisch radikal von dem Anspruch auf ein Regelwerk der Dichtung absetzen wird. Die Critische Dichtkunst Gottscheds orientiert insofern auch den Normbruch. Anders als die Ästhetik, die aus veränderten philosophischen Voraussetzungen (mit einer Aufmerksamkeitsverlagerung auf die cognitio sensitiva, repraesentatio sensitiva4) historisch parallel zur Wissenschaft wird, entsteht die Poetik nach Gottsched aus genauer Kenntnis seines Theoriegebäudes.5 Diesem Lehrgebäude wird so viel Entwicklungs- und Widerspruchspotenzial entzogen, dass systemische Ordnung hernach mehr als Reduktion denn als Perspektive erscheint und der entsprechende Vorwurf auf die Critische Dichtkunst selbst zurückfällt. Auch von dieser Seite zeigt sich die Poetik der 1750er und noch der 1760er Jahre im Wesentlichen als Gottsched-Kritik.6 3 4

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Johann Elias Schlegel: Von der Unähnlichkeit im Nachahmen. In: ders.: Werke. Hg. von Johann Heinrich Schlegel. Bd. 3. Kopenhagen, Leipzig 1764. ND Frankfurt a. M. 1971, S. 167–176, hier S. 168. Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten: Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der ›Aesthetica‹ (1750/58). Übers. und hg. von Hans Rudolf Schweizer. Lateinisch-Deutsch. Hamburg 1983, S. 10–17 (§§ 14–27), und: ders.: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus. Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes, §§ III–XIII. Übers. und hg. von Heinz Paetzold. Hamburg 1983, S. 8–15. Das gilt natürlich auch für die daran sich abzeichnenden Desiderate, für Fragen, die Gottsched (so) nicht stellt: etwa die Frage nach dem Vergnügen am Tragischen, die den Briefwechsel Johann Jacob Bodmers mit Pietro dei Conti di Calepio (1736) motiviert; vgl. Zelles Argumentation einer Grenzerkundung der Aufklärungspoetik und -ästhetik im Bereich dieser Frage (Carsten Zelle: ›Angenehmes Grauen‹. Literarhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert. Hamburg 1987, S. 418). Es gilt ebenso aber für Distanzierungen von Gottsched, über die Bodmers weitere Dichtungstheorie und Johann Jacob Breitingers Konkurrenzunternehmen einer auch Critischen Dichtkunst (1740) sich positionieren. Zu diesem eingehend erforschten Konfliktverhältnis vgl. kursorisch Peter-André Alt: Tragödie der Aufklärung. Eine Einführung. Tübingen, Basel 1994, S. 85–91. Dazu gehört auch, dass die Paradigmen poetischer Theorie, die die Critische Dichtkunst für sich in Anspruch nimmt (Aristoteles – Horaz – Boileau), über Gottsched neu rezipiert und dann gegen ihn verwendbar werden. Bedeutende Wirkung dieser Art erzeugt Schlegels Batteux’ ([Charles] Batteux [und Johann Adolf Schlegel]: Einschränkung der schönen Künste auf Einen einzigen Grundsatz, aus dem Französischen übersetzt und mit einem Anhange einiger eignen Abhandlungen versehen. Leipzig 1751), während Curtius’ Aristoteles-Übertragung (Aristoteles: Dichtkunst, ins Deutsche übersetzet, Mit Anmerkungen, und besondern Abhandlungen versehen von Michael Conrad Curtius. Hannover 1753) bereits Teil solcher Wirkung ist. »Herr Gottsched, der erste unter den Deutschen, der eine kritische Dichtkunst geliefert« (S. 352), erschließt für die anstehenden Diskussionen den Theorieraum in seinen historischen Dimensionen, und er wird (mit seinen Kontrahenten) von dort aus weiterführend kritisiert: »Herrn Gottscheds Erklärung [...] erschöpfet das Wesen der Dichtkunst eben so wenig, als die Erklärung des Herrn Breitingers« (Michael Conrad Curtius: Abhandlung von dem Wesen und dem wahren Begriffe der Dichtkunst. In: ebd., S. 339–380, hier S. 352 u. 379 [§ 8 u. 25]). – Im Folgenden ist noch zu sehen, welche Spannung sich die Critische

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Der Entwurf provoziert Gegenentwürfe, die auf seine Modellierung angewiesen bleiben. Das macht die Regelbildung zur Prämisse für nachfolgende Auseinandersetzungen um Stellenwert und Erkenntnisfunktion von Dichtung, Gattungskriterien und Schreibweisen. Vor allem Drama und Theater des 18. Jahrhunderts profitieren dergestalt von normbedingter Divergenz. Diese Dialektik entfaltet sich aber nicht erst jenseits der Critischen Dichtkunst. Ihr konstitutiver Anteil an der Auslösung der modernen Literatur im Verlauf des 18. Jahrhunderts reduziert sich nicht auf den Part der Normvorgabe. Im Folgenden wird nach Spuren gesucht, die das Wirkungsverhältnis von Regulierung und Deregulierung bereits in der Regelpoetik selbst hinterlassen hat. Die Absicht auf eine genaue Bestimmung nach Regeln schult hier bereits den Blick für Möglichkeiten, die in der Abweichung stecken, und weist Freiräume der Entwicklung aus. Außerdem wird nicht alles bestimmt. Manche Darstellungskonvention wird als ›regelwidrig‹ verworfen. Schließlich löst sogar das Bestimmen in sich bereits Diversifikation aus, indem es als genaues Unterscheiden mit analytischer Schärfe durch die Normierung hindurch Problemlagen erkundet. In diesem Beobachtungsprozess gewinnt dann auch noch die eigene mustergültige literarische Produktion Gottscheds gerade durch ihren Theoriegehalt, also eigentlich durch ihren Bestimmungsgehalt an Polyvalenz. Das soll hier abschließend an einem verhältnismäßig sogar eher unauffälligen Beispiel, am Schäferspiel Atalanta oder Die bezwungene Sprödigkeit von 1741 gezeigt werden.

1. Regelmäßigkeit als logischer Wert Für Gottsched äußert sich der Verstand als streng rationales Vorgehen im Akt der Erkenntnis, im Sinne der cartesischen Ursprünge des neuen Rationalismus. Dessen Methodenreflexion stellt primär auf eine gnoseologische statt auf eine ontologische Ordnung ab. Von daher erspart die Konzentration auf die Methode – auf regulae ad directionem ingenii – eigentlich auch Auskünfte über das Wesen des Denkens.7 Aber Gottsched entlastet sich hier nicht von vermögenstheoretischer Argumentation oder von metaphysischen Voraussetzungen. Für Bedenken in dieser Hinsicht ist das Philosophieren des Wolffianers zu bestimmungsfreudig und auch wohl zu selbstgewiss. Gottsched insistiert auf methodischer Grundlegung der Verstandestätigkeit, ohne das erkenntnistheoretische Potenzial einer solchen Argumentation auszuschöpfen, und strategisch zu anderem Zweck. Ihm geht es um Bereiche außerhalb der strengen Erkenntnislehre, in

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Dichtkunst schon selbst einträgt mit der Entscheidung für die Ars poetica des Horaz als Prolog (in vollständiger Textpräsentation und Übertragung). In der Logik der Formalisierung betrifft die ›Intuition des Geistes‹, die Descartes’ Methodenlehre den ›Regeln‹ und den ihnen folgenden ›Deduktionen‹ vorstuft, die intuitive Vorwegnahme selbst wieder jener ›Operationen, da sie ja schlechthin die einfachsten und ersten sind` (»hae ipsae operationes [...], quia sunt omnium simplicissimae et primae«); deshalb ist es ›weit angebrachter, überhaupt nicht an die Erforschung der Wahrheit irgendeines Gegenstandes zu denken, als dies ohne Methode zu tun.‹ (»Atqui longe satius est de nullius rei veritate quaerenda unquam cogitare, quam id facere absque methodo« [René Descartes: Regulae ad directionem ingenii. Rules for the direction of the natural intelligence. Hg. und übers. von George Heffernan. Amsterdam, Atlanta 1998, Regula IV, S. 84/86]).

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denen sich nicht mehr »acroamatisch philosophiren« lässt.8 Dem Wolffschen System nach sind das Anwendungs- und Erfahrungsbereiche, zu denen die Erkenntnisarbeit sukzessiv vordringt, im Systemaufbau vorläufig aber durchaus noch mit einem Überschuss an Intention.9 Wird indes widerständige Empirie eingerechnet, sind das solche Bereiche, in denen die Ordnung der Dinge fraglich bleibt und sich demzufolge die Geltungskraft des Verstandes (zumindest vorerst) nur in der Regelanwendung bezeugt. In diesen Bereichen hat sich die Konzeption von Philosophie als Weltweisheit zu bewähren. Hier muss sie sich durch unbeschränkte logische Operation als universell gegenstandsfähig erweisen. Dabei setzt Gottsched zu einer Metabasis an: Geleitet von der Vorstellung einer nach dem Vernunftplan Gottes organisierten Welt schließt er für die Bereiche zweiter und dritter Philosophie nicht mehr von Rationalität auf Regeln, sondern umgekehrt von Regeln auf Rationalität. Regeln sind vernünftig. Wo sie vorkommen, sich die einzelnen Bereiche der Erfahrung mithin nach Prinzipien organisiert zeigen oder erklären lassen, sind sie auch bereits der erweiterten Logik erschlossen, ja für das Ordnungssystem diskursiven Denkens transparent. Eine solche Ausdehnung, die der eigenen Profession nach zentrale, stellt die Dichtungslehre als Normpoetik dar. Hier ist »Regelmäßigkeit« die Passformel für die Integration der Erscheinungen in das philosophische Modell: als »lauter regelmäßige Sachen«, »ein regelmäßiger und richtiger Geschmack«, »regelmäßige Ausdrückungen«, eine »regelmäßige Tragödie«, überhaupt ein »regelmäßiges Theater«, »schöne, regelmäßige Stücke« u. dgl. mehr.10 Das vor allem hat den Literaturtheoretiker Gottsched um seinen guten Ruf gebracht. Wie sich aber die GottschedKritik daran bis zur Verwerfung steigert, geht im selben Maß der Blick für die kognitivkonzeptuelle Leistung verloren, mit der in der Critischen Dichtkunst das literarische Feld organisiert wird.11 Regelbildung im Sinne einer Methodisierung, Systematisierung und Durchstrukturierung ist Durchdringung nach Begriffen. Das verlangt über das ordnende Aufweisen von Gegenständen, Darstellungskonzepten und Genrekonventionen hinaus nach einer Intentionalisierung literarischer Strukturen: Die Aufbauregeln von Texten, welchen Herkommens auch im8

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Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit. In: Ausgewählte Werke. Bd. V/3 (Variantenverzeichnis). Hg. von Phillip M. Mitchell. Berlin 1989, S. 207 (Vorrede zur 1. Auflage von 1733). Vgl. etwa die keineswegs nur als captatio benevolentiae gemeinte Einräumung Wolffs in der Deutschen Physik: »Und scheinet es mir noch viel zu zeitig zu seyn, daß man, wie z.E. Cartesius gethan, gewisse allgemeine Gründe, als Elemente der Dinge setzet, daraus man alles durch den blossen Verstand herleiten will, was in der Natur möglich ist. Wo man einmahl diesen Schluß gefasset, da hänget man seinen Gedancken nach und fänget an zu dichten, wenn es die Umstände noch nicht leiden, daß man hinter die Wahrheit kommen kan.« (Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken Von den Würckungen Der Natur [Deutsche Physik]. Halle 1723. ND in: ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Jean École, Hans Werner Arndt u. a. Abt. I. Deutsche Schriften. Bd. 6. Hildesheim, New York 1981, Vorrede, fol. [):( 6v]). Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Leipzig 41751. ND Darmstadt 1977, S. 95, 127, 298, 616, 639 und 752. Wo nicht anders bezeichnet wird im Folgenden auf diese Ausgabe verwiesen. Unter kultursoziologischem Aspekt stößt diese Systembildung gegen den ›ersten Eindruck‹ von Verschließung und Kontrolle auf längere Sicht den Autonomisierungsprozess der Literatur im 18. Jahrhundert an. Vgl. dazu Thomas Anz: Literarische Norm und Autonomie. Individualitätsspielräume in der modernisierten Literaturgesellschaft des 18. Jahrhunderts. In: Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen Aufklärung. Hg. von Wilfried Barner. München 1989, S. 71–91, hier S. 84f.

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mer, bedürfen je für sich einer Begründung. Historische Beglaubigung reicht dafür nicht aus. Sie verursacht oft genug eher sogar Probleme, verlangt sie doch der Normpoetik schwierige Rechtfertigungen ab. Da »Regelmäßigkeit« an sich vernünftig sein soll, kann es verfehlte Regeln nicht geben, zufallsbedingte auch nicht, nur richtige und notwendige. Bürgt ihr Vorhandensein so bereits für ihren logischen Gehalt, muss das regelbezogene Denken von jeder einzelnen Norm aber natürlich dennoch argumentativ überzeugen. Hierdurch gerät das rationalistisch entwickelte Literatursystem immer wieder erheblich unter Erklärungsdruck. Das Vernünftige der Regeln ist vor allem für die Prinzipien der Gattungslehre zu erweisen. Bei den ›Drei Einheiten‹ des Dramas geschieht das unbehilflich genug, für die Einheit von Zeit und Ort in strikter Analogie zur Rezeptionssituation: [...] wie ist es wahrscheinlich, daß man es auf der Schaubühne etlichemal Abend werden sieht; und doch selbst, ohne zu essen, oder zu trinken, oder zu schlafen, immer auf einer Stelle sitzen bleibt? Die besten Fabeln würden also eigentlich diejenigen seyn, die nicht mehr Zeit nöthig gehabt hätten, wirklich zu geschehen, als sie zur Vorstellung brauchen; das ist etwas zwey oder drey Stunden: […].12 Die Zuschauer bleiben auf einer Stelle sitzen: folglich müssen auch die spielenden Personen auf einem Platze bleiben, den jene übersehen können, ohne ihren Ort zu ändern.13

Das mutet dem Publikum eine ganz und gar bedingungsfixierte Wahrnehmung zu, ohne darüber an eine poetologische und textfunktionale Begründung der Regeln heranzureichen. Die weitere Regel von der Einheit der Handlung wird aus Voraussetzungen erwiesen, die von der Critischen Dichtkunst zuvor selbst statuiert worden sind. Damit ist diese Regel zwar systembezogen, aber (noch lange) nicht gegenstandsbezogen schlüssig. Aus der grundsätzlichen Vorgabe »[z]u allererst wähle man sich einen lehrreichen moralischen Satz«14 folgt für das Drama, dass es auch nur »eine einzige Haupthandlung«15 habe, in explizit selbstreferentiellem Bezug: »Die ganze Fabel hat nur eine Hauptabsicht; nämlich einen moralischen Satz: also muß sie auch nur eine Haupthandlung haben.«16 Solche Erklärungsangebote erweisen sich trotz der entschiedenen Setzung als vorläufig und widerlegbar. Aber die Begründungsfrage ist für jeden einzelnen Fall einer deshalb denn auch befragbaren Norm nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Für die ›Drei Einheiten‹ regt sie Diskussionsprozesse an, in denen einsehbar werden muss, dass die Regelbefolgung textorganisatorisch, textintensivierend und dramaturgisch von Belang ist: dass die Einheit der Handlung grundsätzlich für Konzentration sorgt, dass die Einheit der Zeit Aufstieg und Fall, Glückswechsel zu einem Geschehen in wenigen Stunden komprimiert und dass die räumliche Begrenzung komplexer dynamischer Prozesse eine Psychologisierung der ›zum Stehen‹ gebrachten Konflikte, eine innere statt äußere Bewegung der Figuren erreichen lässt.17 Die Regeln werden in den 12 13 14 15 16 17

Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 10), S. 614 Ebd., S. 615. Ebd., S. 161. Ebd., S. 609. Ebd., S. 613. Darstellungsstrategische Nutzung erfährt – historisch direkt – besonders die Regel von der Einheit der Zeit. Vgl. in der Deutschen Schaubühne (Johann Christoph Gottsched: Die deutsche Schaubühne. Leipzig 1741–1745. ND hg. von Horst Steinmetz. Stuttgart 1972) etwa die Klage der Dido gegen Ende

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kritischen Auseinandersetzungen um die Critische Dichtkunst solcher und ähnlicher und wohl auch unterschiedlicher Auslegung fähig. Ist die Befolgung der Regeln nicht dergestalt zu perspektivieren, werden sie bald als Hemmung erfahren und kommt es in gar nicht ferner Zeit zu Revolutionierungen der dramatischen Textur. Wenn Gottsched Textstruktur und Rezeptionsbedingungen aufeinander bezogen sehen will und etwa die Dauer der dramatischen Handlung mit der Aufführungs- und Lektüredauer möglichst genau korrespondieren lässt, gilt das dem Erweis, dass Normbefolgung in vollständiger Weise auch Mimesis garantiert.18 Die Regeln, denen die Weltabbildung folgt, sind keine eigengesetzlichen Verfahren der Literatur, sondern der Welt und deren eigenen Regeln abgeschaut: »Die Regeln nämlich, die auch in freyen Künsten eingeführet worden, kommen nicht auf den bloßen Eigensinn der Menschen an; sondern sie haben ihren Grund in der unveränderten Natur der Dinge selbst; in der Uebereinstimmung des Mannigfaltigen, in der Ordnung und Harmonie«,19 in der Gott »alles nach Zahl, Maaß und Gewicht geschaffen« hat.20 Insofern ergibt sich zwischen der Darstellung des Natürlichen und dem Normvorrat der Critischen Dichtkunst ein Verhältnis der Rückführung oder der Herleitung. Die rationalistische Dichtungstheorie schiebt sich so der Naturnachahmung als Folie unter. Eine Differenz zwischen Vernunft und Empirie ist damit in allen notwendigen Belangen theoretisch ausgeschlossen. Die Erscheinungen in ihrer Fülle erklären sich durch das Wirken eines in Gott personifizierten, dadurch universalen Intellekts. Das heißt denn auch, dass solche Erscheinungen, die nicht dem Vernunftmodell zu integrieren sind, keinen Realitätsanspruch haben. Es gibt sie nur zufällig. Ihnen fehlt die Notwendigkeit, die sich eben erst daran erweist, dass sie sich den Regeln der Verstandestätigkeit zuordnen und nach diesen beschreiben lassen.

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von Schlegels gleichnamiger Tragödie: »Tag, der was sonst kein Mensch durchs ganze Leben sieht,/ Unzählich viele Quaal in eine Stunde zieht« (Johann Elias Schlegel: Dido, ein Trauerspiel, V, 2. In: Die deutsche Schaubühne. 5. Teil, S. 191–244, hier S. 241) oder gleich zu Beginn der Bluthochzeit die Argumentation Catharina von Medices mit dem Zeitdruck: »großer Dinge Glück/ Befördert oder hemmt ein kurzer Augenblick. [...] In wenig Stunden ist oft alles umgeschlagen.« (Johann Christoph Gottsched: Die parisische Bluthochzeit König Heinrichs von Navarra, ein Trauerspiel. I, 1. In: Die Deutsche Schaubühne, 6. Teil, S. 1–80, hier S. 12). – Die Kritik an der Doppelhandlung von Corneilles Horace, auf die bereits die Vorrede zum 1. Teil der Schaubühne anlässlich der hier aufgenommenen Übersetzung hinwirkt (»der berühmte Horaz, aus dem Peter Corneille«, doch »nicht [...] ganz ohne Fehler« [1. Teil, Vorrede, S. 5-21, hier S. 9]) führt in Behrmanns Die Horazier zum Verzicht auf die Nebenhandlung um die Horazier-Schwester Camilla, die alles Heroische verwirft und dafür Strafe erfährt. So endet die Handlung dann aber bereits mit der Fluchrede Camillas auf die Tugenden der Römertragödie: »Daß dir, glorsüchtigs Rom, dein heutigs Siegsgeschrey/ Der Anfang deines Fluchs und deins Verderben sey [...] Verflucht der Römer Glück, der Sieger und der Sieg!« (Georg Behrmann: Die Horazier. Ein Trauerspiel, V, 7. Hamburg 1751. In: Das deutsche Drama des 18. Jahrhunderts in Einzeldrucken. Das Repertoire bis 1755. Hg. von Reinhart Meyer. Bd. 1. München 1981, S. 203–326, hier S. 322) Über die genaue Regelbefolgung erhält eine rigorose Verwerfung des Genrekonzepts das letzte Wort im Stück. Das verdeutlicht als einzelnes Beispiel den Dynamisierungseffekt von Gottscheds normpoetischer (als vorgeblich statischer) Prägung des dramengeschichtlichen Prozesses. Vgl. Joachim Birke: Gottscheds Neuorientierung der deutschen Poetik an der Philosophie Wolffs. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 85 (1966), S. 560–575, hier S. 575, zu den Regeln als »Gesetz der Natur«. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 10), S. 123. Ebd., S. 132.

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2. Das Problem der Beispiele Spiegelt Gottscheds Poetik in ihren Prinzipien die »unveränderte Natur der Dinge selbst«, so verfährt die normative Dichtungstheorie der Prämisse nach zugleich deskriptiv. Daraus wird aber doch nur eine Anweisungspoetik. Schwer zuzuordnende Darstellungsintentionen und ungefüges Darstellungsmaterial bedingen den Durchsetzungsanspruch. Doch wird Gottscheds Reduktionismus einer Dichtkunst als angewandte Logik genau dort produktiv, wo die Normpoetik bei der Aufweisung ihrer Gegenstände auf Widerstand trifft. Der Regelbezug führt zur Ausstellung von Kongruenzen und Inkongruenzen. Im Spektrum der Gattungen, Texturen, Schreibweisen und an deren historischer Entfaltung zeichnen sich die Verluste ab, die mit der Regulierung einhergehen. Der Maßstab macht die Abweichungen so recht erst kenntlich. Das schärft und verkompliziert von sich aus die literarische Wahrnehmung, wenn zunächst auch weniger auf dem Niveau der Argumentation als auf dem der Beispiele. Die Befunde sind in negativer Formulierung so, dass es keine literarische Produktion ausschließlich am Leitfaden der ratio gibt. Die trotzig hierauf bestehende Vernunft kennt deshalb eigentlich nur problematische Realisierungen, zumal sich die Critische Dichtkunst in dieser Hinsicht nicht nur als eine Literaturtheorie, sondern auch als eine Literaturgeschichte betrachtet: »ich schmäuchele mir, daß noch keine deutsche Dichtkunst, in diesem Stücke so viel Nachrichten gegeben hat, als die meinige.«21 Fast durchgehend zeichnet sich ein Spannungsverhältnis zwischen der Regel und den Fällen ab. Selten lassen sie sich wirklich genau als ein Beispiel für die Lehre brauchen. Je extensiver der Bezug wird und sich die aufgerufenen Texte in ihm geltend machen, umso schwieriger wird die Inanspruchnahme. Grundsätzlich votiert dabei die Theorie für sich selbst. Statt sich durch Gegenbeispiele in ihren Positionen irritiert zu finden, behauptet sie sich als Regulativ der Praxis. Kanonische, also eigentlich doch mustergültige Texte sind davon nicht ausgenommen.22 Auch einem Sophokles oder Euripides, einem Corneille oder Molière wird gesagt, was sie hätten besser machen können. Indem jedoch die Critische Dichtkunst ständig ›Fehler‹ thematisiert, vermittelt sie der Leserschaft mit oft sorgfältig ausgearbeiteten Literaturhinweisen Lektüreerfahrungen quer zum eigenen Programm, »Beyspiele«, »deren Spuren man zu fliehen Ursache hat.«23 Im Kapitel »Von der Wahrscheinlichkeit in der Poesie« wird Hans Sachs zitiert, die Comedia. Die ungeleichen Kinder Eve von 1553, als eines der Beispiele dafür, wie man es mit der Wahrscheinlichkeit »ärger«24 nicht mehr halten kann. Die Komödie greift die im 16. Jahrhundert beliebte Katechismuslegende auf, in der »Gott mit den Kindern Adams ein Examen aus Luthers Katechismo angestellet«,25 dem Kleinen Katechismus von 1529. Kain fällt natürlich durch, womit er sich ein Leben als Landmann, im Schweiße seines Angesichtes, verdient und Römer und Papis21 22

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Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 10), Vorrede zur 4. Aufl., S. XIII. Vgl. Gottsched: Die Deutsche Schaubühne (s. Anm. 17), 1. Teil, Vorrede, S. 10: »die tragische Dichtkunst hat so viel Schwierigkeiten, daß es fast unmöglich ist, dem Tadel der Kunstrichter zu entgehen; und dasjenige Trauerspiel ist das beste, welches die kleinsten Mängel hat.« Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 10), Vorrede zur 4. Auflage, S. XIII. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 10), S. 205. Ebd.

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ten als Nachkommenschaft. Das alles lehnt die Normpoetik als völlig regellose Operation ab, die in gänzlicher Verwirrung der Zeitfolge die ersten Menschen mit dem Reformationserbe der Katechese beehrt. Das ist ein Unsinn in Gottscheds Modell, der aber bis zur 3. Auflage der Critischen Dichtkunst im Komödienkapitel weitere und ungewöhnlich breite Ausführung erfährt. Erst in der 4. Auflage von 1751 ist dies getilgt: Wir haben wohl ganze Fuder Comödien, die in Hans Sachsens Geschmacke geschrieben, und meistens aus der Bibel genommen sind. [...] Aber sie sind auch mehrentheils so künstlich, wie dieses nürnbergischen Meistersängers seine Werke: der wohl gar Gott den Herrn zum Adam kommen, und mit seinen Kindern, deren er ihm ein halb Dutzend fromme, und ein halb Dutzend gottlose dichtet, ein Examen aus D. Luthers Catechismus halten läßt. Wie er nun den Abel und seine Kameraden im Vater Unser, Glauben und den zehn Gebothen wohl bewandert findet: also besteht Cain mit seinen bösen Brüdern sehr übel, wenn er sein Vater Unser so verstümmelt herbethet: O Vater Himmel unser, Laß uns allhier dein Reich geschehen, In Himmel und in Erden sehen, Gieb uns Schuld und täglich viel Brodt, Und alles Uebel, Angst und Noth. Eben so fein machts der andere, den er Dathan nennet, und der den Glauben hersagen soll. Es heißt: Ich glaub an Gott, Himmel und Erden, Und auch des Saamens Weib muß werden, Und des heiligen Geistes Namen Die Sünde, Fleisch und Leben. Amen. Man sieht aus diesen und andern Proben wohl, daß der ehrliche Mann kein übeles Geschicke zur Beobachtung der Charactere und zur Nachahmung der Natur gehabt: Allein die Regeln der Wahrscheinlichkeit sind ihm ganz unbekannt gewesen; sonst würde er keine solche Vermischung der Zeiten gemacht haben, als aus dem angeführten sattsam erhellen wird.26

Die Hans-Sachs-Zitate widerlegen im Detail den insgesamt kritischen Befund von Sinnwidrigkeit durch Normverletzung. Hans Sachs folgt zwar nicht der Norm, aber er hat »kein übeles Geschicke zur Beobachtung der Charactere und zur Nachahmung der Natur«. Hier wirken sich Lektüreerfahrungen Gottscheds im Zusammenhang mit der ausführlichen literarhistorischen Erhebung des Nöthigen Vorrathes zur Geschichte der deutschen Dramatischen Dichtkunst aus,27 und zwar in Kollision mit den Regeln, jetzt der Wahrscheinlichkeitsregel, durch die solche Qualitäten doch erst garantiert sein sollen. Nähere Berücksichtigung erfahren als positive Beispiele bevorzugt solche Texte, an denen sich auch Kritisches ausstellen lässt, und als negative Beispiele bevorzugt solche, die nicht einfach nur für problematisch gelten können.28 Eingehende Fehlerdiagnose verliert ihr Motiv, 26 27

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Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. In: ders.: Ausgewählte Werke. Bd. VI/2. (Anderer besonderer Theil). Hg. von Joachim und Brigitte Birke. Berlin, New York 1973, S. 346f. Johann Christoph Gottsched: Nöthiger Vorrath zur Geschichte der deutschen Dramatischen Dichtkunst. Leipzig 1757 und 1765. ND Hildesheim 1970. Die Bibliografie geht zurück auf das »Verzeichniß aller Theatralischen Gedichte, so in deutscher Sprache herausgekommen« in: Gottsched: Die deutsche Schaubühne (s. Anm. 17), 2. Teil, S. 43–72, mit Nachträgen in den Folgebänden. Durch solche Beispiele für seine Lehre setzt Gottsched die eigene Dogmatik ein Stück weit jener Technik kritischen Zitierens aus, mit der er in den Anmerkungen zu Bayles Wörterbuch (1740) Positionen konstelliert und miteinander konfrontiert (Marie-Hélène Quéval: Johann Christoph Gottsched und Pierre Bayle – Ein philosophischer Dialog. Gottscheds Anmerkungen zu Pierre Bayles Historisch-critischem Wörter-

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wenn ein »Stück nicht sonst viel andere Schönheiten in sich hätte.«29 Dann aber sind für die Aufrufung einerseits Differenzen, andererseits Überhänge leitend, an denen sich das Dichtungsprogramm als eine reduktive und selektive Ordnung der Literatur dokumentiert, hinter deren Schemata und Kategorien eine Literaturgeschichte der Abweichungen wirksam ist. Diese Literaturgeschichte der Abweichungen ist in der Critischen Dichtkunst überall präsent, sobald sie ihr Regelprogramm detailliert an Beispielen diskutiert. Daraus folgt annähernd systematisch die Konfrontation der Fülle anarchisch regelferner Produktionen mit der Wahrheit des theoretischen Systems und eine Critische Dichtkunst als Zwei-Ebenen-Text: für eine Wahrnehmung, die von dort (von jener regelfernen Textproduktion) ihr Material bezieht und von hier (von diesem theoretischen System) ihre Ordnung. Auf andere Weise bestätigt dies sogar der Hauptbeleg in den Dramenkapiteln der Critischen Dichtkunst, der von Gottsched als Tragödienarchetyp favorisierte König Oidipus des Sophokles. In diesem Fall längen Einlassungen zur vorbildlich tragischen Motivation des Geschehens nach der hamartia-Regel30 den Textbezug, während gleichzeitig aber dem Problem des Ödipus mit moralischer Unterweisung beizukommen ist: »hätte er nur niemanden erschlagen, so wäre alles übrige nicht erfolget.«31 Da stehen Verhaltensbesserung im Sinne der Aufklärung und tragische Notwendigkeit im Sinne des antiken Dramas einander derart gegenüber, dass aus dem Bezug auf Sophokles ein Widerspruch zur Theorie wird.

3. Lückenbildung (in der Theorie der Komödie) Das Festhalten an wenigen Regeln steht in keinem Verhältnis zur Komplexität der Literaturgeschichte und wirkt vorderhand nur restriktiv. Aber es ermöglicht auch ein freies Tun in davon nicht betroffenen Belangen jenseits des Erfassungsbereichs. In dieser Hinsicht lassen die wenigen prinzipiellen Vorgaben der Normpoetik trotz ihrer Verbindlichkeit gerade dort auch Spielräume zu, wo die tradierten Genrekonventionen ihre Gegenstandsbereiche vollständig abdecken. So kann die Critische Dichtkunst wohl sehr genau und mit wenig Lizenzen das »Wesen eines rechten Lustspiels«32 bestimmen, da die Definition nicht aus der Geschichte der Komödie, sondern im Horizont der Moraldidaxe entwickelt wird: »Die Komödie ist nichts anders, als eine Nachahmung einer lasterhaften Handlung, die durch ihr lächerliches Wesen den Zuschauer belustigen, aber auch zugleich erbauen kann.«33 Das impliziert aber mit Bezug auf jene Geschichte eine Kritik an solchen Komödien, bei denen »an nichts zu gedenken« ist »als an Liebesstreiche«, und die alle »mit dem Heirathen endigen«, als sei »weiter nichts in der Welt, als das Hochzeitmachen, was einen fröhlichen Ausgang geben kann?«34 »In meiner Schaubühne« gibt

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buch. In: Diskurse der Aufklärung. Luise Adelgunde Victorie und Johann Christoph Gottsched. Hg. von Gabriele Ball, Helga Brandes und Katherine R. Goodman. Wiesbaden 2006, S. 145–168, hier S. 155). Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 10), S. 615. Ebd., S. 606–608 und 611–613. Ebd., S. 607. Ebd., S. 643. Ebd. Ebd., S. 646.

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es »von meiner Freundinn« (der Gottschedin) deshalb ein Stück, in dem »eine Heirath zurück geht.«35 Dies betrifft das Lustspiel Die ungleiche Heirath, in dem gegen die mit dem Titel gesetzte Erwartung nach einer ersten falschen Partnerwahl die bis in die letzte Szene hinein vorgeblich richtige Partnerwahl dann auch nicht zustande kommt. In dieser zweiten Partnerschaft sähen sich »viel Verstand, Verdienste« des Bürgers Wilibald von der Vorurteilslosigkeit des adligen Fräuleins Amalia, »von dero starken Vernunft« in Liebe anerkannt.36 Doch tatsächlich verbirgt sie hinter entsprechend freier Rede nur ihren Standesdünkel, und er besitzt bis zu besagtem Ende nicht so viel Verstand, um das zu durchschauen. Dann aber ersetzt ein unterdrückter Fluch den glücklichen Schluss: Fräulein Amalia. [...] lassen sie sich den Appetit zu den Fräuleins vergehen! [...] und wenn künftig jemanden dieselbe Lust ankömmt, die ihnen angekommen ist; so erzählen sie ihm nur, wie es ihnen schon als Bräutigam, ergangen ist, und warnen sie ihn vor der Hochzeit. Sie geht ab. Wilibald, nachdem Amalia weg ist. Je! so hole doch der Henker alle – – – Er schlägt sich aufs Maul. Ich hätte bald ein böses Wort gesagt!37

Die Leerstelle der Aposiopese betrifft alle »Fräuleins«, alle Hochzeiten und – vor dem Hintergrund des Änderungsvorschlages im Komödienkapitel der Critischen Dichtkunst – alle Lustspiele, die ihr Geschehen auf diesbezügliche Erwartungen abstellen. Sie exerzieren immer nur wieder das Heiratsschema, während es nun statt dessen um Urteilsfähigkeit entlang am Tugend-LasterSchema gehen soll. Das ist nicht nur eine Verlagerung von einem rigiden Modell auf das andere. Wird nämlich auf das Heiraten als überstrapazierten Komödientopos verzichtet, ist auch die darin markierte Konfliktauflösung im Vollzug der Handlung nicht mehr selbstverständlich. Es fehlt das letzte Verständigungssignal, das den Lustspieldialog vor endgültiger Konfrontation bewahrt. Die Einsicht in Richtiges und Falsches, Tugend- und Lasterhaftes verlangt nach kritischer Einschätzung, nicht jedoch nach Ausgleich. Deshalb ist die Auflösung der Handlungsverwicklungen durch Heirat nun ein nebensächliches Kriterium der Komödie. Aber dann muss die Einsicht auch das Glück aufwiegen. In der Heiratsfrage der Komödie deuten sich die Umkehreffekte strikter Bestimmung nur erst an, durch die nun die Erfüllung einer genau definierten Aufgabe mit Problemüberschuss zusammentrifft: Der Handlungsentwurf für eine Musterkomödie demonstriert im Weiteren nachgerade, wie Gottscheds normpoetische Akzentuierung eines einzigen Definitionskriteriums dem Genre die Option auf Ungeregeltes verschafft. Hier schließen sich Funktionseingrenzung und semantische Komplexität gerade nicht aus, vielmehr sorgt die Festlegung der Perspektive für offene Fragen: Zu einer komischen Handlung nun kann man eben so wenig, als zu tragischen, einen ganzen Character eines Menschen nehmen, der sich in unzähligen Thaten äußert; als z.E. einen Cartousche mit allen seinen Spitzbübereyen. Es muß eine einzige, recht wichtige That genommen werden, dazu viele Anstalten gehören, ehe sie ausgeführet werden kann; die aber, vieler Schwierigkeit ungeachtet, gelinget, und also eine Handlung ausmacht. Diesen Erfolg derselben lächerlich zu machen, dazu gehört, daß entweder Cartousche, oder der, so von ihm betrogen wird, auslachenswürdig werde. Dieses letztere zu 35 36 37

Ebd. [Luise Adelgunde Victorie Gottsched]: Die ungleiche Heirath, ein deutsches Lustspiel in fünf Aufzügen, V, 8. In: Gottsched: Die Deutsche Schaubühne (s. Anm. 17), 4. Teil, S. 69–184, hier S. 183. Ebd.

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versuchen, müßte man etwa dichten, es hätte sich jemand in Paris so klug dünken lassen: daß ihn Cartousche mit aller seiner List nicht sollte betrügen können [...] und dadurch demselben Lust gemacht, seine Kunst an ihm zu erweisen. [...] Hier würde nun freylich wohl die Komödie ein lustiges Ende nehmen: aber nicht die Spitzbüberey; sondern die eingebildete Klugheit des Betrogenen, würde dadurch zum Gelächter werden; und die Morale würde heißen: Man sollte sich nicht zu weise dünken lassen, wenn man mit verschmitzten Leuten zu thun hat; vielweniger mit seiner vorsichtigen Behutsamkeit pralen, weil dieses uns die Leute nur desto aufsätziger macht. Die Bestrafung der Spitzbuben nämlich, ist kein Werk der Poeten, sondern der Obrigkeit. Die Komödie will nicht grobe Laster, sondern lächerliche Fehler der Menschen verbessern.38

Hier hilft nicht die Tugend, sondern nur das Laster dem Laster ab. Die Komödie muss sich zur notwendigen Konzentration der Handlung (zur Wahrung ihrer Einheit) für die Abschaffung eines Problems entscheiden. Sie kann »entweder Cartousche, oder de[n], so von ihm betrogen wird«, der Lächerlichkeit preisgeben. In überhaupt tugendferner Situation wird der Bearbeitung des kleineren Übels »eingebildete[r] Klugheit« Vorrang gegeben, und dafür ist das größere Übel der »Spitzbüberey« auch noch als Mittel der Austreibung vonnöten. So steht die Lösung unter Bedingungen, die zumindest ebenso bedenklich sind wie das fokussierte Problem. Nur die selektive Wahrnehmung sorgt dafür, dass die Probleme gemessen am moraldidaktischen Anliegen nicht überdimensioniert erscheinen. Vieles ist »mehr strafbar und widerlich, oder gar abscheulich, als lächerlich«, die Komödie hingegen sei eben nur die Nachahmung einer solchen »lasterhaften Handlung, die durch ihr lächerliches Wesen den Zuschauer belustigen, aber auch zugleich erbauen kann.«39 Das kritische Bemühen orientiert sich insofern per Definition an der eingeschränkten Korrekturfähigkeit der Komödie, nicht jedoch an der uneingeschränkten Korrekturbedürftigkeit ihrer Gegenstände. Bei der Konstruktion der ›Fabel‹ führt gleichwohl aber ein Problem zum anderen und in Problemzusammenhänge hinein, in deren Feld die Komödie so nur noch zu Detailkorrekturen ansetzen kann. Der Genreanspruch, wie ihn die Critische Dichtkunst im Komödienkapitel formuliert, ist mit dem Cartousche-Beispiel geradezu demonstrativ auf einen regulierbaren Aspekt der Handlung abgeleitet. Sie wirft mehr Fragen auf, als sie beantworten kann, und zeigt sich bei einfacher Klärung gleichzeitig mit unabschließbarer Problematik beschäftigt. Gottscheds Präsentation eines mustergültigen Komödienplots zielt auf Eindeutigkeit der Lehre und nimmt dafür Mehrdeutigkeit der Darstellung in Kauf, indem sich Problembereiche dieser Darstellung dem Maßstab entziehen und von Regelung ausgeschlossen bleiben. Schon die Komödien der Gottschedin wirken dadurch vielschichtiger, als dies ihre Theorievorgabe eigentlich zulassen würde, wenn es dabei nur um Restriktion ginge. Aber die Restriktion bedingt eben zugleich bestimmungsfreie Sphären, was selbst bei der sächsischen Typenkomödie direkt nach den Vorgaben der Critischen Dichtkunst zweite und dritte Lektüren gegen den erklärten Zweck erlaubt. Wohl wird hier im Anschluss an Molières Komödien mit einiger Systematik der Lasterkatalog durchgegangen. Einer Komödie über die ›gelehrten Frauen‹, den ›Menschenfeind‹, den ›eingebildeten Kranken‹ und den ›Scheinheiligen‹ folgen Laster für Laster solche über den ›Verschwender‹ (Gottschedin) oder die ›Betschwester‹ (Gellert) oder wieder den ›Hypochondristen‹ (Quistorp) und wieder den ›Misogynen‹ (Lessing). Doch schon die Gottschedin lässt in der Pietisterey im Fischbein-Rocke den Scheinheiligen vor dem Tableau der gelehrten Frauen agieren 38 39

Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 10), S. 645. Ebd., S. 643)

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(»Die Wittenberger haben wir schon längst unter die Bank disputirt. [...] Mich dünkt, wir sind jetzo bey dem Artickel von der Wiedergeburth.«40). Das geschieht bereits in dem Bewusstsein, dass hinter jeder Problematik nicht eine geordnete Welt, sondern wieder eine Problematik steckt. Dies tangiert die Grundvoraussetzung der Gottschedischen Literaturtheorie mit ihrem Rückschluss von der Unvernunft als Regelabweichung auf die Vernunft als Korrekturbasis und Bereich der Regeln.

4. Gründliche Erkenntnis von Widersprüchen (in der Theorie der Tragödie) Die Gleichsetzungen von Vernunft und Natur, von Regeln und Rationalität sind für das poetologische Anliegen nur solange von funktionalem Wert, wie die Aufklärungsvernunft ihrerseits über begriffliche Stringenz verfügt und ihre ästhetischen Bestimmungen als denknotwendig ausweisen kann. Das ist im wissensgeschichtlich unaufhaltsamen Prozess ihrer Differenzierung immer weniger der Fall. Hier wirkt sich Gottscheds Bemühen um »gründlich erwiesene Wahrheiten«41 selbst bereits als ein maßgeblicher Differenzierungsfaktor aus. Gottsched steht ostentativ für den frühaufklärerischen Strukturwechsel von topisch-inventiver zu logisch-stringenter Ausgestaltung des Wissens ein. Das verlangt nach streng linearer Gedanken- und Beweisführung statt nach aspektreicher Argumentation. Ist aber nach dem Principium contradictionis ein Ding »das, was es ist, und sonst nichts« (»A ist A, und kein B.«), und gibt es für dieses Ding nach dem Principium rationis sufficientis »einen zulänglichen Grund«, in den Engführungen regelgeleiteten Denkens damit eine notwendige Erklärung (als genaue Antwort auf die Fragen »warum ist das so? woher kömmt das? wie geht das zu?«),42 dann hat sich die Critische Dichtkunst durch die Komplexität der literarischen Erscheinungen hindurch Wege der Deduktion zu bahnen. Auf diesen schwierigen Wegen erweist sich nun gerade die genaue Beobachtung und Diskussion zuzuordnender oder auszuschließender Phänomene als unabdingbar. Neben der Notwendigkeit umsichtig hergeleiteter Stringenz hängt das auch noch mit Anleihen bei der Rhetoriktradition zusammen, die besagten Strukturwechsel im Werk Gottscheds trotz stets gegenläufiger Erklärung als keineswegs abgeschlossen erscheinen lassen. Die »poetische Schreibart« hat noch so viel mit der inventio, dem ingenium und der copia rerum zu tun, dass die dazu Befähigten »gleichsam in einem Augenblicke hundert Eigenschaften von einer Sache, die ihnen vorkömmt, wahrnehmen. [...] So ist ihnen denn allezeit eine Menge von Gedanken fast zugleich gegenwärtig«.43 Die 40 41

42 43

Luise Adelgunde Victorie Gottsched: Die Pietisterey im Fischbein-Rocke. Komödie, IV, 1. Hg. von Wolfgang Martens. Stuttgart 1979, S. 85. Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit. In: ders.: Ausgewählte Werke. Bd. V/3 (s. Anm. 8), S. 198 (Vorrede zur 1. Auflage von 1733). Vgl. dazu: Steffen Martus: Gründlichkeit. J. C. Gottscheds Reform von Zeit und Wissen. In: Scientia poetica 6 (2002), S. 28–58. Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Theoretischer Teil), §§ 221f. In: ders.: Ausgewählte Werke. Bd. V/1. Hg. von Phillip M. Mitchell. Berlin 1983, S. 228. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 10), S. 351. Gottscheds Festhalten an einer ingeniösen poetischen Schreibart verschafft dem Ästhetischen Stellenwert im philosophischen System Wolffscher Prägung. Diese Verortung gilt der Forschung seit langem als wesentliche Neuerung. Vgl.

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derart »reiche Gemüthskraft« (ebd.) des Poeten fordert dem Theoretiker entsprechend bezugsfähige Bestimmungen ab, auch wenn er natürlich seinen eigenen Denkstil hier durch distinkte Wahrnehmung markieren kann. Gottsched setzt aber an den betreffenden Stellen der Beobachtung von Fülle zu solcher Differenzierung nur sehr bedingt an. Sie ist eher impliziert durch die insgesamt streng methodische Modellierung der Argumentation. Die Gottschedische Regelpoetik bevorzugt denn auch bei ihren generellen Klärungen und in den einzelnen Gattungskapiteln nicht problemvermeidend solche Genera als mustergültig, die sich durch feste Typenbildung, genaue Funktionszuschreibung und historisch geringe Diversifikation ohne sonderlich forcierte Lektüren einer normativen Behandlung fähig zeigen. Vielmehr wird in der literaturtheoretischen Klärung durchaus auf undeutlich greifbare Komplexität gesehen. Von vorneherein ist Gottsched entschieden stärker an den Großgattungen Heldengedicht (Epos), Tragödie und Komödie als an den »kleinen Gattungen«44 interessiert. Der Disposition nach ist sicher die Fabel, als kleines Leitgenre der Aufklärung, mit ihrem theoretisch genau regelbaren Verhältnis von Beispiel und Lehre einer solchen Critischen Dichtkunst am Meisten angemessen, indem phasenweise sogar der Begriff der »Fabel« als Handlung und »Hauptwerk in der Poesie«45 undeutlich in den Gattungsbegriff der (milesischen) Fabel übergeht.46 Gleichwohl sind »die kleinen Gattungen der Gedichte [...] so vollkommen nicht. [...] Sie erhalten [...] nur ein geringes Lob, weil zu einer einzigen poetischen Absicht, auch ein sehr seichter Geist und mäßiger Witz schon zulänglich ist.«47 Damit ist den großen Gattungen ein Plural von Belangen attestiert, für deren Ausprägung nur schwierig an eine schlussfolgernde, Beweis führende Argumentation zu denken ist. ›Ungereimtes‹ jedoch – ein viel bemühter Terminus Gottscheds für das, was dergestalt nicht zusammenpasst – und der Ausfall begrifflich präziser Herleitung können unmöglich den mitunter harsch formulierten Selbstanforderungen einer kritischen Poetik nach Regeln des Verstandes genügen. Die Vorrede zur 1. Auflage der Critischen Dichtkunst macht ausdrücklich auch für diesen Bereich der Ästhetik die Logik geltend; »daher es denn unwiedersprechlich folget, daß zwey wiederwärtige Urtheile des Geschmackes, von der Schönheit gewisser Dinge, unmöglich zugleich wahr und richtig seyn können.«48 Gilt der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch so auch in aestheticis, ist dem eigenen Klärungsanspruch eher nicht als mit der Eindeutigkeit der Begriffe und Urteile genügt. Damit wird aus manchem ›Sowohl-als-auch‹ im literaturhistorischen Befund eine Entscheidungssituation für die Theorie.

44 45 46 47 48

etwa Hans Peter Herrmann: Naturnachahmung und Einbildungskraft. Zur Entwicklung der deutschen Poetik von 1670 bis 1740. Bad Homburg, Berlin 1970, S. 122f., oder Hans Poser: Gottsched und die Philosophie der deutschen Aufklärung. In: Gottsched-Tag. Wissenschaftliche Veranstaltung zum 300. Geburtstag von Johann Christoph Gottsched. Hg. von Kurt Nowak und Ludwig Stockinger. Leipzig 2002, S. 51–70, hier S. 65–67. Damit wirkt gerade die Hereinnahme vorrationalistischer Positionen in diesem System innovativ. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 10), S. 91. Ebd., S. 148. Vgl. etwa ebd., S. 151f. – So auch bei Joachim Birke: Christian Wolffs Metaphysik und die zeitgenössische Literatur- und Musiktheorie. Gottsched, Scheibe, Mizler. Berlin 1966, S. 39–41. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 10), S. 91. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. In: ders.: Ausgewählte Werke, Bd. VI/2 (s. Anm. 26), Anderer besonderer Theil, Vorrede zur 1. Aufl. 1730, S. 394–405, hier S. 403.

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Bestimmungsprobleme ergeben sich daraus für Gottsched vor allen Dingen in der Auseinandersetzung mit dem Drama und besonders mit der Tragödie. Das Gewicht, das dem Theater als Aufklärungsmedium zukommt, die dadurch erhöhte Aufmerksamkeit auf die dramatischen Genera, die wiederum aus einer breiten Kenntnis der Tradition entwickelt ist, und der Theoriezuwachs in der europäischen Diskussion, der die Literaturhinweise in den einschlägigen Kapiteln der Critischen Dichtkunst von Auflage zu Auflage vermehrt, bedingen eine umfängliche Wahrnehmung. Darin sind Konflikte mit dem regelbezogenen Denken angelegt. Die eigentlichen Kapitel zur Tragödie und zur Komödie49 übernehmen dabei allerdings bereits die Funktion einer nachrangigen Verhandlung der Probleme, die auf bereits festgestellte Widersprüche und Inkonsequenzen systematisch zu reagieren trachtet. Die Schwierigkeiten werden schon von der horazischen Poetik dokumentiert, mit deren Übersetzung Gottsched die eigene Poetik eröffnet. Sie sind damit bereits an den antiken Grundtexten festzuhalten, auf die sich Gottsched über Horaz stützt. Für die Aufrichtung von Gottscheds Lehrgebäude Paragraph nach Paragraph ergibt das einen Texteinstieg im Sinne einer Problemzusammenstellung, die noch der ›philosophischen Einrichtung‹ durch eine Critische Dichtkunst harrt. Für die Ars poetica handelt es sich dabei eher um unterschiedliche Darstellungssituationen, Verfahrensänderungen und Aspektwechsel einer konzessionsbereiten Argumentation, die mit ihren Kriterien und Bestimmungen flexibel umzugehen weiß. So organisiert Horaz zwischen dem genus sublime als Schreibart der Tragödie und dem genus humile als Schreibart der Komödie ein Hin und Her der Reflexion, verschiedenes in Betracht ziehend. Gottsched weist in seinen Stellenkommentaren hierzu die unterschiedlichen Aspekte der Betrachtung als je und je berechtigt aus. Nur ist er dadurch auch mit einer Regel zum Sprachstil der Tragödie einerseits, der Komödie andererseits konfrontiert, die nicht allein Abweichungen, sondern das genaue Gegenteil ihrer selbst als Ausnahme leidet. Grundsätzlich gilt bei Horaz: In der Komödie, »Wo Lust und A[n]muth herrscht, da schreibt man nicht betrübt«, hingegen »wird dein Trauerspiel sehr wiedersinnisch klingen,/ Dafern dein matter Reim es niedrig wird besingen.« Aber »[z]uweilen darf sich auch des Lustspiels Ton erhöhn«, wenn »im Herzen Galle kochet«, und andererseits: »Im Klagen senkt sich auch das Trauerspiel mit recht«, soll »Ohn allen Wörterpracht [...] Schmerz ganz ungekünstelt scheinen.«50 – In Gottscheds erster von insgesamt sechs Anmerkungen zu diesem Komplex kann zunächst noch auf kategorialer Scheidung insistiert werden, solange sich eben die horazische Dialektik selbst daran hält: »Die Komödie [...] fodert also eine ungekünstelte, natürliche Art des Ausdruckes. Die Tragödie hingegen [...] muß also in erhabener und prächtiger Schreibart gemacht werden. Wer dieses vermischet, der verräth seine Unwissenheit.«51 Zwei Anmerkungen weiter ist aber mit Horaz einzuräumen, man müsse nach der »Natur gewisser Affecten« etwa einen »Zornige[n] auch in der Komödie natürlich sprechen, [...] tragisch, das ist stolz und trotzig reden lassen. Dieß ist eine Ausnahme von der obigen Regel.«52 Noch eine Anmerkung weiter ist nicht mehr der Komödienton zu erhöhen, sondern der Tragödienton abzusenken, und zwar gerade dort, wo es besonders auf ihn ankommt: Denn »die Natur der Traurigkeit er-

49 50 51 52

Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 10), S. 603–630 und 631–656. Ebd., S. 19 und 21. Ebd., S. 19. Ebd., S. 20.

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fodert eine niedrige und gemeine Art der Ausdrückungen«; Trauer soll deshalb »ganz kläglich redend« daherkommen.53 Solange Gottsched die Ars poetica kommentiert und mit seinem Bemühen um Normsetzung noch nicht im eigenen Text ist, ergeben sich daraus keine Antinomien. Die voneinander abgesetzten Stellenkommentare verhandeln das entsprechend partiell und damit fallbezogen unterhalb der Schwelle zum offenen Widerspruch. Horaz verfuhr »nach Veranlassung seiner Einfälle« und »hat sich an keinen Zwang einer philosophischen Einrichtung binden wollen.«54 Nach der Einsetzung eines streng regelgeleiteten Gattungsbegriffs im Tragödienkapitel der Critischen Dichtkunst ist aber für »die hohe Schreibart«55 der Tragödie nicht mehr an solche Schwankung zu denken. Jetzt muss Ordnung her. Sie gelingt, indem Gottsched das tragische Pathos historisiert und vom »Kothurnus; von den hohen Schuhen, die vormals von vornehmen Standespersonen getragen wurden«, auf die ebenfalls ›hohe‹ Sprache derselben in der Tragödie schließt, »zumal, wenn die gewaltigsten Affecten sie bestürmeten.«56 Mit dieser gattungsgeschichtlichen Rekonstruktion ist das normpoetisch wesentliche Unterscheidungsmerkmal der Tragödie – wer hier »vermischet, der verräth seine Unwissenheit« – ins Präteritum abzurücken. Damit ist der Weg frei auch für konträre Beobachtungen in der weiteren Geschichte des Genres, z. B. an Lohenstein, dessen Dramenfiguren »im Schmerze aufhören sollten, auf Stelzen zu gehen.«57 Vor allem aber ist er es für eine neue »beste allgemeine Regel«, die den normativen Anspruch an höchst unterschiedliche Realisierungen und letztlich an eine sorgfältig entwickelte Kasuistik bindet: Die beste allgemeine Regel, die man hier geben kann, ist: die Natur eines jeden Affects im gemeinen Leben zu beobachten, und dieselbe aufs genaueste nachzuahmen. Nun findet man aber, daß auch die vornehmsten Standespersonen, zwar ihrer Würde gemäß denken und sprechen, so lange sie ruhiges Gemüthes sind: so bald sie aber der Affect übermeistert, vergessen sie ihres hohen Standes fast, und werden wie andere Menschen. Wenn wir nun einen wahrhaftigen Traurigen sehen, dem vergeht die Lust wohl, scharfsinnige Klagen auszustudiren. Er wird so kläglich und beweglich sprechen, als es ihm möglich ist.58

Gegen die Überschreitung von Definitionsgrenzen wird größtmöglicher Widerstand aufgeboten. Kommt es trotzdem dazu, ist das von besonderem Gewicht, eben weil der Akzent auf normativer Klärung liegt. Erst ein erheblicher Komplexitätsdruck führt hier zu Einräumungen, die aber wiederum nur durch eine normorientiert »gründliche Erkenntniß des Menschen«, der »verschiedenen Neigungen des Gemüths«, der »Natur und Beschaffenheit des Willens, der sinnlichen Begierde [...] in allen ihren mannigfaltigen Gestalten«59 legitimiert sein können.60 Bei 53 54 55 56 57 58 59 60

Ebd., S. 20. Ebd., S. 5. Ebd., S. 620. Ebd. Ebd., S. 621. Ebd., S. 621f. Ebd., S. 107. Uwe Möller: Rhetorische Überlieferung und Dichtungstheorie im frühen 18. Jahrhundert. Studien zu Gottsched, Breitinger und G.Fr. Meier. München 1983, S. 19: »Dabei geht Gottsched von der unbewiesenen Prämisse des Wolffschen Systems aus, daß sich die psychische Natur des Menschen exakt analysieren und in ihrem Kern als unveränderliche Größe beschreiben lässt«.

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mehr und mehr geschärfter Wahrnehmung betrifft das nicht nur die Fragen eines (rhetorischen) Affektausdrucks, sondern auch den »Wohlklang« der Schreibart, und der will selbst bei ›korrekter‹ Klassifikation – für die Tragödie im Sinne des Kothurns – bis in die »Buchstaben der Wörter«, die »Länge und Kürze der Sylben« und deren »Vermischung« geprüft und organisiert sein.61 Da ist dann auch wegen des in sich viel zu differenzierten Ausdrucks mit dem Gebot der Regelmäßigkeit nicht mehr weiterzukommen; das muss mehr »durch das Gehör selbst, als nach gewissen Regeln beurtheilet werden«, heißt es an der bezeichneten Stelle in der Ausführlichen Redekunst. (Parallel dazu empfiehlt die Critische Dichtkunst für diese wichtigen, weil affektragenden Details einem jeden, »nach seinem eigenen Gehöre aus den Schriften der reinesten Poeten [...] selbst zu entscheiden, was wohl oder übel klingt.«62 Ähnlich sorgfältig wird von der aristotelischen Tragödientheorie her und mit Blick auf den Oidipus des Sophokles die schon erwähnte hamartia als notwendige Inkonsequenz der Tragödie erarbeitet. Es muss diese Unentschiedenheit geben, den kleinen Fehler, der große Helden zu Fall bringt, die »nicht recht schlimm« sein dürfen (»weil man sonst mit ihrem Unglücke kein Mitleiden haben [...] würde«), »aber auch nicht recht gut« (»weil man sonst die Vorsehung leicht einer Ungerechtigkeit beschuldigen könnte, wenn sie unschuldige Leute so hart gestrafet hätte«).63 In Gottscheds streng systematischen und begrifflich eindeutigen Zuordnungen drängt das auf den Widerspruch, den es der Ordnung nach nicht geben darf, auf »zwey wiederwärtige Urtheile«, die »unmöglich zugleich wahr und richtig seyn können«.64 Das rührt ans Grundsätzliche der rationalistischen Poetik. Weil die Konstellation in der Tragödie dies aber nun einmal erfordert, hat sie sich auf die begriffsferne Vagheit dennoch einzustellen, allerdings nur auf dem Weg genauestens motivierter Verschiebung. Ein widersprechender Character ist ein Ungeheuer, das in der Natur nicht vorkömmt: daher muß ein Geiziger geizig, ein Stolzer stolz, ein Hitziger hitzig, ein Verzagter verzagt seyn und bleiben; es würde denn in der Fabel durch besondere Umstände wahrscheinlich gemacht, daß er sich ein wenig geändert hätte. Denn eine gänzliche Aenderung des Naturells oder Characters ist ohnedieß in so kurzer Zeit unmöglich.65

61

62 63 64 65

Johann Christoph Gottsched: Ausführliche Redekunst. Erster, allgemeiner Theil. In: ders.: Ausgewählte Werke. Hg. von Phillip M. Mitchell. Bd. VII/1. Berlin, New York 1975, S. 405 (XVI, § XIII). Vgl. dazu Gerhard Schäfer: ›Wohlklingende Schrift‹ und ›rührende Bilder‹. Soziologische Studien zur Ästhetik Gottscheds und der Schweizer. Frankfurt a. M., Bern 1987, S. 253f., und Rüdiger Campe: Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1990, S. 66–74. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 10), S. 413. Ebd., S. 606f. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. In: Ausgewählte Werke, Bd. VI/2 (s. Anm. 26), Vorrede zur 1. Aufl. 1730, S. 403. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 10), S. 619. Ulrike Zeuch stößt in Gottscheds Weltweisheit auf Uneindeutigkeiten einer statischen und dynamischen Bestimmung von »Bewusstseyn«, eben auch als »Veränderung in uns« (Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit. In: Ausgewählte Werke, Bd. V/1 (s. Anm. 42), S. 512); um dies einigermaßen widerspruchsfrei im Zusammenhang zu bestimmen, ist in Gottscheds Perspektive »umfassende Kenntnis« verlangt, aus der Änderungen in der komplizierten Einheit der Natur des Menschen »akribisch darzustellen« sind (Ulrike Zeuch: Bewusstseinsphilosophische Prämissen der Literaturtheorie vor 1800. Am Beispiel von Gottscheds ›Versuch einer Critischen Dichtkunst‹ und deren Folgen. In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 46/1 [2001], S. 53-75, hier S. 58f.).

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Diese prüfende Einstellung verlangt dem neuen Drama ein Gespür dafür ab, wann, wie und in welchem Maße ein Charakter als Identität umfeldbezogen Entwicklungen ausgesetzt werden kann. Das muss, um glaubwürdig zu sein, schwierig bleiben. In der Gottschedischen Dichtungstheorie klarer definitorischer Unterscheidungen liegt die Berechtigung des Widerspruchs perspektivengebend in der Sorgfalt seiner Ausführung. Die vielleicht wichtigste neue Bestimmung der Critischen Dichtkunst findet so ihren Weg in die Theaterkultur des weiteren 18. Jahrhunderts. Das Bürgerliche Trauerspiel erhält hier seinen Namen. An sich ist das ein Unding aus Tragödie und Komödie, seinem Ursprung im Weinerlichen Lustspiel nach, in der Komödienvariante, die gerade auf der französischen Bühne Furore macht und »die man die heulende, (larmoyante) nennet.«66 Ein neues Genre, das die leitende Antithese der Dramentheorie als solche tangierte, räumt Gottsched nicht ein, aber ein brückenartig das Trennschema überbietendes »Mittelding zwischen beyden«; man hätte es »nur nicht Komödien«, sondern »viel eher bürgerliche [...] Trauerspiele heißen« sollen.67 Die Entwicklung, die das Drama des 18. Jahrhunderts von diesem »Mittelding« aus nimmt, ist wesentlich durch die dennoch unausgleichbare Differenz bedingt. Jedes dieser Bürgerlichen Trauerspiele hat die kombinatorisch erzeugte Spannung neu auszutarieren. (Wenn es sich auch deutlich als Tragödie zeigt, so sind doch gerade die vergebenen Möglichkeiten einer Problembehebung im Sinne der Komödie das besonders Tragische daran.) In diesen Kontext gehören weitere produktive Aufhebungen begrifflicher Identität, so Lessings Konzept des ›gemischten Charakters‹ aus der Hamburgischen Dramaturgie und im Hintergrund dessen Mendelssohns Konzept der ›vermischten Empfindung‹, die »schmertzhaftangenehm« eines im anderen denken lässt, – »einige bittere Tropfen in die honigsüsse Schale des Vergnügens [...] verdoppeln seine Süßigkeiten«.68 Das Ineinander bedarf aber dennoch trennscharfer Bestimmungen; ohne sie ist der gemischte Charakter gar nicht als komplizierte Identität zu konstruieren. Solche Dialektik wird theoretisch am Besten vorbereitet durch Gottscheds vorerst noch wichtige Insistenz darauf, dass »die Furcht, das Schrecken und Mitleiden« als tragische Affekte nicht in die Komödie gehören, und zwar absolut nicht: »Allein, wenn man dergleichen Stücke, wie ich oben gedacht, bürgerliche Trauerspiele nennet; oder Tragikomödien taufet: so könnten sie schon bisweilen statt finden.«69 Dann lässt sich nämlich von der Differenz aus sehen, welche durchaus verstörende Wirkung ein solcher Kategorienwechsel erzeugt.

5. Gottscheds Dramentheorie in Gottscheds Dramen Gottscheds Regelvorgaben laufen auf eine Theoriesicherung hinaus, aus der sich die Theaterkultur des 18. Jahrhunderts in intensiver Auseinandersetzung mit der Poetologie des Dramas 66 67 68

69

Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 10), S. 650. Ebd., S. 644. Moses Mendelssohn: [Briefe] über die Empfindungen. In: ders.: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Bd. 1. Schriften zur Philosophie und Ästhetik I. Hg. von Fritz Bamberger. Berlin 1929. ND Stuttgart-Bad Cannstadt 1971, S. 41–123, hier S. 108 und 110. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 10), S. 650.

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entfalten kann. Dabei liegt die Pointe nicht erst in einer Systembildung mit der Folge der Systemüberschreitung, sondern früher und bereits bei Gottsched selbst in einer regelbedachten Komplikation der Texte. Die Texte diskutieren ihre Kriterien und Strukturen mit einem Mehrwert an Semantik durch die theoretische Aufladung. Gottscheds Mustertragödie Sterbender Cato achtet derart genau auf eine vorbildliche Realisierung der hamartia, dass der kleine Fehler, den dieser »redlichste Patriot«, »tugendhafteste Mann und vollkommenste Bürger einer freyen Republik«, dieses »Ebenbild der Götter«70 an den Tag legt, ganz besonders bemerkbar wird und damit letztlich als ein großer Fehler akzentuiert ist. Den Selbstmord, den er begeht, wollen wir niemals entschuldigen, geschweige denn loben. Aber eben dadurch ist Cato ein regelmäßiger Held zur Tragödie geworden, daß er sehr tugendhaft gewesen: doch so, wie es Menschen zu seyn pflegen; daß sie nämlich noch allezeit gewisse Fehler an sich haben, die sie unglücklich machen können.71

Das entspricht insoweit ganz der hamartia-Regel72 und ist dringend so vonnöten, weil die »allervollkommenste Welt«, die beste aller möglichen, eben auch diejenige ist, »wo die allergrößte Anzahl von Dingen in die allerbeste Uebereinstimmung gebracht ist«.73 Da darf der hohe Sinn des Freiheitshelden, Philosophen und Tugendapostels Cato nicht ohne sehr genaue Begründung durch ein tragisches Schicksal in Widerspruch zur Struktur des Ganzen geraten. Bei dieser sehr genauen Aufweisung des kleinen Fehlers eines großen Mannes offenbart sich aber Catos Todesmut schlicht durch die Häufigkeit entsprechender Bezüge als Lebensmüdigkeit. Cato legt in einer Weise ständig und direkt letzte Konsequenzen nahe, dass sie für seine Tugendhaltung typisch werden: »Mein Schicksal lenkt mich stets die Bosheit zu bestreiten,/ Und sollt ich gleich dadurch mir selbst mein Grab bereiten!« – Es »soll Utika mein Scheiterhaufen seyn«, »Hier hab ich selber schon ein Grab für mich erlesen.« – »So bin ich alt genug, und will ganz freudig sterben«, »wie schön ist es zu sterben,/ Wenn wir durch Tugenden uns Tod und Grab erwerben!«74 So wird in den Augenblicken der Normbehauptung, an den Kulminationspunkten ihrer Bewahrheitung, auch Normkritik eingeschaltet, die letztlich nicht einmal mehr mit Sicherheit sagen lässt, ob Catos extremes Verhalten wenigstens noch auf innerer Stärke beruht oder nicht einfach schon auf bloßer Schwäche. Das Stück erreicht über die Durchsetzung gleichzeitig auch die Infragestellung des in Cato verkörperten Ideals und zeigt, wie bis zur Koinzidenz von Tugend und Laster ein »widersprechender Character«, als das theoretisch zunächst Ausgeschlossene, dennoch in der Perspektive der Critischen Dichtkunst liegen kann. Das Kapitel »Von den Idyllen oder Schäfergedichten«, das den Dramenkapiteln voransteht, nennt Benjamin Neukirchs Sylvia »fast durchgehends schön: nur ein Paar Stellen sind nicht eben zu billigen«, »nicht nach den Sitten der Schäfer«,75 und eine darunter ist 70

71 72 73 74 75

Johann Christoph Gottsched: Der sterbende Cato. In: Ausgewählte Werke. Bd. II. Hg. von Joachim Birke. Berlin 1970, S. 5–114, hier S. 11 (Des Herrn Verfassers Vorrede, zur ersten Auflage 1732) und S. 114 (V. 1655). Gottsched: Der sterbende Cato (s. Anm. 70), S. 17 (Vorrede). Vgl. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 10), S. 606f. Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit, § 426. In: Ausgewählte Werke. Bd. V/1 (s. Anm. 42), S. 295. Gottsched: Der sterbende Cato (s. Anm. 70), S. 31 (V. 141f.), 36 (V. 244), 70 (V. 859), 74 (V. 956) und 96 (V. 1351f.). Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 10), S. 593.

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wider die Tugend selbst: denn Thyrsis will sich das Leben nehmen. Doch, wo du auch hierdurch nicht zu bewegen bist, So weis ich Aermster nicht, was weiter übrig ist; Als daß ich meinen Rumpf an einen Eichbaum henke: Vielleicht liebst du mich todt, weil ich dich lebend kränke. Ein solch strafbares Verfahren steht keinem Schäfer an: und Sylvia würde ihm aus gerechtem Eifer, über ein so unvernünftiges Bedrohen, gewiß bloß deswegen ihre Liebe versagen müssen.76

Diese Argumentation macht Gottsched auch für sein eigenes Schäferspiel Atalanta oder Die bezwungene Sprödigkeit relevant. Er demonstriert Neukirchs Fehler an der Liebesklage Corydons, der sich vergeblich um Atalanta bemüht, »Was mach ich armer nun?«, »Wem klag ich meine Noth? wer lindert meinen Schmerz?«, »so verzehret sich die Blüthe meines Lebens«,77 bis er in der Idylle fast den Liebestod findet: Corydon. [...] Dein Corydon verläßt dich auch im Sterben nicht. Dein edles Wesen soll im Tode mich erquicken, Da denk ich noch dein Bild an meine Brust zu drücken. Da will – – – (er sinkt in eine Ohnmacht.) Damon. Wie? Corydon? er sinkt, er fällt darnieder. Er stirbt vor Traurigkeit. Die starren Augenlieder Sind beyde zugepreßt. Wer räth, und hilfet mir? Ihr Schäfer! rettet! helft! Hey! ist denn niemand hier? [...] er ist vielleicht nicht todt.78

Corydons extremes Verhalten gefährdet das schwierig auszuwiegende Verhältnis von Vernunft und Affekt und droht so alles aus dem Gleichgewicht zu bringen. Die unschäferliche Radikalität widerspricht überhaupt der Glücksbedingung der Idylle. Hier ist sie sich als »Abschilderung des güldenen Weltalters«, als »herrliches Feld zu schönen Beschreibungen eines tugendhaften und glücklichen Lebens«79 selbst am wenigsten ähnlich. Gottsched präsentiert das Falsche im Richtigen, um am literarischen Beispiel die in der Critischen Dichtkunst eröffnete Diskussion fortzu76

77 78 79

Ebd., S. 594. Vgl. Benjamin Neukirch: Schäffer-gedichte. Sylvia (Der arme Thyrsis lag nechst unter einer eichen). In: Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte. 1. Teil (1697). Hg. von Angelo George de Capua und Ernst Alfred Philippson. Tübingen 1961, S. 89–93, hier S. 93. Kennzeichnend für die spätbarocke Situation zeigt Neukirch hier, dass er kompilatorisch produktiv »von Gryphius die bewegliche und durchdringende; von Hoffmannswaldau die liebliche/galante und verliebte [...] schreibart« in »künstliche vermischung« zu bringen und darüber die Pastoraldichtung aus den Klischees der »pfuscher« herauszuführen weiß: Es gibt »so viel pfuscher/ welche auff allen hochzeiten die Venus einführen/ bey allen begräbnissen den tod ausschelten; Und wenn es ja hoch kömmt/ ihrer Phyllis ein lied vom sterben hersingen/ welches offt mehr todt als der sänger/ und kälter/ als seine gebieterin selber ist.« (Vorrede, S. 6–22, hier S. 19 u. 6) Insofern tendiert die Liebesklage hier konsequent auf einen stärkeren Eindruck und auf einen Bruch mit den Bedingungen bukolischer Dichtung. Johann Christoph Gottsched: Atalanta oder Die bezwungene Sprödigkeit. Ein Schäferspiel. in fünf Aufzügen, IV, 7. In: Ausgewählte Werke, Bd. II (s. Anm. 70), S. 354–448, hier S. 424f. Gottsched: Atalanta (s. Anm. 77), IV, 7 und 8, S. 426f. Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (s. Anm. 10), S. 582.

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setzen und sich also im literarischen Text theoretisch zu den Fragen einer adäquaten oder inadäquaten Erfüllung der Gattungsintention zu verhalten. Damit wird der Text zum Schauplatz der Diskussion. Das bringt ihn jedoch unter genau diejenige Belastung, die nicht mehr seinem Gattungscharakter entspricht. Dies freilich geschieht wegweisend so, wie die moderne Schäferdichtung des 18. Jahrhunderts ihre Problemlosigkeit dahingehend kritisch verhandelt, dass sich um ein Weniges an zusätzlicher Störung der locus amoenus als ein locus terribilis bewahrheitet.80 Gottscheds regelbezogenes Schreiben – »Es kömmt nur auf die Wissenschaft der Regeln an«81 – bricht von sich aus einem neuen theoretisch reflektierten Drama Bahn. Normierung bedingt hier Konzentration auf die eigenen Bedingungen, und aus dieser Konzentration erwächst eine derartige Intensität dramatischer Darstellung, dass in literaturgeschichtlich kurzer Zeit statt vom Notstand der deutschen Schaubühne, wie ihn Gottsched noch in den 1730er Jahren beklagt, von Bühnenkultur, ja von Theatromanie die Rede sein kann. So klärt sich dramengeschichtlich und dramentheoretisch das antinomische Verhältnis zwischen Gottsched-Zeit und Lessing-Zeit als ein Zusammenhang, in dem über Normen Grenzen ausgelotet und hinausgeschoben werden. Ohne Frage gerät sehr vieles davon in strikten Widerspruch zur Gottschedischen Poetik. Deshalb ist die Entwicklung nicht intentional, wohl aber ursächlich auf die Critische Dichtkunst zurückzuführen: auf ein theoretisches Gebaren, das strikt auf Regelmäßigkeit zielt (1.), um an den Beispielen für und wider eine vielgestaltig andere Literaturgeschichte auszumachen (2.). Verdeckt fördert die Critische Dichtkunst ihrerseits solche Alterität: durch Verengung des Regelungsanspruchs gegenüber den Darstellungsmöglichkeiten (3.), durch eine sorgfältige Einräumung von Widersprüchen (4.) und schließlich durch Gottscheds Integration problembelasteter Theorie in das eigene literarische Schreiben (5.). Gottscheds Theorie des Dramas beharrt strikt auf ihren Bestimmungen – und sie entwickelt über ihre vermeintlich starren Normen und aus den systemeigenen Möglichkeiten viel poetologische Emergenz, indem sie sich an diesen Bestimmungen abarbeitet und mit ihnen auseinandersetzt.

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Bei derartiger Nähe zu Kontrafaktur richtet sich der Problemaufbau in den neuen Schäferspielen gegen das stark schematisierte Gattungsmodell. Texte wie Johann Wilhelm Ludwig Gleims Der blöde Schäfer (1. Fsg., 1745) und Christlob Mylius’ Die Schäfer-Insel (1749) – von der Forschung bis heute unterschätzt – brechen hierdurch gezielt und exemplarisch die Gattungssystematik des Aufklärungsdramas überhaupt auf. Gottsched stößt mit seinem Schäferspiel von 1741 in Verwendung der eigenen Theorie diese Genreentwicklung als Genredestruktion an. 1743 erscheinen in Leipzig Johann Georg Laubs »dramatische Eklogen« Corydon, der Bräutigam ohne Braut und Sylvia, die Braut ohne Bräutigam (vgl. Reinhart Meyer: Bibliographia Dramatica et Dramaticorum. Kommentierte Bibliographie der im ehemaligen Reichgebiet gedruckten und gespielten Dramen [...]. Abt. 2. Bd. 12. Tübingen 1999, S. 245f. u. 256). 1747 publiziert der Braunschweiger Johann Wilhelm Jelpke Ein Schäferspiel Ohne Liebe und dehnt als Übersetzer hernach die Logik solchen Experimentierens auch auf »Schäfer-Trauerspiele« aus (Dione, Ein SchäferTrauerspiel, von Gay. Berlin, Leipzig 1759). Das sind vergessene Beispiele für eine vergessene Wirkung der Critischen Dichtkunst: für die Dialektik von genauer theoretischer Bestimmung und textlichem Verfügen über diese Bestimmung. Gottsched: Der sterbende Cato (s. Anm. 70), S. 4 (Vorrede).

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Rhetorik der Aufklärung – Aufklärung der Rhetorik

1. Einleitung: Gottsched. Rhetoriker Mit kaum einer anderen Disziplin hat sich Gottsched in seiner akademischen Lehrtätigkeit an der Universität Leipzig intensiver auseinandergesetzt als mit der Rhetorik. Gottsched begann schon früh in seiner akademischen Karriere sich intensiv mit der Rhetorik zu beschäftigen: Noch bevor er 1730 Professor für Poesie wird, hielt er thematisch einschlägige Lehrveranstaltungen an der Leipziger Universität. Aus diesen Kollegien ging dann der Grundriß einer Vernunfftmäßigen Redekunst von 1728 hervor. 1736, also nur wenige Jahre später, erschien die Ausführliche Redekunst, mit der Gottsched – dem Titel genau entsprechend – einen umfassenden Überblick über das Gebiet der Rhetorik geben möchte. Das Lehrbuch erlebte bis 1759 insgesamt fünf Auflagen, die von Gottsched immer wieder überarbeitet wurden. Kein anderes deutschsprachiges Rhetorik-Lehrbuch wurde im 18. Jahrhundert häufiger gedruckt als Gottscheds Redekunst.1 Noch in den 1750er Jahren, als zumindest im protestantischen Teil des Reichs längst die Professuren für Rhetorik – meist zugunsten der Philosophie –abgeschafft wurden, publizierte Gottsched zwei Rhetoriklehrbücher: 1758 veröffentlichte er die Akademische Redekunst, eine Kurzfassung seiner Ausführlichen Redekunst. Sie richtete sich an Studenten, die sich, so berichtet er, in der Vorrede zur fünften Auflage der Ausführlichen Redekunst, »ein kürzeres und wohlfeileres Handbuch«2 wünschten, das nicht so teuer wie seine umfassende Rhetorik war: Mit einem halben Gulden kostete die Akademische Redekunst nur ein Drittel der Ausführlichen Redekunst. Wenige Jahre zuvor, im Jahre 1754, erschienen die Vorübungen der Beredsamkeit, ein Rhetoriklehrbuch, das nicht in der Tradition der klassischen römischen officia-Systemrhetorik eines Cicero oder Quintilian stand, sondern der sogenannten ›Progymnasmata‹, einer ebenfalls antiken Lehrbuchform, in der es um das Einüben von ganz elementaren Textmustern – wie etwa Erzählungen oder Beschreibungen – geht. Gottsched reagiert damit auf pädagogische Debatten, 1 2

Vgl. die Angaben in Joachim Dyck und Jutta Sandstede: Quellenbibliographie zur Rhetorik, Homiletik und Epistolographie des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. Stuttgart-Bad Cannstatt 1996. Johann Christoph Gottsched: Ausführlicher Redekunst. Fünfte Auflage. In: ders.: Ausgewählte Werke. Hg. von Joachim Birke und Phillip M. Mitchell. Bd. VII/1. Berlin, New York 1975, S. 8.

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die seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts kontrovers geführt wurden. In diesen Auseinandersetzungen ging es um die Frage, ob sich ›Rhetorik‹ überhaupt als ein Schulfach eigne, das an höheren Schulen, also Gymnasien gelehrt werde.3 Das war im frühneuzeitlichen Schulwesen der Normalfall. Doch nun wurde überlegt, ob es sinnvoll sei, dass Schulkinder in einer Disziplin unterrichtet werden, die zum wirkungsvollen Reden und Schreiben anleitet, diese Kinder aber, wegen ihres geringen Alters, noch gar nichts zu sagen haben: Im Kern dieser Diskussion geht es damit um das Verhältnis von Real- und Verbalunterricht, wobei ersterer präferiert wird. Gottsched zieht aus dieser Diskussion die Konsequenzen und richtet seine Lehrbücher publikumsadäquat aus: Die Vorübungen der Beredsamkeit, gedacht als Vorstufe des späteren Rhetorikunterrichts, für die Schüler an Gymnasien, die umfassenderen Werke für den Rhetorikunterricht an Universitäten. Textmusterübungen, wie sie in der rhetorischen Tradition die Progymnasmata vermitteln, gehören noch heute zu den basalen Übungsformen im Deutschunterricht. In ihnen liegen zugleich die rhetorischen Wurzeln des schulischen Aufsatzunterrichts.4 Indem Gottsched als erster ein Werk der Progymnasmata-Tradition für die deutsche Sprache adaptiert, kann er zugleich als einer der Gründungsväter des modernen Deutschunterrichts gelten, der seit der Mitte des 18. Jahrhunderts die Rhetorik als Disziplin mehr und mehr ablöst.5 Gottsched hat gewichtige Theoriearbeiten zur Rhetorik vorlegt, war daneben aber auch als praktischer Redner tätig. Zu seinem oratorischen Werk gehören Gelegenheitsreden, die zum Teil noch in die Königsberger Zeit zurückreichen,6 sodann Reden in der ›Deutschen Gesellschaft‹ in Leipzig,7 deren Ziel gerade die Perfektionierung der gebundenen und ungebundenen Rede war, schließlich Reden im akademischen Kontext der Leipziger Universität, deren Rektor Gottsched wiederholt war. In seine Amtszeit fallen u.a. die Lob- und Gedächtnisrede auf die Erfindung der Buchdruckerkunst (1740),8 die Gedächtnisrede auf Kopernikus, 1743 in Gegenwart polnischer und sächsischer Prinzen gehalten,9 vor allem aber natürlich die 1739 »auf der philosophischen Catheder zu Leipzig« (wie es auf dem Titelblatt heißt) vorgetragene Lobrede auf den »Vater der deutschen Dichtkunst«, Martin Opitz.10 Diese Reden wurden, wie es damals üblich war, zunächst in Form von Gelegenheitsdrucken in dünnen Heftchen publiziert; seine Gesammleten Reden hat Gottsched dann 1749 erscheinen lassen. Er selbst glaubte offenbar an sein oratorisches Talent und war – sicherlich ein durchgehendes Charaktermerkmal, das ja auch für die Dichtkunst gilt – auch nicht bescheiden darin, seine eigenen Reden als musterhafte Exempel in seinen Lehrbüchern abzudrucken. Erst in der dritten Auflage der Ausführlichen Redekunst von 3 4 5

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Horst Joachim Frank: Dichtung, Sprache, Menschenbild. Geschichte des Deutschunterrichts von den Anfängen bis 1945. Bd. 1. München 1976, S. 90ff. Vgl. Otto Ludwig: Der Schulaufsatz. Seine Geschichte in Deutschland. Berlin, New York 1988, S. 75–77. Zu diesem Ablösungsprozess von dem auf Textproduktion gerichteten Rhetorikunterricht zum Konzept einer ästhetischen Erziehung durch Lektüre vgl. Georg Jäger: Schule und literarische Kultur. Bd. 1. Sozialgeschichte des deutschen Unterrichts an höheren Schulen von der Spätaufklärung bis zum Vormärz. Stuttgart 1981, S. 15ff. Vgl. Phillip M. Mitchell: Gottsched-Bibliographie. In: Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. Hg. von dems. Bd. XII. Berlin, New York 1987, Nr. 3. Vgl. Detlef Döring: Die Geschichte der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. Von der Gründung bis in die ersten Jahre des Seniorats Johann Christoph Gottscheds. Tübingen 2002. Mitchell: Gottsched-Bibliographie (s. Anm. 6), Nr. 221. Ebd., Nr. 267. Ebd., Nr. 213.

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1742 gibt Gottsched diese Praxis auf, weil, so berichtet er in der Vorrede zur fünften Auflage, »einige Lästerer solches, als eine unerhörte Verwägenheit ausgeschrieen hatten.«11 Auf Gottscheds rednerische Praxis soll, auch wenn dies ein noch weithin unerforschtes, zugleich zentrales Kapitel der rhetorischen Kultur des 18. Jahrhunderts darstellt, im Folgenden nicht näher eingegangen werden. Im Zentrum steht die Theorie der Redekunst, mithin also die Rhetorik im antiken Verständnis des Wortes. Ich werde mich dabei im Wesentlichen auf die Ausführliche Redekunst konzentrieren, in der Gottscheds Bemühungen um eine aufklärerische Neufundierung der Rhetorik kulminieren. Meine Ausführungen sind dabei von der These geleitet, dass gerade dieser Versuch, die antike Theorie den sozialen wie philosophischen Bedingungen des 18. Jahrhunderts anzupassen, zu einer epistemologischen Marginalisierung der Rhetorik führt.

2. Die Situation um 1700 Am Ende des 17. Jahrhunderts weist die Rhetoriktheorie ein vielgestaltiges und unübersichtliches Bild auf.12 Einerseits werden kontinuierlich neue Auflagen lateinischer Schul-Rhetoriken, wie sie der Portugiese Cyprian Soarez (1524–1597) und der Niederländer Gerhard Johannes Vossius (1577–1649) im 16. bzw. zu Beginn des 17. Jahrhunderts vorgelegt hatten, auf den Markt gebracht. Diese Rhetoriken sind die Standardlehrbücher im Schulunterricht jesuitischer und protestantischer Provenienz, und ihre Verwendung wird über entsprechende Schulordnungen vorgeschrieben. Ziel dieses Unterrichts ist die Einübung der Latinität; mit Blick auf die ›höheren‹ Fakultäten kommt dem Unterricht in der Beredsamkeit damit eine primär propädeutische Funktion zu. Andererseits gibt es immer mehr deutschsprachige Rhetoriklehrbücher. Diese Entwicklung beginnt im 15. Jahrhundert mit Friedrich Riederer (1493) zunächst zögerlich und gewinnt im Kontext des Territorialabsolutismus des 17. Jahrhunderts an Dynamik. Aber erst Christian Weises im Wortsinn vielseitiges Werk markiert endgültig die Wende zur Muttersprache: Paradigmatisch für diese Entwicklung ist der Politische Redner von 1677, verfasst während seiner Zeit an der Ritterakademie in Weißenfels. Weise passt den Rhetorikunterricht den Erfordernissen der eigenen Gegenwart an; Ziel des Weise’schen Rhetorikunterrichts ist nicht, den Schülern die kommunikative Teilnahme an der gelehrten Welt von Schule und Universität zu ermöglichen, vielmehr fokussiert sein Ausbildungsprogramm die ›politische‹ Welt der Hofbeamten im Absolutismus. Diese Neuausrichtung schlägt sich in einer Struktur der Lehrbücher nieder, die kaum noch etwas mit dem klassischen System der fünf officia oratoris, also inventio, dispositio, elocutio, memoria und actio zu tun hat. Weise geht stattdessen von realen Situationen aus, also den casus im Leben eines Redners. Dabei wird die actio, also die für erfolgreiche Kommuni-

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Gottsched: Ausführlicher Redekunst (s. Anm. 2), S. 6. Überblick bei Dietmar Till: Rhetorik und Stilistik der deutschsprachigen Länder in der Zeit der Aufklärung. In: Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft (HSK). Bd. 31/1. Rhetorik und Stilistik. Hg. von Joachim Knape, Andreas Gardt und Ulla Fix. Berlin, New York 2009, S. 112–130.

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kation bei Hofe zentrale körperliche Beredsamkeit, deutlich aufgewertet.13 Als universale rhetorische Textstruktur rückt die Chrie ins Zentrum, nicht mehr die lange, schriftliche niedergelegte Rede nach rhetorischen Normen ist der Standardfall, sondern das kurze, hochgradig situationsabhängige und riskante ›Compliment‹, das die Standardform der Rede bei Hofe war.14 Um 1700 ist Weises Modell in vielen Rhetoriken zu finden, vor allem die dreiteilige Chrienstruktur findet fast überall Verwendung. Es gibt also bei Weise eine Spannung zwischen der Normativität der antiken Überlieferung und den gesellschaftlich-politischen Strukturen und daraus abgeleiteten kommunikativen Verhältnissen – Wilfried Barner weist auf dieses in der gesamten Frühen Neuzeit virulente Problem bereits in seiner Studie Barockrhetorik (1970) hin –;15 so rückt mit dem Beginn des 17. Jahrhunderts ein weiteres Spannungsverhältnis ins Zentrum, das Verhältnis von Rhetorik und Logik.16 Die Rhetorik gerät vonseiten der Philosophie unter Druck. René Descartes hatte in seinen Regulae ad directionem ingenii (1628/29) etwa alle »bloß wahrscheinlichen Erkenntnisse«17 aus dem Bereich der scientiae ausgeschlossen, mithin also genau das, was seit Aristoteles den Kern rhetorischen Argumentierens ausmacht.18 In seinem Essay Concerning Human Understanding (1690) schließlich kritisiert John Locke die Rhetorik, weil sie »keinem anderen Zweck [diene], als falsche Ideen unbemerkt einzuführen, die Leidenschaft zu erregen und dadurch das Urteil irrezuleiten.«19 Beide benutzen unterschiedliche Argumente, doch das Ziel ihrer Beweisführung ist dasselbe, die Inthronisation der Vernunft. Ihr Geltungsanspruch wird universal gesetzt.20 Die Ausrichtung auf ›Vernünftigkeit‹ hat zwei Folgen: Zunächst schränkt sie den normativen Geltungsanspruch der antiken Überlieferung massiv ein, weil die Tradition nicht mehr automatisch Quelle einer Fundierung der Rhetorik sein kann, sondern die Vernunft. Das betrifft etwa die Frage der Inhalte und ihrer Legitimation, aber auch die Struktur einer Rhetorik als Lehrbuch. Schließlich hat die Ausrichtung auf die Vernunft noch eine zweite Folge: Sie berührt den Status der Rhetorik als Disziplin im Kanon konkurrierender Disziplinen, vor allem der Logik, der die Rhetorik nun untergeordnet wird. Es kommt im Ergebnis zu einem Geltungsverlust der Rhetorik.

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Zu Weise vgl. Hans A. Horn: Christian Weise als Erneuerer des deutschen Gymnasiums im Zeitalter des Barock. Der ›Politicus‹ als Bildungsideal. Weinheim 1966; Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970, S. 190–220. Zur Geschichte der Chrie vgl. Markus Fauser: [Art.] Chrie. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Bd. II. Tübingen 1994, Sp. 190–197. Barner: Barockrhetorik (s. Anm. 13), S. 249–258; vgl. hierzu auch meine Ausführungen in Dietmar Till: Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2004, T. II, Kap. II. Vgl. grundsätzlich Rainer Klassen: Logik und Rhetorik in der frühen deutschen Aufklärung. Diss. München 1973. René Descartes: Regeln zur Ausrichtung der Einbildungskraft. Übers. und hg. von Lüder Gäbe. Hamburg 1979, S. 5. Aristoteles: Rhetorik 1356a. John Locke: Über den menschlichen Verstand. Übers. von Carl Winckler. Bd. II. Hamburg 1968, S. 144. Zur Geschichte des Spannungsverhältnisses von Rhetorik und Philosophie vgl. den instruktiven Überblick von Samuel Ijsseling: Rhetorik und Philosophie. Eine historisch-systematische Einführung. StuttgartBad Cannstatt 1988.

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3. Distanzierung von der Antike – ›Aufklärung‹ der Rhetorik Ab 1720 werden in Deutschland Rhetoriken publiziert, die im Titel häufig den Zusatz ›philosophisch‹, ›vernünftig‹ oder auch einfach nur ›gründlich‹ und ›verbessert‹ tragen: Etwa die Philosophische Redekunst des Johann Andreas Fabricius (2. Aufl., 1739, zuerst 1724), die Kurtze und Vernunfft-mäßige Anweisung zur Oratorie oder Beredsamkeit (1734) von Johann Joachim Schatz, der Abriß einer gründlichen Oratorie (1722) von Gottfried Polykarp Müller oder die Anweisung zur verbesserten teutschen Oratorie (1724) von Friedrich Andreas Hallbauer, dem wohl schärfsten Kritiker eines blinden Folgens der antiken Tradition.21 In der Vorrede seines Rhetoriklehrbuchs schreibt er: »Aristoteles und Cicero würden uns nicht auslachen / sondern auszischen / daß wir noch ihren Speichel lecken.«22 Man solle, führt Hallbauer fort, keinesfalls »ohne Unterscheid alles, was man in den großen Redner Schriften antrifft, als göttliche Sprüche annehmen«.23 Bei Fabricius heißt es ganz ähnlich, dass sich die Vernunft im Zweifelsfall über die »algemeinen vorurtheile der anbeter des alterthums«24 hinwegsetzen müsse. Er selbst habe die »lehren der alten« nicht bloß »durchgehechelt«, »sondern auch gewiesen, wie man es besser machen müsse.«25 Dahinter steht das von Leibniz gesetzte Epochenthema der emendatio. Das bedeutet, dass die antike Tradition nicht prinzipiell abgelehnt wird, dass sie aber ihre Überzeugungskraft qua Tradition insofern verliert, als sich auf die überlieferten praecepta einer Prüfung vor dem Richterstuhl der Vernunft gefallen lassen müssen. Auch Gottsched folgt in seinen rhetorischen Schriften diesem Programm einer ›Verbesserung‹ der Antike, wenngleich er in seinen programmatischen Aussagen weniger scharf argumentiert als Hallbauer und Fabricius, deren Lehrbücher schon seit einigen Jahren vorlagen, als Gottsched 1728 den Grundriß zu einer Vernunfftmäßigen Redekunst veröffentlicht.26 Interessanterweise nennt Gottsched diese direkten ›Konkurrenten‹ auch in den historischen Überblicken der späteren Ausführlichen Redekunst (1736) nicht.27 Zwar habe er seine Rhetorik »[m]ehrentheils

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Zentral Gunter E. Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung. Tübingen 1983; ders.: Von der ›politischen Oratorie‹ zur ›philosophischen Redekunst‹. Wandlungen der deutschen Rhetorik in der Frühaufklärung. In: Rhetorik 3 (1983), S. 65–96. Friedrich Andreas Hallbauer: Anweisung zur verbesserten Teutschen Oratorie nebst einer Vorrede von den Mängeln der Schul=Oratorie. Jena 1725. ND Kronberg/Ts. 1974, Vorrede, unpag., Bl. a7a; vgl. Till: Transformationen der Rhetorik, S. 348ff. Hallbauer: Vorrede (s. Anm. 22), unpag., Bl. b2b. Johann Andreas Fabricius: Philosophische Redekunst, oder auf die Gründe der Weltweisheit gebauete Anweisung, zur gelehrten und jezo üblichen Beredsamkeit […]. Leipzig 21739, Vorrede, unpag., Bl. b1b–b2a. – Die erste Auflage von Fabricius’ Werk erschien 1724 unter dem Titel Philosophische Oratorie. 15 Jahre später überarbeitet Fabricius unter dem Eindruck der Philosophie von Christian Wolff sein Buch nach den Erkenntnisprinzipien der ›mathematischen Methode‹ (vgl. hierzu, vor allem mit Bezug auf die inventio, Grimm: Literatur und Gelehrtentum (s. Anm. 21), S. 591ff.). Fabricius: Philosophische Redekunst (s. Anm. 24), Vorrede, unpag., Bl. b1b. Johann Christoph Gottsched: Grundriß zu einer vernunfftmäßigen Redekunst. Mehrentheils nach Anleitung der alten Griechen und Römer entworfen und zum Gebrauch seiner Zuhörer ans Licht gestellet. Hannover 1729. Der Hinweis, noch lebende Autoren nicht zu diskutieren, überzeugt wenig; Gottsched: Ausführlicher Redekunst (s. Anm. 2), S. 84.

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nach Anleitung der alten Griechen und Römer entworfen«,28 wie es im Untertitel des Werks heißt, aber der Grundsatz der Vernunftprüfung bleibt trotz aller Bindung an die antiken Autoritäten gültig: Aristoteles, Cicero und Quintilian sind die von Gottsched angeführten Gewährsmänner. Bereits im frühen Grundriß von 1728 wird zu Beginn der Dialogus de oratoribus des Tacitus abgedruckt – als Dokument der Vorbildlichkeit der Antike, die zugleich ›vernünftig‹ ist: »Die Ideen dieser großen Meister von der Beredsamkeit«, so schreibt Gottsched in der Vorrede, »sind gantz philosophisch, oder welches mir gleichviel düncket, vernunftmäßig gewesen.«29 Denn die »Begriffe« der Rhetorik, »die ich den Alten zu dancken habe« sind »in der Natur wohl gegründet […], daß ich sie vor allgemein halte.«30 Diese Position wird wenige Jahre später unverändert in die Ausführliche Redekunst übernommen: Meine Grundregeln waren nämlich auf die menschliche Natur, auf die Absichten eines jeden vernünftigen Redners gerichtet, und stimmten mit den Vorschriften und Beyspielen der größten Männer des griechischen und römischen Alterthums überein. Sie konnten also, auch nach der sorgfältigsten Prüfung, keiner Aenderung nöthig haben: es wäre denn, daß sich die menschliche Natur ändern; oder irgendwo Redner aufstehen sollten, die gar nicht die Absicht hätten, bey ihren Zuhörern Beyfall und Glauben zu finden.31

Deutlicher noch wird Gottsched im ersten Kapitel »Was die Redekunst sey«. Dort fundiert er die Rhetorik ganz in der »Natur des Menschen«:32 Alle neue ausgekünstelte Methoden taugen nichts, wenn sie von dieser Richtschnur abweichen. Auch die Alten werden uns nur darum zu Lehrern und Mustern angepriesen, weil sie ihre Regeln und Exempel nach dieser Vorschrift eingerichtet haben. Ihr Ansehen soll also unsern Regeln keine Kraft geben.33

Dass eine unhinterfragte Antike-Bindung in den frühneuzeitlichen Rhetoriken zu ganz praktischen Inkonsistenzen führt, zeigt die Lehre von den genera causarum, den drei Redegattungen Lobrede, Beratungsrede und Gerichtsrede, die zuerst Aristoteles in seiner Rhetorik unterschieden hatte.34 Diese rhetorische Gattungstrias wurde über die Jahrhunderte tradiert und auch dann noch im Unterricht behandelt, als sie keinen ›Sitz im Leben‹ mehr hatte. Andererseits gab es in der Frühen Neuzeit Redeanlässe und Redegattungen, für die es in der Antike keine Vorbilder gab. Bereits Philipp Melanchthon, den Gottsched in der Redekunst mehrfach lobt35 hatte in seinen Elementa rhetorices (1531) den drei Gattungen eine vierte, die Gattung des Lehrvortrags (genus didaskalikon) hinzugefügt.36 Im 17. Jahrhundert entstehen dann, vor allem vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Gelegenheitsreden, die im sozialen Leben anfielen, gerade in den pragmatisch ausgerichteten deutschsprachigen Rhetoriken Gattungstypologien, die eine Vielzahl

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Gottsched: Grundriß (s. Anm. 26), Titel. Gottsched: Grundriß (s. Anm. 26), Vorrede, unpag. Bl. [)(6]a. Gottsched: Grundriß (s. Anm. 26), Vorrede, unpag. Bl. [)(6]a. Gottsched: Ausführlicher Redekunst (s. Anm. 2), S.6. Ebd., S. 97. Ebd., S. 98. Aristoteles: Rhetorik 1358a–b. Gottsched: Ausführlicher Redekunst (s. Anm. 2), S. 78 und 100. Philipp Melanchthon: Elementa rhetorices. Grundbegriffe der Rhetorik. Hg., übers. und komm. von Volkhard Wels. Berlin 2001, S. 40ff. – Melanchthon definiert das genus als ars recte docendi (ebd., S. 40).

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von Redetypen und -anlässen unterscheiden.37 Die alte Trias aber wurde in den lateinischen Redelehren – etwa eines Vossius – weitgehend unverändert tradiert, was zu Doppelungen, Inkonsistenzen und Hypertrophien in den Typologien führte. Um 1700 gab es deshalb kein wirklich konsistentes Gattungssystem mehr Gottsched reflektiert diese Entwicklung in der Ausführlichen Redekunst: »Allein die ganz veränderte Regimentsforme hat gemachet, daß man in Deutschland die beyden letzten Arten [also Beratungsrede und Gerichtsrede] so eigentlich nicht mehr braucht.«38 Er schlägt deshalb vor, lobende und (im Anschluss an Melanchthon) lehrende Reden zu unterscheiden. Die auf der Chrie basierenden »complimentirende[n] Reden«39 rechnet er nicht zur Rhetorik, weil sie nicht auf Persuasion, sondern nur auf dem Prinzip der ›Wohlredenheit‹,40 also dem angenehmen Stil basieren. Gottsched grenzt sich an dieser Stelle gegen Weise ab, indem er das, was dieser zum Kernbereich der Rhetorik erhoben hatte, innerhalb der Redekunst marginalisiert.

4. Primat der Logik, Kritik der Topik Auch das Gliederungsschema der Rede, die so genannten partes orationis, werden von Gottsched einer aufklärerischen ›Reinterpretation‹ unterzogen, die auf eine Rationalisierung der Rede zielt. Die aus der Gerichtsrede abgeleitete narratio in der klassischen Rhetorik, die dort der Schilderung des Tathergangs dient, wird zur ›Erklärung‹ uminterpretiert. Gottsched sieht den Kern der Rhetorik nicht in der argumentativen Plausibilisierung von Einzelfällen,41 sondern in der Diskussion so genannter ›Hauptsätze‹, also allgemeiner Themen,42 die dogmatischer oder historischer Art sein können.43 ›Hauptsatz‹ ist ein Begriff der Philosophie Christian Wolffs, an die sich Gottsched anschließt, ohne dessen Namen explizit zu nennen. Als philosophische Hintergrundtheorie ist die ›Weltweisheit‹ des Hallenser bzw. Marburger Philosophen Mitte der 1730er Jahre längst selbstverständlich. Kern der Rhetorik ist damit die Lehre von den Beweisgründen.44 Gottsched kündigt an, an dieser Stelle nicht in die »Fußtapfen«45 der Alten treten zu wollen, vielmehr möchte er sich einer »andern Lehrart bedienen, dabey sich die Sache sehr ins Kurze bringen läßt.«46 Er hat in diesem Zusammenhang die rhetorische Topik im Blick, die Lehre von den Fundorten der Beweise, die er als zu umständlich kritisiert. Man könne sich »leicht ohne diese Topik der Alten behelfen«,47 die doch nur für die Gerichtsrede helfe, kaum aber bei Lob-, Lehrreden oder Complimenten. 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47

Till: Transformationen der Rhetorik, S. 111ff. Gottsched: Ausführlicher Redekunst (s. Anm. 2), S. 124. Ebd., S. 126. Vgl. hierzu Gottsched: Ausführlicher Redekunst (s. Anm. 2), S. 88. Ebd., S. 148. Ebd., S. 128. Ebd., S. 148. Vgl. hierzu zu parallelen Entwicklungen bei Daniel Peucer, Fabricius, Gottfried Polykarp Müller unter anderen Grimm: Literatur und Gelehrtentum (s. Anm. 21), S. 591f. Gottsched: Ausführlicher Redekunst (s. Anm. 2), S. 163. Ebd., S. 164. Ebd. Ebd.

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Gottscheds Kritik an der Topik ist in der Frühaufklärung verbreitet; entsprechende, meist sogar wesentlich schärfer vorgetragene Invektiven finden sich auch bei den Zeitgenossen Hallbauer und Fabricius.48 Sie haben ihre Wurzeln in der Ablehnung der loci communes als philosophisches Erkenntnisinstrument. Diese Kritik reagiert auch auf den regelrechten Zwang zum Exzerpieren, Sammeln und Kategorisieren von Zitaten, Sprüchen und Argumenten in Kollektaneenbüchern. Solche Praktiken wurden an Schulen im Rahmen der imitatio-Ästhetik den Schülern regelrecht antrainiert. Statt ständig zu Exzerpieren und sich auf die Gedanken und Worte anderer zu verlassen, solle man lieber ›meditieren‹, also seine Argumente durch eigene Gedanken finden – so Hallbauer in seiner Einleitung.49 Bei Gottsched wird die rhetorische Topik durch die ›Vernunftlehre‹, die Logik, ersetzt. Er geht dabei vom Satz des zureichenden Grundes aus: Jeder Satz lässt sich prinzipiell beweisen (oder widerlegen), solange es kein identischer Satz oder ein so genannter ›Grundsatz‹ ist. Gottscheds Philosophie folgt hier einer binären Logik, die für Kontingenz keinen Raum lässt. Ein Beweis in einer Rede ist nun nichts anderes als die Anführung eines Grundes, mit dem der Redner für die Wahrheit oder Falschheit seines Satzes argumentiert: Daraus folget nun, daß ein Redner keinen einzigen Satz zum Hauptsatz einer Rede wird wählen können, der sich nicht beweisen, das ist durch Anführung eines zulänglichen Grundes rechtfertigen ließe.50

Die Beweise stammen nicht aus einer Topik, sondern aus den Einzelwissenschaften, also »aus der Sache selbst, davon die Rede ist«.51 Der Redner muss folglich über umfassende Gelehrsamkeit verfügen, er muss, wie es bei Gottsched heißt, die Materie »inne«52 haben. Mit der Schlussform der ratiocinatio und der Induktion diskutiert er zwei – bereits antike – formale Schlussverfahren, die der Redner verwenden kann. Gottscheds Orientierung an den Prinzipien der ›Vernunftlehre‹ und des zureichenden Grundes, der uns zeigen soll (und eben auch zeigen kann), was die Welt in ihrem Innersten zusammenhält, steht für eine äußerst optimistische Weltsicht, die zugleich seltsam ›unrhetorisch‹ ist. Ein Blick auf Aristoteles’ Rhetorik zeigt, dass es auch pessimistischere und vielleicht zugleich realistischere Konzepte von Rhetorik gibt. Auch Aristoteles geht von der Verhältnisbestimmung von Rhetorik und Logik (hier Dialektik) aus; Rhetorik ist das korrespondierende ›Gegenstück‹ (antístrophos) zur Dialektik.53 Beide Disziplinen verhandeln allgemeine Fragen, also keine Fachfragen der einzelnen epistémai. Die Dialektik ist dabei für allgemeine Fragen zuständig, die Rhetorik – anders als bei Gottsched – für Einzelfälle, vor allem solche des öffentlichen Lebens, die unter den Bedingungen von Zeitknappheit bei gleichzeitigem Zwang zum Handeln entschieden werden müssen. Entscheidend dabei ist für Aristoteles, dass es in der rhetorischen Situation keine eindeutige und klare Lösung gibt, sondern prinzipiell divergierende Standpunk-

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Grimm: Literatur und Gelehrtentum (s. Anm. 21), S. 580–587; Manfred Beetz: Rhetorische Logik. Prämissen der deutschen Lyrik im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert. Tübingen 1980, S. 144ff. Vgl. hierzu Grimm: Von der ›politischen Oratorie‹ zur ‚philosophischen Redekunst (s. Anm. 21), S. 70f. Gottsched: Ausführlicher Redekunst (s. Anm. 2), S. 165. Ebd., S. 166. Ebd. Aristoteles: Rhetorik 1354a.

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te.54 Rhetorik dient also bei Aristoteles der in bestimmten Momenten epistemologisch unumgänglichen kommunikativen Bewältigung von Kontingenz. Was unstrittig ist oder was sich überhaupt nicht verändern kann, darüber muss man nach Aristoteles’ Ansicht nicht diskutieren. Hans Blumenberg hat in diesem Kontext vom Menschen als anthropologischem ›Mängelwesen‹ gesprochen, das der Rhetorik bedarf: »So lange die Philosophie ewige Wahrheiten, endgültige Gewißheiten wenigstens in Aussicht stellen mochte, mußte ihr der consensus als Ideal der Rhetorik, Zustimmung als das auf Widerruf erlangte Resultat der Überredung, verächtlich werden.«55

5. Rhetorik im Dienste der Logik Gottsched vertritt letztlich ein, wenn man es paradox formuliert, ›unrhetorisches‹ Rhetorikkonzept. Das führt noch einmal zur Frage der Verhältnisbestimmung von Rhetorik und Logik. Wie gesehen, geht Gottsched von der Vorstellung aus, dass die Welt prinzipiell rational zugänglich sei. Im ersten Hauptstück der Ausführlichen Redekunst grenzt er deshalb eine ›vernünftige Beredsamkeit‹, die als »wahre Beredsamkeit«56 von einer ›falschen Beredsamkeit‹ unterschieden wird, ab. Alle Beweisgründe, die der Redner in seiner Rede anführt, müssen, wie es heißt, »wohl gegründet«,57 also auf Grundlage der in der Vernunftlehre exponierten wissenschaftlichen Standards hergeleitet sein. Der gute Redner muss ein Philosoph sein; Logik und Rhetorik unterscheiden sich also – anders als in der Konzeption des Aristoteles – nicht prinzipiell, sondern nur graduell. Man kann über ein und dasselbe Thema eine Rede in zwei unterschiedlichen Modi halten, die Gottsched ›Überredung‹ (Rhetorik) und ›Überführung‹ (Logik) nennt: Einen überführen, heißt einen durch eine Reihe unumstößlicher Vernunftschlüsse, die aus den ersten Gründen hergeleitet werden, oder durch eine Demonstration, zum Beyfalle bewegen, ja dazu nöthigen und zwingen.58

An der Superiorität des logischen Kommunikationsmodus sowie an dessen größerer Durchsetzungskraft, sprich kommunikativer Macht, lässt Gottsched keinen Zweifel. Doch gibt es auch Fälle, in denen man eine entsprechend gründliche Erkenntnis noch nicht hat oder – und hier kommt die Rhetorik ins Spiel – »solche Zuhörer vor sich hat, die eine so geübte Vernunft [nicht] besitzen, daß sie eine lange Kette von Schlußreden fassen, und einsehen können.«59 Rhetorik ist also eine kommunikative Hilfswissenschaft der Logik für solche Fälle, in denen der Redner entweder noch keine umfassende Erkenntnis hat oder vor ungebildeten Zuhörern, dem ›Pöbel‹, sprechen muss.60 Hier muss der Redner den Modus der Überredung einsetzen, »das ist 54 55 56 57 58 59 60

Ebd. 1357a. Hans Blumenberg: Anthropologische Annäherungen an die Aktualität der Rhetorik. In: ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Stuttgart 1981, S. 104–136, hier S. 114. Gottsched: Ausführlicher Redekunst (s. Anm. 2), S. 93. Ebd., S. 92. Ebd., S. 94. Ebd., S. 94f. Zu dieser epochentypischen Unterordnung der Rhetorik unter die Logik, welche die Rhetorik zu einer Vermittlungsdisziplin werden lässt vgl. Klaus Petrus: ›Convictio‹ oder ›persuasio‹? Etappen einer Debatte in

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Dietmar Till

ein Vortrag der Wahrheit durch wahrscheinliche Gründe, die auch ein Zuhörer von mittelmäßigem Verstande ohne alle Mühe fassen und einsehen kann.«61 Weil die Rhetorik im Dienste der Logik steht, ist es konsequent, dass Gottsched auch seine Stillehre in Analogie zur Vernunftlehre konzipiert. Was dort Begriff, Urteil und Schluss seien, das sind im Text der Rede ›Ausdrückungen‹ (also einzelne Worte), Perioden und Aufsätze (also die Textebene). Der sprachliche Ausdruck wird durch diese drei Rubriken geordnet: Auf der Ebene der ›Ausdrückungen‹ gibt es ›verblümte‹ Ausdrücke, also die Tropen, auf der Ebene der Perioden Figuren und auf der Ebene des Aufsatzes die ›Schreibart‹.62 Weil der Stil des Textes der Ebene der ›Vernunftschlüsse‹ in der Logik entspricht,63 ist der falsche Stil wie ein fehlerhafter Schluss. Dies erklärt, warum Gottsched dieses Gebiet der Rhetorik, das in den meisten Lehrbüchern nur knapp oder sogar – wie bei Quintilian im zwölften Buch der Institutio oratoria – nur appendixhaft abgehandelt worden war, so ausführlich diskutiert. Gerade die Ausführungen über den fehlerhaften Stil sind extensiv, weil dieser die Vermittlung der Erkenntnisse behindert. Die Auflistung der Fehler gibt Gottsched Gelegenheit, mittels ausführlicher Zitate seinen eigenen literar- und stilhistorischen Standort in Abgrenzung deutlich zu markieren.64

6. Schluss In der Konkurrenz mit der Logik verliert die Rhetorik bei Gottsched also. Sie wird reduziert auf die Vermittlung von Wahrheiten für den ungelehrten ›Pöbel‹. Eine eigenständige Erkenntnisfunktion wird ihr abgesprochen. Gottscheds Position bewegt sich an dieser Stelle im Rahmen dessen, was innerhalb der ›philosophischen Redekunst der Frühaufklärung‹ diskutiert wurde; ähnliche Überlegungen finden sich bei Andreas Rüdiger, Fabricius, Hallbauer und anderen.65 Sie zeigen, was für die Rhetorik übrigbleibt, wenn man sie systematisch von der Philosophie her zu entwickeln sucht, wofür nicht zuletzt Christian Thomasius ein wichtiger Wegbereiter war. Gottsched ›erneuert‹ also die Rhetorik nicht einfach, er ist auch kein rhetoriktheoretischer ›Klassizist‹, auch wenn dies in der Forschung immer wieder behauptet wurde. Natürlich breitet er in seinem Lehrbuch über weite Strecken kanonischen Stoff aus, nicht anders als klassische Lehrbücher seit der Antike dies machen. Aber er entwickelt seine rhetorischen Grundsätze auf einer epistemologischen Grundlage, welche die Rhetorik zu einem bloßen Supplement der Logik werden lässt.

61 62 63 64 65

der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Rüdiger – Fabricius – Gottsched). In: Zeitschrift für deutsche Philologie 113 (1994), S. 481–495; Grimm: Literatur und Gelehrtentum (s. Anm. 21), S. 587–591. Gottsched: Ausführlicher Redekunst (s. Anm. 2), S. 95. Ebd., S. 296f. Ebd., S. 358. Ebd., S. 360–362. Vgl. Petrus: ›Convictio‹ oder ›persuasio‹? (s. Anm. 60), passim.

GERDA HASSLER

Sprachwissenschaftliche Konzepte bei Gottsched

0. Einleitung: sprachwissenschaftliche Konzepte In diesem Beitrag werde ich mich auf sprachwissenschaftliche Konzepte bei Gottsched beschränken und seine polemische Stellung im spätbarocken Sprachenstreit nur insofern behandeln, als sie für die Begriffsbildung bei Gottsched relevant ist.1 Auf dem konzeptuellen Hintergrund der Sprachdiskussion des 18. Jahrhunderts lassen sich bei Gottsched vier unterschiedliche Arten von metasprachlichen Begriffen nachweisen, die für die Einordnung seines Werkes gleichermaßen relevant sind, jedoch unterschiedliche Originalität und Tragweite erkennen lassen:

1

1.

Konzeptualisierungen des Handelns mit und an Sprache (z. B. ›Sprachgebrauch‹, ›Sprachmissbrauch‹, ›Normierung‹)

2.

Konzeptualisierungen der Wertung bestimmter Sprachen (z. B. ›Vorzüge‹ / ›Vollkommenheit‹, ›Mängel, ›Klarheit‹, ›Wohlklang‹, ›Reichtum‹)

3.

Konzeptualisierungen der Beschreibung einer Sprache (hierzu gehören z. B. alle Begrifflichkeiten, die in der grammatischen Beschreibung einer Sprache Verwendung finden, wie ›Nomen‹, ›Pronomen‹, ›Verb‹, ›Satz‹, ›Wortstellung‹)

4.

Im engeren Sinne sprachtheoretische Begriffe, die zur Zeit Gottscheds eine Konjunktur erlebten, treten in Gottscheds Werk in den Hintergrund. Eine Ausnahme davon bildet der Begriff der Analogie, der ihm wichtig ist und den er eigenständig abwandelt.

Vgl. hierzu Thomas Pago: Johann Christoph Gottsched und die Rezeption der ›Querelle des anciens et des modernes‹ in Deutschland. München 22003; Ingo Reiffenstein: Gottsched und die Bayern. Der Parnassus Boicus, die Bayerische Akademie der Wissenschaft und die Pflege der deutschen Sprache im 18. Jahrhundert. In: Soziokulturelle Kontexte der Sprach- und Literaturentwicklung. Festschrift für Rudolf Grosse zum 65. Geburtstag. Hg. von Sabine Heimann und Sabine Seelbach. Stuttgart 1989, S. 177-184; Gerhard Schäfer: ›Wohlklingende Schrift‹ und ›rührende Bilder‹. Soziologische Studien zur Ästhetik Gottscheds und der Schweizer. Frankfurt 1987; Horst Dieter Schlosser: Sprachnorm und regionale Differenz im Rahmen der Kontroverse zwischen Gottsched und Bodmer/Breitinger. In: Mehrsprachigkeit in der deutschen Aufklärung. Hg. von Dieter Kimpel. Hamburg 1985, S. 52-68.

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Gerda Haßler

1. ›Normierung‹ als Konzept der Arbeit an Sprache In der Vorrede zur 1748 erschienenen ersten Ausgabe seiner Grundlegung der Deutschen Sprachkunst, Nach den Mustern der besten Schriftsteller des vorigen und jetzigen Jahrhunderts abgefasset bekennt Gottsched, dass ihn dieses Buch unter allen seinen Schriften die meiste Zeit gekostet habe.2 Vierundzwanzig Jahre hatte er daran gearbeitet und war mit dem Ergebnis noch immer nicht wirklich zufrieden, was auch an den Änderungen in den späteren Neuausgaben zu erkennen ist. Als Grund dafür nennt er neben dem Umfang der Sprache die sprachliche Variation, die sich als störend für das Schreiben einer Grammatik erweist. Das Deutsche werde in vielen verschiedenen Mundarten gesprochen: Von Bern in der Schweiz an, geht ja ihr Gebieth durch ganz Deutschland, Preußen, Curland, Liefland und Ingermannland, bis nach Petersburg, mehr als dreyhundert deutsche Meilen in die Länge: und von den dänischen Gränzen in Schleswig, erstrecket sich selbiges wiederum durch Nieder- und Obersachsen, Böhmen, Mähren und Ungarn, bis nach Siebenbürgen, fast ebenso viel Meilen in die Breite.3

Gottsched erklärt seine Absicht, in all diesen Abänderungen die wahre hochdeutsche Mundart, den rechten Stamm und die Schönheit dieser europäischen Hauptsprache, fest zu setzen; sie in wahre und leichte Regeln zu bringen, und ihre Zierde auf eine leichte und fassliche, als gegründete Weise fest zu setzen.4

Mit dem Begriff der Hauptsprache greift er eine gängige Konzeptualisierung auf, die auf der Entgegensetzung zu den Mundarten beruht. Der Begriff der Hauptsprache bleibt zwar undefiniert, aus der Definition der Mundart ist jedoch sichtbar, dass Gottsched der Hauptsprache eine Art überdachende Funktion zugesteht: »Eine Mundart ist diejenige Art zu reden, die in einer gewissen Provinz eines Landes herrschet; in so weit sie von der Art zu reden der andern Provinzen abgeht, die einerley Hauptsprache mit ihr haben.«5 Als Ausgangspunkt sprachlicher Normierung betrachtet Gottsched Mundartliches durchaus als tauglich, jedoch sollte es die beste Mundart sein, die sich unter dem Dach der Hauptsprache befindet: Die beste Mundart eines Volkes ist insgemein diejenige, die an dem Hofe oder in der Hauptstadt eines Landes gesprochen wird. Hat aber ein Volk mehr als einen Hof, wie z. B. Wälschland, oder Deutschland: so ist die Sprache des größten Hofes, der in der Mitte des Landes liegt, für die beste Mundart zu halten.6

Mit seiner Orientierung am Hofe befindet sich Gottsched durchaus im Einklang mit Vaugelas, der einhundert Jahre zuvor den bon usage des Französischen unter Berufung auf den Sprachgebrauch des besten Teils des Hofes, der auch durch die Schreibweise der besten Autoren bestätigt werde, definiert hatte: 2

3 4 5 6

Johann Christoph Gottsched: Vollständigere und neuerläuterte deutsche Sprachkunst, nach den Mustern der besten Schriftsteller des vorigen und itzigen Jahrhundert abgefasset, und bey dieser fünften Auflage merklich verbessert. 5. verbesserte Aufl. Leipzig 1762. ND Hildesheim, New York 1970, Vorrede, Bl. a3V. Ebd., Bl. a3R. Ebd. Ebd., S. 2. Ebd., S. 3.

Sprachwissenschaftliche Konzepte bei Gottsched

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Voicy donc comme on definit le bon vsage: C’est la façon de parler de la plus saine partie de la Cour, conformément à la façon d’écrire de la plus saine partie des Autheurs du temps.7

Auch Gottsched verweist auf die besten Schriftsteller als Orientierungsgrößen für die Normierung, allerdings dürften diese nicht alle aus derselben Landschaft kommen und damit dieselbe Mundart sprechen. Ähnlich wie Vaugelas in seinen Remarques hatten die Mitglieder der Deutschen Gesellschaft in ihren Beyträgen zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit8 zu einzelnen Gesichtspunkten der Deutschen Sprache Stellung genommen.9 War dies in ungeordneter Form in einzelnen Stücken geschehen, so wollte Gottsched in seiner Grundlegung der Deutschen Sprachkunst eine systematische Beschreibung des Deutschen geben, die zu kritischen Fragen normativ Stellung bezog. Ausgangspunkt der Normierung ist für Gottsched somit ein bereits bestehender Sprachgebrauch, den er in Beispielen aus den Texten der besten Schriftsteller findet und beschreibt, das heißt grammatischen Kategorien zuordnet: »Ich habe sie aber nicht selbst gemachet, sondern da ich sie in Reden und in den besten Schriftstellern eingeführet fand, nur mit Namen versehen und an ihren Ort eingerücket.«10 Ebenso wie Vaugelas gleich zu Beginn seines Vorwortes erklärt, dem Gebrauch (usage) zu folgen, der in Angelegenheiten der sprachlichen Norm der Souverän sei, weist Gottsched die Rolle des Sprachtyrannen zurück:11 Wie ich mich also über niemanden zu einem pedantischen Sprachtyrannen aufzuwerfen verlange; so werde ich es auch sehr gern sehen, wenn andere Liebhaber unserer Muttersprache mir künftig ihre Gedanken darüber eröffnen werden.12

Im 18. Jahrhundert waren die Bemühungen um die Herausbildung einer nationalen deutschen Sprache und Kultur, die auch von der Aufklärungsbewegung getragen waren, auf dem Gebiet der Grammatiken von dem Ziel der Überwindung der sprachlichen Uneinheitlichkeit geprägt. Wenn Grammatiker versuchten, den Sprachgebrauch normativ zu beeinflussen, gingen sie vor allem vom Prinzip der Analogie, der Angleichung an parallele Fälle, oder auch von der Etymologie als Beweisgründen aus. In erster Linie war es Gottsched, der mit seiner Ansicht von der literatursprachlichen Norm und ihren Bestimmungsfaktoren für Jahrzehnte den Mittelpunkt der Erörterung des Problems 7 8

9

10 11 12

Claude Favre de Vaugelas: Remarques sur la langue françoise: utiles à ceux qui veulent bien parler et bien escrire. Paris 1647, Préface, S. 2. Beyträge zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Hg. von einigen Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. Begründet von Johann Christoph Gottsched und Johann Georg Lotter, fortgeführt von Johann Christoph Gottsched. 32 Stücke in 8 Bänden. Leipzig 1732– 1744. ND Hildesheim, New York 1970. Vgl. Detlef Döring: Die Geschichte der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. Von der Gründung bis in die ersten Jahre des Seniorats Johann Christoph Gottscheds. Tübingen 2002; Andreas Härter: Digressionen. Studien zum Verhältnis von Ordnung und Abweichung in Rhetorik und Poetik. Quintilian – Opitz – Gottsched – Friedrich Schlegel. München 2000; Gottsched-Tag. Wissenschaftliche Veranstaltung zum 300. Geburtstag von Johann Christoph Gottsched am 17. Februar 2000 in der Alten Handelsbörse in Leipzig. Hg. von Kurt Nowak und Ludwig Stockinger. Leipzig 2007. Gottsched: Vollständigere und neuerläuterte deutsche Sprachkunst (s. Anm. 2), Vorrede, b3V. Vaugelas: Préface, S. 1. Gottsched: Vollständigere und neuerläuterte deutsche Sprachkunst (s. Anm. 2), Vorrede, a5V.

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der Einheitssprache bildete. Erklärtermaßen ist für Gottsched die einheitliche Sprache zunächst eine eklektische Art des Sprechens, die sich nicht an einer bestimmten Provinz orientiert. Als bestimmend für dieses Hochdeutsche werden der Sprachgebrauch der guten Schriftsteller und die beste Mundart genannt. Diese guten Schriftsteller sollen durch die Stimmen der klügsten Leser ermittelt werden und nicht aus nur einem Dialektgebiet stammen. Wenn Gottsched die beste Mundart äußerst ungenau als diejenige, die am Hofe oder in der Hauptstadt des Landes gesprochen wird, beschreibt, hatte er keine Vorstellung vom historischen Entwicklungsprozess der Sprache und der Herausbildung der Literatursprache als einer historischen Größe. Er identifizierte infolgedessen die Hochsprache mit einer regionalen Form der Literatursprache, wofür seines Erachtens nur Obersachsen in Frage kam, da die hier gebräuchliche Form der Literatursprache bereits weite Gebiete des deutschen Sprachraums beherrschte. Mit seiner Normauffassung erhob Gottsched ein eng gefasstes Prinzip der Richtigkeit und Reinheit, der Einfachheit und Verständlichkeit zum entscheidenden Kriterium. Seine Reglementierungsbestrebungen beschränkten sich nicht nur auf den lautlichen und grammatischen Bereich, sondern auch auf die Ausdrucksgestaltung, den Stil und den Wortschatz. Schöpferische Sprachgestaltung, Lebund Bildhaftigkeit des Ausdrucks, Freiheiten in der Wortwahl, in der Wortstellung und im Satzbau wollte er ebenso aus der Literatursprache verbannen wie den Gebrauch von Provinzialismen. Das Schaffen Gottscheds gab dem Streit um das, was als rechtes Hochdeutsch zu gelten habe, gewaltigen Auftrieb. Die sprachliche Zerrissenheit und das Schwanken des Südens und Westens zwischen den eigenen literatursprachlichen Formen und den aus dem Norden vordringenden spiegelten sich auch in den Ansichten der Sprachgelehrten wider. Im Mittelpunkt der Bemühungen süddeutscher Gelehrter stand die Auseinandersetzung mit dem Führungsanspruch des Obersächsischen. Carl Friedrich Aichinger (1717–1782) vertrat die Ansicht, dass die nationale Literatursprache eine von den Gelehrten verwendete und festgesetzte Form der Sprache sein müsse, so dass keine einzelne Mundart Entscheidungsbefugnis für die literatursprachliche Norm besäße. Der Benediktinermönch aus dem Breisgau Augustin Dornblüth (1690–1760) richtete heftige Angriffe gegen die Fehlerhaftigkeit des Obersächsischen und setzte dagegen die Sprache der süddeutschen Kanzleien des 17. Jahrhunderts. Für die Gegner Gottscheds war die Auffassung entscheidend, dass eine Hochsprache von Gelehrten festzusetzen sei und nicht auf der Basis des Ausbaus einer Mundart entstehen könne. Während eine gewachsene Mundart keine logischen Strukturen habe, müssten für eine zu schaffende Hochsprache »Sprachgründe«13 maßgeblich sein. Damit wird ein theoretisches Konstrukt der Richtigkeit, der Reinheit und der Unvermischtheit zur Leitlinie der Sprachnormierung erklärt. Es sei Aufgabe der Sprachgelehrten für eine Übereinstimmung der Literatursprache mit den Sprachgründen zu sorgen, von denen die einzelnen Mundarten unterschiedlich stark abwichen. Als Aufgabe der Normierung wurde somit die Herstellung möglichst vollständiger Analo-

13

Der Terminus ›Sprachgründe‹ findet sich bereits bei Justus Georg Schottel: Ausführliche Arbeit Von der Teutschen HaubtSprache. Braunschweig 1663. ND Tübingen 1967. Gottsched verwendet ihn für grammatische Regeln und in Begründungen für die Sprachnormierung.

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gie in der Sprache erklärt, demgegenüber sollte die Anomalie, die sich in Ausnahmen und Regelwidrigkeiten niederschlägt, reduziert werden.14

2. Analogie vs. Anomalie Die Analogie als Ähnlichkeit, Übereinstimmung in den Verhältnissen wurde bereits in der Antike in Gegensatz zur Anomalie, d. h. zur Regellosigkeit gesetzt.15 Nach Varro haben beide in der Sprache ihre Berechtigung, während die Anomalie jedoch auf dem Gebrauch der Sprache durch das Volk beruht, folgt die Analogie dem Verstand.16 Die Bedeutung der Analogie wurde im 17. Jh. auf die Funktion als Kriterium zur Beurteilung bzw. Verurteilung bereits existierender Sprachformen eingeschränkt. Dies drückt sich vor allem in dem für die französische Grammatik des 17. Jh. maßgebenden Werk, den Remarques sur la langue françoise (1647) von Vaugelas aus, der sich auch auf Varro beruft, sich jedoch gegen die Bildung neuer Wörter wendet. Wenn die Bildung neuer Wörter nicht in Frage kommt und wenn der usage die entscheidende Sprachinstanz ist, dann bleiben für die Analogie nur die durch den usage noch nicht geregelten Fälle übrig. Diese Fälle sind nach Ähnlichkeit und Übereinstimmung mit dem usage zu entscheiden, die Analogie verhalte sich dabei gegenüber dem vorbildlichen höfischen Sprachgebrauch wie die Kopie zum Original. Auch in Deutschland standen sich diese zwei alternativen Prinzipien der Sprachnormierung gegenüber, deren Tradition bis in die Antike zurückreicht. Nach der analogistischen Auffassung ging es darum, aus den grammatischen Merkmalen einer Sprache strukturelle Prinzipien abzuleiten, die als Leitlinien der Normierung dienen sollten. Zum Beispiel gab es den Vorschlag, die Formen der Pluralkennzeichnung an die am häufigsten gebrauchte anzupassen. Analogistische Normierungen brechen somit mit dem etablierten Sprachgebrauch. Im Gegensatz dazu verbietet die anomalistische Auffassung derartige Eingriffe und setzt einen bestimmten Gebrauch als Leitvarietät an.

14

15

16

Vgl. Eric Albert Blackall: Die Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache 1700–1775. Übers. von Hans G. Schürmann. Stuttgart 1966; Peter Burke: Wörter machen Leute. Gesellschaft und Sprachen im Europa der frühen Neuzeit. Übers. von Matthias Wolf. Berlin 2006; Andreas Gardt: Geschichte der Sprachwissenschaft in Deutschland. Vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Berlin, New York 1999; Nation und Sprache. Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart. Hg. von Andreas Gardt. Berlin, New York 2000; Franz Hundsnurscher: Syntaxwandel zur Gottsched-Zeit. In: Neuere Forschungen zur historischen Syntax des Deutschen. Hg. von Anne Betten. Tübingen 1990, S. 422–438; Karlheinz Jakob: Die Sprachnormierungen Johann Christoph Gottscheds und ihre Durchsetzung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Sprachwissenschaft 24 (1999), S. 1–46; Dieter Nerius: Untersuchungen zur Herausbildung einer nationalen Norm der deutschen Literatursprache im 18. Jahrhundert. Halle 1967; Werner Rieck: Johann Christoph Gottsched. Eine kritische Würdigung seines Werkes. Berlin 1972; Johann Christoph Gottsched in seiner Zeit. Neue Beiträge zu Leben, Werk und Wirkung. Hg von Manfred Rudersdorf. Berlin, New York 2007. Vgl. Gerda Haßler: ›Analogy‹. The History of a Concept and a Term from the 17th to the 19th Century. In: History of Linguistics 2005. Selected papers from the tenth International Conference on the History of the Language Sciences. Hg. von Douglas A. Kibbee. Amsterdam, Philadelphia 2007, S. 156–168. Marcus Terentius Varro: On the Latin Language. Books V–VII, with an English Translation by Roland G. Kent. Cambridge, Massachusetts, London 1993, S. 453.

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In sprachtheoretischen Texten wird die Analogie als Folge der Gewohnheit des Menschen erklärt, aus der sich trotz aller Arbitrarität Ähnlichkeiten in den sprachlichen Benennungen und eine weitgehende Uniformität des Gebrauchs ergeben. Auf diese Weise lassen sich zum Beispiel das Genus der Nomina, die Konjugationsformen der Verben und der Numerus von Substantiven aus Regeln ableiten. Zugleich wird der Analogie eine stabilisierende Wirkung auf die Sprache zugeschrieben. Aufgrund der Analogie sei es den Grammatikern überhaupt erst möglich geworden, Regeln zu formulieren. Die Nützlichkeit dieser grammatischen Regeln steht außer Frage, denn ohne sie müssten die Menschen die Regelhaftigkeit selbst aus der real bestehenden Analogie mühsam ableiten. Analogie wird somit als eine in einer Sprache real gegebene Eigenschaft gesehen, die zum Gegenstand grammatischer Beschreibung werden kann, jedoch auch ohne diese existiert. Wenn sich Gottsched auf der Seite der Anomalisten für die Normierung der deutschen Hochsprache auf der Basis des ostmitteldeutschen Sächsischen einsetzte, ist jedoch zu berücksichtigen, dass er den entgegengesetzten Analogiebegriff durchaus verwendete. Neben der Ähnlichkeit zwischen Sprachen bezeichnet er mit dem Wort ›Analogie‹ auch Regelhaftigkeiten in der Wortbildung und der Flexion:17 Durch die Analogie versteht man in den Sprachlehren die Aehnlichkeit in den Ableitungen und Verwandelungen der Wörter; imgleichen in der Verkürzung, Verlängerung und Zusammensetzung, sowohl der Wörter als der Redensarten. Da es nun in allen Sprachen eine solche Aehnlichkeit, oder Analogie giebt: so machet allemal die größte Anzahl übereinstimmender Exempel eine Regel aus; die davon abweichenden Redensarten aber, geben die Ausnahmen an die Hand. Denn noch bei keinem Volke hat man eine vollkommene Analogie im Reden beobachtet: ja vielleicht würde selbst eine ganz neuerdachte philosophische Sprache, nicht ohne alle Ausnahmen seyn können.18

Für wichtiger als die Analogie erachtet er Abweichungen von den Regeln und bezieht damit deutlich eine anomalistische Position. Unregelmäßigkeiten weisen nach seiner Auffassung alle Sprachen auf. Den Gegensatz von Analogie und Anomalie in der Normierung einer Sprache beschreibt er als das entgegengesetzte Wirken der Sprachkunst, die die Regeln beschreibe, und Gewohnheit des Sprachgebrauchs, die sich nicht immer nach ihnen richte. Ausschlaggebend für die grammatische Beschreibung ist für ihn daher die Gewohnheit des Sprachgebrauchs nicht etwa eines Sprachgelehrten, sondern der Sprecher allgemein, wobei er Missbräuche ausschließen will. Er zweifelt an, dass eine von Gelehrten erdachte Sprache vollkommen der Analogie folgen könne. Mit der Verwendung des Begriffs des Missbrauchs der Sprache folgt Gottsched den Sprachtheoretikern seiner Zeit, die darunter nicht nur bewussten, etwa zu manipulatorischen Missbrauch, sondern auch unreflektiertes, letztlich zur Korruption führendes Verwenden der Sprache verstanden. Die Tatsache, dass er derartige missbräuchliche Verwendungen dem gemeinen Volk, dem »Pöbel«, zuschreibt, verbindet sich mit der Orientierung der Sprachnormierung an den besten Schriftstellern. Da diese mehr Sorgfalt auf ihre Sprache legten, beobachteten sie auch die »Sprachähnlichkeit« oder Analogie besser, was zu weniger »Rauhigkeit« führe:

17 18

Gottsched: Vollständigere und neuerläuterte deutsche Sprachkunst (s. Anm. 2), S. 735: »Analogia, die Ähnlichkeit in den Sprachen«. Ebd., S. 5–6.

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Eine jede Mundart hat in dem Munde der Ungelehrten, ihre gewissen Mängel; ja aus Nachlässigkeit und Übereilung im Reden, ist sie mit sich selbst nicht allemal einstimmig. Daher muß man auch den Gebrauch der besten Schriftsteller zu Hülfe nehmen, um die Regeln einer Sprache fest zu setzen: denn im Schreiben pflegt man sich viel mehr in Acht zu nehmen, als im Reden. [Dazu Anmerkung]: Dieses ist umso gewisser: […] da alle Sprachen unter einer Menge eines rohen Volkes zuerst entstanden; oft durch Vermischungen fremder Sprachen verwirret, und durch allerley einschleichende Misbräuche, noch mehr verderbet worden. Sobald sich nun Gelehrte finden, die auch auf die Schreibart einigen Fleiß wenden; so fängt man an, die Sprachähnlichkeit besser zu beobachten, als der Pöbel zu thun pflegt: und die Sprache verliert also etwas von ihrer Rauhigkeit. Je mehr fleißige und sorgfältige Schriftsteller sich nun finden, desto richtiger wird die Sprache: und daher entsteht die Pflicht, sich auch nach dem Gebrauche der besten Schriftsteller zu richten.19

Zur Dominanz des Konzepts der Anomalie bei Gottsched trägt auch seine Auffassung von der Veränderlichkeit der Sprachen bei. Da die Sprachen älter sind als die Normierung ihrer Regelmäßigkeit, folge man im Sprachgebrauch der Gewohnheit. Die Festlegung von Regeln sei nur dort angebracht, wo es unterschiedliche Gewohnheiten gebe. In solchen Fällen solle die Normierung der sprachlichen Variation entgegenwirken: Doch, aus dieser Widerwärtigkeit der Gewohnheit im Reden, folget noch nicht: daß alle Redensarten durchaus auf eine Aehnlichkeit gebracht werden, und also alle Ausnahmen abgeschaffet werden müßten. Nein, die Sprachen sind älter, als die Regeln derselben: und diese mussten also nachgeben, wo eine durchgängige und allgemeine Gewohnheit im Sprechen das Gegentheil eingeführet hat. Nur, wo der Gebrauch ungewiss, oder verschieden ist, da kann ein guter Sprachlehrer, durch die Aehnlichkeit der meisten Exempel; oder durch die daraus entstandenen Regeln, entscheiden, welcher Gebrauch dem andern vorzuziehen sey.20

Eine Veränderung sprachlicher Konventionen zieht er dabei durchaus in Betracht. Dabei lässt er offen, ob solche Veränderungen der Sprache zum Guten gereichen, bei der Festlegung von Regeln müsse man sich jedoch dem aktuellen Stand zuwenden. Auch in der Hinwendung zur modernen Sprache, die natürlich Unregelmäßigkeiten aufweist, erweist sich Gottsched letztlich wiederum als Anomalist: Da die Sprachen sich von Zeit zu Zeit verändern, und unvermerkt gewisse Arten zu denken und zu reden aufkommen, auch endlich überhand nehmen, die vormals nicht gewöhnlich gewesen: so müssen sich auch die Sprachlehrer darnach richten, und solche Regeln machen, die der Mundart ihrer Zeiten gemäß sind. […] Denn seit hundert Jahren hat sich das Deutsche ziemlich gebessert, oder doch wenigstens sehr verändert.21

3. Die ›Vollkommenheit‹ als Ziel der Normierung der Sprache Mit dem Streben nach Vollkommenheit der Sprache steht Gottsched in einer Tradition, die spätestens dann einsetzte, als das Nachdenken über die Vorzüge, die Vollkommenheit und die Mängel von Sprachen begann und als mehrere Sprachen um die Verwendung in attraktiven Kommunikationsbereichen konkurrierten. Man konnte dabei an eine lange Geschichte der Be19 20 21

Ebd., S. 3–4. Ebd., S. 7. Ebd., S. 8.

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wertung von Sprachen im Hinblick auf ihre Vorzüge anknüpfen, die mit der Aufnahme der aus der Rhetorik stammenden Kategorien perspicuitas, energeia, abundantia und harmonia auch eine begriffliche Fortsetzung fand.22 Gottsched stellte seiner Deutschen Sprachkunst einen kurzen Aufsatz Von der Vollkommenheit einer Sprache überhaupt voran, in dem er die zentralen Kategorien zusammenfasst und dabei an die vorangegangene Sprachdiskussion anknüpft. Er distanziert sich dabei vom Ideal einer philosophischen Sprache, die durchgängig von Regeln beherrscht wäre, und betont die bedingte, relative Regelhaftigkeit einer natürlich entstandenen Sprache, an der er ihren Grad an Vollkommenheit misst. Eine Sprache betrachtet er als umso vollkommener, je weniger Regeln sie nötig hat und je allgemeiner infolgedessen diese Regeln sind: Durch die Vollkommenheit einer Sprache, versteht man hier nicht, eine durchgängige Übereinstimmung aller ihrer Wörter und Redensarten, nach einerley allgemeinen Regeln, ohne alle Ausnahmen. Dieses würde die Vollkommenheit einer mit Fleiß erfundenen philosophischen Sprache seyn. Diese findet man aber nirgends. Ich rede nur von der Vollkommenheit derselben, in so weit sie in den wirklich vorhandenen Sprachen angetroffen wird: wo allerdings ein vieles nach gewissen Regeln übereinstimmet; obgleich viel andres auch davon abweicht. Und in Ansehung dessen kann man allen Sprachen auf dem Erdboden, einen gewissen Grad der Vollkommenheit nicht absprechen.23

Ausgehend von diesem Grundsatz zählt er dann die einzelnen Vorzüge einer Sprache auf: Reichthum und Überfluß, Deutlichkeit, Kürze oder Nachdruck. Er nennt damit die klassischen Kriterien der Sprachwertung, differenziert jedoch nicht zwischen Reichtum und Überfluß, der auch schädlich wirken kann, und reduziert den Nachdruck, der ursprünglich aus der Kategorie der Energie hervorgegangen war, auf die Kürze: Wie nun der Reichthum und Überfluß die erste Vollkommenheit einer Sprache abgiebt: so ist es auch gewiß, daß die Deutlichkeit derselben, die zweyte ist. Denn die Sprache ist das Mittel, wodurch man seine Gedanken, und zwar in der Absicht ausdrücket, daß sie von andern verstanden werden sollen. Da aber dieser Zweck nicht erhalten wird, außer wenn die Wörter wohl zusammengefüget, und nach gewissen leichten Regeln verbunden werden: so kömmt es bey der Größe der Vollkommenheit, auch darauf an, ob eine Sprache viel oder wenig Regeln nöthig hat? Je weniger und allgemeiner nun dieselben sind, d. i. je weniger Ausnahmen sie haben; desto größer ist ihre Vollkommenheit: wenn nur der Zweck der Rede, nämlich die deutliche Erklärung der Gedanken dadurch erhalten wird. Die dritte gute Eigenschaft der Sprachen ist die Kürze, oder der Nachdruck; vermöge dessen man mit wenigen Worten, viele Gedanken entdecken kann.24

Die Harmonie wird von Gottsched nicht unter den unstrittigen Vorzügen erwähnt, er führt jedoch weitere, umstrittene Vorzüge an, die auf die lautliche Gestalt der Sprachen bezogen sind: Lieblichkeit und Anmuth, im Gegensatz dazu die Rauhigkeit bestimmter Mundarten. Da Urteile zu diesen Eigenschaften aber stark von den Muttersprachen der Urteilenden abhingen, lässt er sie beiseite: Man pflegt auch noch andere Eigenschaften zur Vollkommenheit und Schönheit einer Sprache zu erfordern, die aber so unstreitig nicht sind. Man redet z. B. von der Lieblichkeit und Anmuth gewisser, 22

23 24

Zu den Vorzügen und Mängeln in der Redekunst vgl. Johann Christoph Gottsched: Ausführliche Redekunst, nach Anleitung der alten Griechen und Römer, wie auch der neuern Ausländer; geistlichen und weltlichen Rednern zu gut, im zwey Theilen verfasset und mit Exempeln erläutert. Leipzig 1736. ND Leipzig 21973, S. 294. Gottsched: Vollständigere und neuerläuterte deutsche Sprachkunst (s. Anm. 2), Einleitung, II, 1 §, S. 13. Ebd., 3 §, S. 14f.

Sprachwissenschaftliche Konzepte bei Gottsched

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imgleichen von der Rauhigkeit anderer Mundarten. Weil aber der Begriff, oder die Empfindung dieser Lieblichkeit nicht bei allen Menschen einerley ist, und aus der Vernunft schwerlich zu erweisen steht: so kann man nichts gewisses davon ausmachen. Es kömmt dabey alles auf die gelinde und härtere Aussprache, und auf die Empfindung und Gewohnheit der Ohren an. Einem deutschen scheint der Franzos durch die Nase zu reden; ein Engländer aber durch die Zähne zu zischeln, oder zu lispeln: und das klingt uns unangenehm, so lange wir es noch nicht gewohnt sind. Ein Franzos aber beschuldigt die Deutschen, daß sie aus dem Halse, oder aus der Gurgel sprechen: welches vielleicht von den nächsten Nachbarn der Franzosen, den Schweizern, wahr seyn kann; aber bey uns, wenigstens in den guten Provinzen von Deutschland, nicht geschieht, und selbst von den Franzosen, wenn sie uns hören, nicht empfunden wird.25

In seinem Vergleich der Aussprache- und Hörgewohnheiten von Deutschen und Franzosen kommen die Schweizer, mit denen er bekanntlich im Streit lag, nicht gut weg. In der Deutlichkeit sieht Gottsched in erster Linie eine pragmatische, nicht eine zeichenspezifische Größe, die die eindeutige Zuordnung von Zeichen und bezeichnetem Gegenstand betreffe. Der Sprache komme lediglich die Aufgabe zu, die Vorstellungen so eindeutig und unkompliziert wie möglich abzubilden. Für ihn korreliert die grammatische Unkompliziertheit der Sprache, die möglichst wenig Regeln haben soll, mit ihrer Vollkommenheit. Mit diesem Prinzip, das kühner Metaphorik ebenso wie eigenwilliger Syntax widerspricht, wendet er sich wiederum gegen sprachliche Variation, durch die das Gefüge einer Sprache komplizierter würde. Mit der Forderung nach Reibungslosigkeit der Kommunikation, die regionale Einflüsse ausschließt, betrachtete Gottsched die Ausnahme von der Regel nicht als Ausdruck von Vielfalt, sondern als Gefährdung des homogenen Systems. Zur Frage nach der Vollkommenheit des Deutschen resümiert Gottsched zunächst die Diskussion der Kritiker, die das Deutsche zur Zeit Kaiser Maximilians I. und Karls V. »nachdrücklicheres und kräftigeres Deutsch« nennen. Die Sprache sei durch den Gebrauch »viel schwatzhafter, und daher gezwungener« geworden, als sie vormals gewesen war. Auch die Aufnahme vieler ausländischer Wörter und Redensarten ins Deutsche, die man nicht richtig verstehen und gebrauchen könne, habe zum Verderben des Deutschen beigetragen.26 Dennoch kommt er zu dem Schluss, dass die deutsche Sprache die Mittel besitzt, um alle Ausdrucksabsichten »geschickt und bequem« realisieren zu können und es infolgedessen verdient, bewahrt zu werden. Gottscheds Sprachauffassung entspricht damit dem aufklärerischen Fortschrittsdenken, nach dem sich die Sprachen ständig höher entwickeln: Aus dieser Ursache nun wäre es zu wünschen, daß unsere Sprache bey der itzigen Art, sie zu reden und zu schreiben, erhalten werden könnte: weil sie, allem Ansehen nach, denjenigen Grad der Vollkommenheit erreicht zu haben scheint, darinn sie zu allen Vorfällen und Absichten einer ausgearbeiteten und artigen Sprache, geschickt und bequem ist.27

Den extrem fremdwortpuristischen Bestrebungen der fruchtbringenden Gesellschaft konnte Gottsched nicht folgen, obwohl er in seiner Critischen Dichtkunst (1730) empfahl, seine Gedichte

25 26 27

Ebd., 6 §, S. 16. Ebd., 8 §, S. 17. Ebd., 11 §, S. 19.

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Gerda Haßler

nicht mit »gestohlenen Lumpen der Ausländer« zu behängen.28 Er wollte vielmehr in Fremdwortfragen die »Mittelstraße« gehen.29 Die im Kontrast zur Vollkommenheit der Sprache stehenden Mängel bezeichnet Gottsched als Missbräuche. Er wendet sich zum Beispiel gegen den Gebrauch der Partikel ›so‹ als »beziehendes Fürwort«, das in anderen Funktionen bereits reichlich verwendet werde: Endlich wird auch das Wörtchen so, sehr häufig, als ein beziehendes Fürwort, und zwar ohne Unterschied der Geschlechter, Fall- und Zahlendungen gebrauchet; und es fraget sich, was davon zu halten sey? Die Redensarten klingen so: Derselbe, so zuerst die Sache erfunden; Die Braut, so er sich erwählet; Dasjenige, so sie mir geschrieben. Die Gaben, so ihm von der Natur verliehen worden, u. d. gl. Nun wäre zwar diese, bey vielen eingeführte Art zu schreiben, gar wohl zu dulden; wenn nicht dieses Wörtchen nicht schon ohne dies gar zu oft vorkäme. Denn auf sehr viele Verbindungswörter, als wie, weil, nachdem, seitdem, wofern, etc. folget es in der andern Hälfte des Satzes überall. Die Vergleichungen werden auch damit gemachet, so groß, so reich, andere Fälle zu geschweigen. Man enthalte sich also dessen als eines beziehenden Fürwortes, so viel man kann; […].30

Beim Verwerfen bestimmter sprachlicher Formen als schlechten Sprachgebrauchs werden häufig Zuordnungen zu den klassischen Fehlergruppen vorgenommen: Ein Solözismus (griech. soloikismós) ist ein grober syntaktischer Fehler, so genannt nach der griechischen Stadt Soloi in Kilikien, deren Einwohner durch den Einfluss benachbarter Barbarenstämme ein sehr entstelltes Griechisch sprachen. Diese Bezeichnung der antiken Rhetorik für einen Verstoß gegen die Regeln der Grammatik stand für Verstöße gegen das Prinzip der Sprachrichtigkeit, die erste der vier Stilqualitäten der antiken Rhetorik, und wurde analog auch im 18. Jahrhundert verwendet. Dagegen wurde Barbarismus (zu griech. βάρβαρος / bárbaros ›der Fremde, Barbar‹) in der antiken Rhetorik für den falschen Gebrauch eines Wortes verwendet. In den sprachnormierenden Äußerungen des 18. Jahrhunderts wurde Barbarismus jedoch zunehmend auf die Bezeichnung unnötiger Fremdwörter festgelegt. Das Beginnen von Sätzen mit dem Partizip, kennzeichnet Gottsched als »altväterische Nachahmung des Griechischen und Lateinischen, die wider den natürlichen Schwung unserer Sprache läuft.«31 Im Deutschen gebe es nur noch wenige alte Redensarten, in denen man das Partizip am Anfang gebrauche (z. B. »Sehend, daß dieses geschah, sprach er etc.«). Gegen die Generalisierung dieses Musters bemerkt Gottsched kategorisch: »Unsere Neulinge fangen indessen an, solche Barbarismen einzuführen, die allen deutschen Ohren einen Ekel erwecken.«32 Werden Sätze gar mit einen Partizip Perfekt (»Mittelwort der vergangenen Zeit«, z. B. »Erschrecket durch deine Worte, kann ich dir nichts antworten«) begonnen, so liege eine »ungeschickte Nachäffung des Französischen« vor, die einer »barbarische[n] oder undeutsche[n] Art zu reden und zu schreiben« gleichkomme.33 Im Sinne einer Modernisierung des Sprachgebrauchs wendet er sich gegen die doppelte Verneinung 28 29 30 31 32 33

Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst (1730), I, VII, § 11. In: ders.: Ausgewählte Werke. Hg. von Joachim Birke. Bd. VI/1. Berlin, New York 1973, S. 22 Gottsched: Vollständigere und neuerläuterte deutsche Sprachkunst (s. Anm. 2), II, III, § 22, S. 193. Ebd., II, V, 19 §, S. 290. Ebd., III, V, 4 §, S. 484. Ebd., S. 485. Ebd., 5 §, S. 485.

Sprachwissenschaftliche Konzepte bei Gottsched

261

Die verdoppelte Verneinung, die noch im vorigen Jahrhunderte bey guten Schriftstellern gewöhnlich war, um desto stärker zu verneinen; muß itzo in der guten Schreibart ganz abgeschaffet werden. Man sagte z. B. damals: ich habe ihn niemals nicht gesehen; Es wird ihm dadurch nicht nicht entgehen; Es kann es keiner nicht so gut. [...] Allein heutzutage spricht nur noch der Pöbel so. Artige Leute vermeiden es, und zierliche Scribenten noch mehr. Ich habe ihn niemals gesprochen; dadurch entgeht dir nichts.34

und gegen die Verwechslung von für und vor: Das Wörtchen vor wird überall mit gutem Rechte gebrauchet, wo von Zeit und Ort die Rede ist, wie das lateinische ante, prae und coram. Daher ist es ganz unrecht, wenn viele schreiben fürlegen, fürschreiben, fürbilden, fürmalen, fürstellen, u.d.gl. da es doch überall vor heißen sollte; weil man einem etwas vor die Augen leget, schreibt, bildet, malet und stellet. Diese betrafen den Ort: folgende zielen auch auf die Zeit; als vorgehen, vorlaufen, vorfahren, vorreiten, [...]. [...] Für muß nur in denen Fällen gebrauchet werden, wo man anstatt eines andern, oder in seinem Namen oder ihm zu gut etwas thut; welches der Lateiner mit pro ausdrücket.35

Seine Bemerkungen zu einzelnen sprachlichen Erscheinungen lassen Unsicherheiten im Sprachgebrauch des Deutschen im 18. Jahrhundert erkennen, zu denen Gottsched meist eindeutig Stellung bezieht und damit eine normative Absicht verbindet. Auch regional bedingte ›falsche‹ Formen wurden von Gottsched als missbräuchliche Verwendungen gekennzeichnet: Hierher gehöret auch der Mißbrauch einiger Oberdeutschen, die bey Mittelwörtern gar die Syllbe er anhängen, z. B. er hat es unbesonnener gethan. Vielleicht haben sie das Wort Weise im Sinne; welches sie aber nicht verschweigen sollten. Wenn aber andere gar sagen: er ist todter, für todt; es ist gedruckter, für gedruckt; so ist es vollends ganz unverantwortlich.36 Noch ein Mißbrauch wird in einigen Landschaften mit dem Vorworte an begangen, wenn man es mit seiner Endung zu einem Zeitworte setzet, welches eigentlich die dritte Endung fordert. Z. E. Er gab es an mich, statt mir; ich habe es an ihn gegeben, statt ihm.37

Auch der Wandel einer Sprache wird als Quelle von Fehlern betrachtet, insofern alte Formen als Fehler betrachtet werden. Vereinfachungen der Konjugation wie »ich thue essen«, die Gottsched als alte Formen betrachtet, werden ebenfalls angeprangert. Man höret in einigen Reichsstädten unter Handwerksleuten, noch eine Art die Zeitwörter abzuwandeln, die vorzeiten auch in Schriften gewöhnlich war, und die bey den Engländern noch diese Stunde im Schwange geht. Man bedienet sich hier des Wortes thun mit seiner Abwandelung, alle Zeiten, Zahlen und Personen zu bilden: das hauptsächliche Zeitwort aber, bleibt unverändert in der unbestimmten Art. Z. B. anstatt ich esse, ich gehe, ich reise, saget man, ich thue essen, gehen, reisen; und so ferner, ich that essen, gehen, reisen.38

34 35 36 37 38

Ebd., VII, 5 §, S. 500. Ebd., 11 §, S. 503. Ebd., V, 2 §, Anm. a, S. 484. Ebd., VIII, 17 §, S. 517. Ebd., , II, VI, 5, 18 §, S. 373.

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Gerda Haßler

4. Begriffliche Neuerungen in der grammatischen Beschreibung des Deutschen Im Aufbau seiner Deutschen Sprachkunst lehnt sich Gottsched an traditionelle Muster an und unterteilt sie in vier Teile. Er beginnt mit der Lautlehre und der Orthographie, wobei er davon ausgeht, dass die Sprachen der Schrift ihre ordentliche Gestalt verdanken. Im zweiten Teil behandelt er die ›Etymologie‹ genannte Lehre von der Wortforschung, in der er die Wortarten des Deutschen darstellt, im dritten Teil die Syntax oder Wortfügung genannte Verbindung der Wörter. Den vierten Teil widmet er der Prosodie: Es ist also kein Wunder, daß die Sprachlehrer ihre Anweisungen zur Erlernung aller Sprachen, von dem Unterrichte anheben, wie man dieselben recht schreiben solle. Dieser machet billig den ersten Theil derselben aus, und wird griechisch die Orthographie, deutsch die Rechtschreibung genennet.39 Diesen Unterschied und diese Verwandtschaft der Wörter, erkläret die Etymologie, oder die Lehre von der Wortforschung, als der zweyte Theil der Sprachkunst.40 Alle diese Regeln von geschickter Verbindung der Wörter, machen den dritten Theil der Sprachlehre aus: und dieser heißt Syntaxis, oder die Wortfügung.41 Von beyden [Silben und Reim] können theils aus der Natur der Sprache, theils aus der Gewohnheit der besten Poeten regeln gegeben werden: und diese machen den vierten Theil der Sprachkunst aus, den man die Prosodie, oder die Tonmessung nennet.42

Inhalt der Grammatiken war vor allem eine Darstellung der Formen und Funktionen der Wortarten, die aus der Antike übernommen und an die Bedürfnisse der Beschreibung einzelner Sprachen teilweise angepasst wurden. Gottsched reduziert die acht oder neun aus der griechisch-römischen Grammatiktradition überlieferten Wortarten auf drei: die Nennwörter (Nomina), die Zeitwörter (Verba) und die Bestimmungswörter (Particulas). Die von ihm hierfür gegebene Begründung lässt auf die Art der von ihm präferierten Didaktik schließen: In diese drey Gattungen nun, kann man alle Wörter der deutschen Sprache bringen, die man sonst in den meisten Grammatiken in acht, oder neun Arten zu theilen pflegt. Es ist aber Anfängern, zumal Unstudierten und Kindern, leichter drey, als neun Abtheilungen auswendig zu behalten: zumal, wenn sie von diesen gar keinen Grund der Eintheilung sehen können; wie insgemein zu geschehen pflegt.43

Welche Probleme bei der Benennung der Wortarten gerade im Deutschen auftraten, lässt sich am Beispiel der ›Partikel‹ verdeutlichen. Neben die lateinischen Bezeichnungen traten vielfältige Verdeutschungsversuche, die teilweise die sprachliche Funktion, teilweise aber auch die Stellung oder das syntaktische Verhalten der entsprechenden Wörter als Bezeichnungsmotiv haben. Gehen wir von Gottscheds Konzept der Partikel aus, so umfasst es auch die in der griechischlateinischen Grammatiktradition Adverb, Konjunktion, Präposition und Interjektion genannten Wort-

39 40 41 42 43

Ebd., Einleitung, III, 1 §, S. 22. Ebd., 3 §, S. 23. Ebd., 4 §, S. 24. Ebd., 5 §, S. 25. Ebd., II, I, 5 §, S. 153.

263

Sprachwissenschaftliche Konzepte bei Gottsched

arten. In der folgenden Tabelle sind einige Bezeichnungen der entsprechenden Wortarten in der deutschen Grammatikographie seit Conrad Bücklins44 Donat-Übersetzung genannt:45 (DONATUS) (MELANCHTHON) BÜCKLIN GLAREANUS ALBERTUS ÖLINGER CLAJUS RATKE - Sprachkunst - Allgemeine Sprachlehr - Wortschickungs lehr HELWIG

Partikel – – – – –

Zuwort Wörtlein

Beywort Beywort

Advocabulum

Circumstativum, Umbstandswort

KROMAYER

Adverb

GUEINZ SCHOTTELIUS

Nebenwort Wörterlein

BÖDIKER

Particula Partikel

STIELER

Wörterlein (Particulae) Bestimmungswort Particula Redetheilchen Füllwörterchen Partikel Partikel Partikel

GOTTSCHED

AICHINGER ADELUNG

Adverb Adverbium Adverbium zů wort, zůwort zů wort Aduerbium Aduerbium Aduerbium

Beiwort, Zuwort Zuwort, (Adverbium) Adverbium, Zuwort

Zuwort Nebenwort

Adverbium Adverb

Konjunktion coniunctio coniunctio Zůzesamenfügung Zůsamenfügung Coniunctio Coniunctio Coniunctio Bindung, Bindwort, Beisetzung, Bindung, Zusamen Fügwort Fügwort Continuativum, Bindwort, Fügwort Conjunction Fügewort Fügewort (Conjunctio) Conjunctio, Fuge-Wort, Conjunction, VerbindungsWörtlein Fügewort, Fügwort, Bindewort Bindewort, Conjunctiones, Verbindungsw. Conjunctio Konjunktion, Fügewort

Präposition praepositio praepositio fürsetzung fürsetzung Praepositio Praepositio Praepositio Fürsetzung Vorwort Vorwort Vorwort

Interjektion underwerffung unterwerffung

Bewegung, Bewegwort Einsetzung Bewegwort Bewegwort

Vorwort

Affectivum, Bewegwort

Praeposition Vorwort Vorwort Vorwort (Praepositio) Praeposition

Interjection

Vorwort Vorwort

Präpositio Präposition

Bewegewort Zwischenwort Interjectio, (Zwischenwort) Interjection Triebwort, Bewegungswort Zwischenwort (Interjectiones) (1736) Ausrufungen (1748) Interjectio Interjektion

Gottsched bemühte sich im Unterschied zu Aichinger (1754) konsequent um eine Verdeutschung der grammatischen Terminologie, die ihm freilich nicht immer gelang. So wirkt die Übersetzung von ›Adverb‹ mit »Nebenwort« sehr vage und die anfängliche wörtliche Übersetzung von ›Interjektion‹ mit »Zwischenwort« wurde 1749 durch die funktional zutreffendere Bezeichnung »Ausrufungen« ergänzt. Am größten ist bei Gottsched die Bezeichnungsvielfalt für 44 45

Conrad Bücklin (1429–?, fl. 1473). Vgl. Aino Kärnä: Grammatische Termini im Bereich der Inflexibilia. In: History of linguistics in texts and concepts – Geschichte der Sprachwissenschaft in Texten und Konzepten. Hg. von Gerda Haßler und Gesina Volkmann. Münster 2004, S. 41–54

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Gerda Haßler

den generischen Begriff der ›Partikel‹: »Bestimmungswort«, »Particula«, »Redetheilchen«, »Füllwörterchen«, »Partikel«. Doch nicht nur in den Benennungen, sondern auch in der begrifflichen Gliederung unterscheiden sich die Autoren. Während Gottsched zunächst die Partikel den anderen nichtflektierbaren Wortarten überordnet, spielt dies jedoch für die Beschreibung der einzelnen Wortarten dann keine Rolle, so dass er sich – entgegen der deklarierten Absicht – praktisch der Grammatiktradition unterwirft. Dennoch gab es um die Mitte des 18. Jahrhunderts in der Grammatikographie begriffliche und auch terminologische Bewegungen. Die Begriffe ›Subjekt‹ und ›Prädikat‹ fehlten in der grammatikalischen Terminologie der Antike, des Mittelalters und der frühen Neuzeit. In der Grammatik von Port Royal werden sujet und attribut zumeist für ›Satzgegenstand‹ und ›Satzaussage‹ verwendet, wodurch die Vereinigung von logischer und grammatischer Analyse des Urteils vollzogen wird. Während sich diese Terminologie im französischsprachigen Raum durchsetzte, erscheint im Deutschland des 18. Jahrhunderts die Begrifflichkeit subiectum / praedicatum in den Grammatiken. Die Etablierung dieser Termini in der deutschen Grammatik erfolgte offensichtlich um die Mitte des 18. Jahrhunderts, da das Begriffspaar bei Gottsched 1748 (und selbst in der Ausgabe von 1762) noch fehlt, Aichinger es aber sechs Jahre später (1754) wie selbstverständlich verwendet. Ein sicherer Terminus für ›Subjekt‹ und ›Prädikat‹ fehlt davor für den deutschen Sprachraum. Für das Deutsche bemühte man sich, auch für das Verb eine geeignete muttersprachliche Bezeichnung zu finden. Da das Verb als ein Wort betrachtet wurde, das eine Aussage über etwas unter Einschluss des Zeitmerkmals trifft, begründet Aichinger damit die deutsche Bezeichnung als ›Zeitwort‹. Auch für Gottsched sind die von den Verben ausgedrückten Tätigkeiten und Leiden stets an Zeit gebunden, weshalb der Ausdruck »Zeitwörter« angemessen erscheint. Zeitwörter fordern die Verbindung mit einem Substantiv (»Hauptwort«) oder einem Pronomen (»Fürwort«). Gottsched betont auch die Wortbildungsmöglichkeiten im Bereich der Verben, durch die das Deutsche reicher als die klassischen Sprachen sei. Für die Beschreibung der Tempora des Verbs kündigt Gottsched in der Vorrede zur dritten Auflage seiner Deutschen Sprachkunst eine begriffliche Neuerung an, die er als »grammatische Kätzerei« bezeichnet. Zu den üblichen Tempora habe er zwei neue Zeiten hinzugefügt, so dass er zu sieben Verbformen kam:46

46

1.

deutsche Bezeichnung die gegenwärtige Zeit

2.

die kaum vergangene Zeit

3.

die völlig vergangene Zeit

4.

die längstvergangene Zeit

lateinische Bezeichnung tempus praesens

Beispiel ich bin ich lobe praeteritum imperfectum ich war ich lobete praeteritum perfectum ich bin gewesen ich habe gelobt praeteritum ich war gewesen plusquamferfectum ich hatte gelobet

Vgl. Gottsched: Vollständigere und neuerläuterte deutsche Sprachkunst (s. Anm. 2), II, VI, S. 294–314.

265

Sprachwissenschaftliche Konzepte bei Gottsched 5.

deutsche Bezeichnung die ungewiss zukünftige Zeit

6.

die gewiss zukünftige Zeit

lateinische Bezeichnung Tempus futurum incertum tempus futurum certum

7.

die bedingt zukünftige Zeit

futurum conditionatum

Beispiel ich will sein ich will loben ich werde sein ich werde loben ich würde sein ich würde loben

Die Vergangenheit teilt er in »kaum vergangene« (auch »unlängst« oder »jüngstvergangene Zeit« genannt), »völlig vergangene« und »längstvergangene Zeit« ein, wobei er offensichtlich die in anderen Sprachen gegebene aspektuelle Differenzierung auf das Deutsche projiziert und mit den temporalen Verhältnissen vermischt.47 Die beiden periphrastischen Formen mit ›wollen‹ und ›werden‹ interpretiert Gottsched gleichermaßen als Futurformen, was eine Deutung von ›wollen‹ als Hilfsverb voraussetzt. Zur nicht näher definierten Kategorie der »Hülfswörter«, zu der er auch Modalverben zählt, rechnet er insgesamt zehn nach lateinischem Vorbild in der 1. Person genannte Verben: »1) ich bin, 2) ich habe, 3) ich werde, 4) ich will, 5) ich soll, 6) ich kann, 7) ich darf, 8) ich mag, 9) ich muß, und 10) ich lasse.«48 Insgesamt kann festgestellt werden, dass sich Gottsched zwar an den traditionellen Begriffen sprachtheoretischen Denkens und der grammatischen Terminologie orientiert, dabei aber um eine Verdeutschung bemüht ist und Begriffe aus der Rhetorik auf die Wertung und den Ausbaustand von Sprachen anwendet.

47 48

Vgl. ebd., II, VI, 3, 12 §, S. 337. Ebd., II, VI, 1, 1 §, S. 301.

III. VERMITTLUNG

HANSPETER MARTI

Gottsched als Universitätslehrer

1. Einleitung: Der Förderer des Deutschen und sein Verhältnis zur lateinischen Sprache Hauptwerke Gottscheds, allen voran seine Critische Dichtkunst (1729), die Ersten Gründe der Weltweisheit (1733/1734) und die Rhetoriklehrbücher, gingen aus dem Universitätsunterricht hervor und waren für diesen bestimmt. Mehr als vierzig Jahre lang war Gottsched, zunächst als Magister legens, seit 1730 als Professor an der Leipziger philosophischen Fakultät beschäftigt, nachdem er die Studentenzeit und die akademischen Lehrjahre an der Königsberger Universität verbracht hatte. ›Ein Leben für die Studien‹ wäre der passende Untertitel einer auf Gottscheds Beruf und Berufung bezogenen Biographie, die der Verankerung dieses Leipziger Gelehrten in der universitären Institution Rechnung trüge, ohne die übrigen Wirkungsfelder, zum Beispiel die mit dem Universitätsunterricht verbundenen gelehrten Gesellschaften oder das von der Regelpoetik und von moralpädagogischen Absichten bestimmte Theaterschaffen, übergehen zu dürfen. Das Thema ›Gottsched als Universitätslehrer‹ bezeichnet auf weiten Strecken ein Forschungsdefizit, das hier nur skizzenhaft getilgt werden kann. Es bleibt künftigen Arbeiten vorbehalten, die bezeichneten Lücken zu füllen und Gottsched in der Bildungs-, Wissenschafts- und Universitätsgeschichte heimisch werden zu lassen.1 Bekannt als wichtiger Popularisator der Wolffschen Philosophie, als Förderer der deutschen Sprache, insbesondere im akademischen Unterricht, sowie als Redner und Dichter, nutzte Gott1

Punktuell nur und ohne Einbezug der lateinischsprachigen Schriften behandelt wird Gottsched in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 2. 18. Jahrhundert. Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800. Hg. von Notker Hammerstein und Ulrich Herrmann. München 2005 (Register), S. 575. Ein einziger Satz ist Gottsched, und nicht einmal ihm allein, gewidmet bei Laurence Brockliss: Vierzehntes Kapitel. Lehrpläne. In: Die Geschichte der Universität in Europa. Bd. 2. Von der Reformation zur Französischen Revolution (1500–1800). Hg. von Walter Rüegg. München 1996, S. 456. Kein Thema sind Gottscheds Publikationen in der Gelehrtensprache im sonst kenntnisreichen Artikel von Wolfgang F. Bender: [Art.] Gottsched, Johann Christoph. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Hg. von Wilhelm Kühlmann. Bd. 4. Berlin 2009, S. 343–350. Ein aufschlussreiches Kapitel mit dem Titel »Pädagogik (Lehrbücher, Schulbücher, Lexika, pädagogische Diskussion)« widmet dem Lehrer Gottsched mit Hinweisen auf einige Desiderata Werner Rieck: Johann Christoph Gottsched. Eine kritische Würdigung seines Werkes. Berlin 1972, S. 79–90, sowie Anm. S. 273–277.

270

Hanspeter Marti

sched verschiedenste literarische Gattungen und Medien der Kommunikation, zum Beispiel die Zeitschriften, um ein breites bildungsfähiges Publikum auch außerhalb der Hohen Schulen zu erreichen und für seine Anliegen zu gewinnen. Dieses grenzte er vom ungebildeten, in allen Ständen auftretenden Pöbel ab. Zum heutigen wissenschaftlichen Allgemeinwissen zählen auch die Verdienste des Leipziger Gelehrten um Übersetzungen antiker und neuerer fremdländischer Autoren in die deutsche Sprache, mit denen er die national-patriotische Vermittlungsaufgabe wahrnahm, die Ausdruckskraft der Zielsprache unter Beweis zu stellen und gleichzeitig den Bildungshorizont der Adressaten zu erweitern. In seinen Lehrbüchern führte er Wissen, didaktisches Kalkül und Methodenbewusstsein zusammen, was ihm, wie Philipp Melanchthon und Christian Wolff, den ehrenvollen Namen eines Praeceptor Germaniae eintrug.2 Doch bis heute entzieht sich weitgehend unserer Kenntnis, wie Gottsched seinen Unterricht gestaltete, welches die Wirkung seiner Kompendien an Hohen Schulen und im Privatunterricht war, wer alles zu seinen Schülern zählte, wie er seine Studenten, insbesondere außerhalb der Lektionen, förderte, welches seine Stellung in der Geschichte des gelehrten Unterrichts und seine Bedeutung als Verfasser von Sprachlehrbüchern für die unteren Schultypen war. Im Folgenden geht es hauptsächlich um die Qualifikationsphase Gottscheds als akademischer Lehrer in Leipzig, die zwar mit der Ernennung zum Professor der Metaphysik und der Logik im Jahre 1734 formell ihren Abschluss fand, aber doch noch einige Jahre darüber hinaus dauerte, sowie um das bis jetzt weitestgehend vernachlässigte lateinischsprachige akademische Kleinschrifttum, dessen Bedeutung die Forschung mit dem ihr bislang geläufigen Bild Gottscheds als Lehrers des Deutschen und der Deutschen nicht zu vereinbaren wusste. Überdies sollen einige pädagogische Grundgedanken und bildungspolitische Ziele des Leipziger Professors herausgearbeitet und hauptsächlich am Beispiel wenig bekannter Werke vorgestellt werden. Sowohl im Anschluss an Christian Wolff als auch an eine etwas ältere hauseigene Tradition3 förderte Gottsched über seinen Leipziger Wirkungskreis hinaus im Vorfeld von Kants Streit der Fakultäten (1798) das Ansehen der philosophischen Fakultät im hierarchischen Gefüge der Universität und leitete als Apologet der deutschen Muttersprache außerdem eine revolutionär erscheinende Praxis akademischer Kommunikation mit ein. Gleichzeitig bekannte er sich aber zur Bilinguität der Universitätsgelehrten. In der ersten Auflage (1736) der Ausführlichen Redekunst veröffentlichte Gottsched seine lateinischsprachigen Antrittsreden zur Poetik- und zur Metaphysikprofessur als Musterbeispiele, welche der Herausgeber der Ausgewählten Werke im Variantenapparat in etwas verstümmelter Form und ohne Rückgriff auf die auch selbständig erschie-

2

3

Zu Melanchthon vgl. Theodor Mahlmann: Die Bezeichnung Melanchthons als Praeceptor Germaniae auf ihre Herkunft geprüft. Auch ein Beitrag zum Melanchthon-Jahr. In: Themata Leucoreana. Melanchthonbild und Melanchthonrezeption in der Lutherischen Orthodoxie und im Pietismus. Referate des dritten Wittenberger Symposiums zur Erforschung der Lutherischen Orthodoxie. Hg. von Udo Sträter. Wittenberg 1999, S. 135–226. Zu Christian Wolff: Ernst Bloch: Christian Thomasius. Ein deutscher Gelehrter ohne Misere. Frankfurt a.M. 1968, S. 10. Zu Gottsched, unter vielen vgl. Karl S. Guthke: Die Entdeckung des Ich in der Lyrik. Von der Nachahmung zum Ausdruck der Affekte. In: Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen Aufklärung. Hg. von Wilfried Barner. München 1989, S. 93–121, hier S. 104. Hanspeter Marti: Das Bild des Gelehrten in Leipziger philosophischen Dissertationen der Übergangszeit vom 17. zum 18. Jahrhundert. In: Die Universität Leipzig und ihr gelehrtes Umfeld 1680–1780. Hg. von Hanspeter Marti und Detlef Döring. Basel 2004, S. 55–109.

Gottsched als Universitätslehrer

271

nenen Redetexte immerhin abdrucken ließ.4 Grundsätzlich ging er aber ohne Begründung von der Annahme aus, daß die lateinischen Schriften nicht zu Gottscheds bedeutenden Leistungen gehören und als akademische Gelegenheitsschriften anzusehen sind. Wenn am Umfang gespart werden sollte, dann waren am besten die lateinischen Kleinschriften zu streichen.5

Mit der Gewohnheit, an den Hohen Schulen Reden in lateinischer Sprache halten zu lassen und von den Universitätsgelehrten deren Beherrschung zu fordern, wollte und konnte Gottsched nicht brechen.6 Er empfahl, Cicero und andere römische Autoren der goldenen Latinität zu lesen, diese in der Gestaltung der Satzperioden auch nachzuahmen, maß aber den res das weitaus größte Gewicht bei und bekannte, ohne sein Können ganz zu verleugnen, allerdings kein Meister der lateinischen Sprache zu sein.7 In seiner Apologie Christian Wolffs nahm er diesen und dessen Anhänger gegen Vorwürfe humanistischer Puristen in Schutz, zweifelte an der Leistungsfähigkeit des ciceronianischen Lateins für aktuelle philosophische Gebrauchszwecke und zeigte daher Verständnis für eine entsprechende Anpassung der Gelehrtensprache an zeitgenössische Gegebenheiten: »Weltweise schreiben allezeit um der Gedanken und Wahrheiten, nicht um der schönen Worte willen.«8 Den gegen Wolff gerichteten Vorwurf, die Vorschriften der lateinischen puritas zu missachten, gab er an einige inkompetente Schüler seines Vorbilds weiter, während er den Meister als Förderer der schönen Wissenschaften pries und einigen Wolffianern zugestand, den Beweis erbracht zu haben, dass die neue Philosophie sich durchaus mit einem sachadäquaten, auch ästhetischen Ansprüchen genügenden Gebrauch der lateinischen Sprache vertrage.9 An den lateinischsprachigen Marginalien in den Ersten Gründen der Weltweisheit hielt Gottsched in den späteren Auflagen seines Kompendiums fest, auch von Rezipientenseite in seiner Überzeugung vom didaktischen Nutzen der Randglossen bestärkt.10 Lateinsprachigkeit 4

5

6

7 8 9 10

Johann Christoph Gottsched: Ausführliche Redekunst. Anhang, Variantenverzeichnis, Nachwort. Bearb. von Rosemary Scholl. In: ders.: Ausgewählte Werke. Hg. von Phillip M. Mitchell. Bd. VII/3. Berlin, New York 1975, S. 94–121. Phillip M. Mitchell: Gottsched-Bibliographie. Rechenschaftsbericht des Herausgebers. In: Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. Hg. von Phillip M. Mitchell. Bd. XII. Berlin, New York 1987, S. 462. Johann Christoph Gottsched: Ausführliche Redekunst (Besonderer Teil). Das V. Hauptstück (Von den öffentlichen Reden der Lehrer auf hohen und niedern Schulen), IV. §. In: ders.: Ausgewählte Werke. Hg. von Phillip M. Mitchell. Bd. VII/2. Berlin, New York 1975, S. 257. Ebd., VI. §, S. 259. Johann Christoph Gottsched: Historische Lobschrift des weiland hoch= und wohlgebohrnen Herrn Herrn Christians, des H. R. R. Freyherrn von Wolf. Halle 1755, S. 138. Ebd., S. 139. Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Variantenverzeichnis). Bearb. von Otto Tetzlaff. Vorwort zum Theoretischen Teil der Weltweisheit (1748). In: ders.: Ausgewählte Werke. Hg. von Phillip M. Mitchell. Bd. V/3. Berlin, New York 1989, S. 224: »Da ich von verschiedenen Gönnern und Freunden, auch sogar aus Irland her, versichert worden, daß ihnen mein philosophisches Handbuch auch deswegen unter andern sehr angenehm sey, weil die lateinischen Randschriften die Anfänger auch zugleich in den Stand setzen, die lateinische Sprache der Weltweisen zu erlernen: so habe ich mich auch diese zu vermehren und verbessern beflissen.« Vergleiche aber den analogen Passus in der Vorrede zur Erstauflage von 1733, S. 208, wo mit großem Nachdruck der Gebrauch der Muttersprache in der Philosophie verfochten wird und der Verfasser die Randglossen eher als unfreiwillige Konzession an die gelehrte Zunft betrachtet. Die lateinischen Fachtermini ermöglichten damals, so Dietmar Till:

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bleibt für den angehenden Gelehrten und für Gottsched selber ein unbestrittenes Lernziel. Nicht nur wird in der späteren Auflage des Philosophielehrbuchs die Zahl der lateinischen Fachtermini vermehrt; diese sollen die angehenden Gelehrten auch instand setzen, lateinischsprachige philosophische Werke zu lesen und zu verstehen sowie das Disputieren zu erlernen.11 Für Gottsched waren die in den späteren Editionen der Ausführlichen Redekunst weggelassenen Reden in der traditionellen Gelehrtensprache keine Publikationen zweiter Klasse. Er stellte sogar eine Ausgabe seines lateinischsprachigen Œuvres in Aussicht,12 die aber nicht zustande kam, was die Auffindung einzelner Gottschedscher Kleinschriften bis auf den heutigen Tag erschwert. Trotz aller Fürsprache für das Latein stellte für Gottsched die Lateinkompetenz nicht ein zwingendes Indiz von Gelehrsamkeit dar.13 1752 warb er, dem akademischen decorum entsprechend, in einer lateinischsprachigen Programmschrift mit ungebrochenem Eifer dafür, die in ihr angekündigten Deklamationen in deutscher Sprache abzuhalten, da Latein statutarisch nicht vorgeschrieben sei.14 Hiermit erfolgte in der damaligen akademischen Öffentlichkeit ein praktischer Vorstoß an die Grenzen des offiziell Erlaubten, der, umgekehrt, auch über die starke Verankerung der lateinischen Sprache an der Universität noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts keinen Zweifel lässt. Gottsched erschließt sich in seiner Rolle als Universitätslehrer dem historischen Betrachter erst, wenn neben seinem Einsatz für die deutsche Sprache die lateinischsprachigen Publikationen berücksichtigt und wieder besser zugänglich gemacht werden. Der nationalpolitische Patriotismus, den Eugen Reichel auf die Spitze getrieben hat15 und der in einer gemäßigten, völkische Implikationen durchweg vermeidenden Form die germanistische Gottschedforschung bis heute bestimmt, hat einem sprachpluralistischen Ansatz zu weichen, der auch das Verhältnis des Leipziger Professors zu den übrigen europäischen Fremdsprachen,

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Leibniz-Rezeption und Leibniz-Übersetzung im 18. Jahrhundert. In: Daphnis 31 (2002), S. 643–699, hier S. 663, eine schnellere Orientierung in Gottscheds Lehrbuch als die noch ungewohnte deutsche Begrifflichkeit Wolffs. Ebd. Gottsched: Ausführliche Redekunst (Besonderer Teil), VI. §, in: ders.: Ausgewählte Werke, Bd. VII/2 (s. Anm. 6). S. 259. Ders.: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Praktischer Teil), Fortgesetzte Nachricht von des Verfassers eignen Schriften, bis zum 1745sten Jahre. In: ders: Ausgewählte Werke. Hg. von Phillip M. Mitchell. Bd. V/2. Berlin, New York 1983., S. 20: »Die meisten Handwerksgelehrten glaubeten damals [= in der Zeit des Christian Thomasius], wie noch itzo, was nicht latein ist, sey nicht gelehrt, und zeige keine Geschicklichkeit zu Professionen und akademischen Aemtern.« Johann Christoph Gottsched: Ad audiendos oratores quatuor, poetam unum, partim eruditionis hodiernae vindicias, contra Roussavi Genevensis criminationes suscepturos, partim natalem auspicatissimum serenissmi principis regii Saxonici electoratus heredis […]. (5. September 1752). Leipzig: »Et primo quidem in verbis Statuti nostri, summa fide a me allegati, nulla prorsus linguae, qua declamationes instituendae sint, mentio facta legitur. Liberum itaque esse, merito inde colligo, Decanis Ordinis Philosophici, qua potissimum lingua exercitia ista instituere velint; sive graeca haec fuerit, sive latina, sive teutonica, sive franco-gallica etiam, aut alia quaecunque.« (S. VI). Eugen Reichel: Gottsched als Pädagog. Berlin 1914, mit zahlreichen Ausfällen gegen die Latinität. Ders.: Gottscheds Stellung in der Geschichte des deutschen Unterrichts- und Erziehungswesens. In: Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte XIX (1909), S. 77–117, mit der Schlussbemerkung der Redaktion, die sich von Reichels Darlegungen distanziert.

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vor allem zum Französischen,16 noch stärker als bislang berücksichtigt. Gottsched war nicht nur an der Schaffung einer nicht akademischen Öffentlichkeit im Bildungswesen maßgeblich beteiligt, zweifellos eines seiner Hauptverdienste;17 er nahm auch am traditionellen Diskurs der Gelehrten in herkömmlicher Weise, nämlich in lateinischer Sprache, doch bisweilen mit neuen Inhalten, aufmerksam teil.

2. Gottscheds Weg der Qualifikation zum Leipziger Universitätsprofessor Als Zuwanderer, der, um der militärischen Aushebung zu entgehen, Preußen verließ, hatte Gottsched nur Aussicht auf eine berufliche Zukunft, wenn es ihm gelang, sich durch überzeugende akademische Leistungen an der Universität seiner neuen Wahlheimat zu qualifizieren. Dies tat er zunächst als Privatlehrer Friedrich Otto Menckes, des Sohns von Johann Burkhard Mencke, sowie als Magister legens an der Universität,18 bis er durch ein königliches Reskript vom 30. November 1729 zum außerordentlichen Professor der Dichtkunst ernannt wurde.19 In seinen Bittschreiben um eine Poetikprofessur an den sächsischen Kurfürsten Friedrich August I. konnte er bereits auf die zur Michaelismesse 1729 erschienene Critische Dichtkunst hinweisen, »daraus man leicht wird urtheilen können, ob ich ermeldter Profession gewachsen sey […].«20 Einem weiteren Brief an den Landesherrn fügte er als Leistungsnachweise Verzeichnisse seiner Publikationen sowie der von ihm bis zum Jahr 1728 an der Leipziger Universität abgehaltenen Lehrveranstaltungen bei. Es handelte sich um ein Collegium über neuere Philosophiegeschichte (1725), Philosophiekurse (1725–1728) auf der Grundlage des Kompendiums des Wolffianers Ludwig Philipp Thümmig (1697–1728), Collegia in theoretischer und praktischer Beredsamkeit, um ein Collegium über Dichtkunst sowie um privat veranstaltete lateinische und deutsche Stilübungen, an denen, wie eigens vermerkt wird, mehrere adelige Studenten teilnahmen.21 Die 16

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Günter Gawlick: Johann Christoph Gottsched als Vermittler der französischen Aufklärung. In: Zentren der Aufklärung III. Leipzig. Aufklärung und Bürgerlichkeit. Hg. von Wolfgang Martens. Heidelberg 1990, S. 179-204. Gabriele Ball: Moralische Küsse. Gottsched als Zeitschriftenherausgeber und literarischer Vermittler. Göttingen 2000, S. 37 (Mentor für Ungelehrte), S. 38 (Erweiterung des Einflusses auf ungelehrte Rezipienten), S. 39 (»Hinweise auf negativ verstandenes Gelehrtentum sind Legion«); ebd., Anm. 116 (übernommenes Zitat zur nicht akademischen Öffentlichkeit). Auf die ersten Schritte der beruflichen Integration in Leipzig sowie an der Leipziger philosophischen Fakultät gehe ich an anderer Stelle näher ein. Näheres zu dieser Berufung siehe Johann Christoph Gottsched: Briefwechsel unter Einschluß des Briefwechsels von Luise Adelgunde Victorie Gottsched. Bd. 1. 1722–1730. Hg. und bearb. von Detlef Döring, Rüdiger Otto und Michael Schlott unter Mitarbeit von Franziska Menzel. Berlin, New York 2007, S. 246f., Anm. 2. Ebd., Brief Nr. 103 vom 16. Oktober 1729, S. 250; ähnlich in einem früheren, vor dem 6. Oktober 1729 an den Kurfürsten gerichteten Schreiben (Brief Nr. 101, S. 246–248). Ebd., Anhang zum Brief Nr. 108 (vor dem 11. November 1729), S. 263–265; zu den Adeligen, S. 265. Mit dem Poetikkolleg will Gottsched, wie er betont, eine alte, aber lange unterbrochene Lehrtradition wieder aufnehmen; auch streicht er gegenüber dem Landesherrn seine Verdienste um die ›Deutsche Gesellschaft‹ heraus (ebd.).

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Schwerpunkte des Gottschedschen Unterrichts lagen auch später unverändert bei der Rhetorik, der Poetik und der eine Vielzahl von Einzeldisziplinen umfassenden Philosophie, die er seit 1734 als Professor der Logik und der Metaphysik mit einem zugleich die Stoffgebiete der höheren Fakultäten bisweilen tangierenden Erkenntnisanspruch als Universalfach vertrat. Für die Professuren hatte sich Gottsched zusätzlich mit einem Einladungsprogramm und einer Antrittsrede, beide in lateinischer Sprache, zu qualifizieren. Sie bilden einen Schwerpunkt der folgenden, Gottsched als Mitglied der universitären Latinitas gewidmeten Darlegungen.22 Die Ausführliche Redekunst, die nicht nur Studenten, sondern auch in der Gelehrsamkeit weiter Fortgeschrittenen Hinweise zu oratorischen Auftritten vermittelte, riet unter anderem, die Antrittsreden dem Lob der einschlägigen Universitätsdisziplin zu widmen.23 Gottsched entsprach der Gattungstopik sowohl im Hinblick auf die Poetik als auch auf die Metaphysik.

2.1. Dichtkunst in Programm und Unterricht Eine breite Stoffbasis für den Poetikunterricht lieferte Gottsched seine Critische Dichtkunst, mit der er den von ihm beklagten Mangel eines geeigneten Kompendiums zu beseitigen trachtete. Schon früh entsprach er dem offenbar von studentischer Seite an ihn herangetragenen Wunsch, Lektionen in Dichtkunst anzubieten, für die er Präparationen ausarbeitete und aus denen dann – historisch im einzelnen nicht rekonstruierbar – das im Herbst 1729 gedruckte Lehrbuch hervorging.24 Dieses lag, wie erwähnt, vor, als er sich mit dem Einladungsprogramm zur Inauguralrede und mit letzterer dem akademischen Publikum empfahl. In der auf den 28. Januar 1730 datierten Programmschrift25 preist er im Anschluss an Cicero,26 doch im Rückgang zu den griechischen Urvätern der Poesie (Orpheus, Linus und Musäus als Schüler Orpheus’) die Kultivierungsleistung der Dichtung. Aus der Poesie lässt er die Weltweisheit hervorgehen;27 mit dem Altersbeweis begründet er die Dignität der Dichtkunst als eines akademischen Fachs. Die Exempelreihe der Dichterphilosophen enthält eine Vielzahl prominenter griechischer Autoritäten, unter anderen Homer als Universalgelehrten, Herodot, Thales von Milet, Solon, Lykurg, Sokrates, Pythagoras, Empedokles, sowie unter den Römern Lukrez. Die antiken Autoren als Beispielfiguren bilden hier die Glieder einer Beweiskette. Diesem Vorgehen, sich auf historische 22

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Die Beschränkung auf Poetik und Philosophie, die ihrerseits hier summarisch ausfällt, ist auch dadurch gerechtfertigt, dass Gottscheds Verhältnis zur Rhetorik in diesem Band von Dietmar Till behandelt wird. Gottsched: Ausführliche Redekunst (Besonderer Teil), II. §, in: ders.: Ausgewählte Werke, Bd. VII/2 (s. Anm. 6), S. 255. Zum Entstehen seiner Poetik äußerte sich Gottsched in: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Praktischer Teil), Fortgesetzte Nachricht, in: ders.: Ausgewählte Werke, Bd. V/2 (s. Anm. 13), S. 30f. Johann Christoph Gottsched: Musas philosophiae quondam obstetrices sistit et ad audiendam d. III. febr. a. M.DCCXXX. […] orationem inauguralem qua professionem poeseos extr. in academia Lipsiensi auspicabitur humanissime invitat. (28. Januar 1730). Leipzig. Vgl. Cicero: De inventione, I, 2. Gottsched: Musas philosophiae (s. Anm. 25), Bl. Br, Hauptthese: »Utrumvis horum tibi elegeris, pari exinde evidentia fluit, non sine Poeseos ope vel Musarum sine adminiculo, Philosophiam humano generi primitus traditam esse.«

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Testimonien zu berufen, wird die Forschung kaum gerecht, wenn sie Gottsched, oft in Verbindung mit Christian Wolff, einseitig auf ahistorisch angelegte Formen der Beweisführung festlegt und sich über sein ungestörtes Verhältnis zur Geschichte ausschweigt. Damit setzt sie sich über das Gottschedsche Credo hinweg, dass der Umgang mit historischen Argumenten einen in der wahren Erkenntnis gefestigten Gelehrten voraussetze und daher dem Anfänger, der die demonstrative Methode noch nicht beherrsche, nicht zu empfehlen sei. Dem Unerfahrenen drohe der Absturz in den historischen Relativismus und in die Skepsis.28 Für die historische Argumentation ist daher die Gattung der Programmschrift, die sich in erster Linie an die Universitätselite, allen voran Gottscheds Amtskollegen, wendet, das geeignete akademische Medium. Außer auf die Historie als fundamentale Argumentationshilfe setzt Gottsched im Einladungsprogramm auf die Nachbarschaft der Dichtkunst zur praktischen Philosophie. Damit nimmt er den Grundgedanken der Antrittsrede vorweg. Erst am Schluss der Kleinschrift demonstriert er in der Nachfolge Wolffs – als Referenzen werden dessen Psychologie und die Deutsche Ethik erwähnt – die unauflösbare Verbindung von Poesie und Philosophie aus der Doppelrolle des Philosophen.29 Als Philosophiehistoriker setzt dieser das iudicium (Urteil) und die memoria (Gedächtnis), als Erfinder neuer Wahrheiten (inventor novarum veritatum) das Ähnlichkeiten in den Dingen entdeckende ingenium (Witz) ein, das ihn auch zum Dichter mache; als solcher gelange er entweder durch Syllogismen oder durch Zufall zu Entdeckungen.30 Neuere Philosophen wie Hugo Grotius, Gottfried Wilhelm Leibniz, Albrecht von Haller und andere, hätten, wie Gottsched bemerkt, das Rüstzeug zu Dichtern gehabt, wären sie nicht lieber Bannerträger des philosophischen Fortschritts geworden.31 Die Philosophie untermauerte für Gottsched mit der Lehre des ingenium die aus den antiken Beispielen historisch abgeleitete Identität von dichterischer und philosophisch-innovativer Tätigkeit. Topisch-rhetorische Argumentation und demonstrierte (philosophische) Wahrheit stehen in Gottscheds Einladungsprogramm in einem Komplementärverhältnis zueinander und unterstützen einander in ihrer Überzeugungskraft. Die Moderne im Sinn der Querelle des Anciens et des Modernes, an der sich Gottsched beteiligte,32 hat der Antike 28

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Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Theoretischer Teil), 170. §. In: ders.: Ausgewählte Werke. Hg. von Phillip M. Mitchell. Bd. V/1. Berlin, New York 1983, S. 207 (über die Historie, ihre Unterteilung und die Glaubwürdigkeit der Geschichtsschreiber), 202. §, S. 219f. (Testimonienlehre); Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Anhang). Vorwort zu: Kurzer Abriß einer philosophischen Historie, in: ders.: Ausgewählte Werke, Bd. V/3 (s. Anm. 10), S. 243–245, hier S. 244: historische Argumentationsweise ist erfahrenen Gelehrten vorbehalten. In einem weiteren Programm beschäftigte sich Gottsched mit einem historischen Thema, der Geschichte des Leipziger Bakkalaureats: Johann Christoph Gottsched: Ad solennem baccalaureorum philosophiae et l.l.a.a. promotionem d. XX. dec. A. MDCCXXXVIII h.l.q.c. instituendam invitat paucaque de dignitate baccalaureatus Lipsiensis ex antiquitate academica praefatur. (14. Dezember 1738). Leipzig. Gottsched: Musas philosophiae (s. Anm. 25), Bl. B3v/B4r. Ebd., Bl. B4r: »Inventio enim novarum veritatum, in mathesi aeque, ac reliquis scientiis, per Syllogismum fieri saepissime immo semper fere solet; iis tantum casibus exceptis, ubi fortuito in ignota hactenus incidere solent inventores.« Ebd. Über Gottscheds Verhältnis zur Querelle handelt Eric Achermann in diesem Band. Thomas Pago: Gottsched und die Rezeption der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland. Untersuchungen zur Bedeutung des Vorzugsstreits für die Dichtungstheorie der Aufklärung. Frankfurt a. M., Bern 1989 kommt denn auch zum Schluss, dass Gottsched unmöglich einer der beiden Parteien zugeordnet werden könne (S. 273). Ähnlich Kurt Sier: Gottsched und die Antike. In: Gottsched-Tag. Wissenschaftliche Veranstaltung zum 300. Ge-

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die Kunst des Demonstrierens, die mathematische Genauigkeit sowie die Erkenntnisgewissheit garantierende Methode voraus. Zugleich sind im Einladungsprogramm die praecepta der antiken Rhetorik und die Musterautoren des Altertums in der alten Frische präsent. Die Autorität der als gleichbleibend angenommenen Natur der Vernunft33 bringt die Topik und die demonstrative Methode als Instrumentarien ein- und derselben Wahrheitserkenntnis zusammen. Die am 3. Februar 1730 gehaltene Antrittsrede34 setzt die Akzente zum Teil anders als die Programmschrift. ›Philosophie‹ ist mit ›praktischer Philosophie‹ identisch,35 der tugendhafte Weise wird von allen Kontemplation betreibenden Gelehrten abgegrenzt36 und die Dichtung im Anschluss an die aristotelische Poetik, wie in der Critischen Dichtkunst, als Nachahmung definiert.37 Die Aufzählung von heidnischen Dichterphilosophen im Programm wird in der Rede durch eine Auflistung biblischer Dichterautoritäten, die Nennung späterer christlicher Dichter (Prudentius) und den überschwänglichen Lobpreis der wohlklingenden hebräischen Poesie ergänzt. Gottscheds Versöhnung der Dichtung mit der christlichen Tradition ist vielleicht ein Nachhall auf frühere, unter anderem zunächst von Jakob Thomasius, dann von Johann Burkhard Mencke und weiteren Autoren verantwortete Kontroversen über heidnische Dichtung sowie das Präludium einer späteren, thematisch ähnlich gelagerten Auseinandersetzung.38 Gott-

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burtstag von Johann Christoph Gottsched. Hg. von Kurt Nowak und Ludwig Stockinger. Stuttgart, Leipzig 2002, S. 89–110, hier S. 102. Vgl. dazu Sier: Gottsched und die Antike (s. Anm. 32), S. 103. Johann Christoph Gottsched: Oratio academica inauguralis sistens poetas philosophos reipublicae generique humano utilissimos qua professionem poeseos extraord. in academia Lipsiensi […] d. III. febr. MDCCXXX. auspicatus est (3. Februar 1730). Leipzig. Die im Variantenapparat zur Ausführlichen Redekunst (Ausgewählte Werke, Bd. VII/3 [s. Anm. 4], S. 94–110) erneut abgedruckte Fassung dieser Rede ist unvollständig; es fehlen z.B. das Petroniuszitat am Anfang, S. 2, und der Zitatanhang (Isaac Casaubonus, aus der Vorrede seiner Ausgabe der Satiren des Persius, und Leibniz, S. 31f.). Daher wird im Folgenden nach der separat erschienenen Erstausgabe zitiert. Ebd., S. 6, im Anschluss an Cicero: Tusculanae disputationes, 5, 5: »Vitae dux, virtutis indagatrix expultrixque vitiorum, inventrix legum, magistra denique morum & disciplinae.« Ebd., S. 7: »Haec autem, quum non ex inani otiosaque subtilissimarum quaestiuncularum resolutione pendeant, sed ex actionibus potius hominum liberis, ad virtutis normam compositis, derivanda sunt […].« Die Prävalenz der praktischen Philosophie in der Critischen Dichtkunst unterstreicht Gunter E. Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung. Tübingen 1983, insbesondere S. 654. Übereinstimmend mit der Critischen Dichtkunst, vgl. dazu Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland (s. Anm. 36), S. 638–641, und passim. Die Beschäftigung mit der aristotelischen Poetik begleitete Gottscheds Poetikunterricht von dessen Anfängen bis in die späteren Jahre. Vgl. dazu eine Programmschrift, die der kontroversen Auslegung eines Abschnitts im siebten Kapitel der Poetik (1450b) gewidmet ist und in der Gottsched aus seiner um 1730 angefertigten ungedruckten Übersetzung zitiert: Johann Christoph Gottsched: Ad audiendas benevole orationes tres […] invitat simulque locum ex poetica Aristotelis cap. VII. circa finem a doctorum virorum obiectionibus vindicat (13. September 1750). Leipzig. Zur Bedeutung der aristotelischen Poetik für Gottsched siehe auch dessen Nachricht (in: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit [Praktischer Teil], in: Gottsched: Ausgewählte Werke, Bd. V/2 [s. Anm. 13], S. 30 und 36). Zu Gottsched und Aristoteles auch Sier (Gottsched und die Antike [s. Anm. 32]), der die Programmschrift von 1750 als »charakteristisches und etwas abgelegenes« Zeugnis immerhin erwähnt (S. 104, Anm. 46). Vgl. Jakob Thomasius (Präses), Christoph Schrader (Respondent): Disputatio rhetorica de styli ethnicismo circa jurandi adverbia fugiendo (4. November 1665). Leipzig. Zu Johann Burkhard Mencke vgl. Reimar Lindauer-Huber: Rezeption und Interpretation des Horaz an der Universität Leipzig 1670–1730 zwischen Philolo-

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scheds Inauguralrede harmonisierte die beiden Traditionsstränge auch im Blick auf Martin Luther als herausragenden Poeten des Kirchenlieds sowie auf muttersprachliche Barockautoren, in erster Linie Martin Opitz.39 Der schlesische Dichterfürst erscheint als Autorität nationalpatriotischer Poesie. An seinem Beispiel werden der moralpädagogische Nutzen der Dichtung und deren Rolle als einheitsstiftende Kraft im Staat veranschaulicht.40 Die Poesie, geeignet, moralische Wahrheit angenehm wirksam vorzutragen,41 legt Gottsched auf ihre enkomiastische Funktion fest, welche ex negativo die Lasterkritik der Satire einschließt. In der Vereinnahmung der Poesie durch den Vaterlandsgedanken stimmt Gottsched mit Simon Dach überein, den er als deutschen resp. deutschsprachigen Dichterphilosophen lobt, doch ohne die Antrittsrede des Königsbergers zu erwähnen, der er in der Widerlegung der Plato unterstellten generellen Dichterkritik folgt.42 Weder das Programm noch die Antrittsrede stellen einen reinen Abklatsch der Critischen Dichtkunst dar, von der sie allerdings im Grundsätzlichen auch nicht abweichen. Freilich stimmen sie – Konzession an das akademische Publikum – mit ihr dort nicht überein, wo sie in der Poesie ein didaktisch hilfreiches Mittel erkennt, mittelmäßige Köpfe aufzuklären.43 Die beiden lateinischsprachigen Schriften legen Wert darauf, das Ansehen der Poesie durch die stärker betonte Nähe zur (praktischen) Philosophie zu heben und den Verdacht einer Subalternstellung der Dichtung im Kanon der philosophischen Disziplinen gar nicht aufkommen zu lassen. Andererseits stellt die Critische Dichtkunst die Lehr- und Lernbarkeit der Poesie in den

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gie, Philosophie und Poetik. In: Die Universität Leipzig (s. Anm. 3), S. 379–407. Zur späteren Auseinandersetzung um die heidnische Poesie in den Schriften (1746 und 1748) Johann Daniel Müllers, der Gottsched scharf kritisiert, Joachim Dyck: Athen und Jerusalem. Die Tradition der argumentativen Verknüpfung von Bibel und Poesie im 17. und 18. Jahrhundert. München 1977, S. 9 sowie S. 134f., Anm. 6. Hier (S. 9) auch der Hinweis auf die von Dyck nicht gefundene Leipziger Dissertation von Heinrich Justus Rümcker (Präses) und Georg Friedrich Neumann (Respondent): Disquisitio poetico-moralis de mythologiae deorum gentilium abusu in poesi christiana (6. April 1709). Leipzig. (Hanspeter Marti: Philosophische Dissertationen deutscher Universitäten 1660–1750. Eine Auswahlbibliographie unter Mitarbeit von Karin Marti. München, New York 1982, S. 409, Nr. 6886). Gottsched: Oratio academica (s. Anm. 34), S. 25 (Luther: »Quis enim nescit, eum, quem doctrinae & cultus divini instauratorem veneramur, poeseos vernaculae quoque instauratorem egisse?«); S. 14 (Opitz als Dichterphilosoph); S. 26 (Simon Dach, Johann Rist und Johann Gerhard). Die Interpretation von Opitz’ Lobgedicht auf den polnischen König Wladislaw IV. war 1739 im Rahmen der gestifteten Lectio Prutenica sogar Gegenstand von Gottscheds poetisch-literaturkritischem Unterricht (Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit [Praktischer Teil], Fortgesetzte Nachricht, in: ders.: Ausgewählte Werke, Bd. V/2 [s. Anm. 13], S. 52) und sogar außerakademisch ein großer Erfolg, wie dies den rhetorisch-apologetischen Repräsentationsabsichten Gottscheds entsprochen haben dürfte. Gottsched: Oratio academica (s. Anm. 34), S. 14, langes Lob auf Opitz, den Dichterphilosophen. Ebd., S. 23. Ebd., S. 27f. (Plato). Zu Simon Dachs Einladungsprogramm von 1639 Hanspeter Marti und Lothar Mundt: Zwei akademische Schriften von Simon Dach aus den Jahren 1639 und 1640 – Analyse und Dokumentation. In: Simon Dach (1605–1659). Werk und Nachwirken. Hg. von Axel E. Walter. Tübingen 2008, S. 67-114, hier S. 69–71, S. 88–97 (lateinischer Originaltext und deutsche Übersetzung). Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Des I. Abschnitts VIII. Hauptstück. Von dogmatischen Gedichten. Leipzig 1751. ND Darmstadt 1962, S. 577. Ausführlich zur Aufgabe der Poesie, philosophische Wahrheiten zu popularisieren, Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland (s. Anm. 36), S. 652–654.

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Vordergrund.44 Sie verschafft der Dichtkunst wie der Ausbildung des vernunftadäquaten Geschmacks, vor allem aber der Lektüre und Kritik muttersprachlicher Dichtungen im Unterrichtscurriculum der Leipziger philosophischen Fakultät die früher nicht gekannte, herausragende Position. Über den Ablauf von Gottscheds Lehrveranstaltungen fließen die Quellen spärlich. In einem Ausnahmefall, der deutschsprachigen Ankündigung der Vorlesung zur Theorie der schönen Künste Charles Batteux’ (1713–1780),45 bekommt man immerhin eine klare Vorstellung von Gottscheds Unterrichtsprogramm. Mit Batteux’ Les beaux-arts réduits à un même principe (1. Aufl. 1746) hielt die allgemeine Kunsttheorie Einzug im Lehrplan der Leipziger Universität.46 Die aus dem aristotelischen Nachahmungsprinzip deduzierte Ästhetik des Franzosen kam sowohl Gottscheds Bestreben, Kunsttheorie als rational fundierte Disziplin zu betreiben, als auch der Absicht entgegen, die Künste insgesamt als Gegenstand in den akademischen Unterricht aufzunehmen und mit ihnen, einmal mehr, die philosophische Fakultät als ganze aufzuwerten.47 Im angekündigten Kolleg wollte Gottsched die einzelnen Kapitel des Batteux’schen Werks durchgehen und erklären, dessen Inhalt auszugsweise wiedergeben, die von Batteux der französischen Literatur entnommenen Beispiele durch deutsche ersetzen, am besprochenen Werk Kritik üben, Ergänzungen anbringen und durch die Präsentation von Büchern aus seiner Bibliothek in die Litterärgeschichte der schönen Künste einführen. Die Ästhetik umfasst für Gottsched Kunsttheorie (in der Nachfolge Batteux’) und Kunstkritik; in ihrem Appell an die Ausbildung der Kompetenz der natürlichen Vernunft spiegelt sich das Geschmackskonzept des aufklärerischen Rationalismus.

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Ebd., Das II. Hauptstück. Von dem Charactere eines Poeten, S. 104; Das III. Hauptstück. Vom guten Geschmack eines Poeten, S. 127 (Geschmacksbildung als Lernziel). Zum Geschmack Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland (s. Anm. 36), S. 667. Johann Christoph Gottsched: Vorrede zum Auszug aus des Herrn Batteux Schönen Künsten und Einladungsschrift zu Gottscheds Vorlesungen darüber (1754). In: Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. Hg. von Phillip M. Mitchell. Bd. X/2. Kleinere Schriften. Berlin, New York 1980, S. 391–405. Über Gellerts Vorlesungen zu Batteux vgl. Markus Huttner: Geschichte als akademische Disziplin. Historische Studien und historisches Studium an der Universität Leipzig vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Aus dem Nachlass hg. von Ulrich von Hehl. Leipzig 2007, S. 360 Anm. 167, ebd., S. 362 Anm. 178, über Gottsched, doch ohne Hinweis auf dessen bücherkundliches Engagement im Poetikunterricht. Zur Legitimation der Theorie der schönen Wissenschaften und zu Batteux-Gellert bereits Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. München 1989, S. 85–87. Ferner Klaus Scherpe: Gattungspoetik im 18. Jahrhundert. Historische Entwicklung von Gottsched bis Herder. Stuttgart 1968, S. 64–67. Gottsched: Vorrede zum Auszug aus des Herrn Batteux Schönen Künsten, in: ders. Ausgewählte Werke, Bd. X/2 (s. Anm. 45). Immer noch hebt Gottsched die Bedeutung der aristotelischen Poetik in seinem Unterricht hervor: »Sobald ich 1730 zum Professor der Dichtkunst allhier ernennet worden, habe ich meine ersten öffentlichen Vorlesungen über den aristotelischen Tractat gehalten, und obigen Grundsatz sowohl von der Poesie, als vom Malen, Tanzen und der Musik einzuschärfen gesuchet: Wie noch viele Gelehrte wissen, die damals meine Zuhörer waren.« (S. 391). Von der zur Kunstwissenschaft gehörigen Architektur und weiteren schönen Künsten wird allerdings nicht gesprochen, was relativierend anzumerken ist.

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2.2. Philosophie Wenn die Leipziger philosophische Fakultät im zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts die typischen Merkmale einer Institution aufklärerischer Gelehrsamkeit zeigt, verdankt sie diesen Ruf in erster Linie Gottscheds Wirken als Professor der Logik und der Metaphysik, das sich de facto aber, wie angedeutet, auf den ganzen philosophischen Fächerkanon erstreckte. Diese Ausdehnung fachlicher Zuständigkeit, die auf der Basis Wolffschen Methodenbewusstseins und dennoch im Zeichen der Eklektik erfolgte,48 verschaffte Gottsched an der Universität pädagogisches Ansehen, das er mit dem Lob des Philosophiestudiums als zwingender Voraussetzung für erfolgreiche höhere Studien immer wieder zu festigen und zu verbessern suchte.49 Noch 1733, also vor der Antrittsrede zur zweiten Professur vom 18. Februar 1734, erschien in erster Auflage der theoretische Teil der Ersten Gründe der Weltweisheit, auf den im nächsten Jahr der zweite, den Disziplinen der praktischen Philosophie gewidmete, folgte. Wie Gottsched selber verwendete sein Freund Johann Christian Schindel (1677–1750), Lehrer am Gymnasium im schlesischen Brieg,50 der den Leipziger Professor um die Abfassung eines geeigneten Philosophiekompendiums gebeten hatte, bereits die Druckbögen des im Erscheinen begriffenen Werks sukzessive in seinem Unterricht.51 Das Lehrbuch sollte, im Vergleich mit Wolffs Kompendien, den Stoff in kürzerer, auf ein Jahrespensum reduzierter Form darbieten, sich auch für des Lateins unkundige Leser eignen und die Inhalte für die Studenten, im Gegensatz zu Thümmig, leicht nachvollziehbar wiedergeben.52 Es wurde sogar von Studenten im Selbststudium verwendet.53 Als Mittel professoraler Qualifikation erschien dieses Lehrmittel für seinen Autor im richtigen Zeitpunkt und entsprach auch in dieser Hinsicht dem Grundsatz der Zweckrationalität.

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Ders.: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Theoretischer Theil) (1733), Anhang, Widmung und Vorwort , in: ders.: Ausgewählte Werke, Bd. V/3 (s. Anm. 10), S. 203: »[…] daß es nicht unmöglich sey, wieder in eine sectirische Philosophie zu verfallen, daraus uns doch die grösten Männer mit so vieler Mühe zu reissen beflissen gewesen.« Ebd., S. 198, stellvertretend für zahlreiche weitere Stellen; zum Philosophieunterricht, der im Dienst der Erkenntnisgewissheit schaffenden Aufklärung steht: »Die Weltweisheit allein räumet jungen Menschen den Kopf auf, lehrt den Verstand brauchen, befreyet sie vom Aberglauben und blindem Beyfalle gegen die Aussprüche ihrer Lehrer, und zeiget ihnen, daß die Wissenschaft, nicht in einem auswendig gelernten Wesen, sondern in einer Einsicht in gründlich erwiesene Wahrheiten bestehe.« Kurzbiographie in Johann Christoph Gottsched: Briefwechsel unter Einschluß des Briefwechsels von Luise Adelgunde Victorie Gottsched. Bd. 2. 1731–1733. Hg. und bearb. von Detlef Döring, Rüdiger Otto und Michael Schlott unter Mitarbeit von Franziska Menzel. Berlin, New York 2008, S. 624. Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Theoretischer Theil), in: ders.: Ausgewählte Werke, Bd. V/3 (s. Anm. 10), Anhang, S. 200. Ders.: Briefwechsel. Bd. 2, u. a. Briefe Schindels an Gottsched vom 21. April 1732 (Nr. 90), S. 205, 12. Juni 1732 (Nr. 104), S. 241, 6. September 1732 (Nr. 123), S. 286, 28. Oktober 1732 (Nr. 140), S. 321, 1. Juni 1733 (Nr. 195), S. 443f., und vom 24. Juni 1733 (Nr. 202), S. 459. Ders.: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Anhang), in: ders.: Ausgewählte Werke, Bd. V/3 (s. Anm. 10), S. 197 (Wolff ist zu ausführlich), S. 198–200 (Jahrespensum; Thümmig), S. 207f. (deutsche Sprache). Ders.: Briefwechsel. Bd. 2 (s. Anm. 50), Brief Johann Christian Schindels an Gottsched vom 1. Juni 1733 (Nr. 195), S. 444 (Selbststudium; Lob auf das in deutscher Sprache verfasste Lehrbuch).

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In einer auf den 14. Februar 1734 datierten Programmschrift lud Gottsched zu seiner zweiten Antrittsrede ein.54 Bei diesem Einladungsprogramm handelt es sich um ein bemerkenswertes, bis jetzt von der Forschung übersehenes philosophiegeschichtliches Zeugnis der Locke- und Leibnizrezeption, in dem der sein Amt antretende Professor seine hermeneutische und erkenntniskritische Kompetenz der akademischen Öffentlichkeit unter Beweis stellen wollte. In einer philologischen Parforce-Anstrengung, mit der er Leibniz’ Kritik an Lockes Versuch über den menschlichen Verstand Punkt für Punkt durchgeht und die Leibnizsche Kritik vom Lockeschen Vorwurf der Dunkelheit befreit, setzt sich Gottsched nicht nur für das Ansehen des vom Engländer angegriffenen deutschen Philosophen ein. Er wendet sich grundsätzlich gegen das Vorurteil der Nation, indem er für seine Beurteilung der Lockeschen Philosophie moralische Integrität beansprucht, diese aber Locke abspricht, der dem praeiudicium nationis verfallen sei.55 Die patriotisch motivierte Ehrenrettung des Deutschen gipfelt in einem allgemeinen Plädoyer für die durch Übersetzungen erleichterte Rezeption philosophischer Werke, der er insbesondere das Œuvre des Freiherrn Ehrenfried Walter von Tschirnhaus (1651–1708) zuführen möchte.56 Als Adressaten der Tschirnhaus-Übertragung und anderer Übersetzungen bezeichnet er ausdrücklich Adelige und andere in der lateinischen Sprache zu wenig sattelfeste Personen.57 Aber Gottsched ist auch aufgeschlossen für die von Heinrich Engelhard Poley (1686–1762), Professor am Gymnasium illustre in Weißenfels und seit 1733 Mitglied der ›Deutschen Gesellschaft‹ in Leipzig,58 vorgelegte Übersetzung der Lockeschen Vernunftlehre ins Deutsche und damit erneut für den mit dem Transfer durch Translation ermöglichten kritischen Gedankenaustausch in der Muttersprache.59 Die sprachpolitische Ambivalenz dieses Plädoyers zeigt sich im lateinischsprachigen Gewand, in dem es hier, nolens volens vielleicht, auftritt.60 In der Antrittsrede vom 18. Februar feierte Gottsched die Metaphysik als Königin der philosophischen Disziplinen mit dem die Apologie der natürlichen Vernunft auf die Spitze trei-

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Ders.: Iniquitatem exterorum in ferendo de eruditis nostratibus iudicio illustrium virorum Io. Lockii et Wilh. Molynaei exemplis confirmatam sistit et ad audiendam orationem qua clementissime demandatam sibi in academia Lipsiensi logicae et metaphysicae prof. ord. d. XVIII. febr. hor. IX. mat. MDCCXXXIIII […] auspicabitur humanissime invitat. (14. Februar 1734). Leipzig. Ebd., Bl. B3v.; Bl. C2r/v: »Aequiores profecto sumus vicinorum nostrorum iudices, nec ex invidia, quidquid egregii praestitum videmus ab ipsis, minuere umquam moris apud nos fuit.« Ebd., Bl. C3r. Ebd.: »[…] immo iis quoque legatur, vel Nobilibus, vel alius conditionis hominibus scientiarum cupidis, quibus latina non satis sunt ad palatum; ut cum voluptate quadam libros ita conscriptos legere queant.« Biographie in Gottsched: Briefwechsel. Bd. 2 (s. Anm. 50), S. 618f. Gottsched: Iniquitatem (s. Anm. 54), Bl. C2v: Gottsched bezeichnet sich als Anreger der Lockeübersetzung Poleys (»nostro potissimum suasu & hortatu«). Auf die noch weitgehend unerforschte Rezeption der Werke John Lockes in der frühneuzeitlichen deutschen Schulphilosophie gehe ich an anderer Stelle ein. An dieser und den anderen Programmschriften Gottscheds können die Bedeutung und die vielfältigen Gebrauchsfunktionen der bis heute generell zu wenig beachteten und bibliographisch schlecht erschlossenen akademischen Kleinschriftengattung exemplarisch dargestellt werden, was hier in strenger Auswahl versucht wird.

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benden Epitheton der unantastbaren Heiligkeit der Philosophie.61 Deren Zuständigkeitsbereich weitete er im Sinn Wolffs von der Ontologie auf die Gottes- und Geisterlehre aus; den Fortschritt der philosophischen Wissenschaft pries er im Blick auch auf die dem Experiment zugewandte Physik und die auf das Naturrecht gegründete Moralphilosophie.62 Eine Abwertung erfahren die den verba zugewandten Disziplinen, insbesondere das puritas-Ideal der Latinität, sowie das dem Skeptizismus förderliche Wahrscheinlichkeitsdenken, mit dem sich die akademische disputatio zufriedengebe.63 Metaphysischer Demonstration obliegt die Aufgabe des Gottesbeweises, den weder die Geschichte – und das ist eine Pointe philosophischer Apologie – noch die Offenbarung erbringen könnten.64 Wiederum wird Leibniz, nicht weniger entschieden als im Programm, doch diesmal gegen Pierre Bayle,65 verteidigt und der Metaphysik die Rolle eines Instruments des natürlichen elenchus zugedacht. Dieser greift ohne Bedenken auf heidnische Autoritäten, so auch auf Lukrez,66 zurück und will den Meinungsstreit mit den Atheisten auf dem Feld der Vernunftargumentation austragen und gewinnen.67 Gottsched kann aber, trotz seines methodischen Rigorismus, dem Spannungsfeld von rhetorisch-persuasivem und philosophischem Diskurs, in dem sich auch diese Schulrede in besonders hohem Maß bewegt, nicht entrinnen. Der Status der Metaphysik als eines anti-atheistischen Kampfmittels und damit als praxisbezogener Disziplin versöhnt die gewöhnlich auf Kontemplation ausgerichtete theoretisch-philosophische Disziplin mit der von Gottsched sonst bevorzugten Moralphilosophie und mit der Moraldidaxe. Das Verhältnis der Metaphysik zur (kontemplativen) Theologie wird in der Antrittsrede nicht berührt. Der praktische Teil des Philosophielehrbuchs versucht dann zwar die Grenze zur offenbarungsbestimmten Moraltheologie zu respektieren, was aber nur durch eine Ausdehnung der säkularen Ethik und durch die Einführung provokanter Moralbegriffe wie dem der philosophischen Frömmigkeit gelingt:68 Die rationalistische Naturtheologie Gottscheds nimmt alle Menschen, unabhängig von Religionszugehörigkeit und Bekenntnis, in die Pflicht. Konflikte mit Theologen, die im Glauben an die biblische Offenbarung die conditio sine qua non moralischen Handelns erblickten, lagen auch hier in der Luft.

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Johann Christoph Gottsched: Oratio pro utilitate et necessitate metaphysicae in contemtores eius, quum publicum eam logicamque docendi munus in academia Lipsiensi auspicaretur. (18. Februar 1734). Leipzig, S. 7 (Königin der Wissenschaften, nützlich und notwendig); S. 17 (»sacrosancta Metaphysica«). Ebd., S. 9 (metaphysische Teildisziplinen, darunter die Pneumatologie »[…] a nemine Veterum systematice proposita«); S. 10 (Fortschritte in vielen Bereichen der Philosophie; Experimentalphysik). Ebd., S. 8 (Vernachlässigung der puritas), S. 12 (gegen Probabilitätsdenken: »Valeant omnes Dialectici, disputatores probabiles, Metaphysici parum profundi!«). Ebd., S. 17 (Untauglichkeit der Geschichte und der Offenbarungstheologie im Kampf gegen den Atheismus). Ebd., S. 15 (Leibniz’ Theodizee gegen Bayle): »Leibnitium scilicet sibi defensorem elegerat iustitia bonitasque divina!«. Ebd., S. 8, S. 15, S. 21 (Lukrezzitate). Ebd., S. 14. Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Praktischer Teil), Der dritte Abschnitt, Von der philosophischen Frömmigkeit, im 1. Hauptstück: Von der Erkenntniß, Liebe und Furcht Gottes, 676. §, in: ders.: Ausgewählte Werke, Bd. V/2 (s. Anm. 13), S. 423, (zur dreistufigen Ordnung der Tugenden: natürliche Tugend, philosophische Frömmigkeit, christliche Tugend).

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2.3. Die Lektionsankündigungen von 1737 In der einzigen Programmschrift, die sich in erster Linie an die Studenten wendet und Gottscheds sämtliche Lehrveranstaltungen im Wintersemester 1737/38 ankündigt, liefert der Leipziger Professor ein praktisches Beispiel für die in der Inauguralrede propagierte Atheismuskritik.69 Er grenzt die Leibniz-Wolffsche Philosophie scharf vom Spinozismus ab, der ihr von ihren Gegnern immer wieder vorgeworfen wurde,70 und verteidigt sich als Wolffanhänger gegen die Unterstellungen der anti-wolffianischen Polemik. Bei Gottsched übernimmt die Gattung des akademischen Programms die Funktion einer anti-atheistischen Kampfschrift anstelle der Dissertationen, die sonst von den Wortführern der Atheismuskritik für denselben Zweck eingesetzt werden. Gottscheds Lektionsankündigung versteht sich als wissenschaftliches Plädoyer für die mathematisch-demonstrative Methode, die nach Auffassung des Verfassers von Leibniz und Wolff im Anschluss an Descartes verfeinert und vervollkommnet wurde.71 Spinoza werden Missbrauch und trügerische Anwendung der mathematischen Lehrart vorgeworfen,72 deren Gebrauch in Theologie sowie in Geschichte ausgeschlossen, die Wahrscheinlichkeitsargumente verworfen.73 In seiner Ausrichtung auf die Leibniz-Wolffsche Philosophie deckt sich der Inhalt dieses Programms mit dem der Inauguralschriften, nur dass hier statt Pierre Bayle der Erzatheist Spinoza als Gegner ins Visier genommen wird und dessen Ethik in einer ganzen Serie von Programmschriften das Vergleichsobjekt darstellt.74 So sucht Gottsched die seinen Vorbildern und dem eigenen Standpunkt drohende Häretisierung abzuwenden. Der letzte Teil der Programmschrift, der hier vor allem interessiert,75 bietet in ungewöhnlicher Vollständigkeit die Palette der angekündigten Semesterlektionen und ist im Blick auf Gottscheds Lehrtätigkeit eine einmalige Informationsquelle. Dem Philosophiekurs, der den allgemeinen Grundsätzen des Fachs gewidmet und für Studienanfänger bestimmt ist, legt er sein Kompendium zugrunde. Dem Unterricht sollten sogar Studenten folgen können, welche diese Lehrveranstaltung nicht regelmäßig besuchen. Zum anderen bietet Gottsched ein Collegium oratorium auf der Grundlage der Ausführlichen Redekunst an, deren allgemeinen Teil er im Unterricht erklärt, während er den besonderen den Studenten zum Selbststudium überlässt. Im Vordergrund steht für ihn die Redelehre der antiken Autoren, neben denen die Franzosen René Rapin, Bernard Lamy, François 69

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Johann Christoph Gottsched: Generosissimos atque nobilissimos commilitones ad praelectiones suas hiemales A. MDCCXXXVII. humanissime invitat simulque foedam Spinozismi maculam a recentiori philosophia aliquot programmatibus amovendam indicit. (19. Oktober 1737). Leipzig. Rüdiger Otto: Studien zur Spinozarezeption in Deutschland im 18. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1994, S. 136-148 (Spinozismus als Schlagwort im Streit um Christian Wolff). Gottsched: Praelectiones (s. Anm. 69), Bl. A3v, § VI (Descartes, der mit den Kinderkrankheiten der mathematischen Methode zu kämpfen hatte: »[…] cave ne vitio methodi factum esse credas! Rei potius novitati id adscribere memento.«); Bl. B2r, § XIII. Ebd., Bl. A4r, § VIII (Spinoza als unglücklicher Nachahmer Descartes’); Bl. B2v, § XIV (nur äußerliche, scheinbare Anwendung der mathematischen Methode durch Spinoza). Ebd., Bl. Bv, § XII (Geschichte, Theologie), ebd., § XI. Von insgesamt sieben anti-spinozistischen Programmschriften Gottscheds sind inzwischen sechs aufgefunden worden. Kay Zenker (Münster) danke ich, dass er mir die fünf hier nicht behandelten zur Einsichtnahme überließ. Eine Edition würde sich lohnen. Gottsched: Praelectiones (s. Anm. 69), Bl. B3r–B4v, §§ 16–19.

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Fénelon und Blaise Guisbert sowie von den Deutschen Philipp Melanchthon und als einschlägiges Sachgebiet auch die Homiletik einbezogen werden. Hinzu kommt eine Übung im Abfassen von Briefen, die sich auf die Briefsteller von Johann Georg Neukirch (um 1669–1735) und Christian Juncker (1668–1714) abstützt und bei der Gottsched aus didaktischen Gründen eine kleine Teilnehmerzahl wünscht. Die weiteren Kurse schließen unmittelbar an die des vorangegangenen Semesters an. Es handelt sich um Lektionen über die Physik, die Pneumatik, das Naturrecht, die Moralphilosophie und die Politik, nach dem eigenen Lehrbuch erteilt, genauer um je eine wöchentlich über die theoretischen Disziplinen und eine über die der praktischen Philosophie. Schließlich werden poetische Übungen, Disputationen und Deklamationen angezeigt, die für begabte fortgeschrittene Studenten bestimmt sind. Die Vielzahl der von Gottsched vertretenen Disziplinen spiegelt dessen pädagogischen Einfluss in der Leipziger philosophischen Fakultät wider, den die Theologen im Erscheinungsjahr des Programms durch eine Anklage zu untergraben versuchten. Am 25. September 1737 musste sich der Leipziger Professor wegen einiger Stellen der Ausführlichen Redekunst, die Anstoß erregten, vor dem Dresdner Oberkonsistorium verantworten und versprechen, in einer Programmschrift für die den Theologen angeblich zugefügten Beleidigungen Abbitte zu leisten.76 Die auf den 19. Oktober 1737, also rund drei Wochen nach dem Dresdner Auftritt datierte Lektionsankündigung lässt aber, wie dem Wortlaut der Anzeige des Homiletikunterrichts zu entnehmen ist, die vom Konsistorium geforderte Reumütigkeit Gottscheds vermissen, der in der öffentlich-akademischen Verlautbarung weniger als gehorsamer Diener der Obrigkeit, denn als gewiefter Taktiker und selbstbewusster Verfechter der inkriminierten Überzeugungen erscheint.77 Inwieweit Gottsched den mündlichen Diskurs der Lehrveranstaltung für ungezwungenen Unterricht und freie Meinungsäußerung nutzte, bleibt der historischen Retrospektive leider verschlossen. Immerhin wurden in Gottscheds Schülerkreis von der Konstellationsforschung neulich Radikalisierungstendenzen ausgemacht.78 Einzelne Vorlesungsverzeichnisse zeigen, dass sich Gottsched im Unterricht keineswegs auf den Beizug der selbst verfassten Lehrbücher beschränkte: 1739 las er zum Beispiel über Melanchthons Erotemata dialectica, im Jahr darauf über Pierre-Daniel Huets De imbecillitate mentis humanae, 1741 über den Tractatus quod nihil scitur des frühneuzeitlichen Skeptikers Franciscus 76

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Zu den Vorgängen im Einzelnen Detlef Döring: Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz’ und die Leipziger Aufklärung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Stuttgart, Leipzig 1999, S. 55–82; S. 141–152: Quellenanhang: Protokoll über das Verhör Gottscheds vor dem Oberkonsistorium am 25. September 1737. Gottsched: Praelectiones (s. Anm. 69), Bl. B4r, § XVII, mit dem folgenden, auf den Unterricht in der Predigtlehre nicht verzichtenden, der Forschung bislang verborgen gebliebenen und daher ausführlich zitierten Abschnitt: »Inter alia sacrarum quoque orationum, pro concione haberi solitarum, praecepta brevia tradidi: non quod sufficere eadem futuro oratori sacro, crediderim, inutilemque eidem fore uberiorem eloquentiae ecclesiasticae institutionem existimaverim; sed ut abusus Homileticae vulgaris praemonstrarem ipsis, hodegumque quasi agerem, ad eos oratoriae sacrae magistros sibi eligendos, qui saniorem homiliarum conficiendarum methodum, a magnis Theologis observatam, tradere solent.« Martin Mulsow: Freigeister im Gottsched-Kreis. Wolffianismus, studentische Aktivitäten und Religionskritik in Leipzig 1740–1745. Göttingen 2007. Einige der hier vorgestellten akademischen Auftritte Gottscheds legen nahe, dass das Spannungsfeld von Anpassung und Widerstand bzw. von Theologie und Philosophie, in dem er sich bewegte, radikale, sprich offenbarungskritische Reaktionen von Studenten durchaus begünstigen konnte. Zur Methode: Konstellationsforschung. Hg. von Martin Mulsow und Marcelo Stamm. Frankfurt a. M. 2005.

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Sanchez (1551–1623), Professor der Philosophie in Toulouse, 1742 über Ciceros De fato und 1743 über die Dialektik des Petrus Ramus.79 Konfessionelle Kriterien spielten bei der Stoffauswahl offensichtlich keine Rolle. Über die Art, wie Gottsched die ausgewählten Werke im Unterricht behandelte, war ebenfalls nichts in Erfahrung zu bringen.

3. Institutionelle und bildungspolitische Dimensionen des Unterrichts Ähnlich wie Christian Thomasius verabschiedete Gottsched das kontemplative Wissenschaftsideal, selbst im Metaphysikunterricht, propagierte den praktischen Nutzen der universitären Ausbildung und zog die deutsche Sprache als Mittel wissenschaftlicher Kommunikation heran. Als Dichter, Redner und Zeitschriftenherausgeber suchte er den Kontakt auch zu einem bildungswilligen außerakademischen Publikum. Unterrichtsprogramm und -praxis waren auf die Ausbildung der rationalen Kompetenz der Studenten, auf deren moralische Besserung sowie auf eine Amelioration gesellschaftlichen Zusammenlebens im Hinblick auf die irdische Glückseligkeit ausgerichtet. Im Rahmen dieser von den Idealen der (Zweck-)Rationalität und der Tugendhaftigkeit geprägten Utopie bildungspolitischen Fortschritts kam der Universität als Bildungsanstalt für die staatlichen Eliten zentrale Bedeutung zu: Im praktischen Teil der Ersten Gründe, der die Schulen als integralen Teil eines umfassenden Erziehungskonzepts behandelt, setzte sich Gottsched mit der Rolle der Universität im Staat sowie mit den Aufgaben und dem Ansehen der Universitätslehrer auseinander. Die Universität hatte als Staatsanstalt dem gemeinen Nutzen zu dienen, auch wenn ihr weiterhin ein rechtlicher Sonderstatus, z.B. Autonomie in der Aburteilung studentischer Vergehen, zugebilligt wurde.80 In Gottscheds Staatslehre wird Bildungspolitik Unterrichtsstoff. Qualifikation und Leistung stellen für ihn sowohl die Auswahlkriterien bei der Berufung von Professoren als auch den Maßstab in der Beurteilung der Studenten dar. Bei letzteren werden zwar die sonst dezidiert vertretenen meritokratischen Normen durch ständische Rücksichten eingeschränkt, begabten Studenten aus ärmlichen Verhältnissen aber Stipendien und Freitische zugesprochen.81 Die Lehrer der oberen Fakultäten sollten niemanden zu den höheren Studien zulassen, »der nicht mit guten Zeugnissen von den Lehrern der Weltweisheit und der freien Künste versehen wäre.«82 Dem Staat wird die Aufgabe übertragen, die Qualität der Ausbildung zu sichern, das Ansehen des Lehrerberufs zu fördern 79 80

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Friedrich Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Mit besonderer Rücksicht auf den klassischen Unterricht. Leipzig 1885, S. 366. Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Praktischer Teil), Der praktischen Weisheit vierter Theil. Die Staatslehre. Der zweyte Abschnitt. Von der Herrschkunst. II. Hauptstück. Von der Sorgfalt der Regenten für ihrer Bürger Verstand und Erkenntniß, 765. §, in: ders.: Ausgewählte Werke, Bd. V/2 (s. Anm. 13), S. 474. Ebd., 758. §, S. 471 (nur Begabte und Vornehme bereits in der Lateinschule); 760. §, S. 471f. (qualifizierte, tugendhafte Lehrer); 761. §, S. 472 (meritokratisches Urteilsprinzip; gegen Familienuniversität und ausschließliche Rekrutierung von Landeskindern); 764. §, S. 474 (nur für die begabten unter den aus armen Familien stammenden Studenten gibt es Stipendien und Freitische). Ebd., 762. §, S. 473.

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und an den Universitäten für ausgeglichenere Besoldungen zu sorgen.83 Schon in den ersten Schuljahren liegt für Gottsched der pädagogische Akzent auf der Ausbildung intellektueller und vor allem moralischer Kompetenzen, bei der Bekämpfung von Vorurteilen sowie beim Erlernen von Latein und Französisch.84 Da Gottsched das gesamte Staatswesen als Anstalt moralischer Erziehung versteht, setzt er sich für die Förderung der Volksbildung außerhalb des etablierten Schulbetriebs ein und plädiert für die Schaffung hiefür geeigneter Einrichtungen, im wissenschaftlichen Bereich für die Gründung gelehrter Gesellschaften, insbesondere von Akademien.85 Akademischer Unterricht und Einsatz für gelehrte Gesellschaften gingen bei Gottsched ohnehin Hand in Hand. In seine Kompendien fanden Beispieltexte Eingang, die in gelehrten Vereinigungen vorgetragen, ausdiskutiert und verbessert wurden. Inhalte des Philosophielehrbuchs waren vor dessen Einführung im Unterricht Gegenstand von Erörterungen der ›Societas disquirentium‹, während nur fortgeschrittene Studenten an den Versammlungen der Rednergesellschaften zugelassen waren.86 Als Gottsched 1727 Senior der ›Deutschen Gesellschaft‹ wurde, zählte diese 22 Mitglieder, sieben Adelige, sieben Magister und acht Studierende bürgerlicher Herkunft.87 Von der engen Liaison zwischen Universität und Rednergesellschaft als komplementären Institutionen des Erwerbs rhetorischer Kompetenz zeugt u. a. die von Gottsched als Musterbeispiel in die Ausführliche Redekunst aufgenommene, von ihm selber gehaltene Rede anlässlich der Aufnahme eines Magisters in eine gelehrte Sozietät.88 Letztere übernahm die Aufgabe einer moralisch-patriotischen Privatinstitution, die sich in den Dienst der erwähnten Bildungsutopie stellte und mit mathematischer Präzision Beweisgänge erarbeitete.

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Ebd., 758. §, S. 470 (Bedeutung der Schulen im Staat, Rolle der Obrigkeit); 759. §, S. 471 (Ansehen der Lehrer, angemessene, der geforderten Leistung entsprechende Löhne); 761. §, S. 472 (keine großen Besoldungsunterschiede). Ebd., Das II. Hauptstück. Von der Kinderzucht, 724. §, S. 452 (»Auch fremde Sprachen, sonderlich die französische, und etwas von der lateinischen […]«); 726. §, S. 453 (Vorurteilskritik). Ebd., Das II. Hauptstück. Von der Sorgfalt der Regenten für ihrer Bürger Verstand und Erkenntniß, 766. §, 767. §, S. 474f. Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Praktischer Teil), Fortgesetzte Nachricht von des Verfassers eignen Schriften, in: ders: Ausgewählte Werke, Bd. V/2 (s. Anm. 13), S. 43 (›Societas disquirentium‹). Ders.: Ausführliche Redekunst (Besondrer Theil). Das VI. Hauptstück. Von den Reden der Studirenden auf Schulen und Universitäten, IX. §, in: ders.: Ausgewählte Werke, Bd. VII/2 (s. Anm. 6), S. 267f. (Musterreden; ›Nachmittägliche Rednergesellschaft‹, seit 1728; wegen großem Zulauf 1735 vormittägliche gegründet). Ders.: Ausführliche Redekunst, Vorrede der Ausgabe von 1739, in: ders.: Ausgewählte Werke, Bd. VII/3 (s. Anm. 4), Anhang 2, S. 9 (Voraussetzung der Aufnahme: Besuch der Vorlesung über die Theorie der Rede). Zu Gottscheds Mitgliedschaft und Aktivitäten in gelehrten Gesellschaften Detlef Döring: Die Leipziger gelehrten Sozietäten in der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts und das Auftreten Johann Christoph Gottscheds. In: Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt. Bd. 5. Aufklärung in Europa. Hg. von Erich Donnert. Köln 1999, S. 17–42 (S. 40f. über das ›Collegium Conferentium‹, das mit der bei Gottsched ›Collegium disquirentium‹ genannten Gesellschaft identisch ist). Über die Mitgliedschaft von Adeligen in der Deutschen Gesellschaft vgl. Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland (s. Anm. 36), S. 678f. Ders.: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Praktischer Theil), Vorwort zur Ausgabe der Ersten Gründe von 1756, in: ders.: Ausgewählte Werke, Bd. V/3 (s. Anm. 10), Anhang, S. 263. Johann Christoph Gottsched: Bewillkommnungsrede eines neuen Mitgliedes in der vertrauten Rednergesellschaft. In: ders.: Ausgewählte Werke. Bd. IX/2. Gesammelte Reden. Bearb. von. Rosemary Scholl. Berlin, New York 1976, S.501–508.

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Im idealen Redner trafen für Gottsched wahre Erkenntnis und moralisches Verhalten, Tugendhaftigkeit, zusammen.

4. Die Disputation als Instrument akademischer Bildung Innerhalb der philosophischen Propädeutik waren die Disputationen im Vergleich mit anderen akademischen Übungen und vor allem mit den Vorlesungen für Gottsched von sekundärer Bedeutung. Aus seiner professoralen Unterrichtstätigkeit gingen nur zwei von Respondenten unter seinem Vorsitz verteidigte, gedruckte Dissertationen hervor. Die erste entstand gut zwei Jahre nach dem Antritt der außerordentlichen Poetikprofessur,89 die zweite drei Jahre nach der Übernahme des Logik- und Metaphysikordinariats.90 Gottscheds Verhältnis zur disputatio war gespalten: Einerseits stellte er an die Disputierenden hohe ethische und intellektuelle Anforderungen, da jene sich der demonstratio als Beweisform zu bedienen hatten,91 andererseits war für ihn die disputatio als Gefäß der inferioren Wahrscheinlichkeitserkenntnis92 und zudem als Bastion der Latinität traditionell vorbelastet und unaufgeschlossen für die von ihm propagierte wissenschaftliche Kommunikation in der Muttersprache. Entsprechend kurz fallen in den Ersten Gründen der Weltweisheit die an Wolffs Logik anknüpfenden Darlegungen zur Disputationskunst aus. Die herkömmliche Verteilung der Rollen des Respondenten und des Opponenten wird übernommen, der Präses hat den Respondenten zu unterstützen, nicht als überparteilicher Schiedsrichter im Meinungsstreit aufzutreten, sowie die disputatio zu leiten, auch korrigierend einzugreifen.93 An einem Mustertext, der aus langen Diskussionen in der ›Societas disquirentium‹ hervorging, wird das Verfahren der disputatio an der abschlägig beantworteten Frage vorgeführt, ob es mehrere unendliche Wesen geben könne. Im ersten Teil des Gesprächs, in dem der Opponent die Beweiskraft der Metaphysik anzweifelt, wird nach der sokratischen FrageAntwort-Methode vorgegangen, dann aber, um die erwünschte Gewissheit wirklich zu erlangen, werden die Aussagen mit Hilfe der Syllogistik überprüft.94 Das Modellgespräch erfüllt die Funk89 90 91

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Johann Christoph Gottsched (Präses), Gottfried Bürgel (Respondent): Dissertatio philosophica de regni, ex quo literae exulant, infelicitate (14. Mai 1732). Leipzig. Ders. (Präses), Johann Daniel Heyde (Respondent): Voluntatis ab intellectu dependentiam […] defendent (10. April 1737). Leipzig. Ders.: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Praktischer Teil), Vierter Theil. Die Staatslehre, 762. §. In: ders.: Ausgewählte Werke, Bd. V/2 (s. Anm. 13), S. 473 (Disputierübungen für Studenten, die auf Gründlichkeit Wert legen). Ders.: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Theoretischer Teil), Die Vernunftlehre. Erster Theil. VI. Hauptstück. Von den Beweisen und ihren mancherley Arten, 118. §, in: ders.: Ausgewählte Werke, Bd. V/1 (s. Anm. 28), S. 171 (Gelehrte geben sich mit der Wahrscheinlichkeit nicht zufrieden); 121. §, S. 172 (zweifelsfreie Beweisführung durch die Methode der Demonstration). Ebd.: Zweyter Theil. V. Hauptstück. Vom Nutzen der Vernunftlehre im Erklären, Ueberführen, Widerlegen und Disputieren, 201. §, S. 219 (trotzdem nicht völlige Verurteilung des wahrscheinlichen Vernunftschlusses). Ebd., V. Hauptstück. Vom Nutzen der Vernunftlehre, 204. bis 208. §, S. 220–222 (Respondent, Opponent); 209. §, S. 222 (Präses). Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Praktischer Teil) (Anhang), I. Abhandlung. oder [sic] philosophisches Gespräch, über die Frage: Ob mehr als ein unendliches Wesen seyn könne?, in: ders.: Ausgewählte Werke, Bd. V/2 (s. Anm. 13), S. 518–536 (inklusive Vorbericht über das Entstehen des Texts). Zum Syllogismus als

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tion eines monotheistischen Gottesbeweises und, wie die Antrittsrede, einer Apologie der Metaphysik. In den letzten beiden Auflagen des Philosophielehrbuchs (1756 und 1762) setzte Gottsched dann aber in einem weiteren Mustertext nur noch die dialoglose Demonstration ein, um den Geltungsanspruch der Leibnizschen Philosophie über die beste aller möglichen Welten methodisch stringent nachzuweisen.95 Hier verwandelte sich die schon in den früheren Editionen aus einem freilich keineswegs offenen Gespräch bestehende Disputation in ein (scheinbar!) unumstößliches Abstrakt des propagierten metaphysischen Systems. Die vollkommene Disputation oder das Resultat des optimalen Disputs ist in Gottscheds Sicht der nach den Regeln der Wolffschen Vernunftlehre logisch perfekt strukturierte Text, in dem alle Einwände vorweggenommen und widerlegt werden. Dies kommt im Ergebnis einer Selbstaufhebung der mündlichen disputatio gleich. In einer Art Anhang enthält die Abhandlung über die beste aller möglichen Welten doch noch eine ganze Reihe heidnischer Autoritätszeugnisse, welche ihrerseits dartun, dass die natürliche Vernunft ohne Offenbarungswissen zur wahren kosmologischen Einsicht gelangte. Die antiken Autoren übernehmen für Gottsched neben den neueren eine den rationalen consensus omnium bekräftigende Nachweisfunktion.96 Das Musterbeispiel erfüllt im Anhang des Philosophiekompendiums die Aufgabe, die Leibnizsche Philosophie über die beste aller möglichen Welten als verbindliche Lehre an den Hohen Schulen zu verankern und zu verbreiten. Doch nach dem Erscheinen der letzten beiden Ausgaben hatten Gottscheds Erste Gründe den Zenit ihrer Wirkung endgültig überschritten. Mit seinem Abschied von der Präsesdissertation zählt Gottsched zu den Förderern der Autorenrolle der Respondenten, die aber nicht den Anspruch selbständigen Denkens einzulösen, sondern nur den im Unterricht und im Philosophiekompendium vermittelten Stoff, vermehrt um Referenzen auf passende Autoritäten, wiederzugeben hatten. Aus den Widmungsteilen der Dissertationen geht hervor, dass die Respondentenarbeiten die Funktion von Nachweisen selbständiger Leistungen hatten. Der Schweidnitzer Gottfried Bürgel (*1708) befürwortet ganz im Sinn seines Lehrers den Nutzen des Philosophiestudiums, das den höheren Fakultätsstudien vorauszugehen habe, sowie die dem Weisen unentbehrliche philosophische Gelehrsamkeit und deren Bedeutung für ein glückliches, tugendhaftes Leben.97 Wie in den Ersten Gründen wird auf

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formalem Erfordernis vergleiche ders.: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Theoretischer Teil), Vernunftlehre, VI. Hauptstück. Von den Beweisen und ihren mancherley Arten, 123. § in: ders.: Ausgewählte Werke, Bd. V/1 (s. Anm. 28), S. 173 (gegen Christian Thomasius’ Syllogismuskritik); ebd.: Vernunftlehre. Zweyter Theil. II. Hauptstück. Von dem Nutzen der Vernunftlehre in dem guten Vortrage der erfundenen Wahrheiten, 148. §, S. 183; ebd.: V. Hauptstück. Vom Nutzen der Vernunftlehre im Erklären, Ueberführen, Widerlegen und Disputieren, 207. und 208. §, S. 221. Ders.: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Praktischer Teil) (Anhang), II. Abhandlung. Beweis, daß diese Welt unter allen die beste sey, in: ders.: Ausgewählte Werke, Bd. V/2 (s. Anm. 13), S. 536–560. Auch dieses Exempel demonstrativer Argumentation ist das Verhandlungsergebnis der in den Dreißigerjahren des 18. Jahrhunderts aktiven ›Societas disquirentium‹. Die Abhandlung wurde aber erst rund 20 Jahre danach als Lehrstück in das Philosophiekompendium aufgenommen. Ebd., 20. bis 23. §, S. 554–560 (Leibniz erfand die Lehre von der besten aller Welten nicht, er brachte sie nur wieder ans Licht, hier, 23. §, S. 559). Auf die Konsequenz derartiger Aussagen für das Verhältnis Gottscheds zur Querelle des Anciens et des Modernes und auf die Bedeutung des Zeugnischarakters der Historie in seinen Lehrbüchern kann hier nicht weiter eingegangen werden. Gottsched, Bürgel: Dissertatio philosophica de regni (s. Anm. 89), Widmung Gottscheds (unpag.); § 3, S. 2 (»Sapiens vero sine Literis, si quid hic recte sentio, non-ens est.«); § 8, S. 5f. (solida eruditio, Gemüts-

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die wichtige Rolle der Schulen in Staat und Gesellschaft sowie auf die notwendige Förderung des Ansehens der Lehrer hingewiesen.98 Obwohl der Präses dem Respondenten in einer Zuschrift das Studium der Wolffschen Philosophie bescheinigt,99 ist Bürgel in seinem von Ciceround Seneca-Zitaten durchsetzten Bildungsprogramm ganz der humanistischen Tradition verpflichtet.100 Der pädagogische Akzent liegt allerdings nicht auf der Philologie, sondern auf der Lernbarkeit der Tugend und der Tugendlehre, deren Kanon die (philosophische) Frömmigkeit, die Gerechtigkeit und die Ehrbarkeit umfasst.101 Dem Erlernen der mathematischdemonstrativen Methode wird kein Gewicht beigemessen, umso mehr der Litterärgeschichte als Reservoir gelehrter Kenntnisse Beachtung geschenkt.102 Im Spiegel des GottschedBriefwechsels zeigt sich das Verhältnis Bürgels zu seinem Lehrer und dessen Bedeutung als Mentor noch aus einem anderen, hier nicht weiter verfolgten, wichtigen Blickwinkel. Insbesondere an seinen Beziehungen zu schlesischen Gelehrten und Honoratioren lässt sich Gottscheds Rolle als Bildungsmäzen, als persönlicher Förderer von Studenten außerhalb des Hörsaals und des Unterrichts, veranschaulichen. Gottsched adressierte seine präsidiale Widmung an den Schweidnitzer Pfarrer, Kirchen- und Schulinspektor Gottfried Balthasar Scharff (1676–1744), den, zusammen mit zwei anderen Schlesiern, auch Bürgel mit seiner Dedikation ehrte.103 In einem Brief vom 18. Juli 1732, also rund zwei Monate nach der Verteidigung der Dissertation, bat Scharff Gottsched, den begabten Bürgel in seinen weiteren Studien zu unterstützen.104 Brief und Widmungszuschriften werfen ein Schlaglicht auf das Netz persönlicher Beziehungen, die dem Studenten den Weg durch die Universität und darüber hinaus ebneten. Gottfried Bürgel trat bereits im Jahr, in dem er seine Dissertation unter Gottscheds Vorsitz verteidigte, als Verfasser einer Dichtkunst105 sowie als Übersetzer, später als bedeutender, bis jetzt aber unbekannter Mitarbeiter am Zedlerschen Universallexikon hervor, für das er eine Vielzahl juristischer Artikel verfasste.106 Er gehörte zu den im Allgemeinen wenig bekannten Gelehrten des 18. Jahrhun-

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ruhe, Tugend); § 16–18, S. 10–12 (Philosophie und studia humanitatis als Voraussetzung für die Studien an allen drei höheren Fakultäten). Ebd., §§ 24–26, S. 16–19; §§ 29, 30, S. 21–23, § 36, S. 28. Ebd., Widmung Gottscheds (unpag.), über Wolff mit Hinweis auf dessen schlesische Herkunft. Wichtigste römische Autoritäten, Cicero (De officiis) und Seneca (insbesondere 90. Luciliusbrief; ebd. § 32, S. 24f., Anm. ** ). Ebd., § 8, S. 5f. (Philosophie als praktische Weisheitslehre, »vitae magistra, & actionum nostrarum prudentissima gubernatrix«); § 11, S. 7 (Tugend als Habitus: »Non enim nobiscum nascitur; sed assiduo demum usu acquiritur.«); § 10, S. 7 (Tugendkanon: pium, justum, honestum). Ebd., § 35, S. 27f. (Plutarch, Thomas Stanley, Gottlieb Stolle, Gerhard Johann Vossius). Ebd., unpaginierte Widmungen. Kurzbiographie über Scharff: Gottsched: Briefwechsel. Bd. 2 (s. Anm. 50), S. 622f. – Bei den beiden anderen Widmungsadressaten handelt es sich um den schlesischen Adeligen Konrad von der Heyde und um den Juristen Ernst Sigismund Schober. Bereits auf dem Titelblatt erscheint Bürgel auch als Student der Jurisprudenz. Gottsched: Briefwechsel. Bd. 2 (s. Anm. 50), Nr. 112, S. 265–267, Brief vom 18. Juli 1732, hier S. 266. In einem anderen Brief (Nr. 114, 23. Juli 1732, S. 269f.) empfiehlt auch Johann Christian Schindel einen Studenten Gottscheds Obhut und am 29. September 1732 (Nr. 131, S. 301f.) wiederum Gottfried Balthasar Scharff. Gottfried Bürgel: Die ersten Anfangs-Gründe der Dicht-Kunst. Leipzig 1732. Nicht von ungefähr widmet das Zedlersche Lexikon Bürgel einen ausführlichen und heute noch unüberholten biographischen Artikel (Nöthige Supplemente zu dem Großen Vollständigen Universal Lexicon. Bd. 4. Leipzig 1754. ND Graz 1964, Sp. 958–960). Aus ihm geht hervor, dass der Schlesier sämtliche juristischen Artikel der Teile 20–64 des Zedler verfasst habe. Über Bürgel bereite ich eine Publikation vor,

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derts, die sich um die Vermittlung und Distribution von Wissen in deutscher Sprache kümmerten und an dessen Popularisierung maßgeblich Anteil hatten. In die Debatte über die Frage der Superiorität von Wille oder Verstand mischte sich Johann Daniel Heyde (1714–1785), der spätere Konrektor am Gymnasium Gera,107 mit einer unter Gottsched verteidigten Dissertation ein, die auf dem Titelblatt das Bekenntnis des Kirchenvaters Clemens von Alexandria zur Eklektik trägt und die Ablehnung der sektiererischen Philosophie mit dem häufigen Rückgriff auf die Autorität des Leidener Philosophieprofessors Gilbert Jacchaeus (1585–1628) unterstreicht.108 Der Tugendintellektualismus – ohne Verstand kein guter Wille – hat seine Wurzel einerseits in dem die Willensfreiheit begründenden Spannungsverhältnis zwischen oberem und unterem Erkenntnisvermögen, andererseits in der Ideen hervorbringenden schöpferischen Tätigkeit des menschlichen Geistes.109 Mit der Ausbildung des Verstands geht die ethische Vervollkommnung des Menschen einher: Unterricht in der Vernunftlehre ist für Heyde zugleich moralische Propädeutik und ein Mittel, Skeptizismus, abergläubische Furcht und den Glauben an das Wirken des Zufalls respektive der Fortuna zu bekämpfen.110 Heyde folgt in der Superioritätsfrage den Fußstapfen Gottscheds.111 Seine Dissertation bezeugt die Durchschlagskraft der mit Autoritätsargumenten älteren Datums angereicherten aufklärerischen Schulphilosophie Wolffscher Prägung. Die Abgrenzung von Buddes Apologie der Probabilität112 sowie die Anwen-

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die unter anderem einiges Licht auf die bis jetzt weitgehend im Dunkeln liegende Autorschaft der erwähnten Lexikonartikel wirft. Werner Schneiders: Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius. Hildesheim, New York 1971, S. 312, Anm. 15, erwähnt Bürgels kardiognostische Abhandlung, in der die thomasische Affektenlehre mit der Lehre von den Temperamenten verbunden wird. Heyde machte sich später auch als Übersetzer französischer Werke einen Namen, so von Gérard von Bénats Anthologie: Die Redekunst in Beyspielen; oder ausgesuchte Stücke der Beredsamkeit, aus den berühmtesten Rednern, die zu Zeiten Ludwigs des XIV. und XV. gelebet haben. 4 Teile. Leipzig 1767–1769. Knappe biographische Angaben bei Gottsched: Ausgewählte Werke, Bd. X/2 (s. Anm. 45), S. 646. Mit Gottsched hatte Heyde auch brieflich Kontakt, vgl. dazu Wolfram Suchier: Gottscheds Korrespondenten. Alphabetisches Absenderregister zur Gottschedschen Briefsammlung in der Universitätsbibliothek Leipzig. Leipzig 1971, S. 38. Gottsched, Heyde: Voluntatis ab intellectu dependentiam (s. Anm. 90) mit dem Väterzitat: »Philosophia non est Stoica, aut Platonica, aut Epicurea, aut Aristotelica; sed quaecunque ab his sectis recte dicta sunt.« Zum Eklektiker Clemens von Alexandria vgl. Michael Albrecht: Eklektik. Eine Begriffsgeschichte mit Hinweisen auf die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, S. 78–85 und S. 489–493. Gottsched, Heyde: Voluntatis ab intellectu dependentiam (s. Anm. 90), § 11, S. 8 (Konnex von Verstandesbildung und Tugendhaftigkeit mit Referenzen auf Valentin Löscher und Jean Leclerc); § XXI, S. 16 (voluntas als ›adpetitus rationalis‹; Jacchaeus); § XXIX, S. 23 (oberes und unteres Erkenntnisvermögen; ›mens‹ identisch mit ›sana ratio‹); § XXX, S. 24 (Willensfreiheit); § VII, S. 5 (Aktivität des Geistes: »Haec animae nostrae idearum formatrix sive productrix facultas, facultas cognoscens [kursiv im Originaltext; M.] audire solet.« Ebd., § XII, S. 8f. (Ablehnung des Zufalls; Verteidigung des Prinzips vom zureichenden Grund, Lukrez als Gewährsmann im Kampf gegen superstitiöse Furcht). Vergleiche die einschlägigen Ausführungen in Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Theoretischer Teil), vierter Theil. Die Geisterlehre. Das VII. Hauptstück. Von dem Willen und der Freyheit, 975.-996. §, in: ders.: Ausgewählte Werke, Bd. V/1 (s. Anm. 28), S. 546–554. Gottsched, Heyde: Voluntatis ab intellectu dependentiam (s. Anm. 90), § VI, S. 5 (Attacke auf die Buddeusanhänger, »quibus demonstrativa methodus exosa hodie est«).

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dung der demonstrativen Methode bürgen in Heydes Sicht für eine Erkenntnisgewissheit, die sich auf die gleichbleibende Vernunftnatur abstützt. In beiden Dissertationen wird, wie erwähnt, die Methode der Demonstration mit dem topischen Nachweisverfahren des Eklektikers kombiniert113 und dadurch ein kumulativer Persuasionseffekt zu erzeugen versucht, der Geltungsanspruch des Wolffschen Systems durch die Topik also keineswegs in Frage gestellt. Der Autoritätsbeweis war ohnehin als Kampfinstrument gegen methodisch ungeschulte Kontrahenten vorgesehen, da diese nur mit der List des strategisch eingesetzten praeiudicium auctoritatis eines besseren belehrt werden könnten.114 Hier liegt der Grund für den von Gottsched praktizierten Wechsel zwischen demonstrativer und topischer Argumentation. Ein Widerspruch ergibt sich, wenigstens in didaktischer Hinsicht, aus dieser Vereinnahmung des Autoritätsarguments für aufklärerische Zwecke nicht.

5. Gottsched als pädagogische und fachliche Autorität in und außerhalb von Leipzig: Desiderat einer Wirkungsgeschichte Leider fehlen bis heute umfassende Untersuchungen zu Gottscheds Einfluss als Leipziger Universitätslehrer, Auflistungen von Namen auch nur seiner wichtigsten Schüler115 sowie Angaben über die Verwendung seiner mehrfach aufgelegten Lehrbücher an Hohen Schulen im Alten Reich sowie außerhalb des deutschen Sprachgebiets. Einen ersten Eindruck von der Verbreitung Gottschedscher Werke vermitteln die (nicht vollständige) Bibliographie Mitchells116 und die zahlreichen Bibliotheken auch katholischer deutschsprachiger Länder, die Gottschedtitel heute noch besitzen. Außer den wenigen hier erwähnten Gottschedanhängern sind unter den bekannteren z.B. Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709–1789), Johann Joachim Schwabe (1714–1784), Johann Elias Schlegel (1719–1749) und Abraham Gotthelf Kästner (1719–1800) zu nennen. Die Ersten Gründe der Weltweisheit wurden ins Französische, ins Dänische und ins 113

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Die frühaufklärerische Zäsur, mit der die Anwendung der barocken Topik vom Gebrauch der demonstrativen Methode abgelöst werde, unterstreicht mit dem Beispiel Alexander Gottlieb Baumgartens Dietmar Till: Philosophie oder Rhetorik? Christian Wolff, die Poetik der Frühaufklärung und die rhetorische Tradition. In: Wolffiana II. 4. Christian Wolff und die europäische Aufklärung. Akten des 1. Internationalen Christian-Wolff-Kongresses. Teil 4. Sektion 8: Mathematik und Naturwissenschaften. Sektion 9: Ästhetik und Poetik. Hg. von Jürgen Stolzenberg und Oliver-Pierre Rudolph. Hildesheim, Zürich 2008, S. 193–212. So gesehen wäre selbst Gottsched, der trotz seines Wolffianismus Autoritätsbeweise hier und dort reichlich verwendet, eine Figur des Übergangs, das heißt, auch methodisch, ein Eklektiker. In beiden Dissertationen, vor allem bei Bürgel, steht die Topik als Argumentationsverfahren klar im Vordergrund. Gottsched, Heyde: Voluntatis ab intellectu dependentiam (s. Anm. 90), § VI., S. 5, explizit: »Non, quod hic praeiudicio auctoritatis nitamur; sed quod ii, contra quos disputamus, magnorum virorum testimoniis plus ducantur, quam rationum ponderibus.« Über Gottschedschüler, die für Radikalisierungstendenzen offen waren, Mulsow: Freigeister im Gottsched-Kreis (s. Anm. 78). Weitere Hinweise vor allem im Briefwechsel, in den akademischen Kleinschriften sowie in verstreuten autobiographischen Passagen der übrigen Werke Gottscheds. Mitchell: Gottsched-Bibliographie, in: Gottsched: Ausgewählte Werke, Bd. XII (s. Anm. 5). Die Ersten Gründe der Weltweisheit haben sieben, die Ausführliche Redekunst hat fünf, die Critische Dichtkunst vier Auflagen zu verzeichnen. Beliebter noch waren Gottscheds Sprachlehrbücher.

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Polnische übersetzt,117 Gottsched selber berichtet über ihren Gebrauch in Breslau, Danzig, Halle, Helmstedt, Jena, Königsberg, Nürnberg und Weißenfels.118 Von seinem Wirken stark geprägt war, wie mehrfach angedeutet, außer Sachsen als Stammland von Gottscheds Lehrtätigkeit, Schlesien als Bildungslandschaft der Aufklärung, in geringerem Ausmaß Preußen, auf das zum Abschluss am Beispiel der Universität Königsberg wenigstens kursorisch eingegangen wird. Sieht man von einem Eintrag im Lektionsverzeichnis des Sommersemesters 1738 ab, erschien Gottscheds Philosophiekompendium von 1748 bis 1755 in den offiziellen Vorlesungsankündigungen der Königsberger Universität. Außer dem Griechischprofessor Christian Heinrich Gütther (1696–1755),119 der im großen Zeitabstand von 10 Jahren je eine Vorlesung auf der Basis der Ersten Gründe abhielt,120 war es Coelestin Christian Flottwell (1711–1759), Professor der Beredsamkeit und der deutschen Sprache sowie Gründer der ›Deutschen Gesellschaft‹ in Königsberg, der sowohl Philosophie als auch Grammatik recht regelmäßig nach Gottscheds Kompendien unterrichtete.121 Als Extraordinarius der Philosophie legte Jakob Friedrich Werner (1732–1782) seinem philosophiegeschichtlichen Unterricht zwei Semester lang Gottscheds Lehrbuch zugrunde.122 Diese insgesamt vielleicht unerwartet mager erscheinende Bilanz mag davon abhalten, Gottscheds Einfluss auf den Unterricht der Königsberger Albertina zu überschätzen. Andererseits dokumentieren die offiziellen Vorlesungsverzeichnisse nur einen kleinen Teil des Lehrangebots, was die Unterschätzung von Gottscheds Wirkung begünstigen kann. Erst die aufwändige systematische Auswertung der (Königsberger) Programmschriften und Dissertationen würde eine zuverlässigere Einschätzung der wirkungsgeschichtlichen Sachverhalte ermöglichen.123 Davon ist man heute aber, nicht nur im Blick auf die Königsberger Albertina, noch weit entfernt. Deshalb versteht sich der vorliegende Beitrag nicht nur als Plädoyer für die Edition und die weitere Interpretation von Gottscheds lateinischsprachigen Schriften, son117

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Ders.: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit, Vorwort zum Theoretischen Teil der Weltweisheit (1748), in: ders.: Ausgewählte Werke, Bd. V/3 (s. Anm. 10), S. 223. Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Theoretischer Teil), Zusatz wegen der VII. Auflage, in: ders.: Ausgewählte Werke, Bd. V/1 (s. Anm. 28), S. 16 (Übersetzung von 1761 ins Polnische). Ebd., Vorwort zum theoretischen Teil der Weltweisheit (1739), S. 214. Biographie bei Bernhart Jähnig: Königsberger Universitätsprofessoren für Geschichte im Jahrhundert der Aufklärung. In: Die Universität Königsberg in der Frühen Neuzeit. Hg. von Hanspeter Marti und Manfred Komorowski. Köln, Weimar 2008, S. 319–344, hier S. 337f. Vorlesungsverzeichnisse der Universität Königsberg (1720–1804). Mit einer Einleitung und Registern hg. von Michael Oberhausen und Riccardo Pozzo. Teilbd. 1. Stuttgart-Bad Cannstatt 1999, S. 113 (Sommersemester 1738), S. 176 (Wintersemester 1748/1749). Ebd., S. 182 (Wintersemester 1749/1750); S. 188 (Wintersemester 1750/1751); S. 191 (Sommersemester 1751); S. 194 (Wintersemester 1751/1752). Zum Gottschedanhänger Flottwell siehe Gottlieb Krause: Gottsched und Flottwell, die Begründer der Deutschen Gesellschaft in Königsberg. Festschrift zur Erinnerung an das 150jährige Bestehen der Königlichen Deutschen Gesellschaft zu Königsberg in Preußen. Leipzig 1893. – Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft (s. Anm. 46), S. 46f. Vorlesungsverzeichnisse der Universität Königsberg (1720–1804), S. 212 (Wintersemester 1754/1755); S. 215 (Sommersemester 1755). Biographie bei Jähnig: Königsberger Universitätsprofessoren für Geschichte im Jahrhundert der Aufklärung (s. Anm. 119), S. 339–341. Ein gutes Beispiel liefert Robert Seidel: Zwischen rhetorischer Poetik und philosophischer Ästhetik. Johann Georg Bocks Königsberger ›Dissertatio de pulchritudine carminum‹ (1733) im Kontext zeitgenössischer Diskurse. In: Die Universität Königsberg (s. Anm. 119), S. 139–171.

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dern empfiehlt auch, die Aufnahme der Gottschedschen Lehrbücher und deren Nachwirken im Spiegel des gesamten akademischen Schrifttums einzelner (Hoher) Schulen gezielt zu erforschen.

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Gottsched und die zeitgenössische Publizistik

Als Gottsched im Februar 1724 in Leipzig eintraf, kam er in die Hauptstadt des gelehrten Journalismus seiner Zeit. Durch einen glücklichen Zufall gelangte er sogar direkt in das Organisationszentrum des Zeitschriftenwesens, denn dank einer Empfehlung wurde er als Hauslehrer in die Familie Johann Burkhard Menckes aufgenommen.1 Mencke hatte die Aufsicht über die Acta eruditorum, die von seinem Vater Otto Mencke 1682 begründet worden waren, und über die seit 1715 erscheinenden Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen, zwei der wichtigsten Wissenschaftsperiodika mit ganz unterschiedlichem Profil. Er unterhielt einen ausgedehnten Briefwechsel, nach Eingang von Büchern und Zeitschriften koordinierte er das Rezensionswesen. In seinem Umkreis war ein großes Potential fähiger Köpfe versammelt, namhafte Gelehrte ebenso wie der akademische Nachwuchs, der den Journalismus als Erwerbsquelle und als Bewährungsmöglichkeit nutzte. Gottsched konnte aus nächster Nähe ein funktionierendes System, seine Macht und Möglichkeiten beobachten und organisatorische Erfahrungen sammeln. Es dürfte ihm nicht entgangen sein, dass auf dem Zeitschriftenmarkt das Prinzip Konkurrenz herrschte und dass es, um erfolgreich zu sein, einerseits darauf ankam, Publikumserwartungen zu bedienen, andererseits, durch Innovationen Differenzen zu installieren, um der Gefahr der Ununterscheidbarkeit zu entgehen. Gottsched hat sich tatsächlich nicht in den Kreis der von Mencke abhängigen Beschäftigten begeben, sondern mit den Vernünftigen Tadlerinnen etwas eigenes vorgelegt, das die beiden Komponenten vereinte. Als moralische Wochenschrift verkörperten die Tadlerinnen einen Zeitschriftentyp, der sich im deutschsprachigen Raum mit dem hamburgischen Patrioten und den Discoursen der Malern in den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts soeben als erfolgsträchtig erwiesen hatte. Die Fiktion weiblicher Verfasser und die Ausrichtung auf eine weibliche Leserschaft hingegen waren ein Novum. Die Vernünftigen Tadlerinnen zählten zu den ersten Frauenzeitschriften und wurden stilbildend.2 Wenn man will, könnte man in diesem Zusammenhang auch auf Gottscheds erste Leipziger Veröffentlichung, die Verssatire Des Teutschen

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Vgl. Johann Christoph Gottsched: Briefwechsel. Bd. 1. Berlin, New York 2007, Nr. 3 und 6. Im Folgenden zitiert als: Gottsched: Briefwechsel 1–4, S. bzw. Nr. Vgl. Rudolf Stöber: Deutsche Pressegeschichte. Konstanz 2000, S. 272; Ulrike Weckel: Zwischen Häuslichkeit und Öffentlichkeit. Die ersten deutschen Frauenzeitschriften im späten 18. Jahrhundert und ihr Publikum. Tübingen 1998, S. 21f. und 599.

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Persius Satirische Gedancken hinweisen.3 Sie ist kein Periodikum, ist aber insofern dem Themenfeld zuzuordnen, da Gottsched hier in literaturkritischer Perspektive eine spezifische Leipziger Form als Zeitung auftretender gereimter Bagatellen attackierte und mit dieser Attacke ein ›Agenda-Setting‹ vornahm, das ihm zunächst in seinem unmittelbaren Wirkungsfeld gehörige Aufmerksamkeit verschafft hat und in den literaturkritischen Ausführungen der Tadlerinnen 4 Fortsetzung fand. Der Umgang mit Zeitschriften gehörte seit diesen Anfängen zu Gottscheds Alltag. Er hat selbst Zeitschriften geschrieben, Zeitschriftenbeiträge verfasst, viele seiner Korrespondenten waren publizistisch engagiert, zahlreiche Kontakte verdankten sich journalistischen Belangen. Gottscheds konzeptionelle und strategische Nutzung des Mediums Zeitschrift hat Gabriele Ball umfassend beschrieben.5 In den folgenden Ausführungen soll demgegenüber stärker die Interaktion oder die kommunikative Dynamik in verschiedenen Facetten dargestellt werden. Gottsched steht dabei im Mittelpunkt, ist aber nicht nur Leitfigur, sondern Teilnehmer an kommunikativen Prozessen und auch deren Objekt. Nach Vorbemerkungen über Gottsched als Zeitschriftennutzer und über sein Verständnis der Zeitschriften soll diese Interaktion anhand der Korrespondenz dokumentiert werden. Zunächst wird gezeigt, wie Gottsched als Adressat und Vermittler von Aufträgen seiner Korrespondenten in Anspruch genommen wird. Textübernahmen in fremden Zeitschriften und die Versuche, Gottsched als Beiträger zu gewinnen, die daran anschließend beleuchtet werden, sprechen für sein Renommee, an dem andere publizistisch partizipieren wollten. Der Abschnitt über Gottsched als Nutzer fremder Zeitschriften verweist stärker auf den bewusst planenden Akteur. Gottscheds Korrespondenz mit anderen Redakteuren gewährt schließlich Einblick in ein Geflecht, in dem die Interessen der einzelnen Teilhaber eng verwoben sind und kann auch als Ausschnitt eines größeren publizistischen Netzwerkes betrachtet werden, in dem zeitweise Koalitionsbildungen und wechselseitige Instrumentalisierungen wie auch Verwerfungen an der Tagesordnung gewesen sein dürften. Es muss nicht betont werden, dass zwischen diesen jeweils gesondert behandelten einzelnen Funktionen keine klaren Grenzen gezogen werden können. In einem weiteren Teil wird am Beispiel der Göttingischen gelehrten Anzeigen die Interaktion im Rahmen der Rezensionszeitschriften dargestellt.

1. Gottsched als Zeitschriftenleser Für Gottscheds eigene Zeitungs- oder Zeitschriftenlektüre können hier nur einige Indizien aufgeführt werden. Seine Bibliothek enthielt eine ganze Reihe von Zeitschriften. Allerdings dürften daraus kaum Rückschlüsse auf die tatsächlichen Kenntnisse zu gewinnen sein. So sind renommierte Zeitungen mit Gelehrtennachrichten wie der Hamburgische Correspondent, die Freyen 3

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Vgl. Rüdiger Otto: Ein Leipziger Dichterstreit. Die Auseinandersetzung Gottscheds mit Christian Friedrich Henrici. In: Johann Christoph Gottsched in seiner Zeit. Hg. von Manfred Rudersdorf. Berlin, New York 2007, S. 92–154, hier S. 98–100. Ekkehard Gühne: Gottscheds Literaturkritik in den ›Vernünftigen Tadlerinnen‹ (1725/26). Stuttgart 1978. Gabriele Ball: Moralische Küsse. Gottsched als Zeitschriftenherausgeber und literarischer Vermittler. Göttingen 2000; dort ausführlich über die Literatur und den Forschungsstand zum Publizisten Gottsched.

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Urtheile und Nachrichten oder die Göttingischen Zeitungen oder Anzeigen von gelehrten Sachen überhaupt nicht vertreten. Von den Leipziger Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen führt der Katalog die Jahrgänge 1715–1742 auf.6 Gottsched hat in den Neuen Zeitungen regelmäßig publiziert. Aber natürlich nicht in den Jahren vor 1724 und selbstverständlich auch nach 1742. Die in seiner Bibliothek vertretenen Jahrgänge verweisen folglich nicht auf Gottscheds Sammlung eigener Publikationen, sondern gehen vermutlich auf eine Erwerbung aus dem Jahre 1742 zurück. Auch unter den moralischen Wochenschriften sind Titel nicht vertreten, die Gottsched rezensiert und sehr geschätzt hat. Er sandte beispielsweise den Hofmeister und die Hofmeisterin, Wochenschriften eines ihm zunächst unbekannten Autors, 1753 an seinen wichtigsten Wiener Korrespondenten, den Dichter und Beamten Franz Christoph von Scheyb.7 Gottscheds Bibliothekskatalog verzeichnet sie nicht. Das liegt nicht daran, dass die Zeitschriften im Katalog als Kleinschrifttum prinzipiell nur summarisch behandelt oder überhaupt nicht aufgeführt würden.8 Stichproben ergeben vielmehr, dass einzelne Zeitschriftenhefte, die Gottsched zugesandt wurden, eine eigene Katalognummer erhalten haben, auch wenn kein kompletter Jahrgang, geschweige denn ein vollständiges Zeitschriftenexemplar vorlag.9 Selbstaussagen über seine Zeitungslektüre sind rar und nicht unbedingt zuverlässig. So kommt seiner öffentlichen Mitteilung über die Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen, er habe »12 oder 13 Jahre lang [...] kein Blatt davon gelesen«10 sehr wohl eine Funktion in einer Debatte zu, aber ihr Wahrheitsgehalt darf bezweifelt werden. Anhand von eingegangenen Briefen ist deutlich, dass Gottsched zumindest von den ihn betreffenden Göttinger Rezensionen auf dem laufenden gehalten wurde.11 Damit ist einer der wichtigen Informationskanäle angesprochen: Gottsched wurde von außerhalb auf einzelne Zeitschriftennummern, auf Interna und Entwicklungen in den Redaktionsstuben hingewiesen,12 er wurde befragt,13 holte seinerseits Informatio6 7 8 9

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Catalogus bibliothecae, quam Jo. Ch. Gottschedius, [...] collegit atque reliquit. Leipzig [1767], S. 64, Nr. 1409-1436. Vgl. Franz Christoph von Scheyb an Gottsched, Wien 22. Januar 1752 und 20. Februar 1754, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. XVII, Bl. 45–47, 46r und XIX, Bl. 94–95, hier Bl. 94r. Allerdings enthält der Katalog den Sammeleintrag »Ein und zwanzig Stück einzelner Journale«; Catalogus bibliothecae, quam Gottschedius collegit atque reliquit (s. Anm. 6), S. 209, Nr. 266. Die Hamburger Mathias Andreas Alardus und Matthias Arnold Wodarch schickten 1740 bzw. 1741 die ersten Stücke ihrer Hamburgischen Beyträge zur Aufnahme der gelehrten Historie. Mehr als dieser erste Jahrgang der bis 1743 erscheinenden Zeitschrift war in Gottscheds Bibliothek nicht vertreten; Catalogus bibliothecae, quam Gottschedius collegit atque reliquit (s. Anm. 6), S. 54, Nr. 1150. Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 1754, S. 395. Vgl. dazu unten Abschnitt 3. »Von denen neuen Critischen Nachrichten ist H. Mylius so allerley zur Erläuterung der Naturlehre und sonst auch die Rüdigersche Zeitung geschrieben Verfaßer. Ob sie werden beßer werden als die vorigen, (welches ich in beykomm. St. der B[erlinischen] B[ibliothek] S. 806 gewünschet, quod TIBI in aurem dico) und so gutt als versprochen worden, wird die Zeit lehren«. Johann Carl Conrad Oelrichs an Gottsched, 12. Februar 1751, Leipzig, UB, Ms 0341, Bd. XVI, Bl. 81–82, hier Bl. 82r. »H. Lessing, der bisher die Berl. Vossische Zeitung geschrieben, ist seit neu Jahr von hier abgereist; wo er sich wieder niederlaßen werde, wuste er selbst nicht. H. Mylius hat diese Arbeit von neuem übernommen: nachdem seine Berlinische Critische Nachrichten wegen des sehr schlechten abgangs mit dem abgewichenen Jahre aufgehöret.« Oelrichs an Gottsched, 15. Januar 1752, Leipzig, UB, Ms 0341 XVII, Bl. 31f., hier Bl. 32r; »Ich habe das Stück Fr[eye] Urth[eile und Nachrichten] noch nicht gelesen; weil ich sie hier erst zu Vierteljahren bekomme. Aber aus den datis die E. Magn. daraus anzeigeten, schlie-

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nen über Rezensionen ein und setzte seine Korrespondenten über publizistische Belange in Kenntnis.14 Schließlich stand Gottsched in unmittelbarer Nachbarschaft ein respektables Reservoir an Zeitschriften zur Verfügung. Es gehörte zum Programm der Leipziger Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen, über die Inhalte der wichtigen europäischen Gelehrtenzeitschriften zu informieren, die deshalb dauerhaft bezogen wurden.15 Gottsched hielt engen Kontakt zu den Herausgebern und Redakteuren und hatte Zugriff auf die eingegangenen Zeitschriften, auch andere Leipziger Privatbibliotheken standen zu seiner Verfügung.16 Soweit ich sehe, gibt es keine eigenständigen Ausführungen, in denen Gottsched seine Auffassungen über Zeitungen und Zeitschriften zusammenhängend entfaltet. Aus den sporadischen Äußerungen in den Vorbemerkungen und Rezensionen seiner Zeitschriften lassen sich jedoch einige Einsichten gewinnen, sowohl hinsichtlich der mit den eigenen Zeitschriften verbundenen Intentionen als auch über Gottscheds Verständnis der Zeitschriften überhaupt. Die Beyträge zur Critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit stellen sich selbst das Ziel, das im Vergleich zu den westeuropäischen Literaturen weniger entwickelte Deutsche zu befördern. Um die Defizite zu beheben, sollen »Verdienste und Gebrechen« der deutschen Schriftsteller beurteilt, der altfränkische Geschmack ausgerottet und aus der Selbstgenügsamkeit

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ße ich: die anzeige musse vom H. Br[eitkopf] herrühren, denn wer wüßte es sonst, daß künftig andre Verfasser daran arbeiten sollen. Allein dieses beÿ Seite gesetzet, so gefällt es mir doch gar nicht, daß H. Zink so alles ohne Unterschied und offenbar partheÿisch einrücket. Ich habe ihm nun schon vor vier Wochen meine anzeige von Dero Dichtkunst zugesandt, und weil ich die Fr. Urth. erst spät bekomme, so weis ich nicht ob sie etwa drinnen steht. Indessen lese ich gestern mit nicht wenig Erstaunen eine gar anzügliche Recens. davon im Hamb. Corres. von der ich E. Magnif. beÿ aller Ehre versichere, daß sie nicht von mir herkömmt«. Johann Daniel Titius an Gottsched, Wittenberg 4. März 1757, Tartu, UB, Mrg CCCLIVa, Ep. phil. III, Bl. 396–397, hier Bl. 396r–v. Vgl. Gottsched: Briefwechsel 4 (s. Anm. 1), Nr. 7. »In Halle kömmt itzo eine neue Monatschrift heraus, daran einige junge Thorner den größten Antheil haben, die vormals auch in Thorn eine solche Gesellschaft aufgerichtet hatten, als E. H. in Königsberg gestiftet«. Gottsched an Cölestin Christian Flottwell, Leipzig 21. August 1743. In: Gottlieb Krause: Gottsched und Flottwell, die Begründer der Deutschen Gesellschaft in Königsberg. Leipzig 1893, S. 132–136, 136; »Was ich vor ein paar Monathen gemuthmaßet habe, das ist neul. in der That erfolget. Die Hällischen Bemühungen haben den Königsbergischen Jubeldichter [Johann Georg Bock] sehr unbarmherzig herumgenommen. [...] Indessen überschicke ich E. H. wegen der Langsamkeit der Königsbergischen Buchhändler dieses Stück, werde auch nächstens der löbl. Gesellschaft diese ganze Monatschrift zu ihrer Büchersammlung einsenden.« Gottsched an Flottwell, Leipzig 1. Dezember 1744. In: Krause, Gottsched und Flottwell, S. 185–196, hier S. 187. Das erste Register der Neuen Zeitungen von gelehrten Sachsen verzeichnet jährlich die ausgewerteten Zeitschriften. Als Indiz für die Wertschätzung und entsprechende Nutzung der Medien im Gottschedkreis kann auch gelten, dass Johann Joachim Schwabe, einer der Schüler und engsten Vertrauten Gottscheds, ein auf Vollständigkeit angelegtes Zeitschriftenverzeichnis veröffentlicht hat; vgl. Schwabe: Brevis notitia alphabetica ephemeridum literariarum, et aliorum quorundam scriptorum eiusmodi diurnorum. In: Daniel Georg Morhof: Polyhistor. Editio quarta. Lübeck 1747, Bl. [(a) 4r–(f), hier 4v]. Vgl. die für die Zeitungslektüre relevante Mitteilung seiner Gemahlin: »Mein Freund hat selbst einen guten Vorrath der besten Bücher, und alle große Büchersammlungen sind zu seinem Gebrauch offen.« Luise Adelgunde Victorie Gottsched an Charlotta Magaretha von Frensdorff, Leipzig 25. Juli 1735. In: Gottsched: Briefwechsel 3 (s. Anm. 1), S. 385–387, hier S. 386.

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erwachsende Nachlässigkeiten torpediert werden.17 Alles in allem stehen also die Bestandsaufnahme und Wegweisung im Zeichen der Kritik. In den späteren Zeitschriften wird, vermutlich auch infolge eigener leidvoller Erfahrungen, das Pathos der Kritik deutlich entschärft. Gottsched erklärte im Büchersaal, er wolle kein »unbarmherziges Blutgericht« halten, sondern nur gelegentlich eine »bescheidene Anmerkung« anbringen. Die Einsicht in die eigene Fehlbarkeit nötige dazu, »daß man einander liebreich ertrage, und bescheiden zurecht helfe«.18 Kritiker gelten in diesem Zusammenhang als selbsternannte Jäger, die dem Ansehen guter Schriften beim Publikum schaden und davon noch profitieren wollen.19 Die paradiesischen Zeiten der Kritik, in denen »ohne Neid« und »mit Einsicht« die »gute Aufnahme« gelehrter Bücher befördert wurde, seien dem Parteigeist, der Modesucht und der Schmeichelei gewichen.20 Im Neuesten aus der anmuthigen Gelehrsamkeit kündigt er eine »Mittelstraße« zwischen Überschwang und Satire an und verspricht, »niemanden zu beleidigen«, fügt aber hinzu, dass er Schriften, über die man »nichts Gutes zu sagen« wisse, mit »Stillschweigen« übergehen wolle, und ergänzt das noch: »Nur wenn sie offenbar zur Verderbung des Geschmackes abzielen: so werden wir zuweilen davor warnen.«21 Das Warnen besteht dann aber vor allem in der Repetition von Vorwürfen. Zu Anfang der fünfziger Jahre waren die wechselseitigen Vorhaltungen Gottscheds und seiner Gegner standardisiert. Dunkelheit, Solözismen, Galimathias beklagte man in Leipzig, und die Schweizer revanchierten sich mit dem Hinweis auf die Wäßrigkeit und Plattheit Gottscheds und seiner Anhänger. Die kritische und erst recht die literaturkritische Funktion ist aber in Gottscheds Bemerkungen über die Journale nur ein Randphänomen. Im Mittelpunkt seiner sporadischen Äußerungen steht vielmehr die Aufgabe der Bildungsvermittlung. Zeitungen zeigen den Grad des kulturellen Lebens an.22 Durch die Publizität kann eine Universität oder eine Region auf ihre 17 18

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Beyträge Zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Bd. 1. Leipzig 1732, Bl. ):(3v-):(4r. Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste 1 (1745), S. 8f. Man vergleiche damit Gottscheds Vorbemerkung in seiner ersten Leipziger Veröffentlichung, die allerdings als Satire einen anderen Ton erforderte. Gottsched hatte dort für das um Schonung nachsuchende Argument der menschlichen Schwäche nur Spott übrig: »Listige Füchse! Mein Leser hüte dich. Diese Bescheidenheit ist ein Nebel deine Augen zu umwölcken: Ihre scheinbar Demuth ein betrügender Fürnis, wodurch sie die Menge ihrer Schwachheiten auff das künstlichste zu verkleistern suchen.« Er kündigte an, sich weder durch Demutsgesten noch durch praktizierte Gefälligkeiten noch durch angedrohte Revanche von seinem Richteramt als Kritiker abbringen zu lassen, [Johann Christoph Gottsched:] Des Teutschen Persius Satirischer Gedancken Erstes Stück. Leipzig 1724, nicht foliierte Vorrede. Rezension von: Der Schwärmer, oder Herumstreifer, eine Sittenschrift, aus dem Englischen. In: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 1754, S. 783–789; Gottsched bringt in der Inhaltsanzeige durch Fettdruck und Zusatzbemerkungen seine Übereinstimmung zum Ausdruck. Zweifel über das Daseyn eines Publici. In: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 1755, S. 594–602, hier S. 594f. Der Text ist eine Übersetzung eines französischen Aufsatzes aus dem Pariser Mercure, aber er kann »auch ziemliche Deutungen auf unsres deutschen Witzes Beschaffenheit in gegenwärtigen Umständen an die Hand geben.« Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 1751, S. 5f. »Nur aus der Menge gelehrter Zeitungen zu schließen, so hat die Gelehrsamkeit wohl niemals so geblühet, als zu unsern Zeiten. Denn da soviele gel. Zeitungsblätter von Leipz. Hamb. Göttingen, Erlangen, Coburg, Tübingen Käufer und Leser finden: außer dem aber noch in Berliner, Hällischen, Hamburger und andern politischen Zeit. gelehrte Artikel vorkommen: so muß es doch eine erstaunli-

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wissenschaftliche Existenz aufmerksam machen,23 ohne Zeitung ist sie nicht wahrnehmbar. Aus diesem Grund fordert Gottsched, vergeblich, zur Gründung einer Gelehrtenzeitung in Königsberg auf.24 Wenn Gottsched aber eine Pflicht der Gelehrten zur Veröffentlichung von Zeitschriften geltend macht,25 so vor allem wegen der daraus resultierenden Wirkung. Zeitschriften, und hier sind vorrangig, aber nicht nur die Moralischen Wochenschriften26 gemeint, vermitteln moralische Lehren auf gefällige Weise. Sie haben eine Vorbildfunktion für den Sprachgebrauch, tragen zur Unterhaltung und Belehrung bei und liefern Informationen, die in Gesprächen ausgetauscht und kommentiert werden können, und beleben auf diese Weise das Gemeinwesen.27 Gerade in Gegenden ohne Universitäten und ohne Hof kommt den Zeitschriften eine kulturstiftende Bedeutung zu.28 Indem sie thematisch, sprachlich und intellektuell Orientierungsvorgaben leisten und zur Reflexion und Reaktion einladen, tragen die Zeitschriften demnach, so kann man Gottscheds Ausführungen zusammenfassen, zur Konstitution von Öffentlichkeit bei, eine Sicht, die Übereinstimmungen mit der in der wissenschaftlichen Literatur verhandelten Funktionsbestimmung der Medien aufweist.29 Nach Gottscheds Darstellung ist die über die

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che Menge von Lesern geben, die selbige lieben.« Gottsched an Friedrich Heinrich von Seckendorff, Leipzig, 7. März 1753, Altenburg, Thüringisches Staatsarchiv, Seckendorffsches Archiv, Nr. 1113, Bl. 232–233, hier Bl. 232r; vgl. auch Ball: Moralische Küsse (s. Anm. 5), S. 133. »Es ist nicht unbillig, daß in dem großen Deutschlande, eine jede Landschaft ihre eigene Monatschriften habe, darinnen alles, was im Reiche der Wissenschaften merkwürdiges vorgeht, angemerket, und bekannt gemacht wird.« Neuer Büchersaal 10 (1750), S. 474. Gottscheds Anregung ist aus Flottwells Antwort erkennbar: »Ich bin auch in Absicht der unseres Orts einzuführenden gelehrten Zeitungen nicht ungehorsahm oder nachläßig gewesen. Ehestens soll das supplement zu A. 1741. 1742. der Reußn. Avisen aufwarten, welches durchgängig durch meine Feder verfertiget. Ich bitte mir darüber ihr strenges Urtheil aus und dabeÿ nicht zu vergeßen, daß ein Prophet nirgends weniger, denn in seinem Vaterland gelte, d. i. daß frembde, schlechte, theure Zeitungen denen Königsbergern lieber als gute, Preußische wohlfeile Blätter. Und dennoch will ichs auf 1744. wagen, wenn Gott das Leben fristet, und E. h. M. mir Vorschriften gegeben.« Cölestin Christian Flottwell an Gottsched, Königsberg 15. Februar 1743, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. VIII, Bl. 33r; vgl. den Hinweis auf die 1742 als Beyträge und Anmerckungen zu den Königsbergischen Zeitungen von politischen und gelehrten Sachen im Verlag von Johann Friedrich Reusner erschienenen Supplemente bei Botho Rehberg: Geschichte der Königsberger Zeitungen und Zeitschrift. Tl. 1. Königsberg, Berlin 1942, S. 71; der Verfasser ist dort nicht bekannt, die Beyträge waren 1942 in Königsberg noch vorhanden, während schon damals kein Exemplar der Königsbergischen Zeitungen dieser Zeit mehr auffindbar war. Gottsched scheint nach Flottwells Äußerung mit dem Versuch einverstanden gewesen zu sein (Flottwell an Gottsched, 11. Juli 1743, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. VIII, Bl. 165–166), danach verschwindet das Thema aus dem Briefwechsel. Gottsched: Ausgewählte Werke. Bd. V/2. Hg. von Phillip Marshall Mitchell. Berlin, New York 1983, S. 330. Aus Christian Ludwig Liscows Brief an Gottsched vom 28. Januar 1735 geht hervor, dass Gottsched ihn aufgefordert hatte, »einen deutschen Spectator« zur »Verbeßerung des Geschmackes« zu verfassen; vgl. Briefwechsel 3 (s. Anm. 1), S. 300, Z. 19 und 23. Diese Funktion der Wochenschriften stand ihm offenbar stets vor Augen. »[...] die Zeitungen geben oft Gespräche, die nutzbar und unschuldig sind, an die Hand«. Gottsched: Ausgewählte Werke. Bd. V/2 (s. Anm. 25), S. 414. Vgl. zum folgenden die ausführlichen Bemerkungen in der Anzeige der Westphälischen Bemühungen in: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 1753, S. 543–547, vor allem S. 544. Vgl. Jürgen Wilke: Literarische Zeitschriften des 18. Jahrhunderts (1688–1789). Teil 1. Grundlegung. Stuttgart 1978, S. 66.

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Medien vermittelte Genese des öffentlichen Raisonnements kein autopoetischer Prozeß. Sie ist vielmehr Resultat einer bewussten Erziehungsleistung von speziell qualifizierten Intellektuellen. Obwohl sich Gottsched für einen offenen und sozial möglichst weitgefächerten Rezipientenkreis der Medien erklärt, und obwohl in seinen Moralischen Wochenschriften die Zugangsberechtigung für den medialen Diskurs in Gestalt von Leserzuschriften und Diskussionsforen nicht begrenzt ist, sind in seiner Sicht die Kompetenzen doch ungleich verteilt. Aufklärung ist Sache des Experten, der Gelehrte wird zum Kulturbringer stilisiert.30 Aber dies trifft nicht auf den Pedanten oder Handwerksgelehrten zu, der Griechisch und Latein beherrscht und nur seinen eigenen Wissenschaftsbezirk übersieht. Gefordert wird vielmehr der weltläufig gebildete und mit den schönen Wissenschaften vertraute Gelehrte, der von seinem aus städtischem Bürgertum, Militärs, Adel und Frauen bestehenden Zielpublikum verstanden wird. Diese verschiedenen Rezensionen und der Weltweisheit entnommene Beschreibung von Autor, Rezipient und Medium entspricht dem Selbstverständnis, mit dem Gottsched als Herausgeber der moralischen Wochenschriften wie auch seiner letzten beiden Zeitschriften an die Öffentlichkeit trat. Sie sollten also im Unterschied zu den Beyträgen weniger als Diskussionsforum für ein gelehrtes, sondern vielmehr als Bildungsmedium für ein Laienpublikum dienen31 und sollten auch an diesem Anspruch gemessen werden.

2. Gottsched als Publizist in seiner Korrespondenz 2.1. Gottsched als Adressat und Vermittler Als Vermittler war Gottsched einerseits bewusster Akteur mit kulturpolitischem Sendungsbewusstsein. Andererseits wurde er als Vermittler fremder Interessen in Anspruch genommen. Das bedeutet nicht, dass Gottsched gegen seinen Willen und gegen seine Überzeugungen gehandelt hätte, und das schließt nicht aus, dass er davon profitiert hat. Gleichwohl nahm er die Position eines Dienstleisters ein, eine Position, die ihm schließlich das Zeitungsmachen verleidete. Einem Korrespondenten vertraute er 1763 unmittelbar nach dem Ende seiner journalistischen Tätigkeit an, dass ihm seine Zeitschrift je länger, desto überlästiger fiel [...] Und wie beschwerlich ward mir nicht das Dringen vieler Buchhändler und Schriftsteller, ihren Verlag, und ihre Schriften, vorzüglich angepriesen zu sehen. Hier habe ichs recht einsehen lernen, wie schlimm es sey, wenn Journalisten bekannt sind; und ohne Beleidigung ihren Freunden nichts abschlagen können.32 30

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Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 1753, S. 543–547; vgl. auch Eva-Maria de Voss: Die frühe Literaturkritik der Aufklärung. Untersuchungen zu ihrem Selbstverständnis und zu ihrer Funktion im bürgerlichen Emanzipationsprozess. Diss. Bonn 1975, S. 76–83; Gottscheds Theaterreform weist dieselbe Asymmetrie auf; vgl. Daniel Fulda: Schau-Spiele des Geldes. Die Komödie und die Entstehung der Marktgesellschaft von Shakespeare bis Lessing. Tübingen 2005, S. 184–186. Vgl. Ball: Moralische Küsse (s. Anm. 5), S. 132 und 323. Gottsched an Martin Frobenius Ledermüller, Leipzig, 18. Januar 1764. In: Neues aus der Zopfzeit. Gottscheds Briefwechsel mit dem Nürnberger Naturforscher Martin Frobenius Ledermüller und dessen seltsame Lebens-

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Diese Äußerung des Überdrusses muss nicht als Resümee seiner Journalistenexistenz angesehen werden. Gottsched hatte die Inanspruchnahme auch gesucht und hervorgerufen. Aber sie zeigt doch, dass Gottsched sich in Handlungszwänge gestellt sah und eine Rolle33 eingenommen hat, von der er sich schließlich überfordert fühlte. Seit dem Jahr seiner Ankunft in Leipzig nutzten seine ehemaligen Kommilitonen Gottscheds Adresse, um Königsberger, vor allem universitäre Nachrichten, über die Leipziger Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen bekannt werden zu lassen.34 Dringende Bitten, beispielsweise die seines Jugendfreundes Johann Georg Bock um rasche Bekanntgabe einer geplanten Arbeit über die Poesie, erfüllte Gottsched prompt.35 Er verfügte über einen direkten Draht zu Leipziger Zeitschriften, nicht allein wegen seiner Verbindung zu Mencke. Mit Johann Gottlieb Krause, dem Redakteur der Neuen Zeitungen, war er befreundet. Krause erhielt 1727 eine Professur in Wittenberg, war aber gleichwohl weiterhin für die Zeitungen zuständig. In einem Inserat forderte er die Leser auf, Beiträge entweder an seine Adresse oder an die Gottscheds in Leipzig zu senden,36 wodurch Gottsched für alle sichtbar mit den Neuen Zeitungen in Verbindung gebracht wurde. Gottsched wurde für die Anzeige von Veröffentlichungen in Anspruch genommen,37 er ließ auf Wunsch Gedichte einrücken38 und unterstützte Gabriel Wilhelm Goetten bei der Werbung für dessen Jetztlebendes Gelehrtes Europa, sowohl bei der Aufforderung zur Mitarbeit als bei der Anzeige der Bände.39 Als ihn Johann Lorenz Mosheim um die Anzeige einer polnische Übersetzung seiner Heiligen Reden bat, wurde die Anzeige mit einem Zusatz versehen: »Auch so gar andere GlaubensGenossen« – gemeint ist der polnische katholische Übersetzer – erkennen die herrlichen Verdienste dieses grossen Gottesgelehrten, welche viele unter seinen Glaubens-Brüdern kaum einsehen lernen wollen. Und je unpartheyischer der Entschluß jenes Prelaten ist, desto deutlicher legt er die Unbilligkeit einiger Monats-Scribenten an den Tag, die mit ihren hämischen Urtheilen, die aus dem unordentlichsten und verderbtesten Neigungen herstammen, den hochverdienten Herrn Abt nicht unangetastet lassen können.40

Mosheim war nach einigem Werben 1732 Präsident der Leipziger ›Deutschen Gesellschaft‹ geworden, ein klangvoller Name, dessen Bedeutung die Leipziger zu schätzen wußten. Durch seine Korrespondenz mit Mosheim wußte Gottsched, wie sehr ihn einige Bemerkungen der Auserlesenen Theologischen Bibliothec des Johann Christoph Colerus gekränkt hatten. Mit seinem Seitenhieb gegen die »Monats-Scribenten« nutzte Gottsched seine Medienmacht zu einer Loya-

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schicksale. Hg. von Emil Reicke. Leipzig 1923, 106–107, hier S.106. Vgl. dagegen die Ausführungen, mit denen Gottsched sich von seinen Lesern verabschiedete, in: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 1762, S. 940. Gottsched selbst erklärt, er habe »seit mehr als 30 Jahren die Rolle eines Journalisten gespielet«. Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 1762, S. 940. Gottsched: Briefwechsel 1 (s. Anm. 1), Nr. 5, Erl. 4; Nr. 61, Erl. 16; Nr. 62, Erl. 10; Nr. 181, Erl. 15; Briefwechsel 2 (s. Anm. 1), Nr. 166, Erl. 6. Gottsched: Briefwechsel 2 (s. Anm. 1), Nr. 32, Erl. 3. Vgl. Gottsched: Briefwechsel 1 (s. Anm. 1), S. 121, Erl. 1. Ebd., Nr. 192, Erl. 18; Briefwechsel 3 (s. Anm. 1), Nr. 113, Erl. 17. Vgl. Gottsched: Briefwechsel 2 (s. Anm. 1), Nr. 143, Erl. 9 und Nr. 157. Vgl. Gottsched: Briefwechsel 3 (s. Anm. 1), Nr. 13, Erl. 5 und Nr. 131, Erl. 5. Neue Zeitungen 1734 (Nr. 2 vom 7. Januar), S. 9f.

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litätserklärung gegen Mosheim, die die persönliche und die Bindung an die ›Deutsche Gesellschaft‹ befestigte.41 Gottsched war nicht immer kooperativ. Auch seine Verweigerungen lassen Rückschlüsse auf Motivationen zu. Als sein Landsmann Theodor Ludwig Lau, der zu diesem Zeitpunkt wegen religionskritischer Äußerungen persona non grata geworden und von Christian Thomasius heftig abgefertigt worden war, um die Anzeige zweier Schriften bat, hüllte sich Gottsched in Schweigen. Es ist allerdings unklar, ob aus politischer Vorsicht, oder schon damals wegen der Exzentrik in Auftreten und Stil, derentwegen Lau später in den Critischen Beyträgen verspottet wurde.42 In besonderem Maße war Gottsched dort in die Pflicht genommen, wo ihm durch Anhänger ein Vertrauensvorschuß aufgebürdet wurde, der ihn in eine permanente Bewährungssituation versetzte. Seit seinem ersten Brief nahm der Königsberger Cölestin Christian Flottwell Gottscheds Vermittlerdienste in Anspruch. Besonders wichtig war es ihm, dass die königliche Privilegierung der von ihm 1743 gegründeten ›Deutschen Gesellschaft‹ hinreichend bekannt gemacht und diese Bekanntmachung hinwiederum in Königsberg wahrgenommen würde. Er schrieb deshalb: »Wäre es nicht möglich nach der Vorschrift Dero vielvermögenden Feder eine völlige Nachricht von der Gesellschaft in die Leipz. Gel. Göttinger Gel. Hamburger Gel. u. deßen Correspondenten einsetzen zu laßen? Die Berliner haben Sie ohnedem in ihrer Gewalt. [...] Ihnen ist alles möglich, theurester Gönner«.43 Das Schreiben zeigt die in Gottsched gesetzten Erwartungen. Gottsched musste, um die ihm zugesprochene Position zu bewähren, die Wünsche erfüllen. Die »Gewalt« über die Berliner konnte er glänzend unter Beweis stellen. Reichlich drei Wochen nachdem der Brief in Königsberg adressiert worden war, war, am 21. Dezember 1743, der Bericht über die Königsberger Feier in den Berlinischen Nachrichten zu lesen.44 Die anderen Zeitschriften, auch die Leipziger, folgten erst Anfang 1744.45

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Mosheims Reaktion: »Wem ich den Zusatz, der mir so rühmlich, schuldig bin, weiß ich noch nicht. Haben E. HochEdelGeb. sich die Mühe gegeben, mir so nachdrücklich das Wort zu reden, so habe ich eine abermahlige besondere Wohlthat von Ihnen erhalten.« Gottsched, Briefwechsel 3 (s. Anm. 1), S. 36, Z. 4–8. Vgl. Gottsched: Briefwechsel 1 (s. Anm. 1), Nr. 83, Erl. 8; Gustav Waniek: Gottsched und die deutsche Litteratur seiner Zeit. Leipzig 1897. ND Leipzig 1972, S. 466. Vgl. auch die weiteren Briefe Laus in Gottsched, Briefwechsel 3 (s. Anm. 1), Nr. 173 und ders.: Briefwechsel 4 (s. Anm. 1), Nr. 74. Cölestin Christian Flottwell an Gottsched, Königsberg 29. November 1743, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. VIII, Bl. 281–282, hier Bl. 281r. Über den Gottsched ergebenen langjährigen Korrespondenten Flottwell vgl. Gottsched: Briefwechsel 3 (s. Anm. 1), S. 463. Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen 1743 (Nr. 153 vom 21. Dezember). Neue Zeitungen 1744 (Nr. 3 vom 9. Januar), S. 28–30. Auch die, politischen Nachrichten und Anzeigen vorbehaltenen, Leipziger Zeitungen bzw. die ihnen angegliederten, extra paginierten Nouvellen berichteten, sogar früher, über die Gründung; vgl. Extract Der eingelauffenen Nouvellen 1743 (52. Stück vom 28. Dezember), S. 216; Göttingische Zeitungen von Gelehrten Sachen 1744 (Nr. 3. vom 9. Januar), S. 26f. Die Hamburgischen Berichte von den neuesten Gelehrten Sachen und die Stats- u. Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten der Jahre 1743 und 1744 enthalten keinen Bericht über die Gründungsfeier.

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Aber nicht nur Rezensionen und Buchanzeigen wurden ihm übertragen. Er sollte den Abdruck eines Porträtstichs vermitteln46 und wurde gebeten, in den Leipziger Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen die Gründung der Universität Erlangen bekannt zu geben.47 Die im Neuesten aus der anmuthigen Gelehrsamkeit abgedruckte enthusiastische Bekanntgabe der Eröffnung der bayerischen Akademie der Wissenschaften, zu deren frühesten Mitgliedern Gottsched zählte, nahm man in München dankbar zu Kenntnis. Sie wurde dem Kurfürsten vorgelesen.48 Aus Augsburg wandte sich Johann Daniel Herz, der umstrittene Gründer der ›Kaiserlich privilegierten Franciscischen Akademie der freyen Künste und Wissenschaften‹ an Gottsched und bat um Unterstützung für seine Zeitschrift Die reisende und correspondirende Pallas, da er als Kupferstecher sich nicht in der Lage sah, die Qualität dieser ersten deutschen Kunstzeitschrift zu garantieren.49 Gottsched vermittelte den später als internationaler Kunstagent und Cicerone prominenter Italienbesucher namhaften Johann Friedrich Reiffstein nach Augsburg. Nachdem seine Augsburger Gegner publizistisch gegen Herz und die Akademie vorgegangen waren, bat dieser Gottsched, »nomine totius Corporis Aca. [...] zu unserer Vertheidigung einen selbst beliebten kurzen Artikel, [...] in [...] Zeitungen trucken zu laßen«.50 Herz konnte auf die dank des Privilegs zu erwartende Unterstützung durch den Kaiser verweisen, aber Gottsched hielt sich, nachdem er von Reiffstein und anderen Korrespondenten über den bedenkliche Zustand der Augsburger Einrichtung informiert worden war, bedeckt. Zeugnisse für diese Art der Beanspruchung ließen sich bis ans Ende der publizistischen Tätigkeit Gottscheds beliebig fortsetzen. Einige abschließende Beispiele werfen ein Licht auf die über die Reichsgrenzen hinausreichende Weite seiner publizistischen Aktivitäten. Im Herbst 1749 unternahm das Ehepaar Gottsched eine Reise, die bis nach Wien führte und in der von Gottsched detailliert beschriebenen Audienz bei Maria Theresia und der gesamten kaiserlichen Familie einen prestigeträchtigen Höhepunkt fand. Zu den neuen Bekanntschaften dieser Reise zählte der Wiener Stadtbibliothekar Philipp Jakob Lambacher, Gottsched hat den Besuch der Bibliothek beschrieben.51 Lambacher schickte im darauffolgenden Jahr seinen druckfrischen Katalog der ältesten Bücher der Wiener Stadtbibliothek und legte noch ein Exemplar für Mencke bei, da dieser einst eine Schrift Lambachers in den Acta eruditorum rezen46

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»Haben Dieselben eine communication mit denen H. Verfaßern derer Zuverläßigen Nachrichten, welche an die Stelle derer Deutschen Act. Erud. getreten, so wollte durch Dero gütige Vermittelung gebeten haben, dem Manne, deßen Bildniß beÿlieget, die Liebe zu erzeigen, und beÿ einem Stück deßen Contrefaite vorzusetzen«. Johann Gottlieb Biedermann an Gottsched, Naumburg 19. Juli 1740, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. VIa, Bl. 243–244, hier Bl. 243v. Kaspar Jakob Huth an Gottsched, Erlangen 11. Dezember 1743, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. VIII, Bl. 293–294, hier Bl. 293v; die Anzeige in: Neue Zeitungen 1744 (Nr. 7 vom 23. Januar), S. 62–64. Johann Georg Lori an Gottsched, München 25. November 1759. In: Electoralis academiae scientiarum Boicae primordia. Briefe aus der Gründungszeit der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hg. von Max Spindler. München 1959, S. 216f. Johann Daniel Herz an Gottsched, Augsburg 15. November 1755, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. XX, Bl. 476–477. Vgl. Nicole Waibel: Nationale und patriotische Publizistik in der Freien Reichsstadt Augsburg. Studien zur periodischen Presse im Zeitalter der Aufklärung (1748–1770). Bremen 2008, S. 96–109. Johann Daniel Herz an Gottsched, Augsburg 12. Mai 1756, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. XXI, Bl. 326-327, hier Bl. 326v. Gottsched: Singularia Vindobonensia Nuper A. MDCCL. D. XII. Mens. Febr. Oratione Solemni In Auditorio Philosophor. Lipsiensi celebrata. Leipzig 1750, S. XXX.

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siert hatte.52 Einige Jahre später bat er Gottsched, seine in Leipzig gedruckte juristische Dissertation an geeignete Gelehrte weiterzugeben, »ins besondere an solche, die Ephemerides litterarias zu schreiben pflegen«.53 Als nach einem knappen halben Jahr Mitte März 1755 noch immer keine öffentliche Reaktion auf den Text zu vernehmen war, wandte sich Lambacher erneut an Gottsched und erkundigte sich, ob ihn überhaupt ein Druck erreicht habe. Da sein Text über die Rechtlichkeit der Verfahrensweise Kaiser Rudolfs I. bei der Translation Österreichs an das Haus Habsburg nicht unumstritten war, vermutete er Machenschaften seiner Feinde. Kurz danach, im April war eine wohlwollende Besprechung des Textes im Neuesten zu lesen, am 1. Mai berichteten auch die Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen vergleichsweise ausführlich von der Abhandlung Lambachers. 1754 sollte Gottsched den Bibliothekskatalog des kurz zuvor verstorbenen Leipziger Theologieprofessors Christian Friedrich Börner annoncieren. Nach dem Willen des Sohnes Georg Gottlieb Börner sollte die Annonce nicht nur in Gottscheds eigener Zeitschrift erscheinen. Börner erbat vielmehr »die Bekandtmachung eben dieser Nachricht in dem Journal Etranger«.54 Sie scheint dort nicht abgedruckt zu sein, immerhin setzt die Bitte des mit Gottsched gut bekannten Börner voraus, dass Gottsched Verbindungen zum Journal étranger unterhielt. Möglicherweise beruht die Annahme auf Gottscheds Verbindung zu Friedrich Melchior Grimm, der ein Vorwort zum ersten Band von 1754 verfasst hatte.55 Später war es Jakob Immanuel Wächtler, der die französischen Leser mit Schriften Gottscheds bekannt machte.56 Im Neuesten ist eine zunehmende Ausweitung des Blickfeldes nach Osteuropa zu konstatieren. Polen war durch familiäre Verbindungen nach Danzig, Geburtsstadt seiner Frau, und die Personalunion von sächsischem Kurfürsten und polnischem König schon immer im Blickfeld Gottscheds.57 Auch Russland war für ihn Gegenstand des Interesses.58 Bekanntlich bestand das Gründungspersonal der Petersburger Akademie der Wissenschaften vorwiegend aus Deut52 53 54 55

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Philipp Jakob Lambacher an Gottsched, Wien 22. August 1750, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. XV, Bl. 360–361. Philipp Jakob Lambacher an Gottsched, Wien 20. November 1754 Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. XIX, Bl. 533–534, hier Bl. 534r. Georg Gottlieb Börner an Gottsched 12. November 1754, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. XIX, Bl. 517-518, hier Bl. 518r. Vgl. Grimm an Gottsched, Paris 2. Mai 1754. In: Friedrich Melchior Grimm: Briefe an Johann Christoph Gottsched. Hg. von Jochen Schlobach und Silvia Eichhorn-Jung. St. Ingbert 1998, S. 65, Nr. 36. Zum Konzept des Journal étranger vgl. Kirill Abrosimov: Französische Aufklärer auf der Suche nach einer ›Weltliteratur‹. Zur Kooperation zwischen dem Journal étranger und der Correspondance littéraire von Friedrich Melchior Grimm. In: Europäische Wahrnehmung 1650–1850. Interkulturelle Kommunikation und Medienereignisse. Hg. von Joachim Eibach und Horst Carl. Hannover 2008, S. 207–228. Gottsched an Jakob Immanuel Wächtler, Leipzig 19. September 1755, Drei Briefe von Rabner, Cronegk, und Gottsched an Wächtler, nebst einigen Lebensumständen dieses Leztern. In: Apollo. Monatschrift. Hg. von August Gottlieb Meißner. Prag und Leipzig 1797, 3, S. 62–95, 86–96. Vgl. Joanna Jarzęcka: Życie umysłowe w rzezypospolitej w latach 1729–1762 w świetle listów z polski do Gottscheda i poloników występujących na łamach jego czasopism. In: Studia i materiały z dziejów nauki polskiej. Seria A, 15 (1980), S. 71–116. Vgl. Ulf Lehmann: Der Gottschedkreis und Rußland. Berlin 1966; Helmut Graßhoff: Gottsched als Popularisator und Übersetzer russischer Literatur. In: Zeitschrift für Slawistik 15 (1970), S. 189–207; Lew Kopelew: Die ersten Vermittler: Gottsched und sein Kreis. In: Russen und Rußland aus deutscher Sicht. 18. Jahrhundert. Aufklärung. Hg. von Mechthild Keller. München 1987, S. 339–356.

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schen. Gottsched bekam schon 1725 eine Professur in St. Petersburg angetragen und schlug sie aus.59 Der Orientalist Gottlieb Siegfried Bayer und andere enge Freunde Gottscheds entschieden anders. Ein intensiver Briefkontakt mit verschiedenen in Russland tätigen Korrespondenten entwickelte sich jedoch erst seit den fünfziger Jahren. Wichtigste Kontaktpersonen waren Jakob von Stählin, Hofrat und seit 1757 ›Direktor aller Künste‹ in Russland, und Gerhard Friedrich Müller, seit 1754 Konferenzsekretär der Petersburger Akademie. Stählin begrüßte Gottscheds Absicht, mit den russischen Verhältnissen bekannt zu machen: »Es geschicht hier ohne diß un gemein mehr in Künsten u. Wißenschafften, als außwärts mit umständen bekant wird.«60 Gottsched, der seinerseits erklärte, er wolle »zum Herolde der dasigen Gelehrsamkeit dienen«,61 wurde zum Berichterstatter über russische Kultur und Wissenschaft in Deutschland erklärt, zumal es kein russisches Journal gab, das die Auswärtigen unterrichtete. Es gab nur eine Monatsschrift in russischer Sprache. Zur Anschauung schickte Stählin ein Exemplar an Gottsched, der es auch sofort im Neuesten anhand der mitgelieferten deutschen Inhaltsangabe vorstellte.62 An Kennern des Russischen scheint es in Leipzig gefehlt zu haben, wie aus Gottscheds vorwurfsvollen Zeilen an Stählin zu entnehmen ist: Wenn die H.n Russen ihre wunderlichen Buchstaben abschaffeten, die nicht lateinisch, nicht griechisch sind: so würden viel hiesige Leute von wendischer Abkunft leicht ihre Sprache lernen, und manches übersetzen können. Allein so, wie sie schreiben, kann niemand daraus klug werden.63

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»Ich denke noch immer, daß ichs nicht unrecht gemacht und getroffen habe, als ich 1725, die mir angetragene Professionem Eloquentiæ daselbst, die Herr Prof. Kohl bekam, für eine bloße Leipziger Collegiatur, die anfängl. nur 50 Thl. eintrug, ausgeschlagen; ungeachtet ich dort 500 Rubel hätte haben können.« Gottsched an Christian Crusius, Leipzig 10. Dezember 1762, Tartu, UB, Best. 3, Mrg CCCLIVa, Ep. phil. Bd. II, Bl. 147–148. Stählin an Gottsched, [St. Petersburg], vermutlich 13. März 1756, St. Petersburg, Nationalbibliothek, f. 871, Nr. 191, Bl. 6–8, 6r. Inwieweit diese Annahme berechtigt ist, soll dahingestellt bleiben; möglicherweise trifft zu, was an zeitgenössischen Publikationen beobachtet wurde, dass nämlich, obwohl in Deutschland bis ins 18. Jahrhundert bereits eine beachtliche Fülle an Informationen über Rußland verfügbar war, jede Neuerscheinung zum Thema mit der Bemerkung begann, »über Rußland sei nichts bzw. fast nichts bekannt«. Alexander S. Myl’nikow: A. F. Büsching im Kontext der russisch-deutschen Verhältnisse zur Epoche der Aufklärung. In: Deutsch-russische Beziehungen im 18. Jahrhundert. Kultur, Wissenschaft und Diplomatie. Hg. von Conrad Grau, Sergueï Karp u. a. Wiesbaden 1997, S. 213–223, hier S. 219. Zum prozentualen Anteil der Informationen über Osteuropa in deutschen Zeitungen des Jahres 1736 vgl. Jürgen Wilke: Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. Köln, Weimar 2008, S. 85. Vgl. auch Dittmar Dahlmann: Die Kenntnis Rußlands im deutschsprachigen Raum im 18. Jahrhundert. Wissenschaft und Publizistik über das Russische Reich. Bonn 2006. Gottsched wird hier nicht erwähnt, da speziell die Ausführungen zur Bedeutung der Zeitungen für die Rußlandkunde auf das erste Drittel des 18. Jahrhunderts ausgerichtet sind. Gottsched an Stählin, Leipzig 7. April 1756, St. Petersburg, Nationalbibliothek, f. 871, Nr. 458, Bl. 7-8, hier Bl. 7r. »Ich habe unsern Deutschen Nachricht davon gegeben, wie beygehendes Stück meines Neuesten zeigen wird.« Gottsched an Stählin, Leipzig 18. Juli 1756, St. Petersburg, Nationalbibliothek, f. 871, Nr. 458, Bl. 9–10, hier Bl. 9r; dies bezieht sich auf das Maiheft des Neuesten aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 1756, das auf S. 392–394 die Nachricht enthält. Gottsched an Stählin, Leipzig 7. April 1756, St. Petersburg, Nationalbibliothek, f. 871, Nr. 458, Bl. 7-8, hier Bl. 7v.

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Gottsched nahm die ihm übertragene kulturmissionarische Aufgabe sehr ernst. Wo es nötig war und seine eigene Zeitschrift keine hinreichenden Rahmenbedingungen für eine Publikation bot, bediente er sich weiterer Zeitschriften.64 Als Müller für die »Universität zu Moscau ein paar in humanioribus geschickte Subjecta« erbat, konnte Gottsched zwei Leipziger Absolventen mobilisieren, die ihn fortan auch mit Hochschulnachrichten aus Moskau versorgten. Die Briefinhalte wurden bisweilen wörtlich als russische Nachrichten im Neuesten veröffentlicht.65 Gottscheds Engagement trug Früchte. Die Korrespondenten und einige russische Künstler wurden Mitglieder seiner ›Gesellschaft der freyen Künste‹, was deren Renommee zugute kam. Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit gelangte dank seiner Bemühungen nach Russland. Hatte ihm Stählin zu Anfang der Korrespondenz noch geschrieben, dass das Neueste in dem reichen Zeitschriftenangebot des akademischen Buchladens und der Petersburger Akademie nicht vertreten sei,66 so ist später wie selbstverständlich davon die Rede, dass die Zeitschrift »im hiesigen academ. Buchladen« ausliege,67 und Müller versicherte Gottsched in seinem letzten Brief vom März 1765, dass Gottscheds und seiner »sel. Frau Gemahlin Ruhm und Verdienste auch in hiesigen Landen durch Schriften verbreitet werden«.68

2.2. Gottsched in fremden Zeitschriften: Nachdrucke und Beiträge Häufig wurden Texte Gottscheds in Zeitschriften gedruckt, nachgedruckt oder von ihm erbeten. So findet sich das Gedicht auf den Tod Peters I. 1725 in der Europäischen Fama,69 seine antikatholische Ode anläßlich des zweihundertsten Jahrestags der Übergabe der Confessio Augus64 65

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Vgl. Gottsched an Müller, 26. Januar 1757. In: Lehmann: Der Gottschedkreis und Rußland (s. Anm. 58), S. 108f., hier S. 109. Vgl. z. B. Gerhard Friedrich Müller an Gottsched, Petersburg 19. Oktober 1756, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. XXI, Bl. 538–539 (Druck nach dem Konzept in: Lehmann: Der Gottschedkreis und Rußland (s. Anm. 58), S. 96–97) und Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 1756, S. 949f. Christian Gottlob Köllner an Gottsched, Moskau 18. Februar/ 5. März 1758. In: Gottsched: Friedrich Christian, der unvergeßliche Churfürst zu Sachsen in der Gesellschaft der freyen Künste [...] den 8ten des Hornungs 1764. besungen, [...] Welchem beygefüget ist die historische Lobschrift auf weiland Herrn Christian Gottlob Köllnern, Prof. der schön. Wissens. zu Moskau. Leipzig [1764], S. 60–62 und Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 1758, S. 314-319. »Dagegen will ich mir etwas v. dem Neuesten auß der Anmuthigen Gelehrsamkeit außgebethen haben. Davon habe ich schon längst in Gelehrten Zeitungen gelesen. Hier aber wüste ich niemand der es hielte. Auch in unserm Academ. Buchladen, der sonst fast allen Leipziger Verlag führt, findt es sich nicht. Frantz. Monath-Schrifften aber u. Gelehrte Zeitungen hält die Academ. bey nahe alle.« Stählin an Gottsched, Konzept, vermutlich 13. März 1756, St. Petersburg, Nationalbibliothek, f. 871, Nr. 191, Bl. 6–8, hier Bl. 6v. Müller hingegen schrieb ihm in seinem ersten Briefe ebenfalls aus Petersburg, er lese »alles, was von denenselben ausgefertigt wird mit besonderem Vergnügen, und führnehmlich sehe ich Dero Monaths Schriften als das beste Mittel an, was zu Verbreitung des guten Geschmacks in den schönen Wissenschaften dienlich seyn kann«. Gerhard Friedrich Müller an Gottsched, St. Petersburg, 26. März/ 6. April 1756. In: Lehmann: Der Gottschedkreis und Rußland (s. Anm. 58), S. 95–96, hier S. 95. Stählin an Gottsched, [St. Petersburg] Juli 1758, St. Petersburg, Nationalbibliothek, f. 871, Nr. 191, Bl. 1–3, hier Bl. 1v. Lehmann: Der Gottschedkreis und Rußland (s. Anm. 58), S. 105f., hier S. 106. Gottsched: Briefwechsel 1 (s. Anm. 1), S. 51, Erl. 10.

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tana wurde in den Supplementbänden zur Auserlesenen Theologischen Bibliothec gleich mehrfach angezeigt bzw. nachgedruckt, zuletzt, 1733, mit Nennung des Autorennamens.70 Dies dürfte kaum mit Gottscheds Billigung geschehen sein, denn er hatte wegen der katholischen Landesherrschaft in Kursachsen wohlweislich auf Anonymität geachtet. Private Verse, die Gottsched im Herbst 1733 auf den Tod einer niedersächsischen Dichterin an ihren Bruder geschrieben hatte, waren noch im selben Jahr in den Hamburgischen Berichten von neuen Gelehrten Sachen zu lesen.71 Selbst ein politisches Epigramm, mit dem Gottsched Verse Voltaires auf die Wahl Stanisław Leszczyńskis zum polnischen König in französischer Sprache parodierte, wurde in den Leipziger Neuen Zeitungen gedruckt.72 1736 bekannte der Zeitungsschreiber und Gymnasiallehrer Cornelius Lindner, dass er Gottscheds Ode Carl der Friedensstifter nachgedruckt habe. Lindner schrieb in Regensburg, der Stadt des Immerwährenden Reichstages oder, mit seinen eigenen Worten, »im Angesicht des versammleten Deutschen Reiches« den Von Ihro RömischKayserlichen Majestät Allergnädigst-privilegiirten Unpartheyischen Cabinet-Courier.73 Das Blatt wurde nach Lindners Angabe vor allem in Wien gelesen.74 Als politisches, gelehrtes und Intelligenzblatt zugleich soll es an »deutschen Universitäten gegen Ende des 18. Jahrhunderts als die klassische deutsche Zeitung« gegolten haben,75 eine singuläre Aussage, die schon angesichts der Rarität der überlieferten Stücke in Zweifel gezogen werden muss. Lindner jedenfalls bat Gottsched um die »Ehre [...], von Ew. HochEdlGebohrn dann u. wann, u. mit guter Gelegenheit schönen Stoff zu Auszierung meiner Blätter zu erhalten«, da »dem sonst magern Cabinets-Courier eine sonderbare Achtung zugezogen werden [würde], wann nur Gottscheds Geist zuweilen aus ihm reden solte«.76 Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass Gottsched der Bitte entsprochen hätte. Auch die Herausgeber der Hamburgische Beyträge zur Aufnahme der gelehrten Historie und der Wissenschaften, Matthias Andreas Alardus und Matthias Arnold Wodarch,77 erhielten nicht den erbetenen »gelegentlichen Beytrag«, in den sie große Erwartungen gesetzt hatten. Gottsched schickte 70 71 72 73 74 75 76 77

[Johann Christoph Colerus:] Nöthiges Supplement Zu der Auserlesenen Theologischen Bibliothec 3 (1730), S. 261; 4 (1731), S. 343f.; 12 (1733), S. 995–1008. Gottsched: Briefwechsel 2 (s. Anm. 1), Nr. 242. Vgl. Waniek: Gottsched und die deutsche Litteratur seiner Zeit (s. Anm. 42), S. 231. Gottsched: Briefwechsel 4 (s. Anm. 1), S. 77. Gottsched: Briefwechsel 4 (s. Anm. 1), S. 78, Z. 24f. Hans Baumann: Das Regensburger Intelligenzblatt als Zeitung und Zeitspiegel. Diss. München 1937, S. 14f. Gottsched: Briefwechsel 4 (s. Anm. 1), S. 78, Z. 22–24 und 79, Z. 3f. Vgl. über die beiden durch Verwandtschaft und gemeinsame Studien eng verbundenen späteren Freimaurer Werner Herzog: Matthias Andreas Alardus (1715–1772) und Matthias Arnold Wodarch (1715– 1761). In: Quatuor Coronati 23 (1986), S. 191–236 sowie Holger Böning und Emmy Moepps: Hamburg. Kommentierte Bibliographie der Zeitungen. Stuttgart 1996, Bd. 1, Nr. 203 und Bd. 3, Sp. 1959 und 2187; zur zeitgenössischen Wahrnehmung der Hamburgischen Beyträge sind die Bemerkungen des Göttinger Theologieprofessors Joachim Oporin aufschlußreich: »Wie stehts umb H. Alardi Jun. Gelehrte Zeitungen? Ich habe dieselbe (par complaisance) mitgehalten, auch vor ein paar Monaht die schuldige 2 Rhtl. an Ihn übergesandt; aber ich habe weder den schluß der Zeit. des vorigen jahrs, noch die continuation in diesem jahre, noch nachricht, daß mein geld eingelauffen seÿ, bisher erhalten. Vielleicht haben H. Alardus et sodalis das institutum auffliegen lassen. Ich habe diese ferien erst in ihre vorigen jahrs Zeitungen eingeblicket, und gesehen, wie der regierende Philosophische u. teutsch-gesellschafts-geist Sie auch von monaht zu monaht mehr einzunehmen scheinet. Doch das ist der Gazettier u. Journalisten eigenthüml. Geist, und aus dieser leuthe posaunen besteht ein theil der Wolfianischen Macht.« Joachim Oporin an Bernhard Raupach 16. 4. 1741, Tartu, UB, Ep. theol. I, Bl. 283f., hier Bl. 284r.

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den ehemaligen Mitgliedern seiner ›Nachmittäglichen Rednergesellschaft‹ lediglich einige Veröffentlichungen zu.78 Ein größeres Engagement bezeigte Gottsched gegenüber Johann Gottfried Groß, der durch die seit 1740 erscheinende politische Erlanger Zeitung »ein europaweit bekannter und anerkannter Journalist«79 geworden war. Die Verbindung mit Gottsched entstand 1749 nach der Reise des Ehepaars Gottsched in die Kaiserstadt Wien. Groß berichtete über die Wienreise und druckte Gottscheds Gedicht auf Maria Theresia ab. Gottsched revanchierte sich durch verschiedene Dienstleistungen. Auf Wunsch vermittelte er die Übersendung von breitkopfschen Drucktypen und wußte bei der Suche »eines zu meinen arbeiten tüchtigen Subjecti« sofort Rat.80 Allerdings erwies sich die Vermittlung als Fehlgriff. Johann Friedrich Barisien, der später auch mit Klopstock korrespondierte und 1761 dänischer Konsul in Marokko wurde, litt unsäglich unter der subalternen Position, und so sind die Briefe, die er als Groß’ Angestellter an Gottsched schrieb, vor allem ein eindrucksvolles Zeugnis von der gequälten Existenz eines abhängigen Zeitungsschreibers.81 Groß bat Gottsched, dem Verleger Karl Ludwig Jacobi, der ihn von Leipzig aus mit Zeitschriften und neuen Büchern versorgte, bei der Buchauswahl mit Rat und Tat zur Hand zu gehen. Er traute Gottsched den richtigen Blick für publikumswirksame Neuerscheinungen zu.82 Gottsched bot sich die Chance einer Auslese in seinem Sinne. Da 78

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Vgl. Matthias Arnold Wodarch an Gottsched, Hamburg 19. Dezember [1740] und Matthias Andreas Alardus an Gottsched, Hamburg 14. April 1741, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. VIa, Bl. 461f. und VI b, Bl. 92–93. Anton Ernstberger: Johann Gottfried Gross 1703–1768. Maria Theresias politischer Agent bei der Reichsstadt Nürnberg. München 1962, S. 7. Johann Gottfried Groß an Gottsched, Nürnberg 8. November 1749, Leipzig, UB, 0342 XIV, Bl. 367-368, hier Bl. 367r. Einige Beispiele: »Hier sitze ich nun und schreibe Zeitungen; eine Beschäftigung, die, so gering sie auch ist, mir ein Hauffen Arbeit und wenig Vergnügen verursachet.« Barisien an Gottsched, 8. August 1753, Leipzig UB, Ms 0342, Bd. XVIII, Bl. 416f., hier Bl. 417r; »Es ist doch ein wunderlich Ding um das Zeitungsschreiberhandwerk, zumal beÿ einem Auszuge, wie dieser ist; ich erfahre es zur Gnüge. Setzt man die Neuigkeiten nur so trocken hin, so liest sie niemand: will man raisonniren, so führt der Geÿer die Zeitungsinquisition her, und diese ist für uns übrigen Zeitungsschreiber nicht weniger schrecklich, als die geistliche in Spanien. Wenn man nur noch pragmatisch schreiben dürfte! Kurz, es ist eine Arbeit, wo wenig Ehre einzulegen ist. Auch die Schreibart ist nicht in meiner Gewalt.« 2. Oktober 1753, XVIII, 495f., hier Bl. 495r. »Ich seufze beständig, wer erlöset mich vom Zeitungsschreiben? Und sollte ich ja für meine Sünden zum Zeitungsschreiben verdammt seÿn; so wünschte ich wenigstens, daß ichs für mich selbst thun könnte, denn außerdem ist wenig dabeÿ zu gewinnen.« 28. Dezember 1756, XVIII, 605f., 605v. Im März 1754 trennen sich Groß und Barisien. Barisien geht nach Bayreuth, widmet sich dort wiederum dem Zeitungswesen, klagt erneut über die Zumutungen, verläßt die Stadt und kündigt an, nach Leipzig kommen zu wollen. Sein letzter Brief an Gottsched datiert vom März 1755; vgl. zur Biographie Friedrich Gottlieb Klopstock: Briefe 1759–1766. Hg. von Helmut Riege. Bd. 2. Apparat. Berlin, New York 2004, S. 462f. »Der Buchhändler, Herr Jacobi, wie wohl ich denselbigen nicht kenne, hat sich auf Veranlaßung eines guten Freundes erbotten, die herauskommende neue Piecen, welche curiöse, angenehme und nach dem Geschmack des Publici eingekleidete Materien enthalten, mir von Zeit zu Zeit zu überschicken, damit wir bald von diesem bald von jenem einige Proben und Auszüge dem Blättl. inseriren können. Da ich aber billig besorgen muß, daß manches schlechte Zeug, das zu nichts zu gebrauchen, oder auch alzugelehrte critische, oder trockene Abhandlungen mitunterlaufen möchten, die meinen Lesern weder Vergnügen noch Erbauung verschaffen: So würden Ew. Wohlgeb. mich unendlich verbinden, wenn hochgeneigt-Dieselben nur dann und wann die Mühe auf sich nehmen wollten, die Wahl zu dirigiren, und entweder in seinem Catalogo das dienlichste vorzustreichen, oder ihm, was er nicht selbsten füh-

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er in seinen eigenen Zeitschriften bei der Auswahl von Beiträgen eigene Interessen über die ausgewogene Information des Publikums stellte,83 dürfte er auch hier die Möglichkeit der Einflußnahme genutzt haben. Allerdings war Groß in ästhetischen Fragen ohnehin an Gottsched orientiert und stellte seine Zeitung in diesem Sinn zur Verfügung: »Also nur her mit der Lauge für die Herren Zürcher und Klopfstockianer, ich mache mir ein Vergnügen daraus, ihnen die Köpfe ein wenig zu waschen.«84 Auch für andere Zeitschriften ist Gottsched als Beiträger nachweisbar.85 Die Rezension der 1. Auflage von Hallers Gedichten erschien in den Leipziger Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen;86 er war Mitarbeiter der Acta eruditorum87, des Hamburgischen Correspondenten,88 hat in den Belustigungen des Verstandes und des Witzes veröffentlicht,89 ebenso in den Olmützer Monathlichen Auszügen90, auch die Erfurtischen gelehrten Nachrichten und das Journal étranger91 enthielten Beiträge Gottscheds. Die vollständige Erschließung des Briefwechsels wird weitere Publikationsorte bekannt werden lassen. Es gibt auch Hinweise auf Publikationen eines Johann Christoph Gottsched in den Königsbergischen Frag- und Anzeigungsnachrichten. Dieser Autor äußert sich über Spinnenseide und »das Aufnehmen der Handwerker« und ebenso über Freigeister und die Zuständigkeit der Theologen für das Schulwesen.92 Dass der Leipziger Philosophieprofessor hier eine sonst unbekannte Gedankenwelt zugunsten seiner ostpreußischen Heimat offenbart hat, ist nicht wahrscheinlich. Aber auch der pietistisch geprägte gleichnamige Vetter Gottscheds, der in Schneidlingen und später in Halberstadt Pfarrer war,93 kommt nicht in Frage. Bleibt nur die Möglichkeit, dass in Königsberg oder Umgebung ein weiterer Johann Christoph Gottsched lebte, von dem aber in

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ret aufzunotiren, damit er sich darum bewerben und es mir zuschicken könne.« Johann Gottfried Groß an Gottsched, Ansbach 31. Dezember 1753, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. XVIII, Bl. 612–613 und 613r–v; vgl. auch Groß an Gottsched, Erlangen 6. Februar 1754, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. XIX, Bl. 70–71, hier Bl. 70v. Vgl. Ball: Moralische Küsse (s. Anm. 5), S. 233–238. Johann Gottfried Groß an Gottsched, Erlangen 6. Februar 1754, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. XIX, Bl. 70–71, hier Bl. 70v. Vgl. Ball: Moralische Küsse (s. Anm. 5), S. 17f. Vgl. Phillip M. Mitchell: Gottsched-Bibliographie. Berlin, New York 1987, Nr. 121. Werner Fläschendräger: Rezensenten und Autoren der ›Acta Eruditorum‹ (1682–1731). In: Universitates Studiorum saec. XVIII et XIX. Etudes présentées par la Commission Internationale pour l’histoire des Universités en 1977. Hg. von Aleksander Gieysztor, Maria Koczerska u. a. Warschau 1982, S. 61–80, hier S. 69. Gottsched selbst weist darauf hin; vgl. Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Praktischer Teil), Fortgesetzte Nachricht von des Verfassers eignen Schriften, bis zum 1745sten Jahre. In: ders: Ausgewählte Werke. Hg. von Phillip M. Mitchell. Bd. V/2. Berlin, New York 1983., S. 18. Vgl. Böning und Moepps: Hamburg. Kommentierte Bibliographie der Zeitungen (s. Anm. 77), Sp. 220. Vgl. Uwe R. Klinger: Gottsched und die Belustigungen des Verstandes und des Witzes. In: Lessing Yearbook 3 (1971), S. 214–225, hier S. 218f. Mitchell: Gottsched-Bibliographie (s. Anm. 86), Nr. 363. Vgl. Theodor Süpfle: Geschichte des deutschen Kultureinflusses auf Frankreich. Bd. 1. Gotha 1886. ND Genf 1971, S. 133. Von den Königsbergischen Frag- und Anzeigungsnachrichten gibt es nach gegenwärtigem Erkenntnisstand nur einige wenige Jahrgänge über verschiedene Bibliotheken verstreut. In den Hamburgischen Berichten von neuesten Gelehrten Sachen erfolgen regelmäßig Hinweise auf die Aufsätze im Königsberger Intelligenzblatt, zu den genannten Texten Gottscheds vgl. 1749, S. 386; 1750, S. 408. Pfarrerbuch der Kirchenprovinz Sachsen. Bd. 3. Leipzig 2005, S. 334.

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den bisherigen genealogischen und familiengeschichtlichen Werken zu den Gottscheds keine Spur zu finden ist.

2.3. Fremde Zeitschriften als Podium Gottscheds: Leserzuschriften, Richtigstellungen, Einflußnahmen Dass Gottsched ausreichend Publikationsmöglichkeiten inner- und außerhalb Leipzigs zu Gebote standen, wurde bislang hinreichend deutlich. Er konnte auf Wunsch Nachrichten in verschiedene Gelehrtenzeitungen lancieren, wandte sich indes nicht nur als Vermittler fremder Interessen an auswärtige Medien, sondern bediente sich ihrer auch zu ganz unterschiedlichen Zwecken in eigener Sache. So wurde er aktiv, wenn er Sachverhalte richtigstellen zu müssen glaubte. Das signifikanteste Beispiel hierfür ist sicherlich die Reaktion auf die Behauptung der Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen, er sei der Verfasser des Neologischen Wörterbuches, das von Christoph Otto von Schönaich verfasst worden und anonym erschienen war.94 Gottsched wies die Unterstellung in einer Annonce der Leipziger Neuen Zeitungen umgehend zurück.95 Bereits zwei Jahrzehnte zuvor hatte sich Gottsched gegen die Unterstellung der Autorschaft an einer in den Critischen Beyträgen erschienenen Rezension verwahrt, die mit einem Buch Christian August Heumanns ins Gericht gegangen war. In den Hamburgischen Berichten von gelehrten Sachen vom 9. April 1734 beklagte sich Heumann über die Rezension und über Gottsched als vermeintlichen Verfasser. Da er zuvor Übersetzungen Gottscheds aus dem Lateinischen bemängelt hatte, sah er in der Rezension einen Racheakt Gottscheds. Gottsched hatte in diesem Fall leichtes Spiel. Die Beyträge waren von Anfang an als Projekt mehrerer Autoren ausgewiesen, und Wolf Balthasar Adolph von Steinwehr hatte sich obendrein durch seine Initialen als Autor zu erkennen gegeben. Dass Heumann dies ignoriert und sich auf Gottsched kapriziert hatte, verwies auf eine affektive Störung seines Urteilsvermögens. Indem Gottsched darauf hinwies, dass ihm Heumanns Beurteilung seiner Übersetzung bislang überhaupt nicht zu Ohren gekommen war, bezichtigte er Heumann indirekt der Selbstüberschätzung, verzichtete allerdings nicht auf die Drohung, sich deutsche Veröffentlichungen Heumanns vorzunehmen, falls dieser weiter an seinen Übersetzungen mäkeln sollte.96 Gottsched sandte seine Replik an Joachim Friedrich Liscow, den Redakteur des Hamburgischen Correspondenten. Der hielt eine Veröffentlichung in den Hamburgischen Berichten wegen freundschaftlicher Verbindungen des Herausgebers zu Heumann für aussichtslos. Für den Correspondenten, der für Wissenschaftsbelange nur eine Seite zur Verfügung hatte, war sie zu lang, der Text erschien in den Nieder=Sächsische Nachrichten 94 95

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Göttingische Anzeigen von Gelehrten Sachen 1754 (Nr. 133 vom 7. November 1754), S. 1162–1166. Neue Zeitungen 1754 (Nr. 94 vom 25. November), S. 838–840; Gottscheds Distanzierung vom satirischen Ton der Ästhetik ist nachgedruckt in: Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen 1754 (Nr. 146 vom 7. Dezember), S. 1291f. Im übrigen wird hier so argumentiert, als habe Gottsched überreagiert und die Ausführungen über die Autorschaft zu Unrecht auf sich bezogen, wo doch zweifelsfrei genau dies suggeriert werden sollte. Vgl. die Angaben in Gottsched: Briefwechsel 2 (s. Anm. 1), S. 499f., Erl. 14; vgl. auch Thomas Habel: Gelehrte Journale und Zeitungen der Aufklärung. Bremen 2007, S. 148f. Habel behandelt den Vorfall im Kontext der Probleme, die sich aus der Anonymität von Rezensionen ergeben.

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Von Gelehrten neuen Sachen,97 ebenfalls ein Hamburger Presseerzeugnis. Dieser Veröffentlichungsweg illustriert im Kleinen, dass hinter den auf den ersten Blick neutral wirkenden frühen Gelehrtenzeitungen persönliche und interessenpolitische Konvergenzen und Differenzen eine erhebliche Rolle gespielt haben. Gottsched konnte allerdings auswärtige Zeitschriften auch beanspruchen, ohne als Urheber einer Mitteilung in Erscheinung treten zu wollen. Im Herbst 1756 hatte Christian August Crusius, Gegner der Philosophie Christian Wolffs und Leipziger Professor der Theologie, in einem Einladungsprogramm zum Promotionsakt in der theologischen Fakultät die Aussage, dass der Tod keine Folge der Sünde, sondern ein natürliches Phänomen sei, als Relikt des Heidentums bezeichnet.98 Gottsched bezog Crusius’ Äußerung auf einen kurz zuvor von ihm veröffentlichten Text und nutzte seinerseits einen akademischen Routinevorgang zu einer Entgegnung.99 In beiden Veröffentlichungen wurden keine Namen genannt, aber das Leipziger Publikum wußte offenbar Bescheid. Auch Hans Gotthelf von Globig, Präsident des kursächsischen Oberkonsistoriums, Zentralbehörde für Wissenschaftsangelegenheiten, war im Bilde, Gottsched hatte ihm sein Programm zugeschickt. Allerdings hatte er sich statt der erwarteten Zustimmung einen Rüffel eingehandelt, was Gottsched um so unwillkommener seine musste, als er sich sonst der Sympathie Globigs erfreuen konnte, der während seiner Studienzeit einer Rednergesellschaft Gottscheds angehört hatte und inzwischen Mitglied der ›Gesellschaft der freyen Künste‹ geworden war. Der Oberkonsistorialpräsident nahm Anstoß am Mißbrauch der »Amtshalber edirten Schrifften, alß welche zur Erbauung der gelehrten Welt und nicht sowohl zu Streitigkeiten unter einheimischen Academischen Gliedern dienen sollen«. Er sah darin ein universitätsschädigendes Verhalten und fuhr fort: »Schon ein paar mahl habe ich bemerckt, daß Ew: Magnificenz in solchen piecen gegen Ihre Mitbürger zu Felde gezogen sind«.100 Da Gottsched kein Interesse an einer Brüskierung des Präsidenten hatte, wurde der innerakademische Disput beendet. Aus dem gleichen Grund hütete sich Gottsched davor, seine eigene Zeitschrift als Austragungsort des Disputs zu nutzen. Gleichwohl war ihm an der sachlichen Rechtfertigung gelegen, und so sorgte er dafür, dass die Auseinandersetzung durch andere Kanäle im Raum einer größeren Öffentlichkeit wahrgenommen werden konnte. Er wandte sich an den Erlanger Magister Johann Georg Hofmann, schickte ihm, wie aus Hofmanns Antwortbrief hervorgeht, die einschlägigen Texte und hat sehr wahrscheinlich seine Sicht der Dinge noch einmal bekräftigt. Am 30. April 1757 konnte Hofmann die jüngste Ausgabe der von ihm verfassten Erlangischen gelehrten Anmerkungen senden. Sie enthielten einen ausführlichen zu Gottscheds Gunsten ausfallenden Bericht über die Leipziger Auseinandersetzungen.101 Schon am 5. Januar 1757 hatte Gottsched Abraham Gotthelf Kästner von den Vorgängen informiert und gleichzeitig auf die grundsätzliche Dimension seiner Differenz mit Crusius 97 98 99 100 101

Vgl. die Angaben in Gottsched: Briefwechsel 3 (s. Anm. 1), S. 101. Christian August Crusius: Ad Promotionis Doctoralis Quatuor SS. Theologiae Licentiatorum Solennia D. XXI. Octobr. A. N. C. MDCCLVI In Templo Academico Invitat. Leipzig 1756. Johann Christoph Gottsched: Genuinam Gentilismi Notionem Sistit, Et Ad Solemnem Primae Laureae Philosophicae Collationem [...] D. XXII. Decembr. A. MDCCLVI. [...] Invitat. Leipzig 1756. Hans Gotthelf von Globig an Gottsched, Dresden 24. Dezember 1756, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. XXI, Bl. 605–606, hier Bl. 695r–v. Johann Georg Hofmann an Gottsched, Erlangen 30. April 1757, Tartu, UB, Mrg. CCCLIVa, Ep. phil. III, Bl. 179–180; Rezension in: Compendium historiae litterariae novissimae Oder Erlangische gelehrte Anmerkungen und Nachrichten 12 (1757, Nr. 17 vom 26. April 1757), S. 145–156.

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verwiesen.102 Er konnte dabei auf Kästners Kenntnis der Dinge zählen, denn Kästner hatte erst einige Monate zuvor die Leipziger Universität verlassen, um eine ordentliche Professur der Mathematik in Göttingen anzutreten. Gottsched mag gehofft haben, durch seinen Bericht Kästner zu einer vorteilhaften Darstellung in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen zu stimulieren. Formuliert hat er diese Hoffnung nicht, nach den unten darzustellenden jahrelangen Querelen mit den Göttingern wäre dieses Ansinnen deplaziert gewesen. Kästner sah in seiner Antwort vom 6. Februar von einer Stellungnahme ab, aus einer beiläufigen Bemerkung ist zu erkennen, dass sich Johann David Michaelis mit dem Streit beschäftigte.103 Er dürfte der Autor der Rezension gewesen sein, in der die Göttingischen Gelehrten Anzeigen am 10. Februar in einer detaillierten, ausgewogenen und im Unterschied zur Erlanger Zeitung eine einseitige Parteinahme vermeidenden Diktion von den unterschiedlichen Auffassungen berichteten. Ein weiteres Beispiel dokumentiert Gottscheds Bemühung um ein Maximum an Publizität. Gottsched war im Oktober 1757 in Leipzig zum preußischen König Friedrich II. zitiert worden, inmitten kriegerischer Unternehmungen nahm sich Friedrich Zeit für Gespräche literarischen Inhalts, in denen sich Gottsched Friedrichs Vorurteilen gegen die deutsche Sprache entgegenstellen konnte. Preußische Truppen hatten im Sommer 1756 Sachsen besetzt, Leipzig wurde von den Besatzern finanziell gnadenlos ausgepreßt, das Ansehen Friedrichs war gleichwohl unter den tonangebenden preußischen Intellektuellen unvermindert, und so war die Unterredung für Gottsched auch eine gute Gelegenheit, seine eigene Person in ein vorteilhaftes Licht zu rücken. Er setzte von dieser Unterredung zunächst zahlreiche Korrespondenten in Kenntnis und veröffentlichte einen Bericht in seiner eigenen Zeitschrift.104 Darüber hinaus nahm er seinen Bekanntenkreis für die weitere Berichterstattung in Anspruch, so den Nürnberger Notar und Naturwissenschaftler Martin Frobenius Ledermüller,105 der ihm bald darauf berichten konnte, dass der Bericht in die »hiesige und Erlanger franz. Zeitung durch meine Hand gekommen« ist. »So viel ich weiß, ist dieser Articul auch hernach auf meine Recommendation in 102

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»Mein neuliches Programma hat mich gegen einen Crusischen Vorwurf des Heydenthums rechtfertigen sollen, den er mir in dem Programmate zur Doctor Promotion, wiewohl tecto nomine gemachet hatte. Ich habe ihn also auch nicht genennet, wiewohl hier ein jeder mit Fingern auf ihn weist. Der gute Mann wäre gern der Leipziger Pabst, zumal, da er itzo der Prof. Primariæ Theologiæ so nahe ist; [...] Ich könnte ihm noch mit bessern Gründen zeigen, daß er selbst ein heyd ist; da er so abergläubisch ist, als die heyden gewesen, Gespenster und Prophezeihungen u. d. m. glaubet. [...] Wo das so fortgeht, so wird der Mann der deutsche Jurieu werden. Er mag sich aber in acht nehmen, daß ich nicht sein Bäyle werde.« Gottsched an Abraham Gotthelf Kästner, Leipzig 5. Januar 1757, Leipzig, UB, Sammlung Kestner, II A IV, 622. Im Kontext mehrerer Bemerkungen über Michaelis, aus denen man auch erfährt: »Er ist H. Dr. Cr[usius] nicht sehr gewogen, worüber ich mich sehr freue«, schreibt Kästner: »Er wollte die neue Ausgabe von der Philosophie gern sehen um die crusischen Vorwürfe zu beurtheilen, u. ich habe sie ihm hier von einem Studenten verschafft.« Abraham Gotthelf Kästner an Gottsched, Göttingen 6. Februar 1757, Tartu, UB, Mrg CCLXXXI, Bl. 19r–v. Wie erwähnt (Crusius: Ad Promotionis Doctoralis Quatuor SS. Theologiae Licentiatorum Solennia [s. Anm. 98], S. 98) war ein Passus aus der 6. Auflage von Gottscheds Weltweisheit der Anlass für Crusius’ Vorwürfe. Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 1758, S. 122–138 und 141–152. »Könnten E. H. durch Dero Freunde in Erlangen oder Bayreuth eine Nachricht in die dasigen Zeitungen befördern: so würden sie sich um die Ehre dieses großen Monarchen auf dieser Seite, was nämlich die Deutschen Musen betrifft, nicht wenig verdient machen«. Gottsched an Martin Frobenius Ledermüller, Leipzig, 25. Februar 1758. In: Neues aus der Zopfzeit (s. Anm. 32), S. 75.

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die Baireuther Zeitung gedruckt worden.«106 Die verärgerte Reaktion über die »Ehre, die Friedrich, der größte Held und witzigste Kopf, dem dummsten Dichter (Gottsched) erwiesen« hat,107 zeigt, dass Gottscheds Rechnung aufgegangen ist. Das Ereignis wurde zur Kenntnis genommen, Gottscheds Freunde jubelten, für seine Verächter war es schwer zu ertragen.

2.4. Austausch auf Augenhöhe: Gottscheds Verbindung zu Zeitschriftenredakteuren Von besonderer Art war die Beziehung zwischen Gottsched und den Herausgebern und Verfassern von Rezensionszeitschriften. Eine genaue Unterscheidung zwischen diesem Personenkreis und den ehemaligen Schülern, die Zeitschriften veröffentlichten und als Journalisten tätig waren, ist sicher nicht möglich. Aber diese traten Gottsched als Neulinge und Bittsteller entgegen, die für ein gerade aus der Taufe gehobenes Blatt um Zustimmung und Unterstützung nachsuchten. Die hier vorzustellenden professionellen Redakteure waren Routiniers, die Gottsched zu nichts verpflichtet waren und im übrigen seine kollegiale Gegenleistung als Rezensent gerne in Anspruch nahmen. Joachim Friedrich Liscow zählt dazu, der als Redakteur des gelehrten Artikels der Stats- und gelehrten Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten Anfang der dreißiger Jahre für eine gute Presse für Gottsched sorgte,108 der Schweidnitzer Pfarrer und Autor Gottfried Balthasar Scharff, seit 1735 Herausgeber der Gelehrten Neuigkeiten Schlesiens,109 Johann Carl Conrad Oelrichs, der Gottsched regelmäßig seine Veröffentlichungen zur Anzeige zusandte und seinerseits als Herausgeber der Berlinischen Bibliothek gelegentlich auf Gottscheds Texte verwies, ebenso Johann Daniel Overbeck, dem Gottsched für die wohlwollende Aufnahme seiner kleinen Sprachkunst in Overbecks Lübecker Zeitung dankte, nicht ohne zugleich eine weitere Veröffentlichung der Aufmerksamkeit Overbecks zu empfehlen und andererseits seine Gegendienste anzubieten.110 Auch der Austausch mit dem Berliner Verleger Ambrosius Haude basierte auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit: 106 107 108 109 110

Ledermüller an Gottsched, Nürnberg 20. März 1758, Tartu, UB, Best. 3, Mrg CCCLIVb, Ep. erud. cel., Bl. 193. Johann Georg Sulzer an Gleim, 6. Dezember 1757. In: Friedrich der Große im Spiegel seiner Zeit. Hg. von Gustav Berthold Volz. Bd. 2. Berlin 1901, S. 119. Vgl. Gottsched: Briefwechsel 2 (s. Anm. 1), Nr. 206 und 235; ders.: Briefwechsel 3 (s. Anm. 1), Nr. 27, 42 und 130. Vgl. Gottsched: Briefwechsel 3 (s. Anm. 1), Nr. 157 und 194. »Eine so gütige Aufnahme meiner kleinen Sprachkunst, als selbige bey Er. Hochedelen gefunden habe ich derselben niemals zu weissagen das Herz gehabt. [...] Das gütige Urtheil so dieselben in der Lübekischen gedruckten Nachricht davon gefället, verbindet mich zu allen Gegendiensten. [...] Wie stolz würde ich nicht werden; wenn auch meine Erläuterungen des Batteux bey E. H. ein geneigtes Urtheil finden möchten! Die einreißende Verderbniß des Geschmackes hat mir bisweilen harte Worte abgenöthiget«. Gottsched an Johann Daniel Overbeck, Leipzig 24. Mai 1754, Tartu, UB, Best. Mrg CCCLIVa, Ep. phil. Bd. II, Bl. 139–140, hier Bl. 139r–v. Im nächsten Brief stellt sich Gottsched erneut mit einem Rezensionswunsch ein: »Euer Hochedelgeb. haben vor einem Jahre meinen Kern der Sprachkunst so gütig aufgenommen, daß ich mirs für eine Schuldigkeit halte denenselben auch meine Vorübungen der Beredsamkeit zuzustellen. Haben sie gleich an der Elbe ein ungünstiges

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Ew: Magnificenz bin ich vor die gütige recension meiner Autorum sehr verbunden. Der Curtius und Corn: Nepos; so nächstens an das Licht treten werden, sollen wie ich hoffe, gleichen Beyfall verdienen. Herr Krausen111 habe ich den überschickten Teil des Bücher Saals zugestellt und ich hoffe die recension wird Dero Sinne gemäß seyn.112

Als Verleger war Haude an der Werbung für seine Verlagsartikel interessiert, als Herausgeber der Berlinischen Nachrichten von Staats- und Gelehrten Sachen war er selbst eine Medienmacht. Gleichrangigkeit zeichnet insbesondere das Verhältnis zu mehreren hugenottischen Zeitschriftenredakteuren aus. Die Herausgeber von Zeitschriften in französischer Sprache verfolgten das Ziel, ihr Publikum mit den Werken deutscher Autoren bekannt zu machen und eine Verbindung zur Kultur der neuen Heimat herzustellen. Durch die Superiorität, die den Produkten und Vertretern der französischen Sprache im deutschen Sprachraum noch immer zuerkannt wurde, versprach die Würdigung in diesen Zeitschriften Reputationsgewinn. Auch Gottsched, so sehr er die hegemoniale Geltung des Französischen im deutschen Kulturraum beklagte und konterkarieren wollte, war für die Aufmerksamkeit im französischen Sprachraum empfänglich.113 Wissenschaftliche Projekte französischer Zeitgenossen unterstützte er bei Bedarf,114 mit

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Urtheil erfahren müssen; so hoffe ich doch an der Trave ein weit billigers zu finden.« Gottsched an Johann Daniel Overbeck, Leipzig 3. Oktober 1754 Tartu, UB, Best. Mrg CCCLIVa, Ep. phil. Bd. II, Bl. 142, hier Bl. 142r. Die Rezensionen wurden in der von 1752 bis 1792 erscheinenden Zeitschrift Der Lübeckischen Fama zuverlässige Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen gedruckt, die nach gegenwärtigem Kenntnisstand »bis auf wenige Nummern verschollen« ist. Franklin Kopitzsch: Das 18. Jahrhundert: Vielseitigkeit und Leben. In: Lübeckische Geschichte. Hg. von Antjekathrin Graßmann. 4. Aufl. Lübeck 2008, S. 501–527, hier S. 523. Über Johann Victor Krause vgl. Gottsched: Briefwechsel 2 (s. Anm. 1), S. 606. Ambrosius Haude an Gottsched, Berlin 8. September 1746, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. XI, Bl. 282-283, hier Bl. 282r. Er hoffe, schreibt Gottsched später an Jean Henri Samuel Formey, »Monsieur Haude aussi sera content [...] de l’annonciation de son edition de Quinte Curce.« Gottsched an Formey, Leipzig 5. Februar 1747, Kraków, Biblioteka Jagiellonska, Sammlung Varnhagen, Gottsched. Bei gleicher Gelegenheit legte er das neueste Stück des Büchersaals mit der Bitte um ein Anzeige bei, »pour faire savoir à ses Lecteurs, qu’il se continüe toujours«. Dem Wunsch wurde sofort entsprochen: »Leipzig. Von dem beliebten neuen Bücher=Saale der schönen Wissenschaften, und freyen Künste, welcher noch beständig fortgesetzt wird, und immer mehreren Beyfall erhält, ist nun schon des IVten Bandes erstes Stück an das Licht getreten. Die gute Wahl der Sachen; die richtigen und deutlichen Auszüge aus den vorkommenden Büchern; die Schreibart; die Unpartheylichkeit, und die angenehme Abwechselung des Muntern mit dem Ernsthaften, geben dieser Monaths=Schrift keinen geringen Werth.« Berlinische Nachrichten von Staats= und Gelehrten Sachen 1747 (Nr. 23 vom 23 Februar), [S. 4]. Gottsched hat beispielsweise Fontenelles anerkennende Bemerkungen über die ›Deutsche Gesellschaft‹ ohne Verzug der Öffentlichkeit zugänglich gemacht; vgl. Gottsched: Briefwechsel 1 (s. Anm. 1), Nr. 58; seinem Korrespondenten Johann Nathanael Reichel schickte er das Journal des Savans zu (dies geht aus Reichels Brief vom 17. Februar 1756 hervor, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. XXI, Bl. 153–154), um ihn auf eine Anzeige aufmerksam zu machen, in der die neuere deutsche Literatur in grundsätzlicher Weise gewürdigt und das Vorurteil verabschiedet wird, das den Deutschen »injustement tous les trésors du génie & toutes les graces du bel esprit« abspricht. Gottscheds Verdienste als Dichter werden ebenso erwähnt wie seine theoretischen Werke: »M. Gottsched a donné deux excellens traités sur l’éloquence & sur la Poesie Allemande. L’Allemagne a aussi une Dacier dans Madame Gottsched«. Journal des Sçavans 1755, S. 179–186, Zitate S. 180 und 183. Ins Prinzipielle gewendet notierte Gottsched: »Denn da die Teutschen selten ihren eignen Landsleuten etwas zutrauen, sondern immer mehr auf ausländische Sachen halten; so gilt auch ein Urtheil in einer französischen Monatschrift immer mehr, als wenn zehn teutsche Zeitungen oder andere periodische Schriften rühmliche Auszüge von

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den Leipziger Hugenotten, insbesondere mit dem französisch-reformierten Pfarrer Pierre Coste stand er auf gutem Fuß. Coste konnte deswegen 1721 das Leipziger Pfarramt übernehmen, weil die erste Wahl, Paul-Emile de Mauclerc, vom preußischen König Friedrich Wilhelm I. nicht für den Dienst in Sachsen freigegeben wurde, 1721 erhielt Mauclerc eine Stelle im preußischen Stettin.115 Zugleich gehörte er neben anderen namhaften Hugenotten von Anbeginn an zum Herausgeberkreis der vielleicht bedeutendsten französischsprachigen Zeitschrift im Deutschland des 2. Viertels des 18. Jahrhunderts, der Bibliotheque Germanique.116 Mauclerc scheint der erste hugenottische Publizist gewesen zu sein, der Gottsched direkt kontaktiert hat. Allerdings geschah dies erst 1740 und damit zu einem Zeitpunkt, als fast alle großen Werke Gottscheds erschienen waren und die Bibliotheque Germanique selbst ihrem Ende entgegen sah. Mauclerc setzte Gottsched davon in Kenntnis, dass in der Bibliotheque Germanique ein Auszug aus L. A. V. Gottscheds Triumph der Weltweisheit erschienen war117 und bat darum, ihn mit weiteren Gottschedschen Veröffentlichungen bekannt zu machen, »j’aurai Soin qu’on en fasse mention dans nôtre Journal, le plus promtement qu’il sera possible«.118 Gottsched scheint schnell reagiert und die Critischen Beyträge für eine Anzeige empfohlen zu haben. Mauclerc kannte die Beyträge nur flüchtig, er bat Gottsched um eindeutige Angaben.119 Die Bibliotheque Germanique endete 1741 mit dem 50. Band, eine Anzeige der Beyträge ist in den Bänden nicht enthalten. Was Gottsched angeht, erfolgte nur ein knapper Hinweis auf seine Rede zum Buchdruckerjubiläum.120 Gottsched hatte unterdessen einen Band der Deutschen Schaubühne nach Stettin geschickt. Von der insgesamt sechs Bände umfassenden Sammlung von Theaterstücken erschien zuerst Band zwei. Mauclerc stellte gegenüber Gottsched eine Anzeige im Journal littéraire, der Fortsetzung der Bibliotheque Germanique,121 in Aussicht, wollte aber zunächst noch den ersten Band der Schaubühne

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einem Buche geben.« Gottsched an Wächtler, Leipzig 19. September 1755, In: Drei Briefe von Rabner, Cronegk, und Gottsched an Wächtler (s. Anm. 56), S. 87. Vgl. Gottsched: Briefwechsel 1 (s. Anm. 1), Nr. 53. Vgl. über ihn Beyträge zu den Actis Historico-Ecclesiasticis. 1. Teil. Weimar 1746, S. 71–78 und Werner Hartkopf: Die Berliner Akademie der Wissenschaften. Ihre Mitglieder und Preisträger 1700–1990. Berlin 1992, S. 233. Über das Verhältnis Mauclercs zu Formey vgl. Sandra Pott: Reformierte Morallehren und deutsche Literatur von Jean Barbeyrac bis Christoph Martin Wieland. Tübingen 2002, S. 132; zur Bibliotheque Germanique und den Folgejournalen vgl. Jens Häseler: Zwischen Gelehrsamkeit und Aufklärung. Umbrüche der französischen Zeitschriftenlandschaft in der Mitte des 18. Jahrhunderts. In: Die Konstituierung eines Kultur- und Kommunikationsraumes Europa im Wandel der Medienlandschaft des 18. Jahrhunderts. Hg. von Siegfried Jüttner. Frankfurt a. M. 2008, S. 41–53. Bibliotheque Germanique 48 (1740), S. 163–183. Der Auszug stammte von Formey; vgl. Ernst Christoph Graf von Manteuffel an Luise Adelgunde Victorie Gottsched, Berlin 31. August 1740, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. VIa, Bl. 301–302, hier Bl. 301r. Paul Emile de Mauclerc an Gottsched, Stettin 12. August 1740, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. VIa, Bl. 275–276, hier Bl. 276r. »Ayès la bonté, Monsieur, de m’indiquer le titre de Votre Journal Critique. Seroitce Critische historie der Teutschen Sprache? Ajoutés y les endroits dont Vous trouveries à propos que l’on fit mention dans la Bibl. Germ. Je nai pas le Livre; mais je le trouverai bien chez quelque Ami.« Paul Emile de Mauclerc an Gottsched, Stettin 27. Januar 1741, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. VIb, Bl. 20–21, hier Bl. 20v-21r. Bibliotheque Germanique 50 (1741), S. 207. Der Bezug kommt im Titel zum Ausdruck: Journal litteraire d’Allemagne, de Suisse et du Nord. [...] Ouvrage qui peut aussi servir de Suite à la Bibliothèque Germanique. La Haye 1741–1743. Auch im Vorwort zum 1.

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abwarten. Als Mauclerc den Band erhielt, konnte er nur die Langsamkeit des Verlegers beklagen und darauf hinweisen, dass sich bei ihm das Material für zwei bis drei Zeitschriftenbände angestaut habe. Zur Anzeige der Gottschediana ist es nicht gekommen. Mauclerc starb 1742 im 45. Lebensjahr. Die Korrespondenz wurde nahtlos fortgesetzt von Jacques Pérard, auch er Stettiner Pfarrer und Mitherausgeber des Journal littéraire.122 Er unterrichtete Gottsched von Mauclercs Tod, durch den er sich mit Arbeit überhäuft und bislang außerstande gesehen habe, einen Auszug der Schaubühne anzufertigen.123 Möglicherweise war schon dadurch das Verhältnis Gottsched-Pérard mit einer Hypothek belastet, die nie gänzlich abgetragen wurde. Pérard erbat zwar von Gottsched und seinem Leipziger Bekanntenkreis gelehrte Nachrichten, aber die Klagen über den Verleger weisen zugleich darauf hin, dass das Journal nicht recht in Schwung kam, 1743 endete das Unternehmen. Als L. A. V. Gottsched im Vorwort ihrer Übersetzung von Alexander Popes Lockenraub mit Bezug auf das Erstaunen des Journals über frankreichkritische Bemerkungen von ihrer Seite hämische Bemerkungen über die Mediokrität der gegenwärtigen französischen Intellektuellen vortrug, dem Journal die Festschreibung des nach ihrer Auffassung nicht mehr gültigen kulturellen Gefälles Frankreich-Deutschland anlastete und dabei auch den Gaststatus der Hugenotten berührte,124 reagierte Pérard mit betonter Gelassenheit.125 Als aber seine Bitte abgewiesen wurde, ein »avertissement« – Pérard hat darin um die Zusendung von Auktionskatalogen gebeten – in einer Leipziger Zeitschrift zu veröffentlichen,126 zeigt seine Reaktion einen gewissen Unmut.127 Gottsched scheint die Verweigerung mit der verhaltenen

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Teil wird er bekräftigt: »Des raisons indifférentes au Public nous ont engagé au changement exprimé dans le titre de ce Journal. Ce titre est presque tout ce qu’il aura de nouveau. Nous nous conferons au plan de la Bibliothèque Germanique«. Vgl. Jean Sgard: Dictionnaire des Journalistes (1600–1789). Grenoble 1976, S. 299. Als Gottsched Widersprüche in Aussagen Formeys und Pérards über die Zuständigkeit beklagte, gab Formey zu Protokoll: »Par rapport au Journal d’Allemagne, je vais vous lever la contradiction apparente qu’il y a entre Mr Perard & moi. Par [?] la mort de Mr de Mauclerc le Journal etoit echu à moi seule, et m’appartenoit en propre. C’est ce que j’eus l’honneur de vous mander. Mais les lenteurs de Beauregard, dont je vous parlois tout à l’heure m’ont tellement degouté, que j’ai offert la direction & la propriété du Journal a Mr Perard qui l’a acceptée. Je ne laisserai pas de continuer à fournir la moitié de chaque Volume.« Formey an Gottsched, Berlin 5. Juli 1743, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. VIII, Bl. 159–160, hier Bl. 159v. Jacques Pérard an Gottsched, Stettin 14. September 1742, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. VII, Bl. 307-308. Vgl. Herrn Alexander Popens Lockenraub, ein scherzhaftes Heldengedicht. Aus dem Englischen in deutsche Verse übersetzet, von Luisen Adelgunden Victorien Gottschedinn. Leipzig 1744, S. b2r–[b4r]. Nach einem Besuch der Gottscheds in Stettin übermittelt Pérard Grüße seiner Frau an Gottscheds Frau und fährt fort: »pour moi, quand même je serois l’auteur de la note qui l’a mise un peu de mauvaise humeur, je n’en suis pas moins dévoué à tout ce qui lui est cher. Les petites disputes litteraires [...] ne doivent jamais passer jusqu’au Coeur«. Pérard an Gottsched, Stettin 12. Oktober 1744, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. IX, Bl. 216–217, 217v. Zuvor hatte Pérard geschrieben: »[...] j’ai lu avec plaisir sa derniere traduction de Pope aussi bien que la preface vive mais polie & honnète contre le Journal Littéraire. L’auteur de la Note est un des amis et admirateurs de Mad.e Gottsched«. Pérard an Gottsched, Stettin 22. August 1744, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. IX, Bl. 187–188, hier Bl. 188r. »J’implore vôtre credit pour faire insérer dans vôtre Gazette Littéraire le présent avertissement ou quelque chose d’aprochant, c’est pour satisfaire ma Bibliomanie et celle de quelques amis«. Jacques Pérard an Gottsched, Stettin 27. Juli 1746, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. XI, Bl. 247–248, hier Bl. 248r. »J’ai été surpris de la repugnance que Mr. Menke a marqué d’inserer dans sa Gazette le petit avertissement que je lui avoit fait présenter. On devroit ce me semble être plus serviable entre gens de lettres,

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Anteilnahme von Pérards Journal – 1746 war die Nouvelle Bibliotheque Germanique unter Pérards Federführung begründet worden – an Leipziger Angelegenheiten begründet zu haben, denn Pérard widersprach: »Mon Journal fera certainement mention des divers Morceaux que vous avez eu la bonté de me communiquer.«128 Zu einer gegenseitigen Vertrauensbildung hat auch diese Zusicherung nicht beigetragen. Auf Pérards Bitte, seine Bemühungen um die Wiederbelebung der ›Deutschen Gesellschaft‹ in Greifwald in den gelehrten Neuigkeiten des Büchersaals bekannt zu geben,129 reagierte Gottsched anders als gewünscht. Zunächst erfolgte überhaupt keine Mitteilung, was mit dem Abschluß des Büchersaals Ende 1750 zu tun haben könnte.130 Erst in einem anderen Kontext, bei der Besprechung eines Textes von Kardinal Angelus Maria Quirini im Neuesten aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, kam er darauf zurück. Quirini, Korrespondent Pérards, hatte in seinen Ausführungen Pérards Verdienste um die »Académie de Greifswald« gewürdigt. Gottsched stellte zunächst klar, dass allenfalls die Greifswalder ›Deutsche Gesellschaft‹ gemeint sein könne und hatte auch für die vermeintlichen Verdienste Pérards um deren Wiederbelebung nur ironische Bemerkungen übrig.131 Zu diesem Zeitpunkt unterstand die Nouvelle Bibliotheque Germanique nicht mehr der Leitung Pérards. Er hatte sie in die Hände Jean Henri Samuel Formeys übergeben, der Mitbegründer der Zeitschrift war und einer der aktivsten hugenottischen Zeitschriftenautoren überhaupt.132 Zugleich war Formey derjenige Publizist, mit dem Gottsched eine umfangreiche und dauerhafte, wenn auch nicht ununterbrochene Korrespondenz unterhielt.

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je l’en dispense à présent, car je suis assez connu et les Catalogues me pleurent de touts cotes; j’attens de son équité qu’il me dispensera pareillement de la reconnoissance que j’aurois eu pour sa politesse. Quant à vôtre ouvrage périodique, je le respecte trop pour avoir osé y prétendre une petite place pour un pareil avis qui apartient proprement à une Gazette«. Pérard an Gottsched, Stettin 24. Juli 1747, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. XII, Bl. 227–228, hier Bl. 228r. Pérard an Gottsched, Stettin, 10. Mai 1748, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. XIII, Bl. 178–179, hier Bl. 178r. Pérard berichtet von seinem Aufenthalt in Greifswald, »où j’ai eu le bonheur de reveiller la Societé Royale Allemande de l’espéce de lethargie où elle etoit plongée depuis plus de cinq ans«. Er schickt Gottsched seine entsprechenden Empfehlungen und fährt fort, »vous pourriez en dire deux mots dans les Nouvelles Littéraires qui sont à la fin de vôtre intéressant Büchersaal«. Pérard an Gottsched, Stettin 1. Oktober 1750, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. XV, Bl. 400–401, 400v; vgl. Detlef Döring: Gelehrte Gesellschaften in Pommern im Zeitalter der Aufklärung. In: Die Universität Greifswald in der Bildungslandschaft des Ostseeraums. Hg. von Dirk Alvermann, Nils Jörn u. a. Berlin 2007, S. 123–153, hier S. 139f. Die Leipziger Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen vom 11. Januar 1751, S. 25f. berichteten über die Veranstaltung wohlwollend und hoben auch Pérards Verdienste hervor. Vgl. Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 1752, S. 16–18. Worauf sich allerdings die Bemerkung bezieht, dass sich Pérard schon am 13. September 1751 in einem Brief an Qurini »gegen die ungerechtfertigten Angriffe der Leipziger – er allein habe die Erweiterung der Greifswalder deutschen Gesellschaft durchgesetzt und wolle dadurch glänzen – verteidigt«, muss erst noch ermittelt werden; vgl. Richard Schultz: Die Königlich Deutsche Gesellschaft zu Greifswald. Greifswald 1914, S. 52. »J’ai remis entiérement à Mr le Professeur Formey le plus laborieux des humains la Nouvelle Bibl. Germ. avec tous ses agrémens, j’ai eu des bonnes raisons pour renoncer à la profession de Journaliste et la delicatesse de ma santé m’oblige à retrancher le plus qu’il m’est possible, mes occupations«. Pérard an Gottsched, Stettin 2. März 1750, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. XV, Bl. 98–99, hier Bl. 99r. Zum Journalisten Formey vgl. Annett Volmer: Journalismus und Aufklärung. Jean Henry Samuel Formey und die Entwicklung der Zeitschrift zum Medium der Kritik. In: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 9 (2007), S. 101– 129.

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Gottsched war über Formey bereits vor ihrer Kontaktaufnahme im Bilde, Ernst Christoph von Manteuffel hatte ihm berichtet. Formey gehörte wie Gottsched der von Manteuffel begründeten ›Gesellschaft der Alethophilen‹ an,133 beide verband die intellektuelle Verpflichtung auf die Leibniz-Wolffsche Philosophie. In ihrem Zeichen stand auch Gottscheds publizistisches Engagement für Formeys anonym veröffentlichte Recherches sur les elemens de la matiere bzw. ihre deutsche Übersetzung unter dem Titel Prüfung der Gedanken eines Ungenannten, von den Elementen der Körper. Die Schrift richtete sich gegen Leonhard Eulers Schrift Gedanken von den Elementen der Körper, die ihrerseits Leibniz’ Idee der Monade bestritt und auf die von der Berliner Akademie 1746 formulierte interessenpolitisch weichenstellende Preisaufgabe zur Prüfung der Monaden Einfluß nehmen sollte.134 Gottsched kündigte Formeys Schrift bereits vor ihrem Erscheinen an – er hatte in den französischen Text beizeiten Einsicht genommen und war an der Übersetzung und Edition des Werks beteiligt – und brachte in seiner ausführlichen Anzeige die Überlegenheit der von Formey unterstützten leibnitianischen metaphysischen Betrachtung der verhandelten Probleme über die verkürzte Sicht der bloßen »Meßkünstler« mit Nachdruck zu Geltung.135 Die Parteinahme dürfte Gottsched nicht schwer gefallen sein, da er durch Lehrtätigkeit und Veröffentlichungen ohnehin als Verfechter leibniz-wolffscher Prinzipien bekannt war. Formey hinwiederum war nicht gleichermaßen an der fundamentalen literaturtheoretischen Auseinandersetzung Gottscheds in den vierziger Jahren, dem Literaturstreit mit den Schweizern, interessiert. Entsprechend zurückhaltend reagierte er auf dessen Erwartungen. Zwar zeigte sich Formey zunächst bereit, eine Verteidigungsschrift zugunsten Gottscheds abdrucken zu lassen. Dass dies nicht zustande kam, ist aber sicher nicht nur auf Formeys Rückzug aus dem Journal littéraire zurückzuführen. Seine Hinweise auf die eigene Praxis der moralphilosophischen Immunisierung gegen die Giftpfeile der Kritik und auf das Urteil der Nachwelt,136 lassen sich als Empfehlung an Gottsched verstehen, von einer Veröffentlichung abzusehen. Ganz ähnlich wie Mauclerc hatte Formey, der ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Werbewirksamkeit seiner Rezensionsorgane besaß,137 zu Beginn des Briefwechsels erklärt: »Vous n’avez qv’à m’adresser aussi la 133

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Zum Verhältnis Formeys zu Manteuffel und zu Gottsched vgl. die Ausführungen von Pott: Reformirte Morallehren und deutsche Literatur von Jean Barbeyrac bis Christoph Martin Wieland (s. Anm. 116), vor allem S. 110–114, 133–140 und 154, Anm. 79. Vgl. die Rekonstruktion von Ideen- und Verlaufsgeschichte bei Johannes Bronisch: Der Mäzen der Aufklärung. Ernst Christoph von Manteuffel und das Netzwerk des Wolffianismus. Berlin, New York 2010, S. 233–305. Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste 3 (1746), S. 358; 4 (1747), S. 52–64. »Je ne saurois Vous témoigner assez vivement ma reconnoissance pour tous les soins que Vous avez bien voulu accorder à mon petit Ouvrage, soit en veillant à sa Traduction, soit en L’annonçant d’une maniere dont je suis principalement redevable à l’amitié dont vous m’honorez.« Formey an Gottsched, Berlin 11. Februar 1747, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. XII, Bl. 78–79, hier Bl. 78r. »Mais il faut appeller la Philosophie Pratique au secours, et laisser á la posterité le soin de décider. Elle est impartiale, & ses jugemens sont les seuls respectables.« Formey an Gottsched, Berlin 25. April 1743, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. VIII, Bl. 96–97, 97r. »Il y a longtems, Monsieur, que je me suis mis au dessus de la Critique partiale & injuste, et que je la méprise souverainement. Il faut faire son devoir, parler & ecrire en conscience, & laisser agir l’envie & la malignité, dont toutes nos inquietudes ne feroient qu’augmenter l’acharnement.« Formey an Gottsched, Berlin 5. Juli 1743, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. VIII, Bl. 159–160, hier Bl. 160r. »[...] je crois [...] qu’en général les Libraires d’Allemagne devroient etre soigneux de fournir aux Auteurs de la Bibl. Germ. un Exemplaire des Livres qu’ils impriment. C’est un fort petit objet pour eux,

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Piece qui vous interesse pour etre placée dans la Bibliotheque Germanique, j’aurai soin qu’elle y entre le plutôt qu’il sera possible.«138 Sieht man aber den Briefwechsel unter dem Blickwinkel publizistischer Aktivitäten durch, so läßt sich auf seiten Gottscheds ein weitaus stärkeres Engagement beobachten.139 Das bedeutet nicht, wie eine Durchsicht der Zeitschrift hinwiederum zeigt, dass Schriften Gottscheds in der Nouvelle Bibliotheque Germanique überhaupt nicht angezeigt werden.140 Aber von einer auch nur annähernd vollständigen Dokumentation der literarischen Produkte Gottscheds kann nicht die Rede sein. Auf direkte Bitten konnte Formey indes sofort reagieren, Gottscheds Aufnahme in Akademie von Bologna wird wunschgemäß in den Berlinischen Nachrichten bekanntgegeben.141 Gottsched Bitte hingegen, den Bericht über seine Wienreise, d. h. über den Empfang bei der Kaiserin Maria Theresia und damit eine der schönsten Würdigungen, die dem Ehepaar Gottsched überhaupt zuteil wurde, publizistisch aufzubereiten, hat Formey, wie es scheint, nicht erfüllt, obwohl dies einem Affront gleichkam, nachdem Gottsched die Zusendung des Berichts als eine Reaktion auf Formeys Anfrage hingestellt und durch die Würdigung der Fähigkeiten Formeys im speziellen und der Macht des Publizisten im allgemeinen eine große Bühne errichtet hatte: E. H. haben eine Veranlaßung zu haben gewünschet etwas von meinen Schriften in Dero Journale zu erwähnen.142 Hier sende ich meine Rede, darinn ich Wien gepriesen habe143, um mich für soviele er-

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et un bon Extrait peut neanmoins augmenter considérablement leur débit.« Formey an Gottsched, Berlin 7. November 1741, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. VI b, Bl. 267–268, hier Bl. 267v. Formey an Gottsched, Berlin 3. November 1742, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. VII, Bl. 367–368, hier Bl. 367v. »J’espere que Vous estes content du court Abstrait de Votre Cour de Philosophie inseré dans mon Journal Je ferai pareillement mention de Votre Methode de dresser une Bibliotheque.« Gottsched an Formey, Leipzig 20. Oktober 1746, Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Slg. Autogr.: Gottsched, Bl. 17–18, 18r. »Wieviel Dank bin ich Eurer Hochedelgebohrnen nicht schuldig, [...] weil Sie mich mit Dero schöner Ausgabe des alten Weltweisen Sallustius zu beschenken geruhet haben [....] In beygehendem Stücke meines Büchersaals habe ich einen kurzen Auszug davon gemacht [Vgl. Büchersaal 6 (1748), S. 350–361]; und hoffe nichts gesagt zu haben, das der guten Aufnahme des Werkes hinderlich fallen wird.« Gottsched an Formey, Leipzig, 6. Mai 1748, Kraków, Biblioteka Jagiellonska, Sammlung Varnhagen, Gottsched; »Dero neue Auflage der Bibliotheque soll im nächsten Stücke meines Büchersaals angekündiget werden; und zwar so wie sie es verdienet.« Gottsched an Formey, Leipzig 6. Mai 1750, Wien, Stadt- und Landesbibliothek, H. I. N. 19.660. Nouvelle Bibliothèque Germanique 1 (1746), S. 428; 2 (1746), S. 432f., S. 457f., 5 (1748), S. 429, 7 (1750), S. 455. In den folgenden Jahren ist Gottsched weitgehend ausgeblendet, sein Beitrag zur 1753 veröffentlichten Berliner Preisfrage zum System des Optimismus – De optimismi macula – wird zwar angezeigt, aber ohne dass er als Autor Erwähnung findet; vgl. 14 (1754), S. 441. »Je ne sai, si l’Academie de Berlin prend quelque Part à la Reception d’un de ses vieux Membres, dans des Academies etrangers. Quoiqu’il en soit, j’ai eu l’honneur d’être aggregé vers la fin de l’année passée dans celle de Bologne; comme Mr. Zanotti me la marqué par une Lettre fort obligeante. Vous m’obligerez beaucoup Monsieur, en faisant annoncer cela au Public, par les Gazettes litteraires de Mr. Haude et Spener«. Gottsched an Formey, Leipzig 15. Februar 1749, Kraków, Biblioteka Jagiellonska, Sammlung Varnhagen, Gottsched. »Berlin. Aus Leipzig vernimt man, daß der dasige berühmte Herr Professor Gottsched von der Academie des Instituti Bononiensis einmüthig zum Mitgliede gedachter Academie ist erwehlet worden, und daß der Herr Zanotti, Secretarius der Academie, dem Herr Professor solches in einem ungemein verbindlichen Schreiben zu wissen gethan hat.« Berlinische Nachrichten von Staats= und Gelehrten Sachen 1749 (Nr. 24 vom 25. Februar). Vgl. Formey an Gottsched, 20. Januar 1750, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. XV, Bl. 28–29, hier Bl. 28v. Mitchell: Gottsched-Bibliographie (s. Anm. 86), Nr. 427.

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wiesene Gnade, gegen den Kaiserl. Hof erkenntlich zu bezeigen. Ich weis daß Dero scharfsinnige Feder schon etwas daraus wird ziehen können, das ihren Lesern angenehm seyn kann. Le Merite d’un Auteur, depend de son Commentateur, ou de son Epitomateur.144

Dabei konnte Formey, wenn eigene Belange im Spiel waren, sehr offensiv verfahren. Als Gottsched ihn um einen Beitrag für die Gedenkschrift auf den verehrten Grafen Manteuffel gebeten hatte, reagierte Formey unverzüglich und bot sich an, für die Bekanntmachung des Drucks zu sorgen: »Je vous prie, Monsieur, de vouloir bien me faire gratifier d’une demi-douzaine d’Exemplair[es,] j’en donnerai aux Auteurs des Journaux & Gazettes Litteraires, afin d’en rèpandre la connoissance.«145 Mit dem Jahr 1750 kam der Briefwechsel ohne ersichtlichen Grund für ein Jahrzehnt zum Erliegen, später engagierte sich Formey noch über Gottscheds Tod hinaus für die Publikation der von ihm ins Französische übersetzten Biographie von Luise Adelgunde Victorie Gottsched.146 Eine ähnliche Konstellation aus gegenseitiger Offenheit, publizistischem Engagement Gottscheds und reservierter Haltung gegen eine Instrumentalisierung durch Gottsched weist, wenn auch in kleinerem Maßstab, das Verhältnis zwischen Gottsched und dem Verleger und Journalisten Elie Luzac auf. Der Kontakt entwickelte sich während der Auseinandersetzung zwischen Samuel König und dem Berliner Akademiepräsidenten Maupertuis.147 Luzac bat Gottsched um die Titel aller den Streit betreffenden »Ecrits, soit Journeaux, soit feuilles volantes, Gazettes &c.«, denn »Personne n’est mieux que Vous, Monsieur, en etat de nous indiquer les ecrits, où il est parlé de cette affaire«.148 Luzac besaß die Entscheidungskompetenz für die Bibliotheque impartial und bot den Austausch von literarischen Neuigkeiten an. »Vous pourriez, Monsieur, me founir celles de votre Paÿs, & en revange je Vous donnerois celles du notre ou qui parviendroient à ma connoissance.«149 Gottsched versorgte ihn mit Berichten und wollte seinerseits den neuen Kontakt für einen Positionsgewinn im Literaturstreit nutzen. Er sandte einen vermutlich von ihm selbst angefertigten französischen Auszug aus Christoph Otto Freiherr von Schönaichs Epos Hermann, das Gottsched gegen Klopstocks Messias zum nationalen Epos stilisieren wollte; darüber hinaus konfrontierte er Luzac mit dem Vorschlag, eine französische Übersetzung des umfangreichen Werks zu vermitteln. Da er bei gleicher Gelegenheit eine 144 145 146 147

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Gottsched an Jean Henri Samuel Formey, Leipzig 6. Mai 1750, Wien, Stadt- und Landesbibliothek, H. I. N. 19.660. Jean Henri Samuel Formey an Gottsched, Berlin 28. Februar 1749 Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. XIV, Bl. 53, hier Bl. 53r. Hannelore Heckmann: Auf der Suche nach einem Verleger. Aus Gottscheds Briefwechsel. In: Daphnis 17 (1988), S. 327–345. Vgl. Ursula Goldenbaum: Das Publikum als Garant der Freiheit der Gelehrtenrepublik. Die öffentliche Debatte über den Jugement de l’Académie Royale des Sciences et Belles Lettres sur une Lettre prétendue de M. de Leibnitz 1752–1753. In: Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1687–1796. Hg. von Ursula Goldenbaum. Berlin 2004, S. 509–651. Luzac an Gottsched, Leiden 15. September 1752, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. XVII, Bl. 451r. Luzac an Gottsched, Leiden 20. Februar 1753, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. XVIII, Bl. 115r. Seinen Bedarf an aktuellen Neuigkeiten bringt er noch einmal in aller Deutlichkeit zur Geltung: »Si Vous avez la bonté de m’envoÿer du tems en tems quelques nouvelles Litteraires, que ce soit au milieu du mois Fevrier, Avril, Juin, Aout, Octobre, ou Decembre, & expediez-le moi par la poste. Elles vielleissent trop quand elles font le voÿage avec des Marchandises.« Luzac an Gottsched, Leiden 13. Juli 1753, Bl. 398r.

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deutsche Übersetzung der Maupertuisiana zusandte, mochte er seinerseits auf Unterstützung durch Luzac gehofft haben. Er erhielt eine Absage. Der Auszug sei wegen stilistischer Unzulänglichkeiten für den Abdruck ungeeignet. Das Risiko, eine französische Ausgabe des Hermann in Verlag zu nehmen, wollte Luzac schon gar nicht eingehen. Gleichwohl bekundete er sein bleibendes Interesse an gelehrten Neuigkeiten.150 Offenbar hat Gottsched, in die Position eines bloßen Nachrichtenlieferanten versetzt, darauf nicht mehr reagiert. Wenn auch, um es zu generalisieren, eine deutliche Reserviertheit der französischreformierten Publizisten gegenüber Vereinnahmungsversuchen für Gottscheds literarische Programmatik zu beobachten ist, so bedeutet das nicht, dass Gottsched in diesen Kreisen um seinen Kredit gebracht war. Ausgerechnet aus Bern und ausgerechnet von einem Freund und Bewunderer Albrecht von Hallers, dem Mineralogen und Mitarbeiter des Journal helvétique Elie Bertrand, wurde noch Mitte der fünfziger Jahre die Bitte um Aufnahme in Gottscheds ›Gesellschaft der freyen Künste‹ an Gottsched herangetragen. Bertrand bescheinigte der Gesellschaft ein europaweites Renommee und stellte seine, wenn auch bescheidene, publizistische Unterstützung durch das Journal helvétique in Aussicht.151 Als Pierre Rousseau 1756 in Liège das Journal encyclopédique, »le premier grand périodique«152 begründete, wandte er sich auf der Suche nach Beiträgern aus den europäischen Ländern auch an Gottsched und bot ihm den Austausch literarischer Neuigkeiten an.153 Gottsched als, wie es in der Anschrift heißt, »auteur du journal a Leypsic« war ihm persönlich nicht bekannt. Offenbar wurde er als gute Adresse bei der Suche nach zuverlässigen Korrespondenten für das anspruchsvolle Journal encyclopédique empfohlen. Die hier anhand der Gottschedkorrespondenz vorgenommene Strukturierung der durch Gottscheds publizistische Tätigkeit entwickelten Kontakte in unterschiedliche Beziehungsformen erfaßt sicher nicht das gesamte Spektrum der publizistischen Beziehungen. Eine weitere 150

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»Quant à l’extrait que vous avez bien voulu me fournir du Poème Le Hermann, il m’a été impossible d’en faire usage, attendu qu’il auroit fallu refondre le tout pour le stÿle. Vous savez combien on est aujourd’hui difficile à cet egard. [...] Je ne sai, Monsieur, qui pourroit entreprendre une traduction françoise du Hermann. Je n’oserois rien hazarder à cet egard [...] Je dois cependant ajouter que vous m’obligerez beaucoup si de tems en tems vous voulez bien m’envoÿer quelques nouvelles Litteraires, qui ne manqueront pas de trouver place dans la Bibliotheque Imp.« Luzac an Gottsched, Leiden 12. September 1753, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. XVIII, Bl. 466r. »Ne reçoit-on dans la société de Leypsik aucun étranger? Quelles sont les formalitès pour y étre aggrégé? Cette Société, illustre par les Savans, qui la composent, est Sans doute propre à exciter l’ambition.« Gottsched wurde von dieser Anfrage durch den Sangerhäuser Rektor Johann Friedrich Hoffmann unterrichtet, der mit Bertrand korrespondierte; Johann Friedrich Hoffmann an Gottsched, Sangerhausen, 22. Februar 1755, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. XX, Bl. 105–108, 108r–v. Nachdem er das Aufnahmediplom erhalten hatte, dankte Bertrand für die »aggrégation dans une Societé, fameuse dans toute l’Europe« und erklärt: »Je ferai mettre un petit extrait de votre invitation pour l’assemblée du 5. Mars dans le Journal helvétique.« Bertrand an Gottsched, Bern 26. März 1755, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. XX, Bl. 160–161, hier Bl. 160r und 161r. Fernand Clément u. a.: Du Journal encyclopédique à la Quadrichromie. Deux siècles d’imprimerie. Exposition du 4 au 27 Octobre 1957. Brüssel 1957, S. 7; über die Publikationsbedingungen des der Encyclopédie verpflichteten weit verbreiteten Journals vgl. auch Histoire générale de la presse française. Hg. von Claude Bellanger, Jacques Godechot u. a. Bd. 1. Paris 1969, S. 274–279. »Je vous fourniray tout Ce qu’il y a de plus interessant dans la litterature francoise, Huit jours avant de le faire paroitre dans mon journal; j’y ajouteray Les nouvelles ou les decouvertes en un mot tout Ce qui pourra etre utile a votre entreprise, a Condition que vous m’en fournirés autant«. Pierre Rousseau an Gottsched, Liège 1. Februar 1756, Leipzig, 4 B, Sammlung Autographen, [Bl. 1r].

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Form soll wenigstens noch zur Sprache kommen, zumal durch sie ein Bindeglied zum folgenden Abschnitt hergestellt ist, in dem das Verhältnis Gottscheds zur Publizistik noch einmal unter veränderter Perspektive aufgenommen wird. Es handelt sich dabei um Journalisten, die von Gottsched eine starke Prägung erfahren haben und im Unterschied zu den vergleichsweise bekannten Apostaten Johann Christoph Rost und Christlob Mylius die programmatische Orientierung an Gottsched nicht aufgegeben haben, ohne indes den persönlichen Kontakt zu pflegen. Johann Viktor Krause könnte hier genannt werden, ein ebenso unbekannter wie einflußreicher Publizist,154 der in jüngeren Jahren kurze Zeit einen vertrauten, aus unbekannten Gründen aber schon 1731 abgebrochenen Briefwechsel mit dem verehrten Gottsched unterhielt. Krause lebte in Halle, irgendwann in den dreißiger Jahren siedelte er nach Berlin über. Er wohnte in der Nähe des Verlegers Haude und war für Haudes Zeitschrift tätig. Noch Mitte der sechziger Jahre erinnerte er sich als Rezensent Gottschedscher Oden des »vor nunmehro fast vierzig Jahren [...] genossenen unterrichtenden Umganges unsers verehrenswerthen Gottscheds« und bekannte, »dasjenige, was wir etwa von der reinen Deutschen Dichtkunst und Beredsamkeit mögen begriffen haben, diesem grossem Lehrer« zu verdanken.155 Was dieses Bekenntnis über seine Rezensententätigkeit aussagt, liegt auf der Hand. Ein anderer Name ist der des schlesischen Pfarrers Christian Samuel Hoffmann, dessen journalistische Tätigkeit überhaupt nur durch eine eher beiläufige Erwähnung in einem Brief an Gottsched bekannt ist. Hoffmann gehörte während seines Studiums in Leipzig seit 1741 Gottscheds ›Vormittäglicher Rednergesellschaft‹ an.156 Nach der Gründung der ›Gesellschaft der freyen Künste‹ im Jahre 1752 verschaffte Gottsched dieser allmählich dadurch ein respektables Gewicht, dass er den ehemaligen Angehörigen seiner Rednergesellschaften Mitgliedschaftsurkunden zusandte, auch wenn deren Studienzeit lange zurücklag und eine Verbindung seither nicht mehr bestand.157 Hoffmann jedenfalls nahm die Einladung erfreut zur Kenntnis, versicherte, dass er seine Karriere als Prediger Gottsched allein verdanke, und brachte in diesem Zusammenhang seinen publizistischen Eifer für Gottsched zur Kenntnis: Erlauben Sie endlich noch, daß ich fortfahren darf, es meinen LandsLeüten, als ich es bereits durch gantzer 4. Jahr in meinen zuverläßigen schlesischen Nachrichten gethan habe, ferner zu sagen, daß ein 154

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Gleim äußert sich gelegentlich über den großen »Credit der Zeitungsschreiber« in Deutschland und verweist dafür auf den von ihm nicht geschätzten Krause: »In der Provinz sieht man das am besten. Die meisten Leser kaufen bey nahe kein Buch, das Krause nicht gelobt hat.« Gleim an Ramler, Anfang Januar 1754. Über Krause und seine Korrespondenz mit Gottsched vgl. Gottsched: Briefwechsel 2 (s. Anm. 1), S. 606. Berlinische Nachrichten von Staats- und Gelehrten Sachen 1764 (Nr. 94 vom 7. August), S. 410. Vgl. Sammlung einiger Übungsreden, welche unter der Aufsicht Sr. Hochedelgeb. des Herrn Profess. Gottscheds, in der vormittägigen Rednergesellschaft sind gehalten worden. Hg. von Johann Christoph Löschenkohl. Leipzig 1743. Die Praxis wird auch an Hoffmanns eigenem Briefbeginn deutlich: »So unvermuthet ich Ew. Hochedelgeb. Zuschrift erhalten habe, und so höchstangenehm mir der Innhalt derselben gewesen ist; so lebhaft und nachdrücklich solte auch meine Danckbahrkeit seÿn, mit der ich zeitlebens Dero außerordentliche Gewogenheit verehren werde. Ich sage mit Fleiß, daß mich Ew. Hochedelgeb. einer besondern Zuneigung gewürdigt haben. Denn ich soll noch erst anfangen, die alte Schuld meiner redlichsten Erkenntlichkeit abzuzahlen, die ich bereits vor 13. Jahren beÿ Ihro Magnificenz gemacht habe, als ich mit etlichen andern LandsLeüten Dero Unterweisung in der Rednergesellschaft durch gantze 3tehalb Jahr genoß.« Christian Samuel Hoffmann an Gottsched, Militsch 1. März 1755, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. XX, Bl. 121–122, hier Bl. 121r.

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Rüdiger Otto eintziger wahrer Schüler des hochverdientesten Herrn Prof. Gottscheds tausendmal brauchbarer seÿ, als hundert schweitzerisch und Klopfstockisch denckende und schreibende Redner.158

Tatsächlich weisen die Schlesischen zuverlässige Nachrichten Von gelehrten Sachen, die von 1751 bis 1756 erschienen und bislang als Zeitschrift Samuel Benjamin Kloses angesehen wurden,159 einen vergleichsweise großen Anteil an wohlwollenden Rezensionen der Werke Gottscheds und seiner Verbündeten auf, und seit Hoffmanns Beitritt wurde auch über die Aktivitäten der Leipziger ›Gesellschaft der freyen Künste‹ ausführlich berichtet.

3. Gottsched im Spiegel der Zeitschriften Die Darstellung der unterschiedlichen Formen der Kommunikation Gottscheds mit Zeitschriftenautoren beruhte bis hierher auf einer Binnenperspektive. Das Auskunftsmittel waren die Briefe der mit Gottsched verbundenen Korrespondenten, bei denen, von Ausnahmen abgesehen, eine gewisse Affinität oder Loyalität gegenüber Gottsched vorausgesetzt werden kann. Eine andere Bewertung wird gewonnen, wenn man gewissermaßen die Sicht der Öffentlichkeit annimmt und die Reaktionen der Zeitungen und Zeitschriften selbst auf ihren Umgang mit Gottsched hin untersucht. Jürgen Wilke hat für die literarischen Zeitschriften der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Gottsched als Bezugspunkt gewählt und für die Anfänge eine Einteilung nach Zeitschriften des Gottschedkreises und der Gottschedkritiker gewählt.160 Das belegt einerseits die Schlüsselstellung, die Gottsched für die Literaturentwicklung dieser Zeit innehatte, suggeriert aber andererseits das Bild eines linearen Verlaufs: Nach der anfänglichen Dominanz Gottscheds entziehen sich die späteren Zeitschriften und jüngeren Autoren seinem Bannkreis. Gottsched bleibt zurück, erst attackiert, dann belächelt oder verachtet, schließlich vergessen. Soweit damit die literarischen Zeitschriften im engeren Sinne bezeichnet sind, dürfte diese Verlaufsgeschichte weitgehend zutreffen, da Zeitschriftengründungen Ausdruck neuer literarischer Programme und Identitäten sind, die Differenzen zu den vorhandenen Unternehmungen zum Ausdruck bringen und bringen sollen. Für Gelehrtenzeitungen und allgemeine Rezensionszeitschriften gilt dies nicht in dem Maße. Ihre Enstehung verdankte sich eher kommerziellen und institutionellen Interessen als einer programmatischen Entscheidung,161 und infolge der enzyklopädischen Ausrichtung der meisten Rezensionszeitschriften mussten sich Literatur und Theater die Aufmerksamkeit mit vielen anderen Gegenständen teilen. Gottsched stand also nicht im Zentrum, und andererseits wurde er nicht nur als Literat, sondern auch in weiteren, anders konnotierten Tätigkeitsfeldern wahrgenommen, so dass man eine von den Literaturzeitschriften unterschiedene Bewertung Gottscheds erwarten darf. Als Untersuchungsgegenstand könnte 158 159

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Christian Samuel Hoffmann an Gottsched, Militsch 1. März 1755, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. XX, Bl. 121–122, hier Bl. 122r–v. Vgl. Willy Klawitter: Die Zeitungen und Zeitschriften Schlesiens von den Anfängen bis zum Jahre 1870. Breslau 1930, S. 27 Nr. 22; Joachim Kirchner: Die Zeitschriften des deutschen Sprachgebietes von den Anfängen bis 1830. Bd. 1. Stuttgart 1969, S. 12, Nr. 176. Jürgen Wilke: Literarische Zeitschriften des 18. Jahrhunderts (1688–1789). Teil 2. Repertorium. Stuttgart 1978, S. 2–60. Vgl. Habel: Gelehrte Journale und Zeitungen der Aufklärung (s. Anm. 96), S. 113–126.

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man eine größere Anzahl von Zeitschriften nach festgelegten Kriterien vergleichen. Man könnte auch bestimmte Orte, etwa das Zeitschriftenzentrum Hamburg162 und die dort erscheinenden Zeitungen, auch unter dem Gesichtspunkt der internen Konkurrenz vergleichen. Auch Berlin böte sich an. Dank der Redakteurstätigkeit Lessings haben die polemischen Rezensionen der Berlinischen privilegierten, der späteren Vossischen Zeitung Aufmerksamkeit auf sich gezogen.163 Die Zeitung war von Johann Andreas Rüdiger begründet worden, der während der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. seine Monopolstellung behauptete und ein Verbot des Potsdammischen Mercurs seines Konkurrenten Ambrosius Haude erwirkte.164 Haude hingegen kam mit dem Regierungsantritt Friedrich II. zum Zuge. Er war seinerzeit das Risiko eingegangen, die Bibliothek des Kronprinzen Friedrich, die dessen Vater wegnehmen und verkaufen lassen hatte, zu erwerben und für den ehemaligen Besitzer insgeheim zugänglich zu halten. Friedrich dankte es ihm und stattete Haude mit einem Privileg aus. Schon am 30. Juni 1740, einen Monat nach dem Thronwechsel, erschien das erste Stück der Berlinischen Nachrichten von Staats- und Gelehrten Sachen, die nach Haudes Tod von seinem Schwager Johann Carl Spener weitergeführt und unter dem Namen Spenersche Zeitung bekannt wurden.165 Haude war Gründungsmitglied der Alethophilengesellschaft, Gottsched nahm Einfluß auf die Wahl der Redakteure,166 der schon genannte 162

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Aus Brigitte Tolkemitts Untersuchung des Gelehrten Artikels im Hamburgischen Correspondenten wird deutlich, dass trotz gewisser Vorlieben für die offenere Konzeption der Schweizer Parteibindungen prinzipiell vermieden wurden. Beide Parteien wurden mit Distanz betrachtet, Entgleisungen in der wechselseitigen Polemik mißbilligt und andererseits die wissenschaftlichen Leistungen ausgewogen gewürdigt. Vgl. Brigitte Tolkemitt: Der Hamburgische Correspondent. Zur öffentlichen Verbreitung der Aufklärung in Deutschland. Tübingen 1995. Gegenüber den Hamburger Freyen Urtheilen und Nachrichten hat Gottsched seinerseits gerade an einer Stelle, wo er Anlass zur Klage sah, die Unparteilichkeit der Zeitschrift hervorgehoben; vgl. Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 1757, S. 587–595. Vgl. auch den Hinweis auf das Urteil der Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit über den Streit bei Böning und Moepps: Hamburg. Kommentierte Bibliographie der Zeitungen (s. Anm. 77), Sp. 660. Benannt nach Christian Friedrich Voß, den Schwiegersohn und Nachfolger des Gründers. Über Lessings journalistische Tätigkeit während des ersten Berliner Aufenthalts vgl. Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie. München 2008, S. 135–151. Haude selbst beschrieb später Rüdigers Haltung: »Da ich nach Berlin kam, und keinen Menschen kannte; so meynte Rüdiger mich mit Stumpf und Stiel auszurotten. Er spie alle Lästerungen gegen mich aus«. Haude an L. A. V. Gottsched, Berlin 4. Dezember 1742, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. VII, Bl. 399–400, 400r. Vgl. Konrad Weidling: Die Haude und Spenersche Buchhandlung in Berlin in den Jahren 1614–1890. Berlin 1902, S. 25–38; Erich Widdecke: Geschichte der Haude- und Spenerschen Zeitung 1734–1874. Berlin 1925, S. 16–48. Zunächst hatte Haude Jakob Friedrich Lamprecht als Redakteur gewonnen (vgl. über ihn Gottsched: Briefwechsel 3 [s. Anm. 1], S. 475f.), gegen den aber Gottsched und seine Frau Stimmung machten. Man wunderte sich in Leipzig, »daß man, um den dasigen neuen Zeitungen aufzuhelfen, und sie interessanter zu machen, den hamburgischen Lamprecht verschrieben hat. Einen Menschen, der durch seine ungezähmte Schreibart, so wohl im Loben als im Schmähen, fähig ist auch die beste Sache ekelhaft und verhaßt zu machen. [...] Kurz, der Doryphorus [Haude] bekömmt an ihm einen Menschen, der ihm kein einziges gelehrtes Buch anders wird recensiren können, als daß er die Vorrede ausschreibt, und nachdem der Verfasser entweder berühmt ist oder nicht, oder ihm einen Ducaten mit beÿlegt, oder nicht, ihn loben, oder verachten wird.« Luise Adelgunde Victorie Gottsched an Ernst Christoph Graf von Manteuffel, Leipzig 9. Juli 1740, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. VIa, Bl. 233–236, hier Bl. 233v-234r. »Die Berlinischen Zeitungen haben wir seit ihrem Anfange ordentlich mitgehalten, und ungeachtet wir in dem gelehrten Artickel oftmals viel schöne Sachen finden, so glauben wir doch daß

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Johann Victor Krause war über viele Jahre ein stabiler Faktor der Zeitschrift, entsprechend fielen die Rezensionen aus.167 Auch die Einbeziehung ausländischer Zeitschriften, namentlich französischer, wäre ein aufschlußreiches Forschungsfeld. Als in Frankreich zu Beginn der fünfziger Jahre im Zeichen beginnender Wahrnehmung der deutschen Literatur auch der Name Gottscheds genannt wur-

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der Lamprechtische Stilus denselben mehr schade als Nutze.« Luise Adelgunde Victorie Gottsched an Ernst Christoph Graf von Manteuffel, Leipzig 10. September 1740, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. VI a, Bl. 318–321, hier Bl. 319r. Nachdem Haude bzw. Manteuffel Gottsched um einen anderen »Amanuensis« gebeten hatten, vermittelte Gottsched Johann Christoph Rost, der aber kaum ein Jahr in Haudes Dienst verblieb, um dann zu Gottscheds Gegnern überzuwechseln und mit der Verssatire Das Vorspiel seinem ehemaligen Lehrer empfindlich zuzusetzen; vgl. Johann Christoph Rost: Das Vorspiel. Ein Episches Gedicht (1742). Hg. von Franz Ulbrich. Berlin 1910. ND Nendeln 1968. Auch von außen herangetragene gottschedkritische Äußerungen wurden zurückgewiesen. So unterrichtete der Frankfurter Professor Johann Ludwig Uhl Gottsched von Versuchen seiner Gegner wie Breitinger und Immanuel Jacob Pyra, in Berlin gegen ihn zu opponieren. Pyra, schreibt Uhl, »wollte eine Vertheidigung in die Haudische Zeitung setzen, allein ich habe H. Krausen noch bis jetzt abgehalten, er hat auch versprochen, solches niemals einzurücken.« Uhl an Gottsched, Berlin 25. März 1744, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. IX, Bl. 61–62, 61v. Vergleichbares findet sich zu den Critischen Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit, die seit 1750 in Haudes Verlag erschienen und 1751 von Christlob Mylius verfasst wurden, vgl. Nisbet: Lessing (s. Anm. 163), S. 135. Über Haudes Eingriffe in seine journalistische Arbeit berichtete Mylius an Haller: »Ich würde in diesen Blättern öfters die Wahrheit oder wenigstens meine Ueberzeugung mehr können sprechen lassen, wenn ich mich nicht allzu sehr nach den Vorurtheilen eines der einfältigsten Verleger bequemen müßte. [...] Seiner Einfalt und ungegründeten Furcht wegen muß ich mit Gottscheden itzo säuberlicher verfahren, als ich es im Anfang meiner Blätter that. Denn HE. Gottsched hat ihm deswegen so nachdrückliche und bewegliche Vorstellungen zu thun gewußt, daß er mich inständig gebethen, ihn zu verschonen. Da er auch in den hiesigen Vossischen Zeitungen etliche mal nach Würden hart belohnet worden, so hat er an den HEn. Consist. Rath Pelloutier allhier, seinen großen Verehrer, geschrieben, und sich heftig beklagt, welcher letztere auch es deswegen dahin zu bringen gesucht, daß alle gelehrte einzelne Blätter von der Akademie censiret würden; welches er aber doch nicht auswürken können, wie denn überhaupt hier gar nichts, ausser die politischen Zeitungen, censiret wird. Dergleichen Mittel hat HE. Gottsched fast überall angewendet, sich bey denen, welche nicht mit eigenen Augen sehen können, noch in der vermeynten Größe zu zeigen. Aber olim non erit sic.« Mylius an Haller, Berlin 13. Juli 1751. In: Carl Robert: Lessings Bücher- und Handschriftensammlung. Hg. von Gotthold Lessing. Bd. 2. Berlin 1915, S. 217– 219, 217. Daß Mylius’ Prophezeiung zumindest für das kommende Jahrzehnt in Berlin nicht uneingeschränkt in Erfüllung ging, zeigen Bemerkungen von Louis de Beausobre gegenüber Gottsched. Beausobre war als Vertrauter Friedrichs II., Sprachrohr der Akademie in heiklen Angelegenheiten und, seit Mitte 1755, »Zensor aller in Berlin erscheinenden Zeitungen« eine einflußreiche Persönlichkeit; vgl. Martin Fontius: Baumgarten und die Literaturbriefe. Ein Brief aus Frankfurt/Oder an Louis de Beausobre in Berlin. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 80 (2006), S. 553–594, hier S. 561f. Beausobre schrieb an Gottsched: »Quand à ce qui regarde M. Lessing, je ne le connois que de nom, assez ignoré chez nous ... Je chargerai quelqu’un de donner quelques petits conseils à cet ecrivain mordent. Il se fait tort à lui meme en vous attaquant, votre nom en honneur chez tous ceux, qui aiment la bonne philosophie, la pureté du langage, et la belle poesie, ne sauroit souffrir de ces traits que l’envie ou la folie lancent contre vous. Je vous avouerai, Monsieur, que j’aimois assez Mr Meïer, et que je l’estimois beaucoup; mais j’ai mandé dernierement à un de ses amis, que je desaprouvois fort les critiques et deplacees qu’il fait d’un homme aussi célébre que vous. Laissés ecrire, content du Suffrage de Tous ceux qui aiment les talens, sans en envier la gloire à ceux qui les possedent.« Louis de Beausobre an Gottsched, Berlin 8. März 1755, Leipzig, Universitätsbibliothek, Ms 0342, Bd. XX, Bl. 133–134, hier Bl. 134r.

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de,168 wurde dies alsbald von seinen Gegnern unter Verwendung nationaler Stereotypen gegen ihn gewendet. Man denunzierte den bescheidenen Erfolg als Kompensation einer Schule, »die, weil sie sich in Deutschland fast verlohren siehet, bey unsern witzigen Nachbaren, die ihre Verdienste besser einsehen, sich einigen Ruhm und Beyfall zu erwerben suchet«.169 Zwei Jahre später erreichte den Mercure de France eine Leserzuschrift aus Deutschland, in der klargestellt wurde, dass Gottsched in Deutschland keineswegs, wie seine französischen Freunde behaupteten, angesehen, sondern im Gegenteil ein Autor sei, »qui n’y brille certainement qu’au dernier rang.«170 Im übrigen wurde er in diesem Text als notorischer Frankreichkritiker vorgeführt,171 und dies etwa zu der Zeit als Lessing im 17. Literaturbrief das Gottschedbild vom sklavischen Nachahmer der Franzosen erfolgreich etablierte. Aus dem Spektrum möglicher Untersuchungsgegenstände sollen hier die Göttingischen gelehrten Zeitungen bzw. Anzeigen von gelehrten Sachen172 gewählt werden. Das Verhältnis der Göttinger Gelehrtenzeitung zu Gottsched ist, vor allem für die Zeit unter Hallers Leitung, schon dargestellt worden.173 Die Einbeziehung neuer Texte und der Seitenblick auf die Gelehrtenzeitung der Erfurter Akademie rechtfertigen gleichwohl die folgenden Ausführungen über ein Verhältnis, in dem persönliche, sachliche und institutionelle Gesichtspunkte auf kaum zu trennende Weise ineinander verflochten waren. Die Gründung einer Göttinger Gelehrtenzeitschrift stand im Zusammenhang mit der Universitätsgründung 1734 auf der Tagesordnung. Intern waren entsprechende Pläne gerade mit Blick auf Leipzig umstritten. Die Leipziger Gelehrtenzeitungen genossen hohes Ansehen, und man befürchtete, entweder in deren Schatten zu verbleiben oder die Leipziger durch die Gründung eines eigenen Organs zu brüskieren.174 Tatsächlich war die Neugründung zunächst eine Kopie der Leipziger Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen.175 Der Name und auch die Einrichtung der Jahresüberblicke entsprachen dem Leipziger Modell. Man verfolgte dasselbe Ziel, die europäische wissenschaftliche Literatur »in reiner und fliessender Deutscher Schreibart« zu registrie-

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Über die Wahrnehmung Gottscheds in Frankreich vgl. Süpfle: Geschichte des deutschen Kultureinflusses auf Frankreich, Bd. 1 (s. Anm. 91), S. 112–117, 125 und 128–134 und vor allem die dazugehörigen Anm., dazu auch S. 274 und 277f. Vgl. auch Rolf Geißler: ›...il n’est pas possible qu’un Allemand ait de l’esprit...‹ Beiträge zur Überwindung eines Vorurteils im Frankreich des 18. Jahrhunderts (Grimm-Beausobre-Bielfeld). In: Offene Gefüge. Literatursystem und Lebenswirklichkeit. Festschrift für Fritz Nies zum 60. Geburtstag. Hg. von Henning Krauß. Tübingen 1994, S. 357–375. Erfurtische Gelehrte Nachrichten 1754 (27. Stück vom 25. Juli), S. 318. Mercure de France. Juillet 1756. Seconde volume, S. 86. Vgl. Rüdiger Otto: Johann Christoph und Luise Adelgunde Victorie Gottsched in bildlichen Darstellungen. In: Johann Christoph Gottsched in seiner Zeit (s. Anm. 3), S. 1–91, hier S. 63–65. Zum Namenswechsel anläßlich der Übernahme der Zeitschrift durch die Göttinger Akademie vgl. Claudia Profos Frick: Gelehrte Kritik. Albrecht von Hallers literarisch-wissenschaftliche Rezensionen in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen. Basel 2009, S. 35f. Ludwig Hirzel: Hallers Leben und Dichtungen. In: Albrecht von Hallers Gedichte. Hg. von dems. Frauenfeld 1882, S. III–DXXXVI, hier S. CXCII–CCXXV, CCC–CCCIV, CCCXXIX–CCCXLI u. ö. Vgl. Gustav Roethe: Göttingische Zeitungen von gelehrten Sachen. In: Festschrift zur Feier des hundertfünfzigjährigen Bestehens der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Berlin 1901, S. 569–688, hier S. 587f. und 668f. Ebd., S. 594.

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ren, und wollte dadurch »die Ausbreitung des guten Geschmacks [...] befördern«.176 Die Übereinstimmung ist nicht verwunderlich, denn der erste Redakteur, Wolf Balthasar Adolph von Steinwehr, kam aus dem Leipziger Zeitungsmilieu, war vor seinem Weggang für die Neuen Zeitungen zuständig und hatte in dieser Eigenschaft Konflikte mit der Zensurbehörde ausgestanden.177 Statt in Göttingen auf Abgrenzung oder Überbietung zu setzen, orientierte er sich an den bewährten Mustern.178 Selbstverständlich kam die Göttinger Universität stärker zur Geltung, und dank der dynastischen Identität von Kurhannover und englischem Königshaus war man mit Nachrichten und Drucken aus England besser versehen.179 In Leipzig wurde das Göttinger Unternehmen als Konkurrenz empfunden. Man beschuldigte sich gegenseitig des Plagiats. Friedrich Otto Mencke als Verleger der Leipziger Neuen Zeitungen bemühte sich um ein Verbot der Göttinger Zeitung in Kursachsen, da er sein kursächsisches Gelehrtenzeitungsprivileg verletzt sah. Die Regierung lehnte ab.180 Differenzen zwischen Leipzig und Göttingen gab es allerdings schon früher. Im 16. Stück der Critischen Beyträge von 1737 war eine fingierte Zuschrift erschien, die sich mit dem Sammler, einer der frühesten Göttinger moralischen Wochenschriften bzw. Zeitschriften überhaupt, befaßte.181 Sie unterschied zwischen einer Handvoll guter, zu denen sie Gottscheds Tadlerinnen und Biedermann zählte, und einer großen Anzahl schlechter Wochenschriften, die nicht um eines Inhaltes, sondern wegen der Geltungssucht ihrer Autoren entstanden seien. Diese bewiesen, »daß ein leerer Kopf sich gar wohl unterstehen 176

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Nachricht von den Neuen Zeitungen von Gelehrten Sachen, welche auf der Königl. und Chur=Fürstl. Universität Göttingen mit dem Anfange des Jahrs 1739 heraus kommen sollen. Göttingen [1738], nicht paginiert, 3 Seiten, S. 1. Johann Daniel Schulze: Abriß einer Geschichte der Leipziger Universität im Laufe des achtzehenten Jahrhunderts. Leipzig 1802, S. 148. Zur Zensur und den späteren Auseinandersetzungen mit Mencke vgl. Agatha Kobuch: Zensur und Aufklärung in Kursachsen. Weimar 1988, S. 76–81, zur Literatur über Steinwehr vgl. Gottsched: Briefwechsel 3 (s. Anm. 1), S. 498. Vgl. Erich Walch: Albrecht von Haller und die Göttinger gelehrten Anzeigen. In: Zeitungswissenschaft 3 (1928), S. 1–3. Nach der folgenden Mitteilung zu urteilen, hatte Steinwehr ein eigenes Publikum: »Die Deutschen Leipziger- und Göttinger-gelehrte-Zeitungen haben sich, so lange der Hr. von Steinwehr solche verfertiget, mit größtem Vergnügen lesen lassen, und jedermann bedauret, daß er nicht eine von beyden noch jetzo verfertiget.« Potsdammische Quintessentz Nr. LXIV vom 12. August 1741. »Weil man im Stande ist, gelehrte Nachrichten aus England, posttäglich; Bücher aber, so bald sie zum Vorscheine kommen, zu erhalten; so werden diese gelehrten Zeitungen darinnen vor andern einen besondern Vorzug haben«, dass sie darüber schnell und zuverlässig berichten. Nachricht von den Neuen Zeitungen von Gelehrten Sachen, welche auf der Königl. und Chur=Fürstl. Universität Göttingen mit dem Anfange des Jahrs 1739 heraus kommen sollen. Göttingen [1738]. Kobuch: Zensur und Aufklärung in Kursachsen (s. Anm. 177), S. 80. ›Schreiben an die Verfasser der critischen Beyträge. Helmstädt, den 17 Jenner des Jahrs 1737‹. In: Beyträge Zur Crischen Historie 4/16 (1737), S. 611–644. Dass Helmstedt als fingierter Absendeort angegeben wurde, hatte unbeabsichtigte Nebenwirkungen: Gerlach Adolf von Münchhausen als Kurator der Universität Göttingen verdächtigte den Helmstedter Professor Johann Lorenz Mosheim der Mitwisserschaft und unterstellte, dass damit dem Ansehen der jungen Konkurrenzuniversität Göttingen Schaden zugefügt werden sollte; vgl. Gottsched: Briefwechsel 4 (s. Anm. 1), S. 467. Zu den frühen Göttinger Zeitschriften vgl. Hans-Georg Schmeling: Stadt und Universität im Spiegel der ersten Göttinger Wochenblätter. In: Göttingen im 18. Jahrhundert. Göttingen 1987, S. 31–65; hier wird auf den Zusammenhang von Universitätsgründung und Zeitschriftenwesen hingewiesen. Zur Auseinandersetzung um den Sammler vgl. auch Martin Gierl: Kanon und Kritik. Aufklärung und Vertextung des Sozialen. In: Kultur der Kommunikation. Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter von Leibniz und Lessing. Hg. von Ulrich Johannes Schneider. Wiesbaden 2005, S. 101–117, hier S. 112.

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könne, der Welt ein magres Buch mitzutheilen, dessen Inhalt zwar viel Verwegenheit, aber auch eben so viel Unfähigkeit anzeiget.« Als Exemplar der Gattung wird der Sammler vorgeführt. Dem Autor wird Unreife, sprachliches Unvermögen, Selbstüberschätzung und Unkenntnis der mustergültigen englischen Vorbilder attestiert und dies zu dem Vorwurf verdichtet, dass durch solche Schriften »die Ehre unserer Nation zu Schanden« gemacht wird.182 In Göttingen war man nicht gewillt, diese Abkanzelung stillschweigend hinzunehmen. Der Abriß von dem Neuesten Zustande der Gelehrsamkeit, das »erste deutschsprachige wissenschaftliche Journal Göttingens«,183 brachte eine kurze und scharfe Replik. Zunächst wurde der Verwunderung Ausdruck verliehen, dass dieser Text in den »Schrifften einer so wohlgesinnten Gesellschafft« gedruckt wurde und damit die Leipziger ›Deutsche Gesellschaft‹ in Mithaftung genommen. Einige Monita wurden auf hermeneutische Fehlleistungen zurückgeführt, die man als Indikatoren für die Voreingenommenheit des Rezensenten wertete. Angesichts der süffisanten Empfehlung englischer Vorbilder war es blamabel, dass umfangreiche Textpassagen des Sammlers Übersetzungen aus englischen Zeitschriften waren. Die Replik endete mit Einordnung des Rezensenten in die Reihe der von Christian Ludwig Liscow verhöhnten »elenden Scribenten« und mit dem Wunsch, »daß rechtschaffene Leute« Schriften dieser Art der »Vergessenheit überlassen mögen, wozu sie ihre Natur so deutlich als das Schwere zum sincken bestimmet.«184 In Leipzig war man über den Autor der Replik durch den Herausgeber der Zeitschrift, den Göttinger Philosophieprofessor Ludwig Martin Kahle, sofort im Bilde. Der nämlich hat das betreffende Stück an Gottsched geschickt und seine Unschuld beteuert: Ich kan daher nicht umhin zu versichern, daß diese Abfertigung wieder meinen Willen miteingerückt, aber zugelaßen werden müßen, weil Herr Professor Haller als Verfaßer davon, ein ordentlicher Mitarbeiter hiesiger Monathschrifft ist, welcher mit Gewalt darauf bestanden, seiner hände Werck bekannt zu machen. Dieserhalb ersuche Ew. HochEdelgebohrnen ganz gehorsamst, keinen Unwillen auf mich zu werffen.185

In Göttingen hinwiederum war allem Anschein nach zunächst nicht bekannt, wer die Rezension des Sammlers verfasst hatte. Man hatte den Halberstädter Rektor Georg Venzky in Verdacht, ein aktives Mitglied der Leipziger ›Deutschen Gesellschaft‹.186 Gründe dafür gab es, denn Venzky hatte kurz zuvor in seiner Zeitschrift Critisches Rebenmesser das erste Stück vom erwähnten Göttinger Abriß von dem Neuesten Zustande der Gelehrsamkeit rezensiert, den miserablen Gebrauch der deutschen Sprache gerügt und den Göttinger Gelehrten empfohlen: »diese Männer müssen die

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›Schreiben an die Verfasser der critischen Beyträge. Helmstädt, den 17 Jenner des Jahrs 1737‹ (s. Anm. 181), S. 612 und 614. Martin Gierl: Die moralisch-literarischen Journale in Göttingen von 1732 bis zum Siebenjährigen Krieg. Göttingen, Universität, Fachbereich Historisch-Philologische Wissenschaften, Hausarbeit, 1988, S. 4. Abriß von dem neuesten Zustande der Gelehrsamkeit, 3. Stück, 1738, S. 266–273, hier S. 273. Ludwig Martin Kahle an Gottsched, Göttingen 10. Februar 1738, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. IV, Bl. 261–262, hier Bl. 261v–262r; Haller war mit dem Herausgeber des Sammler, Friedrich Christoph Neubour (vgl. Gottsched: Briefwechsel 2 [s. Anm. 1], S. 617) befreundet und hat auch selbst Beiträge für die Zeitschrift verfasst; vgl. Christoph Siegrist: Albrecht von Haller. Stuttgart 1967, S. 40. Vgl. Friedrich von Hagedorn: Poetische Werke. 5. Teil. Hamburg 1800, S. 198. Venzky seinerseits verwahrte sich öffentlich gegen die ihm unterstellte Autorschaft; vgl. Hamburgische Berichte von Gelehrten Sachen 1738 (Nr. 28 vom 11. April), S. 242f.

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Arbeiten der deutschen Gesellschaft in Leipzig lesen, damit sie sich dadurch bessern.«187 Dafür wurde er im Abriß als »Schulmann von der unteren Reihe Nahmens V. in einer niedrigen Schule in H ...« bezeichnet.188 Tatsächlich stammte die Rezension des Sammlers von Gottscheds Frau. Wann und wie man davon in Göttingen erfahren hat, ist nicht bekannt. Der Tragweite dieser Personalie war man sich bewusst. Haller selbst hat den Bruch im Verhältnis zu Gottsched auf diesen Schlagabtausch zurückgeführt.189 Mit dieser Auseinandersetzung ist die Ausgangslage bezeichnet, die auf Wiederholung angelegt war. Unter dem Zeichen der Anonymität waren bis zu einem gewissen Grade ungewollt zwei Leitfiguren aneinandergeraten, Gottsched als Anwalt seiner Frau und Haller. Gottsched hat fortan freundliche Äußerungen über Hallers literarisches Werk vermieden.190 Haller schickte sich an, Gottscheds Veröffentlichungen seiner besonderen Aufmerksamkeit zu unterziehen, zumindest seit er 1747 alleiniger Direktor der Göttingischen Zeitungen geworden war. Wie im Verhältnis Kahle-Haller vorgezeichnet, gab es in Göttingen auch weiterhin eine Fraktion, die sich Gottsched verbunden fühlte und ihn mit Informationen über die Entstehungsbedingungen mancher Rezension versah. Johann Matthias Gesner gehört dazu, vor seiner Göttinger Zeit Rektor an der Leipziger Thomasschule, und vor allem Rudolf Wedekind. Beide hatten Führungspositionen in der Göttinger ›Deutschen Gesellschaft‹ inne, die Gottsched 1748 zum Mitglied erklärte.191 Etwa gleichzeitig mit Hallers Amtsantritt begannen die Göttingischen Zeitungen, die bis dahin Gottscheds Veröffentlichungen deutlich wohlwollend behandelt und im Streit Gottscheds mit den Schweizern ihre Neutralität beschworen hatten,192 mit einer distanzierten Betrachtung des Leipzigers. Das erste Zeugnis dafür ist die Rezension von Gottscheds Sprachkunst von 1748. Das Werk war der Göttinger ›Deutschen Gesellschaft‹ gewidmet. Gesner prophezeite in seinem Dankesschreiben, die Sprachkunst werde »bald unter die Clas-

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Critisches Rebenmesser 2.–3. Probe, 1737, S. 24–38, hier S. 37. Abriß von dem Neuesten Zustande der Gelehrsamkeit, 2. Stück, Göttingen 1737, S. )(r–)()()(v (nach S. 118), Zitat S. )(v. Vgl. dazu auch Habel: Gelehrte Journale und Zeitungen der Aufklärung (s. Anm. 96), S. 270–272. »Er sagte mir, daß er das Unglück gehabt habe, eine Göttin, wiewohl unwissend, zu verwunden. Er hatte den Hrn. Vensky in Verdacht gehabt, daß er die spöttische Kritik des Göttingischen Sammlers in Gottsched’s Beiträgen geschrieben hätte. Er vertheidigte den Sammler, dessen Verfasser der jetzt verstorbene Neubur ist, ziemlich spitzig in einem Stücke der Göttingischen Nebenstunden. Das Unglück war, daß keine geringere Person, als die Frau Gottschedin selbst die Kritik verfaßt hatte, und daher ist der Zorn der Frau, des Mannes, und der ganzen Clique, auf ihn gefallen.« Bodmer an Friedrich von Hagedorn, 11. Juli 1745 in: Friedrich von Hagedorn: Poetische Werke. 5. Teil. Hamburg 1800, S. 196-202, hier S. 198. Zum Verlauf der Urteile Gottscheds über Haller vgl. Franz R. Kempf: Albrecht von Hallers Ruhm als Dichter. Eine Rezeptionsgeschichte. New York, Bern 1986. Gesner war der erste Präsident der Gesellschaft, Wedekind als einer ihrer energischsten Beförderer wurde 1742 Sekretär und 1748 Senior; vgl. Paul Otto: Die deutsche Gesellschaft in Göttingen (1738–1758). München 1898, S. 6, 28, 32 und 43–45. Über das Verhältnis der Gesellschaft zu Gottsched vgl. S. 73-84. Pyras Erweis, dass die G*ttsch*ianische Sekte den Geschmack verderbe wurde folgendermaßen kommentiert: »Wir begehren uns in diese Strittigkeiten nicht zu mischen; wir wünschen nur, daß die so sehr erbitterte Gemüther möchten zu einem gütlichen Vergleich kommen, und alsdenn mit vereinigten Kräften dasjenige bewerkstelligen, welches doch die Hauptabsicht beeder Partheyen ist. Solte dieses aber bey so bewandten Umständen wohl zu hoffen seyn?« Göttingische Zeitungen von Gelehrten Sachen 1743, S. 829.

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sick=Bücher aufgenommen werden, u. den ersten rang in ihrer art behaupten«.193 Wedekind verfasste eine Rezension, die er Gottsched abschriftlich zusandte. Er rechnete mit Eingriffen Hallers, und Gottsched sollte die Unterschiede der gedruckten Rezension zur ursprünglichen Version kennen. Zwar habe er, Wedekind, das Lob schon mit Rücksicht auf Haller herabgestimmt und den an Haller gehenden Text von fremder Hand schreiben lassen, damit neben dem Objekt nicht auch noch der Urheber der Rezension Hallers Unmut errege,194 dennoch sei er sicher, dass Eingriffe vorgenommen werden würden. Wedekind behielt Unrecht. Haller hat den Text nicht verändert, sondern rundheraus abgelehnt. Auch eine weitere Rezension durch den Mitherausgeber der Zeitung Michael Lorenz Willig lehnte er mit der Begründung ab, »die in der Recension enthaltene Lobsprüche wären ihm unerträgl[ich]«.195 Haller schrieb die Rezension selbst, keinen Verriß, aber erst recht keine Laudatio. Es werden einige Kasus- und Pluralbildungen moniert und die Herleitung einer kleinen Anzahl französischer Wörter aus dem Deutschen bestritten. Prinzipieller Natur und Reflex der eigenen Differenz ist Hallers Kommentar zu Gottscheds Ablehnung bestimmter Partizipialkonstruktionen: »Die Furcht, daß die gedrungnen Dichter die Sprache zu Grunde richten werden, ist dem Hrn. G. ganz eigen, und er betrübt sich über etwas, welches die mehrern Deutschen mit Vergnügen zu sehen scheinen.« Dies bezieht sich auf Gottscheds Kritik an Hallers Gedichten.196 Haller weist damit auf das Problem hin, dass Gottsched poetologische Entscheidungen mit den grammatischen Ausführungen vermengt. In der abschließenden Bemerkung wird dies als Kardinalfehler der Sprachlehre herausgestellt und damit die Verbindlichkeit des Buches in Frage gestellt: »Hr. G. da er für ganz Deutschland schreiben wollen, hätte seine besondern Angelegenheiten vergessen, und der Gesezgeber des Dichters und Parodirers Kriege nicht fortführen sollen.«197 Als auf die Rezension eine, wie es heißt, »bittere Antwort eines [...] Gottschedianers« erfolgte, legte Haller, gegen die erklärte Praxis der Zeitung198 und anonym wie schon in der Rezension selbst, nach. Nicht die Sachargumente erregten Hallers Zorn, sondern die Darstellung Gottscheds als eines friedliebenden Opfers fremder Machenschaften. Detailliert führte er die von Gottsched stammenden, veranlaßten oder gebilligten Parodien Hallerscher Gedichte auf und fragt: Und was hat Hr. Haller, dem es hier gilt, auf diese Parodien, die gröstentheils mehr seinen persönlichen Character als seine Gedichte angriffen, und auf die Critiquen geantwortet? Wer hat jemahls in 193 194

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Johann Matthias Gesner an Gottsched, Göttingen 27. Oktober 1748. Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. XIII, Bl. 361–362, hier Bl. 361r. »Er darf nicht einmahl erfaren, daß ich diese recension gemacht habe, sonst ist er ihr gram ex duplici præiudicio, Tui scilicet meique caussa«. Rudolf Wedekind an Gottsched, Göttingen 15/24. November 1748, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. XIII, Bl. 387–398, hier Bl. 396r. Wedekind an Gottsched, 8. Januar 1749, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. XIV, Bl. 13–14, hier Bl. 14r. Über Willig (Willich) vgl. Repertorium zu Albrecht von Hallers Korrespondenz. Hg. von Urs Boschung, Barbara Braun-Bucher u. a. Bd. 1. Basel 2002, Nr. 1169; vgl. auch Roethe: Göttingische Zeitungen von gelehrten Sachen (s. Anm. 174), S. 603–605; Hirzel: Hallers Leben und Dichtungen (s. Anm. 173), S. CCC–CCCII; Dieter Cherubim und Ariane Walsdorf: Sprachkritik als Aufklärung. Die Deutsche Gesellschaft in Göttingen im 18. Jahrhundert. Göttingen 2004, S. 122–128. Vgl. Eric Achermann: Dichtung. In: Albrecht von Haller. Leben – Werk – Epoche. Hg. von Hubert Steinke, Urs Boschung und Wolfgang Proß. Göttingen 2008, S. 121–155, hier S. 128. Göttingische Zeitungen von Gelehrten Sachen 1749, S. 29f., hier S. 30. Vgl. Profos Frick: Gelehrte Kritik (s. Anm. 172), S. 87.

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Rüdiger Otto dem ganzen Kriege mit den Schweizern eine Silbe von ihm gesehen, wo er, ich will nicht sagen, Hrn. Gottsched angefallen, nein auch nur sich selbst geschüzt hätte.199

Hatte der Gottschedianer Hallers Rezension mehr als persönliche denn als sachliche Auseinandersetzung behandelt, so gab Hallers Reaktion dem recht, freilich mit einer anderen Sicht auf Ursache und Wirkung. Gottscheds Aktivitäten wurden von Göttingen aus weiterhin beobachtet, seine Blößen registriert und kommentiert. Sogar Zeitschriftenbeiträge im Neuesten aus der anmuthigen Gelehrsamkeit wurden, ungewöhnlich genug, Gegenstand Göttinger Rezensionen. Allerdings waren es wichtige Themen wie die literarische Kanonbildung und die für die Parteienbildung grundsätzliche Auseinandersetzung um Milton, die dabei verhandelt wurden. Gottsched hatte in der Rezension von Jakob Friedrich von Bielfelds Schrift über die Fortschritte der deutschen Poesie an einigen ihn betreffenden Punkten Empfindlichkeit gezeigt.200 Der Göttinger Rezensent – wiederum Albrecht von Haller – führte dies darauf zurück, dass man auf dem Parnaß dem Hrn. G. nicht den rechten Rang eingeräumt, und unter den Sprachlehrern ihm einen angewiesen hat, der ihn zu niedrig dünkt, und er hingegen von andern Leuten, die ihm verhaßt sind, nicht geglaubt hat, daß sie genennt zu werden verdienen.201

Mochte man dies als bloße Unterstellung übergehen, so war der andere Punkt für Gottsched heikel. Er hatte in mehreren Folgen des Jahrgangs 1752 von einer 1750 in England veröffentlichten Entdeckung William Lauders berichtet, nach der Miltons Verlorenes Paradies über weite Strecken ein Plagiat aus neulateinischen Dichtern war.202 Gottsched kam Lauders Veröffentlichung in der Auseinandersetzung mit den deutschen Miltonverehrern gerade recht. Peinlich war nur, dass Lauder selbst unterdessen als Betrüger überführt und schon 1751 gestanden hatte, die Belege für seine Behauptung erfunden zu haben. Die Göttinger Anzeigen begnügten sich damit, ihr Erstaunen zu formulieren, dass Gottsched »nicht wenigstens aus Journalen, aus dem monthly review und aus unsrer g. Z. (weiß,) daß Lawder ein überwiesener Betrüger ist«.203 Als 1753 in einer anonymen Schrift – sie stammte von Friedrich Nicolai – Gottsched wegen der Wiedergabe der Lauderschen Behauptungen scharf angegriffen und unterstellt wurde, dass er Lauders Widerruf absichtlich unterdrückt habe, listeten die Göttingischen Anzeigen die Vorwürfe detailliert auf, vermeldeten dann aber: Bey allem Streit von dieser Art sind wir lieber Leser und Zuschauer, als Parthey. Das wünschten wir aber aufrichtig, daß Hr. G. die in England herausgekommenen Widerlegungen des Lawder, nebst dessen eigenen Bekänntnissen einer Lesung und Anzeige in dem Neuesten würdigen, und uns über sie sein Urtheil gleichfalls gönnen möge.204

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Göttingische Zeitungen von Gelehrten Sachen 1749, S. 510. Bielfeld: Progrès des allemands dans les sciences, les belles-lettres & les arts, particulièrement dans la poesie & l’eloquence. Amsterdam 1752; Rezension in: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 1752, S. 677–691 und 887–906. Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen 1753, S. 63; Wiederabdruck in: Hallers Literaturkritik. Hg. von Karl S. Guthke. Tübingen 1970, S. 62–64, hier S. 63. Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 1752, S. 260–275, 341–352, 438–445, 620–626 und 913-923. Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen 1753, S. 306. Ebd., S. 1396.

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Die Aufforderung blieb ohne Reaktion, wenn man nicht eine Erklärung im Neuesten des folgenden Jahres hierauf beziehen will. Gottsched bestritt dort den in den Göttingischen Anzeigen erhobenen Vorwurf, »aus einem gegen diese Blätter vorgefaßten Hasse« in einen Streit der Göttinger mit dem Halleschen Professor Pauli eingegriffen zu haben, mit der Begründung: »Mehr als 12 oder 13 Jahre lang hat er« – Gottsched – »kein Blatt davon gelesen«.205 Auf diese Weise war öffentlich zu Protokoll gegeben, dass der Nichtleser Gottsched die Herausforderung der Göttinger zu einer Stellungnahme nicht kennen konnte, und folgerichtig vermied er jeden Kommentar zu Lauders Fälschung.206 Dass er aber 1753 Beschwerde über die Göttinger Zeitungsschreiber bei Gerlach Adolf von Münchhausen einlegte, steht in auffälligem Kontrast zu dieser behaupteten Unkenntnis,207 und auch die unverzügliche Reaktion auf die Rezension von Christoph Otto von Schönaichs Ästhetik in einer Nuß straft die Behauptung Lügen. Schönaichs anonym erschienene Ästhetik ist bekanntlich eine Persiflage auf die Dichtung der Schweizer, der Klopstockianer, Gellerts, Gleims und anderer Gegner Gottscheds. Die Göttinger Rezension vom 7. November 1754 mißbilligte die Schrift und brachte unmißverständlich zum Ausdruck, dass man Gottsched für den Autor hielt, wenn auch auf die Nennung seines Namens mit der Attitude respektvoller Zurückhaltung verzichtet wurde. Gottsched reagierte sofort. Am 25. November fand sich in den Leipziger Neuen Zeitungen der Vermerk: »Nachstehenden Artikel sind wir einzurücken ersuchet worden.« Gottsched belegte die Haltlosigkeit der vermeintlichen Indizien für seine Verfasserschaft, verwies auf sein gesamtes Werk als Zeugnis dafür, dass er »niemals in diesem Geschmack etwas aufzusetzen fähig gewesen« sei und schloß mit dem Appell: »Ich berufe mich also hiermit auf das gelehrte Publicum, über diese so harte Beschuldigung der Göttinger ein Urtheil zu sprechen; in festem Vertrauen, daß es gut für mich ausfallen werde. Joh. Christ. Gottsched, P. P.«208 Auch im Neuesten aus der anmuthigen Gelehrsamkeit wird dort, wo nach der Titelangabe eine Rezension der Ästhetik zu erwarten gewesen wäre, die Auseinandersetzung mit den Göttingern in erweiterter Form fortgeführt. Auch auswärtigen Zeitschriften legte Gottsched eine Richtigstellung nahe.209 Die Göttingischen Anzeigen selbst reagierten ebenfalls. Man gab sich verwundert, dass Gottsched die – wie gesagt eine direkte Namensnennung vermeidende – Mutmaßung über den Autor so eindeutig auf sich bezogen habe, erklärte es für eine Pflicht, Gottscheds Erklärung publik zu machen, und zitierte eine Passage der Leipziger Zeitung wörtlich, nämlich die, in der sich Gottsched von der Ästhetik distanziert, da er »an diesem Wercke, so wie es da liegt, gar keinen Gefallen habe«.210 Diese öffentliche Distanzierung hat der Autor Johann David Michaelis intern als den wichtigsten Erfolg seiner Rezension verbucht,211 vermutlich deswegen, weil dadurch Verwirrung in den Reihen der Gottschedianer gestiftet werden konnte. Gottscheds eigene Argumentation und die weiterreichende Kontextuierung seiner Erklärungen, die in dieser Form allerdings erst im Neuesten steht, hat man in 205 206 207 208 209 210 211

Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 1754, S. 395 Waniek: Gottsched und die deutsche Litteratur seiner Zeit (s. Anm. 42), S. 579. Roethe: Göttingische Zeitungen von gelehrten Sachen (s. Anm. 174), S. 642. Neue Zeitungen 1754, S. 838–840, Zitate 839f. Erfurtische Gelehrte Nachrichten 1755, S. 167f. Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen 1754 (Nr. 146 vom 7. Dezember), S. 1291f., hier S. 1291. Vgl. Michaelis an Haller, 8. Dezember 1754. In: Erich Ebstein: Aus der Frühzeit der Göttinger Gelehrten Anzeigen. Mit einem unbekannten Briefe von I. D. Michaelis an Albr. v. Haller. In: Von Büchern und Menschen. Festschrift Fedor von Zobeltitz. Hg. von Conrad Höfer. Weimar 1927, S. 326–333 hier S. 331f.

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Göttingen ausgeblendet. Gottsched nennt die Gründe, die gegen seine Autorschaft sprechen, beklagt sich aber darüber hinaus, dass man alles, »was der heutigen ungeheurigen Dichtkunst der Hexametristen zuwider ist, ganz allein ihm zur Last leget.«212 Gottsched geht noch einen Schritt weiter und fragt nach der Glaubwürdigkeit der Göttinger Akademie, die gleichsam einen Areopagus der Wissenschaften vorstellen wollen? Hat es mit der Sicherheit der übrigen Nachrichten die in den göttingischen gel. Anzeigen vorkommen, bisweilen keine bessere Bewandtniß: so sieht es gewiß mit der Aufsicht dieser königlichen Gesellschaft sehr schlecht aus.213

Dieser öffentliche Schlagabtausch wurde im folgenden Jahr 1755 fortgesetzt. Gottsched reagierte auf zwei Rezensionen der Göttinger jeweils mit Repliken in seiner Zeitschrift, die die Verfahrensweise und die Legitimation der Göttinger beleuchten sollten.214 Die Göttinger Anzeigen hatten den ersten Band der Schriften der von Gottsched 1752 begründeten ›Gesellschaft der freyen Künste‹ als substanzlose Schönschreiberei disqualifiziert, bei dieser Gelegenheit das Gesellschaftswesen als abträglich für die wahre Gelehrsamkeit deklariert und Gottscheds Berechtigung, ohne landesherrliche Lizenz eine Gesellschaft zu gründen und ein Siegel zu führen, in Frage gestellt. Gottsched reagierte mit einem historischen Exkurs über die Leipziger gelehrten Gesellschaften, von denen »wir Leipziger, nach unserer Einfalt, allemal geglaubet, daß sie den Wissenschaften und freyen Künsten keinen Schaden gebracht«215 hätten und die auch für Auswärtige ein zusätzlicher Grund für ein Studium in Leipzig gewesen seien. Er erinnerte daran, dass die meisten Gesellschaften keine fürstliche Privilegierung besaßen. Die Animosität der Göttinger, die doch auch gerade mit der ›Deutschen Gesellschaft‹ und der ›Sozietät der Wissenschaften‹ zwei Gesellschaften ins Leben gerufen hätten, sah er schließlich in ihrem Herrschaftsanspruch begründet: »nach Stiftung der göttingischen Gesellschaften, hätte sich billig niemand unterstehen sollen, an etwas dergleichen zu gedenken: weil in ihnen bereits das Non plus ultra aller Gesellschaften völlig erreichet worden.«216 Demgegenüber verstand er seine Reaktion als einen Akt »der Notwehre«, mit dem er verhindern wollte, oder, wie er meinte, verhindert hatte, dass die Göttinger der gelehrten Welt ein Joch auflegen, das »den Flor der Wissenschaften mehr hemmen, als befördern würde«. Er war sich der Schärfe seiner Verdächtigungen bewusst, glaubte sich aber im Recht und appellierte an die über den Parteien stehende Instanz: »Das Publicum mag nun den Ausspruch thun.«217 Man kann die Situationsbeschreibung und den rhetorischen 212 213 214

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Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 1754, S. 912. Ebd., S. 913. Im 15. Stück wurden die Schriften der Gesellschaft der freyen Künste rezensiert; Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen 1755, S. 134–136, Gottsched reagiert im Neuesten 1755, S. 125–138. Im 34. Stück wurden Gottscheds Vorübungen der Beredsamkeit rezensiert; Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen 1755, S. 306-309, Gottsched antwortet im Neuesten 1755, S. 233–239. Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 1755, S. 128. Ebd., 130. Von heute aus gesehen mag der Vergleich der Akademien mit den anderen Gesellschaften unpassend erscheinen, in der Sicht der Zeitgenossen konnten die unterschiedlichen Typen als gleichrangig behandelt werden; vgl. z. B. die Jahresüberblicke in den Neuen Zeitungen oder die Rubrik »Gelehrte Gesellschaften und Königl. Akademien« in: [Christoph Gottlob Grundig:] Neue Versuche nützlicher Sammlungen zu der Natur= und Kunst=Geschichte, sonderlich von Ober=Sachßen 32. Teil (1754), S. 690-717. Ebd., S. 137f. Gottsched erhielt für seine Verteidigung viel Applaus, z. B. von den Kasseler Korrespondenten Johann Friedrich Reiffenstein und Johann Heinrich Gottsched, Gottscheds Bruder. An

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Appell für maßlos überzogen halten, daran erinnern, dass Gottsched selbst als Sprachdiktator galt und die Beschuldigung der Göttinger als eine Projektion seinerseits ansehen. Wenn allerdings Michaelis in einen Brief an Haller etwa zur gleichen Zeit die verstärkten Aktivitäten der Göttinger durch den Hinweis auf die »anscheinende Hoffnung, daß die Acta eruditorum den Weg Menkens gehen werden« erläutert,218 dann wird man den von Gottsched unterstellten Griff nach der Meinungsführerschaft nicht völlig abwegig finden. Die Acta eruditorum waren seit ihrer Gründung ein europaweit anerkanntes Rezensionsmedium, dessen Geltung auch durch ihren Qualitätsverlust und durch die Entstehung neuer Zeitschriften nicht prinzipiell untergraben war. Friedrich Otto Mencke, der Enkel des Gründers, war am 17. März 1754 gestorben. Die Hoffnung auf den Untergang der Acta eruditorum war in Göttingen augenscheinlich mit der Erwartung verbunden, ihren Platz als wichtigstes deutsches Rezensionsorgan einnehmen zu können.219 Im übrigen stand Gottsched mit seinem Urteil über die Göttinger nicht allein. Ein Briefpartner tröstet ihn damit, »daß die größten Verdienste allemal den meisten Gegnern ausgesetzt gewesen sind«.220 Wichtiger war die Solidaritätserklärung des Sekretärs der neugegründeten kurmainzischen Akademie nützlicher Wissenschaften in Erfurt, deren Mitglied Gottsched inzwischen geworden war: Ihre defension gegen die H.n Göttinger ist billig, und gegen so ein Verfahren glimpflich genug eingerichtet. Es scheint, als wenn die H.n die Dictatur in republ. literaria affectirten, Wir wißen wohl, wie sie gegen die Academie der Wißenschafften gesinnet sind; wir erwartten ihren Angrif, und alsdenn soll ihnen zur Genüge gezeigt werden, daß man zu Göttingen nicht allein dencke.221

Tatsächlich gab es wenig später auf dem Zeitschriftenweg eine erste Konfrontation zwischen Göttingen und Erfurt.222 Aufschlußreich ist, dass sich im Verhältnis Erfurt-Göttingen in gewis-

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diesen Bruder wurde im Frühjahr 1755 auch die Bitte Johann Matthias Gesner aus Göttinger herangetragen, »den H. Bruder zu ersuchen, ihm dasjenige doch nicht in seinen Streitschriften entgelten zu lassen, woran er gar keinen Antheil habe. Er hoffe wie der H. Bruder von seiner guten Gesinnung überzeiget seÿn müsse, und bäthe daher stets verschonet zu bleiben.« Johann Heinrich Gottsched an Gottsched, Kassel 1. Mai 1755, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. XX, Bl. 240–242, hier Bl. 241v–242r. »Die Ursache, warum man jetzt so sehr wegen der Relationen daselbst eifrig ist, ist theils der Mangel der Beyträge, theils die anscheinende Hoffnung, daß die Acta eruditorum den Weg Menkens gehen werden«. Michaelis an Haller, 8. Dezember 1754. In: Erich Ebstein: Aus der Frühzeit der Göttinger Gelehrten Anzeigen (s. Anm. 211), S. 329. Zum Kontext vgl. Roethe: Göttingische Zeitungen von gelehrten Sachen (s. Anm. 174), S. 634–644. Ähnliche Erwägungen gab es indes von Anfang an; vgl. S. 586f. »Über die wiederholten ungesitteten Zunöthigungen der göttingischen Zeitungsschreiber habe mich nicht wenig gewundert: Das verkehrte Urtheil aber von der Aesthetik in einer Nuß hat mich wirklich in ihrem Namen schamroth gemacht. Dergleichen zudringliche Streitigkeiten müssen allerdings Ihro Hochedelgeb. sehr unangenehm fallen: allein wie süße muß Ihnen nicht der Trost seÿn, welchen Sie aus Vergleichung der berühmtesten Männer der alten und neueren Zeiten schöpfen können! Sie wissen besser, als ich Ihnen sagen kann, daß die größten Verdienste allemal den meisten Gegnern ausgesetzt gewesen sind.« Gottfried Christian Freiesleben an Gottsched, Gotha 14. April 1755, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. XX, Bl. 194–195, hier Bl. 195r. Johann Wilhelm Baumer an Gottsched, Erfurt 6. Dezember 1754, Leipzig, UB, Ms 0342, Bd. XIX, Bl. 587r. Vgl. Erfurtische Gelehrte Nachrichten 1754, S. 431; Gottsched hat darauf hingewiesen: »Denn NB. über die neugestiftete Churmaynzische Societät nützlicher Wissenschaften, haben sich diese gött. gel. Zei-

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ser Weise wiederholte, was zwischen Göttingen und Leipzig in den Zeiten der Gründung der Universität bzw. Akademie und der damit verbundenen Zeitschriftenentwicklung vorgegangen war. Für neu gegründete Institutionen war die Etablierung einer eigenen Zeitschrift ein Prestigeobjekt. Die älteren Einrichtungen dienten als Vorbild,223 gegen das man sich aber auch zu behaupten hatte. Im Blick auf Gottsched sind die Erfurtischen Gelehrten Nachrichten noch in anderer Weise interessant.224 Ihre Gründung verdankte sich zunächst einer privaten Initiative. Erst im Herbst des Gründungsjahrs 1754 wurden sie in die Verantwortung der Akademie übernommen. Während in den Artikeln der ersten Monate Gottsched gelegentlich als Apostel der literarischen Banalität vorgeführt wurden, kamen gottschedfeindliche oder auch nur -kritische Bemerkungen seit der Übernahme bis zum Ende der ersten Phase der Zeitschrift im Jahr 1762 nicht mehr vor. Diese Haltung war von seiten der Akademie ausdrücklich gewünscht, und es ist möglich, dass sie zunächst auch durch die gemeinsame Frontstellung gegen Göttingen veranlasst war. Immerhin wird daran deutlich, dass es auch außerhalb des Aktionsfeldes lupenreiner Gottschedianer Zeitschriften gab, die Gottsched unterstützten. Gegen den möglichen Hinweis auf das Bedeutungsgefälle zwischen Göttinger Anzeigen und Erfurtischen Nachrichten kann man das Zeugnis eines Zeitgenossen anführen, der die Erfurter und die Göttinger wegen der Sachlichkeit ihrer Rezensionen in einem Atemzug als die einzigen brauchbaren Zeitungen bezeichnete.225 Mit dem Jahr 1755 war allerdings auch der Höhepunkt der Konfrontation zwischen Gottsched und den Göttingern überschritten. Es gibt nur noch wenige Rezensionen Gottschedscher Veröffentlichungen,226 und diese wenigen zeichnen sich durch distanzierte Nüchternheit aus. Am ausführlichsten ist der Bericht über die schon erwähnte philosophische Kontroverse zwischen Gottsched und seinem Universitätskollegen Christian August Crusius aus dem Jahr 1757, er ist frei von jedem abfälligen Unterton.227 Es könnte daran liegen, dass Gottscheds Philosophie in Göttingen auch zuvor keinen Anstoß erregt hatte,228 hat aber vermutlich auch damit zu

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tungen auch schon formalisiret; sind aber auch in den erfurtischen schon gehörig abgefertigt worden.« Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 1755, S. 130. In Erfurt hat man eigens darauf hingewiesen: »Wir dürfen hingegen uns nicht schämen, zu bekennen: daß die Aufsicht auf hiesige gelehrte Zeitung würcklich eine Nachahmung der Königl. Societät der Wissenschaften in Göttingen sey, da wir es unserer Schuldigkeit gemäß zu seyn erachten, guten und löblichen Anstalten nachzufolgen.« Erfurtische Gelehrte Nachrichten 1754, S. 411. Zum Verhältnis der Erfurter Zeitschrift zu Gottsched vgl. Rüdiger Otto: Johann Christoph Gottsched und die Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt. In: Leipzig-Erfurt. Akademische Verbindungen. Festgabe der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt zur 600-Jahrfeier der Universität Leipzig. Hg. von Jürgen Kiefer. Erfurt 2009, S. 69–89, hier S. 87–89. »[...] die persönlichen Streitigkeiten, womit alle gelehrten Journale und Zeitungen angefüllt sind, machen mich so mistrauisch, daß ich fast von keinem einzigen recensirten Buche mehr als den angeführten Titul lese; es sey denn, daß ich die Erfurter, oder Göttingischen gelehrten Zeitungen in den Händen habe; hier verweile ich mich etwas länger.« [Friedrich Ludolph Lachmann:] Ueber die Schönen Geister und Dichter des achtzehnden Jahrhunderts vornehmlich unter den Deutschen. Lemgo 1771, S. 40. Bis zu Gottscheds Tod werden rezensiert: 6. Auflage der Weltweisheit (1757, S. 166–174), 4. Auflage der Sprachkunst (1757, S. 672), Vorübungen der lateinischen und deutschen Dichtkunst (1757, S. 696) Akademische Redekunst (1759, S. 1106f.), Ausgabe der Gedichte seiner Frau mit ihrer Lebensbeschreibung (1763, S. 1263). Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen 1757, S. 166–174. Gottscheds gegen die Berliner Akademie gerichtetes Programm De optimismi macula wurde mitten im Federkrieg mit einem gewissen Maß an Zustimmung wiedergegeben; vgl. Göttingische Anzeigen von gelehr-

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tun, dass Abraham Gotthelf Kästner 1756 von Leipzig nach Göttingen gegangen war und als Rezensent der Anzeigen seinen persönlichen Einfluß geltend machen konnte. Kästner stand als Student unter dem prägenden Einfluß Gottscheds, hat sich aber von ihm emanzipiert.229 Einige Epigramme und andere Äußerungen dokumentieren die Distanz, die insbesondere aus der unterschiedlichen Beurteilung Hallers entstand war.230 Bei der Verabschiedung im Hause Gottsched bat Frau Gottsched ihn, »ihres Mannes Freund künftig zu seyn«. Kästner distanzierte sich infolgedessen ausdrücklich von der modischen Verachtung Gottscheds.231 Von ihm stammt einer der wenigen Nachrufe auf Gottsched, ein großartiger, Licht und Schatten genau abwägender Versuch einer historischen Würdigung.232 Kästner war Verfasser der wenigen noch dem Ehepaar Gottsched gewidmeten Rezensionen, unter denen die Anzeige der dreibändigen Ausgabe der Briefe von Frau Gottsched die umfangreichste ist. Hier findet sich ganz beiläufig der Satz: »Von Hallern führt sie häufig Verse an, und nennt ihn [...] ihren Lieblingsdichter.«233 Schlägt man die angegebene Seite 157 des zweiten Bandes nach, findet man das Wort in einem Brief an die vertraute Freundin Dorothee von Runckel aus dem Jahr 1753.234 Das Bekentnis fällt demnach in die Zeit, als zwischen der Göttinger Zeitung und dem Hause Gottsched Kriegsrecht herrschte – auch die Produkte der Frau Gottsched wurden in Göttingen bemängelt.235 Man weiß nicht, soll man die Souveränität der Frau Gottsched bewundern? Soll man Gottsched bedauern, dass ihm im engsten Umfeld die Gefolgschaft aufge-

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ten Sachen 1753, S. 1396–1398. Die Auseinandersetzung mit der Berliner Akademie hat auch an anderer Stelle die Koalitionen des Literaturstreits durchbrochen. Gottsched hat sich hier öffentlich für Samuel König ausgesprochen, der Partergänger der Schweizer war; vgl. Waniek: Gottsched und die deutsche Litteratur seiner Zeit (s. Anm. 42), S. 449, 452f. und 531; Rudolf Ischer: Johann Georg Altmann (1695–1758). Die Deutsche Gesellschaft und die moralischen Wochenschriften in Bern. Bern 1902, S. 57–69. Unter den Gottschedgegnern wurde Kästners Lossagung genau registriert: Johann Georg Schultheß berichtete, dass der Satiriker Gottlieb Wilhelm Rabener ihn in Leipzig zu Kästner geführt habe. »Diesen Mann kränket es ordentlich, daß er sich bey den Schweizern noch nicht aus dem Verdacht eines Gottschedianers gehoben sieht [...] Hr. Rabener sagte mir beim Weggehn, daß dieser [als] einer von den ersten in Leipzig Gottscheds Schwäche eingesehen, daß man sich in Ansehung seiner u. andrer, die Gottscheds Schüler gewesen, irren könnte, wenn man sie alle mit Gottsched in einen Topf schmeißen wollte«. Johann Georg Schultheß an Bodmer, 27. September 1749. In: Zürcher Taschenbuch auf das Jahr 1894, S. 5–13, hier S. 10. Vgl. Carl Becker: A. G. Kaestners Epigramme. Halle 1911, S. 125–145. Kästner an Friedrich Nicolai, 26. Januar 1767. In: Abraham Gotthelf Kästner: Briefe aus sechs Jahrzehnten. Hg. von Carl H. Scherer. Berlin 1912, S. 67–69, hier S. 67f. Abraham Gotthelf Kästner: Johann Christoph Gottsched. In: Deutsche Abschiede. Hg. von Gerhard Hay. München 1984, S. 32–42. Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen 1772, S. 12–15, hier S. 13. Luise Adelgunde Victorie an Dorothee Henriette von Runckel, Leipzig 24. Oktober 1753. In: Briefe der Frau Louise Adelgunde Victorie Gottsched gebohrne Kulmus. 2. Teil. Dresden 1771, S. 153–157. Zum ersten Teil ihrer Übersetzung der Memoires de l’Academie Royale des inscriptions et de belles lettres heißt es: »Wir wünschten recht sehr, daß wir dem Leser einen günstigen Begriff von dieser Unternehmung machen könnten [...] Aber die Unmöglichkeit hindert uns ein unbedingtes Lob dieser Uebersetzung beyzulegen, indem an gar zu vielen Orten der Verstand der Urkunde so übel getroffen ist, daß wir nicht absehen, wie man ohne Hülfe der Urkunde das Deutsche verstehen werde.« Göttingische Zeitungen 1750, S. 317. Es folgen einige Beispiele fehlerhafter Überstezungen und die Schlußbemerkung: »Und von dieser Art könten wir unzählbare Anmerkungen machen.« S. 318

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kündigt wurde? Oder soll man befürchten, dass die öffentliche Anfeindung und Demontage einer Eigenlogik folgte, die den individuellen Überzeugungen gar nicht entsprach?

4. Schlußbemerkung Will man die hier vorgetragenen Beobachtungen resümieren, so steht außer Frage, dass Gottsched die publizistischen Möglichkeiten, die in seiner Lebenszeit eine ungeheure Ausweitung erfahren haben, in vollem Maße genutzt hat. Das gilt sowohl für seine eigene journalistische Tätigkeit wie für den Aufbau von Netzwerken. Wenn auch, wie insbesondere an den Kontakten zu anderen Redakteuren zu sehen war, sein Bemühen um neue Verbündete im Literaturstreit wenig Erfolg hatte, so kann doch andererseits nicht behauptet werden, dass Gottsched im Verlauf der Auseinandersetzungen mit den Schweizern und der jüngeren Generation an den Rand gedrängt wurde. Trotz aller Polarisierungen, wie sie beispielhaft in der Auseinandersetzung mit Göttingen zum Ausdruck kommen, konnte er sich behaupten. Er fand Sekundanten und es ergaben sich neue Konstellationen. Seine Zeitschriften wurden gelesen. Er traf damit den Publikumsgeschmack wie aus der Bemerkung eines Korrespondenten hervorgeht, der das Neueste zur »berühmtesten und lesenswürdigsten aller deutschen Monatschriften« erklärte.236 Nach Auskunft der Hamburger Freyen Urtheilen und Nachrichten war die Zeitschrift »in jedermanns Händen«237, die Auflagenhöhe von 1000 Exemplaren238 bestätigt dieses Urteil. Schließlich sei an die eingangs angeführte Begründung für die Beendigung seiner Journalistentätigkeit erinnert. Nicht mangelndes Interesse, sondern im Gegenteil zu intensive Beanspruchung bewogen Gottsched zur Einstellung seiner letzten Zeitschrift, und entsprechend lassen sich Zeugnisse des Bedauerns für diesen Entschluß anführen.239 Dieser Befund widerspricht der geltenden Überzeugung vom erheblichen Bedeutungsverlust Gottscheds seit den vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts. Will man die Diskrepanz erklären, so ließe sich die zeitungswissenschaftliche Unterscheidung zwischen der Anzahl der Leser 236 237

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Paul Christian Henrici an Gottsched, Altona 5. April 1758, Tartu, UB, Mrg. CCCLIVa Ep. phil. III, Bl. 169–170. Anläßlich einer Rezension wurde erklärt: »Die Leipziger Monatsschrift, die das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit bekannt macht, hat einen zulänglichen Auszug davon gegeben, und ist in jedermanns Händen, so daß es nicht nöthig ist, von der Einrichtung und dem Inhalte der ganzen Schrift eine weitläuftigere Erzählung zu machen.« Freye Urtheile und Nachrichten zum Aufnehmen der Wissenschaften und Historie überhaupt 1756, S. 106f. Joachim Kirchner: Die Grundlagen des deutschen Zeitschriftenwesens. 1. Teil. Leipzig 1928, S. 42; Wilke: Literarische Zeitschriften des 18. Jahrhundert (1688–1789), Teil 2 (s. Anm. 160), S. 12. »Daß es Eurer Hochedelgebornen gefällig, das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit nicht weiter fortzusetzen, solches betrübet mich. Wollen Sie mich und tausend andere desfalls durch andere Werke schadloßhalten: so verpflichten Sie uns, und ich werde alsdann wieder munter.« Johann Heinrich Westphalen an Gottsched, Tönningen 24. Januar 1764, Tartu, UB, Best. 3, Mrg CCCLIVa, Ep. phil. Bd. III, Bl. 420–421, hier Bl. 420r–v. Nachdem er vergeblich eine Weiterführung unter anderem Titel erhofft hatte, wollte Johann Ludwig Anton Rust den Verlust kompensieren und eine andere Zeitung abonnieren. »Ich muß aber beklagen, daß ich noch zur Zeit nicht viel darunter gefunden habe, welches mit meinem Erwarten übereinkäme.« Rust an Gottsched, Bernburg 30. Juli 1764, Tartu, Sammlungen der Universitätsbibliothek, Best. 3, Mrg CCCLIVb, Ep. erud. Cel., Bl. 296–301.

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und den Lesern, auf die es ankommt,240 anführen. Stimmen der Gottschedzeit241 und der Gottschedforschung,242 die den Niveauverlust und Gottscheds Komplizenschaft mit der Mediokrität konstatieren, bestätigen auf ihre Weise diese Unterscheidung, und schließlich wird sie von der Rezeptionsgeschichte noch einmal bekräftigt. Nicht die rezipierende Majorität, sondern die maßgeblichen Leute erzeugen Urteile, die auf die Nachwelt gelangen und gehört werden. Allerdings trägt die Repetition von Werturteilen nichts zum Verstehen des älteren Gottscheds und seines Publikums bei. Wenn gelegentlich die Selbstreferentialität der literarischen Avantgarde oder des Autorenstandes überhaupt konstatiert wurde,243 der dafür mit Isolation bezahlte,244 so könnte Gottsched als Gegenbeispiel angeführt werden. Wie eingangs erwähnt, verweist er die Zeitungsmacher an ein bürgerliches Publikum am Rande oder außerhalb des gelehrten Standes. Gerade seine späteren Zeitschriften befolgen diesen Auftrag der Bildungsvermittlung. Der Rückgang des kritischen Elements, die thematische Ausweitung bei gleichzeitiger Zurückweisung literarischer Innovationen sind Ausdruck des Bemühens, die in den zurückliegenden Jahrzehnten gerade auch durch seine Aktivitäten gewonnene sprachliche Kultur245 nicht durch Experimente aufs Spiel zu setzen, sondern als Medium der Kultur und Verständigung zu befestigen und zu verbreitern. Einfachheit und Klarheit der Diktion, die Neigung zu ausführlichen Paraphrasen und Zitaten, schließlich auch eine auffällige Selbstdarstellung werden als Charakteristika seiner Zeitschriften angesehen.246 Auch die Tatsache, dass Gottsched dazu übergeht, von seinen größeren Werken Schulausgaben zu veröffentlichen,247 ist symptomatisch für sein Selbstverständnis, das auf Bewahrung und didaktische Weitergabe gewonnener Einsichten ausgerichtet ist. Der autoritative Gestus, so sehr er konkurrierende Autoren zum Widerspruch reizen mochte, hat für nichtprofessionelle Leser möglicherweise Verläßlichkeit suggeriert und Orientierung bereitgestellt. Für ein bürgerliches Publikum, das gegen die modernen Tendenzen der Empfindsamkeit und den Überschwang der Dichtung Klopstocks immun war und das auch vor dem polemischen Ton der Schweizer und Lessings zurückschreckte, scheint Gottsched daher immer 240 241

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Vgl. Henk Prakke: Vorwort. In: Heinz Fischer: Die großen Zeitungen. Porträts der Weltpresse. München 1966, S. 10. »Es ist keine große Ehre mehr von HE. Gottsched in seinem Büchersaal gelobt zu werden, denn er lobt die infamsten Scartequen«. Briefwechsel zwischen Gleim und Uz. Hg. von Carl Schüddekopf. Tübingen 1899, S. 149. »Die Gottschedianische Defensive bedient sich aller noch erreichbaren Mittel. Im Oktober 1753 bietet sich ihr das Wurzener Winkelblatt ›Die Hofmeisterin‹ des im Kirchenhelferdienst tätigen Wochenblattschreibers Crusius [...] Er ist gezwungen, Minimalhilfen anzunehmen. Sein publizistischer Spielraum verengt sich zusends.« Marianne Wehr: Johann Christoph Gottscheds Briefwechsel. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Frühaufklärung. Diss. Leipzig 1965, S. 298f. Gedacht ist hier an das Urteil Friedrich Nicolais von 1773, demzufolge die 20000 Gelehrten nur für sich und ihresgleichen schreiben und von den 20 Millionen Ungelehrten mit Nichtbeachtung gestraft werden; vgl. Horst Möller: Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1986, S. 169f. Vgl. auch Ernst Platner: Der Professor. Hg. von Alexander Kosenina. Hannover 2007. Herbert Jaumann: Emanzipation als Verlust. Ein sozialgeschichtlicher Versuch über die Situation des Autors im 18. Jahrhundert. In: Der Autor. Hg. von Helmut Kreuzer. Göttingen 1981, S. 46–72, hier S. 46. Vgl. Eric A. Blackall: Die Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache 1700–1775. Stuttgart 1966. Vgl. Profos Frick: Gelehrte Kritik (s. Anm. 172), S. 39–69. Mitchell: Gottsched-Bibliographie (s. Anm. 86), Nr. 532, 566, 567, 623, 624 u. ö.

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Rüdiger Otto

noch ein Garant der Solidität gewesen zu sein. Um hier zu belastbaren Ergebnissen zu kommen, wäre es sinnvoll, die intellektuellen Biographien und die sozialen Koordinaten von Gottschedkorrespondenten und -lesern wie den dänischen Kanzleirat Johann Heinrich Westphalen oder den anhaltische Archivar und Historiker Johann Ludwig Anton Rust, die ihr Bedauern über das Ende der Zeitschriften Gottscheds zum Ausdruck gebracht haben,248 genauer zu studieren. Sie gehören ebenso wie der eingangs erwähnte Jurist und Naturforscher Martin Frobenius Ledermüller249, der Arzt Michael Morgenbesser, der Lessing im Sommer 1764 in Breslau kurierte und gleichzeitig von Gottsched schwärmte,250 und andere Korrespondenten einer Schicht von Beamten, Lehrern, Pastoren, Militärs, Kaufleuten und Ärzten251 an, die keine literarischen Existenzen sind, aber lesend, debattierend und auch mit Veröffentlichungen einen räumlich und zeitlich enger begrenzten Wirkungsradius haben, für die Ausbildung kultureller Milieus von großer Bedeutung sind.Sie entsprechen vermutlich genau dem Zielpublikum, für das Gottsched geschrieben hat.

248

249 250 251

Vgl. Johann Heinrich Westphalen an Gottsched, Tönningen 24. Januar 1764, Tartu, UB, Best. 3, Mrg CCCLIVa, Ep. phil. Bd. III, Bl. 420–421; Rust an Gottsched, Bernburg 30. Juli 1764, Tartu, Sammlungen der Universitätsbibliothek, Best. 3, Mrg CCCLIVb, Ep. erud. Cel., Bl. 296–301. Vgl. Neues aus der Zopfzeit (s. Anm. 32), S. 75. Vgl. Lessing. Gespräche, Begegnungen, Lebenszeugnisse. Hg. von Wolfgang Albrecht. Teil 1. Kamenz 2005, S. 144 und 154. Vgl. hierzu auch Otto: Gottsched und die Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt (s. Anm. 224), S. 86–89. Auch autobiographische Aufzeichnungen könnten auf die Präsenz Gottscheds hin untersucht werden; so erinnerte sich der Industrielle Johann Gottlob Nathusius: »Um richtig deutsch schreiben zu lernen, studierte ich Gottscheds deutsche Sprachlehre.« Elsbeth von Nathusius: Johann Gottlob Nathusius. Ein Pionier deutscher Industrie. Berlin 1915, S. 30f.

CHRISTIAN MEIERHOFER

»WAs ist das wieder vor eine neue Hirn-Geburt?« Ordnungsdenken und Textverbünde in Gottscheds moralphilosophischem Programm

Das erste Drittel des 18. Jahrhunderts wird in auffälliger Weise von den Moralischen Wochenschriften dominiert, die sich zunächst in England durchsetzen. Bekanntermaßen sind es die von Joseph Addison und Richard Steele herausgegebenen Periodika The Tatler (1709–11), The Spectator (1711–12; 1714) und The Guardian (1713), die den Moraljournalismus etablieren und gewissermaßen als Prototypen einer Gattung fungieren. Die Zeitschriften entwickeln dabei vor dem Hintergrund sich diversifizierender Medienangebote und der entstehenden Zeitungskultur eine Programmatik, die auf einem Vernunftplan der Welt gründet und mit der eine rigorose »Bemühung um die Tugend«1 einhergeht. Demgemäß heißt es schon zu Beginn des Tatler: »The general purpose of this paper, is to expose the false arts of life, to pull off the disguises of cunning, vanity, and affectation, and recommend a general simplicity in our dress, our discourse, and our behaviour.«2 Verfolgt wird die Normierung von Verhaltensweisen und Denkordnungen und damit die Beseitigung von Äußerlichkeiten und Affekten. Die Moralischen Wochenschriften treten insofern als gesellschaftliches Korrektiv auf. Die beiden ersten Periodika Gottscheds, Die Vernünftigen Tadlerinnen (1725–26) und Der Biedermann (1727–29), nehmen an dieser Entwicklung des Moraljournalismus im deutschsprachigen Raum teil. Das Darbieten und Durchsetzen von Ordnung wird allerdings gestört, sobald Texte übernommen, kompiliert werden, die ganz anderen literatur- und funktionsgeschichtlichen Zusammenhängen entstammen und demzufolge ganz andere Absichten verfolgen. Gleichzeitig entwerfen die Moralischen Wochenschriften konsequente Vorstellungen von weltlicher Ordnung, die Wirkung entfalten auf Gottscheds moralphilosophisches und erkenntnistheoretisches Vorhaben überhaupt. Das gelangt einige Zeit später in den Ersten Gründen der gesammten Weltweisheit (1733/34) systematisch zur Darstellung. Auch hier ist Gottsched um wesentliche Verbindungen zu Texten bemüht, die sich an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert einer langen moralphilosophischen und naturrechtlichen Tradition verpflichtet zeigen.

1 2

Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1968, S. 171. The Tatler. London 1898. ND hg. von George A. Aitken. Bd. 1, Widmung. Hildesheim, New York 1970, S. 7f. Zu Verbreitung, Rezeption und Nachahmung der englischen Zeitschriften vgl. Fritz Rau: Zur Verbreitung und Nachahmung des ›Tatler‹ und ›Spectator‹. Heidelberg 1980, S. 13–50.

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Christian Meierhofer

1. Schreibintention und Moralanspruch der Wochenschriften Die in der Nachfolge der englischen moral weeklies entstehenden deutschsprachigen Wochenschriften orientieren sich erheblich an den Darstellungsweisen ihrer Vorläufer, übernehmen deren Tugendprogramm und deren Schreibroutinen. Bodmers und Breitingers Discourse der Mahlern (1721–23), die in Zürich publiziert werden, machen diese Bezugnahme sogleich explizit: Die den Engeländischen Zuschauer gelesen haben/ werden ohne Mühe mercken/ daß die Gesellschafft ihn zum Muster genommen hat. Alle Gelehrte wissen/ was ungemeine Approbation diesem Autor nicht allein in seinem Vatterlande/ sondern auch in Frankreich und Deutschland widerfahren/ wo er in nicht minderer Estime stehet/ und wer die Menge der Materien betrachtet/ die er ausgearbeitet hat/ seine Critische Dissertationen/ seine moralische Entdeckungen/ seine politische Maximen/ seine satirische Scherze/ und die ergetzende Manir mit welcher er seine Gedancken ausgedrücket hat/ wird mit Verwunderung gestehen/ daß er noch den Ruhm übersteiget/ der doch von ihm erschallet.3

Der Spectator wird wertgeschätzt, weil er mit Pluralität, mit der Vielzahl und der Unüberschaubarkeit der Begebenheiten, die sich in der Welt zutragen, umzugehen weiß. Diese ungeordneten Phänomene fordern die Periodika geradewegs zu organisatorischen und koordinatorischen Maßnahmen heraus. Die vielleicht einflussreichste deutsche Moralische Wochenschrift, der in Hamburg verlegte Patriot (1724–26), verfolgt von Beginn an die handfeste Absicht, »nach der blossen gesunden Vernunfft, die Tugend als etwas schönes, und die Laster als etwas häßliches, abzuschildern.«4 Und das Ziel der ebenfalls in Hamburg erscheinenden Matrone (1728–30) Johann Georg Hamanns ist es, alle Donnerstage ein Blatt ausgeben zu lassen, worinnen ich, nach dem Begriff unserer Jugend von beyderley Geschlechte, einige Sachen abhandeln werde, die ihr, meiner Einsicht nach, vortheilhafft seyn können. Ich werde ihre gewöhnlichen Fehler anmercken, sie wider Vorurtheile waffnen, und vor gewissen schädlichen Gewohnheiten warnen.5

Die Moralischen Wochenschriften sind darauf ausgerichtet, gesellschaftliche Missstände auszumachen und zu beseitigen. Darum ist etwa für den von Swift und Sheridan in Dublin herausgegebenen Intelligencer (1728–29) das distanzierte Beobachten verschiedener Öffentlichkeitsbereiche oberstes Kriterium für eine korrekte, wahrheitsgetreue Darstellung: […] because there are many Effects of Folly and Vice among us, whereof some are general, others confined to smaller Numbers, and others again, perhaps to a few individuals; There is a Society lately established, who at great expence, have Erected an Office of Intelligence, from which they are to receive Weekly Information of all Important Events and Singularities, which this famous Metropolis can furnish. Strict injunctions are given to have the truest Information: In order to which, certain qualified Persons are employed to attend upon Duty in their several Posts; some at the Play-house, others in Churches, some at Balls, Assemblees, Coffee-houses, and meetings for Quadrille; some at the several Courts of Justice, both Spiritual and Temporal, some at the College, some upon my Lord Mayor and Aldermen in their publick Affairs; lastly, some to converse with favourite Chamber-maids, and to frequent those Ale-houses, and Brandy-

3 4 5

Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger: Die Discourse der Mahlern. Zürich 1721–23. ND Hildesheim 1969, 1. Theil, Nr. 1, o. S. Der Patriot (1724–1726). Hg. von Wolfgang Martens. Bd. 1. Berlin, New York 1969, Nr. 4, S. 27. Die Matrone. Hg. von Johann Georg Hamann. Hamburg 1728, Nr. 1, S. 7.

Ordnungsdenken in Gottscheds moralphilosophischem Programm

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Shops, where the Footmen of great Families meet in a Morning […]. Out of these and some other Store-houses, we hope to gather Materials enough to Inform, or Divert, or Correct, or Vex the Town.6

Die Moralischen Wochenschriften legitimieren sich insofern, als durch ihre Beobachtung und Bewertung der gesellschaftlichen Vorgänge Handlungsorientierungen möglich werden sollen. Gleichzeitig wird so der public spirit oder der sensus communis, also der Gemeinsinn einer bürgerlichen Öffentlichkeit im Sinne Shaftesburys, aufgerufen, den die Wochenschriften mit ihren Berichten befördern und ins Bewusstsein setzen wollen.7 Gottscheds erstes Periodikum, Die Vernünftigen Tadlerinnen, schließt sich solchen Vorgaben an. Es beginnt aber auch völlig atypisch, indem eine skeptische Leserhaltung gegenüber den drei fiktiven Verfasserinnen fingiert wird: WAs ist das wieder vor eine neue Hirn-Geburt? Es wird itzo Mode, daß man gern einen Sitten-Lehrer abgeben will. Haben wir aber nicht von Manns-Personen moralische Schrifften genung; und muß sich das weibliche Geschlechte auch ins Spiel mischen? Es wird gewiß ein erbares Caffee-Cräntzchen seyn, welches bey dem Uberflusse müßiger Stunden gewohnet ist, alles zu beurtheilen und durchzuhecheln. […] So haben ohne Zweifel viele geurtheilet, als sie die Uberschrifft von diesem Blatte in den öffentlichen Zeitungen wahrgenommen.8

Eine derart unübliche Eingangspassage ist auf Abgrenzung von der Konkurrenz angelegt. Dem entspricht eine speziell weibliche Perspektive auf gesellschaftliche Schwachpunkte, die sich von der üblichen Kritik absetzen will. Einheitsstiftendes Moment der Wochenschriften ist jedoch eine grundsätzliche, außer Frage stehende Bewusstwerdung der Erkenntnisfähigkeit, die auch Frauen zukommt und ihnen ermöglicht, moralisch zu urteilen. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass der menschliche Verstand (intellectus) und das Urteilsvermögen (iudicium) ausgebildet werden, und diese Ausbildung bestimmt die Ausrichtung der Tadlerinnen: Tadeln heisset unserer Einsicht nach, die Fehler und Schwachheiten der Menschen beurtheilen, und diese Urtheile durch Worte oder Schrifften zuverstehen geben. Wir halten dieses vor eine Sache, die nach Beschaffenheit der Umstände gut oder böse, löblich oder sträfflich werden kan; obgleich das letzte weit gemeiner ist, als das erste.9

Und etwas weiter heißt es zum Verfahren: Unsere grösseste Sorgfalt wird dahin gehen, daß wir erstlich nur solche Fehler anmercken wollen, die einem Menschen würcklich zugerechnet werden können, und also wahrhafftig unter die Fehler gehö6 7

8

9

Jonathan Swift und Thomas Sheridan: The Intelligencer. Hg. von James Wolley. Oxford 1992, Nr. 1. S. 47f. Vgl. auch Katherine R. Goodman: ›Die Tugend zittert nie‹. Emotion in Literary Texts by Johann Christoph and Luise Gottsched. In: Diskurse der Aufklärung. Luise Adelgunde Victorie und Johann Christoph Gottsched. Hg. von Gabriele Ball, Helga Brandes und Katherine R. Goodman. Wiesbaden 2006, S. 261–281, hier S. 262f. Johann Christoph Gottsched: Die Vernünftigen Tadlerinnen. Im Anhang einige Stücke aus der 2. u. 3. Aufl. 1738 u. 1748. Hg. von Helga Brandes. Bd. 1, Nr. 1. Hildesheim, Zürich 1993, S. 1. Zu den Verfasserinnen vgl. Stephanie Hilger: The ›Weibliche Geschlechte‹ in the Mirror of the Early German Enlightenment: Class and Gender in Johann Christoph Gottsched’s ›Die vernünftigen Tadlerinnen‹. In: Lessing Yearbook 33 (2001), S. 127–149. Gottsched: Die Vernünftigen Tadlerinnen (s. Anm. 8), Bd. 1, Nr. 1, S. 4. Zur Aufwertung des iudicium vgl. auch Hermann Stauffer: Erfindung und Kritik. Rhetorik im Zeichen der Frühaufklärung bei Gottsched und seinen Zeitgenossen. Frankfurt a. M. 1997, S. 150–152.

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Christian Meierhofer ren. Unser Tadeln soll bescheiden seyn. Denn wir werden keine Urtheile von solchen Dingen fällen, die mehr Verstand, mehr Gelehrsamkeit und Kräffte erfordern als wir besitzen, und folglich für uns zu hoch sind. Wie wir denn beyläuffig erinnern, daß unsere Gedancken mehr aus einem natürlichen Verstande und einer angebohrnen Lebhafftigkeit des Geistes, als einer eigentlichen Gelahrtheit oder grossen Belesenheit herfliessen werden.10

Indem die Beiträge mit einer Beispiel- und Korrekturfunktion begabt werden und der Verbesserung der Sitten dienen, entstehen homogene Absichtserklärungen und »Standardisierungstendenzen«11 der Wochenschriften. Mit einem ähnlichen Programm ist es zugleich möglich, dass die Blätter sich aufeinander beziehen, sich verbünden und gegenseitig loben. So bewundert Die Matrone bereits im ersten Stück »die Patriotische Scharffsinnigkeit, der vernünftigen Tadlerinnen Artigkeit und der Schweitzerischen Mahler Einsicht«,12 um daraufhin im fünften Stück zu bekräftigen, »daß die Vernünftigen Tadlerinnen, in Verbesserung einiger Fehler, sonderlich bey einem Theile der Academischen Jugend nicht gantz unglücklich gewesen.«13 Die Moralischen Wochenschriften – und Gottscheds Periodika machen da keine Ausnahme – kompilieren zuallererst, insofern sie Schreibintentionen übernehmen. Diese Übernahme von Schreibintentionen beschränkt die Wochenschriften vor allem in ihrer Irritationsfähigkeit und etabliert feste, am Vernunftkonzept orientierte Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata, mit denen sich jeweils ein ganz klares, an Vernunft und Tugend orientiertes Weltbild ergibt. Das betrifft auch Gottscheds zweite Wochenschrift, den Biedermann. Der fiktive Verfasser, der bezeichnenderweise den Namen Ernst Wahrlieb Biedermann trägt, weist sich selbst als Liebhaber der Tugend und des Sittlichen aus: Diesem Vorsatze ein Gnügen zu thun, mache ich hiemit den Anfang, denen die ein Belieben tragen, wöchentlich was moralisches zu lesen, eine neue Sittenschrifft mitzutheilen. Neu ist sie, nicht nach den Grundsätzen, wornach man sie abhandeln wird; sondern im Absehen auf den blossen Nahmen, und auf die Art des Vortrages. Ich bin ein Liebhaber des Alten, weil ich nichts älters finde als die gesunde Vernunfft, Unschuld und Tugend. Ja der Nahme selbst ist bloß als die Uberschrifft eines moralischen Werckes, an sich selbst aber kein neues und unerhörtes, sondern ein uhraltes und recht eigentliches deutsches Kern-Wort. […] Will man also den Nachdruck dieses Worts in andern Sprachen haben, so nehme man das Griechische ἀνῆρ δίκαιος, das Lateinische Vir honestus, das Frantzösische Un homme de bien, und das Englische A good Man zusammen. All dieses wird nichts mehr, vielleicht aber wohl noch weniger bedeuten, als das deutsche Kern-Wort, ein Biedermann.14

Obwohl das »Neue einen gewissen Vorzug vor dem Alten«15 hat, setzt der Biedermann auf die bewährten Grundsätze der Moral und Vernunft. Das Weltgeschehen ist demzufolge eindeutig rubrizierbar. Die Vorfälle, die sich ereignen und von denen die Wochenschriften berichten, sind 10

11 12 13 14 15

Gottsched: Die Vernünftigen Tadlerinnen (s. Anm. 8), Bd. 1, Nr. 1, S. 6. Zur Schreibintention vgl. auch Ekkehard Gühne: Gottscheds Literaturkritik in den ›Vernünfftigen Tadlerinnen‹ (1725/26). Stuttgart 1978, S. 24f. Susanne Niefanger: Schreibstrategien in Moralischen Wochenschriften. Formalistische, pragmatische und rhetorische Untersuchungen am Beispiel von Gottscheds ›Vernünfftigen Tadlerinnen‹. Tübingen 1997, S. 281. Die Matrone (s. Anm. 5), Nr. 1, S. 8. Ebd., Nr. 5, S. 37. Johann Christoph Gottsched: Der Biedermann. Leipzig 1727–1729. ND hg. von Wolfgang Martens. Stuttgart 1975, Teil 1, Nr. 1, S. 2f. Ebd.

Ordnungsdenken in Gottscheds moralphilosophischem Programm

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nicht so sehr um ihrer selbst willen interessant und weil sie vielleicht die Neugierde, die curiositas der Leser auf sich ziehen, sondern weil sie als positive oder negative Exempel vom moralisch Richtigen überzeugen sollen. Die immer breitenwirksameren Zeitungen setzen auf genau Gegenteiliges. So gibt etwa der Hollsteinische Correspondent (1721–27) geradewegs eine Garantie für das Immerneusein von Welt, das in seinen Berichten präsentiert wird: MAn wird, wie bisher, also auch ins künftige, nicht die geringste Mühe noch Kosten sparen, das Allerneueste, so in der Welt vorgehet, jedes Mal aus der ersten Hand anzuschaffen, und ohne Verzug mitzutheilen, nicht allein aber das Allerneueste, sondern auch vor andern das Nützlichste, und was am meisten dienen kan, die Curiosität unserer Cimbrischen und anderer geneigten Leser zu vergnügen.16

Wo die Zeitungen für Pluralität votieren, ein ständig neues Sinnverlangen unterstreichen und somit den Leserbedürfnissen entsprechen wollen, spielen die konkreten Begebnisse für die Moralischen Wochenschriften allenfalls insofern eine Rolle, als sich hieran der vernünftige und wohl geplante Lauf der Dinge bestätigt.

2. Realisierung und Abweichung Mitunter werden, in den Tadlerinnen weniger als im Biedermann, die Begebenheiten ebenso wie die Darstellungsabsicht aus anderen Texten übernommen. In seiner zweiten Wochenschrift etwa zitiert Gottsched wortgetreu den gesamten vierten Teil aus Fischarts Philosophisch Ehzuchtbüchlin, das anderthalb Jahrhunderte zuvor, nämlich bereits 1578, in Straßburg gedruckt wird. In Gottscheds Wochenschrift erscheint der Text als Fortsetzungsreihe im 53., 55. und 57. Blatt. Biedermann als fiktiver Verfasser verweist zunächst auf die Umstände dieser Übernahme: MEin ehrlicher guter Freund, der alte Deutsche Wallraf Zuckhmantel, hat mir durch eine bequeme Gelegenheit wieder einmahl geschrieben, und mich von neuem erinnert, seinem neulichen Verlangen zu willfahren, d. i. aus dem belobten Ehezucht-Büchlein D. Mentzers oder Johann Fischarts, etwas zum Besten des Weiblichen Geschlechts in meine Blätter zu bringen. Ich mag diesem inständigen Ansuchen nicht länger wiederstehen, und da er mir letztlich das erwehnte Büchlein zugesandt, so kan ich ihm hierinn leicht ein Gnügen thun.17

Dieser Freund Zuckhmantel ist es auch, der Biedermann schon im 14. Blatt auf Fischarts Text und auf die Schwierigkeit, ein »frommes Biederweib« zu finden, aufmerksam macht.18 Von denen gibt es zu diesen Zeyten leyder so gar ein sparsame Anzal, daß ich nit Zweifel hege, du habest ebenmäsig aus Vrsach dessen in ein Ehlosen unbeheyrhateten Stand zu bleiben beschlossen, weil du dir nit eine von den ungesitteten Schandsäcken vnnd Luderpanern an Hals hengen wollen, die mit lauter

16 17 18

Stats-/ gelehrte und ordentl. Zeitung Des Hollsteinischen unpartheyischen Correspondenten Durch Europa und andere Theile der Welt. Schiffbeck 1721–27, Nr. 65, o. S. Gottsched: Der Biedermann (s. Anm. 14), Teil 2, Nr. 53, S. 9. Vgl. dazu Gabriele Ball: Moralische Küsse. Gottsched als Zeitschriftenherausgeber und literarischer Vermittler. Göttingen 2000, S. 82f.

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Christian Meierhofer buhlerischen Grillen umgehen, und nit wissen was das heißt, ein ehrsam Weib vnnd gescheide Hausmutter seyn.19

Doch noch aus einem anderen Grund ist Fischarts Text für Gottscheds Wochenschrift relevant. Denn der Biedermann ist davon überzeugt, dass diese »lehrreiche Unterredung zweyer Ehefrauen« auch leicht »nach der zierlichen Mundart unsers Vaterlandes«20 hätte übersetzt werden können. Doch dem stellt er – als selbsternannter »Liebhaber des Alten« – zu Beginn des hineinzitierten Dialogs ebenjenen Rückbezug entgegen, der schon in der Vorrede anklingt: Mich dünckt aber diese alte Sprache unserer Vorfahren habe in ihrem rauhen Wesen was recht ehrliches an sich, so sich vor wahre Biederleute sehr wohl schickt. Man versetze sich derowegen ein anderthalb hundert Jahre früher in die Welt, und lese das folgende Stücke einer Unterredung zweyer alten Deutschen Frauenzimmer.21

Fischart selbst kündigt den vierten Teil seines Ehzuchtbüchlins an als ein »schönes lehrhaftes Gespräch zweyer vngleicher Weiber, von jren Ehmannen, aus den Colloquiis Erasmi verteutschet vnd genannt Klag des Ehstandes.«22 Fischart weist seinen Text damit aus als Übersetzung von Erasmus’ Gespräch »Uxor Μεμψίγαμος, sive Coniugium«, zu deutsch »Der Hausdrachen, oder: die Ehe«.23 In den lateinischen Colloquia familiaria, den Vertrauten Gesprächen des Erasmus, die 1518 erstmals in Basel gedruckt werden, führen Eulalia, wörtlich die Redegewandte, und Xanthippe, der Hausdrachen sozusagen, den Dialog. Bei Fischart und Gottsched wiederum werden diese beiden bedeutungsnah umbenannt und eingedeutscht zu Rosemunda und Grimmhildin. Ausgangspunkt der Unterhaltung ist Rosemundas neuer Rock, den sie von ihrem Mann geschenkt bekommen hat. Dagegen beklagt sich die frisch verheiratete Grimmhildin über ihren Gemahl, der solche Geschenke nicht macht und ihr keine neue Kleidung kauft: »Kein guten tag kan ich mehr bey jhm haben: Sichstu nicht, wie zerissen ich hie stehe, also läßt mich der Laur in zerissenen lumpen und fetzen daher gehn«.24 Das ist Anlass für Rosemunda, einen ganzen Tugendkatalog sowie eine ganze Reihe guter Ratschläge und Exempel für ein erfolgreiches Eheleben folgen zu lassen. An erster Stelle steht dabei eine religiöse Bezugnahme. Rosemunda rät: Liebe Nachbarin, einer frommen Frawen zier ligt nicht an der kleidung oder an eusserlichen schmuck, viel weniger an der Hoffart (als Sanct Peter lehret, vnnd ich jüngst inn der Predigt gehört hab) besonder steht in reinem wandel, guten sitten und Züchtigen geberden, vnd in auffrichtigkeit deß Gemüts. […] wir, als frommen Eheweibern gebüret, lassen vns billich an dem genügen, so vns beschert ist, dann wir sein hübsch genug für einen Mann, wir sind genug geschmucket, wann wir einem Mann gefallen.25

19 20

21 22 23 24 25

Gottsched: Der Biedermann (s. Anm. 14), Teil 1, Nr. 14, S. 55. Ebd., Teil 2, Nr. 53, S. 9. Zur Kenntnis der Mundarten bei Gottsched vgl. auch Barbara MolinelliStein: Zur Dimension des Historischen in Gottscheds nationalem Bildungsprogramm. In: Annali Sezione Germanica 16 (2006), S. 71–121, hier S. 84–86. Gottsched: Der Biedermann (s. Anm. 14), Teil 2, Nr. 53, S. 9. Johann Fischart: Das Philosophisch Ehzuchtbüchlin. In: ders.: Werke. Bd. 3. Hg. von Adolf Hauffen. Stuttgart 1895, S. 115–332, hier S. 316. Erasmus von Rotterdam: Colloquia familiaria/ Vertraute Gespräche. In: ders.: Ausgewählte Schriften. Bd. 6. Übers. und hg. von Werner Welzig. Darmstadt 1967, S. 144–181, hier S. 144. Gottsched: Der Biedermann (s. Anm. 14), Teil 2, Nr. 53, S. 10. Ebd.

Ordnungsdenken in Gottscheds moralphilosophischem Programm

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Dieses Verhalten ist insofern im Sinne Gottscheds, als sich hier eine Sittenlehre andeutet, die offenbar problemlos dem Vorhaben der Wochenschrift entspricht. Hilfreich ist dafür auch das Zitat aus dem ersten Petrusbrief (1. Petr. 3,3f.), mit dem an die Ehrfurcht und Reinheit der Frauen appelliert wird. Das ist wichtig darum, weil sich in der Ehe die göttliche Ordnung im Kleinen bewähren muss. Es ist Luthers Tischreden (1566) zufolge der Ehestand, »welcher Gottes Gabe und Ordnung ist, von ihm selbs gestiftet und eingesetzt, aus welchem alle Menschen, so in der Welt sind, und alle Stände kommen, geistlich, weltlich und Hausregiment«.26 Diese traditionelle Ordnung gilt es in jedem Fall aufrechtzuerhalten, und genau darauf zielt Fischarts Gespräch und genau darum ist der Text auch für Gottsched bzw. Biedermann, als Verfechter des Alten, relevant. Der Glaubensbezug, der die Argumentation der Vorlage absichert, steht dem Vernunftplan der Welt, den die Wochenschrift mit Beispielen belegen soll, nicht entgegen, sondern ist geradezu ein Komplement zu ihm. Gleichwohl verfügt Fischarts Ehzuchtbüchlin noch über ein völlig anders geartetes Problembewusstsein als Gottscheds Biedermann. Denn Rosemundas Ratschläge für eine geordnete Ehe beschränken sich nicht bloß auf das Zitieren von biblischen praecepta, sondern können auch recht pragmatisch und konkret ausfallen, wie etwa in der mittleren der drei Passagen bei Gottsched: »Ich nimm war, was jhm für Speis täglich lieben, wie sie jhm gekocht gefallen.« Und etwas weiter kritisiert Rosemunda das unharmonische Sexualverhalten mancher Frau: Es sind auch etliche Weiber so vnartig, das sie auch im beyschlaffen vnd ehelichem werck klagen, zancken vnd kiben, vnd die freud, damit man den Männern allen widermut vnd vnlust vertreiben solt, machen sie mit jhren verdrießlichen groben sitten gar bitter vnd vngut, verderben also das Recept vnd die Artzeney, damit man den gebrechen helffen und rahten solt.27

Um dem göttlichen Ordnungsmodell gerecht zu werden, ist mitunter sogar ein recht unziemliches Verhalten gefragt. So erzählt Rosemunda auch eine Beispielgeschichte von einem untreuen Mann, dessen Frau »das Weiblin«, mit dem er sie betrügt, »zu gast in jhr Hauß« lädt, sich also als ihres »Manns Kupplerin«28 betätigt und damit keinen Streit aufkommen lässt. Fischarts Text prononciert – und das entspricht denn auch dem Bewusstsein des 16. Jahrhunderts – den Topos der Melancholievertreibung sowie ein situationsgerechtes und situationskluges Verhalten, das den jeweiligen Umständen angepasst werden kann, auch wenn es konstante, metaphysisch begründete Regeln gibt. Im Zweifelsfall kann immer noch der Grundsatz gelten: »Es ist besser ein schädlin dann ein schad.«29 Die bei Fischart angebotenen Handlungsorientierungen können also durchaus variationsreich ausfallen. Kleinere Unanständigkeiten werden gebilligt, wenn dadurch die eheliche Ordnung insgesamt erhalten bleibt. Im Gegensatz dazu geht es Gottsched vornehmlich um die Normierung von Verhaltens- und Sehweisen. Während das Ehzuchtbüchlin die Handlungsregeln auch fall- und bedarfsweise generieren kann, stehen sie im Biedermann von vornherein fest. Deshalb bleiben derartige Textverbünde offenbar nicht folgenlos. Bereits in der Folgeausgabe der letzten Passage aus Fischart, im 58. Stück, ist ein Brief von Gamophilus, einer von Biedermanns Bekannten, abgedruckt, in dem er dem ledigen Biedermann den Vorschlag macht, 26 27 28 29

Martin Luther: Tischreden. In: ders.: Werke. II. Abt. Bd. 1. Weimar 1967, Nr. 974, S. 493. Gottsched: Der Biedermann (s. Anm. 14), Teil 2, Nr. 55, S. 20. Ebd. Ebd.

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Christian Meierhofer

doch auch in den Ehestand zu treten. Keine Geringere als die Hamburger Matrone, die fiktive Verfasserin der gleichnamigen Wochenschrift, steht dafür zur Auswahl: So wüste ich […] eine hübsche Parthey vor Sie; die ich ihnen auch aus gantz besonderer Hochachtung und ohne alle eigennützige Absichten vorschlagen will. Es ist, kurtz von der Sache zu reden, die berühmte Matrone aus Hamburg; die sich eine Zeit her mit ihren beliebten moralischen Blättern bekant gemacht hat. […] Geschähe es nun, daß jemand es gewahr würde, wohin Sie ihre Gedancken gerichtet hätten, wie leicht könnte Ihnen jemand die liebenswürdige Matrone vor dem Maule wegfischen. Es wäre aber ewig Schade, wenn dieselbe einem andern als Ihnen zutheil werden sollte. Ich glaube nehmlich, daß kein vortrefflicher und ähnlicher Paar in der gantzen Welt zusammen kommen könnte. Da würde man gewiß das allervollkommenste Muster eines vernünftigen Ehestandes, einer klugen Kinderzucht und glücklichen Haushaltung nicht weiter als auf ihrem Gute suchen dörfen.30

Auf dieses Schreiben hin, wägt Biedermann ab, ob er »überhaupt [s]einen ledigen Stand mit dem Ehstande verwechseln wolle.«31 Diese Entscheidung fällt ihm allerdings und wider Erwarten nicht leicht. Was den Vernunftplan angeht, den die Wochenschriften durchsetzen und vermitteln wollen, wäre ein solches Abwägen einer Heirat gar nicht nötig. Denn eine Heirat kann in einer von Gott geordneten Welt kein Fehler sein. Diese Überzeugung wird schon in den Tadlerinnen vertreten: Es mag also nach menschlichem Gutdüncken bey mancher Heyrath noch so wunderlich zu gegangen seyn; sie mögen auch hernach gut oder übel gerathen: so glaub ich doch, sie seyen alle im Himmel gemacht. Die Vorsehung strafft oft einen bösen Ehgatten durch den andern. Oft will sie die Bosheit des einen durch die Tugend des andern bessern. Und wer kan alle ihre weise Absichten völlig ergründen. Nun ist es ferner gewiß, daß auch alle so genante Glücks- und Unglücksfälle in der Welt nicht von einem blinden Glücke; sondern von der Verordnung und dem Willen eines vollkommen weisen Wesens herrühren.32

An der Ordnung der Welt besteht von Beginn an kein Zweifel, und am Ehestand lässt sich das Funktionieren dieser Ordnung, an der die Periodika durchgängig festhalten, ablesen: Das Betragen der Eheleute unter einander gibt einen richtigen Schluß auf ihr Betragen in dem Umgange und der Gesellschaft mit andern an die Hand. Die Ehe ist die erste und engste Gesellschaft, und der Grund zu allen andern. Denn es entstehen nicht nur aus derselben die Menschen, welche gesellig mit einander leben sollen; sondern dieser Stand gibt auch die erste und wahre Anleitung zum geselligen Leben. Wenn wir ein Hauswesen betrachten, so finden wir darinnen Personen, die einander gleich sind, und solche, die einen Vorzug behaupten; folglich auch niedrige, alle aber werden durch eine Verbindung in ein Ganzes zusammen gebracht. Es sind also in dem Ehestande alle Züge, die eine Gesellschaft bilden können. Hier finden wir die erste Anlage zum gesellschaftlichen Leben, obwol im Kleinen, doch nach allen seinen Theilen, wie ein Kind im Mutterleibe die ganze Anlage und alle Theile eines vollkommenen Menschen in sich hat.33

Quasi als Ergänzung zu dieser Maßgabe liest sich das entsprechende Lemma im achten Band von Zedlers Universallexikon, bei dem eine natürliche Vernünftigkeit von den Eheleuten eingefordert wird: 30 31 32 33

Ebd., Nr. 58, S. 32. Ebd., Nr. 59, S. 33. Gottsched: Die Vernünftigen Tadlerinnen (s. Anm. 8), Teil 2, S. 307f. Der Gesellige, eine moralische Wochenschrift. Hg. von Samuel Gotthold Lange und Georg Friedrich Meier. Halle 1748–1750. ND hg. von Wolfgang Martens. Hildesheim, Zürich 1987, Teil 1, Nr. 3, S. 25.

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Der Ehestand ist also eine derer allergenauesten Freundschafften, welche in der Welt angetroffen werden. Da nun bekannt, daß nur eine wahre Vernunfft gute Freundschafft stifftet, und daß nicht alle Gemüther wegen ihrer verschiedenen und ganz widerwärtigen Neigungen geschickt seyn, gerne und willig eine feste und vertraute Freundschafft unter einander zu stifften: so hat man gleichfalls auf dieses bey einer Ehgattin Achtung zu geben. Man muß Vernunfft suchen: worunter wir aber keinesweges Gelehrsamkeit und hohe Wissenschafften verstehen. Ein verbesserter Verstand verdienet noch nicht den Namen eines gelehrten Verstandes, in wie ferne wir das Wort der Gelehrsamkeit vor eine grosse und weitläufftige Wissenschafft nehmen.34

Die Ordnung der Welt, die sich im Ehestand widerspiegelt, ist offenbar durch nichts zu erschüttern. Denn der Vernunftplan ist systematisch und schematisiert den Umgang mit jedwedem Phänomen- und Erfahrungsbereich. Von dieser Planmäßigkeit nimmt sich Biedermann aber selbst aus und betont lieber die Vorteile eines ehelosen Daseins: Meine Zeit wird mir nicht lang, so lange ich Bücher in meiner Studierstube habe, die ich mit selbstbeliebiger Abwechslung lesen kan. […] Bin ich ja der Einsamkeit überdrüssig, so dienet mir die angenehme Familie meines Nachbars und Freundes zur Veränderung. Mit der übrigen Welt habe ich sonst auch einige Gemeinschaft, indem ich aus politischen und gelehrten Zeitungen mich um den gegenwärtigen Zustand derselben bekümmere: ja auch seit einiger Zeit meine eigene Gedancken auf wöchentlichen Blättern denenjenigen mittheile, so sich die Mühe nehmen wollen, dieselben zu lesen. Was habe ich bey allen diesen Umständen einer Ehgattin nöthig, die mir wohl gewiß mehr Sorgen und Unruhe als bißher; aber vielleicht kein grösseres Vergnügen ins Haus bringen würde. […] Die Welt wird ohne mich und ohne meine Heyrath wohl bestehen. Es giebt Leute genug, die sich durch zulängliche Gründe genöthiget sehen, den Ehestand zu wehlen, und die Anzahl der Ehlosen ist gegen dieselben zu rechnen sehr klein. Wer sich sonderlich auf die Betrachtungen der Weisheit, und die Erforschung der Wahrheit mit einigem Eifer leget, thut sehr wohl, wenn er im ledigen Stande bleibet. […] Manches schöne Buch würde ich nicht gelesen haben, wenn ich mich schon vor etlichen Jahren verheyrathet hätte: und wie manches würde ich künfftig entbehren müssen; wenn ich mich noch itzo dazu entschließen sollte? Nein, nein! ich bleibe einsam; ich mag mich nicht verändern. […] Noch mehr. Das Frauenzimmer nach der itzigen Art hat eine Gattung von Kranckheit, die weder ich noch sonst jemand heilen kan. Gewisse trübe Dünste steigen ihnen ins Gehirn, und stellen ihnen ohn Unterlaß allerhand wunderliche Chimären vor, nicht anders, als ob sie im hitzigen Fieber phantasieren. Sie sehen Tag und Nacht lauter Kutschen und Pferde, lauter Lackeyen, Gold- und silberstückene Kleider, kostbahres Geschmeide, reichgefüllte Goldbeutel, mit Diamanten versetzte SackUhren, silberne Tischgeräthe, prächtige Porcellan-Aufsätze, u. d. m. vor Augen. […] Wie würde ich nun dabey zurechte kommen, da ich mich weder in die Sitten der heutigen Welt zu schicken weiß, noch mit meinen jährlichen Einkünften die Helfte von allen vorhin erzahlten Dingen bezahlen kan.35

Biedermann liefert gleich mehrere Argumente gegen den Ehestand, obwohl der im Programm der Wochenschriften die ideale Umsetzung eines moralischen und vernünftigen Ordnungsdenkens bedeutet. Die vielen möglichen Schwierigkeiten einer Ehe, die zuvor in Fischarts hineinzitiertem Text dargelegt werden und die Biedermann in seinen Überlegungen aufgreift, können so gar nicht erst aufkommen. Weder fühlt sich Biedermann vom Alleinsein bedroht, noch möchte er auf seine intensiven Buchlektüren und Forschungen verzichten, noch können ihn die Oberflächlichkeit und die Geldgier der meisten Frauen von der Ehe überzeugen. Seine Entscheidung ist in diesem Sinne weniger vernunftorientiert als pragmatisch und situationsklug. Dementsprechend suggeriert die Passage ebendies: Die Ehe bietet ausschließlich Nachteile, doch lassen sich 34 35

Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschafften und Künste […]. Bd. 8. Halle, Leipzig 1734, Sp. 372. Gottsched: Der Biedermann (s. Anm. 14), Teil 2, Nr. 59, S. 33–35.

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diese Nachteile ganz einfach vermeiden, indem man sich gar nicht erst auf die Ehe einlässt. Dass dem eigentlich verfolgten Vernunftkonzept genau das Gegenteil entspräche, spielt für diese Haltung keine Rolle. Biedermann kann beide Extreme vertreten, die Mahnung zu tugendhaftem Zusammenleben in der Ehe ebenso wie die Vermeidung jedweder Komplikationen durch Ehelosigkeit. Während einerseits konsequent für das moralphilosophisch begründete Programm votiert wird, machen kompilierte Texte mit ganz anderer Intention bisweilen auch Abweichungen von diesem Programm möglich oder erzwingen zumindest Kompromisslösungen. Genauso problemlos kann Biedermann aber wieder auf das Tugendprogramm rekurrieren, nachdem sein Freund Sophronicus die Ehelosigkeit keineswegs missbilligt, im Falle der Hamburger Matrone jedoch die Meinung des Gamophilus teilt: »ich will ihnen gar nicht rathen, irgend auf eine Veränderung zu dencken: außer auf die einzige, so ihnen Gamophilus neulich vorgeschlagen hat.«36 Diesem Ratschlag kann sich Biedermann nicht mehr entziehen und verfasst daraufhin einen entsprechenden Brief an die Auserwählte: Daselbst fieng er sich an deutlich zu erklären; that mir auch in einer kurtzen Zeit solche Vorstellungen, daß ich allmählich nachgab, meinen vorigen Entschluß änderte, und mich wircklich sogleich hinsetzte, mein Anwerbungs-Schreiben an die berühmte Hamburgische Matrone unverzüglich abzufassen. Ich trage kein Bedencken, diesen Brief hiermit aller Welt vor Augen zu legen, wiewohl mir Hr. Gamophilus, so ernstlich die Heimlichkeit angerathen hat. Meine Absichten sind ehrbar, und meine Schreibart soll nichts leichtsinniges an sich haben. Ich mache mir auch die gewisse Hoffnung, daß Sie sich in ihren nechsten Blättern auf eine erwünschte Art gegen mich erklären werde. Madame. ICh kan vermuthen, daß Ihnen der Anschlag nicht unbekannt seyn werde, der mir neulich gegeben worden, mich um eheliche Liebe einer so verständigen und tugendhaften Person, als Sie sind, zu bewerben. Nach eigener Uberlegung und auf Anrathen guter Freunde, finde ich, daß derselbe in der That vernünftig gewesen, und nehme mir also die Freyheit, Ihnen hiermit eine ungeheuchelte LiebesErklärung zu thun. Sie haben mehr als einmahl meiner Blätter sehr gütige Erwehnung gethan, welches ich nicht anders als vor die ersten holden Blicke ansehen können, welche sonst die Liebhaber von ihren Gebieterinnen zu rühmen pflegen. Sie kennen mich zum wenigsten eben so gut, als ich Sie. Unsre wöchentliche Papiere sind so viele Abbildungen unsrer Gemüther, und vertreten die Stelle der Schildereyen, wodurch sich sonst abwesend verlobte Personen einander bekannt zu werden suchen. Haben Sie nun eben so viel Zuneigung gegen mich, als ich gegen Sie habe; und finden Sie so viel gute Eigenschaften an mir, als ich an Ihnen bereits in der Entfernung wahrgenommen; so hindert uns weiter nichts, ein näheres Bündniß mit einander zu treffen. Unsre Bekanntschaft erstreckt sich nur auf die Fähigkeit unserer Seelen: allein zu einer solchen Vermählung, als ich Ihnen anzutragen die Ehre habe, ist dieses schon zulänglich. Es wird dazu genug seyn, daß wir uns einander vor Gehülfen in Ausbreitung der Wahrheit und Fortpflanzung der Tugend ansehen. Werden doch sonst dergleichen Heyrathen zwischen Personen geschlossen, die zum Kinderzeugen bereits untüchtig geworden: Warum sollte denn unsre Verbindung nicht zum wenigsten eine Moralische Ehe heissen können? Wir werden unsern gegenseitigen Beystand uns auch in der Entfernung leisten können, folglich wird es nicht nöthig seyn, uns dem Leibe nach näher als bißhero geschehen, zu verbinden. Unsere Ehe aber verspricht mir keine geringere Fruchtbarkeit an moralischen Kindern; wenn Sie nur eben so gesonnen sind als Ihr künftiger treuer Gehilfe E. W. Biedermann.37

36 37

Ebd., S. 36. Ebd.

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Allein die moralische Ehe mit der Matrone ist für Biedermann ohne Probleme möglich, weil eben nur die Matrone keine Nachteile im Sinne des Tugendprogramms mit sich bringt. Diese gezielte Entscheidung soll vor Irritationen bewahren, sie lässt aber auch keine anderen als die ohnehin bekannten Erfahrungen zu. Biedermanns Unwille und Skepsis gegenüber jedweder Veränderung seiner Lebensumstände verlangen auch nichts anderes. Vor dem Hintergrund von Fischarts Text ist es dieses rechtzeitige Umgehen von (ehelichen) Problemen, das hier hinüberwirkt. Insofern wird mit Biedermanns Liebeserklärung das übergreifende, alles umfassende Vernunftkonzept auf ungewohnte Weise mit der eigentlich längst veralteten, in sich auch Widersprüche hinnehmenden Vorstellung von situationsbezogener Realitätsbewältigung kombiniert. Die Entscheidung zur Ehe aus Gründen der Vernunft, der moralischen und sittlichen Ordnung und der Tugendhaftigkeit erweist sich als Entscheidung des geringsten lebenspraktischen Widerstandes. Ebendiese Denkfigur wird schließlich von der Matrone aufgenommen, sobald sie einige »kleine Aufsätze« referiert, die ihr »von einer unbekannten Hand mitgetheilet worden«.38 Unter diesen Aufsätzen befindet sich auch einer, der das Verhältnis von Liebe und Ehe näher beleuchtet: Die Liebe suchet nichts, als die Vereinigung zweyer Hertzen. Die Verehelichung aber hat meistentheils keinen andern Zweck, als bloß die Vortheile. Der Gott der Liebe kommet, wenn es ihm gefället; der Gott des Ehestandes aber, wenn er geruffen wird. Vor der Liebe kan man sich nicht verwahren: der Ehestand aber wird nicht anders, als mit Ueberlegung, geschlossen.39

Außerdem bedeutet die Verbindung zwischen Biedermann und Matrone, neben der detailreichen Modellierung der beiden Verfasserfiguren, vorrangig einen neuen Textverbund aufgrund argumentationsstrategischer Überlegungen. Denn die Bezugnahmen der beiden Wochenschriften aufeinander erhöhen freilich ihre Durchschlagskraft. Damit wird auch die globale argumentative Ausrichtung der Wochenschriften abgesichert, die sich immer wieder auf die vorgesehene Ordnung der Dinge berufen. Grundsätzlich gilt: »Es ist nichts umsonst geschaffen.«40 Selbst wenn es innerhalb dieser Ordnung zu Störungen kommt, sind sie als solche auszumachen und beschreibbar. Dementsprechend fällt die Perspektive des Biedermanns schon im ersten Blatt aus: Uberall wo ich meine Augen hinwende, finde ich Gelegenheit, mein Gemüthe an der herrlichen Ordnung, ausbündigen Schönheit, und untadelichen Gerechtigkeit zu belustigen, die der HErr aller Dinge in seinem weisen Regimente blicken lässet. […] Ich habe es verstehen gelernet, daß die scheinbare Unordnung in der Welt, in der That lauter Ordnung sey, und daß auch die unansehnlichsten Dinge eine Schönheit besitzen, die uns in Erstaunung setzen würde, wenn wir dieselbe recht einzusehen vermögend wären.41

Mit diesem religiös fundierten Ordnungsbewusstsein gibt es keinen Vorfall, der nicht einzuordnen wäre. Die Moralischen Wochenschriften haben, selbst wenn ihre Gegenstände variieren und nicht systematisch dargeboten werden, gewissermaßen für alles schon das Rezept parat. Gottscheds Biedermann vollführt unausgesetzt ebendiese deistische Argumentation. Fest steht,

38 39 40 41

Die Matrone (s. Anm. 5), Nr. 43, S. 327. Ebd., Nr. 45, S. 353. Ebd., Nr. 29, S. 226. Gottsched: Der Biedermann (s. Anm. 14), Teil 1, Nr. 1, S. 3.

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Christian Meierhofer daß alles, was uns begegnet, uns von dem allerweisesten Wesen zugeschickt wird; und daß wir selbst nichts bessers vor uns hätten aussuchen und erwehlen können, wenn wir eine zulängliche Einsicht in die Ordnung und den Zusammenhang aller Dinge gehabt hätten.42

Obwohl sich Gottscheds Wochenschriften freilich nicht auf alles beziehen können, macht gerade diese Annahme vom Zusammenhang aller Dinge den Anspruch aus, auch alles Dargebotene zu strukturieren. Genauso wichtig ist jedoch, dass die Praktizierbarkeit dieses vernunftbasierten Ordnungsdenkens innerhalb einer Gesellschaft unmittelbar an diesen Anspruch gekoppelt ist, wie es etwa Der Gesellige (1748–50) im Anschluss an Gottsched formuliert: Ich betrachte die Erdkugel als einen Platz, der den vernünftigen Bewohnern desselben zu einer gesellschaftlichen Versammlung bestimmt ist. Die Menschen, die zu einer Zeit miteinander leben, stehen in einem gewissen Verhältnisse gegen einander, und die Bedürfnisse samt den Bequemlichkeiten unserer Natur erfordern, daß wir uns näher zusammenthun. Selbst die Thiere halten eine Gattung von Gesellschaft unter einander, und der Verstand, den wir für ihnen voraus haben, macht uns zu einer weit vortreflichern Verbindung untereinander geschickt, dadurch ein jeder einzelner Mensch, als ein Glied einer Kette, zu dem gemeinen Wesen das Seinige beyträget und beytragen muß, wenn er ander seiner selbst froh werden will.43

Mit dem persönlichen Glücksbestreben verbindet sich die im Naturrecht verankerte Forderung nach Geselligkeit und gemeinschaftlichem Leben, nach socialitas, der die Moralischen Wochenschriften insgesamt durch eine Normierung von Verhaltensweisen stattzugeben versuchen44 und die Gottscheds Entwurf zu einer allgemeinen Erkenntnis- und Sittenlehre nachhaltig beeinflusst.

3. Zur Entwicklung einer allgemeinen Erkenntnis- und Sittenlehre Die Moralischen Wochenschriften halten sich – der Gattungstradition folgend – erst einmal empirisch, beobachtend und dann beurteilend an einzelne Vorfälle und an das historische Geschehen, wie es Wolff in seiner Deutschen Logik (1713) bereits verlangt: »Die Historie soll die Tugenden und Laster, insonderheit die Klugheit und Thorheit durch Exempel lehren.«45 Gottscheds Erste Gründe der gesammten Weltweisheit sind mit Blick auf seine frühen journalistischen Publikationen genau entgegengesetzt angelegt. Sie liefern sozusagen das philosophischtheoretische, rationalistische Rüstzeug der Wochenschriften und deren Vermittlung von weltlicher Moral nach. Es geht um das Abhandeln »alle[r] philosophische[n] Wissenschaften, in ihrer

42

43 44 45

Ebd., Nr. 36, S. 144. Zur Verschränkung von Vernunft und Glaube vgl. auch Detlef Döring: Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz’ und die Leipziger Aufklärung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Stuttgart, Leipzig 1999, S. 39. Der Gesellige (s. Anm. 33), Teil 1, Nr. 1, S. 1f. Vgl. auch Friedrich Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2001, S. 212f. Christian Wolff: Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkenntnis der Wahrheit. (Deutsche Logik). In: ders.: Gesammelte Werke. I. Abt. Deutsche Schriften. Bd. 1. Hg. von Hans Werner Arndt. Hildesheim 1965, S. 220.

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natürlichen Verknüpfung«.46 Gottsched definiert daraufhin die Weltweisheit folgendermaßen: »Die Weltweisheit nenne ich eben die Wissenschaft von der Glückseligkeit des Menschen; in so weit wir sie, nach dem Maaße unserer Unvollkommenheit in dieser Welt, erlangen und ausüben können.«47 Und insofern führt Gottsched in der Weltweisheit den Grundgedanken fort, den er im Biedermann so stark gemacht hat: »Die Quelle aller Tugenden ist das ewige Gesetz der Natur: Daß ein jedes vernünftiges Wesen, durch alle seine freye Handlungen, seine und andrer Menschen Glückseeligkeit suchen, und dadurch GOttes Ehre befördern solle.«48 Außerdem gründet man die Weltweisheit im Idealfall »nicht auf die ungewissen Meynungen neuer oder alter Weltweisen; sondern auf die gründlichsten Vernunftschlüsse, und auf ungezweifelte Erfahrungen, daraus man ihre Lehren ganz augenscheinlich erweisen kann.«49 Das logische Schließen gewinnt oberste Priorität für das Erkennen und Betrachten von Welt. Denn die Teile der sichtbaren Welt haben »allesammt […] einen gewissen Zusammenhang«50 und sind miteinander verknüpft. Nichtsdestoweniger bedürfen der Verstand (intellectus) und die ihm untergeordnete Vernunft (ratio), »vermöge welcher wir den Zusammenhang der Wahrheiten einsehen«, einer erzieherischen Unterweisung, weil »die natürliche Vernunftlehre uns vor Irrthümern nicht sicher genug machet«.51 Für die Sittenlehre, die Gottsched in seinen Wochenschriften vermitteln will und die er im zweiten Teil der Weltweisheit systematisch entwirft, ist diese Ausbildung vernünftiger, den Zusammenhang der Dinge nachvollziehender Erkenntnis von großer Bedeutung. Hierdurch nämlich ist der Mensch in der Lage, im Sinne der Tugend und des Glückbestrebens zu handeln. Gottscheds vernunftbasierte Erkenntnistheorie zielt, wie schon im Versuch einer Critischen Dichtkunst (1730) deutlich wird, immer auch auf die konkrete Ausprägung und Betonung von richtigen, d. h. moralphilosophisch konformen Verhaltensweisen: »Ein Dichter ahmet die Handlungen der Menschen nach; die entweder gut oder böse sind. Er muß also in seinen Schildereyen die guten als gut, das ist schön, rühmlich und reizend; die bösen aber als böse, das ist häßlich, schändlich und abscheulich abmalen.«52 Im Praktischen Teil der Weltweisheit wird dieser Gedanke weiterentwickelt und auf das Beurteilen von Handlungen bezogen: 25. §. Wer aber von den freyen Handlungen, und ihrer innern sittlichen Beschaffenheit recht urtheilen will, der muß […] auf ihre natürlichen Folgen sehen. Ziehen sie nämlich etwas nach sich, was uns und unsern Zustand nur einigermaßen verbessert, oder vollkommener machet: so sind sie gut. Bringen sie aber etwas hervor, was uns und unsern Zustand […] unvollkommener machet: so sind sie an sich selbst schon böse.53

46 47 48 49 50 51 52

53

Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Theoretischer Teil). In: ders.: Ausgewählte Werke. Bd. V/1. Hg. von Phillip M. Mitchell. Berlin, New York 1983, Titelblatt, S. 3. Ebd., S. 122f. Gottsched: Der Biedermann (s. Anm. 14), Teil 2, Nr. 97, S. 187. Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Theoretischer Teil) (s. Anm. 46), S. 123. Ebd., S. 263. Ebd., S. 130f. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst durchgehends mit den Exempeln unserer besten Dichter erläutert. […] Leipzig 41751, S. 110. Vgl. dazu Angelika Wetterer: Publikumsbezug und Wahrheitsanspruch. Der Widerspruch zwischen rhetorischem Ansatz und philosophischem Anspruch bei Gottsched und den Schweizern. Tübingen 1981, S. 122–127. Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Praktischer Teil). In: ders.: Ausgewählte Werke. Bd. V/2. Hg. von Phillip M. Mitchell. Berlin, New York 1983, S. 84f.

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Damit ist die moralische Qualität aus den Folgen jedweder Handlung ganz unzweideutig ersichtlich, und darum gibt es keine Unklarheiten des Weltbildes. Gottscheds Weltweisheit bietet einen logisch zusammenhängenden, enzyklopädisch angelegten Normvorrat für die Wahrnehmung und Bewertung von Welt,54 bei der Vernunftlehre und Verhaltenslehre unweigerlich aufeinander bezogen sind. Freilich kommt auch die Weltweisheit nicht ohne, zumindest mittelbare, Bezugnahmen auf andere theoretische Konzepte aus. Folgt man der Forschungsgeschichte, steht hierbei an erster Stelle die rationalistische Philosophie Wolffs, und dies auch mit einiger Berechtigung. An dessen Deutscher Ethik (1720) kann sich Gottsched maßgeblich mit seiner Sitten- und Verhaltenslehre orientieren. Wolffs Ansicht bei der Beurteilung von Handlungen ist dabei ebenso unmissverständlich wie die Gottscheds: §. 3. Was unseren so wohl innerlichen, als äusserlichen Zustand vollkommen machet, das ist gut […]; hingegen was beyden unvollkommener machet, ist böse […]. Derowegen sind die freyen Handlungen der Menschen entweder gut, oder böse […]. §. 4. Wenn man demnach die Handlungen beurtheilen will, ob sie gut, oder böse sind; so muß man nachforschen, was sie veränderliches so wohl in unserm innerlichen Zustande des Leibes und der Seele, als in dem äusserlichen nach sich ziehen, und dabey acht haben, ob der veränderte Zustand mit dem Wesen und der Natur des Menschen, das ist, so wohl des Leibes, als der Seele, und dem vorhergehenden Zustande zusammen stimmet, oder ob er ihm zu wieder ist […].55

Wolff kommt es auf die Folgen menschlicher Handlungen an, die durch den logischen Weltzusammenhang wenigstens im Nachhinein erklärbar werden und entweder gut oder böse sind. Das Handlungsspektrum bleibt davon uneingeschränkt. Handlungen sind frei, auch wenn sie dem handelnden Individuum oder anderen Schaden zufügen. Der schon bei Leibniz vorkommende Grundsatz von der Handlungsfreiheit steht dem Konzept Wolffs und Gottscheds also in keiner Weise entgegen, sondern wird darin integriert. Zur Handlungsfreiheit gehört für Leibniz immer auch das Urteil über die Handlung, das Einnehmen eines Standpunktes. Nur so gelingt ein vernünftiger Entschluss: Dies alles zeigt uns den Vorzug, den ein entschiedenes Urteil jener vagen Gleichgültigkeit voraus hat, die uns im ungewissen läßt. Endlich aber haben wir oder die Leidenschaft uns in der Ungewißheit erhalten können, eben deshalb aber Gott niemals. Je mehr man sich ihm nähert, um so vollkommener ist die Freiheit und um so mehr wird sie durch das Gute und die Vernunft bestimmt.56

In dieser Hinsicht kann auch Wolff die grundlegende Reglementierung des Handelns einfordern, um die menschlichen Lebensumstände zu verbessern und möglichst zu vervollkommnen: »Da nun diese Regel sich auf alle freye Handlungen erstrecket […]; so hat man kein anderes 54

55

56

Vgl. auch Istvan Gombocz: ›Es ist keine Wissenschaft von seinem Bezirke ganz ausgeschlossen.‹ Johann Christoph Gottsched und das Ideal des aufklärerischen Poeta doctus. In: Daphnis 18 (1989), S. 541–561, hier S. 545f. sowie Christa Heilmann: Wissenschaftstheoretische Positionen Gottscheds zur Rhetorik und ihre Aufhebung im 20. Jahrhundert. In: Beiträge zur Erforschung der deutschen Sprache 5 (1985), S. 276–280. Christian Wolff: Vernünftige Gedanken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit. (Deutsche Ethik). In: ders.: Gesammelte Werke. I. Abt. Deutsche Schriften. Bd. 4. Hg. Hans Werner Arndt. Hildesheim, New York 1976, S. 6. Gottfried Wilhelm Leibniz: Die Theodizee von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels. Dritter Teil. Abriß der Streitfrage. Die Sache Gottes. In: ders.: Philosophische Schriften. Bd. II/2. Hg. und übers. von Herbert Herring. Frankfurt a. M. 1996, Nr. 318, S. 117.

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Gesetze der Natur mehr nöthig sondern alle besondere Gesetze müssen daraus erwiesen werden […]. Und also ist diese Regel ein vollständiger Grund aller natürlichen Gesetze.«57 Dieser Vorstellung schließt sich Gottsched an, wenn er – mit einiger Redundanz freilich – seinerseits das Naturgesetz formuliert: 32. §. Ein Gesetz nennen wir eine Regel, nach welcher wir unsere freye Handlungen einzurichten verbunden sind. Nun stecket aber in der […] gedachten natürlichen Pflicht eine Regel unserer freyen Handlungen; und die natürliche Verbindlichkeit, die dabey vorhanden ist, […] verbindet uns sattsam, sie zu beobachten: folglich liegt denn in dieser Pflicht ein natürliches Gesetz. Der Inhalt desselben ist folgender: Thue alles das, was die Vollkommenheit bey dir und bey andern befördert; und unterlaß hingegen alles dasjenige, was dir oder andern zur Unvollkommenheit gereichet. Diese Regel nennet man auch schlechthin, das Gesetz der Natur. 33. §. Es ist aber dieses Gesetz der Natur ein unveränderliches Gesetz, welches bey allen Menschen und zu allen Zeiten unverbrüchlich bleibt; und von welchem kein Gesetzgeber im geringsten abgehen kann, oder soll. Dieses Gesetz gebeut uns nun, die an sich selbst schon guten Handlungen zu thun; die an sich selbst bösen aber zu meiden.58

Das Naturgesetz verpflichtet zum Ausführen guter und zur Vermeidung böser Handlungen. Diese Unterscheidung ist das einzig gültige Beurteilungskriterium, weil schlichtweg »keine Mittelgattung derselben vorhanden ist, die dem Gutachten eines jeden überlassen wäre«.59 Die Vorkommnisse in der Welt unterliegen allesamt diesem Schema, und darum gibt es auch keine Schwierigkeiten bei deren Bewertung und Einordnung in das Vernunftkonzept. Wegen der permanenten und omnipräsenten Gültigkeit des Naturgesetzes, als Eckpfeiler der Vernunftphilosophie Wolffs und Gottscheds, kann bei der moralischen Beurteilung von Handlungen sogar ganz auf Gott verzichtet werden: 36. §. Aus diesem allen erhellet nun: daß auch die Gottesläugner selbst ein Gesetz der Natur erkennen müssen; dafern sie nicht ganz blind seyn wollen. Es kömmt hierbey gar nicht auf die Frage an, ob ein Gott sey? Die Natur der Handlungen bleibt doch allemal ebendieselbe; und unser Thun und Lassen zieht immer gewisse Folgen nach sich, welche entweder die Vollkommenheit oder die Unvollkommenheit befördern. Daher sind sie denn auch gut oder böse, es mag nun ein Gott seyn, oder nicht seyn; wie sie irriger Weise dafür halten: genug, daß die Natur des Menschen und aller Dinge, einmal so ist und bleibt, wie wir sie finden. So lange sie nun so ist und bleibt: so lange bleibt auch das Gesetz der Natur bey seiner völligen Kraft und Gültigkeit. Die Unwissenheit, oder der Irrthum eines Menschen, kann doch die Sache selbst nicht ändern.60

Auch hier bedient sich Gottsched bei Wolff. Der hat die freien Handlungen a priori in gut und böse unterschieden, und nicht auf den göttlichen Willen zurückgeführt: »Wenn es derowegen gleich möglich wäre, daß kein GOtt wäre, und der gegenwärtige Zusammenhang der Dinge ohne ihn bestehen könte; so würden die freyen Handlungen der Menschen dennoch gut oder böse verbleiben.«61 Mit diesem Argument schließen Wolff und Gottsched an die von Grotius in die Naturrechtsdebatte eingeführte Formel des etiamsi daremus non esse Deum und insofern an die philosophia practica des 17. Jahrhunderts an.

57 58 59 60 61

Ebd., S. 16. Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Praktischer Teil) (s. Anm. 53), S. 88. Ebd. Ebd., S. 89. Wolff: Vernünftige Gedanken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit. (Deutsche Ethik) (s. Anm. 55), S. 7.

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Ein kurzer Blick in Pufendorfs wirkungsmächtige De officio et civis juxta legem naturalem libri duo (1673), die 1691 ins Deutsche übertragen und in Leipzig bei Gleditsch verlegt werden, kann diese Verbindungen zwar nur skizzieren, aber dennoch belegen helfen. Hier steht der Gottesglauben aus Vernunftgründen nie zur Disposition: »Denn weil einen die Vernunfft sagen kan/ daß dieses alles nicht von selbst seyn koenne/ so muß es nothwendig einen allgemeinen/ und hoehesten Ursacher haben/ welcher kein anderer ist/ als Derselbige/ den wir einen GOtt zu nennen pflegen.«62 Ausgangspunkt aller Überlegungen ist bei Pufendorf die göttliche Moralinstanz, vor der alle Menschen gleichgestellt sind. Doch auch an anderer Stelle scheint sich Gottsched eher epigonal anzuschließen, wenn es um die im Naturrecht unveränderbaren Verpflichtungen jedes Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft geht. Denn Geselligkeit (socialitas) ist nicht erst für die Moralischen Wochenschriften, sondern bereits für Pufendorfs Verhaltenslehre unverzichtbar: §. 8. Nun die Gesetze/ so zu dieser Geselligkeit gehoeren/ oder welche den Menschen anweisen/ wie er sich zu verhalten habe/ daß er ein nuetzliches Gliedmaß der menschlichen Gesellschaft sey/ heissen die Natuerlichen Gesetze/ oder Rechte. §. 9. […] Woraus denn ferner folget/ daß/ weil man zur Erlangung eines Zwecks billig auch alle dazu-behoerige Mittel anzuwenden hat/ alle dasjenige/ das zu sothaniger Socialität ueberhaupt und nothwendig nuetz= und ersprießlich seyn kan/ von denen Rechten der Natur geboten; Hingegen aber/ was dieselbige beunruhigen/ oder gar zerstoeren moegte/ von eben denenselbigen verboten sey. Die uebrigen Gebote seynd gleichsam nur gewisse unter diesem allgemeinen Gesetze enthaltene Subsumtiones, deren Deutligkeit das allen Menschen angebohrne natuerliche Licht ihnen helle genug vor Augen stellet.63

Diese grundsätzliche Bestimmung des Naturrechts, mit der sich Pufendorf in die Nähe der zeitgenössischen Jurisprudenz stellt, zeigt offenbar à la longue Wirkung auf die praxisorientierten moralphilosophischen Entwicklungen des 18. Jahrhunderts, wie sie schließlich bei Gottsched zusammenlaufen.64 Zu einem sozialen Umgang miteinander gehört die Reflexion der eigenen Handlungen, die gelenkt wird durch den »natuerliche[n] Verstand/ die buergerlichen Gesetze/ und endlich das geoffenbarte Wort Gottes.«65 Daraus leitet sich eine dreifache Schuldigkeit jedes Menschen ab, die Pufendorfs Begriff des officium ausmacht und die sich auf das Individuum in einer menschlichen Gesellschaft, auf den Bürger in einer bestimmten Staatsform und schließlich auf den Christen in einer von Gott geschaffenen Welt bezieht. Damit sind – bei aller Differenz, aber ohne große Konflikte heraufzubeschwören – Naturrecht und Moraltheologie, Offenbarungsglaube und Vernunftdenken in ein produktives Verhältnis zueinander gesetzt, das noch 62 63 64

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Samuel Pufendorf: De officio. In: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 2: Hg. von Gerald Hartung. Berlin 1997, S. 128. Ebd., S. 126. Cumberland etwa geht von den gleichen unverrückbaren Annahmen bei der Definition der natürlichen Gesetze aus: »[…] intelligimus Propositiones quasdam immutabilis veritatis quæ Actiones voluntarias circa Bonorum Electionem, malorúmque Fugam dirigunt, ac Obligationem ad actus externos inducunt: etiam citra Leges Civiles, & sepositâ consideratione pactorum Regimen constituentium.« (Richard Cumberland: De Legibus Naturæ Disquisitio Philosophica, In qua Earum Forma, summa Capita, Ordo, Promulgatio, & Obligatio è rerum Natura investigantur […]. London 1672, S. 1.) Zur Rezeption Pufendorfs vgl. Simone Zurbuchen: Naturrecht und natürliche Religion. Zur Geschichte des Toleranzproblems von Samuel Pufendorf bis Jean-Jacques Rousseau. Würzburg 1991, S. 77–102. Pufendorf: De officio (s. Anm. 62), Vorrede, S. 101.

Ordnungsdenken in Gottscheds moralphilosophischem Programm

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von Gottsched bedient und anerkannt wird. Der »Naturzustand betrifft die Position des Menschen innerhalb der ›Wesenskette‹, in der der Mensch eine Stellung auf Grund seiner spezifischen – im Gegensatz zum Tier gefaßten – ›Humanität‹ okkupiert.«66 Zu der so notwendigen socialitas bei Pufendorf gehört ferner, dass der Ehestand »die erste Probe eines geselligen Lebens«67 darstellt. Schon Grotius hat in diesem Zusammenhang den Begriff der Genossenschaft geprägt – »Consociatio maximè naturalis in coniugio apparet«68 – und insofern den privatrechtlichen Bereich abgesteckt, den Pufendorf durch eine prinzipielle Verpflichtung zur Sozialität sowie durch natürliche Religion und praktische Vernunft durchgehend moralisieren möchte. Neben diesen Bezügen auf Pufendorf sind es »zahlreiche Erbstücke aus der Frühaufklärung um Christian Thomasius«,69 die Gottscheds moralphilosophisches Programm beeinflussen. Thomasius entwirft, im Anschluss an sein Vorbild Pufendorf, eine Sittenlehre auf der Grundlage natürlicher Vernunfturteile und forciert somit Weltgewandtheit.70 Auch er ist zu Beginn seiner wirkungsmächtigen Einleitung zur Sittenlehre (1692) davon überzeugt, dass »ohne die ausführliche Erkäntniß des Guten und Bösen man im gemeinen bürgerlichen Leben gar nicht fortkommen kan.«71 Die Sittenlehre ist vor diesem Hintergrund nichts anderes als die praktische Anweisung zu menschlicher Glückseligkeit: Weil dannenhero der Mensch alle sein Thun und Lassen darnach einrichten soll/ wie er das Gute erlangen und glückselig leben möge; gleichwohl ohne dem rechten Gebrauch der Vernunfft nicht zu wege bringen kan; als ist ein gewisser Theil der Welt-Weißheit hierzu gewidmet/ der auch dieserwegen Philosophia Practica genennet wird/ und also nichts anders ist als die Gelahrtheit/ die dem Menschen weiset/ wie er glückselig leben sol.72

Obwohl Thomasius in seiner so definierten Sittenlehre Vernunft und Verstand dem Willen, der voluntas unterordnet, verlangt er den Abgleich des individuellen Willens mit dem göttlichen. Dieser Abgleich verschafft nicht nur einen Einblick in die vollkommene sapientia Gottes, sondern dient als Bestätigung »der göttlichen Providentz«73 und der sinnvollen Einrichtung aller Dinge. Der Mensch partizipiert an dieser Ordnung auf gute Weise, »wenn er sein Leben nach dem in der Natur ihm geoffenbahrten Willen GOttes in Ansehen der Liebe anderer Menschen anstellet«.74 Darum ist eine metaphysische Letztbegründung unabdinglich und eine atheistische Haltung für Thomasius nichts anderes

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Wolfgang Proß: ›Natur‹, Naturrecht und Geschichte. Zur Entwicklung der Naturwissenschaften und der sozialen Selbstinterpretation im Zeitalter des Naturrechts (1600–1800). In: IASL 3 (1978), S. 38–67, hier S. 54. Pufendorf: De officio (s. Anm. 62), S. 189. Hugo Grotius: De ivre belli ac pacis libri tres. In quibus ius naturæ & Gentium: item iuris publici præcipua explicantur. Paris 1625, II, 5, 8, S. 179. Vgl. dazu Hans Schlosser: Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte. Rechtsentwicklungen im europäischen Kontext. Heidelberg 102005, S. 95f. Martin Mulsow: Freigeister im Gottsched-Kreis. Wolffianismus, studentische Aktivitäten und Religionskritik in Leipzig 1740–1745. Göttingen 2007, S. 18. Vgl. auch Steffen Martus: Gründlichkeit. J.C. Gottscheds Reform von Zeit und Wissen. In: Scientia poetica 6 (2002), S. 28–58, hier S. 32. Christian Thomasius: Einleitung zur Sittenlehre. Halle 1692. ND Hildesheim 1968, S. 5. Ebd., S. 51f. Ebd., S. 126. Ebd., S. 141.

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Christian Meierhofer als eine der grösten und elendesten Thorheiten […]/ zumahl wenn wir erwegen/ daß mehrentheils die sonst klügsten Leute darein verfallen/ weil sie ihre Vernunfft gar zu hoch spannen wollen/ und über der allzugenauen Ausgrübelung äußerlicher Dinge der Erkäntniß ihrer selbst/ und folglich auch hernach ihres Schöpffers vergessen.75

Die Folgen dieses philosophisch begründeten Glaubens sind noch bei dem von Thomasius geförderten Gundling und dessen Morallehre erkennbar: § I. VT DEus totum mundum ob certum finem fecit, ac produxit; ita etiam hominem non sine ratione formauit, atque in hunc mundum introduxit. § II. Formauit autem sapientissime eumque & mente donauit, & corpore, atque hasce res, quod probat experientia, arctissime coniunxit. § III. Coniunxit, vt homo eo pacto viueret, & ordinem, quem eius ob commodum ipsi præstituit, exacte obseruaret.76

Die wohleingerichtete Ordnung und Verbindung der Dinge und die Ausstattung des Menschen mit Vernunft sind die Leistung des Schöpfergottes. Innerhalb dieses Weltzusammenhangs liegt für Thomasius – und das ist zweifelsohne ein wichtiger Impuls für Gottsched – das Glücksverlangen jedes Einzelnen in der Sorge für das Gemeinwesen. Die socialitas versteht er im Unterscheid zu Pufendorf aber nur noch als Naturinstinkt.77 Wichtiger ist hier offenbar die gesellschaftsbezogene Sittlichkeit, das decorum, mit dem nun Handlungsnormen und Konventionen begrifflich gefasst werden.78 Was jedoch das Endziel der Glückseligkeit anbelangt, hat auch das decorum seine Grenzen: 18. So zieret auch hiernechst zwar das decorum einen Menschen überaus sehr […]. Aber es macht doch deswegen das decorum einen ungesunden Menschen nicht glücklich/ ja der Mangel des decori […] macht den Menschen so wenig Elend/ als wenig der Mangel schönen Haares den menschlichen Leib verstimmelt.79

Zu Beginn seiner praxisorientierten Ausübung der Sittenlehre (1696) erinnert Thomasius noch einmal nachdrücklich an die moralischen Obliegenheiten, an die Nächstenliebe, die unverkennbar in Vergessenheit geraten sind. Der Mensch wird als Sinnenwesen beschrieben, das nur auf seinen Vorteil bedacht ist: 75

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Ebd., S. 145. Vgl. Eric Achermann: Substanz und Nichts. Überlegungen zu Baltasar Gracián und Christian Thomasius. In: Thomasius im literarischen Feld. Neue Beiträge zur Erforschung seines Werkes im historischen Kontext. Hg. von Manfred Beetz und Herbert Jaumann. Tübingen 2003, S. 7–34, hier S. 30f. sowie Martin Pott: Thomasius’ philosophischer Glaube. In: Christian Thomasius 1655–1728. Interpretationen zu Werk und Wirkung. Hg. von Werner Schneiders. Hamburg 1989, S. 223–247, hier S. 226–231. Nicolaus Hieronymus Gundling: Ethica Sev Philosophia Moralis Genvinis Fvndamentis Svperstrvcta Et A Præsvmptis Opinionibvs Aliisqve Indeptis Vacva. 2. Aufl. Halle, Magdeburg 1726, S. 59f. Vgl. Hubert Rinkens: Die Ehe und die Auffassung von der Natur des Menschen im Naturrecht bei Hugo Grotius (1583–1648), Samuel Pufendorf (1632–1694) und Christian Thomasius (1655–1728). Diss. Frankfurt a. M. 1971, S. 153. Vgl. auch Hinrich Rüping: Theorie und Praxis bei Christian Thomasius. In: Christian Thomasius 1655–1728. Interpretationen zu Werk und Wirkung. Hg. von Werner Schneiders. Hamburg 1989, S. 137–147, hier S. 138f. Thomasius: Einleitung zur Sittenlehre (s. Anm. 71), S. 64.

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14. Derowegen darff man sich nicht wundern/ daß/ weil es mit der Liebe anderer Menschen so schlimm beschaffen/ auch die Liebe gegen uns selbst ins gemein wenig oder nichts tauge. Umb die Ausbesserung und das Wohlseyn der Seelen bekümmert sich ja fast kein Mensche/ sondern jedermann sorget nur für den Leib/ und zwar auff die thörichte Weise. […] An statt guter Diæt und eines keuschen Lebens leben wir in sauße und fraß/ und schändlichen Wollüsten; an statt der Reinligkeit und Sauberkeit in Kleidung und Wohnung/ befleißen wir uns entweder eines zärtlichen Uberflußes/ oder einer sauischen und ungesunden Unfläterey; an statt der angenehmen und gesunden Arbeit/ hängen wir dem faulen und uns verderbenden Müßiggang nach/ und an statt einer Tapferkeit sind wir entweder tollkühne oder furchtsam. […] 16. Die natürlichste unter allen/ die Eheliche Gesellschafft/ hat mit nichten/ wie sie wohl haben solte/ zu Ihrem Entzweck die Vereinigung der Gemüther/ sondern entweder die Belustigung der Sinnen/ oder Beförderung/ oder Geld.80

Thomasius sucht hier nichts weniger als die direkte Anbindung seiner theoretisch formulierten Moralphilosophie an die alltäglichen Phänomene einer aus seiner Sicht unorganisierten, amoralischen Welt. Seine Rechtsordnung schließt Religiosität nicht aus, erfolgt aber als Maßnahme von außen, mit einer über die Triebe und Affekte aufgeklärten Vernunfteinsicht, und nicht wie später bei Wolff wegen einer innermenschlichen Verpflichtung zur Sittlichkeit vor einem transzendenten Hintergrund. Diese Kopplung von Theorie und Praxis, von Erkenntnis- und Sittenlehre kann denn auch Gottsched für sich beanspruchen. Zwar geht ein direkter Verweis auf Thomasius’ oder auf andere Texte des 17. Jahrhunderts von seinen Moralischen Wochenschriften und seiner Weltweisheit nicht explizit aus. Gleichwohl wird der – gedanklich durchaus vielfältige und uneinheitliche – Horizont ersichtlich, in dem sich Gottsched argumentativ bewegt und unter welchen Voraussetzungen er beispielsweise Fischarts Ehzuchtbüchlin wahrnimmt und herbeizitiert. Auf die Fülle frühaufklärerischer Theoriekonzepte kann Gottsched nicht verzichten, auch wenn die Weltweisheit ihre Bezüge nicht unmittelbar ausweist oder forschungsgeschichtlich vor allem in Abhängigkeit zum Wolffianismus gesehen wurde. Freilich ist Wolff eine anerkannte Vorlage für Gottsched, der jedoch noch andere Bindungen eingeht, um seinen Vorrat an Handlungs- und Verhaltensnormen zu erweitern und abzustützen. Die Moralischen Wochenschriften sind das konkrete Vermittlungs- und Durchsetzungsorgan dieses Normvorrats, obwohl die hier kompilierten Texte mitunter ganz anderen Funktionszusammenhängen entnommen sind und demgemäß noch ganz andere Absichten verfolgen, wie sie bei Fischart mit der Melancholievertreibung oder dem situationsgerechten Verhalten zu sehen sind. Solche Diskrepanzen bleiben bei Gottsched allerdings unreflektiert. Darüber hinaus kann die moralphilosophische, vernunftgelenkte Argumentationsweise unterlaufen und – unabsichtlich oder nicht – unmittelbar durch Gegenteiliges, auch Unstimmiges ersetzt werden. Das zeigt aber nur, wie schwierig es trotz aller Absichtserklärungen und Rückgriffe auf prominente Textkorpora ist, eine widerspruchslose Wendung von der Regel zum Fall zu meistern.

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Christian Thomasius: Ausübung der Sittenlehre. Halle 1696. ND Hildesheim 1968, S. 9f.

MERIO SCATTOLA

Literarisches Gattungssystem und politischer Diskurs Johann Christoph Gottsched übersetzt den Lehrbegriff der Staatskunst von Jakob Friedrich Bielfeld

1. Zwei Fragen Eine interessante Charakteristik von Jakob Friedrich Bielfeld (1717–1770) findet sich in der Theorie der Statistik von August Ludwig Schlözer (1735–1809), ab 1770 Professor der Geschichte und Politik in Göttingen, der in einer Passage seines späten Werkes aus dem Jahre 1804 auf die eigene Lehre und auf die politische Literatur des achtzehnten Jahrhunderts zurückblickte. Bielfeld, ein ser bürgerlicher Hamburger vom KaufmannsStande [† 1770], war an Friedrich den Einzigen geraten, noch wärend dessen dieser in Reinsberg lebte, wurde nachher Lerer des Prinzen Ferdinand, und baronisirt: dieser Bielfeld hat die unsterbliche Ehre, die gelerte oder SchriftstellerPolitik zuerst bei den Höfen introduciret zu haben. Er war ein wirklicher und ser belesener Gelerter, und hatte dabei einen Anstrich von Hofmann. Er schrieb französisch, sein Styl ist überaus leicht und angenem, auch der Druck seines Buchs ist schön: dieses Buch schickte er weit und breit an Höfe herum […]. Regenten, Minister und Cammer-Herren lasen es, die bis dahin von des Polygraphen Justis, und andrer Deutschen politischen DruckSchriften, wenig Notiz genommen haben mochten; und viele faßten vielleicht zum erstenmal den Gedanken, daß gelerte Politik, so wie BücherSchreiber von ihr schwatzten, doch gar nicht one – wol selbst praktischen – Nutzen für ihre hohe Metiers wäre.1

Diese Zeilen von Schlözer sind hier um so wichtiger, denn sie geben direkte Auskunft über Jakob Friedrich Bielfeld und indirekte über die Bedeutung seines politischen Werkes im Gelehrtenprogramm von Johann Christoph Gottsched (1700–1776). Schlözer sagt uns nämlich, dass die politische Auseinandersetzung zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts in zwei großen Kreisen der Gelehrtenkultur durchgeführt wurde, dem höfischen und dem akademischen Kreis, dass schon einige systematische Vorschläge vorlagen – hier wird Johann Heinrich Gottlob Justi (1717–1771) erwähnt –, dass Bielfeld erfolgreich in einer dieser Welten wirkte und dass die Gründe für die deutsche Übersetzung durch Johann Christoph Gottsched in dieser Konstellation gesucht werden sollen. Aus dieser Passage lassen sich zwei Fragen ableiten: 1. Was tat Gott1

August Ludwig Schlözer: Theorie der Statistik. Nebst Ideen über das Studium der Politik überhaupt. Göttingen 1804, S. 123–124. Zu August Ludwig Schlözer vgl. Merio Scattola: La nascita delle scienze dello stato. August Ludwig Schlözer (1735–1809) e le discipline politiche del Settecento tedesco. Milano 1994, hier S. 41–74; Martin Peters: Altes Reich und Europa. Der Historiker, Statistiker und Publizist August Ludwig (v.) Schlözer (1735–1809). Münster 2003.

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Merio Scattola

sched, indem er Bielfeld übersetzte? 2. Warum übersetzte Gottsched gerade die Institutions politiques?

2. Rezeptionskreise politischer Literatur: Hof und Universität Die Tatsache, dass man über politische Themen in zwei voneinander unabhängigen Gelehrtenkreisen oder sogar innerhalb zweier unterschiedlicher literarischer Gattungen argumentierte, ist keine Besonderheit des frühen achtzehnten Jahrhunderts, sondern gehörte zur eigentlichen Natur der politischen Lehre in den Territorien des Heiligen Römischen Reiches. Schon zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts findet man zwei klar voneinander getrennte Gruppen von politischen Werken und Schriftstellern: die akademische und die höfische Politik. Die akademische Politik wurde an den deutschen Universitäten in den ersten Jahren des siebzehnten Jahrhunderts eingeführt. Man kann den Traktat Προπολιτικος von Iohannes Caselius (1533–1613) aus dem Jahre 1600 als den Ausgangspunkt dieser Tradition betrachten,2 die sich bis 1620 an allen protestantischen Universitäten des Heiligen Römischen Reiches etablierte.3 Die Werke dieses Bereichs waren von Anfang an in einem strengen literarischen System organisiert, das auf die akademischen Gattungen der Disputation, der Dissertation und des Textbuches gegründet war.4 Alle Schriften dieser Tradition wurden im siebzehnten Jahrhundert auf Latein geschrieben. Die Struktur der literarischen Gattungen wurde zum Teil bis ins achtzehnte Jahrhundert hinein beibehalten, aber das Latein hat man allmählich durch das Deutsche ersetzt. Christian Thomasius (1655–1628) verfasste seine Vorlesungsankündigungen auf Deutsch und ließ seine lateinischen Textbücher ins Deutsche übersetzen.5 Im Bereich der Poli2 3

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Iohannes Caselius: Προπολιτικος (1600). In: ders.: Opera politica. Hg. von Konrad Horneius. Frankfurt a. M. 1631, S. 2–140. Hans Maier: Die Lehre der Politik an den älteren deutschen Universitäten. In: ders.: Politische Wissenschaft in Deutschland. Lehre und Wirkung (1969). München 1985, S. 31–67; Horst Dreitzel: Protestantischer Aristotelismus und absoluter Staat. Die ›Politica‹ des Henning Arnisaeus (ca. 1575–1636). Wiesbaden 1970, S. 87–169; Horst Denzer: Moralphilosophie und Naturrecht bei Samuel Pufendorf. Eine geistes- und wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung zur Geburt des Naturrechts aus der Praktischen Philosophie. München 1972, S. 300–307; Volker Sellin: [Art.] Politik. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck. Bd. 4. Stuttgart 1978, S. 789–874, hier S. 814–838; Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. 1. Reichspublizistik und Policeywissenschaft (1600–1800). München 1988, S. 104–125; Wolfgang Weber: Prudentia gubernatoria. Studien zur Herrschaftslehre in der deutschen politischen Wissenschaft des 17. Jahrhunderts. Tübingen 1992, S. 9–89. Vgl. Merio Scattola: Geschichte der politischen Bibliographie als Geschichte der politischen Theorie. In: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 20 (1995), S. 1–37; ders.: Dalla virtù alla scienza. La fondazione e la trasformazione della disciplina politica nell’età moderna. Milano 2003, S. 9–279; ders.: L’ordine del sapere. La bibliografia politica tedesca del Seicento. Napoli 2003, S. 5–39. Christian Thomasius: Christian Thomas eröffnet Der Studierenden Jugend zu Leipzig in einem Discours, Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle? Ein Collegium über des Gratians Grund-Reguln, Vernünfftig, klug und artig zu leben (1687). In: ders.: Kleine Teutsche Schrifften. Hg. von Werner Schneiders. Hildesheim 1994, S. 1–70; ders.: Christian Thomas Eröffnet Der Studierenden Jugend Einen Vorschlag, Wie er einen jungen Menschen, der sich ernstlich fürgesetzt, Gott und der Welt dermahleins in vita civili rechtschaffen zu dienen, und als ein honnet und galant homme zu leben, binnen dreyer Jahre Frist in der Philosophie

Gottsched und Bielfeld

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tik wurden die deutschen Vorlesungen von Nikolaus Hieronymus Gundling (1671–1729) und die deutschen Traktate von Julius Bernhard von Rohr (1688–1742), Christoph Friedrich Heumann (1681–1764) oder Christian Wolff (1679–1754) veröffentlicht.6 Auch die höfische Politik hatte ihre eigenen literarischen Gattungen schon im siebzehnten Jahrhundert festgelegt, und diese gingen vor allem auf die Tradition der politica Christiana zurück, die ihrerseits Elemente des theologischen Schrifttums, der Hausväterliteratur und des Fürstenspiegels in sich aufnahm.7 Kennzeichnend für diese Literatur war die Verwendung deutscher Sprache. Auf Deutsch waren der Teutsche Fürsten-Staat und der Christen-Staat Veit Ludwig von Seckendorffs (1626–1692), die Biblische Policey Theodor von Reinkingks (1590–1664) oder die Hierarchia politica, oeconomica und ecclesiastica Georg Albrechts (1601–1647) verfasst.8 Auch in dieser Literatur erfolgte in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts ein Sprachwechsel, als das Deutsche durch das Französische ersetzt wurde. Der vielleicht berühmteste Text aus deutschen Höfen des achtzehnten Jahrhunderts, der Antimachiavell Friedrichs II. von Preußen (1740–1786), wurde auf Französisch geschrieben, und so auch die Institutions politiques Jakob

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und singulis iurisprudentiae partibus zu informiren gesonnen sey (1689). In: ders.: Kleine Teutsche Schrifften, S. 233-270; ders.: Erinnerung Wegen derer über den dritten Theil seiner Grund-Lehren, Bißher gehaltenen Lectionum privatissimarum und deren Verwandelung in Lectiones privatas. Absonderlich aber wegen zweyer instehenden Collegiorum De fundamentis iuris publici und De synopsi iurisprudentiae publicae, Ingleichen wegen neuer Lectionum publicarum de iure decori oder Von Recht derer Sitten und Gewohnheiten (1700). In: ders.: Auserlesene deutsche Schriften. Zweiter Teil. Hg. von Werner Schneiders. Hildesheim 1994, S. 193–220. Julius Bernhard von Rohr: Einleitung Zur Staats-Klugheit oder Vorstellung Wie Christliche und weise Regenten zür Beförderung ihrer eigenen und ihres Landes Glückseeligkeit Ihre Unterthanen Zu beherrschen pflegen, Leipzig 1718; Christoph August Heumann: Der Politische Philosophus, Das ist, Vernunfftmäßige Anweisung Zur Klugheit Im gemeinen Leben (1714). Frankfurt, Leipzig 31724. ND Frankfurt a. M. 1972; Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von dem Gesellschaftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen [Deutsche Politik] (1721). Leipzig, Frankfurt 41736. ND in ders.: Gesammelte Werke. I. Abteilung. Deutsche Schriften. Bd. 5. Hg. von Hans Werner Arndt. Hildesheim 1975; Nikolaus Hieronymus Gundling: Discours über [...] Iohannis Francisci Buddei [...] Philosophiae practicae partem III. Die Politic. Frankfurt, Leipzig 1733. Zur politica Christiana vgl. Horst Dreitzel: Monarchiebegriffe in der Fürstengesellschaft. Semantik und Theorie der Einherrschaft in Deutschland von der Reformation bis zum Vormärz. Bd. 2. Theorie der Monarchie. Köln 1991, S. 484–499; ders.: Politische Philosophie. In: Grundriß der Geschichte der Philosophie [Überweg]. Hg. von Helmut Holzhey und Wilhelm Schmidt-Biggemann. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 4. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation, Nord- und Ostmitteleuropa. Basel 2001, S. 673–693; Luise Schorn-Schütte: Obrigkeitskritik und Widerstandsrecht. Die ›politica christiana‹ als Legitimitätsgrundlage. In: Aspekte der politischen Kommunikation im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts. Politische Theologie – Res Publica-Verständnis – konsensgestützte Herrschaft. Hg. von ders. München 2004, S. 195–232; dies.: Einleitung. In: Aspekte der politischen Kommunikation im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts, S. 1–12. Veit Ludwig von Seckendorff: Teutscher Fürsten-Stat. Frankfurt a. M. 1656; ders.: Christen-Stat: In Drey Bücher abgetheilet. Leipzig 1685; ders.: Teutsche Reden und Entwurff von dem allgemeinen oder natürlichen Recht nach Anleitung der Bücher Hugo Grotius’ (1691). Hg. von Miloš Vec. Tübingen 2006; Theodor von Reinkingk: Biblische Policey, Das ist: Gewisse, auß Heiliger Göttlicher Schrifft zusammen gebrachte, auff die drey Hauptstände: Als Geistlichen, Weltlichen, und Häußlichen, gerichtete Axiomata, oder Schlußreden. Frankfurt a. M. 1653; Georg Albrecht: Hierarchia ecclesiastica: Das ist, Der Geistliche Stand. Ulm 1648; ders.: Hierarchia Politica, Der Stand Weltlicher Obrigkeit. Ulm 1648; ders.: Hierarchia Oeconomica: Das ist, Der Hauß-Stand. Nürnberg 1649. Vgl. Michel Senellart: Justice et bien-être dans les Miroirs des princes de Osse et Seckendorff. In: Specula principum. Hg. von Angela De Benedictis. Frankfurt a. M. 1999, S. 243–265; Michael Stolleis: Veit Ludgwig von Seckendorff. In: Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert. Reichspublizistik, Politik, Naturrecht (1977). Hg. von dems. Frankfurt a. M. 21987, S. 148–171.

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Merio Scattola

Friedrich Bielfelds. Der Gegensatz ›Latein vs. Deutsch‹ verwandelte sich damit in den Gegensatz ›Deutsch vs. Französisch‹. Durch diese Bemerkungen können wir aber auch zu einem ersten Ergebnis in Hinsicht auf Gottsched kommen und unsere erste Frage beantworten. Wenn Gottsched die Institutions politiques Bielfelds aus dem Französischen ins Deutsche übersetzte, übertrug er sie vom Rezeptionskreis der Höfe ins Gattungssystem der Universitäten. Mit letzterem war auch ein breiterer Lesekreis im Entstehen begriffen. Tatsächlich verteidigte Gottsched die universitäre Ausbildung gegen die Angriffe Bielfelds, der das Studium, philosophisch oder juristisch, für unnötig oder sogar für schädlich hält und das Selbstlernen und ein gründliches selbständiges Lesen viel höher schätzt.9 Dagegen erklärte Gottsched in seinen Anmerkungen zum Text, dass die Materien der Politik eine akademische Ausbildung voraussetzen und dass auch seine Übersetzung an akademisch gebildete Leser adressiert oder sogar in usum auditorii verfasst worden war. Während Bielfeld im Text behauptet, dass jeder kluge Mensch die Textbücher des Naturrechts allein lesen und auf alle Vorlesungen völlig verzichten kann, antwortet Gottsched in den Fußnoten, dass die jungen Studenten erst nach den Erklärungen eines Professors politische Texte verstehen können. Wenn ein Mensch, der einen guten Kopf hat, diejenigen Bücher, die ich angezeiget habe, recht lesen will, so glaube ich, daß er sich alsdann der öffentlichen Vorlesungen fast enthalten könnte, die unsere Lehrer auf hohen Schulen über diese Materie geben**). **) Wenn anders ein junger Mensch dergleichen Bücher, z. E. einen Grotius, Puffendorf, oder Wolf, gleich aus eigenen Kräften lesen und verstehen kann. Vorlesungen öffnen die Köpfe, und machen sie zum Bücherlesen erst recht geschickt. G.10

Gottsched erinnert uns daran, dass der junge Adlige keine politischen Werke unvorbereitet lesen soll. Man muss vielmehr zuerst eine genügende Kenntnis der Logik und der gesamten Philosophie erlangen, was man nur auf Universitäten erreichen kann. Erst nach diesem gründlichen und einführenden Studium darf man mit den Textbüchern der Politik selbständig lernen. Der junge Mensch nimmt gar zu leicht alle Vorurtheile und alle Irrthümer desjenigen an, den er als seinen Lehrer ehret*). *) Das thun nur junge Leute, die keine gute Logik gelernet haben. Der liebe junge Adel, der gleich zu den Publicisten läuft, ehe er ein Wort von der Philosophie gehöret, begeht diesen Fehler fleißig. Urtheilet er selbst aber besser, als seine Lehrer? G.11

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Vgl. Jakob Friedrich von Bielfeld: Lehrbegriff der Staatskunst, Erster Theil. Aus dem Französischen übersetzt. Breslau, Leipzig 1761, S. 30–31: »Die Geschichte kann auf zweyerley Art erlernet werden, wenn man sie entweder in einem ordentlichen Collegio durchhöret, oder mit Ämsigkeit und unter guter Anführung selbst durchliest. Die erste Methode ist die gemeinste und leichteste; ich mag sie auch nicht tadeln; aber es fehlet sehr viel, daß sie eben so gründlich seyn sollte, als die zwote. […] Man hat sich angewöhnet, iurare in verba magistri. Kurz, ein geruhiges Lesen, wobey man jeden Absatz, den man nicht mit genugsamer Aufmerksamkeit gelesen, wiederholen kann, läßt in unsrer Seele viel tiefere Eindrücke zurück, als das bloße Reden. Die Schwierigkeit bey dieser letzten Methode, ist, daß man sich nur auf ein gutes System im Lesen gefaßt mache.« Ebd., S. 27 und Anm. **. Ebd., S. 31 und Anm. *.

Gottsched und Bielfeld

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3. Die Herausbildung der modernen Politikwissenschaft Die zweite Frage lautete: Warum musste man die Institutions politiques übersetzen? Eine Antwort auf diese Frage hat mit der Geschichte der politischen Wissenschaft – oder der Politik als Wissenschaft – im frühen achtzehnten Jahrhundert zu tun. Wir können die Antwort auf folgende Weise vorwegnehmen und zusammenfassen: Die Institutions politiques waren zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts die Schrift, die am erfolgreichsten die neue Bedeutung und Aufgabe der Politik widerspiegelte. Sie war einer der besten Versuche in der Formulierung der zeitgenössischen politischen Lehre. Tatsächlich hatte die politische Lehre eine tiefgreifende Veränderung erfahren. In den ersten Jahrzehnten des siebzehnten Jahrhunderts, als sie sich an den deutschen Universitäten verbreitete, wurde die Politik als die erste und leitende Fertigkeit des tugendhaften Lebens in der menschlichen Gesellschaft verstanden; im Laufe desselben Jahrhunderts verlor sie diese allgemeine Bedeutung und wurde als die spezielle Wissenschaft des Politikers verstanden.12 Diese Entwicklung erfolgte durch vier Schritte: 1. Den Ausgangspunkt bildete die alte Tradition des politischen Aristotelismus, in der die Politik schlechthin mit der Fertigkeit der Klugheit identifiziert wurde. Sie sollte das menschliche Handeln unter den bloß zufälligen und unberechenbaren Umständen des praktischen Lebens leiten und konnte dementsprechend keine Theorie im eigentlichen Sinn bilden, weil diese nur ewigen und unwandelbaren Gegenständen, wie den Zahlen oder den Sternen, vorbehalten war. 2. Gegen die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts wurde die Politik aber auch innerhalb des politischen Aristotelismus und vor allem von Hermann Conring (1606–1681) als eine Wissenschaft erfasst, die einer theoretischen Erkenntnis fähig ist. Die Wissenschaft der Politik konnte demzufolge in zwei getrennte Bereiche unterteilt werden, in einen theoretischen Bereich, der auch als ›architektonische Politik‹ bezeichnet wurde, und in eine praktische Sphäre der Regierungsgeschäfte.13 3. Der theoretische Teil wurde von der Politik abgekoppelt und in das Naturrecht als ius publicum universale oder allgemeines Staatsrecht aufgenommen, welches das Wesen und die Begründung des Staates beschrieb. Die Reflexion über die allgemeinen Prinzipien des politi12

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Vgl. Scattola: Dalla virtù alla scienza (s. Anm. 4), S. 427–521; ders.: Von der Politik zum Naturrecht. Die Entwicklung des allgemeinen Staatsrechts aus der politica architectonica. In: Science politique et droit public dans les facultés de droit européennes (XIIIe–XVIIIe siècle). Hg. von Jacques Krynen und Michael Stolleis. Frankfurt a. M. 2008, S. 411–443, hier 411–427. Hermann Conring: De civili prudentia liber unus. 1662. In: ders.: Operum tomus III. Hg. von Johann Wilhelm Goebel. Braunschweig 1730, S. 323–324; ders.: Propolitica sive brevis introductio in civilem philosophiam. Helmstedt 1663, S. 53–54; Johann Friedrich Horn: Politicorum pars architectonica. De civitate (1664). Frankfurt a. M. 1672, S. 39–40; Johann Christoph Beckmann: Meditationes politicae iisdemque continuandis et illustrandis addita Politica parallela (1672). Frankfurt a. O. 1679; Adriaan Houtuyn: Politica contracta generalis. Den Haag 1681; Johann Christoph Beckmann: Conspectus doctrinae politicae (1679). Frankfurt a. O. 1691; Johann Nikolaus Hertius: Elementa prudentiae civilis (1689). Frankfurt a. M. 1703, S. 26; ders.: Paedia iuris publici universali (1694). In: ders.: Commentationum atque opusculorum […] tomi tres. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1700, S. 58–78, hier S. 77. Vgl. Dietmar Willoweit: Hermann Conring. In: Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert (s. Anm. 8), S. 129–147, hier S. 133; Horst Dreitzel: Hermann Conring und die politische Wissenschaft seiner Zeit. In: Hermann Conring (1606–1681). Beiträge zu Leben und Werk. Hg. von Michael Stolleis. Berlin 1983, S. 135–172, hier S. 143–151.

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schen Lebens gehörte jetzt zum Naturrecht und fand keinen Platz mehr in der Politik.14 4. Der Politik blieb nur der praktische Teil, der seine Grundsätze vom allgemeinen Staatsrecht erhielt und sie auf die Vielfalt der Staatsgeschäfte anwenden sollte. In diesem Sinn wurde die Politik zu einer angewandten Disziplin oder zu einer ›Ausübung‹ der praktischen Philosophie, die von einer übergeordneten Theorie abhing. Damit war sie keine allgemeine Tugend mehr, die im Handeln aller Mitbürger, sowohl Regenten als auch Untertanen, mit einbegriffen war, sondern sie war jetzt eine Spezialdisziplin, die nur einen Teil dessen enthielt, was die Politik im siebzehnten Jahrhundert gewesen war.15 Diese Staatskunst oder Regierungslehre hing theoretisch vom allgemeinen Staatsrecht ab und konnte eine partielle Autonomie nur insofern beanspruchen, als sie in ihrer Lehre Ausnahmen von den allgemeinen Grundsätzen des Naturrechts entdeckte oder durchsetzte. Die Lehre der Ausnahme hatte sich im siebzehnten Jahrhundert als Lehre der Staatsräson, der Staatsgeheimnisse und der Staatsmacht entwickelt, und daher konnte sich die Politik als selbständige Disziplin oder Lehre, sowohl im höfischen als auch im akademischen gelehrten System, nur als Lehre der Ausnahme durchsetzen, das heißt als Lehre der Staatsräson, der Staatsgeheimnisse und der Staatsmacht.16 Bielfelds Institutions politiques kamen zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts diesem Ideal der Politik am nächsten und waren daher die beste oder erfolgreichste Verwirklichung einer Lehre der Politik nach dem herrschenden Kanon des Naturrechts. Tatsächlich bot er eine politische Lehre, die systematisch durchgeführt war und vollständig unter dem Gesichtspunkt der Staatsmacht formuliert wurde. Daher auch die fast obligate Wahl Gottscheds.

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Ulrich Huber: De iure civitatis libri tres. Novam iuris publici universalis disciplinam continentes (1672). Franeker 1698, S. 3; Hertius: Paedia iuris publici universali; Justus Henning Böhmer: Introductio in ius publicum universale (1710). Halle a. S. 1726. Gundling: Discours über [...] Die Politic (s. Anm. 6), S. 22: »Die politica wird eingetheilet in architectonicam et administratoriam. […] Architectus wird genennet, der etwas bauet, oder verfertiget, daher nennet man politicam architectonicam, welche zu thun hat mit der exstruenda civitate, quomodo exstrui debet. Ingleichen kan man politicam architectonicam nennen, was andere ein ius publicum universale nennen, oder wie es Huber nennet, ius civitatis, worinnen sie gewiesen, was ad stabiliendam rem publicam gehöret. […] Ein Student muß freylich auch dahin sehen, daß er wisse: Quomodo imperium ortum? In quo subiecto inveniatur? Wie viel subiecta sein können? […] Hier bey der Politic sehen wir mehr auf administrationem politices, wie man die iura maiestatica soll wohl administriren, auf Seiten des principis. Ingleichen weil man in der politica architectonica tractiret von denen officiis parentium et subditorum, so zeiget man auch, wie subditi prudenter sich sollen verhalten. In der politica architectonica zeiget man nur das ius: das ius aber müssen wir nicht bloß suchen in acht zu nehmen.« Merio Scattola: ›Prudentia se ipsum et statum suum conservandi‹. Die Klugheit in der praktischen Philosophie der frühen Neuzeit. In: Christian Thomasius (1655–1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Hg. von Friedrich Vollhardt. Tübingen 1997, S. 333–363; ders.: Persone, status, saperi. Il moltiplicarsi delle prudenze alle soglie dell’età moderna. In: Le forme della libertà. Categorie della razionalizzazione e storiografia. Hg. von Gabriella Valera. London 2000, S. 73–92.

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4. Die politische Lehre nach Christian Wolff In der Vorerinnerung, die Gottsched seiner Übersetzung voranschickte, bestätigt er alle erwähnten Gründe für die Auswahl der Institutions politiques als vorbildlicher Darstellung von neuzeitlicher Politik. Der erste Vorzug dieses Buches bestehe nämlich darin, dass es nicht in den Bibliotheken oder im Arbeitszimmer eines Gelehrten verfasst worden, sondern mitten aus dem Leben eines europäischen Hofes entstanden sei. Es würde ganz umsonst seyn, wenn man hier dem Leser einen vortheilhaften Begriff von diesem Werke machen wollte. Der berühmte Namen seines Herren Verfassers, ist der beste Herold seines Werthes. Ein Mann, der die Staatskunst nicht in den finstern Winkeln einer engen Studierstube, sondern mitten in dem hellen Licht eines großen Hofes, ja in mehr als einem Lande, auf klugen Reisen, und in täglichem Umgange mit Leuten, die an der Regierung weitläuftiger Länder Theil hatten, gelernt hat, der ist ohne Zweifel in die rechte Schule der Politik gerathen. Eine vieljährige Erfahrung ist mit dazu gekommen, Seine Einsicht theils vollkommener zu machen, theils zu bestärken. Wo ein scharfes und erleuchtetes Auge alles wirklich ausgeführet erblicket, und wo der Erfolg selbst gewisse Anschläge, theils gerechtfertiget, theils verworfen hat, da kann man die völlige Zuversicht zu allen Regeln haben, die zur Wohlfahrt der Staaten vorgeschrieben worden.17

Gottsched bemerkt dabei, dass ein großer Verdienst Bielfelds auch darin liegt, dass er das nunmehr unzeitgemäße Latein der Universitäten ablehnte und sein Werk in der modernen Sprache der europäischen Höfe schrieb.18 Der zweite Hauptverdienst Bielfelds ist aber darin zu sehen, dass er eine vollständige und systematische Lehre der Politik anbot, wobei er der Philosophie Christian Wolffs (1679–1754) als dem Inbegriff der systematischen Methode folgte. Insofern ist Bielfeld nur als Ersatz für eine fehlende oder ungenügende politische Lehre Wolffs anzusehen. Hätte der berühmte Kanzler von Wolf, nach demselben Entwurfe, wie er sein Lehrgebäud des Naturund Völkerrechtes geschrieben, auch die Staatskunst abhandeln können, so würden wir vielleicht dieß Werk niemals zu sehen bekommen haben. Der vornehme Herr Verfasser bezeuget bey jenem Werke so vielen Beyfall, daß es kein Zweifel ist, er würde den deutschen Philosophen auch in der Politik gleicher Hochachtung werth gefunden haben.19

Christian Wolff hatte tatsächlich 1721 seine Deutsche Politik veröffentlicht; vom Standpunkt Gottscheds war sie aber unvollkommen und noch dem universitären Betrieb verhaftet. Wolffs Deutsche Politik war in diesem Sinn einer der vielen Versuche, eine politische Lehre nach dem Maßstab des modernen Naturrechts zu schreiben, die besonders an der Universität Halle unternommen worden waren. Hier hatte Johann Franz Buddeus (1667–1729) 1697 ausdrücklich die Politik mit dem Begriff des status oder des Standes verknüpft und sie als diejenige Klugheit definiert, die den jeweiligen Stand erhalten kann.20 Insofern war sie immer eine ratio status, weil 17 18 19 20

Johann Christoph Gottsched: Vorerinnerung des Übersetzers. In: Bielfeld: Lehrbegriff der Staatskunst, Erster Theil (s. Anm. 9), Bl. *3r–v, hier Bl. 3r. Ebd., Bl. *3v. Ebd., Bl. *3r–v. Johann Franz Buddeus: Elementa philosophiae practicae (1697). Halle a. S. 1720, S. 445: »Iam cum tanta statuum, in quibus homines degunt, sit varietas, nunc porro observandum, quod saepius contingat, ut unus idemque homo simul in diversis statibus sit constitutus, sive is diversas personas simplices sustineat, sive etiam membrum aut principale aut minus principale sit eiusmodi systematis seu societatis,

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man mit diesem Wort nicht nur den Staat im eigentlichen Sinn, sondern jeden gesellschaftlichen Stand bezeichnete, in dem man sich befinden konnte, so dass die Politik sowohl für den privaten als auch für den öffentlichen Bereich galt. Christian Thomasius, Christoph August Heumann (1681–1764) und Julius Bernhard von Rohr (1688–1742) setzten diese Identifizierung der Politik mit der Klugheit, besonders der privaten Klugheit, fort. Die Primae lineae de iureconsultorum prudentia consultatoria (1705) von Christian Thomasius, der Politische Philosophus (1714) von Christoph August Heumann, die Einleitung zu der Klugheit zu leben (1715) von Julius Bernhard von Rohr und die Kurtzgefaßte Lehre der Allgemeinen Klugheit (1748 posthum) von Gottlieb Stolles (1683–1744) bieten bewusst ausschließlich eine Lehre der privaten Klugheit oder – wie sich Heumann ausdrückt – der »Klugheit im gemeinen Leben« –, mit starkem Bezug auf das gesellschaftliche Handeln des Gelehrten;21 die Schriften Rohrs, auch wenn sie der Staatsregierung gewidmet sind, verstehen nichtsdestoweniger die politische Lehre als Anweisung zur privaten Klugheit des Herrschers im öffentlichen Bereich und setzen damit die Gleichstellung von Stand und Staat oder von Politik, Klugheit und Staatsräson voraus, die Buddeus vorgeschlagen hatte.22 Weitere Versuche über die Politik an derselben Universität Halle nahmen eine andere Richtung, die schon im ersten Vorschlag von Budde vorgezeichnet war. Letzterer behandelte nämlich die Politik als den dritten Teil der praktischen Philosophie und verwandelte das alte Schema der aristotelischen Tradition (Ethik, Ökonomik und Politik) in die neue Gliederung von Ethik, Naturrecht und Politik, die den drei Prinzipien der Moralphilosophie von Christian Thomasius entsprach: honestum, iustum und decorum oder utile. Diese Idee, dass sämtliche praktische Philosophie einer naturrechtlichen Begründung untersteht und dass die Politik am besten als dritter Teil der praktischen Philosophie abgehandelt werden sollte, nachdem man die Tugend in der Ethik und das Gerechte im Naturrecht erörtert hatte, war unter den Schülern und Freunden von Christian Thomasius stark vertreten. Auf diese Weise wurde zum Beispiel die politische

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quae velut personam moralem compositam constituit. Unde diversi status, quorum haud raro non satis inter se convenire commoda videntur, interdum concurrunt, singulamque adeo prudentiam requirunt [...]. Quae si quis rite secum expendat, haud difficulter quid famosissima illa ratio status sibi velit, intelliget. Nimirum revera nihil aliud est, quam prudentia status. Ratio enim modum significat, quo status ille conservari possit, id quod prudentia status docet.« Vgl. Gundling: Discours über [...] Die Politic (s. Anm. 6), S. 51: »Daher ist es eine große Kunst zu Regieren, daß die diversen Status alle mit einander harmonieren, und die Status nicht Zerrüttungen machen. Mancher hat mehr als einen Statum auf sich, da braucht er auch mehr prudentiam e. g. Er ist ein Kauffmann und ein Maritus [...]. Wer also seine Person recht zu spielen weiß, der ist prudens, hat einer viel Personen auf sich, und er weiß alle recht zu spielen, so ist er prudentissimus. Dieses hat man in der Politik rationem status genennet.« Christian Thomasius: Primae lineae de iureconsultorum prudentia consultatoria. Halle, Leipzig 1705, auch in deutscher Übersetzung: ders.: Kurtzer Entwurff der Politischen Klugheit. Frankfurt a. M. 1707. ND Hildesheim 2002; Heumann: Der Politische Philosophus (s. Anm. 6); Julius Bernhard von Rohr: Einleitung Zu der Klugheit zu leben, oder Anweisung, Wie ein Mensch zu Beförderung seiner zeitlichen Glückseligkeit seine Actiones vernünftig anstellen soll. Leipzig 1715; Gottlieb Stolle: Kurtzgefaßte Lehre der Allgemeinen Klugheit. Jena 1748. Julius Bernhard von Rohr: De excolendo studio oeconomico tam principum quam privatorum sive Von Verbesserung der Haußhaltungs-Wissenschaft so wohl derer Fürsten als anderer Leute. Resp. Iohannes Christophorus Buchnerus. Leipzig 1712; ders.: Vollständiges Hauß-Haltungs-Recht in welchem Die nöthigsten und nützlichsten RechtsLehren, Welche so wohl bey den Land-Gütern überhaupt, derselben Kauffung, Verkauffung und Verpachtung, als insonderheit bey dem Acker-Bau, Gärtnerey, Viehzucht, Jagten […] und andern Oeconomischen Materien vorkommen. Leipzig 1716; ders.: Einleitung Zur Staats-Klugheit (s. Amn. 6).

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Lehre von Johann Franz Buddeus und Nikolaus Hieronymus Gundling konzipiert,23 und die drei- oder vierteilige Gliederung der praktischen Philosophie war ein sehr beliebtes Schema in den Darstellungen der gelehrten Geschichte, die im Umkreis von Thomasius veröffentlicht wurden.24 In diesem epistemischen Rahmen wurde auch die Deutsche Politik Christian Wolffs 1721 in Halle, unmittelbar vor dessen Vertreibung, verfasst.25 Sie genoss einen besonderen Erfolg und erfuhr sechs weitere Auflagen.26 Sie war aber dem schulmäßigen Schema stark verpflichtet und für eine moderne Behandlung der Politik unzulänglich. Die Deutsche Politik war nämlich in zwei große Abteilungen gegliedert, in denen einerseits die Hausgesellschaften oder societates minores, das sind die Materien der Ökonomik, und andererseits die Natur und die allgemeinen Eigenschaften des Gemeinwesens geschildert wurden. Nach den Ausführungen der Deutschen Ethik zur Moralphilosophie des Einzelnen enthielt daher die Deutsche Politik die Abhandlung der Ökonomik und der Politik nach dem Schema der alten aristotelischen Tradition.27 Letzteres aber bot zwar eine Fülle von Argumenten und Materien, war aber durch Begriffe gegliedert, die eigentlich nicht mehr zur Politik, sondern schon zum Naturrecht oder zum allgemeinen Staatsrecht gehörten. Daher die Klage Schlözers, dass die politischen Materien im System Wolffs zu einem Anhängsel des Naturrechts reduziert wurden.28 Im Textbuch Wolffs waren die politischen Materien ausgiebig abgehandelt, aber die politische Lehre konnte keine epistemische Autonomie beanspruchen. Gottsched erkannte diesen Mangel im philosophischen System von Christian Wolff und beklagte den Umstand, dass Wolff nur die Moralphilosophie und das Naturrecht ausführlich behandelt, die Politik aber vernachlässigt habe.29 Selbst Bielfeld warf Wolff vor, seine politischen Werke seien unsystematisch, unvollständig und unzeitgemäß. Man giebt zu, daß alle diese Werke voll vortreffliche Gedanken sind; daß man darinn überall Spuren eines richtigen und erleuchteten Verstandes antrifft, der ihre Verfasser berühmt gemachet. Allein es fehlet sehr viel, daß sie vollständig genug und methodisch genug wären; daß sie sich endlich auf den 23

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Nikolaus Hieronymus Gundling: Politica seu prudentia civilis ratione connexa, exemplis illustrata. In: ders.: Gundlingiana. Darinnen allerhand Zur Jurisprudentz, Philosophie, Historie, Critic, Litteratur, Und übrigen Gelehrsamkeit gehörige Sachen abgehandelt werden. St. 45. Halle im Magdeburgischen 1732, S. 1–160; ders.: Discours über [...] Die Politic (s. Anm. 6). Gottlieb Stolle: Anleitung Zur Historie der Gelarheit (1718). Teil 3. Jena 1724, S. 569–742; Burkhard Gotthelf Struve: Bibliothecae philosophicae Struvianae emendatae continuatae atque ultra dimidiam partem auctae a Ludovico Martino Kahlio (1704), Tom. II. Göttingen 1740. ND Düsseldorf 1970, S. 161–183; Dietrich Hermann Kemmerich: Neu-eröffneter Academie Der Wissenschafften, Zu welchen vornemlich Standes-Personen nützlich können angeführet werden, Dritte Eröffnung: Welche die Morale und das Natur- und Völcker-Recht in sich begreiffet. Leipzig 1714, Bl. b1r–v. Vgl. auch ebd., Eröffnung 1, S. 179–180; Nikolaus Hieronymus Gundling: Vollständige Historie der Gelahrheit, Oder Ausführliche Discourse, So er in verschiedenen Collegiis Literariis, so wohl über seine eigenen Positiones, als auch vornehmlich über Tit. Herrn Inspectoris D. Christophori Augusti Heumanni Conspectum Reipublicae Literariae gehalten. Hg. von Christoph Friedrich Hempel. Teil 1. Frankfurt, Leipzig 1734. Wolff: Deutsche Politik (s. Anm. 6). Hans Werner Arndt: Einleitung. In: Wolff: Deutsche Politik (s. Anm. 6), S. I*–LI*, hier S. LI*. Scattola: Dalla virtù alla scienza (s. Anm. 4), S. 65–73. August Ludwig Schlözer: Allgemeines StatsRecht und StatsVerfassungsLere. Göttingen 1793. ND Goldbach 1970, S. IX. Gottsched: Vorerinnerung des Übersetzers (s. Anm. 17), Bl. 3v.

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Merio Scattola itzigen wirklichen Zustand von Europa sattsam schicketen, um derjenigen Absicht eine Genüge zu thun, die man sich vorzusetzen waget.30

1760, nach Wolffs Tod (1754), war also die Zeit gekommen, um neue Versuche um die Disziplin der Politik zu unternehmen. Der erste Versuch, den auch Gottsched in seiner Vorrede des Übersetzers erwähnt, war eine einfache Fortsetzung der Philosophie von Wolff. Michael Christoph Hanov (1695–1773) nahm sich nämlich vor, jene vollständige Abhandlung der Politik anzubieten, die Wolff nicht liefern konnte, und verfasste eine Philosophia civilis nach der strengsten Methode Wolffs, die dessen Ius naturae an Ausführlichkeit überbieten sollte.31 Das Werk, in vier Teilen von insgesamt fast 3000 Seiten verfasst, war selbstverständlich auf Latein geschrieben, denn dieses wurde als einzig angemessene Sprache für die gelehrte Kommunikation verstanden. Die Darstellung der politischen Lehre war hier weitgehend von der naturrechtlichen Begründung bedingt und tatsächlich behandelte der erste Teil, der mit Natur und Begründung des Gemeinwesens befasst war, eher die Materie des allgemeinen Staatsrechts und der Staatsverfassungslehre als die Themen der Staatsklugheit im eigentlichen Sinn. Derselbe Autor erklärte in der Vorrede zum ersten Band, er habe eigentlich nur die allgemeinen Grundsätze der Politik in seinem Werk umrissen.32 Die übrigen drei Teile gliederten die politischen Argumente unter einem besonderen Gesichtspunkt, denn sie betrachteten alle politischen Angelegenheiten immer aus dem Blickwinkel des Philosophen, der die vernunftmäßige Ordnung der menschlichen Gesellschaft verwirklichen sollte. Wegen ihrer Sprache, der Fülle der Abhandlung, des Vorrangs der staatsrechtlichen Themen und der philosophisch-gelehrten Perspektive war die Philosophia civilis als Handbuch einer modernen politischen Lehre fast unbrauchbar. Erfolgreicher waren in dieser Hinsicht drei Werke, die alle um 1760 veröffentlicht wurden und deren Relevanz darin besteht, dass sie nach dem Eigentlichen der Politik innerhalb eines naturrechtlichen Rahmens fragten und drei unterschiedliche Begriffsbestimmungen vorschlugen, ohne dabei die naturrechtliche Begründung direkt in ihre Abhandlung aufzunehmen. Johann Heinrich Gottlob Justi entwarf ein ausgedehntes System der Staatswissenschaften, das er in mehreren Büchern ausführte. Das allgemeine Staatsrecht oder die Staatsverfassungslehre präsentierte er in einer eigenständigen Abhandlung Die Natur und das Wesen der Staaten aus dem Jahre 1760,33 in der er einige Grundsätze entwickelte, die für die Bestimmung der Politik als einer untergeordneten Lehre angewandt werden konnten. Eine Theorie der Staatskunst lieferte er in der Abhandlung Der Grundriß einer guten Regierung, die also seine Lehre der Politik enthält.34 30 31 32

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Bielfeld: Lehrbegriff der Staatskunst, Erster Theil (s. Anm. 9), S. 4. Michael Christoph Hanov: Philosophiae civilis sive politicae pars I exhibens principia cum generalia politicae publicae tum simplicibus civitatum formis propria. Halle an der Saale 1746. ND Hildesheim 1998. Ebd, Vorrede, Bl. b2r–c3v, hier Bl. b3r–v: »Ita aggressus ipsum opus politicum, humillime venerando Dei beneficio, partem eius primam luce publica donare sum annisus, in qua quid egerim, paucis erit praemittendum. Fundamenta scilicet ipsius ante omnia fuere iacienda et firmanda sic, ut caetera illis recte superstrui possent. Exhibeo igitur hic generalia omnis politicae, in primis publicae togatae principia. Ostendi enim in politica docendam esse artem prudenter feliciterque et regnandi et parendi.« Johann Heinrich Gottlob Justi: Die Natur und das Wesen der Staaten, als die Grundwissenschaft der Staatskunst, der Policey, und aller Regierungswissenschaften, desgleichen als die Quelle aller Gesetze, abgehandelt. Berlin, Stettin, Leipzig 1760. Ders.: Der Grundriß einer guten Regierung in fünf Büchern verfasset. Frankfurt, Leipzig 1759.

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Was aber hier angeboten wurde, war wiederum eine allgemeine Betrachtung aller Grundsätze, nach welchen die politische Tätigkeit einer klugen Regierung geregelt wird.35 So enthielt das Buch keine politische Lehre im eigentlichen Sinne, sondern eher eine metapolitische Lehre oder eine ›Metalehre‹ der Politik. Die wirklichen Anstalten und Verfahren der Politik – was die Herrscher tatsächlich tun, wenn sie Staaten regieren – beschrieb er in seinen Büchern über die Polizei- und Kameralwissenschaften.36 Justis Abhandlung bot daher keine vollständige Darstellung der politischen Klugheit in einem einheitlichen Lehrbuch, sondern war offensichtlich unzulänglich. Die vermeintliche Beschreibung der Politik enthielt tatsächlich nur allgemeine Voraussetzungen, während ihr eigentlicher Gehalt erst in den Polizei- und Kameralwissenschaften, also in fremden Disziplinen, zur Geltung kam. Ein kompaktes Textbuch der politischen Klugheit – eine Beschreibung aller Regeln, Bereiche, Anstalten und Figuren der Regierungstätigkeit in übersichtlichem Umfang – lieferten Friedrich Jakob Bielfeld und Gottfried Achenwall (1719–1772). Ersterer organisierte 1760 die Materien der Politik durch den Begriff der Staatsmacht; letzterer bediente sich 1761 eines eklektischen Schemas, das eher der Statistik oder Staatskunde verpflichtet war, der Disziplin, der Achenwall in Göttingen zum akademischen Durchbruch verholfen hatte. Darin ist auch der Grund des anhaltenden Erfolgs seines politischen Werkes zu sehen, das unter dem Titel Die Staatsklugheit nach ihren ersten Grundsätzen erschien und vier Auflagen bis zum Jahre 1779 erfuhr.

5. Das System der Klugheit Bielfeld legte besonderen Wert auf seine Bemühungen um eine Systematisierung der politischen Materien und sah darin sein wahres Verdienst in der Gelehrtengeschichte, denn alle praktischen Wissenschaften hätten die höchste Stufe einer vernünftigen Gliederung in Grundsätze und angewandte Regeln erreicht, und nur die Regierungskunst hätte noch nicht die ihr gebührende Form erhalten. Heute zu Tage ist alles eine Kunst, alles ist ein System. Die Kunst zu regieren, die wichtigste von allen, ist fast die einzige, die bisher, so viel mir wissend ist, noch nicht auf sichere und unwandelbare Grundsätze und Regeln gebracht worden. Jede Wissenschaft, jedes Handwerk hat seine Theorie. Die sich darauf legen, lernen sie systematisch, d. i. im Zusammenhange. Nur die Regierungskunst, ist den ungewissen und abwechselnden Einsichten dessen, was man die gesunde Vernunft nennet, und einer oft sehr zweydeutigen Erfahrung überlassen worden.37

Die Regierungslehre kann aber zu einem wahren System erst dann erhoben werden,38 wenn die Naturrechtslehre schon diese Stufe erreicht hat, denn letztere soll der Politik ihre ersten Grund35 36

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Ebd., S. 232–235. Ders.: Staatswirthschaft oder Systematische Abhandlung aller Oeconomischen und Cameral-Wissenschaften, die zur Regierung eines Landes erfodert werden. Leipzig 1755; ders.: Die Grundfeste zu der Macht und Glückseligkeit der Staaten oder ausführliche Vorstellung der gesamten Polizeiwissenschaft. Königsberg, Leipzig 1760. ND Aalen 1965. Bielfeld: Lehrbegriff der Staatskunst, Erster Theil (s. Anm. 9), S. 3–4. Ebd., S. 7: »Man erkühnet sich die Staatskunst in ein Lehrgebäu (Systeme) zu bringen; den vortrefflichen Stoff, den man zerstreuet antrifft, zu sammeln; seine eigene Einsicht und Erfahrung hinzuzu-

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sätze liefern. Diese Arbeit am Naturrecht wurde von Grotius begonnen und von Pufendorf weitergeführt und kann mit der monumentalen Abhandlung von Christian Wolff für abgeschlossen erklärt werden. Auf dieser Basis kann man die allgemeinen Voraussetzungen der politischen Lehre festlegen. Man muss nämlich wissen, dass »ein ordentlicher Staat nichts anders, als eine Versammlung vieler Bürger, oder Einwohner eines Landes sey, die ihre Kräfte und Willen vereinigen, um sich alle mögliche Annehmlichkeiten, Bequemlichkeiten und Sicherheiten zu verschaffen.«39 Das Naturrecht kann ferner zeigen, warum eine regierende Instanz in jedem Staat wirken sollte und welche Formen sie annehmen kann. Es kann auch die richtigen von den falschen Verfassungsformen unterscheiden40 und beweisen, welche Regierungsform am ertragreichsten für die Wohlfahrt eines Volkes ist. Zuletzt nennt das Naturrecht die Eigenschaften der souveränen oder regierenden Gewalt im Staat sowie auch alle Befugnisse, die ihr zukommen.41 Nachdem das Naturrecht den Begriff des Staates im allgemeinen umrissen hat, kann das Völkerrecht die Besonderheiten dieses oder jenes Gemeinwesens beschreiben. Dann würde man das System jeder Regierung, seine Grundgesetzte, die Rechte dessen oder derjenigen, bey denen die höchste Gewalt liegt, wissen; die Vorrechte des Volkes, die mit den Nachbarn und andern Mächten geschlossenen Bündnisse, die Gränzen des Handels, die Befreyungen, die Vorrechte der Schiffahrt, u. s. w. wissen.42

Dies ist der Rahmen, in dem die ›Staatskunst‹ oder ›Regierungskunst‹ wirken soll. Sie setzt die naturrechtliche Begriffsbestimmung des Staates als einer Anstalt zu Erreichung der individuellen Glückseligkeit voraus und wendet die Grundsätze des allgemeinen Staatsrechts auf die verschiedenen Umstände des politischen Daseins eines besonderen Gemeinwesens an. Wenn ihre Tätigkeit in einer reinen und automatischen Anwendung vorgegebener Vorschriften auf festgesetzte Fälle bestünde, dann würde sie keine selbständige Disziplin darstellen, sondern wäre nur ein Anhang zum Naturrecht oder sie wäre dessen letzte Stufe, nämlich da, wo die Regeln der Theorie so reich an Einzelheiten werden, dass sie allen einzelnen Umständen des Staatslebens entsprechen. Mit der Politik verhält es sich aber anders, denn ein freier Spielraum entsteht immer im Übergang von der Theorie zur Praxis oder vom Möglichen zum Machbaren. Naturrecht, Völkerrecht und allgemeines Staatsrecht bestimmen zwar grundsätzlich und hinreichend, was im allgemeinen und gemäß der besonderen Verfassung eines bestimmten Staates gerecht und legitim ist; innerhalb des Legitimen sind aber unterschiedliche und alternative Entscheidungen oft möglich. So darf der Souverän eines Gemeinwesens immer bestimmte Verbrechen

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thun; die Geschichte und die Staatsleute zu Rathe zu ziehen; und daraus, wo möglich, eine Wissenschaft zu machen, die bey Zeiten jungen Prinzen von ihren Lehrern beygebracht, und überhaupt der Jugend auf den Kathedern von Professoren vorgetragen werden könne. So haben es die Grotier, die Puffendorfe, die Wolfe mit dem Rechte der Natur gemachet. Man ist weit entfernt zu glauben, daß man mit gleichem, oder doch ziemlich ähnlichen Erfolge arbeiten werde, als diese großen Männer. Es ist keine falsche Bescheidenheit, die mir hier ein verstelltes Mistrauen in die Feder flößet. […] Das einzige Verdienst, darnach man trachtet, ist dieses, daß man der erste gewesen, der diese Materie auf systematische Art abgehandelt.« Ebd., S. 39. Ebd., S. 39–45. Ebd., S. 45–48. Ebd. S. 27.

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begnadigen, es läßt sich aber fragen, ob und inwieweit in diesem oder jenem Fall die Gnade nützlich im Hinblick auf die Erreichung des Staatszwecks ist. Der freie Spielraum innerhalb des Legitimen ist der eigentliche Bereich der Staatskunst. Nachdem man die Vorschriften des Gerechten befriedigt hat, kann man nach dem individuellen und gemeinsamen Wohl trachten, indem man den Nutzen der Individuen und der Gesellschaft verfolgt. Die Politik oder Staatskunst, die diese Suche leitet, kann daher eine wirklich unabhängige Disziplin nur insofern sein, als sie sich auf ein eigenes Prinzip des Nützlichen berufen darf, und als solche wird sie auch definiert. Nimmt man das Wort ›Politik‹ in dem weitläuftigsten Sinne, so versteht man dadurch die Kenntniß der bequemsten Mitteln zu seinem Endzwecke zu gelangen. Diese Erklärung ist allgemein. […] Man wendet sie auf den großen Gegenstand der Regierung eines Staates. Daraus folget nun, daß die Politik, die das Augenmerk unserer Betrachtung seyn soll, nichts anders seyn wird als die Kenntniß der geschicktesten Mittel, einen Staat fürchterlich und seine Bürger glücklich zu machen; oder um eben das mit andern Worten zu sagen: die Kunst einen Staat zu regieren, und die öffentlichen Geschäffte zu verwalten.43

Da die Politik das Ziel der Wohlfahrt erreichen soll und sich dabei einer Logik des Mittels zum Zweck bedient, kann sie auch als eine Disziplin der Staatsräson bezeichnet werden, was aber auf keinen Fall bedeutet, dass sie alle denkbaren Mittel, erlaubt oder unerlaubt, einsetzen darf. Der innere Aufbau der naturrechtlichen Disziplinen impliziert nämlich, dass die untergeordneten Wissenschaften immer im Rahmen der übergeordneten wirken, und damit kann sich auch die Politik nur innerhalb des Rechtsmäßigen und Legitimen bewegen, das ihr als eine unüberschreitbare Grenze vom allgemeinen Staatsrecht diktiert wird. Dementsprechend muss man kategorisch alle Definitionen ablehnen, die die Politik als eine Kunst des Betrugs und der Verstellung malen, sei es durch den Pöbel, der sie als »die kostbare Gabe, die Menschen zu hintergehen und zu betrügen« versteht, sei es durch die Weltleute, die sie für die Kunst halten, »den Fuchspelz an die Leuenhaut zu heften, wenn diese zu kurz ist«.44 Als Disziplin der individuellen und gemeinsamen Wohlfahrt übt sich die Staatskunst in fünf großen Bereichen aus, denen eben so viele Hauptzwecke entsprechen. Erster Augenmerk. Man muß das Volk, welches man regieren soll, witziger und gesitteter machen. Zweyter Augenmerk. Man muß eine gute Ordnung im Staate einführen, und die Gesetze in Schwang bringen. Dritter Augenmerk. Man muß in einem Staate eine gute und genaue Polizey einführen. Vierter Augenmerk. Man muß den Staat blühend und Reich machen. Fünfter Augenmerk. Man muß den Staat an sich selbst fürchterlich, und seinen Nachbarn verehrungswürdig machen.45

Alle diese Felder politischer Tätigkeit sowie die unzähligen Fragen, Vorschläge und Maßnahmen, die sie sammeln und gliedern, lassen sich weiter auf zwei Hauptpunkte zurückführen, denn die Politik soll letzten Endes einen Staat innerlich reich an allen denkbaren (demographi-

43 44

45

Ebd., S. 36–37. Ebd. S. 35. Vgl. Niccolò Machiavelli: Il principe, Kap. 18. In: ders.: Opere. Hg. von Mario Bonfantini. Milano-Napoli 1954, S. 56–57. Dazu vgl. Michael Stolleis: Löwe und Fuchs. Eine politische Metapher zur Zeit der Entstehung des modernen Staates (1981). In: ders.: Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts. Frankfurt a. M. 1990, S. 21–36. Bielfeld: Lehrbegriff der Staatskunst, Erster Theil (s. Anm. 9), S. 60.

372

Merio Scattola

schen, sittlichen, ökonomischen) Ressourcen und äußerlich sicher machen.46 Man kann beide Seiten und beide Teilzwecke der Staatskunst durch den Begriff ›Macht‹ zusammenfassen und dann als die Disziplin der Staatsmacht definieren, wie es auch Johann Heinrich Gottlob Justi in seiner Polemik mit Bielfeld tat. Ausser der Übereinstimmung der Wohlfahrt der einzeln Familien mit dem gemeinschaftlichen Besten, muß eine jede bürgerliche Gesellschaft eine gute Ordnung und Zusammenhang in allen ihren Theilen haben; nämlich die verschiedenen Claßen des Volkes, die Regierenden und Gehorchenden, müssen in ihrem gerechten Verhältniß gegen einander stehen. Ein jeder Staat befindet sich auch allemal in einem gewissen Verhältniß gegen die übrigen freyen Mächte. Sowohl dieses innerliche, als äusserliche Verhältniß muß beständig so eingerichtet werden, daß die Glückseeligkeit des Staats, als dessen erster und allgemeiner Endzweck, dadurch erreicht wird. Wenn dieses geschehen soll, so müssen die Regierenden beständig, sowohl auf die innerliche Stärke des Staats, als auf seine relative Macht gegen auswärtige Staaten zurück sehen, und beyde zur Glückseeligkeit des Staats zu vergrössern suchen. Dieses innerliche und äusserliche Verhältniß, diese innerliche und relative Macht des Staats, sind also der eigentliche Gegenstand der Staatskunst; und man kann also auch vor diese Wissenschaft die Gränze gar wohl bestimmen.47

6. Gottsched und Bielfeld Mit diesem allgemeinen Verständnis der Staatskunst, mit den Aufgaben der Politik und den besonderen Lösungen, die Bielfeld in seiner Institutions politiques darlegte, war Gottsched vollkommen einverstanden. Er unterzeichnete gleichsam unbedingt das politische Programm Bielfelds. Die Übereinstimmung oder der Dissens des Übersetzers gegenüber seinem Autor kann anhand der Vorrede und den vielen Anmerkungen festgestellt werden, die Gottsched in den Text einstreute. In der Vorrede erklärte er seine Grundhaltung zu Bielfeld, die eigentlich auf die transitive Eigenschaft einer logischen Beziehung gegründet war. Gottsched ging nämlich von der Idee aus, man solle Wolff die höchste Achtung bezeugen. Bielfeld hatte offensichtlich Wolff verehrt. Demzufolge sollte man auch das Buch Bielfelds als die bestmögliche politische Lehre schätzen. Bielfeld gilt in dieser Argumentation eigentlich nur als ein Ersatz, indem er eine brauchbare Politik nach den Grundsätzen Christian Wolffs lieferte, was weder Wolff selbst noch Hanov gelungen war. In derselben Vorrede erklärt Gottsched auch, er werde sich einige Freiheiten mit dem übersetzten Text nehmen, und zwar in der Form eines unparteiischen Kommentars, der in den Fußnoten die Einseitigkeit Bielfelds ausgleichen soll. Wenn man aber nach dieser Bemerkung kritische Stellungnahmen erwartet, wird man schnell enttäuscht. Die Anmerkungen des Übersetzers drücken in den meisten Fällen Beifall aus und wenn es zu einer expliziten Kritik des Autors kommt, geschieht dies nur im Fall zweitrangiger Themen.

46 47

Ebd. S. 270. Justi: Die Grundfeste zu der Macht und Glückseligkeit der Staaten (s. Anm. 36), Bl. b1r–v. Zur Polemik mit Bielfeld vgl. ebd., Bl. a3v–4v; Scattola: La nascita delle scienze dello stato (s. Anm. 1), S. 46–47.

Gottsched und Bielfeld

373

Die Fußnoten zum deutschen Text des Lehrbegriffs der Staatskunst lassen sich in zwei große Gruppen einteilen: einerseits gibt es Anmerkungen des Autors, die schon im französischen Text vorkommen, andererseits finden wir Anmerkungen des Übersetzers. Letztere sind in den meisten Fällen mit einem G. gezeichnet, und in Zweifelsfällen kann man die deutsche Übersetzung mit dem ursprünglichen, französischen Text vergleichen. Von den sämtlichen 179 Fußnoten des ersten Bandes stammen 55 von Bielfeld und 124 aus der Feder Gottscheds. Die Fußnoten von Gottsched gehören wiederum in drei unterschiedliche Kategorien: Anmerkungen des Übersetzers, Ergänzungen und Berichtigungen. Die Anmerkungen des Übersetzers umfassen alle jene Fälle, in denen Gottsched Besonderheiten der Übersetzung bespricht, wie sie bei bestimmten Termini oder bei schwierigen Passagen auftreten können. Ergänzungen bilden alle jene Fußnoten, in denen der Übersetzer mit den Meinungen des Textes grundsätzlich übereinstimmt und noch weitere Bemerkungen, Beispiele oder Erklärungen zur Bestätigung des Textes anführt. Die Berichtigungen sind dagegen Fußnoten, in denen der Übersetzer eine alternative Position vertritt sowie die Meinung des Autors ablehnt und korrigiert. Nur drei Fußnoten, also 2 Prozent sämtlicher Fußnoten, sind Anmerkungen des Übersetzers. Auf Seite 596 fragt sich Gottsched, ob man sagen kann, wie Bielefeld hier behauptet, dass eine schmale pouppe (Heck) die Fahrt der Segelschiffe begünstigt, und kommt zum Schluss, dass hier ein Druckfehler vorliege und pouppe hier für das richtige proue (Bug) stehe.48 Ähnlich bezweifelt der Übersetzer in einer Fußnote auf Seite 643 des ersten Bandes, dass das Wort navette vom Verfasser richtig gebraucht worden ist.49 Als ›Ergänzungen‹ können 67 Anmerkungen verstanden werden, die 54 Prozent aller von Gottsched verfassten Fußnoten entsprechen. In diesen Fällen stimmt Gottsched den Aussagen des Verfassers zu und bereichert sie auf vielerlei Weise. Auf Seite 30 bekräftigt er die Meinung von Bielfeld, dass das Deutsche Reich eine verfassungsrechtliche Individualität ist, die in keine Definition hineinpasst, so dass das bekannte Urteil von Samuel Pufendorf – monstruo simile – positiv umzukehren ist.50 Gewisse Iure-Consulti, die gar zu philosophisch gewesen, haben durch Definitionen, Distinctionen, und Syllogismen, das öffentliche Recht nur verwirret, und von dieser Materie falsche Begriffe in die Köpfe ihrer Schüler gestreuet. Bald stellen sie den Kaiser als einen unumschränkten Herrn vor; bald ist das Reich wie eine Republik, und als wenn dessen Glieder ganz unabhänglich wären. Beydes ist falsch; allein das deutsche System, so wie es ist, leidet keine philosophischen Definitionen*): man muß es dazu nöthigen, man muß es zwingen; und eben dieses verstellet alles.

48 49 50

Gottsched: Anmerkung *). In: Bielfeld: Lehrbegriff der Staatskunst, Erster Theil (s. Anm. 9), S. 596. Ebd., S. 643. Samuel Pufendorf [Pseud. Severinus de Monzambano]: De statu imperii Germanici ad Laelium fratrem, dominum Trezolani, liber unus (1667), cap. 6, par. 9. Hg. von Philipp Andreas Oldenburger [Pseud. Pacificus a Lapide]. Utopiae [= Genf] 1668, S. 115: »Nihil ergo aliud restat, quam ut dicamus, Germaniam esse irregulare aliquod corpus et monstruo simile, siquidem ad regulas scientiae civilis exigatur.«

374

Merio Scattola *) Der Herr Verfasser hat Recht. Individuorum nullae dantur definitiones. Das deutsche Reich aber ist ein einzelnes Ding. Wer es also hat definiren wollen, ist gewiß kein Philosoph, kein Logicus gewesen. Ein Jurist kann er wohl gewesen seyn. G.51

Andere Fußnoten ergänzen den Text durch weitere bibliographische Angaben. So erwähnt Gottsched auf Seite 27 die deutschen Übersetzungen der Bücher von Pufendorf und Wolff über das Naturrecht, die Bielfeld im Text in der lateinischen Originalfassung bespricht.52 In den meisten Fällen enthalten Anmerkungen dieser Art Kommentare zu den Argumentationen des Textes, Beispiele oder Vergleiche mit verwandten oder ähnlichen Situationen. Unter dem Paragraphen, in dem die Beseitigung des Unrats von den städtischen Straßen erörtert wird, erinnert Gottsched daran, dass dieses Problem in Wien durch den Stolz des österreichischen Adels wesentlich erschwert wird, »denn auf allen Gassen wohnen Fürsten, Grafen und Freyherren und andre vornehme Leute, die das Vorrecht ihrer Unabhänglichkeit vom Stadtmagistrate, durch den dicksten und tieffsten Unflat auf den Gassen zu behaupten wissen.«53 In diesem Sinn betreffen einige Ergänzungen nicht selten ganz nebensächliche Probleme und streifen die Grenze des Lächerlichen, so etwa wenn Gottsched sich mit aller Gelehrsamkeit mit der Frage nach den Straßenlaternen und deren Effizienz auseinandersetzt. In Holland und Deutschland sind die Gassen mit zwo Reihen von Pfeilern versehen, auf welchen die großen dreyeckigten Laternen stehen, die einen blechernen Hut haben*). *) In Dresden sind die Laternen ganz kugelrunde gläserne Blasen, die keinen Schatten machen; in Leipzig sind sie viereckigt; geben also durch die Eckhölzer viel Schatten. G.54

Gottscheds ›Berichtigungen‹ sind verhältnismäßig weniger häufig als seine ›Ergänzungen‹ und betragen mit 54 Fällen 44 Prozent seiner Fußnoten. Thematisch sind sie vielfältig, aber man kann drei große Interessen bei den behandelten Argumenten feststellen. In keinem Fall werden aber zentrale Themen der politischen Lehre angesprochen. In den fundamentalen Fragen oder in der theoretischen Struktur der politischen Lehre stimmt Gottsched mit Bielfeld bedingungslos überein und äußert nur am Rand und über nebensächliche Themen einen gemäßigten Dissens. Zwölf Fußnoten, fast ein Viertel der Gesamtzahl, betreffen das akademische Leben und bilden die erste Gruppe der Berichtigungen. Gottsched zeigt mit diesen Anmerkungen, dass Bielfeld ungenügende Kenntnisse über bestimmte Gegenstände des universitären Lehrbetriebs hat. Er verwechselt zum Beispiel die Personalbezeichnungen in der juristischen Fakultät und nennt den Dekan ›Kanzler‹ oder ›Direktor‹;55 oder er ist unkundig in der Universitätsgeschichte und ignoriert, dass die erste Universität in Bologna gegründet wurde56 oder dass die Studenten in Leipzig schon ohne Gebot des Stadtmagistrats den Degen abgelegt haben.57 Obwohl diese 51

52 53 54 55 56 57

Bielfeld: Lehrbegriff der Staatskunst, Erster Theil (s. Anm. 9), S. 30 und Gottsched, Anmerkung *), S. 30. Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Monita quaedam ad Samuelis Pufendorfii principia (1709). In: ders.: Opera omnia. Hg. von Louis Dutens. Bd. IV, pars 3. Genf 1768, S. 275–283, hier S. 281. Gottsched: Anmerkung *). In: Bielfeld: Lehrbegriff der Staatskunst, Erster Theil (s. Anm. 9), S. 27. Ebd., Anmerkung *), S. 179. Ebd., Anmerkung *), S. 217. Ebd., Anmerkung **), S. 163. Ebd., Anmerkung *), S. 131. Ebd., Anmerkung *), S. 74.

Gottsched und Bielfeld

375

Anmerkungen eher marginale Erscheinungen berücksichtigen und zur inhaltlichen Auseinandersetzung wenig beitragen, verfolgen sie einen gemeinsamen Zweck, der die Einstellung von Gottsched wesentlich prägt. Wir können sogar darin den eigentlichen Punkt sehen, an dem der Übersetzer Gottsched ein eigenes Verständnis der Politik gegenüber seinem Autor Bielfeld zeigt. Die Berichtigungen über das akademische Leben und dessen Besonderheiten zeigen nämlich, dass das Studium ein wesentlicher Teil der politischen Lehre und der politischen Ausbildung ist. In diesem Sinn erklärt Gottsched, dass der künftige Staatsmann auch die Physik und die mathematischen Wissenschaften mindestens in ihren Grundlinien lernen soll und dass niemand die Lehre des Natur- und Völkerrechts ohne die Leitung eines guten Lehrers erschliessen könnte.58 Das gelehrte Projekt von Bielfeld, der die Politik als eine Angelegenheit des Hofes verstand, muss daher emendiert werden, und auch die Universität muss darin eine positive Aufgabe übernehmen. Mit anderen Worten, die literarischen Konventionen des Hofes müssen in die literarischen Konventionen der Universität übersetzt werden. Nur in dieser Form können sie erfolgreich verbreitet werden. Dies ist auch das gelehrte Programm, das Gottsched in seinen Fußnoten oder ›Berichtigungen‹ durchsetzt. Die zweite große thematische Gruppe umfasst elf Anmerkungen, in welchen der Übersetzer die Meinung des Autors über den Zustand des Kurfürstentums Sachsen verbessert und gelegentlich einen Vergleich mit dem Königreich Preußen anstellt. Er zeigt hier ausdrücklich, dass Bielfeld von einem eng preußischen Gesichtspunkt aus argumentiert und dass diese Perspektive durch Heranziehung weiterer Länder bereichert und verbessert werden soll.59 Sachsen könne in dieser Hinsicht ein besseres Beispiel als Preußen für die Polizeiordnungen und den Bereich der öffentlichen Verwaltung sein. Nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges ist Gottsched offensichtlich bemüht, das Gleichgewicht mit dem mächtigen Nachbarn wiederherzustellen. Sein Versuch kann auch im Licht seiner Kulturpolitik gelesen werden, denn man konnte das Werk von Bielfeld als eine gelungene Synthese der politischen Lehre auf gesamtdeutscher Ebene erst dann vorschlagen, wenn ihm die auffälligsten und einseitigsten Elemente seiner preußischen Entstehung entnommen wurden. Die dritte und letzte große Gruppe von ›Berichtigungen‹ umfasst alle Anmerkungen, in denen Gottsched Abstand von Bielfeld nimmt, wenn besondere Aspekte der Polizei- und Kameralwissenschaften diskutiert werden. Auch in diesem Fall kommen einige Beobachtungen an den Rand der Pedanterie. Bielfelds Liste der 36 Arten von Metallmanufakturen auf Seite 423 ergänzend, verzeichnet Gottsched noch einige unerwähnt gebliebene Berufe: Wir haben hier noch die Gelbgießer, die Rothgießer, die Klimper, die Platenschläger, die Knopfmacher metallner Knöpfe, die Schlösser, die Zirkelschmiede, die groben Uhrmacher, so Bratenwender u. d. gl. verfertigen, Instrumentmacher, die Nagelschmiede, die Drahtzieher, die Gold- und Silberspinner, vermisset. G.60

In den darauffolgenden Seiten werden noch weitere Beispiele von dieser Ausführlichkeit in kameralistischen Angelegenheiten angeboten.61 Nicht alle Anmerkungen zeigen aber denselben pedantischen Geist; einige berücksichtigen nämlich zentrale Themen in der ökonomischen Leh58 59 60 61

Ebd., Anmerkung *), S. 25 und Anmerkung **), S. 27. Ebd., Anmerkung *), S. 215. Vgl. auch S. 132, 207, 211, 215, 444, 448, 471, 473, 511, 512. Ebd., Anmerkung *), S.423. Ebd., Anmerkung *), S. 425 und Anmerkung *), S. 428.

376

Merio Scattola

re des achtzehnten Jahrhunderts. Gottsched kritisiert zum Beispiel den physiokratischen freien Handel, den Bielfeld befürwortet, und verteidigt eher den alten merkantilistischen Standpunkt, demgemäß man lieber teurere Waren im Inland herstellen soll, als dass man billigere Waren vom Ausland einführt. Diese prinzipiellen Meinungsunterschiede bleiben aber Einzelfälle im Rahmen eines allgemeinen Konsens. Was den Kern der politischen Lehre betrifft, stimmt der Übersetzer völlig mit dem Autor überein. Auf einen Punkt möge man jedoch bei alledem achten: Man solle deutsch reden und sich nicht an die Höfe, sondern an die Universitäten und an ihr Publikum wenden.

3777

Gottsched und Bielfeld

Anzah hl Bielfeld

Prozent allgemein a Pro ozent Gottschedd

55

31

Ergänzungen

6 67

37

544

Berichtigungen Anmerkungen n des Übersetzeers

54

30

444

3

2

2

1779

100

1000

Alle

A Anmerkungen

Anmerkuungen des Überrsetzers 2%

Berich htigungen 30 %

B Bielfeld 31 %

Erggänzungen 37 %

Anmeerkungen Gotttscheds

Anmerku ungen des Überseetzers 2 %

Berrichtigungen 444 %

Erggänzungen 54 %

HOLGER STEINMANN

Anmerkungen zu Pieter van Musschenbroeks Elementa physicæ und ihrer Edition durch Gottsched

In den drei folgenden Abschnitten möchte ich zunächst einige Kerndaten der Biographie Musschenbroeks mitteilen, sodann kurz die Rahmenbedingungen erläutern, unter denen die Übersetzung bzw. Edition der Elementa physicæ durch Gottsched zustandegekommen ist; schließlich soll das Programm und das Verfahren dieses Textes in Ansätzen skizziert werden.

1. Musschenbroek Pieter van Musschenbroek lebte von 1692 bis 1761. Er wurde in Leiden geboren, besuchte die dortige Universität, widmete sich in erster Linie der Pharmakologie, in der er 1715 promovierte. Er beschäftigte sich schon während der Studienzeit mit weiteren Problemen der Naturwissenschaft und promovierte 1719 zusätzlich in Philosophie, worauf er Dozent an der clevischen Universität Duisburg wurde und dort auch Professuren für Medizin und Astronomie übernahm. Sein Bruder war Jan van Musschenbroek, der, wie Gottsched in der Vorrede zu seiner Ausgabe schreibt, »berühmte Mechanicus«1 der durch seine optischen Geräte und die Konstruktion von Luftpumpen einige Bekanntheit erlangte. 1723 ging Pieter van Musschenbroek an die Universität Utrecht, wo er eine, so abermals Gottsched, »treffliche Experimentalkammer«2 anlegen ließ. 1739/40 folgte er d’Gravesande auf den Lehrstuhl für Mathematik und Physik der Universität Leiden, wo er bis zu seinem Tode blieb. Musschenbroek publizierte eine Reihe naturphilosophischer Werke, 1726 Epitome elementorum physico-mathematicorum; eine Vorform des hier zur Diskussion stehenden Titels. Drei Jahre später erscheint ein Buch mit Beschreibungen von optischen und elektrischen Experimenten sowie meteorologischen und geologischen Beobachtungen. 1734 veröffentlicht er Elementa physicæ, die – ebenfalles in Leiden – 1736 unter dem Titel Beginselen der Naturkunde, beschreven ten Dienste der Landgenoten auch auf Niederländisch herauskommt. 1

2

Vgl. Pieter van Musschenbroek: Grundlehren der Naturwissenschaft. Nach der zweyten lateinischen Ausgabe nebst einigen neuen Zusätzen des Verfassers ins Deutsche übersetzt. Mit einer Vorrede ans Licht gestellt von Johann Christoph Gottscheden. Leipzig 1747, S. a2v Ebd., S. b1r.

380

Holger Steinmann

In der Wissenschaftsgeschichte ist der Name Musschenbroek aber nicht in erster Linie mit seinen Publikationen verbunden, sondern mit der Konstruktion der Leidener Flasche und den Experimenten, die er damit durchführte. Diese stellten einen wesentlichen Schritt in der Erforschung und Nutzbarmachung der Elektrizität dar. Die Leidener Flasche ist die Frühform oder gar Urform des auch heute noch gebräuchlichen Kondensators, der für die meisten elektrischen und elektronischen Geräte, in denen der Stromfluss präzise geregelt werden muss, unabdingbar ist. Die Leidener Flasche war bereits in der Lage, erhebliche elektrische Ladungen zu speichern und Spannungen für kurze Zeiträume aufrecht zu erhalten. Musschenbroek führte diese Experimente 1746 fast zeitgleich mit und unabhängig von Christian Ewald von Kleist durch, also ein Jahr vor der Publikation der Ausgabe der Elementa physicæ durch Gottsched. Zwar erklärt dieser, dass er über seinen Verleger weitere Zusätze aus der Hand Musschenbroeks bekommen hatte, doch bezogen sich diese nicht auf die Leidener Flasche – wenngleich elektrostatische Experimente in die Elementa aufgenommen wurden, doch sind diese älteren Datums.

2. Die Elementa physicæ und ihre deutsche Ausgabe Die erste Auflage von Musschenbroeks Elementa physicæ conscripta in usus academicos erschien 1734 in Leiden (also genau in dem Jahr, in dem Gottsched den Praktischen Theil der Ersten Gründe Der Gesamten Weltweisheit veröffentlicht und ordentlicher Professor für Metaphysik und Logik an der Universität Leipzig wird). Gedacht war dieser Text als eine grundlegende Handreichung für Studenten der Philosophie. Gottscheds Übersetzung von Musschenbroek beruht auf der zweiten Leidener Ausgabe von 1743.3 Die Übersetzung wurde 1746 begonnen und 1747 bei Kiesewetter in Stockholm unter dem Titel Grundlehren der Naturwissenschaft veröffentlicht. Zwar war Musschenbroek einer der bekanntesten Naturphilosophen seiner Zeit – für Gottsched aber schien er keine besondere Bedeutung zu haben. In dessen eigenen Texten wird er m. W. lediglich noch zweimal erwähnt, und zwar in den Bänden der Neuesten Nachrichten aus der anmuthigen Gelehrsamkeit der Jahre 1752 und 1762, und zwar in beiden Fällen in Hinsicht auf seine Experimente mit Dioptrik und Magnetismus. In dem großen naturphilosophischen Teil der Ersten Gründe kommt Musschenbroek ebenfalls nicht vor. Und in der Tat ging die Idee einer Übersetzung dieses Werks ins Deutsche auch nicht von Gottsched selbst aus. Der Verleger Gottfried Kiesewetter hatte eine schwedische Edition veranstaltet und plante auch eine Ausgabe für den deutschen Markt. Gottsched schreibt in seinem Vorwort: »In dieser Ueberredung ließ derselbe durch einen hiesigen Freund mich ersuchen, diese Bemühung über mich zu nehmen; und unsern Landesleuten also ein Werk zu liefern, dergleichen sie in ihrer Muttersprache noch nicht gehabt.«4 Im Sommer 1746 beginnt er mit der Übersetzung: Ich fieng auch wirklich an, Hand ans Werk zu legen, war aber noch nicht gar zu weit gekommen, als ich durch andre Arbeiten unvermuthet gehindert ward, so fleißig darinn zu seyn, als ich mir vorgenommen hatte, und in der mir gesetzten Zeit, diese Uebersetzung, allein zu Stande zu bringen.

3 4

Die Ausgabe letzter Hand erschien 1761 in Venedig. Musschenbroek/Gottsched: Grundlehren der Naturwissenschaft (s. Anm. 1), S. b3v.

Gottsched und Musschenbroeks

381

Ich sah mich also genöthigt, mich nach der Hülfe eines geschickten und gelehrten Mannes umzusehen; fand auch gar bald einen solchen, der aus den philosophischen und mathematischen Wissenschaften, die er auf unserer Universität lehret, sein Hauptwerk macht und dieser Arbeit vollkommen gewachsen war.5

Von diesem Mathematiker heißt es aber weiter: »Doch auch diesen nöthigten seine übrigen Geschäfte, sich bisweilen der Hülfe eines Freundes zu bedienen«.6 Gottsched hat also keineswegs den gesamten Texte übersetzt, obwohl die Endredaktion in seiner Verantwortung lag. Auch der Bitte Kiesewetters, dem Text eigene Anmerkungen hinzuzufügen, ist Gottsched – abermals aus Zeitgründen – nicht nachgekommen. Gleichwohl merkt er an, dass er einige Auffassungen des Autors nicht teilt, wie die Lehre vom leeren Raum. Gravierender erscheint mir aber ein Einwand, der sich auf die behandelten Wissensbereiche bezieht. In Musschenbroeks Text werden lediglich die Bereiche abgedeckt, die heute als die »klassische« Physik bezeichnet werden: Mechanik, Theorie des Lichts, Dioptrik und Katoptrik, Elektrizitätslehre, Hydrostatik, Akustik, Metereologie – die Gravitationstheorie wird nur am Rande behandelt, das Kapitel über die Anziehung der Körper enthält in erster Linie Beschreibungen von Experimenten mit Magneten. Musschenbroek behandelt also genau die Bereiche, die zu seiner Zeit am einfachsten mathematisch formalisierbar waren. Gottsched beklagt, dass »sehr viele Materien« fehlen;7 er nennt die Astronomie, die Geologie, die Pflanzen und die Tiere, wobei er vor allem die Entomologie betont. In der Tat sind dies alles Bereiche, die Gottsched im naturphilosophischen Teil der Ersten Gründe eingehend bedacht hat. An dieser Stelle macht Gottsched eine interessante Bemerkung, die sich auf die Verbreitung naturphilosophischen Wissens auch außerhalb der Universitäten bezieht: »Zu allen diesen Materien fehlt es heut zu Tage auch Leuten von mittelmäßiger Fähigkeit, an Hülfsmitteln nicht, sie nach dem Begriffe der Anfänger, zu länglich abzuhandeln.« Zu diesen Hülfsmitteln zählt er u. a. die Philosophical Transactions der Royal Society sowie Schriften der frühaufklärerischen Physikotheologie wie Derham, Nieuwentyd und Leeuwenhoek. Aus deren Schriften, hätte man, so Gottsched »eine gute Anzahl von Capiteln […] ausarbeiten können, die dem Werke keinen unnöthigen Zusatz gegeben hätten.« Die »Menge solcher Materien« wie auch die Ansicht, dass das Buch eines Verfassers nicht mit zu vielen Zusätzen versehen sein sollte, hinderten ihn aber daran – vermutlich spielte aber auch die angedeutete Zeitknappheit eine Rolle.8

5

6 7 8

Ebd., S. b4r. Ich habe nicht genau eruieren können, um welchen Mathematiker es sich hier handelt; am wahrscheinlichsten erscheint mir Gottfried Heinsius, der seit 1743 in Leipzig lehrte, es könnte aber auch Abraham Gotthelf Kästner gewesen sein, der ab 1746 außerordentlicher Professor war oder Georg Heinrich Borz, der 1743 in Leipzig habilitiert wurde. Ebd. Ebd., S. b5r. Ebd., S. b5v.

382

Holger Steinmann

3. Das Programm der Elementa physicæ Die Vorrede von Musschenbroek sowie das erste Kapitel, das sich den erkenntnistheoretischen Prämissen seines Buchs widmet, machen deutlich, worauf es ihm ankommt. Es geht um die Etablierung einer physikalischen Naturlehre als Teilgebiet der Philosophie, in dem jene den Raum des ganzen Weltgebäudes, und alle darinn befindliche Körper untersuchet, ihre Naturen, Eigenschaften, Thätigkeiten, Leidenschaften, Lagen, Ordnungen, Kräfte, Wirkungen, ihre Ursachen, Beschaffenheiten, Größen und Ursprünge erforschet, und alles so viel möglich, mathematisch, beweiset.9

Es muss betont werden, dass sowohl die Geisterlehre als auch die Teleologie aus diesem Bereich komplett verbannt sind. Diese Naturlehre handelt also – anders als weite Bereiche der Naturphilosophie des 17. Jahrhunderts, wie sie etwa in den Philosophical Transactions dokumentiert sind – allein von der natura naturata, also der geschaffenen Natur der Körper und ihrer Bezüglichkeit untereinander, und nicht von der natura naturans, der schaffenden Natur mitsamt der Spekulationen über geistige Prinzipien. Diese werden hier nicht negiert, aber aus ihrem Zusammenhang gesetzt, der in Gottscheds Ersten Gründen der Weltweisheit durchaus eine Rolle spielt. Mit der Tilgung der Teleologie aus dem Text von Musschenbroek ist auch der deutliche Bezug zur Physikotheologie – der ja zumeist auch der Aspekt der Physikoteleologie innewohnt – zumindest eingeschränkt und besteht lediglich in einem randständigen topischen Verweis auf die Größe der Werke Gottes am Schluss der Einleitung von Musschenbroek – wie auch der Vorrede Gottscheds. In diesem Punkt ähnelt Musschenbroeks Text vielen naturphilosophischen Schriften der Frühaufklärung, die zwar repetitiv auf das physikotheologische Designargument verweisen, es aber weder genauer diskutieren noch für ihre Argumentation jenseits eines allgemeinen gehaltenen Verweises bemühen. Musschenbroek setzt sich durch diese Geste der Betonung eines klar definierten Wissenssegments vom Gesamtzusammenhang der Philosophie ab. Der Text der Elementa besteht aus knapp 1400 Abschnitten, die sich in 41 Kapitel gliedern und die bereits genannten Felder der »klassischen Physik« abdecken; sie enthalten Experimentbeschreibungen, in sehr geringem Maße Gedankenexperimente, Naturbeobachtungen sowie die Schlüsse, die Musschenbroek hieraus zieht. Wesentlicher noch als die inhaltliche Strukturierung des Werks erscheint mir die Rhetorik Musschenbroeks, die die strikte Dichotomie, ja Antinomie der – seit C. P. Snow so genannten – Zwei Kulturen – nämlich den sprachlich orientierten Geistes- und den dezidiert mathematisch orientierten Naturwissenschaften10 – mitträgt. (Diese Striktheit dürfte auch einer der Gründe dafür sein, dass die Übersetzung von Gottsched – im Gegensatz zu denen des Wörterbuchs von Pierre Bayle und der Theodizee von Leibniz – bei Goedeke nicht verzeichnet ist.) So schreibt Musschenbroek: Den besten Weg zur Erlernung der Weltweisheit bahnet man sich durch die Kenntniß der freyen Künste, und sonderlich der Mathematik: 1) weil diese den Verstand vor andern schärfet; 2) weil sie

9 10

Ebd., § 2, S. 4. Ein Begriff, den Christian Wolff – laut dem Deutschen Wörterbuch – 1719 oder 1720 in Vernünftige Gedanken von Gott einführt.

Gottsched und Musschenbroeks

383

lehret, was eine wahrhafte Demonstration sey; 3) weil ohne sie in der Mechanik, Hydrostatik, Optik und Astronomie nichts erkannt werden kann.11

Ganz ähnlich wie Isaac Newton stellt Musschenbroek also den Anspruch einer systematischen Zusammenführung von exakter empirischer Beobachtung und mathematischer Formalisierung. Dies war ein novum sowohl für die angelsächsische wie für die gesamte europäische Naturphilosophie. Nach und nach wurden die Experimentbeschreibungen und -deutungen in Gesellschaften wie der Royal Society auf diese Systematik umgestellt. Diese setzte sich im weiteren auf eine Weise durch, dass die Erkenntnisse der Naturwissenschaften ohne solide mathematische Kenntnisse größtenteils gar nicht verständlich sind – was bis heute gilt. Bemerkenswert ist allerdings, dass sich in Hinsicht auf diesen Anspruch verhältnismäßig wenige algebraische Formeln in Musschenbroeks Text finden – und selbst diese hätten die Hinzuziehung eines professionellen Mathematikers kaum nötig gehabt. Gleichwohl sucht Musschenbroek die eindrucksvollen Leistungen der Abstraktion der Mathematik darzulegen, wenn er im dritten Kapitel der Elementa den Begriff eines unendlichen leeren Raums more geometrico konstruiert. Damit reagiert er auf Newton, der in Principia mathematica deutlich darlegt, dass der mathematische absolute, kontinuierliche und unendliche Raum sich unseren Sinnen entzieht. Um diesen auf philosophische Weise zu diskutieren, schreibt Newton, dass wir von unseren Sinnen absehen und abstrahieren müssten: »we ought to abstract from our senses.«12 Anhand der Figuren 9-12 der ersten Tafel seines reich illustrierten Textes erläutert Musschenbroek zunächst wie man über die Eindimensionalität der Gerade und die Zweidimensionalität der Fläche zum Begriff eines leeren dreidimensionalen Raums kommt (vgl. Abb. 1): »Man gedenke, dass die sechs Flächen, die einen Raum einschließen, aus einander ins Unendliche fort geschoben werden, so wird man den Begriff eines unendlichen Raumes erlangen.«13 Durch diese Kombination der Vorstellungen der Unendlichkeit und des Kubus weist Musschenbroek der Mathematik die Qualität zu, den adäquaten Begriff eines unendlichen Raums zu geben.

Abb. 1. Ausschnitt aus der ersten Tafel der Elementa physicæ Mit der Favorisierung der Mathematik geht die Polemik gegen die Hypothese einher; in seiner Vorrede konstatiert Musschenbroek:

11 12 13

Musschenbroek/Gottsched: Grundlehren der Naturwissenschaft (s. Anm. 1), § 3, S. 5. Isaac Newton: The Mathematical Principles of Natural Philosophy. London 1803, S. 9. Musschenbroek/Gottsched: Grundlehren der Naturwissenschaft (s. Anm. 1), § 73, S. 52.

384

Holger Steinmann Die Begierde zu dichten, die in vorigen Zeiten so beliebt und gewöhnlich war, ist durch die Verbannung der Hypothesen, sehr gebändiget; und an ihre Stelle sind genaue Beobachtungen, Versuche […] wie auch tüchtige geometrische Demonstrationen gekommen. […] Man hat die die wahre und sichere Art zu philosophiren erfunden, wodurch man zur Gewißheit und Wahrheit in der Naturlehre gelangen, und die Wissenschaft von der Dichtung [a commentis] reinigen kann.14

Musschenbroek geht also davon aus, dass die Hypothese Ausdruck einer irrigen, spekulativen und letzten Endes irren Unwissenschaftlichkeit sei, berücksichtigt aber nicht, dass ihr der Begriff der Hypothese – bei Autoren wie Bacon und Boyle – einer radikalen Skepsis gegenüber der menschlichen Erkenntnis- und Darstellungsfähigkeit – und somit auch den daraus hervorgegangenen Erkenntnissen und Darstellungen selbst – entspringt. Die wissenschaftliche Seriosität dieses Hypothesenbegriffs liegt schlicht darin, dass jegliche Erkenntnis als Modell und Theorie begriffen wird, die sich den tatsächlichen Gegebenheiten höchstens nähern, sie aber letzten Endes nie vollständig darstellen und begreifen kann.15 So hat auch der erwähnte unendliche Raum bei Newton genau diesen Modellcharakter – er bildet eine Hypothese, die gleichwohl trotz Newtons weiteren Ausführungen prämissiv ist. Doch die Betroffenheit der Sinne und ihrer Wahrnehmungen sowie der Sprache – und sei es die der Mathematik – und ihrem Darstellungspotential durch eine mögliche Defizienz stellt für Musschenbroek kein Problem dar. Zwar konstatiert er frei nach John Locke: »Was körperlich ist, kann nur durch die Sinne erkannt werden.«16 Doch weder diskutiert er das Problem der Sinne noch Begriff und Wesen des erkennenden Subjekts auch nur in Ansätzen. Zudem finden sich auch bei Musschenbroek Passagen, die seinen eigenen Prämissen hinsichtlich einer unhypothetischen Empirie zuwiderlaufen. So möchte er im Kapitel zum leeren Raum nicht nur nachweisen, dass man den Begriff eines leeren Raums haben könne, sondern auch, dass dieser »in der That in der Welt vorhanden sey«.17 Unter anderem versucht er, dies folgendermaßen zu beweisen: Er beobachtet an Sandkörnern unter dem Mikroskop, dass diese »der Figur nach«18 verschieden sind. Von der verschiedenen Oberflächenstruktur der Sandkörner schließt er nun analogisch, dass auch die Korpuscula der diese Körner umgebenden Flüssigkeiten in ihrer Oberflächenstruktur verschieden sein müssen (›Flüssigkeit‹ meint hier das subtile fluidum – als Oberbegriff für nichtfeste Körper wie Wasser, Luft oder Äther). »Niemand 14 15

16 17 18

Ebd., S. b7r. Die englische Übersetzung sagt gar: »science has been rescued from fiction and romance« (Pieter van Musschenbroek: The Elements of Natural Philosophy: Chiefly intended for the use of students in universities. Übers. von John Colson. London 1744, S. a2r). Einerseits ist die Bedeutung von ›dichten‹ im Sinne von ›lügen‹, ›erfinden‹, ›erdichten‹ seit dem sechzehnten Jahrhundert bis hin zu Kant belegt, andererseits ist es bemerkenswert, dass die deutsche Übersetzung eines Textes, der die mathematische Formalisierung als den einzigen korrekten und objektiven Weg der Erkenntnis benennt, ›fingo‹ mit ›dichten‹ übersetzt – während es im englischen mit dem – ebenfalls pejorativen – ›feign‹ wiedergegeben wird. ›Erdichten‹ ist hier also eine bewusst pejorative Metapher, die sich gegen irrige Hypothesen bzw. gegen die Irrigkeit des Hypothetischen überhaupt richtet. In diesem Zusammenhang wäre darüber hinaus zu fragen, ob sich die Metapher des ›Dichtens‹ und ›Erdichtens‹ sich nicht auch pars pro toto gegen Sprachlichkeit wendet und gegen das, was mit und in Sprache darstellbar ist, einfach deshalb, weil mit ihr Zweifel, Doppeldeutigkeiten und Unsicherheiten verbunden sind. Musschenbroek/Gottsched: Grundlehren der Naturwissenschaft (s. Anm. 1), § 1, S. 4. Ebd., § 66, S. 50. Ebd., § 82, S. 57.

Gottsched und Musschenbroeks

385

wird läugnen«, so setzt er, »daß auch die Theilchen dieser flüssigen Materie figuriert sind«. Nun beobachtet er an einem Sandhaufen, dass sich, wenn dieser in Bewegung gerät, Zwischenräume und Lücken zwischen den einzelnen Körnern bilden – von diesen Zwischenräumen schließt er auch auf solche, die sich zwischen den Korpuscula des Fluidums befinden müssen: Man darf eben nicht die größeren Theile des Körpers annehmen, um die Wirklichkeit des leeren Raumes zu erweisen. Man kann die Theilchen einer subtilen flüssigen Materie annehmen. Sie werden nothwendig irgend einige Figur haben, und wenn man sie unter einander beweget und vermenget, so werden sich nothwendig einige Räumchen in derselben eräugen, die nicht erfüllet, und folglich leer sind.19

Dieses analogische Verfahren hat freilich weder etwas mit mathematischer Herleitung noch mit Empirie zu tun. Gleichwohl muss betont werden, dass der Impetus des Programms von Musschenbroek – der Hinweis auf die »freyen Künste« macht dies überdeutlich – unter frühaufklärerisch-optimistischem Vorzeichen das mittelalterliche Trennungsschema der artes liberales in die artes der vox und die der res wiederholt. Dabei impliziert er, dass die res nicht nur mathematisch dargestellt werden können, sondern tatsächlich objektiv mathematisch geordnet sind. Aufgabe des Naturforschers ist – laut Musschenbroek – also nicht das Er-finden von Formeln, die die Dinge und Prozesse der Natur beschreiben und modellieren, sondern das Auf-Finden der Formeln, nach denen die Natur gebaut ist – eine Vorstellung, der auch heute noch nicht die wenigsten Naturwissenschaftler anhängen. Kurios – im Sinne von Neugier erweckend – erschien mir, dass Gottsched sich für den Text eines Autors, den er sonst fast gar nicht erwähnt, so interessierte (oder lediglich der »Ueberredung« Kiesewetters nachgegeben hat), dass er ihn auf Deutsch herausgab. Die Zweifel, die Gottsched an Musschenbroeks Text äußert, sind überdeutlich. Was ihn dazu bewog, muss bis zu diesem Zeitpunkt Gegenstand von Spekulation bleiben – vielleicht gibt die anstehende Edition seiner Briefe aus dem Zeitraum der Übersetzung genauere Auskunft. Gottsched könnte in Musschenbroeks Text eine Ergänzung zu seinen eigenen Ausführungen zur Naturphilosophie in den Ersten Gründen der Gesamten Weltweisheit gesehen haben. Plausibel erschiene zudem, dass es sich ebenfalls um eine lehrbuchhafte Handreichung für die Studenten der Philosophie in Leipzig – und an anderen deutschen Universitäten – handeln sollte. Hierfür spricht das Kompendienhafte des Werks wie auch der explizite Hinweis ad usus academicos der lateinischen Ausgabe. Auch wenn Musschenbroek mit Elementa physicæ nicht the state of the art der Naturphilosophie zur Mitte des 18. Jahrhunderts erreicht, wird dieses Kompendium schließlich noch von Lichtenberg als ein halbwegs zuverlässiger Katalog von Experimenten und Beobachtungen geschätzt: So spricht er in einem frühen Heft der Sudelbücher vom »gnaue[n] Musschenbroek«.20 Vielleicht – eine ganz schwache Hypothese – war es aber auch die Fülle – die plenitudo – der Beobachtungen und Experimente, die Gottsched an diesem Text reizte.

19 20

Ebd. Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. Bd. 2. Sudelbücher II, Materialhefte, Tagebücher. Hg. von Wolfgang Promies. München, Wien 31991, S. 45, (KA 18).

ÖFFENTLICHER ABENDVORTRAG

DETLEF DÖRING

Johann Christoph Gottsched und die deutsche Aufklärung

Meinen Vortrag möchte ich mit einer lapidaren These eröffnen: Die Aufklärung als Bezeichnung einer historischen, im wesentlichen im 18. Jahrhundert anzusiedelnden Epoche wird als einer der Gründungsmythen der heute gültigen ideellen Wertordnung in Deutschland zwar oft beschworen, bildet aber in der breiteren Öffentlichkeit kein gerade als populär zu bezeichnendes Thema unserer Geschichte. Von einer Popularität der Aufklärung kann hierzulande seit dem Ausklingen dieser geistesgeschichtlichen europaweiten Bewegung am Beginn des 19. Jahrhunderts ohnehin nur selten die Rede sein. Im Gegenteil, bis in die Mitte des vorigen Säkulums war dieser Begriff in der deutschen Historiographie fast durchweg ausgesprochen negativ konnotiert, stand die Aufklärung doch unter dem Verdikt, eine dem deutschen Geiste eigentlich wesensfremde Erscheinung zu bilden. Sie erschien als ein Produkt der verderblichen westlichen Überfremdung. Um jeden Preis galt es daher, sich von ihr zu befreien. Das ist, wie bekannt, eines der großen Themen in Thomas Manns Roman Zauberberg, der vor dem 1. Weltkrieg spielt, in den zwanziger Jahren aber erst entstand: Der Italiener Luigi Settembrini steht dort als Vertreter der Aufklärung dem Jesuiten Naphta, einem Verkünder des Zurück hinter die Aufklärung, gegenüber. Mit Emphase bekennt Settembrini im Gespräch: »Die Errungenschaften – ich sage mit etymologischer Betonung: die Errungenschaften von Renaissance und Aufklärung [...] heißen Persönlichkeit, Menschenrecht, Freiheit!« Sein Gegner formuliert nicht minder prononciert: »Nicht Befreiung und Entfaltung des Ich sind das Geheimnis und das Gebot der Zeit. Was sie braucht, wonach sie verlangt, was sie schaffen wird, das ist - der Terror.«1 Der Terror, der ist dann auch gekommen, verheerender als Thomas Mann, bekanntlich selbst zeitweilig ein scharfer Kritiker der Aufklärung, zum Zeitpunkt des Entstehens seines Romans hat erahnen können. Heute ist der Geist der sogenannten konservativen Revolution, der aus Naphtas Worten sprach, in Deutschland sicher nicht verschwunden, aber doch eher eine randständige Erscheinung. Das Bekenntnis zur Aufklärung, sowohl verstanden als eine historische Erscheinung des 18. Jahrhunderts als auch im Sinne einer zeitübergreifenden, vom Jahrhundert unabhängigen kritischen 

1

Vorliegender Text ist als öffentlicher Abendvortrag am 30. Januar 2009 in der Aula des Freiherr-vomStein-Hauses in Münster gehalten worden. Der Vortragscharakter ist beibehalten worden. Die einzigen Änderungen sind stilistischer Natur. Die Fußnoten sind hinzugefügt worden. Thomas Mann: Der Zauberberg. In: ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Bd. 3. Frankfurt a. M. 1974, 6. Kapitel, Abschnitt »Vom Gottesstaat und von übler Erlösung«.

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Detlef Döring

Einstellung gegenüber allem Gegebenen, gehört zum guten Ton von heutigen Grundsatzreden. Niemand mehr gerät dadurch in den Ruf, ein Vertreter national wesensfremder Mächte zu sein. Niemand könnte heute hierzulande reüssieren, indem er sich zum Gegner der Aufklärung und ihrer Werte deklariert. Das bedeutet freilich noch nicht, dass Einigkeit über die konkreten Inhalte bestünde, die die Aufklärung charakterisieren. Es existieren in der Diskussion vielmehr die Entwürfe von mancherlei Aufklärungen, einschließlich der so oder so definierten vermeintlich ›wahren‹ und ›falschen‹ Aufklärung. Diese Diskussion soll uns hier und heute jedoch nicht beschäftigen. Uns geht es vielmehr um die Aufklärung als eine konkret verortbare historische Epoche, die zwischen ca. 1670 und Anfang des 19. Jahrhunderts anzusiedeln ist. Man kann und darf konstatieren, dass deren Erforschung in den letzten Jahrzehnten in Deutschland in verschiedenerlei Hinsicht einen erfreulichen Fortschritt genommen hat; ich muss das in unserem Kreis wohl nicht im einzelnen belegen und erläutern. Diese Anstrengungen sind jedoch eine fast rein innerakademische Angelegenheit geblieben oder, noch präziser gefasst, es ist das Thema eines durchaus überschaubaren bestimmten Kreises an Frühneuzeitforschern. Ein guter Indikator für diejenigen historischen Themen, die gegenwärtig mit einem breiteren öffentlichen Interesse rechnen dürfen, oder denen das zumindest zugetraut wird, sind die in den letzten Jahrzehnten aufgekommenen und starke Beachtung findenden Landesausstellungen. Noch stärker als bei ›normalen‹ Ausstellungen geht es bei ihnen darum, möglichst hohe Besucherzahlen zu erzielen, schon um die relativ hohen Kosten solcher Unternehmungen zu rechtfertigen. Deren Erfolg wird daher zuerst und vor allem an der Statistik gemessen. Dementsprechend ist die Suche nach einem Thema an einer möglichst hohen Publikumswirksamkeit orientiert. Werfen wir einen Blick auf Mitteldeutschland als dem Kernland der Aufklärung. In Sachsen gab es bisher zwei Landesausstellungen: zur katholischen Kirche in Sachsen, also im wesentlichen zur Kirche des Mittelalters, und zur Reformation. In Thüringen gedachte man zuletzt der Heiligen Elisabeth, zuvor fanden die Residenzschlösser des Landes und der junge Johann Sebastian Bach Aufmerksamkeit. Die meisten Ausstellungen hat Sachsen-Anhalt ausgerichtet: zu Otto dem Großen, zum mittelalterlichen deutschen Reich, zum Beginn der Gothik (Ausstellung 2009)2, zur Urund Frühgeschichte, zum Schloss Oranienbaum und zur allgemeinen Geschichte des Landes Sachsen-Anhalt. Eine Ausstellung immerhin widmete sich einem wissenschaftsgeschichtlichen Thema – 500 Jahre Universität Halle-Wittenberg. Für 2011 ist eine Schau über den Naumburger Meister geplant, natürlich in der Stadt Naumburg selbst. Das Mittelalter und (etwas abgesetzt) die feudalen Schlosskulturen sind also die ›Renner‹, auf die die Organisatoren solcher einen ausgesprochen landespolitischen Charakter tragenden Großveranstaltungen setzen. Alle drei Länder glauben, über die Präsentation ihrer mittelalterlichen und feudalen Vergangenheit ein einprägsames, nach außen wirksames historisches Profil gewinnen zu können. Die Aufklärung, die (wie gesagt) auf dem Territorium dieser drei Bundesländer eine Wirksamkeit wie sonst nirgends in Deutschland entfaltet hat, wird bestenfalls, um vorsichtig zu formulieren, am Rande zitiert. Das hat seine Gründe. In seiner bekannten Rede über die Aufklärungsphilosophien, die Werner Schneiders vor gut zwanzig Jahren in Wolfenbüttel gehalten hat, wird die Aufklärung 2

Die Ausstellung ist inzwischen unter größter Beachtung der Öffentlichkeit eröffnet worden.

Gottsched und die deutsche Aufklärung

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schlicht und einfach als ein »trostloses Geschäft« bezeichnet. Trostlos ist sie nach Schneiders Erklärung u.a. deswegen, weil sie langweilig ist. An die Stelle des prallen Lebens tritt die Berufung auf recht abstrakte und daher kaum Begeisterung stiftende Prinzipien – die Vernunft, die Wahrheit, die Freiheit. Damit einher geht ein destruktives Wirken: Aufklärung wirke stärker in der Kritik bzw. in der Negation als im Gegenentwurf. Sie zerstöre Traditionen, schaffe aber nicht unbedingt neue.3 Ich glaube, diese Beobachtungen sind nicht ganz von der Hand zu weisen. Sie betreffen jedoch das Geschäft der Aufklärung als solcher, unabhängig von der historischen Zeitspanne, in der sie ihre Wirkung entfaltet. Es gibt jedoch auch Ursachen für die mangelnde Attraktivität unseres Themas, die innerhalb der Aufklärung als konkreter historischer Epoche zu suchen sind. Die Jahrzehnte, die wir gewöhnlich als das Zeitalter der Aufklärung benennen, bieten sich dem Auge des sozusagen durchschnittlichen Geschichtsinteressenten eher als eine dröge erscheinende Landschaft dar – immer bezogen auf die mitteldeutschen Verhältnisse. Es ist, sieht man vom Siebenjährigen Krieg ab, eine im wesentlichen friedliche, darum aber auch ereignisarme Epoche. Die gesellschaftlichen Strukturen, die sozialen Verhältnisse erfahren kaum Veränderungen, zumindest keine sofort auffälligen. Die allenthalben greifbaren Fortschritte der Wissenschaften und der Technik bereiten wohl die dramatischen Entwicklungen der späteren industriellen Revolution vor, aber das wird im Alltag des 18. Jahrhunderts bestenfalls ansatzweise erkennbar; d. h., um es mit einem Beispiel auf den Punkt zu bringen, Pferd und Kutsche sind 1700 wie 1800 nach wie vor die einzigen verfügbaren Fortbewegungsmittel zu Lande. Schauen wir auf die Philosophie, denn schließlich gilt das 18. Jahrhundert im europäischen Maßstab als das Jahrhundert der Philosophen, so tritt uns zuerst der Professor Christan Wolff mit schier unendlich vielen dicken deutschen und lateinischen Folianten zur Weltweisheit und zu manch anderen uns ledern anmutenden Themen entgegen. Sie lassen heute eher Gefühle der Beklemmung als der Begeisterung aufsteigen, übrigens auch im Blick auf die blauen Bände der gigantischen, ganze Wände bedeckenden und immer noch weiter voranschreitenden Wolff-Edition des Olms-Verlages. Auch so manch anderer Philosoph jener Zeit ist in Deutschland sicherlich schriftstellerisch sehr aktiv gewesen, aber mit einem Fontenelle, einem Diderot, einem Pope, einem Shaftesbury, um nur diese wenigen großen Köpfe des Auslandes zu erwähnen, ist wohl keiner von ihnen vergleichbar. Sie sind vergessen, nur dieser und jener Spezialist bewahrt vielleicht noch ihre Namen im Gedächtnis. Zumeist waren es Schulleute, d.h. Universitätsprofessoren und Gymnasiallehrer, die ohnehin die wichtigsten Träger der Aufklärung in Deutschland abgaben – und wann wohl sind für das allgemeine Interesse Schulen und ihre Lehrer je ein spannendes Thema gewesen? Was aus jener Zeit heute noch durchaus lebendig ist, das sind die Werke der bildenden Künste und der Musik, aber das sind Phänomene, die nur bedingt in eine engere Beziehung zur Aufklärung gesetzt werden können, ja vielleicht sind sie ihr gegenüber überhaupt eher fremd geblieben. Die heute noch gelesene oder wenigstens registrierte sogenannte schöngeistige Literatur setzt, von einigen Autoren des 17. Jahrhunderts abgesehen (vor allem Grimmelshausen), eigentlich erst mit Lessing ein. Klopstock, der seit altersher als erster Moderner genannt wird, dürfte bei rechtem Licht betrachtet heute doch kaum noch einen Leser außerhalb der germanis3

Werner Schneiders: Hoffnung auf Vernunft. Aufklärungsphilosophie in Deutschland. Hamburg 1990, S. 173.

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Detlef Döring

tischen Seminare finden. Lessing wiederum ist sicher ein Autor der Aufklärung, aber er wird in seiner Bedeutung mit dieser Etikettierung doch nicht hinreichend erfasst. Sonst wirkt die vor 1750/60 entstandene deutsche Literatur heute als farblos, ja als geradezu ungenießbar. So langweilig wie die Literatur uns erscheint, so langweilig erscheinen uns deren Verfasser bzw. deren Biographie. Das sind wiederum Universitätsprofessoren und Gymnasiallehrer, dazu Pfarrer, Hofangestellte, vereinzelt Ärzte, Juristen, Beamte und Zeitungsmacher – was gäbe es wohl für banalere Personenkreise auf der weiten Welt? Ein Mann wie der geniale und zugleich bizarre Johann Christian Günther wirkt, als sei er aus einer anderen Zeit gefallen, und so ist er denn auch an den ihn umgebenden Verhältnissen jämmerlich zerbrochen. Dafür steht er heute freilich im Kanon der deutschen Literatur, in seiner Epoche jedoch einsam und allein. Alle anderen Namen jener Zeit sind einem halbwegs breiterem Publikum, und darunter verstehe ich immer noch einen eher kleinen Leserkreis, nicht mehr irgendwie geläufig. Es gibt jedoch eine gewisse, uns hier an diesem Ort über mehrere Tage intensiv beschäftigende Ausnahme. Das ist Johann Christoph Gottsched – der ist noch heute in einem jeden brauchbaren Konversationslexikon zu finden. Nicht, dass es sich bei ihm nun um eine irgendwie volkstümliche Gestalt handeln würde. Auch bei denen, die etwas über Gottsched wissen oder zumindest zu wissen vermeinen, wird bei Erwähnung des eher berüchtigten ›Literaturpapstes‹ ein nur gar laues Interesse erregen Egon Friedell hat ihn in seiner außerordentlich verbreiteten, eben wieder in einer Massenauflage herausgegebenen Kulturgeschichte der Neuzeit in ausgesprochen scharfen Strichen als einen »selbstgefälligen, bornierten und intriganten Kunsttyrannen« gekennzeichnet; seine Lehren wären »platt und eng wie nur möglich« gewesen.4 Vor unserem inneren Auge erhebt sich beim Lesen dieser Zeilen ein wuchtiger Mann mit großer Perücke, den Zeigefinger penetrant in dozierender Pose ausgestreckt. Die Vernunft ist ihm alleiniger Maßstab der Dinge. Was ihm nicht als vernünftig erscheint, das ist auch nicht wirklich, um mit einem abgewandelten Hegel-Spruch zu reden. Ich weiß nicht, ob im heutigen Unterricht an deutschen Schulen noch irgendwann der Name Gottscheds fällt. Die Generation, der ich angehöre, aufgewachsen in der DDR, wird sich in Rückbesinnung auf die Schulzeit bestenfalls daran erinnern, dass der Mann irgendwelche Verdienste um die deutsche Sprache besitzt, insbesondere aber mit dem Theater zu tun hatte; die Neuberin und die Vertreibung des Harlekins von der Bühne tauchen im Nebel der Erinnerung auf. Ansonsten wird auch der halbwegs kundige Literaturfreund nur wenig zu dieser Figur zu sagen wissen. Gottscheds Biographie, um auch diese zu erwähnen, ist von recht eintönigem Charakter. Die wilde Flucht vor den ostpreußischen Soldatenwerbern, die Hochzeit mit der hochintelligenten Luise Adelgunde Victorie Kulmus in Danzig und die spätere vielbeachtete Reise des Ehepaars an den kaiserlichen Wiener Hof bilden noch die, freilich auch nur bedingt aufregenden, Höhepunkte dieses Lebens. Ansonsten blicken wir auf die eher blasse Durchschnittsexistenz einer der vielen Universitätsprofessoren jener Zeit. Sicher, es gibt noch seinen großen, damals viel beachteten, die literarische Welt intensiv beschäftigenden Streit mit den Schweizern, genauer gesagt mit den Zürichern, aber wer versteht heute letztendlich, worum es damals eigentlich ging, und wen

4

Egon Fridell: Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der europäischen Seele von der schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg. Bd. 1. München 1987 (Erstausgabe München 1928), S. 593.

Gottsched und die deutsche Aufklärung

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interessiert das noch?5 Als Charakter schließlich ist unser Held auch keine unbedingt erfreuliche Erscheinung, selbst unter Beiseitestellung aller dem Historiker nicht zustehenden moralisierenden Urteile. Wirklich, man mag sich nicht unbedingt mit ihm identifizieren. Sein Hang zur Selbstüberschätzung, seine Selbstgefälligkeit, sein diktatorisches Auftreten sind hinreichend bekannt. So erscheint Gottsched alles in allem als durchaus geeigneter Repräsentant der Epoche der Aufklärung in ihrer scheinbaren Ereignislosigkeit, in ihrem provozierenden Anspruch, Vergangenheit und Gegenwart nach den ganz eigenen vom Bewusstsein der eigenen Überlegenheit geprägten Maßstäben zu richten, in ihrer Orientierung an einer trockenen Vernunft, in der Sterilität und Langeweile ihrer literarischen Erzeugnisse. In der Tat erfordert es schon einige besondere Anstrengungen, im heutigen Publikum für das Zeitalter der Aufklärung überhaupt ein irgendwie lebendigeres Interesse zu erwecken, jedenfalls im Vergleich mit anderen scheinbar farbigeren Epochen. Dass Ritter, Prinzen, Schlösser, Kathedralen und Mönche in der heutigen säkularisierten Welt oder wahrscheinlich gerade in ihr mehr Aufmerksamkeit finden, hat also durchaus seine nachvollziehbaren Ursachen, und es ist wohl zwecklos, darüber zu klagen. Ich glaube dennoch nicht, dass die Aufklärung tatsächlich so langweilig war bzw. ist, wie meine bisherigen bewusst zugespitzten Betrachtungen suggerieren und wie das Werner Schneiders in seiner wahrscheinlich ähnlich überpointierten oben zitierten These, die freilich die Aufklärung als zeitloses Unternehmen versteht, formuliert hat. Ich komme jetzt, um einen neuen Ansatz zu suchen, wieder auf das eingangs berührte Thema Ausstellungen zurück. Ich selbst bin maßgeblich an der diesjährigen Jubiläumsausstellung anlässlich des 600. Jubiläums der Gründung der Universität Leipzig beteiligt.6 Diese Exposition widmet sich ganz zentral dem Zeitalter der Aufklärung. Es ist nicht immer einfach, muss ich bekennen, den Sinn der Themenwahl nach außen zu vermitteln. Unsere Ausstellung tritt unter dem Motto »Erleuchtung der Welt« an und versteht darunter, wie der Untertitel verrät, den »Beginn der modernen Wissenschaften«. Dieser Beginn hat die Aufklärung als entscheidende Rahmenbedingung zur Voraussetzung. Das ist vielleicht die Hauptthese, die wir in Leipzig vertreten. Die heutige Gesellschaft lebt, wie man allenthalben hören und lesen kann, in einer jegliche Lebensbereiche durch und durch prägenden Wissensgesellschaft. Das garantiert jedoch anscheinend noch kein sozusagen automatisches Interesse der Allgemeinheit an der Beschäftigung mit den historischen Anfängen dieser so folgewirksamen Entwicklung. Die Wissenschaft als Ganzes ist in ihrer außerordentlichen Bandbreite für den einzelnen begreiflicherweise überhaupt nicht mehr überschaubar. Die jeweilige Materie, mit der man es im Konkreten zu tun bekommt, bedeutet für den Laien oft eine harte und schwierige Kost. Wissenschaftsgeschichte bildet so, von spektakulären Ausnahmen abgesehen, ich nenne Galileo Galilei, keineswegs einen populären Gegenstand. An diesem Punkt der Überlegungen aber ist es nun die Person Gottscheds, deren Wirken sich in einem hervorragenden Maße dafür zu eignen scheint, den Zugang zum Verständnis der Voraussetzungen und der Entwicklungen zu eröffnen, die die Heraufkunft der Wissensgesell5

6

Vgl. Detlef Döring: Der Literaturstreit zwischen Leipzig und Zürich. In: Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Hg. von Anett Lütteken und Barbara Mahlmann-Bauer . Göttingen 2009, S. 50-94. Vgl. Erleuchtung der Welt. Sachsen und der Beginn der modernen Wissenschaften. Hg. von Detlef Döring und Cecilie Hollberg. Dresden 2009.

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Detlef Döring

schaft der heutigen Zeit ermöglichten. Es geht im folgenden also nicht um Gottscheds eigenen Beitrag zur Herausbildung einzelner Wissenschaften. Den hat es durchaus gegeben; man denke nur an seinen immer noch nur ungenügend beachteten Anteil an der Entstehung der Literaturgeschichte als eigene Disziplin. Gottsched soll an dieser Stelle vielmehr für zwei zentrale übergreifende Tendenzen der Aufklärung stehen, die in ihrem Wirken überhaupt erst zentrale Voraussetzungen für das Aufkommen der modernen Wissenschaft boten. Es geht einmal darum, dass an die Stelle der bisherigen elitär orientierten Gelehrsamkeit sozusagen die uns vertraute neuzeitliche Wissenschaft tritt, also eine allgegenwärtige Macht, die im wachsenden Maße das Leben der Gesellschaft und eines jeden einzelnen ihrer Mitglieder durchdringt und beherrscht. Dabei handelt es sich bei den neuen Wissenschaften nicht um eine sozusagen populäre Ausmünzung der alten Gelehrsamkeit, sondern sie widmen sich ganz anderen Themenbereichen, die es bislang nicht oder nur in Anfängen gegeben hat. Zum anderen soll uns die Entkopplung der Verbindung von Glaube und Vernunft beschäftigen. Dieser Schritt ist schlichtweg konstitutiv für das moderne Verständnis von Wissenschaft. Ich werde im folgenden versuchen, diese beiden Phänomene von grundlegender Bedeutung etwas deutlicher zu charakterisieren. Wissenschaft war bis zum 18. Jahrhundert die Angelegenheit einer sehr schmalen Schicht von Gelehrten. Wahrscheinlich waren die seit Erfindung der Druckkunst, also seit dem 15. Jahrhundert, außerordentlich gefragten astronomischen Kalender das einzige Medium, über das wenigstens rudimentäres, in der Regel naturwissenschaftliches Wissen in breiteren Bevölkerungskreisen Eingang zu finden vermochte. In der Zeit der Aufklärung wird Wissenschaft erstmals zu einer populären Angelegenheit. Eine zentrale Voraussetzung dafür bildete der sich in jener Zeit vollziehende Wechsel von der altehrwürdigen Gelehrtensprache Latein zur Landessprache Deutsch. Die eben erwähnte heutige Wissensgesellschaft wäre mit dem lateinischen Idiom als Mittel der Verständigung sicher nicht denkbar. Die einzelnen Wissenschaften haben ihre jeweils eigenen Vertreter, die hier u.a. durch Schaffung geeigneter Terminologien bahnbrechend in Erscheinung traten. Jedem historisch Gebildeten ist im übrigen bekannt, welche gewichtigen Rollen Christian Thomasius und Christian Wolff bei diesem Sprachwechsel gespielt haben. Gleichwohl ist es doch Gottsched, dem in unserem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zukommt. Er zählt zu den ersten Gelehrten, die fast durchweg auf Deutsch publizierten, auch wenn er an der traditionellen Definition, Ausweis der Gelehrsamkeit sei die Beherrschung der lateinischen Sprache, zeitlebens festgehalten hat. In immer neuen Anläufen geht es ihm um die Vereinheitlichung der deutschen Sprache, um die Erfassung von deren Wortschatz. Seine mehrfach aufgelegten Werke zur deutschen Sprache, ich erwähne nur die Dichtkunst, die Redekunst, die Sprachkunst, waren in ihrer Zeit von einfach grundlegender Bedeutung. Seine ebenfalls weit verbreiteten zweibändigen Erste Gründe der gesammten Weltweisheit vermittelten erstmals in breitem Umfange philosophische, insbesondere aber auch naturwissenschaftliche Kenntnisse. Die Zeitgenossen haben dieses Bemühen auch anerkannt. Gottscheds jahrzehntelanger Briefpartner Jakob Brucker in Süddeutschland schreibt: »Sonst bin ich vollkommen Ew. Hochedelgeb. Meinung, dass in unserer deutschen Sprache philosophieren eben so löblich und nüzlich seye, als Socrati in der Griechischen u. Cicero in der Lateinischen rühmlich gewesen.«7 7

Jakob Brucker an Gottsched, 1. 1. 1744 (Universitätsbibliothek Leipzig, Ms 0342 IX, Bl. 1–4).

Gottsched und die deutsche Aufklärung

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Bücher müssen nicht nur deutsch geschrieben werden, sie müssen auch in jedermanns Hand gelangen: [Ein] Verlag kann nicht eher in Flor kommen, als bis es viele Käufer von Büchern giebt. Diese kann man nicht hoffen, als bis es viele Leser giebt. Viel Leser aber kann es nicht geben, so lange man lauter lateinische, oder schlecht deutsch geschriebene Bücher hat [...].8

Notwendig seien Schriften, durch die man »den Edelmann, den Kaufmann, den Bürger, den Pachter, und sonderlich das artige Frauenzimmer« zum Lesen anregt.9 Überhaupt ist für Gottsched die Buchdruckerkunst die größte aller je gelungenen Erfindungen. Vor ihrem Aufkommen beherrschte die »gröbste Unwissenheit« die »Gemüter fast aller Sterblichen«. Mit dem Buchdruck ändert sich das alles und zwar grundlegend. Das ist Gottscheds Botschaft in seiner berühmten Rede zum 300. Jubiläum der Erfindung des Buchdruckes. Diese Kunst leistet aber noch mehr als die Ausrottung des Aberglaubens. Vielmehr wird durch die Verbreitung der Künste und der Wissenschaften mittels des Buchdrucks die allgemeine Glückseligkeit als höchstes Ziel des Strebens jeglicher menschlichen Gemeinschaft der endlichen Realisierung nahegebracht. Der Buchdruck garantiert für Gottsched so nichts weniger als die Verbreitung der im Mittelpunkt seiner Philosophie stehenden Glückseligkeit.10 Um eine solche Erfindung zu feiern, ist ihm der größte der Universität zur Verfügung stehende Raum gerade groß genug – die Universitätskirche. Die Leipziger Theologen sehen das anders. Der einflussreiche Professor und Superintendent Salomon Deyling erklärt, die Kanzel der Paulinerkirche könne für eine solche Feier nicht zur Verfügung stehen.11 Gottsched möge seine Rede im Hörsaal der Philosophen halten; dieser Platz sei für den benannten Anlass gut genug. Deyling mag gespürt haben, welche Richtung Gottscheds Gedanken in jener Ansprache nehmen könnten. Deren historischer Rückblick soll dem Hörer zeigen, dass das Christentum vor Erfindung des Buchdruckes fast ganz in Unwissenheit und Aberglaube versunken war. Auch die Religion, wir kommen noch darauf zurück, ist also in ihrer Gestalt, in ihrem Wirken weithin abhängig von der kulturellen Entwicklung ihrer Umwelt. Die Juristen der Universität haben noch ihren eigenen, für ihre Denkweise wohl charakteristischen Einwand gegen Gottscheds Anliegen: Es ginge schlechterdings nicht an, an einem Platz über eine in ihrer Dignität so nachgeordneten Angelegenheit wie die Buchdruckerkunst zu sprechen, wo ansonsten Reden auf »große Herren« gehalten würden. So wird denn der Antrag abgewiesen. Also spricht Gottsched gezwungenermaßen, aber unter ungeheurem Massenzulauf, im Hörsaal der Philosophen. Sein Freund Johann Friedrich May berichtet an einen Auswärtigen:

8

9 10

11

Gottsched an Georg Andreas Will, 15. Mai 1757. Vgl. Neues aus der Zopfzeit. Gottscheds Briefwechsel mit dem Nürnberger Naturforscher Martin Frobenius Ledermüller und dessen seltsame Lebensschicksale. Hg. von Emil Reicke. Leipzig 1923, S.159. Ebd. Johann Christoph Gottsched: Lob- und Gedächnißrede, auf die Erfindung der Buchdruckerkunst. In: ders.: Ausgewählte Werke. Bd. IX/1. Gesammelte Reden. Bearbeitet von Rosemary Scholl. Berlin, New York 1976, S. 115–155. Universitätsarchiv Leipzig, Rep. II/V, 38: Acta die von Johann Christoph Gottscheden Prof. Publ. gesuchte Danck- und Gedächtniß-Rede der vor 300 Jahren erfundenen Buchdrucker-Kunst betr. (1740).

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Detlef Döring Vergangene Woche ließ sich am Montage der Herr Prof. Gottsched mit einer Jubelrede auf die BuchdruckerKunst hören und er hat damit großen Beyfall erhalten; es wäre nur zuwünschen gewesen, daß sie dürfen in der Universitäts Kirche gehalten werden, indem solche alsdenn von mehrern Leuten hätte können gehört werden, zumahl da sie in deutscher Sprache abgefaßt war. Der Neid mag das gröste Hinderniß dabey gewesen seyn.12

Gottsched geht es nicht allein um die Popularisierung von Wissen; er vertritt auch das Programm einer entschiedenen Ausweitung des Bereichs der Wissenschaft. Um was es ihm geht, das ist die Verbreitung der »philosophischen und schönen Wissenschaften« – diese setzt er in einen gewissen Kontrast zum bisherigen Wissenschaftsbetrieb, der aber habe in der Traktierung der »bloß ernsthaften Gelehrsamkeit« bestanden.13 Deren Existenzrecht wird von Gottsched gewiss nicht bestritten, aber die schönen Wissenschaften ergänzen und erweitern die »ernsten Wissenschaften« doch wesentlich. Sie erfassten jetzt zusammen mit den gleichfalls vordringenden Naturwissenschaften in wachsender Breite die Hochschulen: Heute gehe es an der Universität »mehr auf die Erkenntniß der Natur, Mathematik, Geschichte und Alterthümer, als auf eine tiefe scholastische Theologie, voller Spinneweben, und große Tractatus Tractatuum spanischer Juristen, die das klare Recht mehr verfinstern als erklären.«14 Außer Geschichte und Altertümer sind es bildende Kunst, Musik, Theater, Literatur und Sprache, die Gottsched nach dem Gebrauch der Zeit als schöne Wissenschaften versteht. Ich gehe zuerst kurz auf die eben erwähnten Naturwissenschaften ein. Gewiss, diese waren an der Universität schon seit Jahrhunderten präsent, jetzt aber beginnen sie entschieden an Gewicht zu gewinnen. Vor allem aber finden sie ungemeine Ausbreitung auch außerhalb der Hochschulen. Für die Popularisierung der Naturwissenschaften hat Gottsched mehr geleistet, als das bisher in der Literatur gewürdigt worden ist. Naturwissenschaftliche Themen finden oft Raum in seinen Zeitschriften, in den Ersten Gründen der gesammten Weltweisheit erfahren die Naturwissenschaften breite Berücksichtigung, mehrere Übersetzungen naturwissenschaftlicher Werke werden von Gottsched besorgt, an Experimenten, vor allem zur Elektrizität, und an astronomischen Beobachtungen nimmt er aktiven Anteil, in einem erheblichen Umfang vertreibt er schon fast kommerziell astronomische Fernrohre und Modelle des heliozentrischen Weltbildes; ja er hält ganze naturwissenschaftliche Vorlesungen, so vor einem Kreis hochadliger Personen: Ich legte die wahre Beschaffenheit des Weltgebäudes, nach der copernicanischen Ordnung zum Grunde […]. fuhr fort ihnen die Theorie der Cometen [...] zu erklären, und kam endlich auf den Durchgang des Mercurs und der Venus durch die Sonne: so daß allerseits hohe Anwesende sich einen deutlichen Begriff davon machen konnten, und viel Vergnügen bezeugten.15

Dass die Naturwissenschaften stetig voranschreiten und immer wieder neue Entdeckungen und Erkenntnisse erzielen, ist sicher nicht zuerst von Gottsched proklamiert worden, aber der Nachdruck mit dem er diese Auffassung vertritt, lässt ihn doch als einen entschiedenen Expo12 13 14 15

Johann Friedrich May an einen Unbekannten, 3. 7. 1740 (Universitätsbibliothek Tartu, Ms CCCLIVa, Ep. phi. I, Bl. 246f.). Gottsched an Martin Frobenius Ledermüller, 26. 4. 1761, Vgl. Neues aus der Zopfzeit (s. Anm. 8), S. 92. Gottsched an Friedrich Heinrich von Seckendorf, 27.3.1753 (Staatsarchiv Altenburg, SeckendorfArchiv, Nr. 1113). Gottsched an Ledermüller, 26. 4. 1761. In: Neues aus der Zopfzeit (s. Anm. 8), S. 93.

Gottsched und die deutsche Aufklärung

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nenten des Aufbruchs der exakten Wissenschaften und der Technik erscheinen, der nicht zuletzt von der Aufklärung bis in unsere Zeit wirkt: Wahrheiten, die schon von andern erkannt und ausgeführet worden, zu wissen, das ist eben so was Großes nicht [...]. Aber der erste zu sein, der einen vorhin nie betretenen Pfad bahnet und allen seinen Nachfolgern glücklich die Bahne bricht, das, das ist billig weit höher zu schätzen und eines ewigen Andenkens wert!16

In seinem bekannten, für die Zeit bemerkenswert abwägenden Nachruf auf Gottsched meint Abraham Gotthelf Kästner: »Gottsched machte Deutschland von neuen auf die schönen Wissenschaften [...] aufmerksam. Er bereitete es vor, die schönen Geister zu verehren, die seinen Namen verdunkelt haben.«17 Die schönen Wissenschaften bilden, wie bereits angedeutet, ein Ineinander von Philologie, Literatur, Literaturgeschichte, Historie, Kunstgeschichte und Antiquitätenforschung, also von Wissensgebieten, die nicht an den höheren Fakultäten gelehrt wurden, sondern an der philosophischen und auch dort teilweise nur in Ansätzen. Im Laufe des 18. Jahrhunderts gewinnen sie stetig an Beachtung und Bedeutung. Es sind nicht nur Fächer, die ob ihres ohnehin nicht sofort erschließbaren Nutzens betrieben werden. Sie besitzen noch einen anderen Wert. Wer sich mit ihnen beschäftigt, der bildet seine eigene Persönlichkeit; diese Wissenschaften besitzen ethische und ästhetische Dimensionen.18 Noch in Schillers berühmter Jenaer Antrittsrede Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? von 1789 wird in der ganz negativ prononcierten Abgrenzung zwischen dem »Brodgelehrten« und dem »philosophischen Kopf« diese Vorstellungswelt greifbar: Zur Ausbildung zum Menschen gehöre die Beschäftigung mit der Geschichte – sie habe allen »etwas Wichtiges zu sagen«19 und sei daher Sache des »philosophischen Kopfes« und nicht des »Brodgelehrten«, der nur seinen »sinnlichen Zustand« verbessern möchte. Zur Verbreitung und zur Weiterentwicklung der schönen und nützlichen Wissenschaften bedient sich Gottsched nicht nur des Buchdrucks und der Universitäten. Seit Jahrhunderten wirkt neben den letzteren noch eine andere Organisationsform. Es sind nach einem heute eher altertümlich anmutenden Begriff die Sozietäten. Nach heutiger Terminologie sind das Einrichtungen von der Max-Planck-Gesellschaft oder der vor kurzem kreierten, als Gesellschaft jedoch schon seit Jahrhunderten bestehenden Nationalakademie ›Leopoldina‹ bis hin zum Heimatforscherverein, dessen Bedeutung der Redner, der selbst Mitglied eines solchen Vereines ist, damit nicht herabsetzen möchte. Sie alle haben eine Überfülle von Beiträgen zur wissenschaftlichen Entwicklung geleistet, seien sie nun von zentraler Natur oder in der Bedeutung nachgeordnet. Wichtig ist, dass wissenschaftliches Forschen so auf eine früher nie gekannte breite Grundlage 16 17

18

19

Johann Christoph Gottsched: Gedächtnißrede auf den unsterblich verdienten Domherrn in Frauenberg Nicolaus Copernicus. In: ders.: Ausgewählte Werke, Bd. IX/1 (s. Anm. 10), S. 87–114 und S. 285f. Abraham Gotthelf Kästner: Betrachtungen über Gottscheds Charakter in der königl. Deutschen Gesellschaft zu Göttingen, den 12ten Sept. 1767 vorgelesen. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 6 (1768), S. 208–218, Zitat S. 216. Die schönen Wissenschaften erstrecken »ihre Herrschaft über alle Kräfte unserer Seele, deren Wirkungen sie verbessern, das sich über alle unsere Handlungen ausbreitet. Ein Liebhaber der schönen Wissenschaften, empfindet die heitersten Aussichten des menschlichen Lebens in ihrem vollkommensten Schmuck [...]«. Vgl. Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 1 (1757), S. 1. Friedrich Schiller: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? In: ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert. Bd. 4. München 1958, S. 749–767, hier S. 750.

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gestellt wurde. Ohne diese Entwicklung wäre der rasante Aufstieg der Wissenschaften und ihre enorme Verbreitung schlechterdings nicht denkbar gewesen. Trotz aller nicht zu bestreitenden Wertschätzung der vorausgegangenen sozietären Bildungen der Renaissance und des Barock, ich nenne hier nur die Fruchtbringende Gesellschaft, ist der so folgenreiche Aufstieg der wissenschaftlichen Gesellschaften auf das engste mit der Aufklärung verbunden. Gottscheds Name ist hier ganz vorn zu nennen. Dass Zeitgenossen selbst noch des späten Gottscheds von dessen Bedeutung für die Verbreitung des Sozietätswesens wussten, zeigt ein Schreiben des Bernburger Archivars und Bibliothekars Ludwig Anton Rust, selbst Mitglied verschiedenster Gesellschaften, der 1764 Gottsched gegenüber meint: Ist es andem, daß in Dresden durch höchstrühmliche Fürsorge Ihrer Königl. Hoheit, des Herrn Administrators und Vormundes, eine Gesellschaft der Wissenschaften angeleget werden soll; so wünsche ich Sachsen Glück dazu. Möchten doch Eure Hochedelgeb. Magnificenz beÿ Einrichtung derselben, und besonders der Deutschen Klasse, mit zu Rathe gezogen werden! Es ist nicht zu zweifeln, daß die Deutsche Gelehrsamkeit dadurch ein großes gewinnen würde. Wir könnten vielmehr zuversichtlich hoffen, daß auf solche Art, wie es sich gebühret, in Deutschland eine wirkliche Deutsche Akademie werde angeleget werden, wovon man nicht befürchten dürfte, daß, wie es mit einer andern bekannten leider! geschehen ist, mit der Zeit eine Französische daraus entstehen würde.20

Gemeint ist damit natürlich die Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, die von Friedrich II. ganz in ein französisches Gewand gekleidet worden war. Erst durch Gottscheds Wirken dringt mit ganzer Kraft eine Zeitströmung in die Leipziger Kollegien ein, die die Entwicklung der Wissenschaften im wachsenden Maße zu bestimmen begann – eben die Aufklärungsbewegung. Indem die Gesellschaften sich mit dieser Macht verbinden, gewinnen sie eine Bedeutung, die sie weit über das bisherige Niveau der mehr auf studentische Übungen und dilettierenden Beschäftigungen ausgerichteten Kollegien früherer Zeiten hinweghob. Ich kann und will hier nur die bekannteste aller von Gottsched geförderten Sozietäten erwähnen. Die von ihm zwar nicht gegründete, aber doch auf neue Grundlagen gestellte ›Deutsche Gesellschaft‹ in Leipzig war das Vorbild für mehr als zwanzig ähnliche Sozietäten, die sich im gesamten deutschen Sprachraum der Beschäftigung mit der deutschen Sprache und Literatur verschrieben hatten. Wenn auch die ›Deutsche Gesellschaft‹ in Leipzig nicht alle ihre Ziele umsetzen konnte, vor allem nicht den Rang einer sozusagen nationalen Akademie zu erlangen vermochte, so steht sie doch am Beginn der neuzeitlichen Literaturwissenschaft in Deutschland. Sie ist aber dort gewissermaßen nicht stehengeblieben. Die von Gottsched in seinen späteren Lebensjahren gegründete ›Gesellschaft der freyen Künste‹, die in der Forschung bisher leider nur wenig Aufmerksamkeit findet, setzt das Wirken der ›Deutschen Gesellschaft‹ fort, aber mit veränderten Intentionen. Ist es der ›Deutschen Gesellschaft‹ in erster Linie um die Pflege, die Inventarisierung, die Vereinheitlichung, die Verbesserung der deutschen Sprache gegangen, so geht die Gesellschaft der freien Künste einen Schritt weiter: Nachdem nun die Sprache in jahrzehntelanger Arbeit »gebessert« worden sei, kann das Ziel in Angriff genommen werden, die freien Künste, die schönen Wissenschaften auf einen ganz anderen Stand zu bringen: Literatur, Architektur, Musik, Malerei, Altertumskunde, Geschichte.21 Es sind also die in 20 21

Universitätsbibliothek Tartu, UB, Ms CCCLIVb, Ep. erud. cel., Bl. 296–301. Vgl. Zwo Reden, womit der hohe Friedrichstag den 5. März 1753 in vornehmer und zahlreicher Versammlung unterthänigst verehret worden. Leipzig 1753, S. 18.

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ihrer Bedeutung bereits herausgestrichenen schönen Wissenschaften, deren Förderung sich die Gesellschaft verschrieb. Aufgrund des bald darauf ausbrechenden Siebenjährigen Krieges hat sie nicht die angestrebte Wirkung entfalten können. Eine gewisse Fortsetzung hat ihr Bemühen allerdings in der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und freien Künste gefunden, die über Jahrzehnte hinweg in Leipzig herausgegeben wurde und zwar in ihrer inhaltlichen Orientierung offenkundig im Anschluss an Gottscheds 1745 bis 1750 erschienener Zeitschrift Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und der freyen Künste.22 Was dem Leser der Bibliothek vermittelt werden sollte, das waren fundierte Kenntnisse der Entwicklung der ›schönen Künste‹ bei den wichtigsten europäischen Nationen. Aber auch dabei gilt die gleiche Intention, wie sie bei der Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse, bei Gottscheds Gesellschaft der freien Künste, bei seinen Zeitschriften zum Wirken kommt: Nicht der Fachgelehrte steht zuerst im Mittelpunkt des Interesses, sondern der ›Liebhaber‹. Ich schlage von diesem Punkt aus eine Verbindung zu unserer Gegenwart. Es ist weder an dieser Stelle noch sonst mein Amt oder meine Aufgabe als Kulturkritiker aufzutreten. Aber ich möchte doch darauf hinweisen, dass die gerade in der Aufklärung begründete Gemeinsamkeit der Wissenschaften, zu den unaufgebbar die ›schönen Wissenschaften‹ zählen, heute aufgelöst zu werden droht. Die ›schönen Wissenschaften‹ erscheinen vielen als ein Luxus und damit überflüssig. Man lässt ihnen noch eine Randexistenz, aus Gründen einer diffus empfundenen Tradition, aber wie lange noch? Wenn z.B. die Wissenschaftsministerin des Freistaates Sachsen kürzlich erklärte, Technik und Naturwissenschaften seien die Zukunftsbereiche der Forschung, spricht sie lediglich eine Auffassung aus, die allgemein verbreitet ist.23 Das wäre aber im Ergebnis nichts anderes als der Sieg der oben zitierten Brotgelehrsamkeit und damit ein Schritt hinter die Aufklärung zurück. Ich komme nun auf den schon angedeuteten zweiten, mir im Blick auf die Grundlagen der modernen Wissenschaften als besonders wichtig erscheinenden Punkt zu sprechen. Vielleicht das Hauptthema der Aufklärung bildete die Auseinandersetzung um das Verhältnis zwischen Glaube und Vernunft. Ausgesprochen oder verborgen steht diese Frage fast permanent im Hintergrund der Diskussionen. Diese Frage war jedoch nicht nur in den Zeiten der Aufklärung aktuell, sie ist es vielmehr auch in unserem gegenwärtigen, bekanntlich so durch und durch säkularisierten Zeitalter noch. Sie ist es auch und gerade in Verbindung mit der Diskussion um die Rolle und den Charakter der Universität. Ich könnte Ihnen das mit einem Beispiel aus meiner Heimatstadt Leipzig belegen, wo seit geraumer Zeit ein sehr heftiger, ein grotesker und zum Teil mit unlauteren Mitteln ausgetragener Streit darüber tobt, ob mit einem zur Zeit emporwachsenden Neubau am zentralen Augustusplatz die früher dort befindliche und 1968 auf Befehl der SED-Kommunisten gesprengte Universitätskirche wieder errichtet wird, oder ob dort eine säkulare Aula entsteht. Dahinter verbirgt sich letztendlich das grundsätzliche Problem, ob, wie von vielen behauptet, eine Universität der heutigen Zeit eine geistige, sprich geistliche Mitte bedarf oder nicht. Ich will Sie jedoch nicht mit diesen Vorgängen, die mitunter die Züge einer

22

23

Vgl. Anneliese Klingenberg: Die ›Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste‹ – Programm für eine europäische ›République des lettres‹. In: Sächsische Aufklärung. Hg. von Anneliese Klingenberg, Katharina Middell, Matthias Middell und Ludwig Stockinger. Leipzig 2001, S. 173–196. Leipziger Volkszeitung, Ausgabe vom 22. 1. 2009, S. 4.

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bitteren Provinzposse angenommen haben, eventuell langweilen, sondern eine andere Ebene beschreiten, wobei es trotzdem um das gleiche Thema geht. Im September 2006 hielt Papst Benedikt XVI. an der Universität Regensburg eine programmatische Rede zu dem Thema »Glaube, Vernunft und Universität«.24 Die zentrale Feststellung des Papstes lautete, Gott handele immer gemäß der Vernunft, und so gehörten Religion und Vernunft auf das engste zusammen. Dabei spricht Benedikt XVI. nicht von der Religion schlechthin, sondern dezidiert vom Christentum. Biblischer Glaube und griechisches Denken (und damit die Vernunft) haben sich nach seiner Auffassung in ihm, im Christentum, unlösbar verbunden (Hellenisierung des Christentums). Es handele sich dabei »um die Begegnung zwischen Glauben und Vernunft, rechter Aufklärung und Religion«. Ob es sich beim Islam um eine rechte Religion handelt, wird vom Papst wenigstens indirekt in Frage gestellt, denn hier werde Gott als absolut transzendent betrachtet, er handele jenseits aller Vernünftigkeit. Benedikt räumt dann ein, dass es solche die Synthese von Glauben und Vernunft verlassenden Vorstellungen auch innerhalb des Christentums gegeben hat, aber, urteilt der Papst auf der Ebene vorliegender dogmatischer Lehrentscheidungen, »der kirchliche Glaube« habe immer an der Analogie zwischen dem »ewigen Schöpfergeist« und der menschlichen Vernunft festgehalten. Jene als Ausdruck des Voluntarismus gekennzeichneten gegenläufigen Tendenzen, wird apodiktisch geschlussfolgert, entsprächen also nicht dem Wesen des Christentums und damit nicht dem Wesen der Religion. Mit Nachdruck weist dann der Papst die Behauptung zurück, er wolle mit seiner Feststellung, die Vernunft bedürfe des Glaubens, »hinter die Aufklärung zurückgehen«. Nicht Rücknahme strebe er an, sondern die »Ausweitung unseres Vernunftbegriffs«, die er in einem erneuten Zueinanderfinden von Vernunft und Glaube zu entdecken meint. Es ginge darum, das Göttliche wieder in die »Universalität der Vernunft« einzuführen. Für die Philosophie sei es eine unabweisbare Verpflichtung, auf die religiösen, insbesondere christlichen Traditionen zu hören. Erst dann gewinne die Vernunft die ihr zustehende Weite. Die Rede endet dann mit folgender programmatischen und entsprechend feierlichen Feststellung: »In diesen großen Logos, in diese Weite der Vernunft laden wir beim Dialog der Kulturen unsere Gesprächspartner ein. Sie selber immer wieder zu finden ist die große Aufgabe der Universität.« An diese, also »an die Universität«, gehöre daher die »eigentliche Theologie«. Das ist alles subtil verpackt und mit Referenzen zur Moderne durchsetzt, aber am Ende ist es doch schlicht das Programm, die Wesensidee der Scholastik seit der Zeit des Anselms von Canterbury: Vernunft und Glaube gehören zusammen, aber der Glaube ist das übergeordnete Element, denn er weist der Vernunft den Weg: »Neque enim quaero intelligere ut credam, sed credo ut intelligam.« (Nicht nämlich versuche ich zu verstehen, damit ich glaube, sondern ich glaube, damit ich verstehe). Eine Universität, die sich dieser ›großen Aufgabe‹ widmen würde, und damit der Theologie wieder eine Zentralstellung einräumte, ginge meines Erachtens den Weg zurück zu ihren mittelalterlichen Anfängen und damit auch zurück hinter die Aufklärung. Wenn es, um mit den Worten eines modernen protestantischen Theologen zu sprechen, Sinn und Aufgabe der Theologie sei, »inmitten des Konzerts der Wissenschaften ›Gott zum Klingen zu bringen‹«,25 so bedeutet die Durchführung dieses Programms letztendlich die Beseitigung der weltanschaulichen 24 25

Vgl.http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/speeches/2006/september/documents/hf_ benxvi_spe_20060912_university-regensburg_ge.html Ulrich Kühn: Die Theologie im Konzert der Wissenschaften. Stuttgart, Leipzig 2000, S. 16.

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Bindungslosigkeit der Wissenschaft. Klarer kann der Anspruch auf Dominanz nicht formuliert werden, denn anders als einen Dirigenten haben wir uns wohl Gott in jenem Konzert nicht vorzustellen. Die heutige, jetzt in Frage gestellte Trennung von Wissenschaft und Glaube aber geht in ihren Ursprüngen auf die Zeit der Aufklärung zurück, auch wenn gerade die deutsche Aufklärung noch versucht hat, an einer Übereinstimmung von Glaube und Vernunft festzuhalten, obwohl das Verhältnis zwischen Christentum und neuzeitlicher Wissenschaft von durchaus ambivalenter Natur gewesen ist. Der Papst berührt auch dieses Thema: Es habe, erläutert er in seiner Regensburger Vorlesung, in der Geschichte verschiedene Versuche der »Enthellenisierung des Christentums«, also der Entkoppelung von Glaube und Logos, gegeben. Der uns innerhalb der Aufzählung des Papstes interessierende Versuch ist der der liberalen Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts, der aber wiederum in seinem Ansatz auf die Aufklärung zurückgeht. Benedikt definiert dieses spezifische »Programm der Enthellenisierung« folgendermaßen: Jesus habe den Kult zugunsten der Moral verabschiedet. Er wird im letzten als Vater einer menschenfreundlichen Botschaft dargestellt. Dabei geht es im Grunde darum, das Christentum wieder mit der modernen Vernunft in Einklang zu bringen, eben indem man es von scheinbar philosophischen und theologischen Elementen wie etwa dem Glauben an die Gottheit Christi und die Dreieinheit Gottes befreie.

Damit aber werde die Gottesfrage als unwissenschaftlich ausgeschlossen, was wiederum eine »Verkürzung des Radius von Wissenschaft und Vernunft« bedeute. Damit ist nichts anderes als die Trennung von Glaube und Vernunft gemeint, denn Aufgabe der Letzteren kann es nicht sein, die Beschlüsse der Konzile von Nikaia und Chalkedon als konstituierende Voraussetzungen des eigenen Agierens anzuerkennen. Sicher, ein mit der modernen Vernunft in Einklang gebrachtes Christentum entäußert sich seiner zentralen Aussagen und wird so, hier muss man dem Papst freilich zustimmen, zu einem »armseligen Fragmentstück«. Dass aber die Menschheit gefährdet ist, wenn die Vernunft nicht mehr die Fragen der Religion, worunter die christlichen Theologen selbstredend immer die eigene Religion verstehen, als ihre Aufgabe betrachtet, müsste bewiesen werden; dogmatische Behauptungen haben im Bereich der Wissenschaften keinen Platz. Es bliebe natürlich die Frage, ob Logos und Glaube tatsächlich in der behaupteten untrennbaren Verbindung zueinander stehen, die es daher wiederherzustellen gilt. Vielleicht weist der vom Papst als ketzerisch verurteilte gegen den Intellektualismus eines Thomas von Aquins gerichtete Voluntarismus des Duns Scotus einen anderen Weg. Ich erwähne nur, dass mit dem Theologen und Philosophen Christian August Crusius ein Zeitgenosse Gottscheds genau diese Position vertreten hat (Trennung von Vernunft und Glauben) und zwar ausgerechnet an der Universität Leipzig. Dass er und Gottsched unter diesen Voraussetzungen die erbittertsten Feinde waren, ist bekannt. Aber dieser ganze Fragekomplex ist von theologischer und daher hier nicht zu verhandelnder Natur. Nach dieser langen, m.E. aber aufschlussreichen Abschweifung kehren wir wieder zu Gottsched und die Aufklärung zurück. Der Papst wird bei seinen Ausführungen selbstverständlich nicht an Gottsched gedacht haben, aber der Leipziger Philosophieprofessor steht doch wenigstens am Beginn des von Benedikt als Irrweg charakterisierten Programms der Enthellenisierung. Wenn das Christentum in seiner hellenisierten Gestalt, und eine andere kann der Papst nicht akzeptieren, aus der Verbindung des biblischen Glaubens mit dem »Besten des griechischen Denkens« hervorgegangen ist, so bedeutet eine Enthellenisierung eine Enttheologisie-

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rung, und diese ist von Gottsched in der Konsequenz letztendlich betrieben worden. Ich werde das sogleich etwas näher erläutern. Zuvor ein Wort zur Bedeutung der Enttheologisierung. Sie bildet eine der zentralen Entwicklungstendenzen der letzten dreihundert Jahre der abendländischen Geschichte. Ich erlaube mir, an dieser Stelle statt einer eigenen Definition einen m.E. die Dinge treffenden Satz Werner Schneiders zu zitieren: »Insofern ist die Enttheologisierung des Denkens der Ursprung der modernen Welt- und Menschenkenntnis, insbesondere der modernen Anthropologie oder vielmehr des ihr tendenziell zugrundeliegenden Anthropologismus oder Anthropozentrismus.«26 Gottsched kennt nichts mächtigeres als die Vernunft, sie bedeutet ihm einfach alles: Die Vernunft [...] bloß die Vernunft ist dasjenige, was den Menschen zum Könige aller andern Thiere gemacht hat [...]. Durch sie vermag er alles; und ohne sie würde er nichts auszurichten vermögend seyn. Durch sie unterwirft er sich die Natur [...]. Durch ihren Dienst giebt man sich Gesetze, den Unordnungen zu steuren, die in großen Gesellschaften entstehen würden; durch ihren Dienst machet der Mensch sich selbst zur Tugend geschickt; durch ihren Dienst erlanget er endlich eine stetwährende und immerwachsende Glückseligkeit [...], durch die Vernunft erforschet er die Ursachen aller Dinge; durch sie erkennet er Gutes und Böses; durch sie findet er in allen Geschöpfen den Beweis, daß ein Gott sey, und die Spuren seiner Eigenschaften [...].27

Nicht also durch die Offenbarung wird uns die Existenz Gottes bekannt, sondern durch unsere eigene, durch unsere menschliche Vernunft. Gut und Böse vermag der Mensch mit eigener Kraft zu unterscheiden, ganz wie es in der Bibel heißt: »Ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.«28 »Der Mensch macht sich zur Tugend selbst geschickt« – die lutherische Rechtfertigungslehre hat es für Gottsched anscheinend nie gegeben. Nicht die Erlösung ist das Ziel menschlicher Existenz, sondern die diesseitige Glückseligkeit. Dass Gottsched mit solchen Vorstellungen auf die Kritik der immer noch höchst einflussreichen Theologen stieß, ist nicht verwunderlich; verwunderlich ist eher, dass er von ihnen recht glimpflich behandelt wurde. Mit einer lendenlahmen Verwarnung seitens des Dresdner Oberkonsistoriums, das ihn verhörte, kam er davon. Man möchte fast vermuten, die lutherischen Geistlichen des voranschreitenden 18. Jahrhunderts selbst schwächelten bereits unter dem Einfluss des aufklärerisch orientierten Zeitgeistes. Aber sie, die Theologen mit dem letzten großen Orthodoxen Valentin Ernst Löscher an der Spitze, sehen schon noch klar und deutlich, mit wem sie es bei dem auf naiv agierenden Professor aus Leipzig zu tun haben: Wie könne er es verantworten, heißt es in einem in Dresden angestellten Verhör, dass er den Glauben, daß Gott der Schöpfer der Welt sey und seine Vorsorge über die Menschen walten laße, zum Wesen der gantzen Religion mache, worzu nur noch mancherley äußerliche Handlungen der Menschen kommen dürfften. Er schreibe diesen Handlungen eine Besänfftigung des durch die Laster erregten Göttlichen Zorns zu [...]. dies wäre gewißlich ein Eingriff von der Religion, welcher auf einen

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28

Schneiders: Hoffnung auf Vernunft (s. Anm. 3), S. 23. Johnann Christoph Gottsched: Akademische Rede, zur Vertheidigung Gottes und des menschlichen Geschlechts, im 1730sten Jahre in der vertrauten Rednergesellschaft zu Leipzig gehalten. In: ders.: Ausgewählte Werke. Bd. IX/2. Gesammelte Reden. Bearbeitet von Rosemary Scholl. Berlin, New York 1976, S. 414–426, Zitat S. 422f. Genesis, 3, 5 (in der Übersetzung Martin Luthers).

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groben Naturalismum hinauslauffe, und die Christliche Religion auch Gottliche Offenbahrung völlig hinweg nehme und preißgebe.29

Was die Theologen hier konstatieren, das ist schlicht eine eindeutige Definition des Deismus, und es kann m.E. keinerlei Zweifel daran bestehen, dass Gottsched dem Deismus zumindest sehr nahe gestanden hat. Es ist bezeichnend, dass er, Professor der Logik und Metaphysik, sich gelegentlich als einen »öffentlichen Lehrer der natürlichen Theologie« definiert hat,30 und etwas anderes als die natürliche Theologie kennt Gottsched überhaupt nicht. Zentrale Aussagen, mit denen das Christentum als Religion steht und fällt, negiert er: Das ist die Lehre von der Erbsünde und der Glaube an die Satisfikation durch Jesus Christus, das ist vor allem die ganze Offenbarung überhaupt, denn, so Gottscheds radikale Feststellung, »das ist ein bloßer Glaube, und keine synthetisch erwiesene Wissenschaft«. Überhaupt sei die Theologie gar keine Wissenschaft, sondern eine Glaubenslehre, und mit diesem Begriff sollten die Theologen ihren Unterricht auch bezeichnen.31 Eine solche Erklärung bedeutet nichts anderes und kann nichts anderes bedeuten als eine schon beträchtlich weit vorangeschrittene Enttheologisierung des Denkens. Von der Stimme Gottes im Konzert der Wissenschaften kann bei Gottsched nicht die Rede sein, denn seine Definition von Wissenschaft schließt die Theologie aus. Dieser Vorgang der Enttheologisierung aber bildet, wie bereits festgestellt, eine entscheidende Grundlage moderner Wissenschaft. Nach außen sichtbar wurde dieser Prozess in der Emanzipation der Philosophischen Fakultät innerhalb der Universitäten, die noch im 18. Jahrhundert in den weiterführenden Anspruch übergeht, die eigentlich anführende Fakultät zu sein. Kant hat das klar ausgesprochen. Es gilt, noch auf ein weiteres Argument einzugehen, das der Abkopplung der Vernunft vom Glauben bei Gottsched scheinbar entgegensteht. Um auf den Papst zurückzukommen, so existieren auf den ersten Blick durchaus Parallelen zwischen der von ihm betonten notwendigen Verbindung zwischen Logos und Glaube, die das Christentum auszeichne, und der von Gottsched beschworenen Rolle der Vernunft in allen Lebensbereichen, auch in dem der Religion. Im Vergleich der Religionen schneidet für ihn das Christentum eindeutig am günstigsten ab –

29 30

31

Detlef Döring: Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz’ und die Leipziger Aufklärung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Stuttgart, Leipzig 1999, S. 151. Johann Christoph Gottsched: Neueste Zugabe zur fünften Auflage der Theodicee von Leibniz. In: ders.: Ausgewählte Werke. Bd. X/2. Kleinere Schriften. Hg. von Phillip M. Mitchell. Berlin, New York 1980, S. 461– 503, hier S. 493. Der Text stammt aus dem Jahr 1763. Bemerkenswert sind die Aufzeichnungen eines Schweizers, Gabriel Hürner, über verschiedene 1738 in Leipzig mit Gottsched geführte Gespräche. In einer dieser Unterhaltungen soll sich Gottsched so geäußert haben: »Er meint die Christliche religion nur sey eine bestätigung der natürlichen; und daß sie nur neue gründe anbringe.« (Staatsarchiv Aargau, NL.A.-0086/0001, S. 208, Gespräch vom 12. Mai 1738). Den Hinweis auf Hürners Tagebuch verdanke ich Herrn Dr. Rüdiger Otto. Johann Christoph Gottsched: Anhang einiger Philosophischen Abhandlungen. In: ders.: Ausgewählte Werke. Bd. V/2. Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Praktischer Theil). Hg. von Phillip M. Mitchell. Berlin, New York 1983, S. 517–586. Der »Anhang« wurde erstmals in der 7. Auflage (1762) von Gottscheds Erste Gründe der gesammten Weltweisheit veröffentlicht. Die Abhandlungen sind aber schon in den dreißiger Jahren verfaßt worden. Das Zitat ist der Abhandlung »Ob man die geoffenbarte Theologie in mathematischer Lehrart vortragen könne« entnommen worden (S. 586).

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da es einfach die vernünftigste Religion ist.32 Aber das ist doch wohl eine ganz andere Position als die Benedikts XVI. Wenn dieser die Forderung erhebt, »die selbstverfügte Beschränkung der Vernunft« zu überwinden, um »das Göttliche« zuzulassen, so unterwirft Gottsched als Vertreter der Aufklärung das Göttliche ganz und gar den Überprüfungen durch die eigenständige Vernunft. Die Religion wird ihm dann auch ganz und gar zu einer Erscheinung der bloßen Kulturgeschichte: So wie die Reformation ein Ergebnis des Wiedererwachens der »schönen Wissenschaften« gewesen sei, so würden die »philologischen Entdeckungen« und die »philosophischen Wahrheiten« der Gegenwart dermaleinst eine »neue Reformation« bewirken: »Die gelehrten Erscheinungen in der theologischen Welt [...] sind Vorbothen von einer großen Aenderung, die unser orthodoxes System noch in diesem Jahrhundert zu gewarten hat.«33 Das Christentum wird so ganz zu einer Kraft der modernen Kulturbewegung: So schien die moderne weltliche Ethik in Übereinstimmung mit der christlichen, die christliche Religions- und Offenbarungslehre im harmonischen Kontakt mit der allgemeinen Religionswissenschaft und ihrem Grundbegriff der natürlichen Religion, die Metaphysik des christlichen Gottesbegriffes versöhnt mit den von der modernen mechanischen Naturphilosophie inspirierten Philosophieen.34

Zu den »poetischen Propheten« dieser als Aufklärungsprotestantismus gekennzeichneten Bewegung rechnet Troeltsch ausdrücklich auch Gottsched. Auch diese Dinge können hier nicht näher verfolgt werden. Entscheidend ist, dass auch in dieser Hinsicht die Aufklärung die Weichen gestellt hat, die die Entwicklung zur Wissenschaft der Moderne ermöglichte. Das allein schon macht, alle Wertung ausgeschlossen, die Aufklärung zu einem Thema, das nicht langweilig ist, sondern durchaus spannend. Und Gottsched war wohl nicht nur ein Vertreter »steriler Philistrosität«, um mit Egon Friedell zu sprechen, sondern einer derjenigen, die für diese Entwicklung stehen. Gottsched und die Aufklärung ist und bleibt daher ein Thema von durchaus aktueller Bedeutung.

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33 34

Die Vernünfftigen Tadlerinnen, Jg. 1726, XVI. Stück (19. 4. 1726), S. 121–128. Ein Herr Wahrlieb überzeugt hier ein den Religionen indifferent gegenüberstehenden Herrn Spötterberg davon, dass nicht alle Religionen »gleich gut« sind, sondern am Maß ihrer Vernünftigkeit gemessen werden müssen. Eine entsprechende Untersuchung stellt dann fest, dass die christliche Religion »die vernünfftigste und beste« ist. Christi Tod dient der Bekräftigung seiner Lehre. Dem Argument, auch Sokrates habe mit seinem Tod seine Lehre bestätigt, wird mit dem Argument begegnet, dass dem Ende des Philosophen der »philosophische Geist« fehlte, habe er doch zuvor noch den Götzen geopfert. Gottsched an Ludwig Ernst Borowski, 18. 11. 1764 (Universitätsbibliothek Leipzig, Autographensammlung Kestner, A IV). Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit. In: ders.: Geschichte der christlichen Religion. Leipzig, Berlin 1922, S. 688.

IV. Anhang

RÜDIGER OTTO (unter Mitarbeit von RONNY EDELMANN)

Gottsched-Bibliographie 1985–2012

Vorbemerkung Die Bibliographie basiert auf Vorarbeiten, die Christiane Maaß als damalige Mitarbeiterin an der Gottsched-Briefeditionsstelle der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig in den Jahren 2000 bis 2002 geleistet hat. Sie schließt an die Gottsched-Bibliographie Phillipp M. Mitchells an, die 1987 als Band 12 der Ausgewählten Werke Gottscheds erschienen ist. Mitchells zweigeteilte Bibliographie erfasst zunächst die Veröffentlichungen bis zu Gottscheds Tod. Wenngleich auch hier gelegentlich Ergänzungen möglich sind, wie am Schriftenverzeichnis der Gottsched-Briefausgabe ersichtlich, so sind Gottscheds Schriften doch weitgehend vollständig und exakt bibliographiert. Über den beträchtlichen Suchaufwand in Vor-Internet-Zeiten berichtet der Verfasser im Vorwort. Im Verzeichnis der Sekundärliteratur gibt es dagegen naturgemäß Lücken, vor allem in den letzten Jahren des Erfassungszeitraums, der mit dem Jahr 1984 abschließt. In der vorliegenden Bibliographie wird auf den Versuch verzichtet, diese Lücken zu schließen. Sie verzeichnet Werk- und Briefausgaben sowie die Sekundärliteratur seit 1985. Abweichend von Mitchells Vorgängerbibliographie werden hier zusätzlich Titel verzeichnet, die sich auf Luise Adelgunde Victorie Gottsched beziehen. Ein Anspruch auf Vollständigkeit kann nicht erhoben werden, es bleibt aber zu hoffen, dass mit der Bibliographie ein brauchbares Instrument für weitere Forschungen zur Verfügung steht.

Bibliographie Gottsched, Johann Christoph: Ausgewählte Werke. Hrsg. von Phillip M. Mitchell. Bd. 12: Gottsched-Bibliographie. (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts, 119.) Berlin [u.a.] 1987.

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Bibliographie

Werkausgaben (chronologisch geordnet) Gottsched, Johann Christoph: Ausgewählte Werke. Hrsg. von Joachim Birke und Phillip M. Mitchell. 12 Bde. (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts.) Berlin [u.a.] 1968–1995. Gottsched, Johann Christoph: Sterbender Cato. Im Anhang: Auszüge aus der zeitgenössischen Diskussion über Gottscheds Drama. Hrsg. von Horst Steinmetz. (Reclam Universal-Bibliothek, 2097.) Stuttgart 1988. „Sterbender Cato“ nach der Ausg. Leipzig 1732; spätere, teilweise bibliogr. ergänzte Ausgaben: Stuttgart 1988, 1993, 1997, 2002, 2007, 2009 und 2011.

Gottsched, Johann Christoph: Schriften zur Literatur. Hrsg. von Horst Steinmetz. (Reclam Universal-Bibliothek, 9361.) Stuttgart 1989. Spätere, teilweise bibliogr. ergänzte Ausgaben: Stuttgart 1998, 2003 und 2009.

Gottsched, Johann Christoph: Die vernünftigen Tadlerinnen: 1725–1726. [Nachdr. der Ausg. Halle 1725–1726.] Im Anhang einige Stücke aus der 2. und 3. Auflage 1738 und 1748. Hrsg. von Helga Brandes. 2 Bde. Hildesheim [u.a.] 1993. Gottsched, Johann Christoph: ,Dubia circa monades‘. In: Pasini, Enrico: La prima recezione della ,Monadologia‘. Dalla tesi di Gottsched alla controversia sulla dottrina delle monadi. In: Studi Settecenteschi 14 (1994), S. 107–163. Gottsched, Johann Christoph: Beobachtungen über den Gebrauch und Misbrauch vieler deutscher Wörter und Redensarten. = History of Linguistics. 18th and 19th century German linguistics. Hrsg. von Chris Hutton. Bd. 2. [Nachdr. der Ausg. Straßburg und Leipzig 1758.] London [u.a.] 1995. Herrn Gottfried Wilhelms Freiherrn von Leibnitz Theodicee. Das ist, Versuch von der Güte Gottes, Freiheit des Menschen, und vom Ursprunge des Bösen. Nach der 1744 erschienenen, mit Zusätzen und Anm. von Johann Christoph Gottsched ergänzten, 4. Ausg. hrsg. von Hubert Horstmann. Berlin 1996. Bayle, Pierre: Historisches und Critisches Wörterbuch. Nach der neuesten Aufl. von 1740 ins Deutsche übersetzt, auch mit einer Vorrede und verschiedenen Anm. vers. von Johann Christoph Gottsched. 4 Bde. [Nachdr. der Ausg. Leipzig 1741–44.] Mit einem Vorwort von Erich Beyreuther. 2. Aufl. Hildesheim [u.a.] 1997. 1. Aufl. Hildesheim 1974–78.

Gottsched, Johann Christoph: Die parisische Bluthochzeit König Heinrichs von Navarra. Ein Trauerspiel. Hrsg. von Nicola Kaminski. (Theatertexte, 29.) Hannover 2011.

Briefe und Briefausgaben (chronologisch geordnet) Pyra, Immanuel Jacob: Über das Erhabene. Mit einer Einleitung und einem Anhang mit Briefen Bodmers, Langes und Pyras. Hrsg. von Carsten Zelle. (Trouvaillen. Editionen zur Literatur- und Kunstgeschichte, 10.) Frankfurt a. M. [u.a.] 1991. Darin: Zwei Briefe Pyras an Gottsched aus den Jahren 1737f., S. 89–95.

Bibliographie

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Personenregister Das Register erfasst alle historischen Personen mit Ausnahme von Johann Christoph Gottsched. Biblische und mythologische Namen sind nicht verzeichnet. Namen aus dem Bereich der Forschung sind nur dann aufgenommen, wenn sie sich im Haupttext finden.

Achenwall, Gottfried 369 Addison, Joseph 149, 155, 339 Aesop 150, 165, 174 Aichinger, Carl Friedrich 254, 263f. Aischylos 203, 214–216 Alardus, Mathias Andreas 245, 306f. Albrecht, Georg 361 d’Alembert, Jean le Rond 100, 104 Alt, Peter-André 191 Aner, Karl 83–85, 90–93 Anselm von Canterbury 400 Aristoteles 20, 29, 48, 52, 56, 58f., 64, 67, 99, 102, 108f., 110f., 114, 118, 125, 150f., 153f., 162, 167f., 175f., 184, 205, 212–214, 222, 236, 244–246, 248f., 276, 278, 289, 360, 363, 366f. Arndt, Johann 77 Atticus 78 d’Aubignac, François Hédelin 20, 209 Bach, Johann Sebastian 390 Bacon, Francis 34, 102–104, 107, 111, 384 Ball, Gabriele 294 Barisien, Johann Friedrich 307 Barner, Wilfried 244 Batteux, Charles 149, 151f., 162, 222, 278, 312 Baumeister, Friedrich Christian 116 Baumer, Johann Wilhelm 333 Baumgarten, Alexander Gottlieb 18f., 47, 55, 58f., 113–127, 149, 155, 222, 290 Bayer, Gottlieb Siegfried 304 Bayle, Pierre 32, 34, 85–87, 89, 93, 149, 165, 228, 281f., 311, 382 Beausobre, Louis de 324 Behrmann, Georg 226 Bénat, Gérard de 289 Bertrand, Elie 320 Biedermann, Johann Gottlieb 302

Bielfeld, Jakob Friedrich von 22f., 144, 330, 359–377 Bilfinger, Georg Bernhard 55, 116 Birke, Joachim 57f., 134 Blaschke, Bernd 89 Blumenberg, Hans 249 Bock, Johann Georg 296, 300 Bodmer, Johann Jacob 14, 20, 114, 117, 149f., 152, 154–158, 161, 164–167, 169, 173, 183– 201, 218, 222, 297, 308, 317, 323, 328, 330, 335–337, 340, 392 Boethius, Anicus Manlius Severinus 78 Boileau-Despréaux, Nicolas 20, 167f., 205 Börner, Christian Friedrich 303 Börner, Georg Gottlieb 303 Borowski, Ludwig Ernst 404 Borz, Georg Heinrich 381 Boyle, Robert 103, 384 Breitinger, Johann Jacob 14, 20, 114, 117, 132, 135, 150, 152, 154–158, 160–167, 169, 173, 176, 183–201, 218, 222, 297, 308, 317, 323f., 328, 330, 335–337, 340, 392 Breitkopf, Johann Gottlob Immanuel 28, 87 Bronisch, Johannes 40, 317 Brucker, Jakob 394 Bücklin, Conrad Budde, Johann Franz 289, 361 365–367 Bürgel, Gottfried 286–290 Büsching, Johann Gustav 144f. Buschmann, Cornelia 39 Calepio, Pietro di 155, 222 Canitz, Friedrich Rudolf Ludwig Freiherr von 149 Caselius, Iohannes 360 Cassirer, Ernst 19, 55, 97–101, 105f., 111, 194 Cato 78, 238

464 Cicero 75, 78, 167, 241, 245, 248, 271, 274, 276, 284, 288, 394 Clarke, Samuel 53 Clemens von Alexandria 289 Colerus, Johann Christoph 300, 306 Conring, Hermann 363 Corneille, Pierre 205, 226f. Coste, Pierre 314 Crusius, Christian August 54f., 304, 310f., 334, 337, 401 Cumberland, Richard 354 Curtius, Michael Conrad 222, 313 Dach, Simon 277 Dacier, André 20, 162, 205 Dacier, Anne 160, 162, 166, 313 Darjes, Joachim Georg 55 Dear, Peter 101, 103 Demosthenes 78 Derham, William 381 Descartes, René 14, 34, 47f., 51, 100f., 104, 109f., 158, 223f., 244, 282 Deyling, Salomon 159, 395 Diderot, Denis 87, 391 Döring, Detlef 39f. Dornblüth, Augustin 254 Ebeling, Christoph Daniel 144f. Eberhard, Johann August 54f. Effertz, Dirk 55 Eibl, Karl 143 Elias, Norbert 217 Empedokles 274 Epiktet 35, 78 Epikur 289 Erasmus von Rotterdam 344 Erdmann, Benno 57 Euler, Leonhard 317 Euripides 215, 227 Fabricius, Johann Andreas 245, 247f., 250 Falkenhagen, Annabel 57 Fénelon, François de Salignac de La Mothe 20, 175, 180, 209, 283 Fischart, Johann (gen. Mentzer) 22, 343–345, 347, 349, 357 Flottwell, Cölestin Christian 291, 296, 298, 301 Fontenelle, Bernard le Bovier de 34, 85f., 104f., 109, 149, 163, 167, 313, 391 Forster, Georg 40 Foucault, Michel 97, 99 Freisleben, Gottfried Christian 141 Frensdorff, Charlotta Margaretha von 296

Personenregister Friedell, Egon 292, 404 Friedrich II. 311f., 323f., 361, 398 Friedrich Wilhelm I. 314, 323 Fromey, Jean Henri Samuel 313–319 Galilei, Galileo 101, 393 Gassendi, Pierre 86 Gawlick, Günter 35, 61, 85f., 88–90, 95 Gellert, Christian Fürchtegott 231, 278, 331 Gerke, Johann Adolph 33 Gerhard, Johann 277, 288 Gesner, Johann Matthias 328, 333 Geulincx, Arnold 64 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 240, 312, 321, 331 Globig, Hans Gotthelf von 310 Goedeke, Karl 145, 382 Goethe, Johann Wolfgang von 92, 167, 216 Goetten, Gabriel Wilhelm 300 Gombocz, István 87, 106 Gottsched, Johann Christoph, ein zweiter, unbekannter 308f. Gottsched, Johann Heinrich 332f. Gottsched, Luise Adelgunde Victorie 139, 140f., 162f., 209, 230–232, 296, 314f., 319, 323f., 328, 335, 392 Grimm, Friedrich Melchior Baron de 303 Grimm, Gunter E. 57 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von 391 Groß, Johann Gottfried 307f. Grotius, Hugo 42, 67, 275, 353, 355, 362, 370 Gryphius, Andreas 206f., 239 Guisbert, Blaise 283 Gundling, Nicolaus Hieronymus 69, 356, 361, 364, 366f. Günther, Johann Christian 392 Gütther, Christian Heinrich 291 Houdar de la Motte, Antoine 149, 167 Habermas, Jürgen 97 Hagedorn, Friedrich von 327f. Hägelin, Franz Karl 217 Hallbauer, Friedrich Andreas 245, 248, 250 Haller, Albrecht von 22, 100f., 149, 156, 275, 308, 320, 324–331, 333 Hamann, Johann Georg 143 Hamann, Johann Georg, Herausgeber der Matrone 340 Hammerstein, Notger 39 Hanov, Michael Christoph 368, 372 Haude, Ambrosius 312f., 318, 321, 323f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 47, 53, 392

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Personenregister Heinsius, Gottfried 381 Helvétius, Claude Adrien 32, 34, 36, 149 Henrici, Paul Christian 336 Herder, Johann Gottfried 89, 127, 148 Herodot 274 Herz, Johann Daniel 302 Heumann, Christoph August 309, 361, 366f. Heumann, Christoph Friedrich 361 Hevelius, Johannes 33, 109 Heyde, Johann Daniel 159, 286, 289f. Heyde, Konrad von der 288 Hinske, Norbert 31 Hoffmann, Christian Samuel 321, 323 Hoffmann, Johann Friedrich 320 Hoffmannswaldau, Christian Hoffmann von 239 Hofmann, Johann Georg 310 Hofmann, Karl Ludwig 20, 204–206 Holberg, Ludvig Baron von 153 Holz, Hans Heinz 93 Horaz 17, 37, 136, 151–153, 167, 184, 190, 208, 211f., 222f., 226, 234f., 276 Hrotsvit von Gandersheim 142 Huber, Michael 144 Huber, Ulrich 364 Huet, Pierre-Daniel 283 Hume, David 40 Hürner, Gabriel 403 Huth, Kaspar Jakob 302 Jack (Jacchaeus), Gilbert 389 Jacobi, Karl Ludwig 307 Jerusalem, Johann Friedrich Wilhelm 83, 290 Juncker, Christian 283 Justi, Johann Heinrich Gottlob 359, 368f., 372 Kahle, Ludwig Martin 327f. Kaiser, Gerhard 184 Kant, Immanuel 17, 34, 37, 53–55, 172, 270, 384, 403 Karl V. 259 Kästner, Abraham Gotthelf 13, 156, 290, 310f., 335, 381, 397, 404 Kemper, Hans-Georg 95 Kepler, Johannes 33 Kiesewetter, Gottfried 380f., 385 Kleist, Christian Ewald von 380 Klopstock, Friedrich Gottlieb 117, 307f., 319, 322, 331, 337, 391 Klose, Samuel Benjamin 322 Koberstein, August 145 Koch, Erduin Julius 145 Kohl, Johann Peter 304

Köllner, Christian Gottlob 305 Kondylis, Panajotis 14 Konfuzius 35 König, Samuel 319, 335 Kopernikus, Nikolaus 33, 242, 397 Koselleck, Reinhart 97 Koyré, Alexandre 104 Krause, Christian Friedrich 54 Krause, Johann Gottlieb 300 Krause, Johann Viktor 313, 321, 324 Kuhn, Thomas 103 La Mothe le Vayer, Francois de 86 Laelius 78 Lambacher, Philipp Jakob 302f. Lamprecht, Jakob Friedrich 323f. Lamy, Bernard 282 Lau, Theodor Ludwig 301 Laub, Johann Georg 240 Lauder (Lawder), William 330f. Le Bossu, René 213 Le Clerc, Jean 162, 175f., 289 Ledermüller, Martin Frobenius 299, 311f., 338, 396 Leeuwenhoek, Antoni van 381 Leibniz, Gottfried Wilhelm 15f. 18f. 29, 31–33, 36f., 4148, 50–57, 62, 69, 70, 72f. 81, 89, 94f. 98, 100, 106f. 115–117, 119–121, 126, 153, 158, 164f., 169–171, 177f., 180, 184, 186f., 194, 245, 275f., 280–282, 287, 317, 319, 352, 374, 382 Lessing, Gotthold Ephraim 16, 84, 90, 218, 222, 231, 237, 240, 295, 299, 323–325, 337f., 391f. Leszczyński, Stanislaw 306 Lichtenberg, Georg Christoph 385 Lindner, Cornelius 306 Liscow, Christian Ludwig 298, 327 Liscow, Joachim Friedrich 309, 312 Locke, John 42f., 59f., 64, 155, 244, 280, 384 Lohenstein, Daniel Casper von 204, 235 Lorenz, Stefan 40 Lori, Johann Georg 302 Löscher, Valentin 284, 402 Lotter, Johann Georg 137, 253 Ludovici, Carl Günther 63f., 367 Lukrez 274, 281, 289 Luther, Martin 227f., 277, 345 Luzac, Elie 319f. Lykurg 78, 274 Mann, Thomas 203, 389 Manteuffel, Ernst Christoph Graf von 27, 33, 36, 114, 314, 317, 319, 323f.

466 Mark Aurel 78 Maria Theresia 302, 307, 318 Marius, Simon 33 Mauclerc, Paul-Emile de 314f., 317 Maupertuis, Pierre Louis 319f. Maximilian I. 259 May, Johann Friedrich 208f., 395f. Meier, Georg Friedrich 14, 114f., 324, 346 Melanchthon, Philipp 246f., 270, 283 Mencke, Friedrich Otto 273, 302, 315f., 326, 333 Mencke, Johannes Burkhard 22, 32, 276, 293, 300 Mencke, Otto 32, 293 Mendelssohn, Moses 55, 237 Michaelis, Johann David 311, 331, 333 Milton, John 117, 149, 157, 161, 163, 173f., 176, 190, 198f., 330 Mitchell, Phillip M. 290 Molière 227, 231 Morgenbesser, Michael 338 Morhof, Daniel Georg 140, 296 Mosheim, Johann Lorenz von 18, 86, 94, 300f., 326 Müller, Gerhard Friedrich 304f. Müller, Gottfried Polykarp 245, 247 Müller, Johann Daniel 277 Mulsow, Martin 40 Münchhausen, Gerlach Adolf von 326, 331 Museus, Johann 69 Musschenbroek, Jan van 379 Musschenbroek, Pieter van 23, 379–385 Mylius, Christlob 209, 240, 295, 321, 324 Nathusius, Johann Gottlob 338 Neuber, Friederike 206, 218, 392 Neuber, Johann 206, 218 Neubour, Friedrich Christoph 327 Neukirch, Benjamin 149, 238f. Neukirch, Johann Georg 283 Newton, Isaac 99f., 104f., 110, 383f. Nicolai, Friedrich 330, 335, 337 Nieuwentijt, Bernard 381 Nowak, Kurt 87f. Oelrichs, Johann Carl Conrad 295, 312 Olearius, Adam 69 Opitz, Martin 137, 188, 204, 242, 277 Oporin, Joachim 306 Otto der Große 390 Overbeck, Johann Daniel 312f. Papst Benedikt XVI. 400f., 404

Personenregister Pascal, Blaise 103–105, 109 Pelloutier, Simon 324 Pérard, Jacques 315f. Peter I. 305 Peucer, Daniel 247 Platner, Ernst 40, 46, 55, 337 Platon 36, 78, 277, 289 Plautus 216 Plinius d. J. 78 Plutarch 78, 288 Poley, Heinrich Engelhard 280 Pope, Alexander 149, 166, 315, 391 Porée, Charles 20, 208f. Pufendorf, Samuel von 42, 64, 69, 354–356, 360, 362, 370, 373f. Pyra, Immanuel Jakob 324, 328 Pythagoras 115, 274 Quand, Gottfried 84 Quéval, Marie-Hélène 86–90, 95 Quintilian 241, 246, 250 Quirini, Angelus Maria 316 Rabener, Gottlieb Wilhelm 335 Ramler, Karl Wilhelm 321 Ramus, Petrus 284 Rapin, Réne 282 Raupach, Bernhard 306 Reichel, Eugen 84, 272 Reichel, Johann Nathanael 313 Reiff(en)stein, Johann Friedrich 302, 332 Reimarus, Hermann Samuel 55, 86f., 89, 93 Reinbeck, Johann Gustav 18, 86 Reinkingk, Theodor von 361 Reusch, Johann Peter 116 Reusner, Johann Friedrich 298 Rieck, Werner 95 Riederer, Friedrich 243 Rist, Johann 277 Röd, Wolfgang 61f. Rohr, Julius Bernhard von 361, 366 Rost Johann Christoph 321, 324 Rotth, Albert Christian 205 Rousseau, Jean-Jacques 193 Rousseau, Pierre 320f. Rüdiger, Johann Andreas 165, 250, 323 Rudolf I. 303 Runckel, Dorothee Henriette von 335 Rust, Johann Ludwig Anton 138f., 336, 338, 398 Sachs, Hans 227f. Sanchez, Franciscus 283f. Scharff, Gottfried Balthasar 288, 312

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Personenregister Schatz, Johann Joachim 245 Scheiner, Christoph 33 Scheyb, Franz Christoph von 295 Schiller, Friedrich 218, 397 Schindel, Johann Christian 63, 279, 288 Schlegel, Johann Adolf 222 Schlegel, Johann Elias 222, 226, 290 Schlözer, August Ludwig 359, 367 Schmid, Christian Heinrich 142 Schneiders, Werner 45, 195, 390f., 393, 402 Schober, Ernst Sigismund 288 Schönaich, Christoph Otto Freiherr von 309, 319, 331 Schottel, Justus Georg 254 Schultheß, Johann Georg 335 Schulze, Johann Daniel 326 Schwabe, Johann Joachim 290, 296 Scipio (Africanus) 78 Seckendorff, Friedrich Heinrich von 218, 298 Seckendorff, Veit Ludwig von 361 Seneca d. J. 35, 78, 167, 288 Shaftesbury, Anthony Ashley-Cooper, 3. Earl of 32, 58, 341, 391 Shapin, Steven 101, 103 Sheridan, Thomas 340 Snow, Charles Percy 382 Soarez, Cyprian 243 Sokrates 35f., 75, 78, 274, 404, 394 Solon 78, 274 Sophokles 167, 204, 214, 227, 229, 236 Spener, Johann Carl 318, 323 Spinoza, Baruch de 36, 58, 175, 282 Stählin, Jakob von 304f. Steele, Richard 339 Steinwehr, Wolf Balthasar Adolph von 209, 309, 326 Stephan, Horst 92 Stolle, Gottlieb 288, 366f. Sturm, Johann Christoph 69 Suhm, Ulrich Friedrich von 40 Sulzer, Johann Georg 40, 312 Swift, Jonathan 144, 340f. Tacitus 246 Terenz 216, 255 Tetens, Johann Nicolaus 40 Thales von Milet 274

Themistokles 78 Thomasius, Christian 41f., 46, 66f., 69, 77, 165, 250, 272, 284, 287, 301. 355–357, 360, 366f., 394 Thomasius, Jakob 276 Thümmig, Ludwig Philipp 29, 49, 64, 115f., 273, 279 Titius, Johann Daniel 296 Troeltsch, Ernst 404 Tschirnhaus, Ehrenfried Walter von 33, 69, 280 Uhl, Johann Ludwig 324 Varro 255 Vaugelas, Claude Favre de 21, 252f., 255 Venzky, Georg 327f. Voltaire 40, 100, 104f., 149, 167, 306 Hagen, Friedrich Heinrich von der 144f. Voß, Christian Friedrich 323 Vossius, Gerhard Johannes 243, 247, 288 Wachter, Johann Georg 36 Wächtler, Jakob Immanuel 303, 314 Wedekind, Rudolf 328f. Weise, Christian 243f., 247 Werenfels, Samuel 209 Werner, Jakob Friedrich 291 Westphalen, Johann Heinrich 336, 338 Wieland, Christoph Martin 45, 201 Wilke, Jürgen 322 Will, Georg Andreas 395 Willig, Michael Lorenz 329 Wladislaw IV. 277 Wodarch, Matthias Arnold 295, 306f. Wolff, Christian 14–19, 22, 27–29, 32, 35–37, 39–60, 61–80, 83f., 89, 94f., 98, 106f., 115– 118, 121f., 127, 148, 150f., 151, 153–180, 184, 186–189, 191, 194f., 211f., 216, 224, 232, 235, 245, 247, 270–273, 275, 279, 281f., 286–290, 306, 310, 317, 350, 352f., 357, 361f., 365, 367f., 370, 372, 374, 382, 391, 394 Wolff, Michael 53 Xenophon 78 Zanotti, Francesco Maria 318 Zedler, Johann Heinrich 53, 102, 104, 108, 288, 346f.